Handeln und Kritik: Politik- und Gesellschaftstheorie nach Arendt und Adorno 3593514516, 9783593514512

Hannah Arendt und Theodor W. Adorno werden kaum gemeinsam rezipiert. Meistens bezieht man sich auf Arendts politisches D

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Handeln und Kritik: Politik- und Gesellschaftstheorie nach Arendt und Adorno
 3593514516, 9783593514512

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. »Affinität wider Willen«
1. Die Erfahrung des Totalitarismus
1.1 Zwischen deutscher Philosophie und jüdischer Erfahrung
1.2 Die Erfahrung des Exils
1.3 Die bewusste Paria und der Intellektuelle in der Emigration
1.4 Das Exil als Perspektive: »Drinnen und draußen«
2. Arendts und Adornos Analysen der totalen Herrschaft
2.1 Bruch oder Kontinuität? Lesarten der totalen Herrschaft
2.2 Kritische Theorien der Moderne
2.3 Theorien totaler Herrschaft
2.4 »Die vollendete Sinnlosigkeit«
3. Kritik der philosophischen Tradition
3.1 Der Traditionsbruch und das Ende des Systemdenkens
3.2 Walter Benjamin
3.3 Der Essay als »Verfahrensweise des Denkens«
3.4 Theorie als Ethos
II. Konturen einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno
4. Politik
4.1 Keine Politik. Nirgends
4.2. Mit Adorno gegen Adorno?
4.3 Mit Arendt gegen Adorno
5. Kritik
5.1 Die Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen
5.2 Mit Arendt gegen Arendt?
5.3 Mit Adorno gegen Arendt
6. Die Möglichkeit(en) einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno
Danksagung
Literatur

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Handeln und Kritik

Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie herausgegeben von Stephan Lessenich im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main Band 34

Mit dieser Buchreihe will das Frankfurter »Institut für Sozialforschung« ein neues Kapitel in seiner eigenen Geschichte aufschlagen. In Anlehnung an die Schriftenreihe, die 1955 von Theodor W. Adorno und Walter Dirks ­gegründet und im Jahr 1971 eingestellt wurde, sollen hier in regelmäßigen Abständen Monografien und Forschungsberichte veröffentlicht werden, in denen sich die theoretischen und empirischen Fragestellungen der ­Institutsarbeit niederschlagen; bewusst wurde dabei das thematische Spek­trum der Reihe um die Sozialphilosophie erweitert, weil heute nicht mehr wie selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, dass zur soziologischen Forschung auch die Reflexion auf die philosophische Begriffsbildung ­gehört. In die Reihe werden neben den im Institut entstandenen Arbeiten auch Studien zur Veröffentlichung aufgenommen, die die gegenwärtigen Forschungsabsichten in markanter Weise widerspiegeln.

Tobias Albrecht, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Redaktionsmitglied des Theorieblogs.

Tobias Albrecht

Handeln und Kritik Politik- und Gesellschaftstheorie nach Arendt und Adorno

Campus Verlag Frankfurt/New York

Die Forschung des Instituts für Sozialforschung wird durch die institutionelle ­Förderung der Stadt Frankfurt und des Landes Hessen ermöglicht.

Dissertation, Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2020, D.30 ISBN 978-3-593-51451-2 Print ISBN 978-3-593-44836-7 E-Book (PDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Copyright © 2022 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: Ina Walter, Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main Gesetzt aus der Garamond Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Beltz Grafische Betriebe ist ein klimaneutrales Unternehmen (ID 15985-2104-1001). Printed in Germany www.campus.de

Inhalt

Vorwort von Martin Saar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. »Affinität wider Willen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1. Die Erfahrung des Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.1 Zwischen deutscher Philosophie und jüdischer Erfahrung. . . . 33 1.2 Die Erfahrung des Exils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.3 Die bewusste Paria und der Intellektuelle in der Emigration. . 50 1.4 Das Exil als Perspektive: »Drinnen und draußen« . . . . . . . . . . 59 2. Arendts und Adornos Analysen der totalen Herrschaft . . . . . . . . . . 66 2.1 Bruch oder Kontinuität? Lesarten der totalen Herrschaft. . . . . 69 2.2 Kritische Theorien der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2.3 Theorien totaler Herrschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.4 »Die vollendete Sinnlosigkeit«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Kritik der philosophischen Tradition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.1 Der Traditionsbruch und das Ende des Systemdenkens. . . . . 112 3.2 Walter Benjamin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.3 Der Essay als »Verfahrensweise des Denkens« . . . . . . . . . . . . 131 3.4 Theorie als Ethos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Handeln und Kritik

II. Konturen einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4. Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4.1 Keine Politik. Nirgends. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4.2 Mit Adorno gegen Adorno?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4.3 Mit Arendt gegen Adorno. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 5. Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 5.1 Die Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 5.2 Mit Arendt gegen Arendt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 5.3 Mit Adorno gegen Arendt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 6. Die Möglichkeit(en) einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

»Me-tis Schüler Do verfocht den Standpunkt, man müsse an allem zweifeln, was man nicht mit eigenem Auge sehe. Er wurde wegen dieses negativen Standpunkts beschimpft und verließ das Haus unzufrieden. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück und sagte auf der Schwelle: Ich muß mich berichtigen. Man muß auch bezweifeln, was man mit eigenen Augen sieht. Gefragt, was denn dem Zweifeln eine Grenze setze, sagte Do: Der Wunsch zu handeln.« Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen

Vorwort

Die frühen persönlichen Begegnungen zwischen Hannah Arendt und den Vertretern der ersten Generation der Kritischen Theorie waren von Spannungen, Distanz und Abneigung geprägt. Die Sorgen um den gemeinsamen Freund Walter Benjamin und um sein publizistisches Erbe nach seinem Tod gaben Anlass für Argwohn und Vorwürfe. In der Nachkriegszeit herrschten beidseitiges Schweigen und Nichtbeachtung. Dies führte dazu, dass sich die Entwicklungslinien zweier Theorieprojekte, die im Rückblick als zwei der bedeutsamsten Beiträge zum philosophischen und politischen Selbstverständnis des 20. Jahrhunderts gelten können, historisch kaum berührt haben. Vor dem Hintergrund der Debatten in der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie des frühen 21. Jahrhunderts, in denen die Werke von Arendt und Theodor W. Adorno auf vielfache und oft überraschende Weise wieder zu Stichwortgebern für Zeitdiagnosen und kritische Perspektiven sowie Gegenstand lebendiger Kommentierung und Aktualisierung geworden sind, fällt auf, dass sich diese Distanz auch in der Rezeption weitgehend erhalten hat und beide selten in ein nachträgliches Gespräch gebracht werden. Mit der vorliegenden Monografie reagiert Tobias Albrecht auf diese Situation und liefert den Nachweis, wie gewinnbringend eine parallele Lektüre der Werke auch in systematischer Hinsicht sein kann. Er arbeitet sowohl die geteilten Bezüge als auch die Abgrenzungen auf, argumentiert dann aber distanziert von den jeweiligen Selbstverständnissen von Arendt und Adorno für eine produktive Konfrontation der beiden Theorieprojekte. Zum angemessenen Verständnis von Gesellschaft und Politik lassen sie sich nämlich als sich wechselseitig kritisierend aufeinander beziehen, kann die eine Position die andere sinnvoll ergänzen und korrigieren. Tobias Albrecht nimmt die eher experimentelle These von Jay Bernstein auf, bei Arendt lasse sich eventuell genau diejenige kritische politische Philosophie finden, die zur Programmatik der frühen Kritischen Theorie passe,

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von deren Vertretern aber nie systematisch ausgeführt wurde, und ergänzt sie durch einen analogen Vorschlag: Der Praxisphilosophie Arendts fehlt eine kritische sozialtheoretische Reflexion auf die strukturellen Herrschafts- und Blockadestrukturen, die sozialer Freiheit entgegenstehen, wie sie in der negativistischen Gesellschaftstheorie Adornos mustergültig angestellt wird. Das Ziel dieser komparativen Konstruktion ist also keine einfache Kombination von Vorschlägen, sondern ein wechselseitiges Sichtbarmachen von Leerstellen, die sich erst im direkten Vergleich zeigen. Im ersten Teil des Buchs wird zunächst die Totalitarismus- und Exilerfahrung sowie ihre theoretische Verarbeitung als geteilter roter Faden der Lebenswerke von Arendt und Adorno rekonstruiert, dann werden die expliziten Totalitarismus- und Herrschaftsanalysen beider nebeneinandergelegt, die sich für sie aus ihren Erfahrungen ergeben haben. In einer enorm anregenden doppelten Lektüre der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und der Dialektik der Aufklärung zeichnet sich ein deutliches Bild dieser Parallelen ab, auch wenn die Analysen zu ganz unterschiedlichen Politikund Kritikverständnissen führen. In einem weiteren Schritt kann Tobias Albrecht nachzeichnen, wie Arendt und Adorno ihre eigene Arbeit als ein Denken im Moment des Zusammenbruchs kultureller und philosophischer Gewissheiten und Kontinuitäten verstanden haben. Trotz unterschiedlicher philosophischer Bezugspunkte teilen sie eine Krisendiagnose des modernen Bewusstseins. Im zweiten Teil des Buchs werden die beiden Theorien der wechselseitigen Kritik ausgesetzt, denn auf der Ebene der genaueren inhaltlichen Bestimmungen moderner Gesellschaftlichkeit und ihrer Transformierbarkeit bleiben die Differenzen bei allen geteilten Erfahrungen und Motiven groß. So stehen sich Adornos konsequente Abstandnahme von konkreter politischer Praxis und Arendts durch und durch praxiszentrierte Politische Theorie diametral gegenüber. Es lässt sich nachweisen, dass dies bei Adorno eine theoretisch begründete und zeitdiagnostisch fundierte These ist: Herrschaft verhindert Politik und Handlungsfähigkeit, und sie hat konkrete Ursachen, Instanzen, Träger und Kontexte. Ihnen kann und muss Widerstand entgegengesetzt werden, erst dann könnte Politik beginnen. An dieser Stelle bringt Tobias Albrecht Arendts Vorschläge ins Spiel, die dem immer möglichen Neubeginnen und der Kraft zur Veränderung in der Macht des Zusammenhandelns Rechnung tragen und die die Umrisse einer möglichen guten politischen Ordnung, die Freiheit und Pluralität institutionell sichert, angeben können.



Vorwort

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Ein analoges Argument lässt sich von der anderen Seite führen: Arendts vieldiskutierte und kontroverse Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Politischen lässt sich sinnvoll mit Adornos methodischen Überlegungen zur Kritik des Sozialen konfrontieren. Das Problem, mit Arendtschen Mitteln den Übergang von sozialen zu politischen Fragen zu erläutern, weist auf die Bedeutung von Adornos Kritikkonzeption hin, in deren Kern die Operation der Negation des Bestehenden und die Denkbarmachung eines anderen Möglichen steht, die die immanente Widersprüchlichkeit (und Herrschaftsförmigkeit) des Sozialen artikulieren kann. Als Ergebnis dieser Theoriekonfrontation entsteht die Ansicht eines sinnvollen Reflexionsverhältnisses: Praxis und Kritik stehen im Verhältnis wechselseitiger Befragung und Relativierung; die theoretischen Einseitigkeiten, zu denen beide Theorien neigen, zeigen sich besonders deutlich erst auf der Kontrastfolie der jeweils anderen. Arendts Praxistheorie und Adornos Negativismus sind, isoliert betrachtet, konsequente, aber schwer haltbare Posi­tionen; als kritische Momente einer umfassenderen Reflexionsbewegung sind sie aber produktive Stationen eines dynamischen Denkens der Politik und der Gesellschaft. Mit einer solchen systematischen Pointe lässt Tobias Albrecht den etwas engeren Rahmen einer komparativen theoriegeschichtlichen Diskussion hinter sich, in dem seine Argumentation begonnen hat. Die Nachzeichnung der werkimmanenten Bezüge kann aufweisen, wie sich Arendt und Adorno auf einem geteilten Terrain von lebensweltlichen und historischen Erfahrungen und Epochenwahrnehmungen zu unterschiedlichen Diagnosen und Analysen moderner Gesellschaftlichkeit bewegt und wie sie unvereinbar scheinende Akzentsetzungen vorgenommen haben. Die systematische Überlegung kann gegen diesen Eindruck paralleler und unverbundener Theorieentwicklungen den Vorschlag setzen, dass sich hier die zwei wesentlichen Seiten der modernen Erfahrung des Politischen erkennen lassen. Sich in konkreten Herrschaftsverhältnissen wiederzufinden und zugleich zu existentieller und kollektiver Freiheit befähigt zu erfahren, wären die beiden widersprüchlichen Selbstbeschreibungen, die sich aus den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ergeben haben und die sich in keine einfache Reihenfolge bringen lassen. Die doppelte Erfahrung von Herrschaft und Freiheit, von Bestimmung und Unbestimmtheit denken zu können, die man in einer älteren Theoriesprache die »Dialektik«, in einer heute verbreiteteren die »Kontingenz« des Politischen nennen könnte, wäre dann die eigentliche Aufgabe eines zugleich

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nicht defätistischen und nicht naiven politischen Denkens. Für dieses Projekt bleiben Arendt und Adorno beide unverzichtbare Bezugspunkte. Tobias Albrecht unterbreitet in diesem Buch für die aktuelle Debatte um diese Problematik und für die Rückschau auf die philosophischen Ressourcen für ihre Bearbeitung einen originellen und wertvollen Vorschlag, der mit Ideen­ geschichte beginnt, aber dort nicht endet, und in dem ein weiteres Mal die Schulgrenzen dessen, was einmal »Kritische Theorie« hieß und was in Zukunft so heißen könnte, auf produktive Weise durchlässig werden. Martin Saar Frankfurt am Main, im Januar 2022

Einleitung

Arendt und Adorno: (K)eine Rezeptionsgeschichte Die Texte Hannah Arendts und Theodor W. Adornos sind moderne Klassiker. Sie sind Klassiker, weil sie die politiktheoretischen und sozialphilosophischen Debatten des 20. Jahrhunderts geprägt haben wie nur wenige andere (vgl. Benhabib 2006; Honneth 2012a). Auch über die engen Grenzen philosophischer Fachdiskurse hinaus haben beide einen Fußabdruck hinterlassen, wie er nur wenigen Theoretiker_innen vergönnt ist. »Das 20. Jahrhundert sei ohne Hannah Arendt gar nicht zu verstehen«, soll Amos Elon einmal bemerkt haben (zit. nach Blume, Boll und Gross 2020: 9) und der Kulturhistoriker Philipp Felsch sprach für die 1950er und 1960er Jahre sogar von einer »Bundesrepublik Adorno« (Felsch 2018: 23). Moderne Klassiker sind Arendts und Adornos Werke gleich in doppelter Hinsicht. Zunächst sind Arendt und Adorno moderne Autor_innen im engeren Sinne: Ihr Denken reagiert auf eine spezifisch moderne Erfahrung und ihre Texte stellen Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Gesellschaft dar. Modern sind die beiden aber auch in einer weiten, umgangssprachlichen Bedeutung: Ihre Relevanz ist auch am Anfang des 21. Jahrhunderts unbestritten. Beider Schriften werden fortwährenden Neulektüren und Aneignungen unterzogen.1 In jüngster 1 Nachdem Arendt – obwohl sie spätestens seit dem Erscheinen von The Origins of To­ talitarianism 1951, besonders in den USA, früh Anerkennung als öffentliche Intellektuelle fand – von der im engeren Sinne akademischen Welt, insbesondere in Deutschland, lange skeptisch betrachtet wurde, erfahren ihre Arbeiten seit den 1990er Jahren einen nun knapp 30 Jahre anhaltenden, leichten Konjunkturen unterliegenden (vgl. Jaeggi 2008) »Rezeptionsboom« (Kahlert und Lenz 2001: 7). Arendts Werk ist ein so beliebtes Thema von Qualifikationsarbeiten und Fachveröffentlichungen, dass die amerikanische Politikwissenschaftlerin Linda Zerilli einmal von einer regelrechen »Arendtindustrie« gesprochen hat (Zerilli 2005: 7). Ihre wachsende Popularität auch jenseits des akademischen Betriebs scheint Zerillis Diagnose zu bestätigen. Es gibt mittlerweile Theaterstücke, Kinofilme und Comics über Arendt. Im vergangenen Jahr hat das Deutsche Historische Museum ihrem

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Handeln und Kritik

Zeit werden sie sogar wieder verstärkt für gegenwärtige politische und gesellschaftliche Fragen fruchtbar gemacht.2 Die Aktualität Arendts auf der einen oder Adornos auf der anderen Seite wird geradezu beschworen und die jeweiligen Einzelrezeptionen sind buchstäblich kaum noch zu überblicken. Trotzdem werden die beiden jedoch fast nie im Zusammenhang rezipiert. Im Gegenteil, die Rezeptionsgeschichte war lange von einer regelrechten Dichotomie gekennzeichnet: Autor_innen beriefen sich entweder auf Arendts politisches Denken oder auf Adornos Kritische Theorie (Auer, Rensmann und Schulze Wessel 2003: 10). Eine Zeitlang wurden Abgrenzungsbewegungen zwischen den beiden Theorierichtungen sogar aktiv betrieben.3 Man mag das für folgerichtig halten. So gelten Arendt und Adorno doch gleich in doppelter Hinsicht als Antagonist_innen. Einer vergleichenden oder gar beide Positionen vermittelnden Rezeption steht schon die legendäre gegenseitige Antipathie der beiden Autor_innen auf der persönlichen Ebene entgegen; dass Arendt und Adorno einander nicht mochten und sich in der Folge nie aufeinander bezogen haben, ist eine häufig erzählte Anekdote.4 Obwohl sie fast zur gleichen Zeit in vergleichbaren Milieus geboren wurden, zeitgleich an denselben Orten gelebt haben und sogar einige gemeinsame Leben eine eigene Ausstellung gewidmet. Stefania Maffeis hat die Entstehung der »Figur Hannah Arendt« sowie die internationale Rezeption ihres Politikbegriffs in ihrer Genese und Performativität kürzlich in einer detaillierten Studie nachvollzogen (vgl. Maffeis 2018). Bei Adorno verhält sich das gewissermaßen umgekehrt. Er war zu Lebzeiten – zumindest im deutschsprachigen Raum – eine Art Ikone, die »im letzten Jahrzehnt seines Lebens zu den bekanntesten und einflussreichsten Intellektuellen Westdeutschlands und darüber hinaus Westeuropas gehörte« (Wiggershaus 2012: 25). Ihm wurde nicht weniger zugeschrieben, als maßgeblich an der »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« (vgl. Albrecht et al. 1999) beteiligt gewesen zu sein. Heute gilt noch immer, was Martin Seel vor gut 15 Jahren konstatiert hatte: Adorno ist zwar »nicht mehr der Favorit, aber noch nicht der Geheimtipp der intellektuellen Kultur« (Seel 2004: 29). Zudem erlebt sein Denken in den vergangenen Jahren vor allem im englischsprachigen Raum eine kleine Renaissance. Ein Überblick über diese findet sich bei Gordon, Hammer und Pensky (2020). 2 Das ist nicht unbedingt eine gute Nachricht. So haben Arendt und Adorno vor allem im Zuge des globalen Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Feuilleton eine gewisse, gleichsam tagesaktuelle Relevanz bekommen. Adornos 2019 bei Suhrkamp veröffentlichter Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus hat es gar auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Aus ähnlichen Gründen hat Richard Bernstein (2020) Arendt zuletzt als »Denkerin der Stunde« bezeichnet. 3 Für jüngere Beispiele, die immer noch so vorgehen, vgl. Hagengruber (2009) oder Claussen (2019). 4 Eine unterhaltsame, wenn auch fiktive und eindeutig über die historischen Fakten hinausgehende Darstellung der persönlichen Animositäten zwischen Arendt und Adorno findet sich in Carl Djerassis (2011) Theaterstück Vorspiel.



Einleitung

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Freunde hatten, sind sie sich wahrscheinlich nur selten persönlich begegnet.5 Dennoch kamen sie sich bei drei Gelegenheiten in die Quere (zum Folgenden ebd.: 8 ff.). Das erste Mal, als Adorno 1929 an der Begutachtung des Habilitationsversuchs von Arendts damaligem Ehemann Günther Stern, der später als Günther Anders bekannt geworden ist, beteiligt und für dessen Scheitern (mit)verantwortlich gewesen ist. Aus diesem Kontext stammt Arendts in Bezug auf Adorno geäußerte Aussage: »Der kommt uns nicht ins Haus!« (Zit. nach Young-Bruehl 2004: 80) Der zweite Berührungspunkt stand im Zusammenhang mit Walter Benjamins Nachlass. Benjamin hatte Arendt auf der Flucht in Frankreich eine Tasche mit Manuskripten – unter anderem die berühmten »Thesen« Über den Begriff der Geschichte – mit der Bitte anvertraut, diese an Adorno zu übergeben. Obwohl sie Sorge hatte, dass »die Hornochsen« (Arendt und Blücher 1996: 127  f.) den Text nicht veröffentlichen würden, tat Arendt wie ihr geheißen. Sie war bei diesem Thema ohnehin nicht gut auf Adorno zu sprechen, da sie der Ansicht war, das Institut für Sozialforschung habe Benjamin während seines Exils in Paris nicht ausreichend unterstützt.6 Und ein drittes Mal kam es – zumindest aus Arendts Perspektive – zu Spannungen, nachdem Adorno seine polemische Heidegger-Kritik, den Jargon der Eigentlichkeit, veröffentlicht hatte.7 Kontakt hatten Arendt und Adorno entsprechend wenig. Die einzige Korrespondenz ergab sich im Nachgang der Veröffentlichung von Benjamins Nachlass. Als Adorno die »Thesen« entgegen Arendts Befürchtung schließlich doch veröffentlicht hatte, tauschten die beiden je drei Briefe miteinander aus, in denen Arendt Adorno vorwarf, zentrale Stellen in Benjamins 5 Zumindest sind mir keine Aufzeichnungen darüber bekannt. Elisabeth Young-Bruehls Ausführungen über die Zeit, in der Arendt und Adorno zeitgleich in Frankfurt lebten und in ähnlichen Kreisen verkehrten, machen es wahrscheinlich, dass sie sich zumindest flüchtig ein paar Mal begegnet sein dürften (Young-Bruehl 2004: 82). Dafür spricht auch, dass Gershom Scholem 1942 Adorno in einem Brief bittet, »alle unsere gemeinsamen Bekannten« zu grüßen, »besonders aber Hanna [sic!] Arendt-Blücher« (Adorno und Scholem 2015: 49). 6 Adorno hat sich später ausdrücklich gegen diesen Vorwurf gewehrt (Adorno 2003a [1968]: 185 f.). 7 In einem Brief an Jaspers von 1966 verteidigte Arendt Heidegger gegen Antisemitismusvorwürfe mit den folgenden Worten: »Aber die Angriffe gegen ihn kommen nur aus dieser Ecke und keiner anderen […]. Ich kann es zwar nicht beweisen, bin aber ziemlich überzeugt, daß die eigentlichen Drahtzieher hier die Wiesengrund–Adorno-Leute in Frankfurt sind […]. Er und Horkheimer haben jahrelang jeden Menschen in Deutschland, der sich gegen sie stellte, des Antisemitismus bezichtigt oder gedroht, sie würden es tun. Wirklich eine abscheuliche Gesellschaft« (Arendt und Jaspers 1993: 669 f.).

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Text gekürzt oder geändert zu haben, um diesen marxistischer erscheinen zu lassen.8 Arendt ist ihr Groll gegenüber Adorno in diesen Briefen, trotz der damals üblichen Wahrung der Form, schon beim flüchtigen Lesen anzumerken. Adornos Antworten sind demgegenüber als »zwar achtungsvoller und freundlicher, allerdings ebenfalls sehr distanziert« (Auer, Rensmann und Schulze Wessel 2003: 9) beschrieben worden.9 Allerdings war auch er wesentlich weniger achtungsvoll und freundlich, wenn er im Kontakt mit anderen über Arendt sprach. So wissen wir aus seinem Briefwechsel mit Herbert Marcuse, dass er Arendt für eine politisch Rechte hielt (Adorno 2000: 115). Gegenüber Gershom Scholem sprach er offen über seine »Geringschätzung dieser Dame« und nannte sie »ein altes Waschweib« (Adorno und Scholem 2015: 190–192). Dementsprechend haben sich Arendt und Adorno inhaltlich auch nicht aufeinander bezogen. Arendt scheint Adornos Werk zumindest noch zur Kenntnis genommen zu haben. Obwohl sie den Jargon der Eigentlichkeit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht systematisch gelesen hat,10 erkennt sie in einem Brief, in dem sie ihren Ärger angesichts seiner Veröffentlichung artikuliert, Jaspers gegenüber an, »Wiesengrund« sei »nicht unbegabt« (Arendt und Jaspers 1993: 670). Und in einem 1968 erschienenen Essay, in dem sie Walter Benjamins Leben und Werk würdigt, zählt sie Adorno trotz der Auseinandersetzung um Nachlass und Deutung Benjamins zu »den Besten [seiner] zeitgenössischen Leser« (Arendt 2012b [1968]: 196). Ob Adorno je ein Wort von Arendt gelesen hat, ist nicht bekannt. Hinweise darauf gibt es keine.11 8 Vgl. zu dieser Episode, zu der Editionsgeschichte der »Thesen« sowie allgemein zum Verhältnis von Arendt und Benjamin den Band Arendt und Benjamin von Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla (2006). Im Anhang findet sich auch der aus insgesamt sechs Briefen bestehende Briefwechsel zwischen Arendt und Adorno. 9 Ähnlich beschreibt es Seyla Benhabib: »Adorno ertrug Arendts feindliche Haltung, die sie nie aufgeben sollte, mit kultivierter politesse.« (Benhabib 2011: 657) 10 Dafür spricht, dass sie sich gegenüber Karl Jaspers vor allem über die Heidegger-Kritik des Buches echauffiert, aber den Umstand, dass Jaspers im Jargon der Eigentlichkeit auch ein zentrales Ziel von Adornos Kritik ist (Adorno 2003c [1964]: 427–431, 456–463), mit keiner Silbe erwähnt. 11 Nachdem Arendt ihren Benjamin-Aufsatz veröffentlicht hatte, plante Adorno eine Erwiderung. In seinen Notizen dazu stößt er sich vor allem an Arendts These, Benjamin sei kein Philosoph gewesen. Vieles spricht dafür, dass er Arendts Aufsatz aber nur vom Hörensagen – wahrscheinlich über Scholem – kannte (Adorno 2003a [1968]: 183). Denn die aus Adornos Sicht viel skandalösere These des Aufsatzes, Benjamin und Heidegger hätten im Prinzip am gleichen philosophischen Projekt gearbeitet, hätte er sich wohl kaum zu kommentieren verkneifen können (Adorno 2003d [1965]: 181).



Einleitung

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Neben diesen persönlichen gibt es darüber hinaus aber auch philosophische Gründe für die auffällige gegenseitige Nichtbeachtung, die bei den beiden Autor_innen begonnen hat und von der nachfolgenden Rezeption fortgeführt wurde. Denn Arendt und Adorno schöpfen für ihre jeweilige Theoriebildung aus ganz unterschiedlichen theoretischen und philosophischen Quellen, die scheinbar nicht leicht in ein Passungsverhältnis zu bringen sind. Auf der einen Seite steht Arendts zunächst etwas idiosynkratisch anmutendes Konglomerat aus antiker Philosophie (besonders Aristoteles), Existentialismus und Phänomenologie, gespickt mit einem politischen Republikanismus, für den sie sich auf Niccolò Machiavelli, Alexis de Tocqueville und nicht zuletzt die Autoren der Federalist Papers bezieht; kritisch gegenüber Marx und dem »Trick einer dialektischen Bewegung« (Arendt 2012 [1954]: 33) sowie abweisend gegenüber dem »Unsinn des ›Unbewußten‹« (Arendt 2002: 659). Auf der anderen Seite steht Adornos nicht minder eigenwillige Kombination aus Hegel, Marx, Psychoanalyse und Weberschem Rationalitätskonzept, der manchmal eine Prise Messianismus nachgesagt wird und oft eine gehörige Portion Verachtung für Theorien heideggerianischer Spielart.12 Und damit nicht genug: Nicht nur die Quellen, aus denen ihre jeweilige Theoriebildung schöpft, divergieren; Arendt und Adorno kommen nicht nur aus verschiedenen philosophischen Richtungen, auch worauf sie hinzielen, unterscheidet sich fundamental. So wird beider Denken gemeinhin (und vollkommen zu Recht) attestiert, ganz unterschiedliche, ja gegensätzliche theoriepolitische Ziele zu verfolgen (Söllner 2018a: 11; Wagner 2005: 224 f.). Arendt entwickelt eine dezidiert politische Theorie. Sie versteht sich ausdrücklich als politische Theoretikerin – und nicht als Philosophin (Arendt 2013 [1964]: 46 f.). Sie misstraut der philosophischen Suche nach Wahrheit ebenso wie der »sozialen Frage«, das heißt der gesellschaftlichen Sphäre. In beiden sieht sie Gefahren für die Sphäre des Politischen, die der Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens ist. Damit aber scheint Adorno, in dessen Werk gerade der Spagat zwischen Philosophie und Sozialkritik von zentraler Bedeutung ist (Lichtblau 2017: 395), genau die beiden von Arendt abgelehnten Themenfelder in seiner Position zu vereinen. Ihm wiederum, der 12 Vgl. einschlägig dazu den bereits erwähnten Jargon der Eigentlichkeit (Adorno 2003c [1964]: 413–526). Durch Adornos gesamtes Werk hindurch finden sich aber auch weniger polemische, theoretisch gesättigtere (und teilweise wertschätzendere) Kritiken an Heidegger: die wohl prominentesten in der Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie (Adorno 2003 [1931]: 329 ff.) und im ersten Teil der Negativen Dialektik (Adorno 2003c [1966]: 67–136).

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Handeln und Kritik

sich auf eine radikale Gesellschafts- und Kulturkritik konzentriert, wird oft eine bewusste Abkehr vom politischen Denken nachgesagt (Adorno 2003d [1969]: 402–409).

Fragestellung Man kann das Ausmaß der Kommunikationsverweigerung zwischen den Positionen Arendts und Adornos aber auch verwunderlich finden. So dürfte die gegenseitige persönliche Animosität zweier Autor_innen für den weiteren Umgang mit ihren Theorien eigentlich kaum ausschlaggebend sein.13 Sie kann einem Buch wie diesem als anekdotische Eröffnung dienen, aber »[n]atürlich dürfen wir uns für unsere Einschätzung der Arbeit, der Texte und des Erbes eines Denkers nicht von […] psychologischen Haltungen und persönlichen Abneigungen leiten lassen.« (Benhabib 2011: 658) Und auch divergente theoretische Traditionsbestände, aus denen Theoriebildungen jeweils schöpfen, haben die Forschung in den meisten anderen Fällen nicht davon abgehalten, in irgendeiner Form Beziehungen zwischen ihnen herzustellen, das heißt vergleichende oder wenigstens kontrastierende Darstellungen zu verfassen. Es ist im Gegenteil sogar ein recht gängiges philosophisches Verfahren, Konvergenzen und Reibungspunkte aufzuzeigen, herauszuarbeiten und idealerweise produktiv zu machen.14 13 Die Sprachlosigkeit zwischen den beiden Ansätzen wird dabei umso erklärungsbedürftiger, je mehr Zeit nach dem Tod beider Autor_innen vergeht. Dass Arendt und Adorno sich nicht mochten, erklärt, warum sie sich nicht aufeinander bezogen haben. Und es erklärt vielleicht auch noch die »Strukturierung des intellektuellen Feldes« (Auer, Rensmann und Schulze Wessel 2003: 10) direkt nach ihnen, das heißt des Feldes ihrer direkten Schüler_innen. Es macht etwa verständlich, warum Jerome Kohn, ehemaliger Doktorand, Freund und heutiger Nachlassverwalter Arendts 2010 die Einladung zur Finissage der Ausstellung Die Frankfurter Schule und Frankfurt – eine Rückkehr nach Deutschland mit der Begründung ablehnte, dass »Hannah diese Leute hasste« (zit. nach Weissberg 2011: 14). Es erklärt aber keineswegs, warum Versuche, Arendt und Adorno miteinander ins Gespräch zu bringen, ein halbes Jahrhundert nach dem Tod beider Autor_innen noch rar sind und immer noch eine solch klaffende Leerstelle in der Forschung besteht. 14 Um ein hier naheliegendes Beispiel zu nennen: Komparative Darstellungen, die in der einen oder anderen Weise die eingestandenen oder uneingestandenen Nähen (und Fernen) zwischen Adorno und der Existenzphilosophie im Allgemeinen und Adorno und Heidegger im Besonderen herausstellen, sind zahlreich (vgl. Mörchen 1981; Dallmayr 1991; Düttmann 1991) und haben aktuell wieder Konjunktur (vgl. Macdonald und Ziarek 2008;



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Und ich scheine nicht mehr der einzige zu sein, der das Ausmaß der Bezugslosigkeit zwischen den Ansätzen Arendts und Adornos unangebracht findet. Denn besonders in der vergangenen Dekade ist ein bedächtiges, aber spürbares Aufweichen der Dichotomie erkennbar. Schon Anfang 2000 fand unter dem Titel Das Jahrhundert verstehen. Hannah Arendt – Theodor W. Ador­no eine erste Konferenz am Hannah Arendt-Zentrum in Oldenburg statt, die beide Denkrichtungen in einen Dialog bringen wollte; zunächst noch mit durchwachsenem Ergebnis: Dichotomien wurden hier teilweise eher noch erhärtet, denn aufgeweicht (Maffeis 2018: 390). Zwei weitere Konferenzen sollten folgen und erfolgreicher verlaufen: 2010 fand die von Liliane Weissberg und dem Fritz Bauer Institut organisierte Tagung Hannah Arendt und die Frankfurter Schule in Frankfurt am Main statt (vgl. Gallas 2010). Und 2017 trug die zweite Ausgabe der Istanbul Critical Theory Series, die aufgrund der anhaltend angespannten politischen Situation in der Türkei in Oldenburg stattfand, den Untertitel Arendt and Critical Theory Today. Da­ r­über hinaus sind mittlerweile drei Sammelbände erschienen, die versuchen, das Denken von Arendt und Adorno in einen Dialog treten zu lassen, den die Protagonist_innen zu Lebzeiten nie geführt haben (vgl. Auer, Rensmann und Schulze Wessel 2003; Rensmann und Gandesha 2012; Weissberg 2011). Außerdem existieren inzwischen ein paar Aufsätze, die Arendt und Adorno hinsichtlich spezifischer Fragestellungen in Bezug zueinander setzen und die unabhängig von diesen Bänden in Zeitschriften oder thematisch anderweitig ausgerichteten Büchern erschienenen sind.15 Vor allem aber mehren sich die Fußnoten und Randbemerkungen, in denen immer häufiger auf einige vermeintlich versteckte (und wahrscheinlich unwillkürliche) Affinitäten angespielt wird.16 Diesen Andeutungen und teilweise bereits erfolgten Vorarbeiten will das vorliegende Buch weiter nachgehen. Zum ersten Mal überhaupt sollen in Form einer Monografie die Denkgebäude Arendts und Adornos einander gegenübergestellt werden. Dabei werden zwei Ziele verfolgt. Erstens möchGordon 2016; Zuidervaart 2017). Auch Arendt ist schon mit vielen anderen, ihr auf den ersten Blick unvereinbaren Denker_innen wie Michel Foucault (vgl. Allen 2002; Gordon 2002; Schoonheim 2021) oder Karl Marx (vgl. Ring 1989) kontrastiert worden. 15 Vgl. Ahrens (1995); Honneth (2005); Kisner (2013); Lavallée (2020); Söllner (2018b); Villa (2008a); Weißpflug (2018). 16 Arnold (2016: 617); Benhabib (2006: VI); Bernstein (1986: 239  f.); Demirovic (2019: 188); Forst (2011: 197); Förster (2009: 46 ff.); Han (2016: 18–23); König (2008: 584 f.); Marchart (2007: 350); Meints-Stender (2011: 11); Menke (2004: 178 ff.); Söllner (2018a: 7 f.); Weißpflug (2014: 211).

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te ich die erstaunlichen Gemeinsamkeiten zwischen Arendt und Adorno, auf die so oft angespielt wird und die teilweise auch schon herausgestellt wurden, systematisch zusammentragen und darstellen. Die erwähnten Veröffentlichungen, die mit diesem Projekt bereits begonnen haben, stellen hierfür nicht nur wichtige Vorarbeiten dar, sondern werden von mir auch so interpretiert, dass die Zeit reif ist für dieses Unternehmen. Es ist aber nicht nur diese theoriegeschichtliche Kuriosität, die mich hier interessiert. Vielmehr gibt es auch einen zweiten, systematischen Grund, warum es lohnenswert ist, die Theoriebestände Arendts und Adornos zusammenzubringen. Denn ich vertrete die These, dass sich aus einer Gegenüberstellung der beiden Ansätze auch systematisch ein Ertrag gewinnen lässt. An dieser Stelle gehe ich über die bisher vorliegenden Versuche, Arendts und Adornos Denken nebeneinanderzustellen, auch hinaus. Gemeinsam ist diesen nämlich, dass sie zwar Analogien ausweisen, die Ansätze dann aber nebeneinander belassen. Dabei gehen sie zudem meist rein versöhnlich vor. Es geht ihnen stets darum, »die sonderbar starken Parallelen« (Ahrens 1995: 29) oder ebendie bisher unbeachtete »Affinität wider Willen« (vgl. Weissberg 2011) zwischen den beiden Positionen aufzuzeigen. Der Verweis auf verbleibende Differenzen dient dann bestenfalls noch dazu, dem jeweils anderen Ansatz schärfere Konturen zu geben – den Ansätzen wird nachgesagt, dass sie sich »gegenseitig illuminieren« (Arendt 2012b [1968]: 254), wie es Arendt im Anschluss an den gemeinsamen Freund Walter Benjamin formuliert hat. Vollkommen unbeantwortet ist aber nach wie vor die Frage, ob Arendts und Adornos Theorien nicht gerade durch eine Kontrastierung voneinander profitieren könnten. Hierfür, so meine These, müsste der Fokus jedoch nicht nur auf die versteckten Gemeinsamkeiten, sondern eben auch auf die verbleibenden Divergenzen gelegt werden. Denn gerade dort, wo ihre Positionen kon­ trär bleiben, so eine zentrale These dieses Buches, scheinen die beiden Theo­ riegebäude erstaunlich gut gerüstet, die Schwachstellen des jeweils anderen Ansatzes auszugleichen. So attraktiv Arendts vielrezipierte politische Theorie ist, droht sie doch stets ins Leere zu laufen, da sie ihre eigenen gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen nicht denken kann. Umgekehrt bleibt Ador­ nos Gesellschaftskritik, die auf jegliche Konzeption politischen Handelns verzichtet, im wahrsten Sinne des Wortes unfähig: Sie hat keine Chance, ihrer Kritik eine Veränderung der Verhältnisse folgen zu lassen. Im Folgenden möchte ich daher vorschlagen, Arendt und Adorno genau an dieser Stelle in ein gegenseitiges Ergänzungsverhältnis zu setzen. Die in den vergangenen Jahren vorangeschrittene ideengeschichtlich-versöhnende Annäherung, so



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meine Vermutung, könnte sich dabei als Ermöglichungsbedingung für diesen Vorschlag herausstellen: Weil Arendt und Adorno viele Grundannahmen ihrer Theoriebildung gemeinsam haben, könnten sie sich sogar da, wo sie zueinander konträr bleiben, als (einigermaßen) komplementär erweisen.

Methode und Vorgehen Es geht diesem Buch darum, Arendts und Adornos Theorien in einen Dialog treten zu lassen, den die Personen nie geführt haben. Wenn ich hier bewusst unpräzise davon spreche, dass es darum gehe, beider Denken miteinander ins Gespräch zu bringen oder einander gegenüberzustellen, dann handelt es sich um Behelfsmetaphern, derer ich mich vor allem bediene, um den methodisch gesättigteren Begriff des Theorievergleichs zu vermeiden. Denn ich hoffe, stattdessen zugleich weniger und mehr vorzulegen als einen Vergleich. Weniger, weil es sich trotz des komparativen Charakters dieser Arbeit nicht um einen Theorievergleich im methodisch strengen Sinne handelt. Zumindest dann nicht, wenn man darunter solche Studien versteht, wie sie zum Beispiel Hermann Mörchen (1981) mit seinem Vergleich von Heidegger und Adorno oder Thomas Biebricher (2005) für Habermas und Foucault vorgelegt haben. Mörchen vollzieht in seinem über 700 Seiten langen Buch zunächst sämtliche (!) Heidegger-Zitate Adornos nach, fragt dann nach »Heideggers Präsenz in Adornos Schriften« (Mörchen 1981: 137), geht im dritten Teil den (von ihm teilweise psychologisierten) »Motiven« für die Kommunikationsverweigerung auf den Grund, bevor er im vierten Abschnitt »Adornos Haupteinwände gegen Heidegger« (ebd.: 289) noch einmal zusammenfasst, um von da aus schließlich doch noch nach Konvergenzen zu fragen. Jeder dieser Abschnitte ist zusätzlich noch einmal nach Schaffensperioden, einzelnen Texten und Begriffen untergliedert. Biebrichers Studie Selbstkritik der Moderne: Foucault und Habermas im Vergleich geht demgegenüber zwar etwas weniger kleinteilig vor. Aber auch er legt die Werke Habermas’ und Foucaults sowohl nach Werkphasen als auch nach thematischen Schwerpunkten unterteilt nebeneinander. Zudem fasst er die Ergebnisse am Ende jeder Phase in einem abschließenden Vergleichskapitel zusammen. Ich gehe im Folgenden methodisch weniger streng vor als solche Zugänge. Zwar lasse auch ich ein Mindestmaß an entwicklungsgeschichtlichem Vorgehen und Systematik walten; dies macht der Gegenstand der Arbeit er-

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forderlich: zwei Autor_innen, deren Denken erst vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen verständlich wird und deren Texte sich nur im Gesamtkontext, in dem sie stehen, richtig erschließen lassen. Jedoch unterteile ich weder ausdrücklich nach Werkphasen noch nach Begriffen oder einzelnen Texten. Auch habe ich mich bewusst gegen eigenständige Vergleichskapitel entschieden. Stattdessen orientiere ich mich an einem Lektürevorschlag Margaret Canovans: Um Arendts »unsystematic system-building« (Canovan 1992: 5) gerecht zu werden, schlägt diese vor, der ergiebigste Weg, sich Arendts Werk zu erschließen, sei »to follow her thought trains« (ebd.: 7), das heißt »to situate her best-known works within them and to show how they were related to one another« (ebd.). Diese Methode bietet sich für mein Vorhaben besonders an, weil sich auch Adornos Werk auf diese Weise am besten erschließen lässt. So spricht Fabian Freyenhagen zum Beispiel eine ähnliche Leseempfehlung für Adorno-Texte aus (Freyenhagen 2015: 17–20). Um sich dem vorgeblich antisystematischen Denken dieses Autors zu nähern, empfehle sich ein »pub­ licly thinking through his theory« (ebd.: 18). Die Arbeit will aber auch mehr sein als ein Vergleich, denn ich hoffe, wie bereits erwähnt, die beiden Theorien nicht nur nebeneinanderzulegen und zu vergleichen, sondern auch zusammenzubringen, um in dieser Weise auf einen systematischen Punkt abzustellen. Treffender als der Begriff des Vergleichs wäre daher vielleicht der einer »Theoriegeschichte in systematischer Absicht«. Das Konzept der Theoriegeschichte in systematischer Absicht entnehme ich Wolfang Schluchters 2007 erschienenen Grundlegungen der Soziologie. Schluchter will sich mit diesem Vorgehen sowohl von »einer reinen Theoriekonstruktion« als auch von »einer reinen Theoriegeschichtsschreibung« (Schluchter 2007: 1; Hervorh. T. A.) zugleich abgrenzen. Unter die reine Theoriekonstruktion fallen demnach jene Autor_innen, die bei der Theoriebildung willkürlich ansetzen und meinen, ihre Ideen vermeintlich voraussetzungslos, quasi aus der Luft, konstruieren zu können. Theoriegeschichte sei für solche Positionen schlechterdings uninteressant oder lasse sich bestenfalls noch historisierend schreiben, als eine Geschichte der Ansätze, die dem kontinuierlichen Erkenntnisfortschritt der Disziplin »ein für allemal zum Opfer gefallen« (ebd.) seien. Für Schluchter ist diese Art der Theoriekonstruktion problematisch, weil sie den Zusammenhang mit den historischen Problemen der Soziologie (oder der Politischen Theo­ rie oder der Philosophie) aufkündigt. Das heißt, es wird vergessen, dass die in diesen Theorien behandelten (Einzel)probleme mit den Problemen der Philosophiegeschichte untrennbar verknüpft sind und sich vollkommen iso-



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liert von diesen gar nicht lösen lassen.17 Die Theoriegeschichtsschreibung betone demgegenüber zwar, dass es eine solche reine Theoriekonstruktion in Philosophie und Sozialwissenschaften gar nicht geben könne. Der Rückgriff auf die Geschichte der Disziplin bleibe für sie unverzichtbar. Jedoch neigten Theoriegeschichtsschreiber_innen auf der anderen Seite dazu, »Autor auf Autor zu häufen, ohne zu sagen, warum gerade diese und nicht andere ausgewählt wurden.« (Ebd.: 2) Nicht selten werde dieses Vorgehen dadurch verschlimmert, dass die so ausgewählten Autor_innen »dann auch meist mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen[blieben]« (ebd.). Vor diese Alternative – enthistorisiertes Theoriedesign versus reine Wissenssoziologie – gestellt, schlägt Schluchter mit seiner Methode einen »dritten Weg« (ebd.: 3) vor. Bei der Theoriegeschichte in systematischer Absicht bleibe »die Differenz zwischen Theoriegenese und Theoriegeltung und damit auch die Autonomie der Theorie bestehen« (ebd.: 3  f.). Einfacher ausgedrückt: Bei dem Vorgehen wird ausdrücklich ein theoriegeschichtliches Interesse verfolgt und die so untersuchten Theorieressourcen werden zugleich auch auf ihre Tauglichkeit für die Theoriekonstruktion hin geprüft. Die Auswahl der Autor_innen und die Beziehung, die zwischen ihnen zeitlich und sachlich besteht, soll dabei ausdrücklich begründet werden. Im Idealfall führe dies dann zu »Theoriesynthesen, die mehr sind als die Summe ihrer durch Überlieferung legimitierten Bauelemente« (ebd.: 4). Was Schluchter hier auf einen methodologischen Begriff gebracht hat, ist – mal ausdrücklicher und mal weniger ausdrücklich reflektiert – längst gängiges Verfahren in der Politischen Theorie und Sozialphilosophie.18 Bekanntere Studien aus dem Umfeld der Kritischen Theorie, die sich einem solchen Vorgehen in unterschiedlichen Spielarten explizit verpflichtet haben, sind beispielsweise Axel Honneths Kritik der Macht (1989), Martin Saars Genealogie als Kritik (2007) oder Daniel Loicks Juridismus (2017). So will Honneth seine Untersuchung der »Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie«, wie die überarbeitete Fassung seiner Dissertationsschrift im 17 Ein Vorgehen, das schon Adorno in seiner Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie, aller hierbei vorgenommenen Kritik an der philosophischen Tradition zum Trotz, explizit kritisiert hatte (Adorno 2003 [1931]: 326 f.). 18 Wobei mir ein Plädoyer für das methodische Vorgehen der Theoriegeschichte in systematischer Absicht in der Politischen Theorie mit ihrer auch institutionell eingeschriebenen Trennung zwischen (vermeintlich rein historisch interessierter) Ideengeschichte und (vermeintlich anwendungsorientierter) Politischer Theorie dringlicher zu sein scheint als in der Sozialphilosophie, die grundsätzlich weniger Zweifel daran zu haben scheint, dass theoriegeschichtliches und systematisches Vorgehen kaum voneinander zu trennen sind.

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Untertitel heißt, ausdrücklich auf zwei Ebenen angelegt wissen. Er unterscheidet zwischen »der ersten Ebene einer Theoriegeschichte« und »der zweiten Ebene einer Klärung von zentralen Problemen einer kritischen Gesellschaftstheo­ rie« (Honneth 1989: 7).19 Ähnlich differenziert auch Saar in Genealogie als Kritik zwischen dem »rekonstruktive[n] Ziel« (Saar 2007: 12) seiner Darstellung – das bei ihm im Nachweis der spezifischen philosophischen Prämissen von Nietzsches Genealogieverständnis und der Komplementarität von Foucaults selbigen liegt – und dem »systematische[n] Ziel« (ebd.: 14), welches in einem Plädoyer für die Anerkennung der Effektivität dieser Kritikform besteht. Und Loick macht es gar zum Kriterium einer kritischen Theorie, einen »systematischen« und »einen philosophiegeschichtlichen Anspruch« zugleich zu verfolgen: »Eine Theorie ist nur dann kritisch, wenn sie sich über ihre eigene Eingebettetheit in die Geschichte Rechenschaft ablegt; eine Theo­rie ist also dann kritisch, wenn sie zugleich Gesellschafts- und Selbstkritik ist.« (Loick 2017:17) Auch meine Arbeit möchte beides tun: Sie möchte über die Eingebettetheit der hier behandelten Theorien in die Geschichte Rechenschaft ablegen und zugleich systematisches Plädoyer sein. Ihre theoriegeschichtliche These besteht in dem Nachweis, dass sich die Philosophien Hannah Arendts und Theodor W. Adornos wesentlich ähnlicher sind, als es von den meisten Leser_in­nen bisher wahrgenommen wurde. Damit ist keinesfalls die Behauptung verbunden, beide sagten das Gleiche. Der Vergleich, der hier vorgenommen wird, soll nicht um den Preis des Einebnens der Unterschiede vollzogen werden. »Identitätsdenken« (Adorno 2003c [1966]: 152) oder »identifizierendes Denken« (ebd.: 157) gilt es gerade in einer Arbeit über Adorno zu vermeiden. Ich hoffe keine »[e]rpreßte Versöhnung« (Adorno 2003b [1958]: 251–280) vorzulegen. Stattdessen sollen die beiden Ansätze hier zwar nebeneinandergestellt, 19 In einem Punkt unterscheidet sich mein Vorgehen allerdings fundamental von dem Honneths. Seine Studie hat eine vertikale Struktur: Auf die Darstellung der Theorie des frühen Horkheimer folgt die Adornos und Horkheimers, folgt die des späten Adorno, folgt Foucault, folgt Habermas etc. Er geht dabei zudem hierarchisierend vor. Honneth begreift die Ansätze, die er nacheinander rekonstruiert, eben als einander ablösende Reflexionsstufen der kritischen Gesellschaftstheorie. Am Ende steht ein (wenn auch kritisches) Plädoyer für die Überlegenheit des Habermasschen Ansatzes. Demgegenüber ist meine Arbeit horizontal strukturiert. Die Ansätze Arendts und Adornos werden zwar in ihren Theorieentwicklungen nachverfolgt, aber »nebeneinander« rekonstruiert. Zweitens – und wichtiger – nehme ich keine Hierarchisierung vor. Es geht mir hier ausdrücklich nicht um den Nachweis der Überlegenheit des einen Ansatzes über den anderen. Vielmehr sollen die Stärken und Schwächen beider herausgestellt werden.



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dabei aber in ihren Besonderheiten ernst genommen werden.20 Um das zu gewährleisten, wird sich meine Rekonstruktion so nahe wie möglich an den Originaltexten orientieren. Arendt und Adorno sollen hier gleichsam selbst zum Sprechen gebracht werden. Die Pointe besteht dann darin, dass es trotz gänzlich unterschiedlicher Theoriesprachen und Herangehensweisen in der Sache erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen den beiden gibt: Sie stellen an die geteilte zeitgeschichtliche Erfahrung nicht nur ähnliche Fragen, sondern kommen erstaunlicherweise teils auch zu vergleichbaren Antworten. Die systematische These dieser Arbeit setzt dann da ein, wo die rekonstruktive an ihre Grenzen stößt. Das heißt, sie knüpft an die verbleibenden Differenzen an und fragt, was beide Ansätze da voneinander »lernen« könnten, wo sie weiterhin unvereinbar scheinen. Meine Hypothese lautet, dass die beiden Denkgebäude genau da, wo sie am weitesten voneinander entfernt sind, in ein produktives Ergänzungsverhältnis gebracht werden können. Um eine sowohl in der Arendt- als auch in der Adorno-Forschung beliebte Formulierung abzuwandeln: Ich schlage vor, mit Arendt gegen Adorno und mit Adorno gegen Arendt zu denken.21 Dieses Ergänzungsverhältnis soll zugleich als eine Möglichkeit vorgestellt werden, über politische kritische Theoriebildung nachzudenken. Im Anschluss an Arendt und Adorno, so die systematische Pointe dieser Arbeit, lassen sich die Konturen einer politischen kritischen Theorie ziehen, die ihre (anspruchsvolle) Konzeption politischen Handelns und seine Kritische Theorie (der gesellschaftlichen Voraussetzungen dieses Handelns) zusammenzudenken in der Lage ist. Das vorliegende Buch hat zwei Teile. Im ersten Teil überwiegt das theoriegeschichtlich-vermittelnde Erkenntnisinteresse. In den ersten drei Kapiteln 20 Siehe auch Rolf Wiggershaus’ methodologische Reflexion in seinem Vergleich der beiden nicht minder unlikely encounters Adorno und Wittgenstein: »Vergleiche sollten überraschend sein und am Bekannten neue Seiten zutage treten lassen. Im Idealfall beleuchten die verglichenen Elemente wechselseitig sowohl gemeinsame Charakteristika, die an ihnen in unterschiedlich ausgeprägter Klarheit oder in unterschiedlicher Weise zutage treten, wie auch trennende Charakteristika, die ihre jeweilige Eigenart schärfer hervortreten lassen.« (Wiggershaus 2012: 14) 21 Formulierungen wie »mit Arendt gegen Arendt denken« (Benhabib 2006: 199; Jaeggi 2008: 5; Marchart 2005: 30) oder »mit Adorno gegen Adorno« (vgl. Prokop 2003; Wagner 2005: 218) werden zumeist genutzt, um mit den blinden Flecken oder den problematischen Elementen der jeweiligen Theorien umzugehen. Mit der Formulierung ist zugleich aber der Anspruch verbunden, sich bei dieser interpretatorischen Operation nicht allzu weit von der ursprünglichen Schlagrichtung Arendts oder Adornos zu entfernen.

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dieser Studie wird zunächst die These entfaltet, dass sich Arendts und Adornos Denken ähnlicher sind, als gemeinhin angenommen. Obwohl die Forschungslage insgesamt immer noch dünn ist, lassen sich bei den bislang vorliegenden Versuchen, die beiden Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen, drei thematische Gravitationszentren ausmachen. Alle drei resultieren mehr oder weniger direkt aus dem gemeinsamen Erfahrungsraum der beiden Denker_ in­nen. Denn auch wenn Arendt und Adorno ihre Theoriebildung in ganz unterschiedlichen Theoriesprachen und unter Berufung auf verschiedene Referenzen formulierten, haben beide doch eine ganz ähnliche Erfahrung verarbeitet: die Erfahrung totaler Herrschaft. Für Arendt wie für Adorno gilt: Totale Herrschaft und Auschwitz markieren »jene alles überschattende Katastrophe, der man innewerden muss, wenn man zu einem angemessenen Verständnis ihrer Philosophie […] kommen will.« (Meints-Stender 2011: 11) Für beide war die totale Herrschaft sowohl als persönliche wie auch als zeitgeschichtliche Erfahrung prägend. Arendt und Adorno, einem ähnlichen Milieu deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums entstammend, haben Diskriminierung, Flucht und Exil nicht nur ganz konkret am eigenen Leib erfahren, sondern sie verarbeiteten diese persönliche Erfahrung auch beide zu einer theoretischen Perspektive, wie sie auch in der aktuellen Sozialphilosophie wieder en vogue ist: eine Perspektive, die zwischen »[d]rinnen und draußen« (Adorno 2003d [1951]: 74), das heißt zwischen der Teilnehmer_innen- und der Beobachter_innenperspektive changiert (Kapitel 1). Beider Theoriebildung nimmt ihren Ausgangspunkt zudem beim Versuch, das Geschehene zu verstehen – »to comprehend the incomprehensible« (Villa 2008a: 216), was in ihren jeweiligen Analysen der totalen Herrschaft deutlich wird. Nicht nur werden von beiden ähnliche Fragen an das Phänomen Totalitarismus gestellt – die sich zudem von den Analyserahmen vieler ihrer Zeitgenoss_in­ nen unterscheiden –, sondern für beide bilden diese Verstehensversuche auch Ausgangspunkt und theoretisches Gerüst, vor dessen Hintergrund ihre jeweiligen Schriften überhaupt erst verständlich werden. Sie werden jeweils zu »Schlüsseln« zum Verständnis ihrer gesamten späteren Werke (Kapitel 2). Und schließlich kamen beide aufgrund ihrer Analysen zu der Einsicht, dass es auch einer Neuausrichtung der Philosophie selbst bedarf. So geht beider Denken nicht nur von der unermüdlichen Anstrengung aus, das Unbegreifliche des Zivilisationsbruchs zu begreifen. Auch wurden für beide in der Folge entschlossene Demontagen der philosophischen Tradition notwendig. Arendt und Adorno waren beide »zutiefst überzeugt, dass es galt, jenseits der traditionellen philosophischen Schulen und Methoden ›neu zu denken‹.«



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(Benhabib 2011: 658) Daher legten sie nicht nur jeweils ausführliche Kritiken der philosophischen Tradition vor, sondern stellten dem von ihnen kritisierten philosophischen Systemdenken auch eigene und eigenwillige (beide teilweise von Walter Benjamin inspirierte) methodische Neuausrichtungen entgegen. In beiden Fällen sind diese Neuausrichtungen von einer Vorliebe für den »Essay als Form« (Adorno 2003a [1958]: 9–33) gekennzeichnet, die ihre Texte als »Verfahrensweise des Denkens« (ebd.: 17) auch dort anleitet, wo es sich nicht um Essays im engeren Sinne der Literaturgattung handelt (Kapitel 3). Dies alles ist vor allem, aber eben nicht nur intellektuellen- oder theoriegeschichtlich interessant. Zugleich wird der zweite, stärker systematische Teil hiermit bereits angebahnt. Denn zum einen ist es ein Charakteristikum der hier von mir rekonstruierten Philosophien, dass sie nur vor dem Hintergrund der in Teil I beschriebenen Erfahrungen sowie der herausgearbeiteten Grund- und Ausgangspositionen überhaupt erst verständlich werden. Zum anderen hoffe ich durch den Nachweis, dass Arendt und Adorno sich an einigen zentralen Stellen ihrer Theoriebildung ähnlicher sind, als die Forschung bisher anzuerkennen bereit war, meinen systematischen Vorschlag, die beiden Ansätze in ein wechselseitig unterstützendes Verhältnis zu bringen, zugleich plausibler zu machen. Im vierten und fünften Kapitel wird sodann die systematische These stärker verfolgt, das heißt es wird die Möglichkeit einer gegenseitigen Komplementarität der Positionen von Arendt und Adorno ausgelotet. Das theoriegeschichtliche Vorgehen bleibt aber auch hier im Hintergrund methodisch leitend. Denn auch die Möglichkeit des Ergänzungsverhältnisses wird ausgewiesen, indem Arendts und Adornos Gedankengänge nachvollzogen und nebeneinandergelegt werden. Obwohl ihre jeweiligen Theorien mit ihren vergleichbaren Analysen totaler Herrschaft einen Ausgangspunkt gemeinsam haben und obwohl Arendt und Adorno mit ihren jeweiligen kritischen Theorien der Moderne ähnliche Diagnosen vorgelegt haben, könnten ihre Therapievorschläge unterschiedlicher nicht sein.22 Während Arendts Entgegnung auf ihre eigene kritische Analyse der Moderne in einer Erinnerung und Neuerzählung dessen besteht, was das Politische (gegenüber dem Sozialen) einmal geheißen haben mag und was 22 Ich benutze das der Medizin entlehnte Vokabular hier in Ermangelung eines treffenderen. Obwohl es gute Gründe gibt, dem skeptisch gegenüberzustehen, haben solche Begrifflichkeiten in der Sozialphilosophie und insbesondere in der neueren Kritischen Theorie eine gewisse Tradition, wie beispielsweise Axel Honneths Rede von den Pathologien des Sozialen anzeigt (vgl. Honneth 2012a).

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es heute wieder heißen könnte, besteht Adornos Antwort auf die Dialektik der Aufklärung in einer fortlaufenden Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, die er ausdrücklich als nicht politisch verstanden wissen will. In beiden Fällen führen diese Auswege – das dürfte selbst oberflächlichen Kenner_innen der beiden bekannt sein – zu eklatanten Vereinseitigungen. Arendt ist heute bekannt als eine Verfechterin eines anspruchsvollen politischen Handlungsbegriffs, die sich jedoch über die gesellschaftlichen Voraussetzungen ebendieses politischen Handlungsbegriffs keine Gedanken macht. Adorno auf der anderen Seite gilt als der Gesellschaftstheoretiker schlechthin, dem es wie kaum einem anderen an einem Politikbegriff mangelt. Genau an dieser Stelle möchte ich ansetzen und die beiden zusammendenken. Der Vorschlag, den ich damit unterbreiten werde, liegt nah und fern zugleich. Fern liegt er aus den bereits genannten Gründen: Aufgrund der unterschiedlichen theoretisch-philosophischen Traditionsbestände, aus denen Arendt und Adorno ihre Theorien jeweils aufbauen, sowie aufgrund der Tatsache, dass die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen (Politik versus Sozialkritik) nicht aus idiosynkratischen Vorlieben entstanden sind, sondern weil es theorie-immanente Gründe für das jeweilige Vorgehen gibt. Adornos Gesellschaftsdiagnose ist die einer »total verwalteten Gesellschaft«, in der die Möglichkeit zur Politik »auf unabsehbare Zeit vertagt« (Adorno 2003c [1966]: 15) ist. Arendts ontologisch anmutende und hierarchisierende Unterscheidung von Sphären (politisch kontra sozial) und Tätigkeitsweisen (Arbeiten, Herstellen, Handeln) priorisiert Politik sozusagen notwendigerweise. Das von mir vorgeschlagene Ergänzungsverhältnis liegt zugleich aber auch nahe, eben weil Arendt bekanntermaßen eine politische Theoretikerin ist, die sich über die gesellschaftlichen Voraussetzungen der von ihr anempfohlenen Politik keine Gedanken machen will. Adorno auf der anderen Seite gilt als Gesellschaftstheoretiker, dem es wie kaum einem anderen an einem Politikbegriff mangelt. Ein Baukastenmodell, in dem der eine die »Leerstelle«23 der anderen ausfüllt und vice versa, scheint sich hier geradezu aufzudrängen: »Die politische Problematik der Moderne kann der ökonomischen nicht untergeordnet werden, anders als die kritische Theorie weithin annahm. 23 Grit Straßenberger nennt Arendts Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen »die entscheidende Leerstelle von Arendts Theorie« (Straßenberger 2020: 140). Helmut König spricht von der »Leerstelle politischer Theorie« in Adornos Denken (König 2016: 346).



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Zugleich muss jedoch in Antwort auf diese Beobachtung ein schlichtes Hinübergleiten von einer sozioökonomisch fundierten Gesellschaftstheorie zu einer politischen Philosophie, die das Politische vom Sozioökonomischen abtrennt, vermieden werden. Ein solches Hinübergleiten fand sowohl im individualistischen Liberalismus, dem Mainstream heutiger politischer Theo­rie, als auch bei einigen kritischen Denkern wie Hannah Arendt und in geringerem Ausmaß Claude Lefort statt […]. Eine angemessenere Antwort müsste das Politische mit dem Ökonomischen artikulieren.« (Wagner 2005: 224 f.) Eine solche Vermittlung, so die hier zugrundeliegende These, könnte gelingen, wenn die begrifflichen Werkzeugkästen Arendts und Adornos in ein wechselseitig unterstützendes Verhältnis zueinander gebracht würden. Meine These, um das ganz explizit herauszustellen, geht über das modulare Baukastenmodell noch hinaus, das sich hier aufdrängt: Ich behaupte nicht nur, dass Arendt und Adorno gleichsam beliebig die Leerstelle der_des jeweils anderen ausfüllen, sondern ich vertrete die These, dass sie sie (einigermaßen) angemessen ausfüllen: Arendts Verständnis des Politischen (gerade wie es jüngst rezipiert wird) könnte einen Politikbegriff bereitstellen, der mit Adornos Einwänden, denen zufolge es keinen positiven Politikbegriff geben kann, kompatibel ist. Dies könnte die nächstmögliche Annäherung an ein Politikverständnis darstellen, das Adornos Kritischer Theorie angemessen ist (Kapitel 4). Umgekehrt könnte sich Adornos spezifisches negatives Kritikverständnis als ein Instrument erweisen, mit dem sich über die wiederum bei Arendt problematische »soziale Frage« in einer Weise nachdenken lässt, die Arendts Einwänden gegen ebendiese standhält (Kapitel 5). Am Ende könnte eine Vermittlung im besten Hegelschen Sinne stehen, das heißt die »Aufhebung immanenter Gegensätze, ohne dass ihre jeweiligen Momente verloren gehen« (Llanque 2019: 74; Hervorh. T. A.). Das Hauptanliegen dieses Buches ist es, diese potentielle Kompatibilität von Arendts politischer Handlungstheorie und Adornos Gesellschaftskritik auszuweisen. Die Hoffnung ist, auf diesem Wege zu einem weiteren Vorschlag zu kommen, was eine politische kritische Theorie heute sein könnte und deren Umrisse im Ausgang von Arendt und Adorno anzudeuten. Ganz zum Schluss wird in einem Ausblick noch das Potential dieses Vorschlags verdeutlicht werden. Denn die Frage nach dem Verhältnis von kritischer Theorie und politischer Praxis wird aktuell wieder leidenschaftlich diskutiert (vgl. Bohmann und Sörensen 2019; Deranty und Genel 2021; Harcourt 2020). Auch wenn dies in erster Linie eine Arbeit zum Verhältnis zweier

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bestimmter Autor_innen ist – es geht mir vor allem darum, die Topografie des Verhältnisses von Arendt und Adorno zuallererst einmal zu zeichnen –, kann die dabei vertretene These auch über Arendt und Adorno hinaus von Interesse sein: Denn ich glaube, damit auch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage zu leisten, wie eine Integration der Kritik sozialer Verhältnisse in ein Verständnis politischen Handelns als Modus der Veränderung ebendieser Verhältnisse von der kritischen Theorie heute gedacht werden könnte.

I. »Affinität wider Willen«

Anfang des Jahres 1968 veröffentlichte Hannah Arendt unter dem Titel Menschen in finsteren Zeiten eine Sammlung von essayistischen Portraits.24 Der Band befasst sich, wie es im Vorwort heißt, »[h]auptsächlich […] mit Personen – mit der Art und Weise, wie diese ihr Leben lebten, wie sie sich in der Welt bewegten und wie sie von der geschichtlichen Zeit berührt wurden.« (Arendt 2012a [1968]: 7) Eine illustre Runde an Denker_innen unterschiedlichster Couleur – Rosa Luxemburg, Karl Jaspers, Tania Blixen, Martin Heidegger, Walter Benjamin sowie Bertolt Brecht, um nur einige zu nennen – findet sich hier zwischen zwei Buchdeckeln versammelt. »Die Menschen, die hier zusammengebracht werden«, schreibt Arendt über die Auswahl, »könnten kaum verschiedener sein, und man kann sich unschwer vorstellen, wie sie sich, wenn befragt, gewehrt hätten, sozusagen in einem gemeinsamen Raum versammelt zu werden. Denn weder in ihren Begabungen noch in ihren Überzeugungen, weder hinsichtlich ihres Berufs noch in bezug auf ihr Milieu weisen sie Gemeinsamkeiten auf« (ebd.). Das Einzige, was sie verbindet, so Arendt, ist Zeitgenossenschaft. Doch selbst Zeitgenossenschaft würde die Zusammenstellung unter den meisten Umständen wahrscheinlich noch nicht rechtfertigen. Es sind jedoch besondere Zeiten (und eine besondere Haltung gegenüber diesen Zeiten), die ihre Versammlung in einem Buch motiviert: »Gemeinsam also ist allen das Zeitalter, in das ihre Lebenszeit fiel, die Welt der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren politischen Katastrophen, moralischen Desastern und einer erstaunlichen Entwicklung von Kunst und Wissenschaft.« (Ebd.)

24 Der Band erschien 1968 auf Englisch als Men in Dark Times. Die deutsche Ausgabe wurde erst postum 1989 veröffentlicht.

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Diese Zeilen aus dem Vorwort zu Menschen in finsteren Zeiten könnten auch dem ersten Teil dieses Buches als Motto voranstehen. Denn sie gelten gleichermaßen für Hannah Arendt wie für Theodor W. Adorno. Auch sie waren Zeitgenossen. Ganz sicher hätten auch Arendt und Adorno, wenn gefragt, dagegen protestiert, hier in einem Raum versammelt zu werden. Vor allem aber teilen sie das zentrale, von Arendt hier genannte Kriterium: Auch sie wurden durch genau jene finsteren Zeiten geprägt, die Arendt beschreibt. Auch in ihrem Fall sind daraus erstaunliche Werke mit erheblicher Wirkmächtigkeit entstanden.25

1. Die Erfahrung des Totalitarismus »Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken.« Arendt, Fernsehgespräch mit Günter Gaus

Anders als Arendt es für ihre »Persönlichkeitsprofile« (ebd.: 10) in Menschen in finsteren Zeiten diagnostiziert, entstammten Arendt und Adorno sogar einem ähnlichen Milieu und hatten in Walter Benjamin und Gershom Scholem sogar gemeinsame Freunde. Das nun folgende erste Kapitel beginnt mit einer Skizze dieses Milieus. Ich werde zeigen, dass Arendt und Adorno zunächst einmal einen ähnlichen persönlichen Erfahrungshintergrund hatten. Beide wurden fast zur gleichen Zeit in assimilierte deutsch-jüdische Familien hineingeboren, in denen philosophische Bildung eine große Rolle spielte. Beide mussten ihre Heimat jedoch später verlassen und vor den Schergen des Nationalsozialismus in die USA fliehen. Die Erfahrung von Flucht und 25 Nach Alfons Söllner stellen Arendt und Adorno Vertreter_innen eines »Epochentypus« dar, der durch eine spezifische Erfahrung geprägt ist, aber daraus auch einen Teil seiner großen Wirkmächtigkeit gezogen hat: »Dieser Wissenschaftler wurde durch politische Verfolgung und Flucht, durch Exil und die Drohung des Holocaust aus seinem angestammten Wirkungsfeld herausgerissen und musste sich in einem ungewohnten Umfeld, oft im westlichen Ausland neu orientieren.« (Söllner 2018a: 7) Das war mit einer erheblichen Kraftanstrengung und einem großen Risiko des Scheiterns verbunden. Für diejenigen, die damit jedoch erfolgreich waren, »erwuchsen daraus große Wirkungsmöglichkeiten« (ebd.).



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anschließendem Exil wurde von Arendt und Adorno aber nicht nur geteilt, sondern zudem auch ähnlich wahrgenommen und vergleichbar theoretisch verarbeitet. Denn beide machten sich die Außenseiterstellungen, die ihnen in und durch diese Situation aufgezwungen wurden, zu eigen und wandelten sie in Positionen der Stärke um. Die Ergebnisse dieser Umwandlung – die Figuren der bewussten Paria und des Intellektuellen in der Emigration – stellen in beiden Fällen schließlich frühe Inkarnationen ihrer später systematisch entwickelten Politik- respektive Kritikverständnisse dar. 1.1 Zwischen deutscher Philosophie und jüdischer Erfahrung Arendt und Adorno gehörten zu den letzten Repräsentant_innen eines deutsch-jüdischen Milieus, das überdurchschnittlich viel an Philosophie, Wissenschaft und Kunst zum Pantheon des 20. Jahrhunderts beigetragen hat (Feldmann 2007: xli). Als dessen Mitglieder mussten beide vor den Nationalsozialisten fliehen. Für beide – auch das innerhalb dieses Milieus keine Seltenheit (König 2016: 207) – spielte ihr Judentum zunächst jedoch kaum eine Rolle. Arendt wurde zwar in eine Familie selbstbewusster Königsberger Jüdinnen und Juden hineingeboren, und ihre Zugehörigkeit zum Judentum, so sollte sie später zu Protokoll geben, war ihr immer eine Selbstverständlichkeit: »Tatsache ist, daß ich nicht nur niemals so getan habe, als sei ich etwas anderes […], ich habe niemals auch nur die Versuchung dazu verspürt […]. Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens« (Arendt 2013 [1963]: 31 f.). Über diese Selbstverständlichkeit hinaus kam der jüdischen Tradition für Arendts Erziehung aber keine besondere Bedeutung zu. Ihr Vater war früh gestorben, ihre Mutter nicht religiös (Arendt 2013 [1964]: 52). Stattdessen las Arendt schon in jungen Jahren Kant und Kierkegaard. Später studierte sie unter anderem bei Martin Heidegger, Karl Jaspers und Rudolf Bultmann Philosophie. Als Nebenfächer wählte sie Theologie und Griechisch. »Wenn ich überhaupt aus etwas ›hervorgegangen‹ bin«, schrieb sie später rückblickend in einem Brief an Gershom Scholem, »so aus der deutschen Philosophie.«26 (Ebd.: 31)

26 Vgl. auch die Einschätzung von Judith Shklar: »Arendt did not get any Jewish education, but what she did receive was Bildung, and of that the best – gymnasium, private tutors, and finally a brilliant university career ending with a Ph.D. thesis on Saint Augustine.« (Shklar 1998: 364)

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Dieses Selbstverständnis sollte sich erst als Reaktion auf antisemitische Diskriminierung ändern. Arendt hat ihre »Zugehörigkeit zu der Gruppe der aus Deutschland […] vertriebenen Juden« (Arendt 2012 [1959]: 29) später nachdrücklich betont. In ihrer 1959 gehaltenen Rede bei der Entgegennahme des Hamburger Lessing-Preises rekapituliert sie diesen Umstand: »Ich darf in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, daß ich lange Jahre hindurch auf die Frage: Wer bist du? die Antwort: Ein Jude, für die einzig adäquate gehalten habe, nämlich für die einzige, die der Realität des Verfolgtseins Rechnung trug.« (Ebd.) Schon vor der institutionalisierten Verfolgung durch die Nazis wurde Arendt vor allem durch Fremdzuschreibungen über ihre jüdische Herkunft »aufgeklärt« (Arendt 2013 [1964]: 53), wie sie es in dem bekannten Fernsehgespräch mit Günter Gaus einmal formuliert hat. Arendt berichtet in diesem Interview weiter von einem regelrechten Verbot ihrer Mutter, sich in diesen Situationen in eine Opferrolle zurückzuziehen: »Wenn etwa von meinen Lehrern antisemitische Bemerkungen gemacht wurden – meistens gar nicht mit Bezug auf mich, sondern in bezug auf andere jüdische Schülerinnen, zum Beispiel ostjüdische Schülerinnen –, dann war ich angewiesen, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben. Dann schrieb meine Mutter einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe; und die Sache war für mich natürlich völlig erledigt. Ich hatte einen Tag schulfrei, und das war doch ganz schön. Wenn es aber von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen. Das galt nicht. Was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber. Und so sind diese Sachen für mich nie zum Problem geworden.« (Ebd.: 54 f.) Maike Weißpflug (2019: 38 ff.) deutet diese Erfahrung als Vorprägung einer Haltung, die Arendt später in die theoretische Figur der_des bewussten Paria (1.3) überführen und als öffentlich intervenierende streitbare Intellektuelle auch selbst verkörpern sollte. Arendt bietet eine solche Deutung auch selbst an: »Sehen Sie«, erklärt sie gegenüber Gaus, »der Antisemitismus ist allen jüdischen Kindern begegnet. Und er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet. Der Unterschied bei uns war, daß meine Mutter immer auf dem Standpunkt stand: Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren!« (Arendt 2013 [1964]: 54) Aus der Retrospektive ist nicht nur das anfängliche Desinteresse an der jüdischen Tradition bemerkenswert. Auch hat sich Arendt, die später vehement darauf bestehen sollte, politische Theoretikerin und keine Philosophin



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zu sein (ebd.: 46 f.), nach eigenen Angaben »in der Jugend weder für Geschichte noch für Politik interessiert« (Arendt 2013 [1963]: 31). Auch das änderte sich mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Arendt datiert ihre Hinwendung zum Politischen ziemlich präzise auf den 27. Februar 1933, den Reichstagsbrand und die anschließenden Verhaftungen: Dieser Augenblick sei für sie »ein unmittelbarer Schock [gewesen], und von diesem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt.« (Arendt 2013 [1964]: 50) Die Hinwendung zum jüdischen Selbstverständnis und zur Politik gehen bei ihr Hand in Hand. Arendt fragte sich in dieser Situation: »Was kann ich ganz konkret als Jude machen?« (Ebd.: 59) Die Gelegenheit, sich als Jüdin zu engagieren, sollte sich ergeben. Auf Anfrage Kurt Blumenfelds begann Arendt für die Zionistische Vereinigung für Deutschland zu arbeiten, für die sie Sammlungen antisemitischer Äußerungen »auf unterer Ebene« (ebd.: 51) anlegte. Sie dokumentierte antisemitische Positionen in Vereinen, Berufsverbänden und Fachzeitschriften, das heißt in all denjenigen Kontexten, die zu unbedeutend waren, um in den 1930er Jahren international publik zu werden. Ihre Zusammenstellung wurde allerdings entdeckt und Arendt von der Gestapo verhaftet. Als sie nach acht Tagen Internierung wieder freigelassen wurde, floh sie sofort aus Deutschland. Der Entschluss dazu hatte sich schon vor der Festnahme angekündigt.27 »[Ü]ber die grüne Grenze« (ebd.: 52) führte Arendts Weg über Karlsbad, Prag und Genua schließlich nach Paris, das zu der Zeit ein Zufluchtsort für viele jüdische und/oder linke Intellektuelle war.28 Als Staatenlose war sie hier wieder für eine zionistische Organisation tätig, dieses Mal in der Jugend-Alijah, die jüdischen Jugendlichen die Ausreise nach Palästina ermöglichte. Arendt lebte sieben Jahre in Paris, bevor sie nach dem Überfall der Deutschen auf Polen ein zweites Mal verhaftet wurde; dieses Mal nicht weil sie Jüdin, sondern weil sie Deutsche war. Als »feindliche Ausländerin« wurde sie im Mai 1940 zusammen mit anderen Frauen ins südfranzösische Internierungslager Gurs gebracht. Sie konnte aus diesem noch im selben Jahr wieder fliehen und entging so nur knapp der Übergabe des Lagers an die Deutschen und damit der Deportation (Young-Bruehl 2004: 153  ff.). 27 »Ich hatte nicht die Absicht, in Deutschland sozusagen als Staatsbürger zweiter Klasse herumzulaufen, in welcher Form auch immer.« (Arendt 2013 [1964]: 50) 28 Arendt lernte hier unter anderem ihren zweiten Mann, Heinrich Blücher, kennen – die Ehe mit Günther Stern (Anders) wurde 1936 geschieden – und freundete sich mit Walter Benjamin an. Eine ausführliche Darstellung des Pariser Exils gibt Young-Bruehl in ihrer Biografie Arendts (Young-Bruehl 2004: 115–163).

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Arendts Fluchtroute führte sie durch Südfrankreich über die Pyrenäen und dann nach Lissabon. Im Mai 1941 schließlich gelang ihr von dort zusammen mit Heinrich Blücher die Ausreise in die USA. Ihre Mutter folgte ihnen wenige Wochen später nach und die drei begannen eine zunächst unsichere Flüchtlingsexistenz in New York. Auch für Adorno war die deutsch-jüdische Erfahrung prägend. Für ihn spielte das Judentum vor der Verfolgung durch die Nazis sogar eine noch geringere Rolle als für Arendt. Als Sohn eines assimilierten Vaters, der sich dem liberalen Frankfurter Bürgertum näher fühlte als der jüdischen Religion (und sich schließlich taufen ließ), und einer katholischen Mutter ist Adorno strenggenommen – das heißt nach rabbinischem Recht – gar kein Jude (Brumlik 2003: 75). Auch in seiner Erziehung spielte diese Tradition keine Rolle. Adorno, der auf Wunsch seiner Mutter katholisch getauft wurde, übernahm die »nüchtern-säkulare Einstellung« seines Vaters und entwickelte »zur mosaischen Konfession wie generell zu den Religionen keine engeren Beziehungen« (Müller-Doohm 2011: 37). Erst unter dem Eindruck der Shoa sollte er ein engeres Verhältnis zur jüdischen Tradition ausbilden. Auch wenn sich Adornos Hinwendung zum Judentum noch etwas später vollzog, ähnelt sie hierin durchaus der Arendts. Die mit Adorno befreundete Journalistin Dorothea Razumovsky hat das in einer Erinnerung einmal wie folgt formuliert: »Nicht sein Vater, der tolerante großbürgerlich assimilierte Weinhändler Oscar Wiesengrund, sondern Hitler hatte ihn zum Juden gemacht.« (Razumovsky 2007: 280) Wie Arendt kommt auch Adorno dem eigenen Selbstverständnis nach am ehesten aus der deutschen Philosophie: »Die Substanz meiner Gedanken ist noch in dem, wo sie scharf gegen die deutsche Tradition sich wenden, von dieser Tradition nicht zu trennen« (Adorno 2003b [1969]: 394).29 In »einer ganz und gar von theoretischen […] und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre aufgewachsen« (Adorno und Mann 2002: 33), wurde das »Wunderkind« Adorno durch seinen 14 Jahre älteren Freund Siegfried Kracauer früh philosophisch geschult (Müller29 Dass Adornos Verhältnis zur deutschen Tradition wahrscheinlich schon vor der Machtübergabe kein ungebrochenes war, deutet er auch in einem Brief an Thomas Mann an, den er im kalifornischen Exil kennengelernt hatte. Am 3. Juni 1945 schreibt er diesem: »Als ich Sie, hier an der entlegenen Westküste, treffen durfte, hatte ich das Gefühl, zum ersten und einzigen Mal jener deutschen Tradition leibhaftig zu begegnen, von der ich alles empfangen habe: noch die Kraft, der Tradition zu widerstehen.« (Adorno und Mann 2002: 17)



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Doohm 2011: 61–81). Mehrere Jahre lang lasen die beiden an Samstagnachmittagen gemeinsam Kants Kritik der reinen Vernunft. Eine Erfahrung, die Adornos eigenem Zeugnis nach kaum überbewertet werden kann: »Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, daß ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern.« (Adorno 2003b [1964]: 388) An der Universität Frankfurt studierte Adorno dann Philosophie, Musikwissenschaften, Psychologie und Soziologie. Hier lernte er 1922 Max Horkheimer kennen und schloss sein Studium 1924 mit einer Dissertation zu Husserls Phänomenologie ab (Adorno 2003 [1924]: 7–77). Nach Fertigstellung der Habilitation hielt Adorno 1931 seine Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie. Zum Zeitpunkt der Machtübergabe an die Nationalsozialisten stand er am Beginn einer vielversprechenden akademischen Karriere. Obwohl Hitlers Aufstieg dieser Entwicklung der Dinge einen Strich durch die Rechnung machte, verlief Adornos Politisierung zögerlicher als die Arendts. Das ist insofern auffällig, als das Frankfurter Institut für Sozialforschung und seine Mitarbeiter_innen – Adorno war zu diesem Zeitpunkt noch kein Angestellter dort, bewegte sich aber bereits im Umfeld des Instituts – früh ins Visier der Nationalsozialisten gerieten. Nicht nur waren viele Mitglieder des Arbeitszusammenhangs jüdischer Herkunft, auch handelte es sich um eine mehr oder weniger offen marxistische Institution. So wurde das Institut bereits im März 1933 geschlossen und seine Mitglieder wurden aus dem Hochschuldienst entlassen. Adorno selbst entzog man am 8. September 1933 die Lehrberechtigung.30 Während der damalige Institutsleiter Max Horkheimer die vom Nationalsozialismus ausgehende Gefahr frühzeitig erkannte und darauf reagierte – schon vor der Machtübergabe hatte er damit angefangen, Zweigstellen des Instituts zunächst in Genf und später in London und Paris einzurichten sowie Institutsvermögen ins Ausland zu transferieren –,31 unterschätzte Adorno die Situation anfangs massiv und zögerte mit der Emigration. 30 Adorno soll das ironisch kommentiert haben: »Je venia legendi, desto besser« (zit. nach Müller-Doohm 2011: 270). 31 Dieses vorausschauende Handeln spricht nicht nur für eine Klarsicht Horkheimers in politischen Dingen, auch handelt es sich um ein anschauliches Beispiel dafür, wie ernst das häufig beschworene Credo der Verzahnung von Theorie und Praxis am Institut damals genommen wurde. Denn Horkheimers rechtzeitige Vorbereitungen können durchaus als direkte Reaktion auf die 1929/1930 unter Leitung von Erich Fromm durchgeführte Studie Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs (Fromm 1980 [1929/30]) gedeutet werden. Die Studie hatte mittels psychoanalytisch informierter Interviews nach den unbewussten Dispositionen gefragt, die den Einstellungen von Arbeiter_innen und Angestell-

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Das Ausmaß dieser Fehleinschätzung ist in Briefen an Freunde und Kollegen gut dokumentiert.32 1932 beschreibt Adorno zunächst die Lage noch als »ermutigend«. Am 15. April 1933 – also nach dem Ermächtigungsgesetz, nach dem Beginn der Entlassung von jüdischen und politisch missliebigen Beamt_innen aus dem öffentlichen Dienst und nach der Zerschlagung der Gewerkschaften – ermuntert er noch den sich im Pariser Exil befindenden Kracauer, nach Deutschland zurückzukommen: »Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung.« Er glaube sogar, so Adorno weiter, »die Verhältnisse werden sich konsolidieren« (Adorno und Kracauer 2008: 308). Ein Jahr später beginnen sich »die Anzeichen des Verfalles« laut Adorno »derart zu häufen«, dass es »immerhin fraglich zu werden beginnt, ob der Nazistaat allzulange Zeit behalten wird.« (Adorno und Benjamin 1994: 64) Selbst 1935 ist die Situation für ihn noch nicht entschieden, da »die Gleichschaltung der Arbeiter nicht gelungen ist und die Betriebsratswahlen […] eine sich bildende Opposition erkennen [lassen]« (Adorno und Horkheimer 2003: 69). Immer wieder äußert Adorno die Hoffnung, dass der Spuk bald vorüber sein werde. Schließlich habe er, wie er in einem Brief an Horkheimer schreibt, »teilweise sogar, ohne Konzessionen zu machen, in Deutschland publiziert« (Adorno und Horkheimer 2003: 38). Aus einer dieser »konzessionslosen« Publikationen sollte ihm unter anderem Arendt später einen Strick drehen. 1934 besprach Adorno einen Chorzyklus von Herbert Mützel. Dieser hatte einen Gedichtband des damaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach vertont. Adorno lobt in seiner Besprechung das Musikstück dafür, dass es »durch die Wahl der Gedichte Schirachs […] bewußt nationalsozialistisch markiert« sei und »dem Bild einer neuen Romantik« entspreche, »vielleicht von der Art, die Goebbels als ›romantischen Realismus‹ bestimmt hat.« Als es 30 Jahre später zur Auseinandersetzung zwischen Adorno und der bundesrepublikanischen Studierendenbewegung kam – ich werde auf diese im vierten Kapitel noch genauer eingehen –, wurde die Rezension von der Frankfurter Studierendenzeitung Diskus der Vergessenheit entrissen und skandalisiert. Adorno verteidigte sich ten zugrunde lagen. Die Ergebnisse hatten vorausgesagt, dass ein Großteil der Befragten – trotz anderslautender öffentlicher (Lippen)bekenntnisse als »links« oder sogar »revolutionär« – in seiner psychologischen Struktur mindestens als »ambivalent« oft aber auch als klar »autoritär« einzustufen war und sich daher dem sich andeutenden Siegeszug der Nationalsozialisten kaum entgegenstellen würde. Über die Bedeutung der Studie für den Entschluss, die Emigration vorzubereiten, informiert Müller-Doohm (2011: 264–270). 32 Viele der im Folgenden zitierten Briefstellen finden sich auch bei Auer (2003: 37).



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in einem offenen Brief, der in der gleichen Ausgabe des Diskus abgedruckt wurde.33 Zum einen, so gibt er darin zu bedenken, sei seine Intention kritischer Natur gewesen: Die Idee sei gewesen, als Fürsprache getarnt, das Projekt moderner, von den Nazis eigentlich als »entartet« gebrandmarkter Musik zu retten. Vernünftigen Leser_innen müsse angesichts der Situation von 1934 klar sein, dass die »dumm-taktischen Sätze« als »captationes benevolentiae« zu verstehen seien, um der neuen Musik »zum Überwintern im Dritten Reich zu verhelfen.« Zum anderen drückt Adorno in seiner Antwort aber auch sein Bedauern aus. Er gesteht einen Fehler ein und entschuldigt sich für seine »Torheit« (alle Zitate nach Kraushaar 1998, II: 168). Doch Arendt überzeugte das nicht. Adornos Entschuldigung hielt sie nicht davon ab – zumindest privat –, ins gleiche Horn zu blasen wie die protestierenden Student_innen. Sie bezichtigte Adorno gar des »mißlungene[n] Gleichschaltungsversuch[s]«. In einem Brief an Karl Jaspers kommentiert sie seine Reaktion: »Er antwortete in einem unbeschreiblich kläglichen Brief, der aber auf die Deutschen großen Eindruck gemacht hat. Die eigentliche Infamie bestand darin, daß er, halbjüdisch unter lauter Juden, diesen Schritt natürlich ohne Informierung seiner Freunde getan hat. Er hatte gehofft, mit der mütterlich italienischen Seite (Adorno versus Wiesengrund) durchzukommen.« (Arendt und Jaspers 1993: 679) Ich führe die Episode hier nicht nur als Anekdote an, weil es sich um eine der wenigen Situationen handelt, in denen Arendt (wenn auch nur privat) überhaupt über Adorno gesprochen hat, sondern auch, weil sich an ihr etwas über Adornos scheinbare Naivität zeigen lässt. Denn die Episode macht auch deutlich, wie ungern Adorno Deutschland – seine kulturelle, sprachliche und akademische Heimat – verlassen wollte. Wir verstehen seine viel zu optimistische Einschätzung der Situation besser, wenn wir sie vor einem doppelten Hintergrund situieren: Sicherlich einerseits vor dem Hintergrund einer allem Anschein nach tatsächlich vorhandenen leichten Naivität in politischen Dingen. Andererseits erklärt sich der bemerkenswerte Optimismus des ansonsten eher für das Gegenteil bekannten Adorno zumindest teilweise 33 Die Rezension wurde zusammen mit einem offenen Brief des Studenten Claus Chr. Schroe­der sowie Adornos Antwort in Diskus – Frankfurter Studentenzeitung, (13. Jg./1963, Nr. 1, Januar, S. 6) veröffentlicht. Alle drei Texte finden sich heute auch in Band II von Wolfgang Kraushaars dreibändiger Dokumentation Frankfurter Schule und Studentenbewegung (1998: 164–169), aus der ich hier und im Folgenden zitiere.

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aber auch daraus, dass er die Realität nicht wahrhaben wollte. Adorno deutet das in seinem Brief an die Studierenden selbst an: »Der wahre Fehler lag in meiner falschen Beurteilung der Lage; wenn sie wollen, in der Torheit dessen, dem der Entschluß zur Emigration unendlich schwer fiel« (nach Kraushaar 1998, II: 168). Und so emigrierte Adorno – obwohl er in Nazideutschland von Anfang an massive Diskriminierungen erfahren hatte – erst nach langem Zögern und eher widerwillig nach England. Dort musste sich der habilitierte ehemalige Privatdozent am Merton College wieder als »advanced student« in Philosophie einschreiben und erneut einen PhD-Abschluss machen. Selbst das englische Exil begriff er zunächst noch als »Moratorium« (zit. nach Kramer 2019: 12). Noch bis 1937 reiste Adorno regelmäßig zu Besuchen nach Deutschland. Erst nach und nach begann er, das gesamte Ausmaß der politischen Lage zu realisieren. Deutschland sei »grauenvoller als je«, schreibt er schlussendlich an Horkheimer, das Land »wirklich bis in den kleinsten Alltag hinein zu einer Hölle geworden« (Adorno und Horkheimer 2003: 85). 1938 folgte er diesem schließlich in die USA. Dabei scheint es, als habe sich Adornos politische Naivität im letzten Moment in erschreckende Hellsichtigkeit verwandelt. Am Tag vor seiner Abreise schreibt er an Horkheimer: »[W]ir fahren denn wie vorgesehen morgen […]. Es ist psychologisch und möglicherweise auch im handgreiflichsten Sinne, ohne alle Übertreibung, der letzte Augenblick. Die europäische Situation ist völlig verzweifelt […]. Österreich wird Hitler zufallen und er wird sich dadurch, in einer vom Erfolg völlig faszinierten Welt, wieder ad indefinitum stabilisieren und auf der Basis des grauenvollsten Terrors. Es ist kaum mehr daran zu zweifeln, daß in Deutschland die noch vorhandenen Juden ausgerottet werden: denn als Enteignete wird kein Land der Welt sie aufnehmen.« (Adorno und Horkheimer 2004: 29)

1.2 Die Erfahrung des Exils Kindheit und Jugend in Europa, anschließende Flucht und letztlich Exil sind Erfahrungen, die im 20. Jahrhundert Millionen von Menschen – zumal Jüdinnen und Juden, Intellektuelle und Linke – teilten. Was Arendt und Adorno herausstellt, ist, dass sie als Theorieschaffende, die wie wenige andere »kraft ihrer eigenen Subjektivität wirkten« (Brumlik 2003: 75), schriftlich



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über das Erlebte reflektiert haben. Obwohl die Theoriesprachen, in denen ihre Reflexion sich artikuliert, zunächst unterschiedliche sind – Arendt thematisiert die Erfahrung von Flucht und Exil dezidiert politisch und vor dem Hintergrund der jüdischen Assimilationsgeschichte, Adorno nimmt vor allem die Perspektive des Theoretikers ein, der seine Identität als Philosoph und Intellektueller gefährdet sieht –, stoßen beide doch auf ähnliche Schwierigkeiten und begegnen im Kern demselben Problem.34 In beiden Fällen handelt es sich bei diesen Reflexionen zudem nicht um Memoiren. Vielmehr stellt die Entwurzelungserfahrung für beide einen wichtigen Ausgangspunkt ihrer Theoriebildung dar. Arendt, die mit einem Stipendium nach New York gekommen war, das ihre zionistischen Kontakte ihr vermittelt hatten, konnte sich in den USA trotz zunächst mäßiger Englischkenntnisse relativ schnell einen Namen als Publizistin machen. Sie schrieb für zumeist jüdische (Exilanten)zeitschriften wie Aufbau, The Menorah Journal, Jewish Frontier, Partisan Review, The Nation, Dissent oder Commentary. Arendt veröffentlichte nicht ausschließlich, aber überwiegend zu jüdischen Angelegenheiten: Die jüdische Assimilationsgeschichte oder der Zionismus und die Möglichkeit einer jüdischen Armee gehörten ebenso zu ihren Themen wie die Erfahrung von Emigration und Exil.35 Ein Artikel aus dieser Zeit, in dem Arendt unter dem Titel Wir Flüchtlinge über ihre persönliche wie die kollektive Fluchterfahrung nachdenkt, ist vor ein paar Jahren in den deutschen Feuilletons zu spätem Ruhm gekommen.36 Es wird oft angemerkt, dass der Text »in bitterer Ironie« 34 Dirk Auer, dessen Aufsatz Paria wider Willen. Adornos und Arendts Reflexionen auf den Ort des Intellektuellen eine wichtige Pionierarbeit für dieses Kapitel darstellt, hat argumentiert, dass das kein Zufall ist: »Der Jude und der Intellektuelle nehmen in der Epistemologie der Moderne eine ganz ähnliche Stellung ein; sie sind die symbolische Repräsentation von Differenz, das heißt von dem, was nie ganz in die Ordnung integrierbar ist. Entsprechend ist der Antiintellektualismus schon seit der Dreyfus-Affäre fast immer mit dem Antisemitismus verbunden: Für beide Ideologien galten sowohl der Jude als auch der Intellektuelle als wurzellos, dekadent, unpatriotisch, zersetzend.« (Auer 2003: 39) 35 Jerome Kohn und Ron H. Feldman haben diese und spätere Texte Arendts zu jüdischen Themen editiert und unter dem Titel The Jewish Writings herausgegeben (vgl. Arendt 2007). Auf deutsch haben Marie Luise Knott und Ursula Ludz mittlerweile eine Auswahl dieser Texte unter dem Titel Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966 versammelt (vgl. Arendt 2019). 36 Der Essay erschien 1943 unter dem Titel We Refugees als eine der ersten englischsprachigen Veröffentlichungen Arendts im Menorah Journal und wurde 1978 in The Jew as Pariah sowie 2007 in The Jewish Writings erneut abgedruckt. Im deutschen Sprachraum fand er lange Zeit keine Beachtung. Erst 1986 wurde der Text das erste Mal ins Deutsche übersetzt. Infolge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 stellte er einen der meistzitierten

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(Knott 2017: 20; Bernstein 2020: 18) abgefasst wurde. Er hat außerdem einen sehr persönlichen Ton. Arendt schreibt oft »wir« oder »uns« und bedient sich vieler Beispiele, die sie selbst erlebt hat. Unter anderem berichtet sie auch von Geschehnissen im Lager Gurs, wo sie, wie sie lapidar formuliert, »die Gelegenheit hatte, einige Zeit zu verbringen« (Arendt 2016 [1943]: 18). Wir Flüchtlinge stellt eine der direktesten Verbindungen zwischen persönlich Erlebtem und Ideen, Konzepten und Denkfiguren Arendts dar. Der Text beginnt mit einer Erläuterung: »Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ›Flüchtlinge‹ nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ›Neuankömmlinge‹ oder als ›Einwanderer‹.« (Ebd.: 9) Dieses Beharren auf einer bestimmten Denomination ist keine Eitelkeit. Arendt versucht hiermit vielmehr das Neuartige dieses Status herauszustellen: »Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mußten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt.« (Ebd.) Denn der einzige »Grund« für die Verfolgung Arendts und ihrer Leidensgenoss_innen war die Tatsache, dass sie jüdisch waren. Ihre Erfahrung von Verfolgung und Flucht impliziert für sie »den Zusammenbruch der privaten Welt.« (Ebd.: 11) Damit ist mehr gemeint als der Verlust des gewohnten Umfelds: »Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden« (ebd.: 10 f.). Die Passage lässt sich durchaus als eine frühe Formulierung von Arendts Weltbegriff deuten, auf den ich im zweiten Kapitel noch etwas ausführliArendt-Texte im Feuilleton dar. 2016 ist der Text mit einem Kommentar von Thomas Meyer in der Reihe Was bedeutet das alles? des Reclam Verlags neu erschienen, aus der ich hier zitiere.



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cher eingehen werde. In den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft wird Arendt später schreiben, die Heimat zu verlieren bedeute, »die Umwelt verlieren, in die man hineingeboren ist und innerhalb derer man sich einen Platz in der Welt geschaffen hat, der einem sowohl Stand wie Raum gibt.« (Arendt 2011 [1951]: 607) Ein solcher »Platz in der Welt« im Sinne vertrauter Strukturen und Sinnzusammenhänge ist jedoch eine Grundvoraussetzung, um dem Subjekt Orientierung für sein Denken und Handeln zu geben. Das gilt grundsätzlich für alle Menschen, im Besonderen aber für eine Theoretikerin, die von ihrem geschriebenen Wort lebt. Entsprechend wog auch der Verlust der Muttersprache für Arendt besonders schwer. Als sie, die im Unterschied zu anderen Exilant_innen wie Adorno nie wieder dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt ist,37 von Günter Gaus gefragt wird, ob sie das Europa der Vorhitlerzeit denn gar nicht vermisse, erwidert sie: »Das Europa der Vorhitlerzeit? Ich habe keine Sehnsucht, das kann ich nicht sagen. Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache.« (Arendt 2013 [1964]: 60) Ob sie diese Bindung an die Sprache sogar »in bittersten Zeiten« (ebd.: 61) bewahrt habe, will ihr Gesprächspartner wissen. »Immer«, antwortet Arendt: »Ich habe mir gedacht, was soll man denn machen? Es ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist.« (Ebd.) An der Sprache derjenigen Emigrant_innen, die sich bemühten ihre Muttersprache zu vergessen, beobachtet sie, dass »ein Klischee das andere jagt, weil nämlich die Produktivität, die man in der eigenen Sprache hat, abgeschnitten wurde, als man diese Sprache vergaß.«38 (Ebd.) Arendt aber stellt sich entschieden gerade gegen diese Art des Vergessens. Und so beklagt sie zwar die Isolationserfahrung, kritisiert aber gleichermaßen den gängigen Ausweg aus dieser. Denn auch die Assimilation stellt in ihren Augen keinen gangbaren Weg dar. Zumindest dann nicht, wenn darunter die vollständige Aufgabe der eigenen Identität verstanden wird, wie es Arendt in einer Art Persiflage vorführt: »Man sagte uns, wir sollten vergessen; und das taten wir schneller, als es sich irgend jemand überhaupt vorstellen konnte. Auf ganz freundliche Weise wurde uns klargemacht, daß das neue Land unsere neue Heimat werden

37 Zu Arendts Deutschlandbesuchen nach dem Krieg sowie zu ihrer Entscheidung, nicht dauerhaft zurückzukommen, vgl. Gallas (2013). Für einen allgemeineren Eindruck davon, wie die Rückkehrfrage unter deutsch-jüdischen Intellektuellen verhandelt wurde, empfiehlt sich der Band von Boll und Gross (2013). 38 Ähnlich sieht Adorno im »Emigrantendeutsch« eine »Verfallsstufe der Sprache« (Adorno und Mann 2002: 87).

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würde; und nach vier Wochen in Frankreich oder sechs Wochen in Amerika gaben wir vor, Franzosen bzw. Amerikaner zu sein.« (Arendt 2016 [1943]: 11) Arendts kritische Spitze gegen diese Erwartungshaltung auf Seiten der aufnehmenden Länder ist zwar unüberhörbar, jedoch scheint sich ihre Kritik vor allem an die Emigrant_innen selbst zu richten; dafür, dass sie dieser Erwartungshaltung zu entsprechen so eifrig bemüht sind: »Arendt plädiert […] mit Nachdruck gegen die Anstrengung der Assimilation und für ein neues, ein politisches Selbstbewusstsein der Flüchtlinge, für ihre Sache einzutreten« (Meyer 2016: 45). Eher beiläufig reflektiert sie, dass dies durchaus ein hoher Anspruch ist: »Nur sehr wenige Individuen bringen die Kraft auf, ihre eigene Integrität zu wahren, wenn ihr sozialer, politischer und juristischer Status völlig verworren ist.« (Arendt 2016 [1943]: 26) Weil den meisten hingegen »der Mut fehlt, eine Veränderung unseres sozialen und rechtlichen Status zu erkämpfen« (ebd.), entscheiden sie sich dazu, ihr Glück per Identitätswechsel zu versuchen. Irgendwann, so Arendt, werde jemand die Geschichte der jüdischen Emigration aus Deutschland schreiben. Wenn das geschehe, dann müsse diese_r zukünftige Historiker_in mit der Beschreibung »jenes Herrn Cohn aus Berlin beginnen, der immer ein 150prozentiger Deutscher, ein deutscher Superpatriot war.« (Ebd.: 26 f.) Im Einklang mit Arendts eigener methodologischer Grundannahme, dass es »Ereignisse und Geschichten« gibt, die »die volle Bedeutung dessen, was wir […] zu sagen haben, in nuce enthalten«,39 zitiere ich die Geschichte hier in einiger Länge. Besagter Herr Cohn, erklärt uns Arendt, fand 1933 »Zuflucht in Prag und wurde umgehend ein überzeugter tschechischer Pa­ triot – ein so treu ergebener tschechischer Patriot, wie er vorher ein deutscher gewesen war. Die Zeit verging, und ungefähr 1937 begann die tschechische Regierung, die schon einigem Druck der Nazis ausgesetzt war, damit, die jüdischen Flüchtlinge auszuweisen, ohne auf die Tatsache, daß sich die Flüchtlinge als künftige tschechische Staatsbürger fühlten, Rücksicht zu nehmen. Unser Herr Cohn ging daraufhin nach Wien; um sich dort anzupassen, war ein eindeutiger österreichischer Patriotismus erforderlich. Der deutsche Einmarsch zwang Herrn Cohn, auch dieses Land zu verlassen. Er kam in Paris zu einem ungünstigen Zeitpunkt an und erhielt niemals eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung. Da er es im Wunschdenken bereits zu großer 39 So rechtfertigte Arendt ihr eigenes narratives Vorgehen in einem 1960 gehaltenen Vortrag mit dem Titel Action and »The Pursuit of Happiness«. Ich zitiere hier die bei Bernstein (2020: 16) abgedruckte Übersetzung der entsprechenden Passage.



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Geschicklichkeit gebracht hatte, lehnte er es ab, bloße Verwaltungsmaßnahmen ernst zu nehmen, denn er war davon überzeugt, er werde sein künftiges Leben in Frankreich verbringen. Deshalb bereitete er seine Anpassung an die französische Nation dadurch vor, daß er sich mit ›unserem‹ Vorfahren Vercingetorix identifizierte.« (Ebd.: 27 f.) Arendt sieht es als zwecklos an, sich weiter über die Abenteuer von Herrn Cohn auszulassen. Denn »[s]olange sich Herr Cohn nicht entscheiden kann, das zu sein, was er tatsächlich ist, nämlich ein Jude, kann keiner all die verrückten Verwandlungen voraussagen, die er noch durchmachen muß.« (Ebd.: 28) Auffällig ist, dass Arendt hier nicht auf der Aufrechterhaltung der deutschen, sondern der jüdischen Identität besteht. Denn auch in ihrer deutschen Heimat waren die Juden nie richtig akzeptiert. Für Arendt ist das, was sich ihr auf der Flucht aus Deutschland über Frankreich und in die USA sozusagen im Brennglas zeigte, gar symptomatisch für die jüdische Emanzipationsgeschichte in der Moderne. Besonders für deutsche Jüdinnen und Juden habe der Begriff der Assimilation »eine ›tiefe‹ philosophische Bedeutung« erhalten: »Assimilation bedeutete nicht die notwendige Anpassung an das Land, in dem wir nun einmal zur Welt kamen, und an das Volk, dessen Sprache wir zufällig sprachen. Wir passen uns prinzipiell an alles und jeden an.« (Ebd.: 29) Solange der Patriotismus aber »noch nicht als eine einübbare Haltung angesehen wird, fällt es schwer, die Leute von der Ernsthaftigkeit unserer wiederholten Verwandlungen zu überzeugen.« (Ebd.: 30) Tatsächlich habe die vorschnelle Bereitschaft zur Anpassung sogar den gegenteiligen Effekt: »Unsere heute so verdächtige Loyalität hat eine lange Geschichte. Es ist die 150jährige Geschichte des assimilierten Judentums, das ein Kunststück ohnegleichen vorgeführt hat: obwohl die Juden die ganze Zeit ihre Nichtjüdischkeit unter Beweis stellten, kam dabei nur heraus, daß sie trotzdem Juden blieben.« (Ebd.: 31) Wenn wir Arendt Glauben schenken, dann ist die jüdische Identitätsverweigerung – der »Wahn« zur Anpassung – nicht erst »in den letzten zehn Jahren« (ebd.), das heißt unter dem Eindruck Hitlerdeutschlands entstanden, sondern verweist vielmehr auf eine Art tiefer liegende Konstante der jüdischen Assimilationsgeschichte. Arendts Versuch, dieser Konstante nachzuspüren, führt sie schließlich zur Figur der_des »bewußten Paria« (ebd.: 34). Bevor

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ich diese vorstelle, gilt es aber zuerst, Adornos durchaus ähnliche Reflexion auf die Flucht- und Exilerfahrung darzustellen. Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass sowohl Arendt wie auch Adorno als mit Stipendien oder Stellen ausgestattete Intellektuelle selbstverständlich bereits zu den vergleichsweise Privilegierten unter denjenigen gehörten, die vor den Nazis hatten fliehen müssen.40 Dennoch stellte der »Schwebezustand des amerikanischen Exils« (Müller-Doohm 2011: 261) auch für den zu diesem Zeitpunkt 35-jährigen Adorno zunächst einen Einschnitt dar. Seine Ankunft in den USA bedeutete, dass Adorno seine Hoffnungen auf eine Professur vorerst aufgeben und als angestellter Wissenschaftler stattdessen Auftragsarbeiten durchführen musste. Bei seiner Übersiedlung von London nach New York 1938 war Adorno mit einer halben Stelle beim Institut für Sozialforschung angestellt sowie mit einer halben Stelle für das von der Rockefeller-Stiftung geförderte und von Paul F. Lazarsfeld geleitete Princeton Radio Research Project tätig, das die Gewohnheiten von Radiohörer_innen untersuchen sollte. Was Arendt 1943 als selbstbewussten politischen Aufruf aus der Perspektive einer Jüdin formuliert, wird bei Adorno entsprechend – später und vorsichtiger – vor dem Hintergrund seiner Identität als Philosoph und Wissenschaftler thematisiert. In seinem 1968 erschienenen Aufsatz Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika – »wohl die beste aus der eigenen Feder stammende Einführung in Person und Werk dieses Autors« (Seel 2004: 27) – versucht Adorno retrospektiv, »etwas von den geistigen Erfahrungen festzuhalten«, die er »drüben machte.« (Adorno 2003c [1968]: 702) Adorno möchte keinen Zweifel daran lassen, dass er sich »vom ersten bis zum letzten Tag […] als Europäer empfand« (ebd.). Er kritisiert in einer bis in die Wortwahl an Arendts Flüchtlingstext gemahnenden Formulierung den »wohlmeinenddrohende[n] Rat« an den Emigranten, »alles Gewesene zu vergessen, weil es ja doch nicht transferiert werden könne, und unter Abschreibung seiner Vorzeit ohne weitere Umstände ein neues Leben zu beginnen« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 244). Auch von Adorno wird die an die Emi­ grant_innen gestellte Forderung zur bedingungslosen Anpassung an die kul40 Ein Umstand, der bei Adorno (wie bei vielen anderen Überlebenden übrigens auch) zu Schuldgefühlen führte. So dürfen die unheimlichen Zeilen aus der Negativen Dialektik verstanden werden, in denen er danach fragt, ob »nach Auschwitz« noch leben dürfe, »wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.« (Adorno 2003c [1966]: 355)



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turellen und ökonomischen Imperative des aufnehmenden Landes als Anweisung zum Vergessen empfunden: »Adjustment war noch ein Zauberwort, zumal dem gegenüber, der als Verfolgter aus Europa flüchtete, und von dem man ebensowohl erwartete, daß er in dem neuen Land sich qualifizierte, wie daß er nicht hochmütig bei dem sich versteife, was er nun einmal war.« (Adorno 2003c [1968]: 702) Auf der anderen Seite hofft Adorno jedoch auch, in die USA gekommen zu sein »als ein von Nationalismus und kultureller Arroganz völlig Freier.« (Ebd.: 703) Nicht nur sei ihm die Problematik des traditionellen Kulturbegriffs, besonders des deutschen, viel zu deutlich geworden, auch habe das »aufklärerische Moment […] im amerikanischen geistigen Klima« ihn »aufs stärkste« berührt. Und so war der »[d]urch Naturell und Vorgeschichte […] zur Anpassung in geistigen Dingen denkbar [U] ngeeignet[e]« nach eigenen Angaben »ebenso willig, das Meine zu tun, wie entschlossen, mich nicht aufzugeben.« (Ebd.: 702 f.) Adorno beschreibt sich bei diesem Versuch, das Seine zu tun, als anfänglich völlig unbefangen und staunend: »Das Princeton Radio Research Project hatte sein Zentrum damals […] in Newark, New Jersey, […] in einer unbenutzten Brauerei. Wenn ich dorthin fuhr, durch den Tunnel unter dem Hudson, kam ich mir ein wenig wie im Kafkaschen Naturtheater von Oklahoma vor.« (Ebd.: 706) Keinesfalls sei es ihm um »Kritik um jeden Preis« (ebd.: 707) gegangen. Dennoch scheint die Skepsis gegenüber der im damaligen amerikanischen Wissenschaftsbetrieb favorisierten, praxisorientierten Sozialforschung zu überwiegen. In der Beschreibung eines seiner ersten Arbeitstage verleiht er dem Nachdruck: »Mein erster Eindruck von den im Gang befindlichen Untersuchungen jedoch zeichnete sich nicht gerade durch viel Verständnis aus. Ich ging, auf Anregung Lazarsfelds, von Zimmer zu Zimmer und unterhielt mich mit den Mitarbeitern, hörte Worte wie ›Likes and Dislikes Study‹, ›Sucess or Failure of a Programme‹ und ähnliches, worunter ich mir zunächst wenig vorstellen konnte. Doch begriff ich soviel, daß es sich um das Ansammeln von Daten handelte, die planenden Stellen im Bereich der Massenmedien […] zugute kommen sollten. Zum ersten Mal sah ich administrative research vor mir« (ebd.: 706 f.). Susanne Martin, die die Episode im Radioprojekt in ihrer Studie Denken im Widerspruch (2013) genauer untersucht, argumentiert, dass Befremden und Unverständnis hier geradezu hergestellt werden. Es sei kaum glaubhaft, dass Adorno die »im Gang befindlichen Untersuchungen« wirklich nicht verstan-

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den oder bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von Markt- und Kon­ sumforschung gehört haben will (Martin 2013: 140). Seine Ausführungen diesbezüglich dienten eher dazu, so Martin, die Irritation und das Fremdsein ausdrücklich zu betonen. Neben dieser durch das amerikanische Wissenschaftssystem hervorgerufenen Fremdheitserfahrung markiert aber vor allem der Verlust der Muttersprache eine einschneidende Erfahrung für Adorno. Vielleicht ist das bei ihm sogar in einem noch etwas stärkeren Maße der Fall als bei Arendt: Ador­ no, der während seiner Zeit in Oxford »zwar autodidaktisch, aber doch einigermaßen anständig Englisch gelernt« (Adorno 2003c [1968]: 704) hatte, sollte die Sprache später als Hauptgrund für seine Rückkehr nach Deutschland anführen.41 Als er 1965 vom Deutschlandfunk in die Sendereihe Was ist deutsch? Versuch einer Definition eingeladen wird, beginnt Adorno seinen Beitrag in für ihn typischer Manier damit, dass er die Frage für falsch gestellt erklärt. Er bezweifelt die Vorstellung, dass es so etwas wie »das Deutsche« im Sinne einer »kollektive[n] Wesenheit« (Adorno 2003a [1965]: 691) überhaupt gibt. »Darum ist es vielleicht besser«, schlägt er im Gegenzug vor, »wenn ich die Frage nach dem, was deutsch sei, ein wenig reduziere und bescheidener fasse: was mich bewog, als Emigrant, als mit Schimpf und Schande Vertriebener, und nach dem, was von Deutschen an Millionen Unschuldiger verübt worden war, doch zurückzukommen.« (Ebd.: 695 f.) Und Adorno beantwortet die so umformulierte Frage – in geradezu Arendtscher Manier – mit einer Geschichte: »Ein Verleger, übrigens ein eingewanderter Europäer, äußerte den Wunsch, den Hauptteil der Philosophie der neuen Musik, dessen deutsches Manuskript er kannte, auf englisch zu publizieren. Er bat mich um einen Rohentwurf der Übersetzung. Als er ihn las, fand er, das ihm bereits bekannte Buch sei ›badly organized‹, schlecht organisiert. Ich sagte mir, in Deutschland würde mir das wenigstens, trotz alles Geschehenen, erspart bleiben.« (Ebd.: 697 f.) Auch wenn er etwas später noch hinterherschickt, dass es sich bei solchen Erlebnissen – er nennt noch ein paar andere, ähnliche Beispiele – »[v]erglichen mit den Grauen des Nationalsozialismus« um »läppische Bagatellen« (ebd.: 41 Auch für Arendt, für die eine Rückkehr nach Deutschland nie in Frage kam, war »die Verführung, seine eigene Sprache wieder schreiben zu dürfen […] wohl die einzige Heimkehr aus dem Exil […], die man nie ganz aus den Träumen verbannen kann« (Arendt 1984 [1946]: 7).



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698) handele, sollte diese kleine Stichelei nicht nur Adornos Sinn für Ironie zugeschrieben werden. »Trotz alles Geschehenen«, also trotz Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung, eine Demütigung wäre ihm erspart geblieben: Niemand hätte seine Texte als »schlecht organisiert« beschrieben. Adornos Philosophie der neuen Musik sowie generell seine etwas eigenwillige Art, Texte zu konzipieren, die dem Komponieren eines Musikstücks nähersteht als dem analytischen Argumentieren angelsächsischer Provenienz, würde in seiner Muttersprache mehr Sinn ergeben.42 Jedoch schießt Adorno in der anschließenden Erläuterung dieses Sachverhaltes meines Erachtens über das Ziel hinaus. Denn nicht nur glaubt er, dass man »in der neuerworbenen [Sprache] niemals, mit allen Nuancen und mit dem Rhythmus der Gedankenführung, das Gemeinte so genau treffen kann wie in der eigenen.« (Ebd.: 699) Auch attestiert Adorno gerade der deutschen Sprache eine »besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie, und zwar zu deren spekulativem Moment« (ebd.). Seine Behauptung ist hier also nicht nur, dass die_der Exilant_in, eine fremde Sprache sprechend, generell der Präzision des eigenen Ausdrucks beraubt wird, sondern auch, dass deutschsprachige Philosophierende aufgrund der »spezifische[n], objektive[n] Eigenschaft der deutschen Sprache« (ebd.: 700) besonders von diesem Problem betroffen sind.43

42 Ich diskutiere diesen Stil des Argumentierens im dritten Kapitel ausführlicher. 43 Diese These teilt Adorno mit Martin Heidegger. Asaf Angermann hat sie meiner Ansicht nach überzeugend kritisiert: »[W]hereas there is nothing decidedly exclusive to German as a language, by bestowing upon it an ›elective affinity‹ with philosophy (it may, though, have an ›elective affinity‹ with German philosophy as much as French has an ›elective affinity‹ with French philosophy and English with Anglo-American philosophy – which would render the affinity anything but ›elective‹), the argument aptly describes the way in which each individual (or most individuals) relates to her native language. It is a common feature of communication in a foreign language – and equally characteristic of life in exile – that the most crucial function of the use of language in this context is to be understood, to transfer a message, a content, a meaning, whereas everything which is beyond the translatable – beyond the mere ›thus-ness‹, beyond the positive givenness of things as far as it is accessible to everyone in every language – is elided.« (Angermann 2015: 187) Gerade die vermeintliche Heideggerianierin Arendt, die die Rohübersetzungen ihrer Werke stets signifikant überarbeitet und selbst Literaturbelege dem jeweiligen Kulturkanon des Zielpublikums angepasst hat, scheint sich dieses Umstands hingegen sehr viel bewusster gewesen zu sein (Hahn 2005: 13–19).

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1.3 Die bewusste Paria und der Intellektuelle in der Emigration Arendt und Adorno begegneten in ihren Exilerfahrungen nicht nur ähnlichen Problematiken, sie reagierten auf diese auch in vergleichbarer Weise. Das Dilemma Assimilation versus »kulturelle Arroganz« (Adorno 2003c [1968]: 703) wird von beiden, das zeigen ihre Schriften, als falsche Alternative wahrgenommen. Beide entwickeln Vorschläge zum Umgang mit dieser. Hierfür wird das Exil mehr (Arendt) oder weniger (Adorno) »von seinem Bezug auf konkrete biographische Erfahrungen gelöst und bekommt eine mehr und mehr metaphorische Bedeutung« (Auer 2003: 36). Am Ende dieser Überführung stehen die Figuren der_des bewussten Paria und der_des Intellektuellen in der Emigration. Beiden Figuren ist gemein, dass sie ihre Situation, die zunächst eine Beeinträchtigung darstellt, in einen Vorteil umwandeln. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche, aus dem oben beschriebenen Dilemma auszubrechen. Arendts Pariametapher ist von vielen Leser_innen regelrecht emphatisch aufgenommen worden. Das sollte nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass es sich dabei eigentlich um eine ambivalente Figur handelt. »Paria« – ohne den Zusatz »bewusst« – meint zunächst einmal nichts anderes als Außenseiter_in. Der Ausdruck kommt ursprünglich aus dem indischen Kastensystem und bedeutet frei übersetzt »jemand, die_der keiner Kaste angehört«. Arendt nutzt den Begriff, um die Position der Jüdinnen und Juden in Europa seit der Aufklärung zu beschreiben: Trotz fortschreitender Emanzipation blieben sie Außenseiter_innen und wurden von den europäischen Mehrheitsgesellschaften nie ganz akzeptiert. Auch »[i]n den 150 Jahren, in denen Juden wirklich inmitten, und nicht nur in der Nachbarschaft euro­ päischer Völker lebten, haben sie stets mit politischem Elend für gesellschaftlichen Glanz und mit gesellschaftlicher Verachtung für politische Erfolge gezahlt.« (Arendt 2011 [1951]: 141) Nach Arendt hat diese kollektive Erfahrung des Außenseitertums zwei soziale Typen hervorgebracht: Zum einen die_den Parvenü, die_der das eigene Glück durch Anpassung an die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft zu machen versucht und den eigenen Wurzeln trotzdem nie richtig entkommen kann. In Wir Flüchtlinge wird diese Figur von Herrn Cohn verkörpert. Glauben wir Arendts Einschätzung, dann kommen Parvenü in der Realität wesentlich häufiger vor. Sie träumen »nie von einer Änderung schlechter Zustände, sondern von einem Personalwechsel zu ihren Gunsten« (Arendt 2016 [1957]: 211). Den zweiten sozialen Typus bildet nach Arendt die_der Paria, die_der die eigene Außenseiterrolle bewusst annimmt.



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Die Paria-Parvenü-Unterscheidung taucht bei Arendt das erste Mal in der sogenannten Rahel-Biografie auf. Rahel Varnhagen – Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, wie das Buch mit vollem Titel heißt, wurde von Arendt 1929 begonnen, aber erst 1938 im Pariser Exil fertiggestellt. Die ursprünglich als Habilitationsschrift gedachte Studie erschien dann erst 1957 in Großbritannien; eine deutsche Version kam 1959 auf den Markt. Oberflächlich betrachtet legt Arendt mit diesem Buch genau das vor, was sie im Untertitel ankündigt: Sie erzählt die »Lebensgeschichte« Rahel Varnhagens, die 1771 als Rahel Levin in Berlin geboren wurde. Als jüdische Frau – »nicht reich, nicht gebildet und nicht schön« (ebd.: 20) – ist sie »eigentlich ohne Waffen, den großen Kampf um Anerkanntsein in der Gesellschaft, um soziale Existenz, um ein Stückchen Glück, um Sicherheit und bürgerliche Situation zu unternehmen.« (Ebd.) Dennoch gelingt es Rahel, in ihrem Berliner Salon zumindest für eine kurze Zeit eine der diversesten und talentiertesten Gruppen der preußischen Gesellschaft zu versammeln.44 Für die Rekonstruktion dieser Lebensgeschichte konnte sich Arendt auf eine große Zahl an Briefen und Tagebucheinträgen stützen, die Rahel zeit ihres Lebens verfasst hat und die ihr Mann, Karl August Varnhagen, später teilweise herausgegeben hat. Aufgrund von Rahels großem Darstellungs- und Mitteilungsbedürfnis – in einer Epoche, die glaubte, »daß man aus seinem eigenen Leben […] eine Art Kunstwerk machen könne« (ebd.: 13), nichts allzu Ungewöhnliches – liefern diese Briefe ein eingehendes Portrait von Rahels Leben, ihrem Freundeskreis und ihrer Gefühlswelt. Auf dieses stützt sich Arendt, auch wenn sie vermutet, dass Karl August Varnhagen bei der Veröffentlichung von Rahels Nachlass einiges an »Platt- und Schönmalerei« (ebd.: 11) betrieben hat.45 44 Rahels Salon gehörte zu den bedeutendsten der damaligen Zeit. Er findet jedoch nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist Teil einer Kultur: »Organisiert wurden die Salons zumeist von hoch gebildeten jüdischen Frauen, in deren Häusern man sich traf, um ästhetische oder politische Fragen zu diskutieren, Texte zu rezitieren oder auch gemeinsam zu musizieren.« (Rieger-Ladich 2020: 47) 45 Tatsächlich spricht einiges dafür, dass er bei der Edition des Nachlasses nicht ganz redlich vorgegangen ist und vor allem diejenigen Stellen gestrichen, gekürzt oder verändert hat, die allzu offensichtlich Rahels jüdische Identität betreffen. Jedoch lässt sich auf der anderen Seite auch die Objektivität von Arendts Darstellung anzweifeln. So ist von einigen Leser_innen der Verdacht geäußert worden, dass »die Judenfrage« für Rahels eigenes Selbstverständnis vielleicht nicht so zentral war, wie uns Arendt glauben machen will. In den Worten Richard Bernsteins: »Arendt does not really ›narrate the story of Rahel’s life as she herself might have told it‹, but rather as Arendt thinks she should have told it.« (Bernstein 1996: 19)

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Unter der Oberfläche dieser Biografie erzählt das Buch aber noch eine zweite Geschichte, eine, für die das Leben der Rahel eher »Vehikel« (Bernstein 1996: 19) denn Gegenstand ist. Diese Geschichte handelt vom jüdischen Kampf um Anerkennung. Im Vorwort schreibt Arendt dazu: »Ich hatte niemals die Absicht, ein Buch über die Rahel zu schreiben, über ihre Persönlichkeit, die man psychologisch und in Kategorien, die der Autor von außen mitbringt, so oder anders interpretieren und verstehen kann« (Arendt 2016 [1957]: 12). Eher handelt es sich bei dem Buch um den Versuch, die Ambivalenz der jüdischen Assimilation im 19. Jahrhundert am Beispiel einer Person herauszustellen. Was Arendt nach eigener Angabe interessiert, ist »Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können« (ebd.): als die Geschichte einer Parvenü, die zur Paria wird. In elf von dreizehn Kapiteln kämpft Rahel bei Arendt mit ihrer »Infamie der Geburt« (ebd.: 24). Sie ist Parvenü und »Schlemihl« (ebd.: 37). Das heißt, sie kämpft um Anerkennung durch Anpassung. Sie wird deutsche Patriotin und pflegt während der Befreiungskriege Verwundete. Folgen wir Arendts Darstellung, dann lässt Rahel Weniges unversucht. Einer abenteuerlichen Fehlinterpretation von Lessings Idee des »Selbstdenkens« aufsitzend, geht sie so weit, dass sie in ihrer eigenen Fantasiewelt Zuflucht sucht: »Das Selbstdenken«, so Rahels (Fehl)interpretation von Lessings Begriff, »befreit von den Gegenständen und ihrer Realität, schafft einen Raum des nur Denkbaren und eine Welt, die ohne Wissen und ohne Erfahrung jedem Vernünftigen zugänglich ist.« (Ebd.: 23) In dieser Fantasiewelt, die »von keiner Wirklichkeit irritierbar ist« (ebd.), glaubt Rahel, alle Vorurteile der Vergangenheit abstreifen zu können.46 Aber: »Aus dem Judentum kommt man nicht heraus«.47 »Als Jüdin geboren zu sein, das mag für Rahel nur auf längst Vergangenes hindeuten, mag im Denken ganz und gar ausgelöscht sein; als Vorurteil in den Köpfen andere[r] wird es eben doch zur leidigsten Gegenwart.« (Ebd.: 23 f.) Und so wird Rahels Kampf gegen ihre jüdische Herkunft in Arendts Deutung zu einem Kampf gegen sich selbst: »Sich selbst muß sie den Konsens verweigern, sich selbst, die Benachteiligte, verleugnen, verändern, umlügen« (ebd.: 26 f.). Assimilation, so will uns Arendt hier mitteilen, bedeutet immer auch, die eigene Identität auszulöschen. Das kann so weit gehen, dass man sich noch den Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft 46 Vgl. zum Kontrast auch Arendts eigene Interpretation des Lessingschen Selbstdenkens (Arendt 2012 [1959]: 16–21). 47 »Aus dem Judentum kommt man nicht heraus« ist der Titel des letzten, 1938 in Paris hinzugefügten Kapitels.



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einverleibt. Die Jüdinnen und Juden assimilierten sich, so Arendt, an die »Emanzipationstheorien der Aufklärung«, damit aber »gestehen [sie] mit Begeisterung ihre eigene Minderwertigkeit zu« (ebd.: 22). Rahel realisiert die Ungangbarkeit dieses Weges nach Arendt erst, als sie ihn eigentlich schon zu Ende gegangen ist (ebd.: 133–143). Nachdem sie einen Nichtjuden geheiratet hat, sich taufen und ihren Namen ändern ließ, wird sie, zumindest in Arendts Interpretation, schließlich doch noch zur Rebellin. Von dieser 180-Grad-Wende handeln die letzten beiden Kapitel des Buches. Es sind die beiden Kapitel, die Arendt nachträglich im Pariser Exil hinzugefügt hat. Und es ist diese Wende, die manche Leser_innen zu der Bewertung veranlasst hat, es handle sich bei Rahel Varnhagen um ein autobiografisches Buch (Young-Bruehl 2004: 85–92; Heller 1995: 18): Rahel wird erst zur Rebellin, nachdem auch Arendt ihre Politisierung erfahren hat. Rahel Varnhagen bleibt aber, was Arendt später eine soziale Paria nennen sollte. Ein Grund für die erwähnte späte Veröffentlichung des Buches ist dann auch der Umstand, dass Arendt mit dem Text nicht mehr zufrieden war. Rahel ist zwar noch keine politische Paria – und nur eine politische Paria kann Arendt zufolge für eine wahre Emanzipation der Juden eintreten. Aber ihr Lebensweg ist so etwas wie ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ganz zum Schluss des Buches erzählt Arendt dann von einer Begegnung, die Rahel kurz vor ihrem Tod 1821 mit Heinrich Heine hatte: »Sie hat den jungen Heine mit Enthusiasmus und großer Freundschaft begrüßt – ›nur die Galeerensklaven kennen sich‹.« (Arendt 2016 [1957]: 237) Am Ende eines kurzen Gesprächs verspricht Heine »›für die Sache der Juden und ihrer bürgerlichen Gleichstellung enthusiastisch‹ zu sein« (ebd.), woraufhin Rahel in Frieden sterben kann: »Sie hinterläßt einen Erben, dem sie viel zu vermachen hat, die Geschichte eines Bankrotts und ein rebellisches Herz.« (Ebd.) Wer möchte, kann hierin ein etwas erzwungenes Ende bildungsbürgerlicher Prätention sehen. Der zu dem Zeitpunkt 23-jährige Heine spielt – von der Begegnung abgesehen – nämlich ansonsten keine größere Rolle in Rahels Lebensgeschichte. Man kann dieses Ende aber auch als Verweis auf eine andere Idee Arendts deuten. Eine Idee, der zufolge die_der jüdische Paria eine »verborgene Tradition« darstellt. Um diese Spur weiterzuverfolgen, muss man sich Arendts Essay The Jew as Pariah: A Hidden Tradition anschauen. Denn der Text, der sechs Jahre nach dem Verfassen der oberen Zeilen entsteht, beginnt seinerseits mit der Beschreibung Heines. Heinrich Heine, Charlie Chaplin, Franz Kafka und Bernard Lazare stellen für Arendt hier »vier geradezu idealtypische Paria-

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Figuren« (Weißpflug 2019: 47) dar. Jeder in diesem Quartett lebt sein Pariatum auf ganz eigene Weise. Besonders Lazares Variante sollte für Arendt wichtig werden. Hatten Heine, Chaplin und Kafka ihr Pariadasein in der einen oder anderen Art und Weise im Bereich der Literatur oder der darstellenden Kunst entwickelt, so findet sich bei Lazare ein genuin politischer Paria.48 Nach Arendt war es der französische Journalist, »der im Frankreich der Dreyfus-Zeit Gelegenheit fand, die Pariaqualität als spezifisch für die Existenz des jüdischen Volkes zu entdecken« (Arendt 1984 [1946]: 60). Durch die Einführung des Begriffs der_des »bewussten Paria« sei es Lazare gelungen, den Außenseiterstatus der_des Paria politisch fruchtbar zu machen: »Mit dem Begriff des ›Bewußten Paria‹, der die Lage des emanzipierten Juden im Gegensatz zu dem unbewußten Pariadasein […] definierte, sollte der Jude als solcher zum Rebell werden, zum Vertreter eines unterdrückten Volkes, das seinen Freiheitskampf in Verbindung mit den nationalen und sozialen Freiheitskämpfen aller Unterdrückten Europas führt.«49 (Ebd.) Ein_e Rebell_in ist die_der bewusste Paria nach Arendt dabei in zwei Richtungen. Rebellierend sowohl gegen die Mehrheitsgesellschaft als auch gegen die jüdischen Parvenü. Denn »mochte, historisch gesprochen, der jüdische Paria noch so sehr ein Produkt der ungerechten Herrschaft auf Erden sein […], politisch gesprochen war jeder Paria, der kein Rebell wurde, mitverantwortlich für die Schändung der Menschheit in ihm.« (Ebd.: 62) Was Arendt an Lazare bewundert, ist diese konsequente Zurückweisung einer Opferrolle. Hier wird ein Gedanke weiterverfolgt, der sich bereits in Wir Flüchtlinge angedeutet hatte. So wie ihre Kritik dort vor allem den Fliehenden und weniger den sie aufnehmenden Mehrheitsgesellschaften galt, so richtet sich ihre Kritik an der gesellschaftlichen Exklusion nun in Form eines Aufrufs zum Pariatum in erster Linie an die Leidtragenden selbst: »Der Paria soll aufhören, sich als Opfer der Verhältnisse zu fühlen, er soll beginnen zu handeln und Verantwortung für seine Position in der Welt zu übernehmen.«50 (Weißpflug 2019: 57) 48 Eine detailliertere Aufschlüsselung der vier Idealtypen findet man bei Weißpflug (2019: 47–61). 49 Die Figur der_des bewussten Paria findet sich bei Lazare in doppelter Hinsicht, so Arendt. Nicht nur hat er sie auf begrifflicher Ebene – als eine politiktheoretische Terminologie – eingeführt, auch hat er die Figur laut Arendt selbst verkörpert: Lazare, der sich öffentlich für die Unschuld des Hauptmanns Dreyfus aussprach, ist selbst ein bewusster Paria. 50 Das heißt nicht, dass Arendt sich nicht auch Gedanken um eine politische Ordnung gemacht hat, in der man, in den Worten Adornos formuliert, »ohne Angst verschieden sein



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Das ist eine bewundernswerte Einstellung; zumal sie hier von jemandem vertreten wird, der selbst zur vermeintlichen Klasse der Opfer gehört. Jedoch verweist diese Aufforderung zugleich auch auf eine Schwierigkeit, die sich durch Arendts gesamtes politisches Denken ziehen wird. Denn bei allem Lob des politischen Handelns ist bei Arendt – auch später noch – oft eine Tendenz erkennbar, sich kaum Gedanken um die Voraussetzungen zu machen, die es den von ihr idealisierten politisch Handelnden überhaupt erst ermöglichen, sich »mutig« auf das »ruhmversprechend[e], groß[e] Unternehmen« (Arendt 2016 [1958]: 46) der öffentlichen Angelegenheiten einzulassen und sich für die Veränderung der Welt einzusetzen. Wie ich im fünften Kapitel zeigen werde, ist das keine zufällige Leerstelle, sondern bereits angelegt in Arendts theoretischen Prämissen. In Adornos Nachdenken über die (eigene) Exilerfahrung findet sich eine vergleichbare Denkfigur. Der »Intellektuelle in der Emigration« (Adorno 2003d [1951]: 35) nimmt in seiner Theoriebildung eine ganz ähnliche Stellung ein. Auch Adornos Intellektuelle_r wendet eine ihr_ihm zunächst aufgezwungene Außenseiterposition zu ihren_seinen Gunsten. Anders als bei der_dem Paria sind die Vorteile, die sie_er daraus zieht, eher epistemischer Natur. Es handelt sich, wie die Bezeichnung bereits andeutet, weniger um eine politische, sondern eher um eine philosophische Figur. Adorno entwickelt die Figur der_des Intellektuellen im Exil vor allem in den Minima Moralia. In einem noch direkteren Sinne als das Rahel-Buch, das »autobiographische Anklänge« (Heller 1995: 18) enthält, haben Adornos Reflexionen aus dem beschädigten Leben, wie der Band im Untertitel heißt, einen subjektiven Ausgangspunkt. Die Minima Moralia wollen zwar »der Veränderung des Lebens unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nachspüren« (Claussen 2013: 378). Ihr Anschauungsmaterial bezog Adorno dafür jedoch vielfach direkt aus seiner eigenen »unhäuslichen« Situation. Explizit handele es sich bei den Minima Moralia um den »Versuch«, wie es in der als Einleitung fungierenden »Zueignung« heißt, »Momente der […] Phikann« (Adorno 2003d [1951]: 116). Ihre Forderung an die junge Bundesrepublik, »dass jeder Jude, gleich wo er geboren ist, jederzeit, wenn er will, und allein auf Grund seiner jüdischen Nationalität gleichberechtigter Bürger dieser Republik werden kann, ohne da­ rum aufzuhören Jude zu sein« (zit. nach Gallas 2013: 240), deutet darauf ebenso hin, wie ihr bekanntes Eintreten für ein Recht, Rechte zu haben (Arendt 2011 [1951]: 601–625). Dennoch hat Arendt die Tendenz, viel Verantwortung auf die Schultern der handelnden Individuen selbst zu legen.

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losophie von subjektiver Erfahrung her darzustellen« (Adorno 2003d [1951]: 17). Die ersten Notizen und Aphorismen entstanden noch während seiner Jahre in Oxford. Adorno arbeitete dann während der Zeit in New York und Los Angeles an dem Buch und brachte das fertigte Manuskript 1949 schließlich mit nach Deutschland zurück. Der Band erschien 1951, eineinhalb Jahre nach Adornos Remigration, im Suhrkamp Verlag. Dass aus dem Buch später einmal ein »philosophischer Bestseller« werden sollte, war zu jenem Zeitpunkt alles andere als ausgemacht.51 Der Form nach haben die Minima Moralia mit Arendts Rahel-Buch nicht das Geringste gemeinsam. Der Text, dessen Titel mit einem Augenzwinkern auf die Magna Moralia anspielt, einer höchstwahrscheinlich fälschlicherweise Aristoteles zugeschriebenen Abhandlungen zur Ethik, hat eine auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftige Form, für die vermutlich Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches und Benjamins Einbahnstraße Pate standen (Raulff 2003: 130). Er besteht aus 153 Einträgen unterschiedlicher Länge.52 Die meisten gehen über wenige Seiten, manche sind sogar noch kürzer, ein jeder davon ist mit einer eigenen Überschrift versehen. Diese »long aphorism[s] oder short essay[s]« (Adorno und Mann 2002: 97) sind in drei Teilen angeordnet. In jedem der drei Teile, die jeweils einer Entstehungsphase des Textes entsprechen, wird, nach Adornos eigenen Angaben, zunächst »ausgegangen vom engsten privaten Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigration«, dann übergegangen zu »Erwägungen weiteren gesellschaftlichen und anthropologischen Umfangs« und schließlich »auf die Philosophie« (Adorno 2003d [1951]: 17) hingeführt. Aber selbst dieses Muster wird nicht immer durchgehalten. Manche der »Einsatzstellen« (ebd.), wie Adorno die Aphorismen auch nennt, scheinen gar im Widerspruch zu vorangegangenen zu stehen, keine spricht ein letztes Wort.53 51 Bis 2018 wurden über 120.000 Exemplare verkauft. Nachdem die Rezeption des »schwierigen« Buches zunächst nur langsam anlief (vgl. Raulff 2003), wurde es in den 1960er Jahren zu einer Art Bibel der Studierendenbewegung. Der spätere Gründer des Merve Verlags, Peter Gente, bekannte einst: »Ich habe die Minima Moralia also gute fünf Jahre mit mir rumgeschleppt. Jeden Tag, immer bei mir, so ein richtiges Vademekum.« (Zit. nach Felsch 2018: 28) 52 Die heute als Band 4 der Gesammelten Schriften vorliegende Ausgabe wurde durch den Herausgeber um zehn Einträge ergänzt, die Adorno ursprünglich aus dem Manuskript herausgenommen hatte und die nun als Anhang erscheinen. 53 Nico Israel hat argumentiert, dass die Form des Buches der in ihm verarbeiteten Situation selbst zuzuschreiben ist: »Minima Moralia could be described as a kind of memoir of mutilation in a moment in which writing autobiography […] had become untenable. ›Subjective reflection‹, even if critically alerted to itself, he points out in his introductory



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Ähnlich der Arendtschen Pariafigur ist auch die in den Minima Moralia beschriebene Figur der_des »professionell Heimatlose[n]« (Adorno und Mann 2002: 49) keine ungebrochene. Die Exilsituation der_des Intellektuellen ist zunächst einmal Ursache einer Entfremdungserfahrung. Die bis dato erworbenen Erfahrungen der Exilant_innen werden nichtig. In einer Passage, die bis in die Wortwahl hinein an Arendts Wir Flüchtlinge erinnert, schreibt Adorno: »Das Vorleben des Emigranten wird bekanntlich annulliert. Früher war es der Steckbrief, heute ist es die geistige Erfahrung, die für nicht transferierbar und schlechterdings artfremd erklärt wird. Was nicht verdinglicht ist, sich zählen und messen läßt, fällt aus […]. Dafür haben sie eine eigene Rubrik erfunden. Sie heißt ›Hintergrund‹ und erscheint als Appendix der Fragebogen, nach Geschlecht, Alter und Beruf. Das geschändete Leben wird auch noch auf dem Triumphauto der vereinigten Statistiker mitgeschleppt, und selbst das Vergangene ist nicht mehr sicher, vor der Gegenwart, die es nochmal dem Vergessen weiht, indem es sie erinnert.« (Adorno 2003d [1951]: 52) Diese (Selbst)entfremdung verursacht Leid. Auch für Adorno stellt die Exilsituation in allererster Linie eine Verlusterfahrung dar. Im Aphorismus »Schutz, Hilfe und Rat« hält er diese fest und verallgemeinert sie zugleich: »Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre […]. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog.« (Ebd.: 35) All das, so Adorno weiter, hinterlasse Spuren in jedem Einzelnen: »Alle Gewichte werden falsch, die Optik verstört« (ebd.: 36). Gleichwohl realisiert er, dass die Exilsituation auf der anderen Seite auch eine Form von Distanz zum Geschehen schafft, die gerade für die Gesellschaftskritik auch einen Vorteil darstellen könnte. Denn, so artikuliert essay, ›has something sentimental and anachronistic about it‹. To combat such sentimentality and anachronisticity, Adorno employs an aphoristic technique, evanescent and self-contradictory, ›dialectical‹ but by no means especially methodological.« (Israel 2000: 78)

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Adorno eine seiner erkenntnistheoretischen Grundpositionen: »Nur im Abstand zum Leben spielt das des Gedankens sich ab, welches in das empirische eigentlich einschlägt.« (Ebd.: 143) Detlev Claussen (2013: 376) spricht in diesem Zusammenhang von einem »verzerrende[n] Verstehen«, das die Emigration und später ebenso die Remigration hervorrufen: »Während der Gedanke auf Tatsachen sich bezieht und in der Kritik an ihnen sich bewegt, bewegt er sich nicht minder durch die festgehaltene Differenz. Er spricht eben dadurch genau aus was ist, dass es nie ganz so ist, wie er es ausspricht« (Adorno 2003d [1951]: 143 f.). Diesen »Abstand zum Leben«, von dem hier die Rede ist, sollte Adorno zeit seines Schaffens beibehalten und selbstbewusst vertreten. Als ihm 20 Jahre nach dem Verfassen dieser Zeilen von der Studierendenbewegung der 1960er Jahre vorgeworfen wurde, im Elfenbeinturm zu sitzen, sollte er diesen Vorwurf nicht etwa zurückweisen, sondern vielmehr bedauern, dass der Vorwurf, ein Elfenbeinturmbewohner zu sein, mittlerweile als Kritik durchgehe.54 Ich werde im vierten Kapitel noch ausführlicher auf Adornos gesellschaftstheoretische Begründung dieser Ansicht eingehen. Schon in den Minimal Moralia deutete sich jedoch an, dass Adorno einen gewissen Abstand zur gesellschaftlichen Praxis nicht notwendigerweise als Nachteil für eine kritische Theorie erachtete. »Denn der Wert eines Gedankens« bemisst sich für Adorno »an seiner Distanz von der Kontinuität des Bekannten. Er nimmt objektiv mit der Herabsetzung dieser Distanz ab; je mehr er sich dem vorgegebenen Standard annähert, um so mehr schwindet seine antithetische Funktion, und nur in ihr, im offenbaren Verhältnis zu seinem Gegensatz, nicht in seinem isolierten Dasein liegt sein Anspruch begründet.« (Ebd.: 90) Es ist daher folgerichtig, wenn Adorno »aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm« (ebd.: 42) macht. Die Außenseiterposition, die dem Leben im Exil ohnehin von den äußeren Umständen aufgezwungen ist, wird Adorno zum Vorbild für eine Haltung, die der_dem Gesellschaftstheoretiker_in grundsätzlich gut zu Gesicht steht.55 Für diese_n 54 »Der Ausdruck [Elfenbeinturm, T. A.] hat einmal bessere Tage gesehen, als Baudelaire ihn gebraucht hat.« (Adorno 2003d [1969]: 403) 55 In der Negativen Dialektik dreht er diesen Zusammenhang dann um. Nicht nur stehe die (metaphorische) Position des Exils der_dem Kritiker_in gut zu Gesicht, sondern (richtig betriebene) Gesellschaftskritik führe auch zu einem Gefühl der Ausgeschlossenheit: »Reflektierte Menschen, und Künstler, haben nicht selten ein Gefühl des nicht ganz Dabeiseins, nicht Mitspielens aufgezeichnet; als ob sie gar nicht sie selber wären, sondern eine Art Zuschauer.« (Adorno 2003c [1966]: 356)



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wird »unverbrüchliche Einsamkeit […] die einzige Gestalt« (ebd.: 27), aus der heraus man die Gesellschaft kritisieren kann. »Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe« hingegen seien »bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen.« (Ebd.) »Mit anderen Worten«, schreibt Adorno 1950 an Thomas Mann, »man ist nirgends mehr zu Hause, und darüber sollte freilich wiederum der, dessen Geschäft die Entmythologisierung ist, nicht allzu sehr sich beklagen.« (Adorno und Mann 2002: 62) Wer das kritische Geschäft der Entmythologisierung betreibt, verbleibt in einer Art Zwischenposition. Wie diese aussieht und ob es sich wirklich um ein Dazwischen und nicht vielmehr um ein Hin und Her handelt, darauf möchte ich zum Abschluss dieses ersten Kapitels noch kurz eingehen. 1.4 Das Exil als Perspektive: »Drinnen und draußen« Wir sahen, dass Arendt und Adorno ähnliche Erfahrungen machten und diese zu ähnlichen Theoriefiguren verarbeiteten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass sie diese Figuren in einer Art reflektierter Rückübersetzung als Haltungen auch selbst wieder verkörpert haben. Arendts Haltung zur Welt war – gemäß ihrer Figur der_des bewussten Paria – eine dezidiert politische. Adorno war – seinen Ausführungen in den Minima Moralia entsprechend – eher ein Gesellschaftskritiker. Beiden ist aber eine spezifische Perspektive gemein; eine Perspektive, die »unabhängig« (Arendt 2013 [1963]: 37) ist und zwischen »[d]rinnen und draußen« (Adorno 2003d [1951]: 74) changiert. Zum Abschluss dieses ersten Kapitels werde ich zunächst für Arendt, sodann für Adorno erklären, was damit gemeint ist. Es ist oft bemerkt worden, dass Arendt selbst eine bewusste Paria gewesen sei. Als öffentliche Intellektuelle hat sie diese Haltung bei zahlreichen Gelegenheiten unter Beweis gestellt: Die Kontroverse um Eichmann in Jerusalem, während der sie »rebel among her own people« (Feldmann 2007: xliv) war, ist nur ein besonders prominentes Beispiel für eine solche Situation. Im Rahmen dieser Kontroverse hat sie ihre eigene Position gegenüber Scholem einmal wie folgt beschrieben: »Was Sie dabei verwirrt, ist, daß meine Argumente und meine Denkweise nicht vorgesehen sind. Oder mit anderen Worten, daß ich unabhängig bin. Und damit meine ich einerseits, daß ich keiner Organisation angehöre und immer nur im eigenen Namen spreche; und andererseits, daß es darauf an-

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kommt, selbst zu denken, und daß, was immer Sie gegen die Resultate einzuwenden haben, Sie selbige nicht verstehen werden, wenn Ihnen nicht klar ist, daß sie die meinigen sind und niemandes sonst.« (Arendt 2013 [1963]: 37) Selbstdenken in diesem Sinne ist unabhängig, es vollzieht sich – anders als durch das Zitieren einer schillernden Phrase Arendts manchmal suggeriert wird – aber nicht ganz »ohne Geländer« (Arendt 2012 [1954]: 37). Denn obwohl der Pariastatus für Arendt den »Vorteil, auf etwas von außen zu sehen« (Arendt 2013 [1972]: 79), mit sich bringt, schwebt er nicht im luftleeren Raum. Arendt beansprucht für ihre Denkhaltung gerade keinen archimedischen Punkt.56 Deswegen ist es irreführend, sie mit Figuren wie Karl Mannheims »freischwebendem Intellektuellen« oder Max Webers »Paria-Intellektualismus« gleichzusetzen,57 auf dessen Begriff des »Paria-Volkes« Arendt in Die verborgene Tradition gleichwohl lose Bezug nimmt (Arendt 1984 [1946]: 51). Eher ist ihre Pariafigur »an outsider and yet never completely an outsider« (Matveev 2007: 316). Diesen Zwischenstatus kann sie aber nur einnehmen, weil sie eben nicht frei in der Luft schwebt, sondern auf verschiedenen Plattformen steht oder in Anlehnung an Arendts eigene Terminologie: ihre Geländer wechselt. Ron H. Feldmann beschreibt die Frage, wo Arendt als Theoretikerin steht, folgendermaßen: »As a pariah, her work is characterized by the dialectical tension between her Jewishness and modern Jewish experience, on the one side, and her European and generalized human experience in the modern age, on the other. The result was a unique outlook on both Jewish and European concerns in which the specifically Jewish and broadly European experiences constantly inform one another […]. Not standing exclusively inside or outside either her Jewish or European heritage, Hannah Arendt uses both as platform from which to gain critical insight into the other. On the one hand, she consciously stands outside the Jewish tradition, subjecting the experience of the Jews in the modern world to the criticism of a German philosopher rooted in 56 In der Vita activa unterzieht sie diesen Anspruch explizit einer ausführlichen Kritik (insbes. Arendt 2016 [1958]: 366–380). 57 Ersteres tut zum Beispiel Dirk Auer (2003: 36 und 2012: 230). Noch stärker als Mannheim denkt Weber den Paria-Intellektuellen (man beachte hierbei die Verschmelzung von Arendts und Adornos Begrifflichkeiten) als eine Figur, die tatsächlich vollständig außerhalb der Gesellschaft stehend einen archimedischen Punkt einnimmt. Zur Abgrenzung von Arendts und Webers Figur siehe Weißpflug (2019: 40).



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the European classics […]. On the other hand, Arendt uses her experience as a Jew and her perspective as a conscious pariah standing outside the mainstream of Western society to analyse and gain an understanding of that society.« (Feldmann 2007: xliv) Und Arendt nutzt nicht immer nur diese beiden Plattformen. Sie schaut nicht nur von der jüdischen Warte auf die deutsche Philosophie und umgekehrt. Diese changierende und oszillierende Denkhaltung findet auch Eingang in ihren Umgang mit anderen Autor_innen, Texten und Ideen innerhalb der philosophischen Tradition. Auch in Bezug auf andere Traditionsbestände bedient sie sich, wie sie sagt, »wo ich kann« (Arendt 2013 [1974]: 124). Sie geht sogar davon aus, dass dieses Vorgehen durch den »Traditionsbruch« in der Moderne eine Möglichkeit, vielleicht sogar eine Verpflichtung, für alle politische Philosophie geworden ist. Ich werde im dritten Kapitel ausführlicher auf dieses Thema zurückkommen. Ähnlich wie Arendts eigene (Denk)haltung dem Modell der selbstbewussten Paria entspricht, äußert sich Adorno als Gesellschaftskritiker oftmals aus einer Position, die an den Intellektuellen im Exil erinnert. Auch Adorno ist, vor allem nach seiner Rückkehr nach Deutschland, in erheblichem Maße als öffentlicher Intellektueller in Erscheinung getreten.58 In diesem Zusammenhang (und auch darüber hinaus) ist ihm des Öfteren vorgeworfen worden, er nehme eine Art Außenperspektive auf die von ihm kritisierte Gesellschaft ein.59 Und ich werde im fünften Kapitel darauf eingehen, dass die Frage, 58 Adornos Rolle als öffentlicher »nonkonformistischer Intellektueller« (vgl. Demirovic 1999) in den 1950er und 60er Jahren kann kaum überschätzt werden. Für Christian Schneider (2011) ist er gar so etwas wie »[d]er exemplarische Intellektuelle der Bundesrepublik«. 59 Ein früher Rezensent der Minima Moralia hatte ihm vorgeworfen, er halte »ein Gericht über die Welt wie ein Gottesmann« (zit. nach Raulff 2003: 128). Interessanterweise wird er diesbezüglich manchmal mit Arendt kontrastiert. Während Arendt als eingreifende Theoretikerin dargestellt wird, die ihre Perspektivität und die Tatsache, dass wir immer schon in der Welt verortet sind, reflektiert, wird Adorno als Theoretiker karikiert, der erstens einen objektiven Wahrheitsanspruch vertritt und zweitens für sich selbst eine privilegierte Einsicht in ebendiese objektive Wahrheit in Anspruch nimmt, die er den verblendeten »gewöhnlichen Akteuren« (vgl. Celikates 2009) abspricht (vgl. Förster 2016; Weißpflug 2019: 104–114). Ich möchte diese starke Kontrastierung zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Zwar ist Arendts Denken sicher offener, was die Perspektivität der eigenen Position angeht, jedoch gibt es auch bei ihr – das sollten die Ausführungen zur Pariafigur deutlich gemacht haben – eine Präferenz für gemäßigte Außenseiterpositionen. So beansprucht sie in der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto für sich selbst ganz

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ob Gesellschaftskritik immanent oder transzendent verfahren soll, das heißt, ob sie aus einer Binnen- oder einer Außenperspektive geübt werden sollte, Adorno selbst tatsächlich intensiv beschäftigt hat. Auch in seinem Fall lässt sich jedoch schon anhand der Exilsituation zeigen, dass er keinesfalls nur von außen (oder wie die Metapher des archimedischen Punktes eher suggeriert: von oben) zu sprechen gedachte. Auch Adorno schwebt eher ein »Ineinander aus Beteiligtsein und Unbeteiligtsein« (Seel 2004: 19) vor. Adornos Exilerfahrung ist aus naheliegenden Gründen besonders in der englischsprachigen Sekundärliteratur ein beliebtes Thema. Seine Emigrationsjahre werden dabei oft vor dem Hintergrund seines Verhältnisses zu den USA thematisiert. Dabei ist manchmal je eine von zwei gegenläufigen Tendenzen erkennbar: Adorno wird entweder zum regelrechten AmerikaHasser, oder aber zum Amerika-Enthusiasten stilisiert.60 Solche konträren Interpretationen sind nicht nur auf die theoriepolitischen Absichten ihrer Verfasser_innen und/oder (zu) einseitige Rekonstruktionen von Adornos Texten zurückzuführen. Tatsächlich lässt sich diese Gespaltenheit auch an Adornos Haltung selbst beobachten. Wer sich auf frühere, in den USA entstandene Schriften wie zum Beispiel die eben besprochenen Minima Moralia oder auch die Dialektik der Aufklärung bezieht, kann ein wesentlich dunkleres Amerikabild Adornos nachzeichnen. Wer Adorno als USA-Fan darstellen möchte, findet seine Belege in späteren, in Europa entstandenen Texten wie den ebenfalls bereits zitierten Beiträgen Auf die Frage: Was ist deutsch oder Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika. Claus Offe (2004: 115) sieht in seiner Adorno-Vorlesung daher einen »Bruch« in Adornos diesbezüglichem Standpunkt am Werk. Dessen Bewertung amerikanischer Sozialverhältnisse werde »einer ebenso weitreichenden wie vor allem gänzlich stillschweigenden Revision unterzogen« (ebd.: 113). Offes Bestandsaufnahme ist zugespitzt, aber im explizit, in erster Linie politische Theoretikerin und eben keine politisch Handelnde zu sein. An mehreren Stellen im Gespräch beharrt sie darauf, »vom Handeln genau deshalb etwas verstanden [zu haben, T. A.], weil ich es mehr oder weniger von außen betrachte« (Arendt 2013 [1972]: 75; vgl. auch die Ausführung zum Verhältnis von Theorie und Praxis ebd. 76–79, die so auch aus Adornos Feder stammen könnte). Umgekehrt werde ich vor allem im fünften Kapitel dieser Arbeit zeigen, dass auch Adorno keinen wie auch immer gearteten archimedischen Punkt für sich beansprucht. Sein Schwanken zwischen Innenund Außenperspektive ergibt sich vielmehr aus der Unmöglichkeit, Kritik rein immanent zu betreiben. Eigentlich präferiert aber auch er ein immanentes Vorgehen. Da, wo er dieses überschreitet, bleibt sein Kritikbegriff rein negativ und im Anspruch so bescheiden wie irgend möglich. 60 Für die erste Strategie steht beispielsweise Barnouw (1976 und 1999), für die zweite Mariotti (2016).



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Großen und Ganzen plausibel. Ich denke nur, dass seine Formulierung über eine entscheidende Pointe hinwegtäuscht: Was als »Bruch« bezeichnet wird, ist die Außenperspektive, die Adorno auf beide Gesellschaften – sowohl die spätkapitalistische amerikanische als auch die postnazistische deutsche – einnimmt. Wie Arendt wechselt auch Adorno die Plattformen, von denen aus er sieht. Seine Perspektive auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA ist »vom vergleichenden Blick auf den europäischen Ort der Herkunft beherrscht« (ebd.: 9). Gleichzeitig wird die Rückkehr nach Deutschland von Adorno als Fortsetzung einer radikalen Fremdheitserfahrung empfunden.61 Die amerikanische Erfahrung, so schreibt Adorno in Wissenschaftliche Erfahrung in Amerika, habe seinen Blick auf Europa »entprovinzialisiert« (Adorno 2003c [1968]: 734). Er sei durch sie dazu veranlasst worden, »nicht länger Verhältnisse, die geworden, historisch entstanden waren wie die in Europa, für natürliche zu halten, ›not to take things for granted‹.«62 (Ebd.) Und ich werde im fünften Kapitel argumentieren, dass Adornos Kritische Theorie als der Versuch der Wiederholung dieser Erfahrung verstanden werden kann, Verhältnisse nicht länger »für natürliche zu halten«, sondern sie in ihrer Gewordenheit zu erkennen. Die_Der Intellektuelle in der Emigration erwirbt also eine (gemäßigte) Außenperspektive auf beide Gesellschaften, deren Teil sie_er ist. In seiner bekannten Aufsatzsammlung Permanent Exiles beschreibt Martin Jay Adornos Situation wie folgt: »For as an American, he was obviously a displaced European, while as a European, he was deeply affected by his years in America. As a result he was able to remain in permanent exile from both contexts.« (Jay 1986: 137) So sehr die Rede vom permanenten Exil Adornos Situation pointiert, so sehr verdeckt sie sie jedoch auch. Denn die in der Forschung mittlerweile zum geflügelten Wort aufgestiegene Metapher des permanenten Exilanten – »nowhere at home, and that his life’s work emerges from and represents the experience of a thoroughly disengaged individuality« (Bielsa 2016: 375) – birgt die bereits erwähnte Gefahr, Adornos Selbstverständnis mit Denkfiguren wie der Mannheimschen freischwebenden Intelligenz zu assoziieren; eine Idee, die Adorno ebenfalls explizit zurückgewiesen hat. Denn 61 In einem Brief an Thomas Mann schreibt Adorno: »[I]ch habe auch gelernt, daß es in einem zentralen Sinn eine Rückkunft nicht gibt: daß einem Europa so fremd geworden ist wie die Fremde« (Adorno und Mann 2002: 103). 62 Ähnlich heißt es auf der gleichen Seite weiter: »In Amerika wurde ich von kulturgläubiger Naivität befreit, erwarb die Fähigkeit, Kultur von außen zu sehen.« (Adorno 2003c [1968]: 734)

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genau wie Arendt geht es auch ihm nicht um die Entdeckung eines wie auch immer gearteten »dritten Ort[s]« (Auer 2003: 43). Im Gegenteil: Wie nur wenige andere Autor_innen reflektiert Adorno die eigene Verwobenheit in die gesellschaftlichen Verhältnisse, die er kritisiert. So wird in den Minima Moralia einiges an Tinte darauf verwendet, über die ökonomische und sozialisatorische Gebundenheit der_des Intellektuellen nachzudenken, wie etwa im Aphorismus Drinnen und draußen, in dem Adorno zwar den vergangenen europäischen Zuständen nachtrauert, in denen »wenigstens die Professoren« vor dem »ökonomischen Druck des Marktes« (Adorno 2003d [1951]: 74) geschützt waren. Dies tut er aber nur, um direkt hinterherzuschicken, dass sich Philosoph_innen diesbezüglich keinerlei Illusionen machen sollten. Selbst wenn sie von der materiellen Praxis teils abgeschnitten sind, so stellt diese materielle Praxis dennoch die Voraussetzung ihrer Existenz dar: »Die eigene Distanz vom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betrieb abwirft.« (Ebd.: 27) Sich ganz nach außen zu stellen, ist demnach im Spätkapitalismus auch dem_der Philosoph_in gar nicht möglich.63 Denn die ökonomische Praxis ist nicht nur im wörtlichen Sinne die materielle Voraussetzung für die Exis­ tenz der Gesellschaftskritiker_innen, »sondern liegt auch auf dem Grund der Welt, mit deren Kritik seine [des Gesellschaftskritikers, T. A.] Arbeit zusammenfällt […]. Er steht vor der Wahl sich zu informieren oder dem Verhaßten den Rücken zu kehren. Informiert er sich, so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zu werden, wie das, womit er sich abgibt, denn die Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur verstehen will, muß ›ökonomisch denken‹. Läßt er sich aber nicht darauf ein, so hypostatiert er seinen an der ökonomischen Realität, dem abstrakten Tauschverhältnis überhaupt erst gebildeten Geist als Absolutes, während er zum Geist werden könnte einzig in der Besinnung auf die eigene Bedingtheit.«64 (Ebd.: 150)

63 Zu den Bedingungen, in die Denkende – auch jene »von biographischen Umständen begünstigt[e]« – immer schon eingewoben sind, vgl. auch die Überlegungen in Adornos Anmerkungen zum philosophischen Denken (Adorno 2003a [1964]: 605). 64 An anderer Stelle heißt es, weniger auf die Ökonomie und grundsätzlicher auf sozialisatorische Prozesse bezogen: »Nicht bloß ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr, oder schlechterdings aus Beziehung zum Objekt.« (Adorno 2003d [1951]: 175) Ich gehe in Abschnitt 4.1.2 noch etwas genauer darauf ein, wie sich Adorno Sozialisationsprozesse vorstellt.



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Adorno warnt hier geradezu davor, die Außenseiterposition der_des Intellektuellen zu stilisieren. Die Rede von der »Besinnung auf die eigene Bedingtheit« verweist stattdessen – interessanterweise in einer nahezu Arendtschen Terminologie – auf einen wesentlich bescheideneren Anspruch bezüglich der eigenen Position: »Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält als die anderen […]. Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt […]. Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt.«65 (Ebd.: 27) Arendts und Adornos Erfahrungen von Flucht und Exil, die in ähnlicher Weise reflektiert und in vergleichbare philosophische Figuren und Haltungen überführt werden, markieren nicht nur die jeweiligen Ausgangsposi­ tionen von Arendts und Adornos Theoriebildung, sondern stellen auch die erste auffällige Gemeinsamkeit im »ungeklärten Verwandtschaftsverhältnis« (Ahrens 1995: 27) zwischen Arendt und Adorno dar.

65 Eine ganz ähnliche Idee findet sich auch bei Arendt. Auch die Abgeschiedenheit der_des Paria sollte nicht hypostasiert werden. Die »Menschlichkeit« der_des Paria, schreibt Arendt in ihrer Auseinandersetzung mit dem Paria Lessing in Menschen in finsteren Zeiten, ist vielmehr oft »teuer genug bezahlt« (Arendt 2012 [1959]: 23). Denn der Preis für den Rückzug aus der Welt ist ein »radikaler Weltverlust«, der die Gefahr birgt, die Menschlichkeit, welche die_der Paria eigentlich für sich reklamieren kann, »zu einer Phrase oder einem Phantom werden zu lassen.« (Ebd.: 34) Die Weltflucht der_des Paria könne daher nur gerechtfertigt werden, »solange die Wirklichkeit nicht ignoriert wird, sondern als das, wovor man flieht, in der ständigen Präsenz gehalten wird.« (Ebd.)

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2. Arendts und Adornos Analysen der totalen Herrschaft In Form von Diskriminierung, Flucht und Exil bekamen Arendt und Ador­ no, wie ich gezeigt habe, die Naziherrschaft am eigenen Leib zu spüren. Aber auch darüber hinaus, als zeitgeschichtliche Erfahrung, kann die Bedeutung der totalen Herrschaft für beider Theoriebildung nur schwer überschätzt werden. Entsprechend gibt es kaum eine Auseinandersetzung mit den Schriften von Arendt einerseits oder Adorno andererseits, die nicht mit der Feststellung beginnt, dass das nun zu behandelnde Werk gar nicht verstanden werden könne, ohne dass zunächst dieser Ausgangspunkt vergegenwärtigt werde. Exemplarisch kann hier die Aussage stehen, die Waltraud Meints-Stender am Beginn ihres Buches über Arendts Begriff der Urteilskraft formuliert. Mit explizitem Verweis auf Adorno schreibt sie: »[W]ie bei Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Günther Anders […] ist auch bei Arendt Auschwitz eben jene alles überschattende Katastrophe, der man innewerden muss, wenn man zu einem angemessenen Verständnis ihrer Philosophie […] kommen will.« (Meints-Stender 2011: 11) Für Meints-Stender ergibt sich daraus das folgende Forschungspostulat: »Das Ereignis als Bezugspunkt des Denkens erfordert zwei Reflexionsbewegungen. Einmal in Relation zu den Ereignissen ihrer Zeit, zum anderen in Bezug auf das bereits Gedachte. Genau in dieser zweifachen Bewegung verläuft die Reflexion bei Arendt und nimmt dabei die Form einer doppelten Paradoxie an: zum einen die unermüdliche wie vergebliche Anstrengung, das Unbegreifliche der Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu begreifen; zum anderen die schonungslose Demontage der philosophischen Tradition« (ebd.: 11 f.). Auch das Doppelte dieser Reflexionsbewegung lässt sich ohne Einschränkung für Adorno geltend machen. Auch sein Denken beginnt beim Versuch, »to comprehend the incomprehensible« (Villa 2008a: 216). Und auch für ihn endet dieser Versuch nicht bei der Analyse der Entstehungsbedingungen der totalen Herrschaft, sondern lässt darüber hinaus die Frage »Wozu noch Philosophie?« (Adorno 2003e [1962]: 459–473) virulent werden. Dem obigen Postulat folgend soll hier daher beiden Denkbewegungen nachgegangen werden: Ich werde in diesem Kapitel zunächst Arendts und Adornos Versuche, das Geschehene zu verstehen, nachvollziehen, bevor ich mir im nächsten Kapitel ihre daraus folgenden Demontagen und anschließenden



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Remontagen der »heute zerrütteten Tradition von Philosophie« (ebd.: 461) genauer ansehe. Ich habe dieses Buch mit der Feststellung begonnen, dass die strikte Dichotomie zwischen den beiden hier behandelten Philosophien gegenwärtig langsam, aber sicher dabei ist, sich aufzulösen. Innerhalb der immer noch bedächtigen, aber zunehmend erkennbaren Tendenz, vormals »›Unvergleichliche‹ miteinander [zu] vergleichen« (Söllner 2018b: 203), nehmen Parallellektüren von Arendts und Adornos Totalitarismusanalysen noch einmal eine Sonderstellung ein: Denn kein anderer Teil ihrer Theorien ist bereits so oft nebeneinandergelegt worden wie die jeweiligen Genealogies of Total Domination (vgl. Villa 2008a). Dies ist wohlgemerkt sowohl in vermittelnder (vgl. Ahrens 1995; König 2008: 584 f.; Rensmann 2003) als auch in kontrastierender Absicht (vgl. Honneth 2005 und 2012a: 50 ff.; Villa 2008a) geschehen. In diesem Kapitel soll beiden Perspektiven Rechnung getragen werden. Konkreter formuliert: Ich möchte sowohl Dana Villas Bedenken ernst nehmen, dass »[t]rying to fit Adorno’s and Arendt’s respective ›genealogies‹ of totalitarianism into a common paradigm is an exercise fraught with difficulty« (Villa 2008a: 252), als auch den Punkt von Jörn Ahrens weiterverfolgen, der auf die »sonderbar starken Parallelen in der Faschismusanalyse Hannah Arendts und Theodor W. Adornos« (Ahrens 1995: 29) hinweist. Gegen einen Vergleich scheinen zunächst die auf den ersten Blick grundverschiedenen Herangehensweisen zu sprechen, mit denen die beiden Autor_innen sich dem Phänomen totaler Herrschaft jeweils genähert haben: Auf der einen Seite steht Adornos in der Dialektik der Aufklärung vorgetragene zivilisationskritische Erzählung, die – »fragmentary and forbiddingly abstract« (Villa 2008a: 215) – in Urzeiten beginnt und über die Behauptung einer stetigen Zunahme an instrumenteller Vernunft schließlich in den Nationalsozialismus zu münden scheint. Totale Herrschaft, so wird dieses Buch oft verstanden, wird »als Folge einer Fehlentwicklung des gesamten Zivilisationsprozesses« (Honneth 2005: 190) dargestellt. Auf der anderen Seite steht Arendts in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft vorgetragene Strategie: »[A]nschaulicher auf realgeschichtliche Vorgänge bezogen« (ebd.: 194) verfolgt sie die Ermöglichungsbedingungen des Totalitarismus zurück auf den Antisemitismus und den Imperialismus des 19. Jahrhunderts sowie auf die Krise und den Zerfall der europäischen Nationalstaaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.66 Diese Herangehensweisen divergieren jedoch nicht 66 Auch Dana Villa (2008a: 252) stellt Arendts »concrete historical ›political science‹« und

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nur hinsichtlich des Abstraktionsgrades oder der Art der Darstellung. Vielmehr lassen sich die beiden Ansätze auch so interpretieren, dass Adorno für ein Modell der Kontinuität steht, während Arendt die historische Präzedenzlosigkeit der totalen Herrschaft betont. Wie aber können einige Forschungspositionen dann in Bezug auf Arendts und Adornos Totalitarismusanalysen von »Gedanken« sprechen, »die sich teilweise aufs Haar, ja bis in die Formulierung hinein, ähneln« (Ahrens 1995: 29)? Solche Ähnlichkeiten scheinen mir weniger in den Analysen der generellen Ermöglichungsbedingungen totaler Herrschaft zu liegen als in den Befunden über die spezifischen Faktoren und Wirkungsweisen, die die totale Herrschaft haben Wirklichkeit werden lassen. Im Folgenden werde ich beide Aspekte untersuchen, das heißt sowohl ihre jeweiligen, scheinbar stark divergierenden Annahmen über die tiefenstrukturellen Ermöglichungsbedingungen der totalen Herrschaft als auch die »erstaunliche Affinität […] in der konkreten Genealogie, Bestimmung und Deskription […] totaler Herrschaft« (Rensmann 2003: 161). Dabei möchte ich beide der angeführten Positionen korrigieren. Gegen die Honneth-/Villa-Position argumentiere ich, dass sich auch Arendts und Adornos Rahmenerzählungen über die Ermöglichungsbedingungen totaler Herrschaft nicht derart diametral gegenüberstehen, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Vor allem werde ich mich gegen die Behauptung stellen, wir hätten es einmal mit einem Modell des Bruchs und einmal mit einer Kontinuitätsthese zu tun. Anders als die Adorno angelastete Kontinuitätsthese suggeriert, handelt es sich bei der totalen Herrschaft für Arendt wie auch für Adorno um etwas nie zuvor Dagewesenes und Neues. Beide sehen hierin ein spezifisch modernes und präzedenzloses Phänomen. Anders als die mit Arendt assoziierte These vom Traditionsbruch vielleicht suggerieren mag, folgt daraus jedoch für beide noch lange nicht, dass das totalitäre System vollkommen unerklärlich und plötzlich, einer Naturkatastrophe gleich, über Deutschland und Europa hereingebrochen wäre. Denn auch in diesem Sinne gilt es beiden als genuin modern: Arendt und Adorno gehen beide davon aus, dass sich die totale Herrschaft nicht gleichsam zufällig in der Moderne, sondern gerade aus modernen Bedingungen heraus entwickelt hat. Weder Arendt noch Adorno stehen demnach uneingeschränkt Adornos »highly abstract and speculative anthropology« einander gegenüber. Das Kompliment der historischen Akkuratheit hat Arendt sonst auch nicht allzu oft gehört. Es macht wahrscheinlich nur im direkten Vergleich mit einem Buch wie der Dialektik der Aufklärung Sinn.



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für Bruch oder Kontinuität. Vielmehr sind beider Verstehensversuche gerade vom Ringen um Fragen dieser Art – nach Erklärbarkeit und Bedingtheit – gezeichnet. Die »fertigen Fragment[e]« (Wiggershaus 1987: 364) mit unklarem methodologischem Status, die sowohl die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als auch die Dialektik der Aufklärung darstellen, sind Ausdruck dieses Ringens. Auf der anderen Seite nehme ich auch bezüglich der Ahrens-/RensmannPosition eine (wenn auch geringfügigere) Neujustierung vor. Denn es ist zwar richtig, dass Arendts und Adornos Analysen der konkreten Mechanismen der totalen Herrschaft sich teilweise bis in die Formulierungen hinein ähneln, jedoch möchte ich, zumindest stärker als das bisher geschah, auch betonen, dass diese erstaunlich analogen Analysen – ähnlich wie es bei der Paria- und der Intellektuellenfigur im ersten Kapitel der Fall war – trotz starker Überschneidungen dennoch in ganz verschiedenen Theoriesprachen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vorgenommen werden: Einmal wird die politische und einmal die sozialphilosophische Dimension des Phänomens stärker beleuchtet. 2.1 Bruch oder Kontinuität? Lesarten der totalen Herrschaft »Dies hätte nicht geschehen dürfen« (Arendt 2011 [1951]: 945). Wie so viele von Arendts Formulierungen, hat dieser Satz etwas Lapidares, insbesondere dann, wenn er aus dem Kontext gerissen wird. Er steht im letzten Kapitel der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und drückt die völlige Fassungslosigkeit angesichts der industriell betriebenen Vernichtung von Millionen unschuldiger Menschen aus. Arendt wiederholt diesen Satz an verschiedenen Stellen ihres Werkes – am entschiedensten wohl im Gespräch mit Günter Gaus. »Wissen Sie«, erklärt Arendt darin, »das Entscheidende ist ja nicht das Jahr 33; jedenfalls für mich nicht. Das Entscheidende ist der Tag gewesen, an dem wir von Auschwitz erfuhren.« (Arendt 2013 [1964]: 61) Wobei die Bezeichnung »Tag« nicht ganz treffend ist. Denn Arendt wollte den ersten Berichten über die systematische Ermordung unschuldiger Menschen zunächst nicht glauben: »Das war 1943. Und erst haben wir es nicht geglaubt. Obwohl mein Mann und ich eigentlich immer sagten, wir trauen der Bande alles zu. Dies aber haben wir nicht geglaubt, auch weil es ja gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war. Mein Mann ist ehemaliger Militärhistoriker,

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er versteht etwas von den Dingen. Er hat gesagt, laß dir keine Geschichten einreden; das können sie nicht mehr! Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen. […] Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. […] Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter – ich brauche mich ja darauf nicht weiter einzulassen. Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.« (Ebd.: 61 f.) Arendt, die sich zu diesem Zeitpunkt noch als freie Publizistin im New Yorker Exil durchschlug, hat dennoch versucht, damit »fertig« zu werden. Von nun an nutzte sie »fast jeden wachen Moment, den sie nicht mit einer ihrer bezahlten Tätigkeiten verbrachte, für die Arbeit an ihrem monumentalen Werk« (Young-Bruehl 2011: 3): den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft. Das Buch sollte sie nicht nur berühmt machen, sondern enthält nach der einhelligen Meinung vieler Kommentator_innen auch »den Schlüssel zum Verständnis des ganzen Arendt’schen Werkes« (Forst 2011: 198). Am Anfang der Elemente – und zugleich am Anfang von Arendts gesamter Theoriebildung – steht der Versuch zu verstehen.67 Das Buch »stellt den Versuch dar zu verstehen, was auf den ersten und selbst den zweiten Blick nur ungeheuerlich erschien.« (Arendt 2011 [1951]: 25) Nur Verstehen ermöglicht die »Versöhnung«, wie Arendt es in einer Terminologie formuliert, die durchaus an Adorno erinnert, »mit einer Welt, in welcher diese Dinge überhaupt möglich sind« (Arendt 2012b [1953]: 110). Dabei will sie keineswegs »irgend etwas entschuldigen«. Stattdessen geht es ihr um die Wiedererlangung der Möglichkeit, »in der Welt zu Hause zu sein« (ebd.): »Begreifen bedeutet freilich nicht, das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen. Es bedeutet vielmehr, die Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und bewußt zu tragen und dabei weder ihre Existenz zu 67 Zur methodologischen Bedeutung des Verstehens für Arendts Theoriebildung vgl. ihren Aufsatz Verstehen und Politik (Arendt 2012b [1953]: 110–127) sowie, in kürzerer Form, ihre Selbstauskunft gegenüber Gaus: »Wenn ich arbeite, bin ich an Wirkung nicht interessiert. […] wesentlich ist für mich: Ich muß verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist, nicht wahr, Teil in dem Verstehensprozeß.« (Arendt 2013 [1964]: 48)



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leugnen noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen, als habe alles, was einmal geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. Kurz: Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.« (Arendt 2011 [1951]: 25) Dieser Auffassung des Verstehens ist die ungewöhnliche Form des Buches geschuldet. Denn anders als es Honneths Lob der historischen Anschaulichkeit suggerieren mag, sind die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, erstmals 1951 in den USA als The Origins of Totalitarianism erschienen, ein eigenwilliges Buch. Die Reaktionen, die der gut 1000-seitige Band68 häufiger hervorgerufen hat, waren dann auch vielmehr »[n]achhaltige Irritationen« (Straßenberger 2020: 20). Denn trotz des immensen Umfangs wird man beim Lesen das Gefühl nicht los, ein Fragment in der Hand zu halten. Die Elemente bestehen aus drei Teilen, die jeweils mit den Titeln »Antisemitismus«, »Imperialismus« und »Totale Herrschaft« überschrieben sind, deren Verhältnis zueinander jedoch nicht sofort ersichtlich wird. Es gibt weder Einleitung noch Schluss und es fehlen strukturierende Angaben, welche die drei Teile – die jeweils Bücher für sich sind – verbinden.69 Die mangelnde Einheit des Buches auf der einen Seite sowie die Schwierigkeit, es einem bestimmten methodischen Vorgehen zuzuordnen auf der anderen Seite, haben oftmals in der Sekundärliteratur für Verwirrung gesorgt und nicht selten Kritik hervorgerufen.70 Bezeichnenderweise wird Arendt zum einen vorgeworfen, sie habe zu wenig Zusammenhang hergestellt – etwa zwischen dem gesellschaftlichen Antisemitismus in Frankreich, der im ersten Teil des Buches Thema ist, der imperialistischen Politik Großbritanniens, die sie 68 Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die 14. Auflage des Piper Verlags von 2011. 69 Noch während der Entstehung schreibt Arendt an Karl Jaspers: »Natürlich haben Sie recht. Das Unglück ist, daß dies in meinem Kopf immer ein Buch war, in Wahrheit aber, wenigstens was das zu verarbeitende historische Material angeht, drei Bücher sind: Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus. Daraus drei Bücher zu machen, wäre aber auch nicht gut gewesen […], weil das politische Argument nicht herausgekommen wäre.« (Arendt und Jaspers 1993: 258) 70 »Vom Standpunkt anerkannter fachlicher Methodologien aus gesehen, entzieht es sich der klaren Einordnung, da es eine Menge Regeln verletzt; es ist übersystematisiert und interpretiert zu stark, so dass es i. e. S. nicht als historische Darstellung angesehen werden kann; es tritt zu anekdotenhaft und begriffsgeschichtlich auf, um als Sozialwissenschaft gelten zu können; und obwohl es die Lebendigkeit und das stilistische Gespür einer Arbeit des politischen Journalismus besitzt, ist es zu philosophisch, um einem breiteren Publikum zugänglich zu sein.« (Benhabib 2006: 112)

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im zweiten Teil beschreibt und dem deutschen Nazismus im dritten Teil: »Der Text erscheint als eine Art Steinbruch origineller Einzelansichten, als eine Ansammlung nur lose aneinander gereihter Essays ohne inneren Zusammenhang und systematischen Aufbau« (Meints-Stender 2011: 10). Zum anderen wird aber auch der gegenteilige Einwand erhoben, dass nämlich das Buch zu viel Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Elementen herstelle und Geschichtsphilosophie betreibe. So sah bereits der erste Rezensent des Buches, Eric Voegelin, in Arendts Analyse den Versuch, »die gegenwärtigen Erscheinungen verständlich zu machen, indem ihr Ursprung bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgt und auf diese Weise eine Zeitspanne festgelegt wird, in welcher sich das Wesen des Totalitarismus zu voller Blüte entfaltete.« (Voegelin 2015 [1953]: 44) Dass es sowohl Kritik gibt, die besagt, es bestehe zu wenig (oder kein) Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen des Buches als auch solche, die Arendt unterstellt, zu viel Zusammenhang hergestellt und eine Geschichtsphilosophie geschrieben zu haben, kann durchaus als symptomatisch angesehen werden. Die Gründe für das Schwanken zwischen diesen widersprüchlichen Positionen ergeben sich, so meine These, aus der zentralen Intention des Buches. Denn auf der einen Seite möchte Arendt unbedingt das Präzedenzlose totaler Herrschaft betont wissen. Diese bricht mit jeglicher Tradition und kann daher gerade nicht einfach aus ihren Entstehungs­ bedingungen abgeleitet werden.71 Jedoch möchte Arendt den Totalitarismus wiederum auch nicht zum »beklagenswerte[n] Unfall« (Arendt 2012a [1953]: 309) erklärt wissen: »[D]ie totalitären Systeme wurden nicht vom Mond importiert« (Arendt 2012b [1953]: 113), wie es in einer ihrer typisch pointierten Formulierungen heißt. Für den Versuch, zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln, beruft sich Arendt auf Walter Benjamins Begriff der »Kristallisation«. In einer Antwort auf Voegelins Kritik gesteht sie ein, dass sie dies expliziter hätte herausstellen sollen.72 Die englische Version des Buchtitels, die nur auf die »Ursprünge«, aber noch nicht auf die später in der deutsch-

71 Vgl. auch ihren diesbezüglichen Eintrag im Denktagebuch: »Totalitarismus als Grenzphänomen […] kann nicht einfach in die Geschichte verweisen, wo man seine Ätiologie fein säuberlich studieren könnte. Daher das Unchronologische der Origins.« (Arendt 2002: 68) 72 Für die spätere Forschung stellt die Kritik Voegelins einen Glücksfall dar, da sie dazu geführt hat, dass Arendt ihr Vorgehen genauer erklärt hat. Voegelins Rezension, Arendts Antwort sowie der brieflich geführte Austausch zwischen den beiden findet sich heute als Disput über den Totalitarismus in einem schmalen Band versammelt.



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sprachigen Version hinzugefügten »Elemente« verweist, habe ihren Teil zum Missverständnis beigetragen: »Das Buch beschäftigt sich deshalb nicht wirklich mit den ›Ursprüngen‹ des Totalitarismus – wie sein Titel bedauerlicherweise behauptet –, sondern gibt eine historische Darstellung der Elemente, die sich im Totalitarismus kristalisierten, und auf diese Darstellung folgt eine Analyse der elementaren Struktur der totalitären Bewegungen und der totalitären Herrschaft selbst. Die elementare Struktur des Totalitarisms stellt die verborgene Struktur des Buches dar, während seine mehr sichtbare Einheitlichkeit durch bestimmte grundsätzliche Vorstellungen, die das Ganze wie ein roter Faden durchziehen, gegeben ist.« (Arendt 2015 [1953]: 55) Die Elemente sind also nicht die Ursachen, aus denen der Totalitarismus hervorging, sondern das »Material«, aus dem sich die totale Herrschaft aufbauen konnte. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1955 macht das dann deutlicher: »Das Buch handelt von den Ursprüngen und Elementen der totalen Herrschaft […]. Die Ursprünge liegen in dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates und dem anarchischen Aufstieg der modernen Massengesellschaft; die Elemente, die in diesem Zerfallsprozeß frei werden, sind ihrerseits in den ersten beiden Teilen in ihre historischen Ursprünge zurückverfolgt und in dem dritten Teil in ihrer totalitären Kristallisationsform analysiert.« (Arendt 2011 [1951]: 16) In seinem ebenfalls erst 1955 hinzugefügten Geleitwort zur deutschen Ausgabe hat auch Karl Jaspers seine Gedanken zum Aufbau des Buches formuliert. »Vielleicht ist es gut«, schlägt er vor, »den dritten Teil zuerst zu lesen. Denn die Genese wird besser verstanden, wenn man ihr Ergebnis schon kennt.« (Ebd.: 11) Auch für mein Projekt ist der dritte Teil des Buches am relevantesten. Denn er enthält Arendts eigentliche Analyse der totalen Herrschaft. Hier stellt sie die Fragen, die ihre Generation »während des größeren Teils ihres Erwachsenenlebens unausweichlich begleitet haben: Was war geschehen? Warum war es geschehen? Wie konnte es geschehen?« (Ebd.: 630) Um Arendts Antworten auf diese Fragen nachzuvollziehen, muss allerdings zunächst geklärt werden, was sie genau meint, wenn sie von »Totalitarismus« oder »totaler Herrschaft« spricht. Denn Totalitarismus, wie Arendt den Begriff verwendet, bezeichnet etwas anderes als die meisten anderen Autor_innen darunter verstehen. In einer ersten Annäherung ließe sich sagen,

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ihr Totalitarismusverständnis ist sowohl weiter als auch enger als die meisten anderen Auffassungen davon. Es ist weiter in dem Sinne, dass Arendt Nationalsozialismus und Stalinismus unter dem Begriff des Totalitarismus zusammenfasst. Das war vor dem Hintergrund des Kalten Krieges eine politisch brisante These (Traverso 2000: 121 f.). Im deutschen Kontext ist die Gleichsetzung beider Systeme vor allem von konservativ-geschichtsrevisionistischer Seite immer wieder versucht worden – freilich mit dem Ziel der Relativierung der deutschen Verantwortung am Zivilisationsbruch. Das ist aber ausdrücklich nicht, worum es Arendt geht. Die deutsche Verantwortung für den Zivilisationsbruch stand für sie außer Frage. Vieles weist sogar darauf hin, dass Arendt das Buch wohl zuerst als Analyse des Nationalsozialismus konzipiert und den Teil über die Sowjetunion später eingepasst hat.73 Arendts Totalitarismusbegriff ist aber nicht nur weiter, sondern er ist zugleich auch enger als viele andere. Er ist enger in dem Sinne, dass für Arendt wirklich nur die Regime von Hitler und Stalin darunterfallen.74 Weder das faschistische Italien noch die Sowjetunion nach Stalins Tod sind ihrer Analyse nach »totalitär« (Arendt 2011 [1951]: 629–656). Diese gar nicht so selbstverständliche Behauptung erklärt sich daraus, was die totale Herrschaft für Arendt ausmacht, was ein Regime für sie »totalitär« macht. Und so verwendet Arendt einen guten Teil ihrer Analyse in den Elementen auf eine Art Phänomenologie des Totalitarismus, um »das wesentlich Neue, das nämlich, was diese Herrschaft wirklich zu einer totalen Beherrschung macht, in den Blick zu bekommen.« (Ebd.: 946) Sie sieht im Totalitarismus eine völlig neue Staatsform, die in den (damals) gängigen philosophischen oder politiktheoretischen Kategorien nicht angemessen erfasst werden kann und die es daher zunächst einmal auf einen (neuen) Begriff zu bringen gilt. Arendts These von der »Originalität« (Arendt 2012b [1953]: 112) der totalen Herrschaft besagt, dass es sich dabei nicht nur um eine gewöhnliche oder gesteigerte Form der Tyrannis handelt. Sie unterscheidet sich von dieser gerade 73 »Its extensive discussions of anti-Semitism and racism seemed to have little specific connection with the USSR, while the book lacked any corresponding discussion of Stalinism’s ideological roots in Marxism« (Canovan 1992: 19). Das ist auch deshalb möglich, weil ihr Erklärungsmodell ähnlich wie das Adornos ohnehin eher auf der Ebene einer »Kritik quasi universell wahrgenommener moderner Entwicklungen« (Rensmann 2003: 154) operiert, die Auschwitz und den Gulag ermöglicht haben. 74 Vgl. schon Arendts eigene Kritik an der zu lockeren Verwendung des Totalitarismusbegriffs für »alte und bekannte Übel« (Arendt 2012b [1953]: 115). Deswegen ist auch bezüglich der (vor)schnellen Aktualitätsbehauptungen von Arendts Totalitarismustheorie Vorsicht geboten.



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nicht nur durch eine Zunahme an Gewaltanwendung. Vielmehr sei »[v]ieles«, so Arendt, »was heute zur Spezialität totaler Herrschaftsapparate geworden ist, […] aus der Geschichte nur zu bekannt. Angriffskriege hat es nahezu immer gegeben; das Niedermetzeln feindlicher Bevölkerungen im Falle des Sieges ist erst durch das römische parcere subiectis einigermaßen eingedämmt worden; die Ausrottung von Eingeborenenvölkern begleitete durch die Jahrhunderte die Besiedlung von Amerika, Australien und Afrika; Sklaverei ist eine der ältesten Einrichtungen der Menschheit […]. Nicht einmal Konzentrationslager sind eine Erfindung totalitärer Bewegungen. Sie tauchen zum ersten Mal zu Beginn des Jahrhunderts im Burenkrieg auf und sind dann weiterhin in Südafrika wie in Indien für ›unerwünschte Elemente‹ benutzt worden« (Arendt 2011 [1951]: 911). Die »Institutionen der totalen Herrschaft« sind für Arendt jedoch »nicht nur radikaler, sondern prinzipiell verschieden von den Formen politischer Unterdrückung […], die uns als Despotie, Tyrannis und Diktatur aus Vergangenheit und Gegenwart bekannt sind.« (Ebd.: 944; Hervorh. T. A.) Um das zu verdeutlichen, rekonstruiert Arendt zunächst ein klassisches politikwissenschaftliches Theorem, die von Montesquieu entwickelte Topologie der Herrschaftsformen (ebd.: 954–960). Montesquieu arbeitete, wiederum in Abwandlung des aristotelischen Sechserschemas, nur noch mit drei Staatstypen: Monarchie, Republik und Tyrannis. Um diese zu beschreiben, hat er jeweils zwischen Wesen und Prinzip einer Regierung unterschieden, wobei »das Wesen der Staatsform (oder auch seine Struktur) das ist, was macht, daß der Staat so und nicht anders ist (eine Republik und keine Mo­ narchie etwa), während das Prinzip einer jeden Regierung das ist, was bewirkt, daß in ihr gehandelt werden kann.« (Ebd.: 954) In einer moderneren Terminologie würden wir sagen, dass das Wesen einer Staatsform deren institutionelle Verfassung bezeichnet und das Prinzip die Handlungslogik beschreibt, die Menschen in dieser Staatsform motiviert. Nach Montesquieu ist das Wesen einer Monarchie eine gesetzliche Regierung, in der die Entscheidungsmacht bei einer Person liegt. Das Prinzip, nach dem gehandelt wird, ist das der Ehre. Die Republik ist ihrem Wesen nach ebenfalls eine Form verfassungsmäßiger Regierung, nur liegt die Entscheidungsmacht hier in den Händen des Volkes. Das Prinzip, nach dem in der Republik gehandelt wird, ist die Tugend. Die Tyrannis schließlich hat ihr Wesen in gesetzloser Herrschaft. Alle Macht liegt hier in den Händen

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einer_eines willkürlich verfahrenden Einzelnen. Das Prinzip des Handelns ist hier die Furcht. Wobei die Furcht für Arendt strenggenommen gar kein politisches Handlungsprinzip mehr ist. Denn wo Furcht herrscht, kommt es zu gegenseitigem Misstrauen, was politisches Handeln erschwert. Dieses Montesquieusche Schema ergänzt Arendt nun um die totale Herrschaft. Deren Wesen, so konstatiert sie, ist der Terror. Ein Prinzip gibt es nicht. Denn dies würde voraussetzen, dass überhaupt gehandelt wird, und genau das ist im Totalitarismus nicht mehr der Fall. Historisch frühere Formen der Tyrannis und der Totalitarismus haben zwar gemeinsam, dass sie beide den Raum der Freiheit zwischen den Bürger_innen zerstören. Während sich die Tyrannis jedoch damit zufriedengibt, diesen Raum in eine »Wüste der Nachbarlosigkeit und des gegenseitigen Mißtrauens« (ebd.: 958) zu verwandeln, möchte die totale Herrschaft selbst noch diese Wüste – als das verbliebene »Zwischen« – abgeschafft wissen. Die Optionen in der Tyrannis mögen limitiert und politisches Handeln gefährlich sein, jedoch bleibt eine gewisse »Bewegungsfreiheit in der Wüste« (ebd.: 975). Die totale Herrschaft hingegen geht über die Herstellung von Isolierung und Vereinzelung hinaus; sie macht diese, wenn man so will, in einem pervertierten Sinne wieder rückgängig und schweißt die atomisierten Einzelnen wie mit einem »eiserne[n] Band« (ebd.: 970) wieder zusammen. Sie bildet aus den vielen Isolierten einen einzigen großen Körper, »gleichsam als seien sie alle wirklich nur ein einziger Mensch« (ebd.: 975), und setzt diesen »für die Realisierung ihrer Verbrechen in Bewegung.« (König 2008: 584) Dies geschieht mit Hilfe von Ideologie und Terror.75 Arendt deutet hier eine Art Arbeitsteilung an: »Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen anderen ist ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des konsequent ideologischen Denkens sichert diesem Zwang seine Wirksamkeit, indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten, jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allein der Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können.« (Arendt 2011 [1951]: 970)

75 Dieser Zusammenhang wird hier nur angedeutet, um die Struktur des Arguments nachvollziehbar zu machen. Ich gehe im übernächsten Abschnitt genauer darauf ein, wie dieser Einspannungsmechanismus funktioniert und welche Rolle Ideologie und Terror dabei spielen.



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Während der »äußere Zwang des Terrors« (ebd.) die Beziehungen zwischen Menschen abschaffen soll, dient die Ideologie, sozusagen als dessen Ergänzung, dem »innere[n] Zwang« (ebd.) der Einzelnen. Wobei der Ideologie­ begriff hier rein formal zu verstehen ist. Arendt betont, dass es dem totalitären Denken nicht so sehr auf »die Ideologie selbst« (ebd.: 968), das heißt auf ihren Inhalt ankommt, sondern vielmehr auf die »jeder Ideologie inhärente Logik des Deduzierens.« (Ebd.) Denn der totalitären Ideologie geht es letztlich ausschließlich darum, menschliches Handeln vollkommen berechenbar zu machen und jegliche Pluralität auszulöschen. Dieses Vorhaben – »die Reduktion des Menschen auf ein Reaktionsbündel« (ebd.: 913) – wird, aus Perspektive der totalen Herrschaft gesprochen, von zwei Dingen gefährdet. Zum einen, so Arendt, setzt ein vollkommen totalitärer Herrschaftsapparat die Beherrschung der gesamten Welt voraus. Denn die fiktive Welt, auf deren Etablierung die totale Herrschaft letztlich abzielt, wird von der Existenz einer äußeren Realität fortlaufend bedroht. Zum anderen, und in meinem Zusammenhang entscheidender, bildet die von Arendt anthropologisch gedeutete menschliche Fähigkeit zur Spontaneität – unsere »Fähigkeit ›eine Reihe von vorne anfangen‹ zu können« (ebd.: 969 f.) – eine latente Gefahr, der sich totalitäre Herrschaft ständig ausgesetzt sieht. Deswegen ist das Ziel der totalen Herrschaft, »alle Menschen in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren, als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellten«, in Gänze nur dann zu realisieren, »wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so daß jedes dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist.« (Ebd.: 907) Aus diesem Grund, so Arendts Analyse, sind die Konzentrationslager »die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparats.« (Ebd.: 908) Die Lager erfüllen für das totalitäre Regime zwar auch eine Funktion nach außen: Sie sind auch deshalb wichtig, weil sie den Terror erst ermöglichen (genauer: sie sind der Terror). Wichtiger aber ist ihre Funktion nach innen: Denn sie dienen dem totalen Herrschaftsapparat auch »als Laboratorien, in denen experimentiert wird, ob der fundamentale Anspruch der totalitären Systeme, daß Menschen total beherrschbar sind, zutreffend ist.« (Ebd.: 907) Die Lager arbeiten an »der ›theoretischen‹ Verifikation der Ideologie« (ebd.: 908) und sind das »richtunggebende Gesellschaftsideal für die totale Herrschaft« (ebd.). Denn während diese im Ganzen darauf zielt, die Pluralität zwischen den Menschen abzuschaffen, zielen die Lager darauf ab, auch noch die Spontaneität im Einzelnen – als die anthropologische Vo-

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raussetzung für Pluralität – zu beseitigen und »Menschen in ein Ding zu verwandeln, das unter gleichen Bedingungen sich immer gleich verhalten wird« (ebd.). Die oben angedeutete Abgrenzung zu anderen Totalitarismusbegriffen betrifft genau diesen Punkt. In diesem Versuch der »Transformation der menschlichen Natur selbst« (ebd.: 940  f.) sieht Arendt das entscheidende Kriterium, das diese Herrschaftsform zur totalen macht: »Um diese Transformation handelt es sich in den Konzentrationslagern und nicht um das dort verursachte Leiden, von dem es immer zu viel auf der Erde gegeben hat, und nicht darum, wie viele Menschen dort zugrunde gehen.« (Ebd.: 941) Auch wenn Arendt das in den Elementen und Ursprüngen noch nicht ausformuliert, wird hier doch zum ersten Mal die Idee angedeutet, die später die Vita activa anleiten wird: dass ein Mensch zu sein gerade bedeutet, sich zu einem gewissen Grad »unnatürlich« zu verhalten. Arendt geht davon aus, »daß es zum Wesen der menschlichen Existenz gehört, ein von anderen unterscheidbares Individuum zu sein, welches in einer Pluralität von Personen zu Spontaneität und Initiative fähig ist« (Canovan 1997: 57). In den Elementen spricht sie noch in Anführungszeichen davon, dass »die ›Natur‹ nur insofern ›menschlich‹ ist, als sie es dem Menschen freistellt, etwas höchst Unnatürliches, nämlich ein Mensch, zu werden.« (Arendt 2011 [1951]: 934) In der Vita activa wird sie diese etwas missverständliche Behelfsformulierung dann fallen lassen und durch die Rede von der Condition humaine, der menschlichen Bedingtheit, ersetzen (Arendt 2016 [1958]: 16–21). Trotz dieser später verschobenen Begrifflichkeiten bildet das Konzentrationslager so etwas wie die Negativfolie von Arendts Politikbegriff. Ihr gesamtes späteres Werk stellt den Versuch dar, »ein Verständnis von Politik zu entwickeln, das dem Totalitarismus völlig entgegengesetzt« ist (Sontheimer 2005: 71). Bei Adorno findet sich keine solche Phänomenologie des Totalitarismus. Am »eigentlichen Wesen der totalen Herrschaft« (Arendt 2011 [1951]: 944) ist er nicht interessiert. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Adorno die heideg­ gerianische Terminologie vom »Wesen« als Jargon abgelehnt hätte (Adorno 2003c [1964]: 413–526). Auch abgesehen von Fragen des Vokabulars wird »die totale Herrschaft [von Adorno] kaum selbst als Spezifische bestimmt« (Rensmann 2003: 159). Das fängt schon bei der Frage an, ob Adorno Befürworter einer Totalitarismusthese im Arendtschen Sinne gewesen ist. Dagegen spricht, dass er den Begriff »Totalitarismus« gerade an den einschlägigen Stellen in der Dialektik der Aufklärung vermeidet und häufiger vom »Faschis-



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mus« oder, etwas seltener, vom »Nationalsozialismus« spricht.76 Mittlerweile mehren sich jedoch die Stimmen, die glauben, dass Adorno bei seinen Analysen nicht nur Hitlerdeutschland, sondern auch die Sowjetunion im Blick hatte (Dahmer 2014: 87 f.; Hetzel 2011: 390; Honneth 2005: 190; Schweppenhäuser 2009: 46 f.). Dafür spricht auch, dass er in späteren Texten eher dazu neigt, von »totaler Herrschaft« zu sprechen.77 Wie es zu diesem Sinneswandel kam (oder ob es überhaupt einen gab), ist hier nicht entscheidend. Entscheidender ist, dass Adornos Versäumnis, die totale Herrschaft näher zu definieren, seinen Teil zu der gängigen Lesart beigetragen haben dürfte, er sehe im Nationalsozialismus nur die quasi-logische Steigerung dessen, was ohnehin seit Urzeiten in der menschlichen Zivilisationsgeschichte angelegt gewesen sei. Ich halte das für eine Fehlinterpretation, wie ich im Folgenden schrittweise zu zeigen hoffe. Zunächst einmal gilt es festzuhalten – und das ist eine erste Gemeinsamkeit zwischen Arendt und Adorno –, dass die Bedeutung der zivilisatorischen Katastrophe Mitte des 20. Jahrhunderts auch für das Denken Adornos unüberschätzbar ist. In den Standardwerken zur Geschichte der Frankfurter Schule wird zumeist sogar von einer »Wende« (Honneth 1989: 43) gesprochen, die der Arbeitszusammenhang als Reaktion auf die Nachricht von Auschwitz vollzogen habe: weg »von der Theorie der ausgebliebenen Revolution auf die Theorie der ausgebliebenen Zivilisation« (Wiggershaus 1987: 347). Diese Wende innerhalb der Kritischen Theorie wird nicht selten direkt an das Erscheinen der Dialektik der Aufklärung geknüpft, die Adorno zusammen mit Horkheimer verfasst hat: »Dieses Buch […] ist eine Reaktion auf die gewandelten geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände. Angesichts des Siegeszugs des Faschismus, dem der Rest der Welt in ihren Augen nur eine komplementäre Tendenz zum politischen und ökonomischen Totalitarismus entgegenzusetzen hatte, schien es den Autoren nicht mehr vielversprechend, mit einer interdisziplinär an-

76 Das ist auffällig, da Adorno mit dem Begriff »totalitär« sonst nicht besonders zurückhaltend ist: Aufklärung ist für ihn ebenso »totalitär« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 22, 41) wie »Natur« (ebd.: 58), der »Kapitalismus« (ebd.: 73), die »bürgerliche Ordnung« (ebd.: 110) und nicht zuletzt »Reklamechefs« (ebd.: 189). 77 Auch im 1969 verfassten Vorwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung spricht Adorno dann explizit vom »Totalitarismus« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 9). Vereinzelt war auch zuvor schon in der Dialektik der Aufklärung ab und zu vom »totalitären Staat« die Rede (ebd.: 108, 186).

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gelegten materialistischen Theorie der immer noch erhofften revolutionären Veränderung vorzuarbeiten.« (Schweppenhäuser 2009: 38) Nun muss diese dem Institut für Sozialforschung attestierte Wende in Bezug auf die Person Adornos mit Vorsicht genossen werden. Zum einen wurde er – ich habe die Geschichte im ersten Kapitel erzählt – erst 1938 mit der Ankunft in New York offizieller Mitarbeiter des Instituts. An der von Schweppenhäuser beschriebenen »interdisziplinär angelegten materialistischen Theo­rie« dürfte er daher kaum mitgewirkt haben. Zum anderen vollzog Adorno selbst inhaltlich auch keine derart deutliche Wende: Viele der kultur- und zivilisationskritischen Motive, die in der Dialektik der Aufklärung auftauchen, fanden sich in Adornos Denken bereits zuvor.78 All dies veranlasst Susan Buck-Morss zur gegenteiligen These. Nach ihr hat Adorno die Wende des Instituts nicht nur nicht mitvollzogen, sondern ist für diese vielmehr verantwortlich: »[The] shift which occured in the Frankfurt’s Institutes position after 1938 reflected not only the external reality of Hitler and World War II but the internal one of Adorno’s arrival in the United States as a full-fleged Institute member« (Buck–Morss 1979: xii). Diese qualifizierenden Bemerkungen sollen die Bedeutung, die die Erfahrung der totalen Herrschaft auch für Adornos Theoriebildung hatte, jedoch nicht herunterspielen. Die Dialektik der Aufklärung, die als direkte Reaktion auf die Barbarei in Europa verfasst wurde, markiert nicht nur den – sowohl der Form als auch dem Inhalt nach – radikalsten Ausdruck seines Denkens, sondern sie bleibt auch »systematisches Schlüsselkonzept« (Hetzel 2011: 389), der Dreh- und Angelpunkt seiner Philosophie. Ähnlich wie es bezüglich der Elemente für Arendt der Fall ist, wird auch Adornos gesamtes Denken erst vor dem Hintergrund der hier entwickelten Denkfigur verständlich.79

78 »Der Sache nach widmet sich Adorno […] bereits in seinen frühesten Schriften einer der Aufklärung inhärenten Dialektik, so etwa im 1932 gehaltenen Vortrag über Die Idee der Naturgeschichte« (Hetzel 2011: 389). Auch im Kierkegaard-Buch von 1933 (vgl. Adorno 2003 [1933]) spielt er bereits mit der Idee einer Verschlungenheit von Vernunft und Mythos. 79 Wie sehr die Dialektik der Aufklärung die gedankliche Grundfigur bleibt, die auch in Adornos späteren und im Ton etwas versöhnlicheren »politisch aufklärende[n] Vorträge[n] und Schriften« (Walter-Busch 2010: 164) der 1950er und 60er Jahre den Hintergrund seines Gesellschaftsverständnisses darstellt, darauf komme ich im vierten Kapitel ausführlich zurück.



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Die Dialektik der Aufklärung wurde 1944 von Horkheimer und Adorno in Los Angeles verfasst.80 Das Buch war von Horkheimer schon länger geplant gewesen. Mindestens seit den späten 1930er Jahren hat er darüber nachgedacht, »ein Dialektikbuch oder eine dialektische Logik zu schreiben.«81 (König 2016: 199) Eine erste, hektografierte Version verbreiteten Adorno und Horkheimer bereits 1944 im kleinen Kreis. Eine gedruckte Version erschien dann 1947 im Querido Verlag in Amsterdam. Der Rezeption des Buches haben weder die Veröffentlichung in einem kleinen Exilverlag noch die zunächst geringe Auflage etwas anhaben können: »Die Wirkungsgeschichte des Buches, mit dem Horkheimer und Adorno auf die intellektuelle Entwicklung der Bundesrepublik vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten Einfluß genommen haben, steht in einem kuriosen Verhältnis zur Zahl seiner Käufer.« (Habermas 1988: 130) Worauf Habermas hier mit einem Augenzwinkern anspielt, ist die Tatsache, dass das Buch, obwohl nur in geringer Auflage gedruckt, vor allem ab Mitte der 60er Jahre eine weite Verbreitung in Form von Raubdrucken fand,82 was die Autoren 1969 schließlich dazu 80 Adorno und Horkheimer haben die gemeinsame Autorschaft stets betont. So schreiben sie im Vorwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung von 1969: »Kein Außenstehender wird leicht sich vorstellen, in welchem Maß wir beide für jeden Satz verantwortlich sind. Große Abschnitte haben wir zusammen diktiert; die Spannung der beiden geistigen Temperamente, die in der ›Dialektik‹ sich verbanden, ist deren Lebenselement.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 9) Der Mitherausgeber von Horkheimers Gesammelten Schriften Gunzelin Schmid Noerr hat dann, nach Durchsicht von Horkheimers Nachlass und in Auswertung verschiedener mündlicher Überlieferungen, doch eine Vorstellung davon gewinnen können, wer für welche Textteile verantwortlich war. Die Indizienlage spricht dafür, dass der titelgebende Aufsatz tatsächlich gemeinsam diktiert und von Gretel Adorno protokolliert wurde. Der erste Exkurs »Odysseus oder Mythos und Aufklärung« entstammt aber wahrscheinlich größtenteils der Feder Adornos, der zweite »Juliette oder Aufklärung und Moral« eher der Horkheimers. Das Kapitel zur Kulturindustrie basiert auf einem Entwurf Adornos, der aber von Horkheimer so intensiv überarbeitet wurde, dass hier von gemeinsamer Autorschaft gesprochen werden kann. Ähnliches gilt umgekehrt für die »Elemente des Antisemitismus«. Sie wurden wohl von Horkheimer grundsätzlich konzipiert und dann von Adorno überarbeitet. An der Entstehung der ersten drei Thesen war zudem Leo Löwenthal beteiligt (König 2016: 201–204). 81 Die Arbeit war von Horkheimer ursprünglich wohl eher als eine systematische (und schulphilosophische) Abhandlung, als »eine Art Neufassung der Hegelschen Logik« (König 2016: 199) gedacht gewesen. In den 1940ern kristallisierte sich heraus, dass er sie zusammen mit Adorno verfassen würde (nachdem er zuvor zuerst kurz mit Erich Fromm, dann mit Herbert Marcuse als Koautoren geliebäugelt hatte). Dem letztlich publizierten Buch ist von diesem ursprünglichen Plan nicht mehr viel anzumerken. 82 Zu dieser in den 1960er Jahren gängigen Praxis des Raubdrucks schreibt Felsch (2018: 74–78).

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bewog, eine neue, nur sehr leicht überarbeitete Neuausgabe herauszubringen (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 9 f.). Diese ist seitdem im Umlauf und liegt den hier zitierten Gesammelten Schriften Adornos zugrunde. Ähnlich Arendts Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft erscheint auch die Dialektik der Aufklärung als »ein merkwürdiges Buch« (Habermas 1988: 130), wenn man es an hergebrachten Kompositionsstandards misst. Noch eindeutiger als es bei den Elementen der Fall ist, handelt es sich um ein Fragment. Auf den titelgebenden Aufsatz zum Begriff der Aufklärung folgen zwei Exkurse und drei Anhänge. Für einige Kommentator_innen stellt nicht etwa die Abhandlung zum Begriff der Aufklärung, sondern einer der drei Anhänge – die »Elemente des Antisemitismus« – das eigentliche »Kernstück der Dialektik der Aufklärung« (Dahmer 2014: 89; vgl. auch König 2016 passim) dar. Genau wie bei den Elementen gibt es weder Einleitung noch Schluss. Abgesehen von einer kurzen Vorrede fehlen Strukturangaben, die die einzelnen Textteile verbinden oder Zusammenhänge herstellen würden. »Die eher unübersichtliche Form der Darstellung läßt die klare Struktur der Gedankenführung nicht auf den ersten Blick erkennen«, hat es Habermas (1988: 130 f.) noch mit understatement formuliert. Das heißt aber nicht, dass es eine solche »klare Struktur der Gedankenführung« nicht gäbe. Was die einzelnen Teile des Buches zusammenhält, ist die gleiche erkenntnisleitende Frage, die auch Arendts Elementen zugrunde lag: »Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 11) Um diese Frage zu beantworten, wird dann in eher groben Linien eine Skizze der Zivilisationsgeschichte gezeichnet. Ihr Fluchtpunkt ist die titelgebende Dialektik der Aufklärung. Zwar ermögliche die Vernunft den Menschen, sich immer weiter aus dem Naturzwang zu befreien, jedoch führen ebendiese Vernunft und Befreiung auch immer tiefer in die Verstrickung mit Herrschaft hinein. Die Gründe für die Barbarei sind demnach in einem spezifischen Rationalitätstypus, einer instrumentellen Vernunft, zu suchen: »Es geht den Autoren mithin um den Nachweis, dass der totalitäre Terror nicht zufällig entstanden war, sondern seine Grundlagen tief im abendländischen Denken und in der abendländischen Zivilisation verankert waren.« (König 2016: 201) Das Argument, das diesen Nachweis erbringen soll, wird von Horkheimer und Adorno in seiner pointiertesten, wenn auch etwas kryptischen Form, wie folgt zusammengefasst: »[S]chon der Mythos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.« (Adorno



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und Horkheimer 2003 [1947]: 16) Wie aber ist diese »aufregende« (Hesse 1984: 118) These zu verstehen? Schon der Mythos ist Aufklärung. Um den Satz zu entschlüsseln, hilft es, sich zunächst Klarheit darüber zu verschaffen, was hier unter »Aufklärung« verstanden wird. Wenn Horkheimer und Adorno in ihren Philosophischen Fragmenten, wie der Untertitel lautet, von Aufklärung sprechen, dann meinen sie (meistens) nicht die historische Epoche der Aufklärung, die wir heute in der Regel grob ins 18. Jahrhundert datieren, sondern »Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 19). Aufklärung wird, in mehr oder weniger expliziter Anlehnung an Max Weber, als der gesamte Prozess der »Entzauberung der Welt«83 (ebd.: 21) verstanden, und fällt daher »mit der Geschichte der abendländischen Vernunft selbst zusammen« (Hetzel 2011: 391). Horkheimer und Adorno beginnen diese Geschichte der abendländischen Vernunft an ihrem Anfang: am Ursprung der Menschheitsgeschichte. Sie spekulieren darüber, wie der Selbsterhaltungsprozess der Menschen gegenüber der sie umgebenden Natur in der Vorgeschichte begonnen haben mag, und zeichnen den Versuch, dieser Natur Herr zu werden, anschließend in einer Art Husarenritt durch die Menschheitsgeschichte nach.84 Ihre Erzählung beginnt im Präanimismus. Die »erste Aufgabe« des menschlichen Verstandes ist hier »notwendigerweise die Sicherung des Überlebens in einer übermächtigen und als feindlich erfahrenen äußeren Natur« (Schwandt 2010: 91). Der erste Versuch, dieser Übermacht zu entkommen, der in der Dialektik der Aufklärung beschrieben wird, besteht in Mimesis. Der griechische Begriff für Nachahmung wird hier in seinem engeren zoologischen Sinn verwendet: So wie manche Tierarten im Laufe der Evolution beginnen, ihrer natürlichen Umgebung ähnlich zu werden, um auf diese Weise, besser getarnt, ihre Überlebenschancen zu erhöhen, so stellt diese Nachahmung Horkheimer und Adorno zufolge auch eine 83 Weber wird in der Dialektik der Aufklärung nicht direkt zitiert. Die Übernahme seiner Metapher aus Wissenschaft als Beruf (Weber 2006 [1917]: 19) ist aber so offensichtlich, dass sie durchaus als gewollte Anspielung verstanden werden darf. 84 Ob und in welchem Grad ihre Erzählung mit historischem Anspruch auftritt, ist nicht restlos geklärt: »Ebenso wie es bei Rousseau ungeklärt bleibt, ob seine Skizze des Naturzustands fiktiv oder empirisch gemeint ist, lassen es auch Horkheimer und Adorno offen, wie sie ihre Exkurse in die menschliche Frühgeschichte verstanden wissen wollen; der Text enthält zwar einerseits eine Reihe von versteckten Anspielungen auf ethnologische und anthropologische Forschungsbefunde, ist aber andererseits in seinen Schlussfolgerungen so einseitig und zugespitzt, dass am Ende vieles für eine bloß fiktiv gemeinte Darstellung spricht.« (Honneth 2012a: 48 f.)

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frühe Entwicklungsstufe der menschlichen Vernunft dar. Den Menschen des Präanimismus dient die Mimesis dabei nicht nur zur Tarnung, die direkte Nachahmung der natürlichen Umwelt stellt auch eine Art ersten Schritt zu deren Verstehen dar. Im anschließenden mythologischen Zeitalter werden dann Naturphänomene wie Regen, Wind und Gezeiten von den Menschen als Geister oder Naturgottheiten vorgestellt. Diese Art sich die Welt zu erklären stellt nach Horkheimer und Adorno den Beginn der Aufklärung dar. Es handelt sich um die ersten Versuche, die Funktionsweisen der Natur nachvollziehbar zu machen: »Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 24) Dabei leistet der Mythos mehr, als nur zu erklären. Ist die Natur erst einmal in Gottheiten personifiziert, dann kann man sie sich durch Anbetung oder Opfer gewogen machen. Nach Horkheimer und Adorno wird dieses Denken mit der Zeit zunehmend systematisiert: »Mit der Aufzeichnung und Sammlung der Mythen hat sich das verstärkt. Sie wurden früh aus dem Bericht zur Lehre. Jedes Ritual schließt eine Vorstellung des Geschehens wie des bestimmten Prozesses ein, der durch den Zauber beeinflußt werden soll. Dieses theoretische Element des Rituals hat sich in den frühesten Epen der Völker verselbständigt.« (Ebd.) Der Prozess – man beachte den gigantischen Zeitsprung – setzt sich, so die beiden Autoren, bis in den Polytheismus der Antike fort.85 Er mündet dann im Monotheismus in »die Idee einer einzigen, ebenso abstrakten wie universalen Gottheit« (Schwandt 2010: 92). Über den zunächst jüdischen, dann christlichen Monotheismus und die mittelalterliche Metaphysik gelangen wir schließlich zu dem, was wir heute Vernunft nennen und zu deren geschichtlich wirksamster Organisationsform: dem (natur)wissenschaftlichen Weltbild. Am vorläufigen Ende dieses Aufklärungsprozesses steht das positivistische Weltbild des 20. Jahrhunderts, der »Mythos dessen, was der Fall ist« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 10). Analog dem Aufklärungsbegriff wird auch »Positivismus« in der Dialektik der Aufklärung noch sehr weit verstanden. Anders als im sogenannten Positivismusstreit, der später mit Adornos Namen assoziiert werden wird (vgl. Adorno et al. 1993), meint Positivismus hier nicht (nur) die von Comte über den Wiener Kreis und 85 Den Göttern der Antike ist, so Adorno und Horkheimer, die Abkunft von älteren animistischen Naturgottheiten noch an ihrem klar umrissenen Zuständigkeitsbereich anzumerken. Sie »sind nicht mehr unmittelbar mit Elementen identisch«, aber »sie bedeuten sie.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 24)



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schließlich zu Karl Popper verlaufende Traditionslinie, sondern eine generellere, das 19. und 20. Jahrhundert dominierende (und zu Beginn des 21. Jahrhunderts stärker denn je zu dominieren scheinende) Tendenz zu einer extremen (Natur)wissenschaftsgläubigkeit, die »Denken und Mathematik in eins« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 41) setzt und in der »Denken zur Sache, zum Werkzeug« (ebd.: 42) wird – also zu einem rein instrumentellen Denken. Der ganze Aufklärungsprozess wird von Horkheimer und Adorno in »permanenter Götzendämmerung« (ebd.: 28) gedacht. Sie gehen davon aus, dass jede der hier skizzierten Bewusstseinsformen aus der Überwindung ihrer Vorgängerin entsteht (ebd.: 48). Jede neue Stufe – »vom Übergang zur olympischen Religion bis zu Renaissance, Reformation und bürgerlichem Atheismus« (ebd.: 49) – verdrängt die vorherige, setzt sie »zum animistischen Aberglauben herab« (ebd.). Mit jeder neuen Bewusstseinsform befreien sich die Menschen also weiter aus dem Bannkreis von Vorurteilen und der Abhängigkeit von der Natur. So ist der erste Teil des Zitats zu verstehen: Schon der Mythos [als der erste Schritt in diesem Prozess] ist Aufklärung. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Aufklärung schlägt in Mythologie zurück. Auf der anderen Seite wird der Aufklärungsprozess ständig von einer ihm innewohnenden Dialektik bedroht. Aufklärung und Herrschaft, so die zentrale These Horkheimers und Adornos, gehen miteinander einher. Die Herrschaft, welche die Menschen über die äußere Natur anstreben, kehrt sich auch gegen die Menschen und deren innere Natur selbst. Dieser Zusammenhang ist nicht nur die skandalöseste Behauptung der Dialektik der Aufklärung, sondern auch der am schwierigsten aufzuschlüsselnde Teil ihrer Argumentation. In seinem Kommentar zu den »Elementen des Antisemitismus« macht Helmut König drei Ebenen aus, auf denen Aufklärung und Herrschaft miteinander verquickt sind.86 Demnach scheinen Horkheimer und Adorno erstens auf einer generellen Ebene dem Denken und Wissen einen gleichsam inhärenten Drang zu unterstellen, die ganze Erde zum Stoff seines Unterwerfungsprozesses zu

86 Was ich hier, König folgend, trenne, ist in Horkheimers und Adornos Darstellung eng miteinander verflochten: »Es wäre ganz vergeblich und irreführend, nach einer Hierarchie und nach Abhängigkeiten zwischen diesen drei Ebenen zu suchen. Sie sind in den Beschreibungen und Analysen der Dialektik der Aufklärung so untrennbar ineinander verwoben, dass eine Unterscheidung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen unangemessen wäre.« (König 2016: 257)

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machen.87 Die zweite Ebene betrifft die innere Natur der Menschen. Diese wenn man so will subjekttheoretische Ebene ähnelt Freuds Argumentation in seinem berühmten Essay Das Unbehagen in der Kultur. Die fortschreitende Unterdrückung der menschlichen Triebnatur ist hier wie dort der Preis, der für den Zivilisationsprozess entrichtet wurde und immer noch entrichtet wird. Schließlich ist der Mensch selbst ein Teil der Natur und von dieser nicht zu trennen: »Was die Menschen gegenüber der äußeren Natur machen, das machen sie auch mit sich selbst. Also korrespondiert die Herrschaft über die äußere Natur mit der Beherrschung der eigenen Triebnatur.« (König 2016: 258) Die Odysseus-Erzählung – insbesondere die Episode mit den Sirenen – dient Adorno und Horkheimer dazu, genau diesen Punkt aufzuzeigen: die Verwandlung des Menschen »zum Subjekt-Objekt der Repression« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 230). Als Odysseus an der Insel der Sirenen vorbeifährt, lässt er sich an den Mast fesseln. So kann er den lockenden Sirenengesang zwar hören, ihm aber nicht folgen. Denn will er sich selbst erhalten, darf er der Verlockung nicht nachgeben. Zivilisation, so will Adorno hier deutlich machen, ist immer auch Zurichtung, Unterdrückung und »Entsagung« (ebd.: 73). Dieselbe Passage verweist zugleich auch auf die dritte Ebene der Herrschaft, wenn man so will die gesellschaftliche, nämlich der Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Denn Odysseus überlistet die Sirenen nicht nur »um den Preis von hoher Selbstdisziplin und Handlungshemmung« (Steinert 2007: 64), sondern auch »auf der Grundlage von proletarischer Arbeit« (ebd.). Odysseus ist nicht nur selbstbeherrscht, sondern auch selbst Herrschender: Während er sich selbst dem Genuss nicht vollends hingeben kann, bekommen seine Gefährten nicht einmal die verstümmelte Version des Sirenengesangs zu hören, weil Odysseus ihnen die Ohren verstopft und sie »unter Zwang, verzweifelt, bei gewaltsam verschlossenen Sinnen« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 52) rudern lässt. Sie arbeiten für ihn und werden im Laufe der Reise nach und nach geopfert; 87 Es ist diese erste Ebene, an der sich viele Leser_innen besonders gestoßen haben, vor allem diejenigen Theoretiker_innen, die später die sogenannte diskurstheoretische Wende der Kritischen Theorie vollziehen sollten. Dahinter steht der Versuch, den »gesellschaftliche[n] Charakter der Denkformen« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 38) aufzuzeigen, das heißt »nachzuweisen, dass die Geschichte des Denkens und die Gesetze der Logik unabtrennbar in die gesellschaftliche Praxis von Herrschaft und Unterdrückung verwoben sind.« (König 2016: 259) In ihrer radikalsten Ausformulierung – die Dialektik der Aufklärung schwankt hier manchmal – liest sich diese Behauptung dann so, als sei die herrschaftliche Logik der Subsumtion dem menschlichen Denken und Sprechen selbst bereits a priori eingepflanzt.



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zum Zeitpunkt der Heimkehr, am Ende der Geschichte, ist nur Odysseus allein noch am Leben. Adorno geht davon aus, dass dieser Prozess einer Verstrickung von Vernunft und Herrschaft auf allen drei Ebenen den Prozess der Aufklärung seit seinen Anfängen begleitet. Seit der – nun historisch verstandenen – Epoche der Aufklärung, also von dem Moment an, in dem das Projekt der Naturbeherrschung ein besonders rationales, weil wissenschaftlich-technisches geworden ist, tritt auch die Zunahme von Herrschaft besonders stark zutage. In seinem Handbucheintrag zur Dialektik der Aufklärung schreibt Andreas Hetzel dazu: »Der Versuch, die Probleme der Menschheit auf dem Wege endlos fortschreitender wissenschaftlicher und technischer Innovation zu lösen, zeitigt immer neue Nebenfolgen, welche uns in einer nicht weniger massiven Weise bedrohen, wie jene ungebändigte Natur, gegenüber der Wissenschaft und Technik einst ihren Herrschaftsanspruch artikulierten. Die Euphorie der Machbarkeit schlägt heute zusehends um in Apathie (und damit verbundene Handlungsblockaden) angesichts von Sachzwängen, in die uns das technisch-industrielle System immer weiter verstrickt.« (Hetzel 2011: 392 f.) Das ist der Sinn des zweiten Teils des Zitats: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück; in die Mythologie einer vermeintlichen Notwendigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, die eigentlich kontingent sind, aber schon lange nicht mehr als solche wahrgenommen werden, sondern eben als natürlich gegebene erscheinen: »Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 29) Die von Adorno (und Horkheimer) beschriebene Entwicklung »mündet […] schließlich in die totalitäre Gewaltherrschaft der Gegenwart; hier erreicht die historische Spirale zunehmender Verdinglichung ihren Höhepunkt, weil sie innerhalb der Gesellschaft eine neue Form des Naturverhältnisses schafft, in dem die psychisch vollkommen entleerten Individuen den zweckrational operierenden Großorganisationen ebenso wehrlos ausgeliefert sind wie in der Vorgeschichte den unbezwingbaren Naturgewalten.« (Honneth 2012a: 49) Und so wie die totale Herrschaft für Arendt zur Negativfolie wurde, auf der sie ihr Verständnis des Politischen entwickeln sollte, so wird auch Adorno in der Folge einen Kritikbegriff entwickeln, der seinem Verständnis des Pro­

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blems entspricht: In Reaktion auf seine Analyse von Auschwitz als perverseste Ausformung des »Mythos dessen, was der Fall ist« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 10), wird er zeit seines Schaffens an einem Verständnis von Kritik arbeiten, das einer so verstandenen Mythologisierung entgegentritt, an einem Verständnis von Kritik, das entmythologisiert. 2.2 Kritische Theorien der Moderne Legt man die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und die Dialektik der Aufklärung so nebeneinander, dann stellt sich tatsächlich die Frage, was Arendts Phänomenologie der totalen Herrschaft mit Adornos Urgeschichte der Vernunft zu tun haben soll. Zumal man sich bei dieser Gegenüberstellung tatsächlich nur schwer des Eindrucks erwehren kann, dass die eine ganz explizit danach fragt, worin das Novum der totalen Herrschaft besteht und der andere totale Herrschaft vor allem als Umschlag einer ohnehin in der Zivilisationsgeschichte angelegten Entwicklung zu begreifen scheint. Allerdings ist das bisher Rekonstruierte in beiden Fällen nur ein Teil der Geschichte. Denn weder zeichnet Arendt ausschließlich eine Phänomenologie des Totalitarismus – vielmehr wird, wie schon im Titel unmissverständlich angekündigt, auch nach den Ursprüngen der totalen Herrschaft gefragt – noch geht Adornos Verstehensversuch in der unter Schock geschriebenen und sicher von manchmal totalisierenden Formulierungen nicht ganz freien Vernunftkritik der Dialektik der Aufklärung vollständig auf. Das wird deutlich, wenn man spätere Texte von Adorno zum Vergleich heranzieht, in denen er konkreter nach den Ermöglichungsbedingungen und Wirkungsweisen der totalen Herrschaft fragt. In einer etwas ketzerischen Kreuzung der Vokabulare ließe sich sagen: So wie Antisemitismus und Imperialismus von Arendt in den ersten beiden Teilen ihres Buches als Elemente eingeführt werden, aus denen der Totalitarismus sich aufbauen kann, seine konkreten Ursachen aber in der historisch desaströsen Kombination genereller moderner Entwicklungen mit einem Krisenmoment liegen, so sollte auch Adornos in der Dialektik der Aufklärung entwickelte Genealogie instrumenteller Vernunft eher im Sinne von Elementen verstanden werden, die »dem Faschismus vorarbeite[n]« (Hetzel 2011: 391; Hervorh. T. A.). Adornos These ist dann vielmehr, dass die zunehmende Unterwerfung unter das Gesetz der instrumentellen Vernunft und die damit verbundene Zunahme an Herrschaft auf allen Ebenen »zur vollkommenen Zivilisationskatastrophe in der Mitte



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des 20. Jahrhunderts beitragen.« (König 2016: 258; Hervorh. T. A.) Die konkreten Ursachen dafür sieht aber auch er in spezifischen strukturellen Veränderungen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Terror und Diktatur des Nationalsozialismus wurden auch für ihn »von der sozialen Dynamik nach dem Ersten Weltkrieg gezeitigt und warfen ihre Schatten voraus.« (Adorno 2003d [1962]: 499) In seinem Aufsatz über Jene Zwanziger Jahre konstatiert Adorno: »Die Katastrophe, die auf sie folgte, wurde von ihren eigenen gesellschaftlichen Konflikten ausgebrütet« (ebd.: 502). Obwohl Arendt immer wieder das Neue und Präzedenzlose der totalen Herrschaft betont, hat auch diese, wie alle historischen Ereignisse, benennbare Ermöglichungsbedingungen und Ursachen. Die entscheidende dieser Ermöglichungsbedingungen ist für Arendt die moderne Massengesellschaft. Damit wird die Kontingenz des Phänomens nicht geleugnet (Arendt 2012b [1953]: 122): Die totale Herrschaft wurde jedoch »möglich unter Bedingungen einer modernen, bürokratisierten Massengesellschaft, in der mit der Erosion institutionell zurechenbarer politischer Verantwortung auch das Gefühl, für das eigene Tun verantwortlich zu sein, abhandengekommen ist.« (Straßenberger 2020: 18) Wenn Arendt nun schreibt: »Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen« (Arendt 2011 [1951]: 663), dann stehen dahinter zwei Thesen. Zum einen weist sie mit dieser Aussage darauf hin, dass »totale Herrschaft, obwohl offen verbrecherisch, von der Unterstützung der Massen getragen wird.« (Ebd.: 629) Damit wendet sich Arendt schon früh gegen den in der deutschen Öffentlichkeit auch heute noch beliebten Mythos (vgl. Heer 2008), dass es sich beim Nationalsozialismus um die Verschwörung einer kleinen Gruppe von Gangstern gehandelt habe, die die große Mehrheit der Bevölkerung je nach Spielart des Arguments entweder per Drohung in Angst und Schrecken versetzt oder per Gehirnwäsche verführt habe. Demgegenüber betont Arendt, dass das totalitäre Regime »sich einer echten und keineswegs von Propaganda künstlich erzeugten Popularität erfreuen« (ebd.: 658) konnte.88 88 Arendt nennt das pointiert die »pseudodemokratische Seite totalitärer Regime« (Arendt 2011 [1951]: 658). Bereits in ihrem 1944 erschienen Aufsatz Organisierte Schuld (vgl. Arendt 1984 [1945]), der eine Art Vorstudie zu den Elementen bildet, stellte sie den industriellen und bürokratisch-administrativen Charakter des Genozids heraus, »der eine Organisation voraussetzte, deren Funktionieren nicht vom Eifer einer Minderheit von fanatischen Antisemiten oder professionellen Killern abhing, sondern von einer Masse ganz ›normaler‹ Funktionäre, die eifrig auf die Erfüllung ihrer Aufgaben bedacht waren […]. Diese vom Nazi-Regime geschaffene ›ungeheuerliche Maschine des Verwaltungsmas-

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Zum anderen ist der Zusammenhang zwischen totaler Herrschaft und Massengesellschaft kein kontingenter: »Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich.« (Ebd.) Sie ist laut Arendt daher »unmöglich, selbst unter sonst günstigen Umständen, in Ländern mit relativ kleiner Bevölkerungszahl.« (Ebd.: 663) Diese Ansicht hat mit Arendts im vorangegangenen Abschnitt rekonstruierten Totalitarismusverständnis zu tun. Da der Terror in den Lagern laut ihrer Analyse kein Mittel zum Zweck, sondern für die totale Herrschaft vielmehr konstitutiv ist, braucht ein solches Regime ein »unerschöpfliches Menschenreservoir […], um den machtakkumulierenden und menschenzerstörenden Apparat totalitärer Bewegungen in Schwung zu halten« (ebd.: 667). Ständig werden neue Menschenmassen benötigt, »mit denen man totale Herrschaftsexperimente machen« (ebd.: 666) kann. Der zweite Teil dieser These macht jedoch den ersten Teil zu einem Rätsel. Wieso kann die totale Herrschaft sich auf Massen stützen, die (zumindest poten­ tiell) jederzeit selbst Ziel des Terrors werden können? Die Antwort findet sich in Arendts kritischer Theorie der Moderne und ihrer Diagnose der »Vermassung«. Obwohl Zahlen für die Diagnose der Massengesellschaft eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen, wäre es zu kurz gegriffen, diese nur an Zahlen festzumachen. Vermassung bezeichnet bei Arendt »sowohl den soziologischen Tatbestand der Zersetzung der alten Klassengesellschaft […] als auch eine bestimmte sozialpsychologische Haltung des modernen Massemenschen […], die sie als ›Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen Wohlergehen‹ charakterisiert« (Straßenberger 2020: 27; Hervorh. T. A.). Folgen wir Arendts Analyse, dann kommt den soziologischen Rahmenbedingungen, ganz materialistisch gedacht, das Primat zu. Es sind strukturelle Faktoren, wie solche »der außerordentlichen Bevölkerungszunahme der letzten 150 Jahre« und »Krisen der Massenarbeitslosigkeit« (Arendt 2011 [1951]: 667), die in der Moderne eine Masse an »Überflüssigen« entstehen lassen. Diese durch Bevölkerungszunahme und Arbeitslosigkeit entstandenen Massen zeichnen sich nach Arendt nun dadurch aus, dass sie zahlenmäßig groß, gesellschaftlich desintegriert und politisch indifferent sind. Sie stehen jenseits aller gesellschaftlichen Strukturen und Zugehörigkeiten und werden – das ist für Arendt entscheidend – politisch nicht repräsentiert: senmords‹ funktionierte nur, weil sich eine große Schicht von ›Durchschnittsdeutschen‹ aktiv daran beteiligte, und nur aufgrund der ›totalen‹ passiven ›Komplizität des deutschen Volkes‹.« (Traverso 2000: 112)



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»Der Ausdruck ›Masse‹ ist überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen.« (Ebd.: 668) Arendt sieht in solchen Massen ein Strukturphänomen der Moderne: »Potentiell«, so nimmt sie an, »existieren sie in jedem Lande und zu jeder Zeit« und »bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder, nur daß sie eben in normalen Zeiten politisch neutral bleiben und sich damit begnügen, ihre Stimmen nicht abzugeben und den Parteien nicht beizutreten.« (Ebd.) Aber in Krisenzeiten wie dem Niedergang und Zerfall des Nationalstaates, den Arendt im letzten Kapitel des Imperialismusteils beschreibt (ebd.: 559–625), und dem damit einhergehenden »Zusammenbruch der Klassengesellschaft« (ebd.: 671) verschärft sich die Situation der zuvor neutralen und indifferenten Massen. Solange die Klassengesellschaft existiert hatte, hatten die Massen, laut Arendt, zumindest das Gefühl, an öffentlichen Angelegenheiten qua ihrer Klassenzugehörigkeit beteiligt zu sein. Zwar gewährleistete auch die Klassengesellschaft für die meisten Menschen weder echte politische Beteiligung noch trug sie zur Ausbildung eines politischen (Klassen)be­ wusstseins bei. Allerdings war über die Klassenzugehörigkeit qua Geburt ein Mindestmaß an Integration gegeben und das System der Repräsentation hat »doch im großen ganzen zu einer befriedigenden Interessenvertretung aller Klassen geführt« (ebd.: 676). Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkrieges bricht dann aber auch der stabilisierende Faktor der Klassenstruktur endgültig weg und die Massen geraten vollständig »außerhalb aller gesellschaftlichen Strukturen und Zugehörigkeiten wie jenseits aller politischen Repräsentationen« (ebd.: 674). Damit »verwandelten sich die potentiellen, apathischen Mehrheiten, die bisher hinter jeder Partei gestanden hatten, in eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und haßerfüllter Individuen, die nichts verband außer der allen gemeinsamen Einsicht, daß die Hoffnungen der Parteimitglieder auf die Wiederkehr der guten alten Zeit sich nicht erfüllen und daß sie jedenfalls diese Wiederkehr schwerlich erleben würden« (ebd.: 677).

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In dieser »Atmosphäre allgemeiner Zersetzung« ist für Arendt die sozialpsychologische Haltung des modernen Massemenschen entstanden, die vor dem Hintergrund des bürgerlichen Individualismus zusätzlich an Schärfe gewinnt: »Dies sind nicht einfach Massen, welche nie etwas anderes als eine Massengesellschaft gekannt haben, sondern das Produkt der Zersetzung einer Klassengesellschaft, die, was den einzelnen anlangte, im wesentlichen indivi­dua­ listisch gesonnen blieb. Dieser alteingewöhnte Individualismus hatte jetzt zur Folge, daß die monotone Gleichförmigkeit, mit der das gleiche Schicksal Massen von Individuen befallen hatte, diese nicht daran hinderte, an sich selbst nach wie vor die Maßstäbe der konkurrierenden Erwerbsgesellschaft anzulegen und sich selbst in Vorstellungen von individuellem Erfolg zu beund verurteilen. Diejenigen, denen es nicht gelang, sich durch irgendwelche Schwindeleien doch durchzuhelfen und sich ihre Zigarre am Weltbrand anzustecken, betrachteten sich als gescheiterte Existenzen.« (Ebd.: 678) Und obwohl diese »egozentrische Bitterkeit« (ebd.) zur Erfahrung einer ganzen Generation wird, so Arendt, entsteht daraus kein geteiltes Interesse oder Solidarität. Im Gegenteil: Die Massen verbindet nichts als das geteilte Gefühl der »Verlassenheit« und der »Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst nicht ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann« (ebd.: 679), bis hin zu dem Punkt, an dem es zu einer – die Terminologie nimmt Adornos im Folgenden einzuführendes psychoanalytisches Vokabular vorweg – »typischen Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung« (ebd.) kommt. Es handelt sich nun um vollkommen atomisierte Individuen, »zwischen denen eine gemeinsame Welt in Stücke zerfallen ist.«89 (Ebd.: 685) Potentiell ge89 Rahel Jaeggi, deren Studie Welt und Person (1997) zum Arendtschen Weltbegriff immer noch maßgeblich ist (vgl. auch Jaeggi 2011), unterscheidet zwei Bedeutungen, die der Terminus in Arendts Denken annimmt. Zum einen bezieht sich der Weltbegriff auf die von Menschenhand hergestellte Dingwelt (Jaeggi 1997: 53–57), zum anderen meint Welt bei Arendt »den kommunikativ geprägten Handlungs- und Erscheinungsraum« (ebd.: 49, auch 57–66). Jaeggis Unterscheidung ist zwar dem eigenen Anspruch nach lediglich analytischer Natur und sie weist auch darauf hin, dass man die beiden Aspekte bei Arendt aufeinander beziehen muss: »Als eine Grundlage ihrer Theorie ist der Weltbegriff gerade im Zusammenhang seiner ›kommunikativen‹ und seiner ›dinglichen‹ Komponente von Bedeutung« (ebd.: 49). Jedoch liegt hier im Zusammenhang mit dem Totalitarismus, für den soziale Bezüge und Sinnzusammenhänge im Mittelpunkt stehen, die Betonung eher auf der zweiten Bedeutungsdimension des Weltbegriffs. Die Welt setzt sich dieser Bedeutung nach aus den sozialen Bezügen der Menschen zusammen, die, ähnlich einem Netz,



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fährlich wird dieser Zustand, weil die welt- und selbstlosen Massen sich bei weitgehender politischer Indifferenz weiterhin nach einer Form von Inte­ gration in eine Gemeinschaft sehnen. Das Gefühl der Selbst- und Weltlosigkeit bereitet der totalitären Bewegung daher einen fruchtbaren Boden. Die Bewegung fördert die Isolierung daher noch und treibt den ohnehin schon als Strukturphänomen der Moderne einsetzenden Weltverlust aktiv weiter.90 Die totale Herrschaft stößt die Menschen tiefer in die Verlassenheit, indem sie auch alle »nichtpolitischen Beziehungen« wie »Familienbindungen« und »gemeinsam[e] kulturell[e] Interessen« (ebd.: 695) zerstört: »Nur wo diese gemeinsame Welt völlig zerstört und eine in sich völlig unzusammenhängende Gesellschaftsmasse entstanden ist, deren heterogene Gleichförmigkeit aus nicht nur isolierten, sondern auf sich selbst und nichts sonst zurückgeworfenen Individuen besteht, kann die totale Herrschaft ihre volle Macht ausüben, sich ungehindert durchsetzen.« (Ebd.) Nur unter diesen Bedingungen wird die Masse zur vollständig formbaren »Materie«, nur so kann die totale Herrschaft die politisch indifferenten Massenmenschen mobilisieren. Wie diese Mobilisierung genau vonstattengeht, das wird Thema im nächsten Abschnitt sein. Zunächst einmal gilt es, Adornos Version der gleichen These, dass gerade »die eigentümliche Individualisierung und Atomisierung der modernen Massengesellschaft notwendig ist, um totalitäre Herrschaft überhaupt zu ermöglichen« (ebd.: 685), unter die Lupe zu nehmen. Auch Adorno bringt das Phänomen der totalen Herrschaft mit einer kritischen Theorie der Moderne in Verbindung, in der die Massendiagnose eine zentrale Rolle spielt. Er formuliert diese Diagnose jedoch in einer anderen Theoriesprache und unter Berufung auf andere Referenzautoren: Was bei Arendt unter Berufung auf Heideggers Verlassenheitstheorem vor allem als politisches Problem (der mangelnden Repräsentation) erscheint, wird von Adorno – noch stärker als von Arendt – materialistisch gedeutet und unter

gemeinsamen Sinn – common sense – konstituieren. 90 Wobei Arendt hier andeutet, dass es nur die Nationalsozialisten sind, die dieses Strukturphänomen in Deutschland vorfinden, während Stalin die atomisierten Massen aktiver selbst schaffen muss (Arendt 2011 [1951]: 688  f.) – was zugleich die zu Beginn dieses Kapitels geäußerte These stützt, dass die Elemente vor allem auf der Folie des Nationalsozialismus konzipiert und später um die Beispiele aus der Sowjetunion erweitert wurden.

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Rekurs auf die Psychoanalyse Freuds analysiert. Dennoch handelt es sich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, im Kern um eine sehr ähnliche Diagnose. Dass Adorno die totale Herrschaft mit einer kritischen Theorie der Moderne in Verbindung bringt, liegt nach dem im vorangegangenen Unterkapitel Gesagten ja nicht unbedingt auf der Hand. Nicht nur hatte es in der bisherigen Darstellung von Adornos Gedankenführung den Anschein, als gehe er eher von einer Kontinuität der Entwicklung aus, auch beginnt dieses Kontinuität suggerierende Narrativ bereits in der präanimistischen Vorgeschichte. Mit welchem Recht also behaupte ich, die totale Herrschaft sei auch für Adorno vordergründig ein modernes Phänomen? Tatsächlich drängt sich beim Lesen der Dialektik der Aufklärung des Öfteren der Verdacht auf, Adorno würde den Prozess einer zunehmenden Instrumentalisierung der Vernunft als geschichtsphilosophische Entwicklung verstehen, vorgezeichnet und unaufhaltsam.91 Bei der totalen Katastrophe in der Mitte des 20. Jahrhunderts würde es sich dann eher um eine (quantitative) Zunahme an Gewaltmitteln und Beherrschung handeln, denn um etwas (qualitativ) Neues. Ich glaube jedoch nicht, dass dieses Bild Adornos Ansicht akkurat wiedergibt. Die Entscheidung darüber, bei welchen Formulierungen in der Dialektik der Aufklärung es sich eigentlich um Zuspitzungen »in rhetorisch-polemischer Absicht« (Kramer 2019: 14) handelt und welche wörtlich gemeint sind, wäre sicher ein eigenes Buchprojekt von ideengeschichtlicher Detailarbeit wert. Für meinen demgegenüber grobschlächtiger angelegten Versuch, die Hauptmotive der beiden von mir behandelten Denker_innen nachzuvollziehen, genügt die Feststellung, dass die Kontinuitätsbehauptung (zumindest in dieser starken Form) in mindestens zweierlei Weise im Widerspruch zu Adornos sonstigem Denken steht. Erstens steht sie im Spannungsverhältnis zur Bedeutung, die das Diktum »nach Auschwitz« für Adornos Philosophie einnimmt: Immer wieder markiert er seine Philosophie als ein Denken »nach Auschwitz« (Adorno 2003c [1966]: 354–358 und 2003b [1966]: 674–690).92 Genau wie für Arendt ist Auschwitz für Adorno »der Ausgangspunkt, an dem sich Denken fortan neu zu bestimmen habe.« 91 Adorno selbst ist an diesem Bild nicht ganz unschuldig. Noch in der Negativen Dialektik kritisiert er die Geschichtsphilosophie mit den Worten: »Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.« (Adorno 2003c [1966]: 314) Ausführlich zu Adornos »Geschichtsphilosophie« schreibt Breitenstein (2013). 92 Die Sekundärliteratur hat diese Selbstbeschreibung weitestgehend übernommen (vgl. Claus­sen 1995; Schweppenhäuser 2016; Skirke 2020).



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(Rensmann 2003: 150; Hervorh. T. A.) Wäre Auschwitz wirklich nur ein ohnehin in der Entwicklung der Menschheit bereits angelegter Umschlagpunkt, dann wäre die zentrale Bedeutung dieses Diktums zumindest erklärungsbedürftig. Zweitens stehen der Kontinuitätssuggestion der Dialektik der Aufklärung zahlreiche andere, soziologisch etwas gesättigtere Texte gegenüber, in denen Adorno über die Zeitumstände kurz vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus oder auch über konkrete Wirkungsmechanismen der totalitären Agitation nachdenkt.93 In einem dieser Texte – er trägt den Titel Jene zwanziger Jahre – spricht Adorno dann auch ganz ausdrücklich von »dem totalen Bruch« (Adorno 2003d [1962]: 505), den es zu verstehen gelte. Denn wie er in einer Formulierung konstatiert, die nicht nur der verspielten Metaphorik nach, sondern auch der These nach stark an Arendts in den Elementen vorgetragene Analyse erinnert: Nationalsozialistischer Terror und Diktatur »widerfuhren jener Gesellschaft nicht derart von außen, wie Cortez in Mexiko einbrach, sondern wurden von der sozialen Dynamik nach dem Ersten Weltkrieg gezeitigt und warfen ihre Schatten voraus.« (Ebd.: 499) Ähnlich wie Arendt vermutet auch Adorno, dass eine Veränderung der politischen und sozioökonomischen Umstände zu dieser Zeit massive Folgen in Sozialstruktur und Sozialpsychologie nach sich zog. Es sei »anzunehmen, daß der Faschismus und das Entsetzen, das er bereitete, damit zusammenhängen, daß die alten, etablierten Autoritäten des Kaiserreichs zerfallen, gestürzt waren, nicht aber die Menschen psychologisch schon bereit, sich selbst zu bestimmen. Sie zeigten der Freiheit, die ihnen in den Schoß fiel, nicht sich gewachsen. Darum haben die Autoritätsstrukturen jene destruktive und – wenn ich so sagen darf – irre Dimension angenommen« (Adorno 2003b [1966]: 678). Helmut Dahmer sieht in diesen Analysen Adornos eine Art zweite, die Dialek­tik der Aufklärung komplementierende Strategie, den Nationalsozia93 Analysen der historischen Situation, in der der Nationalsozialismus aufkommen konnte, finden sich zum Beispiel in Spengler nach dem Untergang (Adorno 2003 [1950]: 47–71) oder Jene zwanziger Jahre (Adorno 2003d [1962]: 499–506). Die konkrete Frage, wie die totale Herrschaft ihre Anhängerschaft mobilisierte, liegt zudem Aufsätzen wie Freud­ ian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda (Adorno 2003a [1951]: 408–433), AntiSemitism and Fascist Propaganda (Adorno 2003 [1946]: 397–407) oder Erziehung nach Auschwitz (Adorno 2003b [1966]: 674–690) zugrunde. Auch die bekannten Studien zum autoritären Charakter stellen einen Versuch dar, den Wirkungsmechanismen der totalen Herrschaft auf den Grund zu gehen.

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lismus zu verstehen. In seinem Überblick Faschismustheorie(n) der »Frankfurter Schule« schreibt er dazu im Einklang mit meinem oben angebotenen Interpretationsvorschlag: »[S]o machten sich […] Horkheimer und Adorno daran, zum einen die Vorgeschichte der im Faschismus triumphierenden instrumentalisierten Vernunft zu rekonstruieren, zum anderen die Verfassung der (ohnmächtig sich selbst instrumentalisierenden, das heißt: sich in Maschinen ihrer Selbsterhaltung verwandelnden) Individuen in der Ära des Monopolkapitalismus zu erkunden, also herauszufinden, warum sie den fantastischen Verheißungen faschistischer Demagogen Glauben schenkten, sich in millionenstarke Gefolgschaft eingliedern und gegen Menschengruppen und Staaten mobilisieren ließen, die ihnen als Hassobjekte präsentiert wurden.« (Dahmer 2014: 89; Hervorh. T. A.) Und für die Antwort auf diese zweite Frage spielen auch bei Adorno die moderne Massengesellschaft und ein Vereinzelungstheorem zentrale Rollen. Dabei ist die moderne Massengesellschaft für Adorno in zweierlei Hinsicht Ermöglichungsbedingung der totalen Herrschaft. Zum einen schafft der »moderne Vergesellschaftungsprozess als Zerfallsprozess« (Rensmann 2003: 163) die Voraussetzung dafür, dass sich die Massen letztlich freiwillig an die Macht ausliefern. Auch Adorno diagnostiziert eine durch Strukturveränderungen des Kapitalismus erzeugte Massenarbeitslosigkeit und ein daraus entstehendes Gefühl des Überflüssigseins. Zum anderen baut sich die totale Herrschaft selbst auf Massenbewegungen auf. Beide Aspekte werden bereits in der Dialektik der Aufklärung angedeutet: »Nachdem man den Lebensunterhalt derer, die zur Bedienung der Maschinen überhaupt noch gebraucht werden, mit einem minimalen Teil der Arbeitszeit verfertigen kann, die den Herren der Gesellschaft zur Verfügung steht, wird jetzt der überflüssige Rest, die ungeheure Masse der Bevölkerung als zusätzliche Garde fürs System gedrillt, um dessen großen Plänen heute und morgen als Material zu dienen.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 55 f.) Genau wie Arendt geht jedoch auch Adorno davon aus, dass die Massen zwar das »Material« sind, auf dem die totale Herrschaft sich aufbaut, aber nicht deren eigentliche Profiteure. Zwar »bedürfen die Nutznießer jener Bewegungen in der modernen Massengesellschaft der Massen« (Adorno 2003 [1952]: 361), deren Antreiber sind sie jedoch nicht: »Die Gewalt solcher



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massefeindlichen Massebewegungen rührt von mächtigen politischen und wirtschaftlichen Interessen her, und ihre Anhänger, die sich nicht umsonst Gefolgschaft nennen, sind keineswegs ihre bestimmenden Träger.« (Ebd.) Und wie für Arendt entspringt aus dem Oxymoron der »massefeindlichen Massebewegungen« auch für Adorno die Frage nach der »rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten« und nach »ihrer selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia«, nach »all dem unbegriffenen Widersinn« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 13; Hervorh. T. A.). In Texten wie Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, Antisemitismus und faschistische Propaganda oder Vorurteil und Charakter, aber natürlich auch in den groß angelegten empirischen Studien zur Authoritarian Personality ist Adorno dieser »rätselhaften« Bereitschaft dann nachgegangen. Er fragt sich, bis in die Formulierung hinein mit Arendt unisono, wie es den nationalsozialistischen Demagogen gelingen konnte, »die Unterstützung von Millionen Menschen für Ziele [zu] gewinnen […], die mit ihrem eigenen rationalen Interesse unvereinbar sind« (Adorno 1970 [1951]: 489 f.).94 Für seine Antwort unterzieht er Freuds 1921 erschienenes Buch Massenpsychologie und Ich-Analyse einem close reading. In seinem Aufsatz Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda konstatiert Adorno, dass Freud, »obwohl ihn die politische Seite des Problems kaum interessierte«, er dennoch »das Heraufkommen und die Natur faschistischer Massenbewegungen klar voraussah.« (Ebd.: 488) Vor allem hält er Freud »das Fehlen der traditionellen Massenverachtung« (ebd.: 489) zugute, die im soziologischen Diskurs dieser Zeit durchaus im Schwange war und zum Beispiel von Oswald Spengler oder Gustave Le Bon vertreten wurde.95 »Statt von den üblichen Beschreibungen auf eine, wahrscheinlich unabänderliche, Minderwertigkeit der Massen als solcher zu schließen,« frage Freud 94 Die beiden Aufsätze Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda und Anti-Semitism and Fascist Propaganda sind ursprünglich auf Englisch erschienen und so auch heute noch in den Gesammelten Schriften (Adorno 2003a [1951]: 397–407 bzw. Adorno 2003 [1946]: 408–433) abgedruckt. Der besseren Lesbarkeit halber zitiere ich an dieser Stelle ausnahmsweise nicht aus den Gesammelten Schriften, sondern die jeweiligen Übersetzungen, die zum einen 1970 in der Zeitschrift Psyche und zum anderen im von Ernst Simmel herausgegebenen und 1993 übersetzen Band Antisemitismus erschienen sind. 95 Sowohl Arendt (Arendt 2011 [1951]: 680 ff.) als auch Adorno (Adorno 1970 [1951]: 486 sowie Adorno 2003 [1950]: 47–71) grenzen sich in ihren Analysen der modernen Massengesellschaft explizit von diesen beiden Autoren ab.

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hingegen, »im Geiste echter Aufklärung, was die Massen zu Massen mache.« (Ebd.) Mit Hilfe von Freuds Begriffsapparat lasse sich »der einfachen Tatsache Rechnung […] tragen, daß die, die in der Masse aufgehen, nicht Primitive sind, sondern daß sie primitive Verhaltensweisen zeigen, die ihrem normalen rationalen Verhalten widersprechen.« (Ebd.: 491) Ähnlich wie Arendt kombiniert Adorno hier sozialstrukturelle und sozial­ psychologische Erklärungen. Ähnlich wie sie verbleibt auch der Materialist Adorno bezüglich der erstgenannten Erklärung zumindest an dieser Stelle nur bei Andeutungen. Wo Arendt, die die Beschreibung ihres Projekts als sozialpsychologisches übrigens abgelehnt hätte, mit heideggerianischen Begriffen wie »Verlassenheit« oder »Selbstlosigkeit« operiert, konstatiert Adorno mit Freud gesprochen »eine Schwächung der Ich-Instanz in der seelischen Ökonomie ungezählter Individuen« (Dahmer 2014: 101). Die Anziehungskraft, die totale Herrschaft auf ihre Anhängerschar ausgeübt hat, ist für Ador­ no »eng verbunden« mit einem »neuen Typus seelischer Erkrankung, der für eine Epoche, die aus sozioökonomischen Gründen den Niedergang des Individuums und seine daraus folgende seelische Schwäche sieht, so charakteristisch ist« (Adorno 1970 [1951]: 488). Die Unterwerfung unter und Komplizenschaft mit dem totalen Regime wird hier als Versuch gedeutet, ein narzisstisches Defizit zu kompensieren, das der »Verlust wirtschaftlicher (und moralischer) Selbstständigkeit« (Dahmer 2014: 101) nach sich gezogen hatte: »Um dies (narzisstische) Defizit zu kompensieren, tendierten die zerstreuten Massen unter dem Druck ihres ›Ohnmachtsgefühls‹ (Fromm) dazu, sich mit Gleichgesinnten zusammenzurotten und Schlägerbanden zu formieren – auf der Suche nach Sündenböcken, begierig, sich für alle erlittene Unbill zu rächen, und auf der Suche nach einem von der ›Vorsehung‹ gesandten völkischen ›Messias‹, der ihnen, seiner hörigen Gefolgschaft, endlich umfassende Genugtuung durch ›Ermächtigung‹ gewähren würde – durch die Teilhabe an seiner Bewegung und später am mörderisch homogenisierten, siegreichen Volksganzen« (ebd.). Bei Arendt, so sahen wir, findet der Totalitarismus die Welt des common sense – als modernes Strukturphänomen – bereits brüchig vor. Er muss sie, um im Bild zu bleiben, nur noch endgültig niederreißen. Auch bei Adorno wird der »Niedergang des Individuums« als modernes Strukturphänomen interpretiert, das der totalitären Mobilisation entgegenkommt. Auch bei Ador­no muss der faschistische Agitator den in ihrer Ich-Instanz geschwächten Indi-



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viduen nur noch »den Rest geben«. Er braucht ihr Potential zur irrationalen, affektiven Aggressivität nur noch zu »instigieren« (Adorno 1970 [1951]: 486), das heißt zu wecken, weiter anzustiften und für seine Zwecke nutzbar zu machen: »Wenn es unverschämt ist, von Menschen als ›rabble‹ – Pöbel – zu reden, so ist andererseits der Zweck des Agitators eben der, sie zu Pöbel zu machen, nämlich zu Massen, die zu Gewaltaktionen ohne vernünftigen politischen Zweck bereit sind, und Pogromstimmung zu erzeugen.« (Ebd.)

2.3 Theorien totaler Herrschaft Arendt und Adorno stimmen in dem Befund überein, dass die für den Totalitarismus »anfälligen Charaktere […] selber das Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen [sind]« (Adorno 2003 [1952]: 361). Die moderne Massengesellschaft ist für beide die entscheidende Voraussetzung der totalen Herrschaft. Aber offen ist die Frage: Wie können diese vereinzelten Massen nun vom Totalitarismus wieder integriert und für seine Zwecke eingespannt werden? Für Arendt sind Ideologie und Terror die Instrumente, die das leisten. Adorno erklärt die faschistische Mobilisierung mit der Psychoanalyse Freuds. Verlassenheit im Sinne des Auseinanderbrechens einer gemeinsamen Welt zwischen den Menschen, so hatte ich erläutert, ist laut Arendt eine Grunderfahrung der Moderne. In einem solchen Zustand, so konstatiert sie, gehen »echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit« (Arendt 2011 [1951]: 977) zugrunde: »An der Wirklichkeit, die keiner mehr verläßlich bestätigt, beginnt der Verlassene mit Recht zu zweifeln; denn diese Welt bietet Sicherheit nur, insofern sie uns von anderen mit garantiert ist.«96 (Ebd.) Die totale Herrschaft kann sich diesen Zustand zunutze machen und den ohnehin schon eingesetzten Weltverlust aktiv weitertreiben, indem sie nach dem »Fortfall der politisch-öffentlichen Sphäre« auch noch die verbleibenden »privat-gesellschaftliche[n]« Beziehungen zwischen den Menschen zerstört. Ist das einmal geschehen, dann können die »völlig Isolierten und voneinander Verlassenen zu politischen Aktionen (wiewohl natürlich nicht zu echtem politischem Handeln) wieder eingesetzt werden« (ebd.: 975). Diese Wieder96 Auf diese wirklichkeitskonstituierende Funktion einer mit anderen geteilten Welt, die hier ex negativo, in ihrer Abwesenheit, eingeführt wird, wird Arendt zeit ihres Schaffens beharren. Ich werde sie in Abschnitt 4.3.2 genauer besprechen.

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einsetzung erfolgt, wie es in einer eingängigen Metapher heißt, »durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, daß jede freie, unvorhersehbare Handlung ausgeschlossen wird.« (Ebd.: 955) Die Isolierten werden »zusammengeschweißt« (wenn man so will macht das eiserne Band die Isolation auf eine pervertierte Art wieder rückgängig) und in Bewegung gesetzt, um die »Ziele« der totalen Herrschaft zu verwirklichen. Ich schreibe »Ziele« in Anführungszeichen, da die totale Herrschaft selbst davon ausgeht, nur Prozesse zu beschleunigen, die sich ohnehin notwendigerweise durch Natur (Nationalsozialismus) oder Geschichte (Stalinismus) ereignen würden. Die Mechanismen, die diese als ohnehin ablaufend vorgestellten Prozesse beschleunigen, nennt Arendt Ideologie und Terror. Dabei kommt dem Terror eine Art Primat zu. Der Terror stellt in Arendts an Montesquieu angelehntem Schema das »Wesen« der totalen Herrschaft dar. Er »konstituiert den totalitären politischen Körper« (ebd.: 958), indem er den Zwischenraum der Freiheit zwischen den Menschen vernichtet. Angst und Schrecken des Terrors halten die Massen in Bewegung und halten sie so zugleich in der Isolation voneinander gemeinsam gefangen. Bei der Bewegung, in die die Massen hier eingespannt werden, handelt es sich in der Vorstellung der totalen Herrschaft aber nur um die beschleunigte Bewegung natürlicher oder geschichtlicher Prozesse. Die Ermordung unschuldiger Menschen wird im wahrsten Sinne des Wortes als Exekution der Gesetze von Natur oder Geschichte vorgestellt: »Die an sich notwendig ablaufenden Prozesse will der Terror auf eine Geschwindigkeit, gleichsam auf eine Tourenzahl bringen, die sie ohne die Mithilfe der zu einem Menschen organsierten Menschheit nie erreichen können. Praktisch heißt dies, daß Terror die Todesurteile, welche die Natur angeblich über ›minderwertige Rassen‹ und ›lebensunfähige Individuen‹ oder die Geschichte über ›absterbende Klassen‹ und ›dekadente Völker‹ gesprochen hat, auf der Stelle vollstreckt, ohne den langsameren und unsicheren Vernichtungsprozeß von Natur oder Geschichte selbst abzuwarten.« (Ebd.: 958 f.) In einer – aus Sicht des Totalitarismus gesprochen – »perfekten« Welt würde der Terror (Wesen) keine Hilfe (Prinzip) benötigen: »Insofern aber totalitäre Herrschaft ihre eigene vollkommene Ausprägung noch nicht erhalten hat und sich immer noch in einer Welt bewegt, in welcher es Handeln gibt und daher auch Prinzipien des Handels benötigt werden, braucht auch sie noch ein ihr eigentümliches Prinzip, das ihren Terror-



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apparat in Bewegung setzt und die ihm ausgelieferten Menschen in ihrem Verhalten inspiriert.« (Ebd.: 959) Dieses der totalen Herrschaft eigentümliche Prinzip ist laut Arendt die Ideologie. Wenn man es genau nimmt, ist ideologisches Denken jedoch gar kein Handlungsprinzip im Montesquieuschen Sinne – das heißt etwas, das Menschen zu Handlungen inspiriert –, sondern, im Gegenteil, ein Prinzip, das Handeln gerade verhindert. Eher kommt Ideologie dem menschlichen »Bedürfnis nach Einsicht entgegen« und »lehrt, die Bewegungsgrenze zu verstehen, die der Terror vollstreckt und die ja angeblich von Geschichte und Natur über eine ihnen ausgelieferte Menschheit ohnehin verhängt worden sind.« (Ebd.: 961) An die Stelle eines Handlungsprinzips tritt in der totalen Herrschaft eine »Präparierung der Opfer« (ebd.).97 Um zu verstehen, warum Arendt der Ideologie zutraut, diese Rolle zu erfüllen, muss man sich ihr spezifisches Ideologieverständnis vergegenwärtigen. Wenn Arendt im Kontext ihrer Analysen totaler Herrschaft von »Ideologie« spricht, dann geht sie, wenn man so will, von einem formalen Ideologiebegriff aus. Denn es kommt ihr hierbei »nicht so sehr auf die Ideologie selbst« (ebd.: 968) an. Das heißt, Arendt denkt hier nicht an eine konkrete Ideologie wie den Kommunismus Stalins oder den Rassismus Hitlers oder an irgendwelche in diesen Ideologien enthaltene konkrete Doktrinen. Diese, so Arendt, hätten Hitler und Stalin ohnehin aus dem 19. Jahrhundert plagiiert und ihnen, wie sie betont, »nicht einen einzigen neuen Gedanken, ja, nicht einmal ein einziges neues Propagandaschlagwort hinzugefügt.« (Ebd.: 962) Eher geht es der totalen Herrschaft um einen dem ideologischen Denken zugrundeliegenden Mechanismus: Um die jeder Ideologie inhärente Logik des Deduzierens und des folgerichtigen Denkens. Das bedeutet in der Praxis, dass sich die totale Herrschaft von realen Geschehnissen nicht mehr irritie97 Die ganze Stelle lautet: »Innerhalb solcher über die Menschheit verhängten Prozesse, in die alle eingefangen sind und an denen sie nichts ändern können, außer daß sie dazu bestellt scheinen, ihre Geschwindigkeit zu erhöhen, kann es nur Vollstrecker und Opfer der ihnen inhärenten Gesetze geben. Im Sinne dieser Bewegungsgesetze liegt es, daß die, welche heute die Vollstrecker sind und ›minderwertige Rassen und lebensunfähige Individuen‹ oder ›absterbende Klassen und dekadente Völker‹ liquidieren, morgen diejenigen sein können, an denen dieser Ausscheidungsprozeß vollzogen werden muß. Das Verlangen nach Einsicht in diesen Prozeß mobilisiert die totalitäre Herrschaft, um beide, Vollstrecker wie Opfer, auf diesen Prozeß vorzubereiten. An die Stelle des Prinzips des Handelns tritt die Präparierung der Opfer, die Natur- oder Geschichtsprozeß fordern werden, eine Präparierung, die den einzelnen gleich gut für die Rolle des Vollstreckers wie für die des Opfers vorbereiten kann.« (Arendt 2011 [1951]: 961)

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ren lässt, nachdem sie eine Prämisse einmal gesetzt hat. Vielmehr, so Arendt, werde alles Weitere »mit absoluter Folgerichtigkeit – und das heißt natürlich mit einer Stimmigkeit, wie sie in der Wirklichkeit nie anzutreffen ist« (ebd.: 965) aus dem zuvor gesetzten Ausgangspunkt abgeleitet:98 »Diese Logik – und nicht so sehr der ursprüngliche Gehalt der Ideologien: die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen oder das Primat des Nationalen – überzeugt Menschen, die sich auf ihre Erfahrungen nicht mehr verlassen wollen, weil sie sich mit ihnen in der Welt nicht mehr zurechtfinden können.« (Ebd.: 966) Das, was Arendt die Präparierung von Opfern und Henkern nennt, leistet also die Ideologie nicht einmal selbst, sondern vielmehr die der Ideologie inhärente Logik des Deduzierens. Diese Logik, die mit Adorno auch als eine besonders perfide Form instrumenteller Vernunft beschrieben werden könnte, unterstützt den Terror und arbeitet ihm zu: »Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlußfolgerns, die unser Verstand jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang, mit dem wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten und uns an ihn gleichschalten.« (Ebd.: 969) Ideologie und Terror bedingen und verstärken einander also gegenseitig: »Wie das eiserne Band des Terrors, der aus vielen Menschen einen Menschen machen will, verhindern muß, daß mit der Geburt eines jeden Menschen ein neuer Anfang in die Welt kommt, eine neue Welt anhebt, so soll der Selbstzwang der Logik verhüten, daß jemand irgendeinmal neu anfängt zu denken, also, anstatt B und C zu sagen und so weiter bis zum Ende des mörderischen Alphabets, von sich aus A sagt. Der Zwang des totalen Terrors, der Menschen in Massen zusammenpreßt und so den Raum der Freiheit zwischen ihnen vernichtet, und der Zwang des logischen Deduzierens, der jeden einzelnen auf den durch Terror organisierten Marsch präpariert und ihn in die gehörige Bewegung versetzt, gehören zusammen, entsprechen und bedürfen einander, um die totalitäre Bewegung ständig in Bewegung zu hal98 Arendt nennt »drei spezifisch totalitäre Elemente, die allem ideologischen Denken eigentümlich sind« (Arendt 2011 [1951]: 964): Erstens sei ideologisches Denken immer auf die Zukunft gerichtet. Es beschreibt »nicht das, was ist, sondern nur das, was wird« (ebd.). Zweitens macht es sich unabhängig von Erfahrung, es »emanzipiert sich also von der Wirklichkeit, so wie sie uns in unseren fünf Sinnen gegeben ist, und besteht ihr gegenüber auf einer ›eigentlicheren‹ Realität« (ebd.). Und drittens verlässt sich ideologisches Denken auf die eigene Beweisführung: Es stellt eine Prämisse auf und deduziert daraus mit absoluter Folgerichtigkeit alles Weitere.



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ten. Der äußere Zwang des Terrors vernichtet mit der Zerstörung des Raums der Freiheit alle Beziehungen zwischen Menschen; zusammengepreßt mit allen anderen ist ein jeder ganz und gar von allen anderen isoliert. Der innere Zwang des konsequent ideologischen Denkens sichert diesem Zwang seine Wirksamkeit, indem er die also isolierten Individuen in einen permanenten, jederzeit übersehbaren, weil konsequent logischen Prozeß hineinreißt, in welchem ihnen jene Ruhe niemals gegönnt ist, in der sie allein der Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt begegnen können.« (Ebd.: 970) Die Menschen werden vom eisernen Band des Terrors aneinandergepresst und zusammengehalten; die Ideologie treibt sie vorwärts. Damit »bleiben ihnen in ihrem Marsch in die Zukunft alle Begegnung mit der wirklichen, daseienden Welt versagt, aber auch alle Erfahrungen eines menschlichen Lebens erspart – bis in die Erfahrung des eigenen Todes, wenn es schließlich an ihnen ist, die ›Überflüssigen‹ und ›Schädlichen‹ den Prozessen des Terrors zur Verfügung zu stellen.« (Ebd.: 971) Auch Adorno beginnt seine Untersuchung der »sozialpsychologischen Vo­ raussetzungen des modernen totalitären Wahns« (Adorno 2003 [1952]: 361) mit der These einer von sozioökonomischen Rahmenbedingungen verursachten Ich-Schwäche der Individuen. Auch er geht davon aus, dass es sich um eine Strukturbedingung der Moderne handelt, die der Totalitarismus zwar vorfindet, aber, wenn man so will, zu Ende führt. Und auch Adorno fragt sich, wie es der totalen Herrschaft anschließend gelingt, die voneinander Isolierten wieder »zusammenzuschweißen« und für sich einzuspannen. Mit Sigmund Freud konstatiert er: »Wenn die Individuen in der Masse zu einer Einheit verbunden sind, so muß es wohl etwas geben, was sie aneinander bindet« (Freud nach Adorno 1970 [1951]: 489). Die Ermittlung dieses »Bindemittels« ist für Adorno gleichbedeutend mit der »Entdeckung des Grundproblems der faschistischen Manipulation.« (Adorno 1970 [1951]: 489) Auf der Suche danach rekonstruiert er zunächst Freuds Gedankengang aus Massenpsychologie und Ich-Analyse; Freud habe »[d]er allgemeinen psychoanalytischen Theorie entsprechend« angenommen, dass »das die Individuen in eine Masse integrierende Bindemittel libidinöser Natur ist.« (Ebd.: 490) Nun ist diese libidinöse Bindung, die die Individuen in einer Masse zusammenbringt – die Sozialphilosophie würde heute eher von Affekten sprechen –, im Nationalsozialismus offensichtlich »keine ungehemmt sexuel­le« (ebd.: 491), sondern eine sublimierte. So werde in organisierten Massen von Liebe (zwischen ihren Mitgliedern) »entweder […] gar nicht gesprochen

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[…] oder sie [wird] nur in mittelbarer und sublimierter Form ausgedrückt« (ebd.: 491 f.). Freud diagnostizierte dies ursprünglich für die Kirche und die Armee. Der Nationalsozialismus fügt dem, so Adorno nun über Freud hinausgehend, jedoch noch eine weitere Wendung hinzu: »Hitler vermied die herkömmliche Rolle des liebenden Vaters und ersetzte sie durch die negative der drohenden Autorität. Der Begriff der Liebe wurde auf die abstrakte Vorstellung ›Deutschland‹ verschoben und selten ohne das Beiwort ›fanatisch‹ ausgesprochen, wodurch auch diese Liebe noch einen Beiklang von Feindschaft und Aggressivität erhält gegen diejenigen, die sie nicht einschließt.« (Ebd.: 492) Adorno diagnostiziert es als das »Grundprinzip« des nationalsozialistischen Führerkultes, diese »primäre Libido-Energie auf der unbewußten Ebene festzuhalten, um ihre Manifestationen in einer für die politischen Zwecke geeigneten Weise ablenken zu können.« (Ebd.) Die Liebe wird mehr und mehr verdrängt und zu Gehorsam umgeformt.99 Die Techniken, mit denen die totale Herrschaft das umsetzt, vergleicht Adorno mit denen eines Hypnotiseurs. Er zitiert Freud in Länge: »Durch seine Maßnahmen weckt also der Hypnotiseur beim Subjekt ein Stück von dessen archaischer Erbschaft, die auch den Eltern entgegenkam und im Verhältnis zum Vater eine individuelle Wiederbelebung erfuhr, die Vorstellung von einer übermächtigen und gefährlichen Persönlichkeit, gegen die man sich nur passiv-masochistisch einstellen konnte, an die man seinen Willen verlieren mußte, und mit der allein zu sein, ›ihr unter die Augen zu treten‹, ein bedenkliches Wagnis schien. […] Der unheimliche, zwanghafte Charakter der Massenbildung, der sich in ihren Suggestionserscheinungen zeigt, kann also wohl mit Recht auf ihre Abkunft von der Urhorde zurückgeführt werden. Der Führer der Masse ist noch immer der gefürchtete Urvater, die Masse will immer noch von unbeschränkter Gewalt beherrscht werden, sie ist im höchsten Grade autoritätssüchtig, hat nach Le Bons Ausdruck den Durst nach Unterwerfung. Der Urvater ist das Masseideal, das an Stelle des Ichideals das Ich beherrscht.« (Freud nach Adorno 1970 [1951]: 492 f.) 99 Das macht den Mechanismus im Kontext der faschistischen Massen radikaler als zum Beispiel im Fall der Kirche. Die ganze Stelle lautet: »Je weniger eine objektive Idee, wie die religiöse Idee der Erlösung, in der Bildung der Masse eine Rolle spielt, und je mehr die Manipulation der Masse zum einzigen Zweck wird, um so gründlicher muß jede ungehemmte Liebe verdrängt und in Gehorsam umgeformt werden. Die faschistische Ideologie enthält zu wenig, das geliebt werden könnte.« (Adorno 1970 [1951]: 492)



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Diese Stelle, die Adorno in noch längerer Ausführung zitiert, »definiert« für ihn »das Wesen und den Inhalt faschistischer Propaganda.« (Adorno 1970 [1951]: 493) Propaganda erreicht ihre irrationalen und autoritären Zwecke nämlich »nicht durch rationales Überzeugen, sondern durch ein geschicktes Wiedererwecken ›eines Stückes der archaischen Erbschaft des Subjektes‹« (ebd.).100 Deshalb, so Adorno, ist der Personenkult und die ständige Beschwörung der Namen vorgeblich großer Männer für die Propaganda der totalen Herrschaft wichtiger als die eigentliche Diskussion oder auch nur Verkündung irgendwelcher inhaltlicher Ziele. Denn nur die Vorstellung des Führers kann die »Idee des allmächtigen und drohenden Urvaters wiedererwecken« (ebd.). Diese »Bildung der Vorstellung einer allmächtigen und ungezügelten Vaterfigur, die den individuellen Vater weit überragt und sich deshalb zur Vergrößerung, zu einem ›Massen-Ich‹ eignet, ist der einzige Weg, die ›passiv-masochistische Einstellung‹, in der ›man seinen Willen verlieren muß‹, zu proklamieren, eine Einstellung, die von den faschistischen Gefolgsleuten um so mehr gefordert werden muß, als das von ihnen geforderte politische Verhalten mit ihren eigenen rationalen Interessen als Privatpersonen und mit denen der Masse oder Klasse, der sie wirklich angehören, unvereinbar wird.«101 (Ebd.: 493 f.) Der Mechanismus, der das leistet, durch den die Massen, wenn diese heideggerianische Formulierung erlaubt ist, im Führer ein »neues Sein« (Forst 2011: 198) erhalten, ist die Identifizierung. Dem Führer kommen dabei zwei scheinbar entgegengesetzte Anlagen zugute: Er muss idealisierbar sein, aber auch Gemeinsamkeiten mit dem Durchschnittsmenschen aufweisen. Die Idealisierung des Führers dient seinen Anhänger_innen als Ersatz für das eigene, nicht erreichte Ich-Ideal (Adorno 1970 [1951]: 495). Die Massen lieben den Führer für eine vermeintliche Vollkommenheit, die jede_r von ihnen individuell anstrebt, aber zu deren Befriedigung es außer eben auf dem Um100 Diese Provokation früherer Entwicklungsstufen wird jedoch durch moderne Hilfsmittel und Techniken erzeugt: »Der Faschismus ist als Rebellion gegen die Zivilisation nicht einfach eine Wiederholung des Archaischen, sondern dessen Wiedererzeugung in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst.« (Adorno 1970 [1951]: 491) 101 Diese Diagnose weist nicht nur auffällige Parallelen zu Arendts Auffassung von der Ideologie als »Präparierung der Opfer« auf, auch kommt dem Allmachtsmotiv, das Adorno hier einführt, eine ähnliche Funktion zu, wie sie bei Arendt die Ideologie (die nie fehl geht) und der Terror (der die Gesetze von Natur oder Geschichte »exekutiert«) innehaben. Ich komme auf diesen Aspekt im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch einmal zu sprechen.

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weg der Führerliebe nie kommt.102 Jedoch, so Adorno, ist die Absonderung von Ich und Ich-Ideal selbst in modernen Massengesellschaften in den meisten Individuen noch nicht vollständig vollzogen. Andersherum: Selbst die atomisierten Massemitglieder haben sich etwas von ihrem ursprünglichen Narzissmus bewahrt. Daher kann es sogar von Vorteil für den Führer sein, wenn er einige typische Eigenschaften (zum Beispiel Macken) der von ihm Geführten (idealerweise sogar in besonders starker Ausprägung) teilt. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese Makel in der Figur des Führers mit größerer Macht und Kraft gepaart werden: Während »einerseits der Führer als Übermensch erscheinen muß, muß er andererseits gleichzeitig das Wunder vollbringen, auch als Durchschnittsmensch zu erscheinen« (ebd.: 496). Durch den Topos vom »großen kleinen Mann« (ebd.), der gleichzeitig als »einer von uns« dargestellt wird (als jemand, der noch nicht durch geistigen oder materiellen Reichtum verdorben ist) und zugleich als allmächtig vorgestellt wird, gelingt das Kunststück, die Massen im Führer zu vereinen und für seine Zwecke in Bewegung zu setzen. 2.4 »Die vollendete Sinnlosigkeit« Was aber sind die Zwecke, für die die totale Herrschaft die Massen in Bewegung setzt? Was ist das Ziel der totalen Herrschaft? Im Jahr 1950, noch vor Fertigstellung der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, veröffentlichte Arendt einen Aufsatz, dessen deutscher Titel Die vollendete Sinnlosigkeit lautet. Darin schreibt sie als eine der ersten über den »Mord an Millionen durch Verwaltung« (Adorno 2003c [1966]: 355), um es mit Adorno zu sagen, und stellt ganz ausdrücklich die Frage nach dem Wa­ rum. Denn was die nationalsozialistischen Verbrechen für Arendt und für Adorno (aber auch für viele andere direkte oder indirekte Beobachter_innen) so unbegreiflich macht, dass hierfür der Begriff des »Zivilisationsbruchs« (vgl. Diner 1988) angemessen erscheint, ist nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, das Ausmaß der Grausamkeiten oder die Anzahl der Opfer, 102 »Eben diese Idealisierung seiner Person sucht der faschistische Führer bei den Geführten zu fördern, und ihr dient die Ideologie des ›Führers‹. Die Menschen, mit denen er zu rechnen hat, befinden sich in der Regel in dem charakteristischen modernen Konflikt zwischen einer sehr entwickelten, auf Selbsterhaltung eingestellten Ich-Instanz und dem ständigen Misserfolg, den Ansprüchen des eigenen Ichs zu genügen. Aus diesem Konflikt resultieren starke narzisstische Triebimpulse« (Adorno 1970 [1951]: 495).



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sondern vielmehr, »daß der gesunde Menschenverstand vor dem Gegenstand versagt, denn weder die Einrichtung der Lager selbst und was innerhalb ihrer streng bewachten Grenzen vor sich ging, noch deren politische Rolle ergeben irgendeinen Sinn.« (Arendt 2014 [1950]: 8) Damit meint Arendt noch gar nicht, dass das, was dort geschehen ist, moralisch verachtenswert oder in einem emphatischen Sinne falsch ist, sondern, dass hier »an den Schichten zivilisatorischer Gewißheit [gerührt wurde], die zu den Grundvoraussetzungen zwischenmenschlichen Verhaltens gehören.« (Diner 1988: 7) Denn selbst wenn man ein wenig anspruchsvolles Menschenbild hat und »annimmt, daß die meisten Tätigkeiten der Menschen utilitaristischer Natur sind und daß böse Taten allenfalls aus ›übertriebenem‹ Egoismus resultieren, dann entzieht diese besondere Einrichtung totalitärer Herrschaft sich menschlichem Verständnis.« (Arendt 2014 [1950]: 8) Denn die Verbrechen der totalen Herrschaft sind in Kosten-Nutzen-Kalkülen nicht mehr erklärbar. In der Sprache der Kritischen Theorie: Sie sind auch aus der Perspektive einer rein instrumentellen Vernunft irrational.103 Die »außergewöhnliche Schwierigkeit«, die bei dem Versuch entsteht, das Geschehene zu verstehen, kommt für Arendt genau daher, »daß dieses Nützlichkeitskriterium fehlt.« (Ebd.: 10) Eine Erklärung könnte das liefern, was man vielleicht als die geschichtsphilosophische Grundannahme der totalen Herrschaft bezeichnen könnte: »[W]hat attracted the masses, was […] their propaganda. Unlike ordinary political demagoguery, this did not appeal to its audience’s interests and promise them benefits. What it offered instead was a reassuring claim to infallibility, prophecy based on a supposed insight into the inevitable forces of history.« (Canovan 1992: 55) Die richtige Seite der Geschichte ist dabei aber nicht durch ein klar benennbares Ziel definiert. Im Gegenteil: Die Vorstellung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, die hier zugrunde liegt, impliziert, dass es 103 »[N]icht nur der unnütze Charakter der Lager selbst; nicht nur die Sinnlosigkeit, vollkommen unschuldige Menschen zu ›bestrafen‹; nicht allein das gravierende Versäumnis, diese Menschen in einer Verfassung zu halten, die profitable Ausbeutung ermöglichte und nicht der Luxus, völlig gefügige Menschenmassen in Angst und Schrecken zu versetzen – nicht dies allein macht den unverwechselbaren und so verstörenden Charakter dieser Institution aus, sondern auch deren geradezu schädliche Funktion, nämlich der Umstand, daß nicht einmal vordringlichste militärische Erfordernisse diese ›demographische Politik‹ beeinträchtigen durften. Die Nazis schienen überzeugt, daß es wichtiger sei, die Vernichtungsfabriken in Betrieb zu halten als den Krieg zu gewinnen.« (Arendt 2014 [1951]: 9)

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kein Ziel gibt, ja nicht einmal geben kann, das über das Einspannen und In-Bewegung-setzen der Massen selbst hinausliefe. In Bewegung zu bleiben wird zum Selbstzweck.104 Das Ziel – wenn der Begriff hier denn überhaupt noch Sinn macht – ist rein quantitativ: nämlich »soviel Menschen wie möglich in die Bewegung hineinzuorganisieren und in Schwung zu bekommen.« Ein »politisches Ziel« jedoch, »bei dem die Bewegung an ihr Ende kommen würde, gibt es überhaupt nicht.« (Arendt 2011 [1951]: 702) Hinter den durch Ideologie und Terror zusammengeschweißten Massen steht allein die Vorstellung, dass die totale Herrschaft Exekutor der Geschichte oder der Natur ist. Seinen perversen Höhepunkt erreicht dieses Verständnis von Geschichte und Dynamik in der für den Totalitarismus typischen Vorstellung des »›Alles ist möglich‹« (ebd.: 811). Totalitäre Führer glauben gar nicht an die Details ihrer eigenen Doktrinen, so Arendt, sondern denken stattdessen »langfristig«. Am Ende des Tages gleichen sie dann lieber die Realität ihrer Fiktion an als umgekehrt: »Das Wesensmerkmal faschistischer Propaganda bestand nie in ihren Lügen, denn die Lüge gehörte mehr oder weniger schon immer und überall zur Propaganda. Wesentlich an ihr war, daß sie die uralte vorurteilsvolle, abendländische Neigung, Wirklichkeit und Wahrheit durcheinander zu bringen, ausnutzte, und das ›wahr‹ machte, was bisher nur als Lüge bezeichnet werden konnte. Dies ist der Grund, der jede argumentative Auseinandersetzung mit Faschisten […] so äußerst sinnlos macht; es ist, als ob man mit einem potentiellen Mörder diskutierte, ob sein künftiges Opfer tot oder lebendig sei, und man dabei vollkommen vergäße, daß Menschen töten können, und daß der Mörder, indem er die fragliche Person umbrächte, ohne weiteres den Beweis dafür erbringen könnte.« (Arendt 2014 [1945]: 42) Es geht der totalen Herrschaft, wie es in einer eingängigen Wendung aus den Elementen heißt, um die »Etablierung einer den Tatsachen entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt« (Arendt 2011 [1951]: 763). Dahinter steht

104 »Da das Ziel uneinlösbar ist, ist es zugleich ihr ewiger Motor: es legitimiert einen endlosen Circulus vitiosus, der sich stets weitere Opfer sucht, auch weil das versprochene ›Heils­ ende‹ mit der Ermordung der als ›schuldig‹ ausgemachten ›objektiven Feinde‹ niemals eintritt. Der universale Terror […] ist hierbei weniger Mittel der Repression, wie dies in allen bisherigen Herrschaftssystemen der Fall gewesen sei, denn allgemeiner Antrieb der Macht« (Rensmann 2003: 165; Hervorh. T. A.).



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letzten Endes nichts anderes als der Wunsch nach Allmächtigkeit. Die Treue vieler Anhänger_innen des Nationalsozialismus, so glaubt Arendt, hat »ernstere, nichttechnische Gründe. Was diese Menschen miteinander verbindet und was weit über den engstirnigen Fanatismus jeder einzelnen Ideologie oder Weltanschauung hinausgeht, ist die Überzeugung von der Allmacht des Menschen. Dem moralischen Nihilismus des ›Alles ist erlaubt‹ haben sie durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines ›Alles ist möglich‹ erst seine wirkliche Grundlage gegeben.« (Ebd.: 811) Auch von Adorno wird die groteske Sinnlosigkeit der totalitären Unternehmung immer wieder betont. Auschwitz wird für ihn auch deshalb zum »eigentlichen Sphinx-Rätsel der Gegenwart« (Dahmer 2014: 99), weil »die objektiven Zwecke des Faschismus weitgehend irrational« (Adorno 1970 [1950]: 504) sind. Irrational ist auch hier in einem basalen Sinne von nicht zweckrational gemeint: Die Machenschaften der totalen Herrschaft sind selbst aus Perspektive der Täter und rein instrumentell betrachtet unvernünftig, »da sie […] den materiellen Interessen einer großen Zahl derer, die sie zu erfassen versuchen widersprechen.« (Ebd.) Die totale Herrschaft laufe quasi notwendig auf Krieg und Zerstörung hinaus und die von ihr eingespannten Massen, so konstatiert Adorno, »erkennen das wenigstens vorbewußt.« (Ebd.) Damit stellt sich für ihn aber umso dringlicher die Frage, warum sie sich dann für diese, ihren ureigenen Interessen widersprechende Politik einspannen lassen. Und seine Antwort ähnelt der Arendts: Auch nach Adornos Analyse geht es den Anhänger_innen der totalen Herrschaft in erster Linie um einen »reasuring claim to infallibility« (Canovan 1992: 55), um die Verwirklichung einer Allmachtsvorstellung und um eine Ermächtigung. Auch Adorno attestiert dem Nationalsozialismus daher »das völlige Fehlen irgendeines positiven Programms« (Adorno 1970 [1950]: 496). In Adornos psychoanalytischem Bezugssystem interpretiert, kann der Führer schon deshalb nichts zurückgeben, weil er die oben beschriebene Libido-Funktion dann nicht mehr erfüllen würde.105 Auch über diesen funktionalen Grund hinaus muss sich die totale Herrschaft jedoch geradezu vor Inhalten hüten. Denn der faschistische Führer dient seiner Anhängerschaft vor allem als Pro105 »Das erklärt einen der auffälligsten Züge der Reden der Agitatoren, nämlich das völlige Fehlen irgendeines positiven Programms, wie überhaupt etwas, das sie geben könnten, und das paradoxe Vorherrschen von Versagungen und Drohungen: Der Führer kann nur geliebt werden, wenn er selbst nicht liebt.« (Adorno 1970 [1950]: 496)

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jektionsfläche für die eigenen (nihilistischen und sinnentleerten) Allmachtsfantasien. Indem er als allmächtig imaginiert wird, werden seine Anhänger_innen selbst indirekt ermächtigt. Das aber geht nur gut, solange keine konkreten Inhalte ins Spiel kommen. In dem Moment, in dem die totale Herrschaft zu (konkreten) Vorhersagen oder einem Versprechen einmal stehen müsste, würde ihre imaginierte Allmacht – und in der Verlängerung: die der Gefolgschaft – sofort in sich zusammenbrechen. Nach Adorno ist der totalen Herrschaft »eine gewisse Unbestimmtheit hinsichtlich der politischen Ziele« gerade deshalb eigen, weil ihre »Anhänger am Ende betrogen werden« (Adorno 1993 [1946]: 151). Daher müssen »die Führer jede Formulierung scheuen […], zu der sie später vielleicht stehen müßten.« (Ebd.) Adorno hat diesen Zusammenhang gemeinsam mit seinen Kolleg_innen im Rahmen der bekannten Studien zum autoritären Charakter auch empirisch erforscht. Demnach lassen sich drei wiederkehrende Grundmuster der faschistischen Propaganda nachweisen.106 Erstens gehe es dieser nie um Inhalte. Stattdessen ist sie immer ad hominem, das heißt an die Person gerichtet: »Es handelt sich um personalisierte Propaganda, die von Sachverhalten absieht.« (Ebd.: 149) Rechte Agitatoren verwendeten »einen großen Teil ihrer Zeit darauf, über sich selbst oder ihre Zuhörer zu sprechen.« (Ebd.) Zweitens werden dabei grundsätzlich Ziele durch Mittel ersetzt: Die Demagogen »schwafeln von dieser ›großen Bewegung‹, von ihrer Organisation, von einer allgemeinen Wiederbelebung […], die sie zuwege bringen wollen, aber kaum je sagen sie etwas darüber, wohin eine solche Bewegung führen soll, wozu die Organisation gut ist oder was die mysteriöse Wiederbelebung bringen soll.« (Ebd.: 150) Die Ergebnisse von Adornos empirischer Forschung bestätigen hier Arendts Vermutung über die Rolle der Dynamik. Auch nach Adorno ist die Vorstellung davon, in Bewegung zu bleiben, für die totale Herrschaft konstitutiv: »Die Glorifizierung der Handlung, dessen, was sich vollzieht, löscht das Ziel der sogenannten Bewegung aus und ersetzt es zugleich.« (Ebd.) Und drittens ist diese Ersetzung der Ziele durch Mittel weder Zufall noch ist sie ausschließlich der Einfallslosigkeit der Naziführer geschuldet. Dahinter steht vielmehr die angesprochene Allmachtsvorstellung: »Da diese Propaganda ganz und gar auf die Mittel abgestellt ist, wird sie selbst zum eigentlichen Inhalt. Das 106 Ich zitiere hier aus dem kurzen, 1946 erschienenen Aufsatz Antisemitismus und faschistische Propaganda, in dem Adorno einige Ergebnisse dieser empirischen Analysen zusammenfasst (Adorno 1993 [1946]: 148).



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heißt, die Propaganda fungiert als eine Art Wunscherfüllung.« (Ebd.) Es geht also auch nach Adornos Analyse viel eher um die Bestätigung, Teil von etwas Großem zu sein: »Die Menschen werden ›zugelassen‹, erhalten vermeintlich Insider-Informationen, werden ins Vertrauen gezogen, als Angehörige der Elite behandelt, die es verdienen, die schaurigen Geheimnisse zu kennen, die den Außenseitern verborgen bleiben.« (Ebd.) In einer Formulierung, die so auch in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft stehen könnte, hält Adorno fest: »Totalitarismus bedeutet, daß es keine Grenzen gibt, keine Atempause – Totalitarismus heißt Eroberung zum Zweck absoluter Beherrschung, vollständige Ausrottung des ausgewählten Gegners. Angesichts dieser Bedeutung von faschistischer ›Dynamik‹ würde jedes klar umrissene Programm nur eine Einschränkung darstellen, eine Art Garantie für den Gegner.« (Ebd.: 151) Die totale Katastrophe, die Auschwitz darstellt, wurde für Arendt wie für Adorno zum Fundament all ihres weiteren Denkens: »Für Adorno wie für Arendt war Auschwitz der Ausgangspunkt, an dem sich Denken fortan neu zu bestimmen habe. Für beide berühren die Verbrechen alles, was nach ihnen kommt und sie berühren auch alles, was vor ihnen war.« (Rensmann 2003: 150) Zu den Dingen, die vor ihnen waren, zählt auch der tradierte Kanon philosophischen Denkens. Für Arendt und Adorno kann auch die Philosophie nach dem Geschehenen nicht weitermachen wie bisher. Im folgenden dritten Kapitel möchte ich daher Arendts und Adornos jeweilige Kritik an und das anschließende Neu-Durchdenken der philosophischen Tradition als ein drittes geteiltes Hauptmotiv vorstellen.

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3. Kritik der philosophischen Tradition All words like Peace and Love, All sane affirmative speech, Had been soiled, profaned, debased To a horrid mechanical screech. W.H. Auden zitiert von Arendt in ihrer Sonning-Preis-Rede

Eine weitere auffällige Gemeinsamkeit zwischen Arendt und Adorno besteht darin, dass ihre jeweiligen Versuche, »den Zivilisationsbruch zu denken« (Förster 2009: 35), bei den Analysen totaler Herrschaft nicht enden. Denn beider Denken geht nicht nur von der unentwegten Anstrengung aus, das Unbegreifliche des Zivilisationsbruchs zu begreifen, sondern in der Folge wird für beide auch eine schonungslose Demontage der philosophischen Tradition notwendig. Für beide ist aufgrund dieser Analysen auch eine Neuausrichtung der Philosophie selbst erforderlich. Arendt und Adorno waren beide »zutiefst überzeugt, dass es galt, jenseits der traditionellen philosophischen Schulen und Methoden ›neu zu denken‹.« (Benhabib 2011: 658) Daher legten sie nicht nur – wieder in ihren ganz eigenen Theoriesprachen und unter Berufung auf unterschiedliche Referenzen – jeweils ausführliche Kritiken der philosophischen Tradition vor, sondern stellten dem von ihnen kritisierten philosophischen Systemdenken auch eigene und eigenwillige, beide Male teilweise von Walter Benjamin inspirierte methodische Neuausrichtungen entgegen. In beiden Fällen ist diese methodische Neuausrichtung von einer Vorliebe für den »Essay als Form« (Adorno 2003a [1958]: 9–33) gekennzeichnet, die ihre Texte als »Verfahrensweise des Denkens« (ebd.: 17) auch dort anleitet, wo es sich nicht um Essays im engeren Sinne der Literaturgattung handelt. 3.1 Der Traditionsbruch und das Ende des Systemdenkens Zu Beginn des vorangegangenen Kapitels habe ich darauf hingewiesen, dass Arendt immer wieder das Präzedenzlose der totalen Herrschaft betont. Die Vernichtungslager, so konstatiert sie, sprengen »den Kontinuitätszusammenhang unserer Geschichte und die Begriffe und Kategorien unseres politi-



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schen Denkens« (Arendt 2011 [1951]: 947).107 Sie spricht in diesem Kontext auch vom »Traditionsbruch«, was dazu geführt hat, dass der Begriff in der Sekundärliteratur manchmal als Synonym für den von Dan Diner geprägten Ausdruck des »Zivilisationsbruchs« verwendet wird (zum Beispiel bei Bluhm 2001: 7). Arendts Begriff des Traditionsbruchs steht aber für mehr. Die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden markiert zwar den fatalen Höhe- und Endpunkt des Traditionsbruchs, jedoch versucht Arendt, mit der Wendung eine noch prinzipiellere Diagnose einzufangen: Der Traditionsbruch stellt bei ihr zunächst einmal eine weiter gefasste Modernitätsdiagnose dar. Da Arendt den Terminus, anders als sein Aufstieg zum geflügelten Wort suggerieren könnte, nicht immer ganz einheitlich verwendet, hat Claudia Althaus (2000: 88) vorgeschlagen, eher von einem »Deutungsmuster« (denn von einem Begriff im strengen Sinne) zu sprechen – ein Vorgehen, das wahrscheinlich für viele von Arendts Konzepten Sinn ergibt.108 Die Wichtigkeit dieses Deutungsmusters für Arendts Theoriebildung kann kaum überschätzt werden. Maike Weißpflug sieht in ihm gar den »Schlüssel zu Arendts besonderer Haltung gegenüber der Moderne« (Weißpflug 2019: 25). Was also besagt die These vom Traditionsbruch genau? Wenn die Theoretikerin Arendt von »der Tradition« spricht, dann meint sie in den allermeisten Fällen die philosophische Tradition des Westens. Diese beginnt für sie mit den Römern, genauer gesagt mit dem Moment, da »die Römer ihre eigene Kultur der geistigen Tradition Griechenlands unterstellten«, und so »das griechische Erbe überhaupt erst zur Tradition im eigentlichen Sinne« (Arendt 2012 [1954]: 34) machten.109 Der Traditionsbruch 107 Arendt beginnt den eben besprochenen Aufsatz Die vollendete Sinnlosigkeit mit der Feststellung: »Jede Wissenschaft gründet notwendigerweise auf einigen unausgesprochenen Grundannahmen. Diese Axiome fallen nur dann in sich zusammen, wenn gänzlich unerwartete Phänomene auftreten, die sich mit dem vorhandenen Begriffssystem nicht mehr verstehen lassen«, und sie folgert, »daß die Einrichtung der Konzentrations- und Vernichtungslager […] höchstwahrscheinlich jenes unvorhergesehene Phänomen darstellen« (Arendt 2014 [1950]: 7). 108 Althaus (2000: 89) unterscheidet mindestens fünf Bedeutungsebenen, auf denen der Traditionsbruch eine Rolle spielt; Maike Weißpflug (2019: 25–37) immerhin noch drei. 109 Genau genommen beginnt die Tradition bei den Griechen: »Die abendländische Tradition politischen Denkens hat einen klar datierbaren Anfang, sie beginnt mit den Lehren Platos und Aristoteles’.« (Arendt 2012 [1954]: 23) Sie wird aber »zur Tradition im eigentlichen Sinne« laut Arendt erst, als die Römer begannen, sich bewusst auf diese Überlieferung zu beziehen und damit historisch entschieden, »daß so etwas wie Tradition einen dauernden, gestaltenden Einfluß auf die gesamte europäische Zivilisation haben sollte.« (Ebd.: 34; Hervorh. T. A.).

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bezeichnet dann aber nicht nur, wie man nun vielleicht annehmen würde, den Bruch mit dieser (oder einer anderen) spezifischen Tradition, »sondern mit dem Konzept von Tradition überhaupt.« (Weißpflug 2019: 26) Sieht man über die etwas eigentümliche Terminologie hinweg, dann unterscheidet sich Arendt damit gar nicht so stark von vielen anderen gängigen Versuchen, die Moderne definitorisch zu fassen. Eine vergleichbare These ist beispielsweise von Reinhart Koselleck als Auseinandertreten von »Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« an der Schwelle zur Moderne formuliert worden (vgl. Koselleck 1989). In einer Formulierung, die bis in die – bei Arendt sinnbildlich allerdings schiefe – Verwendung des Begriffs »Erfahrungshorizont« und dessen konzeptionelle Rückbindung an Generationenfolgen an Koselleck erinnert, beschreibt Arendt die Tradition auch als den »Leitfaden durch die Schatzkammern der Vergangenheit, die Kette, an die das Weltverständnis und der Erfahrungshorizont jeder neuen Generation, ob sie sich dessen bewußt war oder nicht, angeschlossen wurde.«110 (Arendt 2012 [1954]: 34) Dieser Leitfaden aber steht in der Moderne nicht mehr zur Verfügung. Arendt bedient sich häufig eines Tocqueville-Zitats, um diesen Umstand zu beschreiben: »Da die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der Geist im Dunkeln.« (Hier zit. nach ebd.: 11; für Variationen des Zitats siehe Arendt 2012a [1957]: 96 und 2020 [1963]: 82) Dahinter steht die Dia­ gnose einer sich grundsätzlich verändernden Realität in Neuzeit und Moderne. Arendt trennt ihre Datierung hier nach Sphären. Sie schreibt, dass die Neuzeit »mit den naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 17.  Jahrhunderts beginnt, ihre politische Höhe in den Revolutionen des 18. erreicht und ihre allgemeinen Entwicklungstendenzen im 19. Jahrhundert nach der industriellen Revolution entfaltet« (Arendt 2012 [1954]: 35 f.).111 Die Tradition, das meint hier die überlieferten Denkformen, Kategorien und Begriffe, findet auf diese neuen Entwicklungen und Herausforderungen zunehmend weniger Antworten. Die veränderte Realität der Moderne kann also »im Rahmen der Tradition nicht mehr verstanden werden« (ebd.: 27). Eine zusätzliche Problematik entsteht laut Arendt daraus, dass das Geländer, 110 Ohnehin teilen Arendt und Koselleck unausgesprochen einige Grundannahmen ihren Geschichts- und Erfahrungsbegriff betreffend (vgl. Hoffmann 2011). Wie nah sich Arendt und Koselleck sind, ist immer wieder einmal Thema der Literatur (vgl. dazu jüngst – wenn auch mit ernüchterndem Ergebnis – Huhnholz 2019). 111 In derVita activa unterscheidet Arendt zudem zwischen naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen, die den Beginn der Neuzeit markieren und dem politischen Ereignis der Französischen Revolution, mit dem, in Arendts Rechnung, die Moderne »anhebt« (Arendt 2016 [1958]: 318).



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das bisher dabei geholfen hat, die Gegenwart zu verstehen, nicht einfach nur wegfällt. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass gerade der zunehmend unangemessene Begriffsapparat das Denken der Menschen weiterhin prägt: Die Macht, die »das traditionelle Begriffsgerüst […] über die Gedanken der Menschen« hat, »kann […] gerade dann tyrannisch werden, wenn die Tradition ihre lebendige Kraft verloren hat, wenn die Begriffe abgenutzt und die Kategorien platt geworden sind« (ebd.: 34 f.). In der Geschichte des politischen Denkens wird diese Gefahr besonders akut. Die »gewissen Tendenzen«, wie Arendt die sich verändernde Realität – soziologisch sicher etwas vage – beschreibt, fallen für sie mit dem Beginn der Neuzeit zusammen. Ihren ersten Ausdruck im philosophischen Denken finden sie laut Arendts Rekonstruktion jedoch erst im 19. Jahrhundert. Und zwar im Denken der »Rebellen« (ebd.: 36) Marx, Kierkegaard und Nietzsche. Diese drei Denker stehen für Arendt »am Ende der Tradition, gerade bevor der Bruch kam. Ihr unmittelbarer Vorgänger ist Hegel« (ebd.: 37), ohne dessen »synthetisierende Leistung« (ebd.: 49) die Herausforderung der Tradition durch Marx, Kierkegaard und Nietzsche nicht möglich gewesen wäre. Auf diese Bewertung von Hegels System als eine Art Wendemarke der philosophischen Tradition werde ich später noch einmal zurückkommen. Sie wird von Adorno uneingeschränkt geteilt. Auch er wird sich aber, genau wie Arendt hier, umso mehr dafür interessieren, was im direkten Anschluss an Hegel passiert. Für Arendt stellen die Werke Marx’, Kierkegaards und Nietzsches als erste »jene für die Neuzeit charakteristischen Züge in Rechnung, die mit der Tradition bereits unvereinbar waren« (ebd.: 41). Sie haben als erste »ohne Geländer zu denken gewagt« (ebd.: 37), konnten aber – um in der Metapher zu bleiben – dem Kategoriengerüst der Tradition noch nicht ganz entkommen: »Die Rebellion des 19. Jahrhunderts gegen die Tradition hielt sich durchaus innerhalb eines von der Tradition noch vorgezeichneten Rahmens« (ebd.: 36). Alle drei Denker – Arendt bringt sie eher in Anschlag als ihre Philosophien wirklich zu rekonstruieren – rebellieren gegen die Tradition, indem sie traditionelle Begriffskonstellationen umdrehen und -hierarchien auf den Kopf stellen: »Kierkegaard [erschüttert] die Grundvoraussetzungen der überlieferten Religion, Marx die Grundbegriffe der überlieferten politischen Philosophie und Nietzsche die Grundkategorien der traditionellen Metaphysik mitsamt ihrer Moral« (ebd.: 35). Alle drei tun dies, so Arendts Lesart, mit dem Ziel, den Kerngehalt der Tradition gegen diese selbst zu verteidigen. Durch das Vorgehen, traditionelle Begriffskombinationen umzukehren oder

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umzustülpen, bleiben sie aber, aller Radikalität zum Trotz, selbst den Begrifflichkeiten der Tradition verhaftet. Ihre »Rebellion gegen die Überlieferung« (ebd.: 27), bleibt daher letztendlich ein »Pyrrhus-Sieg« (ebd.: 46). Marx, Kierkegaard und Nietzsche, das sei hier ausdrücklich betont, führen den Traditionsbruch für Arendt damit keinesfalls herbei. Es sollte kein noch so vager kausaler Zusammenhang zwischen den von Arendt besprochenen Denkern und der totalen Herrschaft angenommen werden.112 Durch den Totalitarismus ist »der Ruin unserer Denkkategorien und Urteilsmaßstäbe ans Licht gebracht worden« (Arendt 2012b [1953]: 122). Marx, Kierke­ gaard und Nietzsche haben diesen Ruin nur früher gesehen als viele andere. Die Zivilisationskatastrophe im 20. Jahrhundert stellt dann in doppelter Weise eine Zuspitzung dieser – von den drei Denkern des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal gespürten – Entwicklung dar. Zum einen wird der Tradi­ tionsbruch gewissermaßen endgültig. War die Tradition »mit dem Fortschreiten der Moderne immer fadenscheiniger geworden«, ist »der Faden« spätestens mit der totalen Herrschaft »schließlich ganz gerissen« (Arendt 2012 [1961]: 17).113 Als »vollendete Tatsache« (Arendt 2012 [1954]: 35) ist der Traditionsbruch nun nicht mehr rückgängig zu machen: »[W]eder ist er das Resultat von Wahl und Vorsatz, noch ist er abhängig von weiteren Entscheidungen.« (Ebd.) Zum anderen wird der Traditionsbruch nun »zur greifbaren Wirklichkeit für alle« (Arendt 2012 [1961]: 17). Das heißt, er wurde von einem Problem der Ideengeschichte und Philosophie zu einer »Tatsache von politischer Bedeutung« (ebd.). 112 Arendt warnt explizit davor: »Die Versuche großer Denker nach Hegel, sich von den Denkformen, die den Westen mehr als zweitausend Jahre beherrscht hatten, zu befreien, haben vielleicht ihre Schatten auf diese Ereignisse vorausgeworfen; sie können sicher dazu verhelfen, es im rechten Lichte zu sehen und zu begreifen; verursacht aber haben sie es bestimmt nicht. […] Die Denker der Neuzeit, insbesondere die Rebellen des 19. Jahrhunderts für die Struktur des 20. verantwortlich zu machen ist nicht nur ungerecht, sondern gefährlich. Die sicht- und greifbaren Ereignisse, die die totalitäre Herrschaft über die Menschen gebracht hat, gehen auch über die radikalsten und abenteuerlichsten Ideen dieser Denker so weit hinaus, daß es lächerlich ist, etwa Marx mit der Herrschaft Stalins oder Nietzsche mit der Herrschaft Hitlers auch nur in einem Atem zu nennen.« (Arendt 2012 [1954]: 35 f.) 113 »Erst die totalitäre Herrschaft als ein Ereignis, das in seiner Beispiellosigkeit mit den überkommenen Kategorien politischen Denkens nicht begriffen, dessen ›Verbrechen‹ mit den traditionellen Maßstäben nicht beurteilt und mit Hilfe bestehender Gesetze nicht adäquat gerichtet und bestraft werden können, hat die in der Überlieferung so lange gesicherte Kontinuität abendländischer Geschichte wirklich durchbrochen.« (Arendt 2012 [1954]: 35)



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Oliver Marchart (2007: 349 f.) hat einmal auf ein auffälliges »Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus« hingewiesen, dass für Arendts Denken charakteristisch zu sein scheint. Während viele ihrer Analysen von einem »tiefen Pessimismus« ausgingen, würden diese zugleich »von einem nahezu verwegenen Optimismus konterkariert«. Die Optimismusfrage wird im vierten und fünften Kapitel dieser Arbeit je noch einmal Thema. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass sich dieses vermeintliche Schwanken bereits für Arendts Umgang mit der Traditionsbruchdiagnose nachweisen lässt. Arendt nimmt hier eine bemerkenswerte, ja fast schon trotzige Dennoch-Haltung ein. Denn sie sieht den Traditionsbruch nicht nur als Unglück, sondern auch als Chance. Schließlich könne sich der »Ariadnefaden«, der uns bisher sicher durch die Vergangenheit geleitet hat, »auch als die Kette erweisen […], an die jede Generation neu gelegt wurde« (Arendt 2012 [1956]: 161). Die Tatsache des Traditionsbruchs berge zwar stets die Gefahr, die geschichtliche Dimension menschlichen Daseins zu vergessen, aber in ihr liegt zugleich auch ein Potential, nämlich »die große Chance, auf die Vergangenheit mit einem von keiner Überlieferung getrübten Blick zu schauen, mit einer Direktheit, wie sie die Augen und Ohren des Abendlandes nicht mehr gekannt haben, seit die Römer sich der Autorität griechischen Geistes unterwarfen.« (Arendt 2012 [1954]: 38) So verwegen das zunächst vielleicht klingen mag, für Arendt ist der Traditionsbruch nicht nur eine moderne Krisenerfahrung und Teil der Ermöglichungsbedingungen der totalen Herrschaft, sondern bietet zudem die Möglichkeit für ein neues Denken; »für ein Denken, das sich ohne Stützen und Krücken, gewissermaßen ohne das Geländer der Tradition frei bewegt.« (Arendt 2012 [1959]: 20) Bei Adorno findet sich eine ganz ähnliche Diagnose. Auch er sieht die Notwendigkeit einer grundlegenden Kritik »der heute zerrütteten Tradition von Philosophie.« (Adorno 2003e [1962]: 461) Auch bei ihm erwächst diese Forderung zunächst aus einer kritischen Modernitätsdiagnose, erhält aber durch die Erfahrung der totalen Herrschaft eine zusätzliche, bis dahin nie dagewesene Dringlichkeit.114 Das zeigt schon der Zeitpunkt ihrer Formulierung an. Adorno formuliert seine Kritik der philosophischen Tradition bereits 1931 in 114 In einem Brief an Ernst Bloch schreibt Adorno 1962 über seine frühen Schriften: »Sehr vieles von dem, was ich in meiner Jugend geschrieben habe, hat den Charakter einer traumhaften Antezipation [sic!], und erst von einem gewissen Schockmoment an, der mit dem Ausbruch des Hitlerschen Reiches zusammenfallen dürfte, glaube ich eigentlich recht getan zu haben, was ich tat.« (Zit. nach Tiedemann 2003: 384)

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seiner Antrittsvorlesung als Privatdozent an der philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt. Die Vorlesung trägt den Titel Die Aktualität der Philosophie.115 Zwar spricht Adorno nicht vom »Traditionsbruch« – das würde er schon deshalb nicht tun, weil es sich um einen an Heidegger angelehnten Begriff handelt –,116 dennoch ist die »erkenntnistheoretische Grunderfahrung« (Bonß 1983: 203), die er hier formuliert, eine vergleichbare. Adorno beginnt die Vorlesung mit einem Appell an die Anwesenden: »Wer heute philosophische Arbeit als Beruf wählt, muß von Anbeginn auf die Illusion verzichten, mit der früher die philosophischen Entwürfe einsetzten: daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen. Keine rechtfertigende Vernunft könnte sich selbst in einer Wirklichkeit wiederfinden, deren Ordnung und Gestalt jeden Anspruch der Vernunft niederschlägt« (Adorno 2003 [1931]: 325). Hinter dieser Forderung steht auch bei Adorno zuallererst eine These über die veränderten Bedingungen der Moderne, die es nicht mehr zulassen, dass man sie in ihrer Totalität erfasst. Er kritisiert hier nicht (nur) die Hybris philosophischen Denkens. Es ist, wie aus dem angeführten Zitat hervorgeht, die Gestalt der modernen Wirklichkeit, die sich einer vernunftmäßigen Erfassung entzieht. Ein gewichtiger Unterschied zu Arendt ist, dass diese Modernitätsdiagnose von Adorno freilich direkt an den Kapitalismus geknüpft wird. Es sind die »Bedingungen einer durchgesetzten bürgerlichen Gesellschaft«, die dafür sorgen, dass es »keine überdauernd-endgültigen Erkenntnisse mehr gibt und geben kann.« (Bonß 2008: 15; Hervorh. T. A.; vgl. Ronge 2018) Dabei erachtet auch er es als besonders problematisch, dass die abgenutzten Begriffe gleichsam als Untote ein Fortleben führen und die Philosophie sich ihrer – aller Unangemessenheit zum Trotz – weiterhin bedient: »Philosophie, 115 Die Vorlesung wird erst nach Adornos Tod veröffentlicht, gilt aber gemeinhin als frühe kondensierte Fassung seines philosophischen Programms: »Was Adorno betrifft, so ist […] die Kontinuität seines Denkens von den frühen Frankfurter Arbeiten zur Philosophie und Musiksoziologie bis hin zu seinen Spätwerken, der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie erstaunlich. Zur Zeit seiner Frankfurter Antrittsvorlesung von 1931 über die Aktualität der Philosophie, das heißt mit 28 Jahren, erscheint Adorno bereits als ›fertiger‹ Philosoph in dem Sinne, dass alle entscheidenden Motive seines Denkens, gleichsam dessen Grundkonstellationen, sich schon herausgebildet haben. Seine spätere und erstaunlich reiche Produktion ist die Entfaltung dieser Grundkonstellationen.« (Wellmer 1985: 139) 116 Zu den heideggerianischen Wurzeln des Begriffs vom Traditionsbruch vgl. Grunenberg (2007).



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die sie heute dafür ausgibt, dient zu nichts anderem, als die Wirklichkeit zu verhüllen und ihren gegenwärtigen Zustand zu verewigen.« (Adorno 2003 [1931]: 325) Nicht nur ist das Denken also nicht in der Lage, die Totalität der Wirklichkeit zu erfassen; Philosophie, wie sie bisher betrieben wurde, trägt für Adorno sogar noch dazu bei, diesen (falschen) Zustand zu verschleiern und damit aufrechtzuerhalten. Adorno verdeutlicht diese These anhand eines Husarenritts durch die »jüngste Philosophiegeschichte« (ebd.: 331). Das bedeutet zum Zeitpunkt der Antrittsvorlesung, dass er bei der »Krise des Idealismus« (ebd.: 326) einsetzt und mit den drei philosophischen Richtungen beginnt, die darauf direkt zu antworten versucht haben. Ausdrücklicher noch als für Arendt stellt das System Hegels für Adorno »zugleich den Höhe- und den Wendepunkt der Geschichte philosophischer Theoriebildung dar, weil es einerseits deren immanenten Anspruch auf begriffliche Durchdringung der gesamten Realität in kühnster und klarster Form vertreten hat, andererseits daran aber auf so dramatische Weise gescheitert ist, dass alle Ansätze seither sich als Auswege aus der ›Krise des Idealismus‹ verstehen lassen müssen.« (Honneth 2016c: 97) Zu besagten Auswegversuchen zählen für Adorno erstens der Neukantianismus der Marburger Schule, der für den Versuch, die systematische Geschlossenheit des Idealismus zu bewahren, mit dem Preis des Abdriftens ins Formale bezahle und dadurch den Kontakt zur Wirklichkeit verloren habe. Zweitens dessen Gegenpol, die Lebensphilosophie Simmels, der es zwar gelungen sei, besagten Kontakt zur Wirklichkeit zu behalten, die sich hierfür aber der »andrängende[n] Empirie« (Adorno 2003 [1931]: 326) so sehr habe hingeben müssen, dass ihr jegliches philosophische – das meint hier: sinngebende – Moment abhandengekommen sei. Und drittens die südwestdeutsche Schule Rickerts, die ihrerseits zwischen den beiden Extremen zu vermitteln versucht habe. Sie »meint in den Werten über konkretere und handlichere philosophische Maßstäbe zu verfügen, als die Marburger in ihren Ideen sie besitzen, und hat eine Methode ausgebildet, die zu jenen Werten die Empirie in eine wie immer auch fragliche Beziehung setzt.« (Ebd.) Allerdings blieben dafür Ort und Ursprung der Werte hierbei unter- bzw. unbestimmt: »[Z]wischen logischer Notwendigkeit und psychologischer Mannigfaltigkeit liegen sie irgendwo; unverbindlich im Wirklichen, undurchsichtig im Geistigen; eine Scheinontologie, die die Frage des Woher-Geltens so wenig zu tragen vermag wie die des Wofür-Geltens.« (Ebd.)

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Auf die Kritik der drei »großen Lösungsversuch[e] der idealistischen Philosophie« folgt bei Adorno ein Durchgang durch diejenigen »wissenschaftlichen Philosophien« (ebd.), die von Anfang an auf den Anspruch des Idealismus, nämlich den der lückenlosen Erfassung der Wirklichkeit, verzichtet haben und sich stattdessen damit zufriedengeben, den Einzel- und besonders Naturwissenschaften als »Propädeutik« (ebd.: 327) zu dienen. An diesen kritisiert er allerdings, dass sie den Zusammenhang mit den historischen Problemen der Philosophie ganz aufgekündigt haben. Das heißt, sie haben vergessen, dass die von ihnen behandelten (Einzel)probleme mit den Problemen der Philosophiegeschichte untrennbar verknüpft sind und sich vollkommen isoliert von diesen gar nicht lösen lassen.117 Schließlich gelangt Adorno zur Phänomenologie, wie sie von und im Anschluss an Husserl betrieben wurde. Husserl und dessen transzendentaler Phänomenologie bringt Adorno in seiner ansonsten leicht polemischen Vorlesung noch die größte Wertschätzung entgegen. Denn Husserl gehe bereits über den Idealismus hinaus. Allerdings bleibe auch er letztlich auf diesen bezogen: »Husserl hat den Idealismus von jedem spekulativen Zuviel gereinigt und ihn auf das Maß der höchsten ihm erreichbaren Realität gebracht. Aber er hat ihn nicht gesprengt« (ebd.: 328). Zuletzt wendet Adorno sich Heidegger zu, dem er gewissermaßen einen Rückzug aus der Wirklichkeit attestiert. An die Stelle des Objektiven trete bei Heidegger das Subjektive, an die Stelle der »offenen Fülle der Wirklichkeit« (ebd.: 329) die Tiefe. Adorno argumentiert, dass Heidegger letztlich doch von einer »prinzipiell undialektischen […] ›zurhandenen‹ Wirklichkeit« (ebd.: 330) ausgehen müsse und damit der Metaphysik verhaftet bleibe: einer »Metaphysik des Todes« (ebd.). Adorno referiert und kritisiert hier ein halbes Jahrhundert deutscher Philosophiegeschichte auf exakt fünf Seiten (ebd.: 326–330). Er gibt diesen abstrakten und stark verkürzten »selbstbewusste[n] Überblick« (Benhabib 2011: 662) über die damals neuere Ideengeschichte eigenen Angaben zufolge jedoch nicht »um der allgemeinen geistesgeschichtlichen Orientierung willen« (Adorno 2003 [1931]: 331), sondern weil er zeigen will, dass die Bemühungen um philosophische Systementwürfe endgültig gescheitert sind. In diesem Punkt ähnelt sein Vorgehen dem Arendts: Obwohl beide Thesen über die veränderte Realität der Moderne vertreten, konzentriert sich ihre Beweisführung jeweils auf die Ideen- bzw. Philosophiegeschichte. 117 In das methodologische Vokabular übersetzt, auf das ich mich in der Einleitung dieser Arbeit berufen habe, ließe sich sagen: Adorno kritisiert hier die reine Theoriekonstruktion und tritt stattdessen für das Vorgehen der Theoriegeschichte in systematischer Absicht ein.



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An dieser Stelle wird jedoch auch eine Differenz in den philosophischen Temperamenten der beiden sichtbar. Denn hatte ich eben auf Arendts Zuversicht verwiesen, die im Zerbersten der Tradition auch eine Befreiung aus dem Korsett der überlieferten Begriffe und Denkformen sah, so hat Adornos Diagnose keinen so optimistischen Klang. Stattdessen stellt er »nach dem Scheitern der Bemühungen um große und totale Philosophien« (ebd.) die Frage, »ob Philosophie selber überhaupt aktuell sei.« (Ebd.) Diese Frage ist jedoch nicht im Sinne einer dem Tagesgeschehen hinterherhaschenden Aktualität gemeint, wie sie heute im akademischen Betrieb zunehmend zum einzigen Qualitätskriterium erhoben wird, so als habe philosophisches Nachdenken nur dann eine Berechtigung, wenn es für konkrete, »praktische« Probleme fertige Antworten liefere. Adorno fragt sich vielmehr und grundsätzlicher, »ob nach dem Scheitern der letzten großen Anstrengungen überhaupt noch eine Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung besteht« oder »ob nicht vielmehr das eigentliche Ergebnis der jüngsten Problemgeschichte die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der philosophischen Kardinalfragen sei.« (Ebd.) Und obwohl seine Antwort auf diese keinesfalls rhetorisch gemeinte Frage bezüglich »dessen, was man bislang Philosophie nannte« (ebd.: 339),118 negativ ausfällt, fordert auch Adorno trotzdem dazu auf weiterzudenken. Nur eben bescheidener: »Philosophie, wie sie nach allem allein noch zu verantworten wäre, dürfte nicht länger des Absoluten sich mächtig dünken, ja müßte den Gedanken daran sich verbieten« (Adorno 2003e [1962]: 461). Stattdessen gelte es, sich auf »Bruchstücke« zu konzentrieren, die »das System überdauern.« (Ebd.) Die Wirklichkeit biete sich dem Erkennenden »allein polemisch« dar, »während sie nur in Spuren und Trümmern die Hoffnung gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten.« (Adorno 2003 [1931]: 325) 118 Vgl. auch Adornos erneutes Aufwerfen derselben Frage 31 Jahre später: »Bei einer Frage wie ›Wozu noch Philosophie‹ […], wird man im allgemeinen die Antwort erraten, einen Gedankengang erwarten, der alle möglichen Schwierigkeiten und Bedenken anhäuft, um schließlich, mehr oder minder vorsichtig, in ein Jedennoch zu münden und das rhetorisch Bezweifelte zu bejahen. Dieser allvertraute Ablauf entspricht konformistischer und apologetischer Haltung; sie trägt sich als positiv vor und rechnet vorweg mit Einverständnis. Vollends traut man einem nichts Besseres zu, der von Amts wegen Philosophie lehrt, dessen bürgerliche Existenz davon abhängt, daß sie weiter betrieben wird, und der die eigenen handgreiflichen Interessen verletzt, sobald er sich dagegen äußert. Einiges Recht, trotzdem die Frage aufzuwerfen, habe ich bloß deshalb, weil ich der Antwort keineswegs gewiß bin.« (Adorno 2003e [1962]: 459)

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3.2 Walter Benjamin Wie aber kann ein solches Denken aussehen? Wenn »der Faden der Tradition gerissen« (Arendt 2012 [1954]: 24) ist und/oder es unmöglich geworden ist, »Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen« (Adorno 2003 [1931]: 325), was bleibt dem Denken dann noch? Wie ist nach der »Absage an die großen philosophischen Systeme in der Tradition von Kant und Hegel« (Bonß 2008: 13) ein Neuanfang im Denken möglich? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Fragen beziehen sich sowohl Arendt als auch Adorno auf Walter Benjamin. Auch wenn beide ihn sehr unterschiedlich lesen, so handelt es sich bei Benjamin um einen der wenigen gemeinsamen Bezugspunkte Arendts und Adornos.119 Beide waren persönlich mit Benjamin befreundet. Arendt kannte ihn aus der gemeinsamen Zeit im Pariser Exil. Benjamin war ein entfernter Verwandter ihres ersten Ehemannes Günther Stern (Anders). Adorno seinerseits hatte Benjamin schon in den 1920er Jahren durch die Vermittlung von Siegfried Kracauer in Frankfurt kennengelernt. Beide, Arendt wie auch Adorno, waren aber auch frühe Leser_innen Benjamins, die »mit sicherem Gespür für Qualität« erkannt hatten, »dass Benjamin in der Zwischenkriegsperiode nicht irgendein, sondern der führende Essayist wider den Zeitgeist gewesen war.«120 (Söllner 2018b: 205) Vor allem aber hielt Benjamin für beide eine Antwort auf die Frage bereit, wie Philosophie »nach allem […] noch zu verantworten wäre« (Adorno 2003e [1962]: 461). 119 Das wird zum Beispiel auch im von Liliane Weissberg (2011) herausgegebenen Band Affinität wider Willen? deutlich, von dem der erste Teil dieser Arbeit seinen Titel lieh. Obwohl der Untertitel des Buches ankündigt, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule miteinander ins Gespräch zu bringen, drehen sich die meisten dort versammelten Texte de facto um Walter Benjamin. 120 Kurioserweise haben sich beide später, das nur als Anekdote am Rande, gegen die Sichtweise gewehrt, Benjamin sei zu Lebzeiten ein völlig Unbekannter gewesen. Arendt wird später darauf insistieren, dass Benjamin »in dem Jahrzehnt vor Hitlers Machtergreifung in Deutschland bekannt, aber nicht berühmt« (Arendt 2012b [1968]: 195 f.) gewesen sei. Sie bezweifelt sogar, dass so etwas wie Nachruhm im strengen Sinne überhaupt existiert: Es liege »natürlich nahe, hieraus zu schließen, daß der Nachruhm eben der Preis derer ist, die ihrer Zeit vorauseilten […]. Aber so einfach ist die Sache nicht. Es gibt keine Art von Nachruhm, dem nicht die höchste Anerkennung vorausgegangen wäre.« (Ebd.: 196) In einem kurzen Text mit dem bezeichnenden Titel A l’écart de tous les courants heißt es bei Adorno fast wortgleich, dass Benjamin »einigen wenigen Kennern bekannt« gewesen sei: »Die Vorstellung des zu seinen Lebzeiten verkannten, erst nach seinem Tod entdeckten Benjamin ist eine sentimentale Legende. Als er 1933 Deutschland endgültig verließ, besaß er bereits etwas wie esoterischen Ruhm.« (Adorno 2003a [1969]: 187)



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Zu Beginn dieses Buches hatte ich auf die kaum noch zu überblickenden Einzelrezeptionen der beiden von mir behandelten Autor_innen verwiesen. Besonders Arendt ist ein überdurchschnittlich beliebtes Thema von Qualifikations- und Abschlussarbeiten. Die Anzahl der Bücher und Aufsätze, die verschiedene Aspekte ihres Denkens beleuchten, dürfte ohne Übertreibung in die Tausende gehen. Auseinandersetzungen mit ihrem Werk bilden die Grundlagen von wissenschaftlichen Karrieren, es werden Forschungsgelder in ihrem Namen beantragt und seit 2018 erscheint eine zweisprachige Kritische Gesamtausgabe ihrer Schriften. Vor diesem Hintergrund mag es fast ein bisschen erstaunen, dass es in der Forschung zu Arendt überhaupt noch echte Desiderate gibt. Zu diesen wenigen verbliebenen echten Desideraten gehörte – zumindest bis vor kurzem – die Beschäftigung mit Arendts Methode.121 Als die Rezeption überhaupt erst damit begann, Arendts vermeintlich unsystematische Vorgehensweise als »bewusst eingesetzte Methode zu verstehen« (Schulze Wessel 2006: 37), als sich also das erste Mal jemand gefragt hat, wie Arendt denkt, da lautete die Antwort: Sie verfolgt eine an Walter Benjamin geschulte Methode des »Perlentauchens«. Als exemplarisch für die gesamte frühe Auseinandersetzung mit der Methodenfrage bei Arendt kann Seyla Benhabibs Vorgehen in Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne angesehen werden. Benhabib geht von der Feststellung aus, dass Arendts Denken aus zwei Strängen schöpfe: »Der eine entspricht der Methode fragmentarischer Geschichtsschreibung und wurde von Walter Benjamin inspiriert; der andere ist von der Phänomenologie Husserls und Heideggers inspiriert und begreift das Gedächtnis als die mimetische Erinnerung an die verlorenen Ursprünge der Phänomene, wie sie in manchen elementar menschlichen Erfahrungen enthalten ist.« (Benhabib 2006: 159) Benhabib stützt sich dann (wie viele andere auch) aber lieber auf den ersten Strang. Dieses Vorgehen ist sicher nicht zuletzt dem manchmal als proble121 So konnten es Stefanie Rosenmüller und Wolfgang Heuer zumindest 2011 in der Einleitung des Arendt-Handbuches noch feststellen (Heuer und Rosenmüller 2011: VII f.). Es ist immer müßig, den genauen Gründen nachzuspüren, die zu solchen verbleibenden Forschungslücken geführt haben. In Arendts Fall liegt jedoch der Verdacht nahe, dass es etwas mit ihrer ungewöhnlichen, nicht ganz leicht fassbaren Art zu schreiben zu tun hat, aber auch mit der Tatsache, dass sie selbst selten Auskunft über ihre Vorgehensweise gegeben hat. Auch das ist allerdings gerade dabei, sich zu ändern (vgl. Hyvönen 2014 und 2021; Knott 2017; Nordmann 2007; Robaszkiewicz 2017; Weißpflug 2019).

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matisch erachteten Erbe Heideggers geschuldet.122 Es kann sich aber auch auf eine gewisse Berechtigung stützen. Denn Arendt hält Benjamin und Heidegger nicht für unvereinbar, im Gegenteil. Sie geht davon aus, dass beide am gleichen philosophischen Projekt gearbeitet hätten. In ihrem 1968 erschienenen Aufsatz für und über Walter Benjamin kann sie sich die Spitze gegen Adorno dann auch nicht verkneifen, wenn sie schreibt: »Mit Heideggers großem Spürsinn für das, was aus lebendigem Auge und lebendigem Gebein Perle und Koralle geworden und als solches nur durch die ›Gewaltsamkeit‹ der Interpretation, nämlich ›die tödliche Stoßkraft‹ neuer Gedanken zu retten und in die Gegenwart zu heben ist, hatte Benjamin, ohne es zu wissen, im Grunde mehr gemein als mit den dialektischen Subtilitäten seiner marxistischen Freunde.« (Arendt 2012b [1968]: 253) Das Portrait, das Arendt in diesem Aufsatz zeichnet, besteht aus drei Teilen, die sich eher unsystematisch mit Biografie und Werk Benjamins auseinandersetzen. In den ersten beiden Teilen dominieren biografische Aspekte, die Arendt zentral erscheinen: Benjamins Kindheit, sein Leben als Flaneur in Paris, seine Geldsorgen, sein (laut Arendt angespanntes) Verhältnis zum Frankfurter Institut für Sozialforschung, Benjamins Freundschaft mit Bertolt Brecht sowie seine innere Hin- und Hergerissenheit zwischen Marxismus und Zionismus und schließlich die tragischen Umstände seines Selbstmordes. Vor allem im dritten Teil kommt Arendt dann auf Benjamins Denken zu sprechen. Arendt sieht in Benjamin zunächst einmal jemanden, der am gleichen Problem arbeitete wie sie, der Frage nämlich, wie nach dem Traditionsbruch weitergedacht werden könnte: »Sofern Vergangenheit als Tradition überliefert ist, hat sie Autorität; sofern Autorität sich geschichtlich darstellt, wird sie zur Tradition. Walter Benjamin wußte, dass Traditionsbruch und Autoritätsverlust irreparabel waren, und zog daraus den Schluß, neue Wege für den Umgang mit der Vergangenheit zu suchen. In diesem Umgang wurde er ein Meister, als er entdeckte, daß 122 Die Arendt-Heidegger-Saga ist eine kleine (Rezeptions)geschichte für sich. Arendts Bezug auf Heidegger wurde lange entweder ganz vernachlässigt oder auf ihre persönliche Beziehung zueinander reduziert. Das hat sich mit dem Erscheinen von Dana Villas bahnbrechender Studie Arendt and Heidegger: The Fate of the Political (1996) geändert. Seitdem sind die Bezüge vor allem in der englischsprachigen Forschung detailliert herausgearbeitet worden. Die aktuelle Forschung hat das Interesse an den Heidegger-Bezügen wieder etwas verloren und versucht Arendt stattdessen breiter im philosophischen Diskurs ihrer Zeit zu verorten (vgl. Baratella 2020).



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an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war, an die Stelle ihrer Autorität die gespenstische Kraft, sich stückweise in der Vergangenheit anzusiedeln und ihr den falschen Frieden der gedankenlosen Selbstzufriedenheit zu rauben.« (Ebd.: 244) Diese neuen Wege im Umgang mit der Vergangenheit macht Arendt in den von Benjamin inkarnierten Figuren des Sammlers und des Flaneurs aus. Glauben wir Arendts Beschreibung, dann hat Benjamin seine »zentrale Leidenschaft« (ebd.: 245) des Sammelns von Büchern irgendwann in eine philosophische Methode – »in das Sammeln von Zitaten« (ebd.) – transformiert. Spätestens seit seinem 1921 und 1922 verfassten Essay über Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften habe im Zentrum von jeder BenjaminArbeit das Zitat gestanden: »Als er die Arbeit über das deutsche Tauerspiel vorbereitete, rühmte er sich einer Sammlung von ›über ca. 600 Zitaten … in bester Ordnung und Übersichtlichkeit‹, und diese Sammlung, wie die späteren Notizbücher, war nicht eine Anhäufung von Exzerpten, welche die Niederschrift erleichtern sollten, sondern stellte bereits die Hauptarbeit dar, der gegenüber die Niederschrift sekundärer Natur war. Die Hauptarbeit bestand darin, Fragmente aus ihrem Zusammenhang zu reißen und sie neu anzuordnen, und zwar so, daß sie sich gegenseitig illuminieren und gleichsam freischwebend ihre Existenzberechtigung bewähren konnten. Es handelte sich durchaus um eine Art surrealistischer Montage.« (Ebd.: 254) Wie ein Flaneur, der »auf seinen Entdeckungsreisen dem Zufall vertraut« (ebd.: 249), sei Benjamin durch die Schatzkammern der Vergangenheit spaziert, habe »ziel- und zwecklos« (ebd.: 224) Zitate aufgelesen, sich angeeignet und sie in neuer Anordnung wieder zusammenmontiert. Entscheidend für die Auswahl dieser Denkbruchstücke sei nicht, in welchem Kontext sie früher einmal gestanden haben, sondern nur ihre »Einzigartigkeit«123 (ebd.: 250). In der Sekundärliteratur wird zu Recht oft darauf hingewiesen, dass Arendt diese Methode (bis zu einem gewissen, später von mir noch zu qualifizierenden Grad) »adaptiert« (Weißpflug 2019: 30). Auch Arendt begibt sich, wie 123 An dieser Stelle wird die Nähe dieser Benjamin-Interpretation zur Auffassung von Heideg­ gers »Urphänomenen« wahrscheinlich am deutlichsten sichtbar. Arendt spricht hier auch von der – von ihr allerdings schon in Anführungszeichen gesetzten – »›Echtheit‹« (Arendt 2012b [1968]: 250) der Gegenstände.

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sie in einer leicht abweichenden Metaphorik am Ende des Aufsatzes schreibt, »[d]em Perlentaucher gleich […] auf den Grund des Meeres […], um in der Tiefe das Reiche und Seltsame, Perlen und Korallen herauszubrechen und als Fragmente an die Oberfläche des Tages zu retten« (Arendt 2012b [1968]: 258). Auch Arendt reißt Fragmente aus ihrem Zusammenhang und ordnet sie neu an.124 Wenn sie in der Geschichte des politischen Denkens nach »Perlen taucht« und zum Beispiel vom politischen Handeln in der antiken Polis erzählt, dann tut sie das jedoch »nicht aus Gelehrsamkeit«, sondern um »der Erfahrungen habhaft zu werden« (Arendt 2012b [1958]: 217), die darin zum Ausdruck kommen. Sie tut das weder als Ideenhistorikerin, die, frei nach Ranke, wissen will, »wie es eigentlich gewesen ist« noch »um der Kontinuität unserer Tradition willen« (ebd.), sondern als politische Theoretikerin, die diese Erfahrungen für das politische Denken in der Gegenwart fruchtbar machen möchte. Arendts Schreiben hat zwar oftmals den Charakter einer »Art Besinnung«, aber »diese Besinnung ist geleitet, auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt ist, von den Erfahrungen und den Sorgen der gegenwärtigen Situation.« (Arendt 2016 [1958]: 13) Gerade der zeitliche Abstand kommt ihr für dieses Verfahren zugute. Denn was die Denkbruchstücke und Fragmente der politischen Ideengeschichte für Arendt besonders interessant macht, ist, dass im Laufe der Jahrhunderte auch etwas mit ihnen passiert ist, dass sie einem »Kristallisationsprozeß« unterliegen, in dem »neue, kristallisierte Formen und Gestalten entstehen, die, gegen die Elemente gefeit, überdauern« (Arendt 2012b [1968]: 258). Die Zeit hat die von Arendt erinnerten politischen Ideen und Begriffe nicht nur »gefroren« (Arendt 2012 [1971]: 143), sondern auch zu »Reiche[m]« und »Seltsame[m]« (Arendt 2012b [1968]: 258) gemacht. Gerade deshalb können sie helfen, unser aktuelles Politikverständnis in neuem Licht erscheinen zu lassen. Denn: »Seltsam […] erscheint das, was zwar genuin fremd ist, aber doch eine Ahnung von Bedeutung verleiht.« (Trimcev 2018: 83) Anders ausgedrückt: Die von Arendt »ertauchten« politischen Erfahrungen der Vergangenheit sind uns noch nicht so fremd, dass sie heute nicht mehr verstanden werden könnten. Es sind Erfahrungen, die wir »alle noch irgendwie kennen« (Arendt 2012b [1958]: 217). Sie sind uns aber fremd genug, um »das Heute […] aus der schrulligen Perspektive des Sammlers zu 124 Wobei Arendt davon ausgeht, dass der Traditionsbruch dieses Vorgehen begünstigt, insofern er dem Zitatesammler die »Arbeit des Zerstörens bereits abgenommen hat und er sich gleichsam nur zu bücken braucht, um sich seine kostbaren Bruchstücke aus dem Trümmerhaufen des Vergangenen herauszulesen.« (Arendt 2012b [1968]: 251 f.)



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entdecken« (Arendt 2012b [1968]: 252), das heißt um einen Verfremdungseffekt zu erzeugen.125 Auch Adornos Faszination galt sowohl der Person als auch der Philosophie Benjamins. Adorno lernte Benjamin 1923 in Frankfurt kennen. Wenn wir seinen Erinnerungen an Walter Benjamin glauben dürfen, dann hat der elf Jahre Ältere schon beim ersten, durch Kracauer arrangierten Treffen eine außerordentliche Faszination auf Adorno ausgeübt: »Kaum ist es eine Rückfantasie, wenn ich sage, daß ich vom ersten Augenblick an von Benjamin den Eindruck eines der bedeutendsten Menschen hatte, die mir je entgegengetreten sind. Ich war damals 20 Jahre alt, aber immerhin geistig ein bißchen abgebrüht, doch ich kann dafür schwer die rechten Worte finden, ohne in Ausdrücke kitschiger Übertreibung zu verfallen, die die Stärke meines Eindrucks wiedergeben.« (Adorno 2003b [1965]: 175) Was für die Person Benjamins galt, galt für dessen Denken erst recht: »Es war, wie wenn durch diese Philosophie mir erst aufgegangen wäre, was Philosophie sein müßte, wenn sie das erfüllen sollte, was sie verspricht« (ebd.).126 Im Kontext der hier verfolgten Fragestellung ist entscheidend, dass Benjamin auch für Adorno die Antwort auf die Frage bereithält, wie nach der Forderung eines Endes des Systemdenkens noch weiter Philosophie gemacht werden kann. In seinen Erinnerungen schreibt er:

125 In dieser Hinsicht steht Arendt der Methode der Genealogie nahe (vgl. Hyvönen 2021). 126 Auch wenn ich gleich noch argumentieren werde, dass Arendt und Adorno beide dem von ihnen bewunderten Benjaminschen Darstellungsideal (in je eigener Weise) nicht ganz gerecht werden, lässt sich festhalten, dass Adornos Philosophie dem Denken Benjamins in stärkerem Maße verpflichtet ist als das für Arendt der Fall ist. Bereits Rolf Tiedemann, der bei Adorno über Benjamin promoviert hat und später als Mitherausgeber der Gesammelten Schriften Adornos fungierte, hatte diese Verbundenheit festgestellt. In den editorischen Nachbemerkungen zu Adornos Philosophischen Frühschriften konstatiert er für den jungen Adorno: »Die im zweiten Teil des Bandes abgedruckten Vorträge und Thesen belegen den vollzogenen Übergang der Adornoschen Philosophie vom transzendentalen Idealismus zum Materialismus; in Wahrheit den Beginn der Adornoschen Philosophie. Er hängt, wenn man denn Namen nennen will, mit der Ablösung von Cornelius und dem Anschluss an Walter Benjamin auf das engste zusammen.« (Tiedemann 2003: 383) Susan Buck-Morss hat die Benjaminschen Wurzeln von Adornos Denken in ihrer Studie The Origin of Negative Dialectics (1979) systematisch und im Detail herausgearbeitet. Eine deutschsprachige Darstellung, die zudem noch stärker auf die Frage der Darstellungsform abstellt, findet sich bei Andreas Lehr (2003).

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»Im Gegensatz zu allen anderen Philosophen […] war sein Denken nicht eines, das, so paradox das klingt, im Bereich der Begriffe sich abspielte. Es entriß den gedanklichen, geistigen Gehalt gerade begriffslosen Details, konkreten Momenten. Es schloß das Unaufschließbare wie mit einem magischen Schlüssel auf und setzte sich dadurch zu dem klassifikatorischen, abstrakten, umfassend grandiosen Wesen aller offiziellen Philosophie unabsichtlich und ohne besonderen Nachdruck in unversöhnlichen Gegensatz.« (Ebd.: 177) In seiner Antrittsvorlesung skizziert Adorno dann ein Verständnis von Philosophie als Rätsellösung und Deutung, das versucht, es diesen, Benjamin zugesprochenen Fähigkeiten so weit wie möglich gleichzutun. Es sei das »große, vielleicht das immerwährende Paradoxon« der Philosophie, schreibt Adorno hier, dass diese »mit dem Anspruch auf Wahrheit deutend verfahren muß, ohne jemals einen gewissen Schlüssel zur Deutung zu besitzen« (Ador­ no 2003 [1931]: 334). Anstelle von Schlüsseln sei ihr nicht mehr gegeben als »flüchtige, verschwindende Hinweise in den Rätselfiguren des Seienden« (ebd.). Was unter Philosophie als Deutung und als Rätsellösung ganz genau zu verstehen ist, das bleibt in der Antrittsvorlesung selbst noch etwas rätselhaft. Festzustehen scheint mir aber, dass Philosophie als Deutung zu betreiben für Adorno weder heißt, einen wie auch immer gearteten Sinn in der Wirklichkeit zu suchen oder diese gar damit auszustatten. Die »Rechtfertigung des Seienden« (ebd.) sei gerade nicht die Aufgabe der Kritischen Theorie. In der aktuellen historischen Situation hält Adorno eine solche Rechtfertigung ohnehin auch gar nicht für möglich. Denn der »Text, den Philosophie zu lesen hat«, das heißt die spätkapitalistische Realität, ist selbst »unvollständig, widerspruchsvoll und brüchig« (ebd.). Noch verweist die Rede vom »Rätsel« der Welt auf »die Annahme einer zweiten, einer Hinterwelt, die durch die Analyse der erscheinenden erschlossen werden soll.« (Ebd.: 335) Das sei hier ausdrücklich betont, weil Adorno, so wie anderen marxistischen und ideologiekritischen Theoretiker_innen, nicht selten die Annahme genau einer solchen »wahren«, nur den Theorieschaffenden zugänglichen »Hinterwelt« unterstellt wird. Anders als ein Großteil der ideologiekritischen Tradition, der er oftmals zugerechnet wird, glaubt Adorno jedoch gerade nicht an eine solche Hinterwelt. Sein Ausgangspunkt ist vielmehr ein phänomenologischer. Trotz seiner wiederholten Kritik am Unmittelbarkeitsdenken der Phänomenologie teilt Adorno mit Arendt, dass er »die Existenz eines sprachlich oder geistig unvermittelt ›Gegebenen‹« (Honneth 2016c: 101) zunächst ein-



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mal selbst voraussetzt: 127 »Wer deutet, indem er hinter der phänomenalen Welt eine Welt an sich sucht, die ihr zugrunde liegt und sie trägt, der verhält sich wie einer, der im Rätsel das Abbild eines dahinter liegenden Seins suchen wollte, welches das Rätsel spiegelt, wovon es sich tragen läßt« (Adorno 2003 [1931]: 335). Für die Adorno vorschwebende Rätsellösung soll die Philosophie sich auf »Bruchstücke« konzentrieren, die »das System überdauern« (Adorno 2003e [1962]: 46), wie er es in einer Metaphorik beschreibt, die an Arendts Bild des Perlentauchers erinnert. Diese Bruchstücke, »die singulären und versprengten Elemente«, sollen nach Adorno dann »so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt« (Adorno 2003 [1931]: 335). Laut Wolfgang Bonß hat Adorno hier so etwas wie »Verstehensprozesse« (Bonß 2008: 20) im Sinn. Zu solchen Verstehensprozessen kommt es nicht, indem Rätsellösungen einfach gefunden werden, gleichsam als hätten sie nur auf ihre Entdeckung gewartet, sondern sie erfordern einen aktiven Anteil der Theoretiker_innen. Denn auch hier müssen die Bruchstücke nicht nur aufgehoben, sondern danach auch wieder neu zusammengesetzt werden. Für ihre Deutungsarbeit hat die Philosophie, wie Adorno unter ausdrücklichem Verweis auf Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels schreibt,128 »ihre Elemente […] so lange in wechselnde Konstellationen, oder, um es mit einem minder astrologischen und wissenschaftlich aktuelleren Ausdruck zu sagen: in wechselnde Versuchsanordnungen zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Frage aufhebt, deren prägnante Fassung die Aufgabe der Wissenschaft ist« (Adorno 2003 [1931]: 335). Während Benjamin von Arendt in die Nähe Heideggers gerückt wird, verweist Adorno – ideengeschichtlich nicht minder gewagt – im Anschluss an dieses Zitat auf die »erstaunliche und befremdende Affinität« (ebd.: 336) 127 Auf Adornos phänomenologischen Ausgangspunkt weisen auch Wolfgang Bonß (2008: 24 f.) und Martin Seel (2004: 29) hin. 128 Der seitengenaue Verweis auf Benjamins Trauerspielbuch ist der einzige Beleg, den Adorno in der gedruckten Version des Vortrags angibt, nachdem Benjamin ihn ausdrücklich darum gebeten hatte (Adorno und Benjamin 1994: 16–22).

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zwischen diesem Benjaminschen Begriffsapparat und dem Materialismus: »Deutung des Intensionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des Wirklichen kraft solcher Deutung«, das muss nach Adorno »das Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis« (ebd.) sein. Und so wie es Arendts selektive (und wohlwollende) Heidegger-Lesart ist, die ihre Interpretation möglich macht, ist es Adornos spezifisches Verständnis des Materialismus, das seinen interpretatorischen Vorschlag erlaubt.129 Wie klassischen Verständnissen von Materialismus geht es auch Adorno hier um die Auflösung eines Schleiers. Anders als bei klassischen Materialismuskonzeptionen verweist die Auflösung dieses Schleiers bei Adorno aber weder auf eine hinter den Erscheinungen liegende »echte« Welt noch sind die Tendenzen, die darauf hindeuten, wie zu einem besseren Zustand zu kommen sei, aus der Wirklichkeit ablesbar. Jedoch – und dabei handelt es sich dann tatsächlich um einen »wesentlichen Zusammenhang von deutender Philosophie und Materialismus« (ebd.: 338) – zielt Adornos Theorie auf die Auflösung dieses Schleiers und damit auf praktische Veränderung. Aus »der Konstruktion der Figur des Wirklichen folgt allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung« (ebd.). Die Rätsellösung und das Rätsel können nicht nebeneinander existieren: »Vielmehr steht die Antwort in strenger Antithese zum Rätsel […] und zerstört das Rätsel […], sobald ihm die Antwort schlagend erteilt ward.«130 (Ebd.) Er sei sich bewusst, gibt Adorno gegen Ende der Vorlesung zu, dass dieses Programm »einer Auflösung dessen, was man bislang Philosophie nannte« (ebd.: 339), gleichkomme. Auch weil die Schulphilosophie die von ihm de facto geforderte »Liquidation der Philosophie« (ebd.) bisher zurückgewiesen habe, bestehe die erste und aktuellste Aufgabe in einer »radikale[n] Kritik des herrschenden philosophischen Denkens.« (Ebd.) Diese, so Adorno, könne aber nur »in strengster dialektischer Kommunikation mit den jüngsten Lösungsversuchen der Philosophie und der philosophischen Terminologie« (ebd.: 340) erfolgen. Wie schon Arendt, so wendet sich also auch Adorno bei seinem radikalen Neudurchdenken der philosophischen Tradition letzt129 Laut Seyla Benhabib (2011: 662) waren Adornos Kolleg_innen am Frankfurter Institut für Sozialforschung, Max Horkheimer ausdrücklich miteingeschlossen, »einigermaßen erstaunt über Adornos Hinwendung zu diesem schwer fassbaren Begriff von materialistischer Interpretation«. Adornos spezifisches Materialismusverständnis und sein daraus hervorgehender Kritikbegriff sind im zweiten Teil dieser Arbeit noch ausführlicher Thema. 130 Ich werde dieses Thema – Theorie als Praxis bzw. die Deutung der vorgefundenen Wirklichkeit in verändernder Absicht – sowohl in Abschnitt 4.2.1 als auch in 5.3.2 wieder aufgreifen.



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endlich nicht vollständig von dieser ab. Auch sein Denken bleibt auf die philosophische Ideengeschichte bezogen. Anders als er es Benjamin zugesprochen hatte, bleibt es darüber hinaus außerdem ein begriffliches Denken. Es ist der Umgang mit den Begriffen der philosophischen Ideengeschichte, den er geändert wissen will. Und hierfür verspricht er sich Unterstützung aus Benjamins Metaphernwelt: »Bei der Handhabung des Begriffsmaterials durch Philosophie rede ich nicht ohne Absicht von Gruppierungen und Versuchsanordnung, von Konstellation und Konstruktion.« (Ebd.: 341) 3.3 Der Essay als »Verfahrensweise des Denkens« Arendt und Adorno haben also miteinander gemeinsam, dass sie sich für den geforderten Neuanfang im Denken nach dem Traditionsbruch (Arendt) respektive dem Scheitern großer und totaler Philosophien (Adorno) auf Walter Benjamin berufen. In diesem Abschnitt werde ich zeigen, dass beide dem (selbst ausgerufenen) Benjaminschen Methodenideal jedoch nicht (ganz) gerecht geworden sind. Trotzdem haben die beschriebenen Idealvorstellungen beider Denken nachhaltig geprägt, hat ein »Benjaminsches Moment« in beiden Fällen »jenseits der Frage nach Benjamins unmittelbarem intellektuellem Einfluss […], auf einer viel grundlegenderen Ebene die Orientierung ihres Denkens bestimmt« (Benhabib 2011: 665). Nicht nur haben Arendt und Adorno in ihrer Publikationspraxis eine dezidierte Vorliebe für kleine Formen und antisystematisches Denken gehegt, auch in ihren umfangreicheren und dem Anspruch nach systematischeren Schriften bleiben sie, wie ich im Folgenden zeigen möchte – jede_r auf eigene Weise – einer Art Essayismus verhaftet. Arendts Würdigung von Walter Benjamins Methode hat dazu geführt, dass ihr Vorgehen manchmal selbst mit dem des »Perlentauchens« oder Zitatmontierens in eins gesetzt worden ist (Nordmann 2007: 165; vgl. Schäfer 2018). Arendts Schreibpraxis geht in dieser Beschreibung jedoch nicht auf. Denn obwohl Arendt sich in ihrem Denken auf eine Vielzahl verschiedener Referenzautor_innen stützt und diese in ungewöhnliche Konstellationen zueinander bringt, wäre es meines Erachtens schwer zur rechtfertigen, das, was sie tut, als Benjaminsche oder gar surrealistische Montage zu beschreiben.131 131 Marie Luise Knott (2017: 106) schreibt: »Arendt konstelliert auch Menschen, die im realen Leben möglicherweise nie miteinander gesprochen haben, nie miteinander hätten sprechen wollen oder können.« In dieser Hinsicht ist diese Arbeit selbst von Arendts Methode inspiriert.

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Schon gar nicht betreibt sie, wie Margaret Canovan das einmal behauptet hat, ein »deliberately arbitrary use of fragments recovered from the past« (Canovan 1992: 4; Hervorh. T. A.). Treffender wäre es, so mein Vorschlag, ihre Art und Weise zu denken und zu schreiben stattdessen als (eine besondere Form des) Essayismus zu beschreiben. Dass der Essay für Arendt eine wichtige Form darstellt, macht schon ein oberflächlicher Blick auf ihr Œuvre deutlich. Wie Adorno auch hat sie sich zeit ihres Schaffens einigermaßen »gegen die akademische ›Disziplinierung‹ gesträubt« (Söllner 2018b: 204). Nach ihrer Ankunft in den USA – ich habe das im ersten Kapitel bereits thematisiert – arbeitete Arendt zunächst als freie Publizistin. Ihre ersten Essays erschienen in jüdischen Emigrantenzeitschriften wie Aufbau oder dem Menorah Journal. Ihr Weg führte von da aus zügig zu namhafteren Zeitschriften mit größerer Leserschaft wie Partisan Review oder Commentary; später sollte sie gar zu einer Art »Hausautorin des New Yorker« (ebd.: 209) aufsteigen. Arendt hat sich des Verfahrens des Essays aber nicht nur zum Broterwerb bedient. Auch als etablierte Professorin sollte sie diese Schreibpraxis bevorzugen. Die meisten ihrer heute erhältlichen Bücher wie Die verborgene Tradition, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, In der Gegenwart oder Menschen in finsteren Zeiten sind Essaysammlungen, die ihre Entstehung »bestimmten Anlässen oder Gelegenheiten« (Arendt 2012a [1968]: 7) verdanken. Selbst Arendts (aus den falschen Gründen) wohl bekanntestes Werk, Eichmann in Jerusalem, war zuerst gar nicht als Buch, sondern als Abfolge von fünf langen Artikeln im New Yorker erschienen (Arendt 2010 [1963]: 49). Viele dieser Essays wurden zudem ursprünglich als Interventionen im engeren Sinn verfasst. Arendt verfolgte ein »politiktheoretisches Problemdenken« (Straßenberger 2020: 13), das heißt, sie ging zumeist von konkreten politischen Ereignissen aus, kommentierte diese und griff in ihre Deutung ein.132 Das gilt für einen Text wie 200 Jahre Amerikanische Revolution, in dem sie mit der Nixon-Administration ins Gericht geht, ebenso wie für den als direkte Reaktion auf die Pentagon-Papiere geschriebenen Aufsatz Die Lüge in der Politik. Einer ihrer heute bekanntesten Texte, Macht und Gewalt, geht auf Arendts Auseinandersetzung mit den international aufkommenden Studierendenbewegungen der 1960er Jahre zurück. Und selbst Arendts größter Irrtum, ihr Kommentar zu Little Rock, kann, wenn man ihm überhaupt etwas abgewinnen möchte, sinnvoll nur als Beispiel für »eine 132 In Der Essay als Form hat Adorno ein solches Vorgehen – »[d]ie Beziehung auf Erfahrung« (Adorno 2003a [1958]: 18) – als ein Kernkriterium des Essays definiert.



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Haltung der Kritik und des freien Urteilens« (Weißpflug 2013: 66) verstanden werden. Nun hat Arendt bekanntlich aber nicht nur kleine eingreifende Texte – Essays im engeren Sinne – geschrieben, sondern auch umfangreichere und grundsätzliche Auseinandersetzungen mit eher theoretischen und philosophischen Themen. Bücher wie die Vita activa oder Über die Revolution treten durchaus mit einem gleich noch näher zu qualifizierenden systematischen Anspruch auf (Arendt 2016 [1958]: 13 f.). Man macht es sich jedenfalls zu leicht, wenn man das einfach mit dem Hinweis abtut, dass auch ihre größeren Traktate »über weite Strecken aus ›kleinen Stücken‹ zusammengebaut [waren], die vorher bereits als Essays und Aufsätze publiziert worden waren.« (Söllner 2018b: 211; ähnlich auch Hyvönen 2014: 575) Wenn ich vorschlage, Arendts Methode als essayistisches Denken zu beschreiben, dann meine ich daher nicht nur die Tatsache, dass Arendt de facto viele Essays geschrieben hat, sondern möchte damit vielmehr eine allgemeinere Denkhaltung charakterisieren. Eine Denkhaltung, die sich auch in denjenigen ihrer Texte findet, die nicht im engeren Sinne der literarischen Form Essays sind.133 Ein Charakteristikum dieser essayistischen Denkhaltung ist es, dass Arendts Texte auch da, wo sie nicht direkt tagespolitische Ereignisse kommentieren, als Eingriffe konzipiert sind. Anders als ein Text wie Die Lüge in der Politik, der als direkte Reaktion auf die Veröffentlichung der Pentagon Papers geschrieben wurde, sind die Eingriffe, die in und durch Bücher wie Vita activa und Über die Revolution vorgenommen werden, jedoch indirekter angelegt. Es handelt sich um grundsätzlichere »Neuerzählung[en] des Politischen« (Straßenberger 2020: 14). Wenn Arendt das Vorhaben der Vita activa als »eine Art Besinnung« (Arendt 2016 [1958]: 13) beschreibt – eine Besinnung darauf, »was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind« (ebd.: 14) und was es heißen könnte, wieder im Sinne der alten Griechen politisch zu handeln –, dann verweist sie damit auf diesen grundsätzlich-interventionistischen Charakter. Vergleichbar damit hat Arendt mit ihrer Arbeit Über die Revolu­ tion »keine ordentliche historische Abhandlung der Revolutionen verfasst« (Knott 2017: 57), sondern den Versuch unternommen, den »verlorene[n] Schatz der Revolutionen« (Arendt 2012 [1961]: 9) zu bergen. Hier wie dort 133 Die These, dass Arendts Vorgehen am besten als eine spezifische »Denkhaltung« beschrieben ist, übernehme ich von Maike Weißpflug (2019). Ari-Elmeri Hyvönen (2014) hat einmal in sehr ähnlicher Manier zu meinem hier unterbreiteten Vorschlag von Arendts »essayistic ethos« gesprochen. Variationen dieser These finden sich auch bei Ágnes Heller (2017) und Maria Robaszkiewicz (2017).

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geht es darum, an Begriffe und Ideen – an »verschüttete kollektive Vorstellungen« (Knott 2017: 57) vom politischen Handeln – zu erinnern, in der Hoffnung, diese neu zu beleben. Für diese Neuerzählungen bedient sich Arendt dann einer ganzen Reihe philosophischer und literarischer Quellen134 und sie fügt sie, insofern tatsächlich Benjaminsche Zitatmonteurin, in ungewöhnlichen Konstellationen zusammen. Diese Arrangements stehen nicht selten – wie schon ihre vorangegangenen Interpretationen der betreffenden Autor_innen im Einzelnen – in einem Spannungsverhältnis zur ideengeschichtlichen Überlieferung.135 In diesem Sinne ist es dann auch berechtigt, das, was sie tut, als »Perlentauchen« zu beschreiben, weil sie der philosophischen (und literarischen) Ideengeschichte entnimmt, »was ich kann und was mir paßt« (Arendt 2013 [1974]: 124), wie Arendt es selbstbewusst formuliert.136 Aber sie tut das nicht als Historikerin, die »die wirklichen Ursprünge der traditionellen Begriffe« 134 Bei aller rechtmäßigen Betonung von Arendts narrativem Vorgehen (vgl. Benhabib 2006; Disch 1993; Straßenberger 2005) sollte nicht in den Hintergrund geraten, dass das Gerüst ihrer Darstellung meistens eine durchaus ernstzunehmende Auseinandersetzung mit der philosophischen Ideengeschichte darstellt. Ihr Denken ist trotz allem »durch und durch begrifflicher Natur« (König 2008: 617). Allerdings sind die Geländer, derer Arendt sich trotz allem bedient (Forst 2011: 196), nicht auf philosophische Quellen beschränkt. Sie stützt sich immer auch auf eine Vielzahl literarischer Quellen. Dass Arendt eine Vorliebe für dichterisches Denken (vgl. Heuer und von der Lühe 2007) hatte und in ihrem Werk oft Bezüge zu Romanen und Erzählungen, aber auch zu Gedichten und Theaterstücken auftauchen, ist in der Literatur mittlerweile gut herausgestellt worden. Maike Weißpflug zeigt zudem, dass literarische Werke für Arendt »nicht einfach nur illustrierende Beispiele für politische Analysen und theoretische Überlegungen« sind, sondern »selbst eine Quelle politischer Einsicht und Erkenntnis.« (Weißpflug 2019: 16) 135 »Ungewöhnlich ist indes nicht allein die Auswahl der Referenzautoren, sondern auch die Art und Weise, wie Arendt sie miteinander ins Gespräch bringt. So werden etwa der Begründer der abendländischen Politikwissenschaft Aristoteles, der umstrittene Florentiner Fürstenberater Niccolò Machiavelli und der französische Sozialwissenschaftler Alexis de Tocqueville zu ideengeschichtlichen Referenzen für ein um Freiheit zentriertes politisches Handlungskonzept, während Sören Kierkegaard, Karl Marx und Friedrich Nietzsche als ›Wegweiser zu einer Vergangenheit‹ vorgestellt werden, ›die ihre Autorität verloren hat‹.« (Straßenberger 2020: 12; Hervorh. T. A.) 136 Arendt geht, wie oben beschrieben, davon aus, dass der Traditionsbruch dieses Vorgehen gerade ermöglicht und erlaubt. Die ganze Stelle lautet: »Ich bediene mich, wo ich kann. Ich nehme, was ich kann und was mir paßt. Das soll heißen, daß ich nicht länger glaube, daß wir … Ich denke, einer der großen Vorteile unserer Zeit ist wirklich, was René Char, wie Sie wissen, gesagt hat: ›Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.‹ Das heißt, es steht uns vollkommen frei, uns aus den Töpfen der Erfahrungen und Gedanken unserer Vergangenheit zu bedienen.« (Arendt 2013 [1974]: 124 f.)



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(Arendt 2012 [1961]: 18) herausstellen möchte, sondern es geht ihr um eine »Kritik dominanter Wahrnehmungskategorien des Politischen« (Straßenberger 2020: 54) in der Gegenwart und für die Gegenwart. Diese Kritik tritt zudem mit einem negativistischen Anspruch auf. Denn Arendt scheint es vor allem ein Anliegen zu sein, dass wir ein Stück weit »[v]erlernen« (vgl. Knott 2017), wie wir bisher über Politik nachgedacht haben. Wie »aus den Sackgassen der bestehenden und überlieferten Vorstellungen von Welt und Mensch« (ebd.: 8) dann herauszugelangen sei, wird dabei aber keinesfalls vorgezeichnet. Auf »Fragen, Sorgen und Probleme […] der praktischen Politik« will sie in ihren Schriften ausdrücklich keine Antworten geben. Ja mehr noch: Solche Fragen »dürfen keine Sache theoretischer Erwägungen eines Einzelnen sein […], als hätten wir es hier überhaupt mit Dingen zu tun, für die es nur eine mögliche Lösung gäbe.« (Arendt 2016 [1958]: 13) Arendt vertritt also zwar ein interventionistisches Theorieverständnis, dabei herrscht allerdings ein »Primat der Kritik« (Söllner 2018b: 207). Wir werden in diesem – wenn man so will: zurückhaltenden137 – Theorieverständnis später eine Nähe zu 137 Offen bleibt dabei die Frage, wie zurückhaltend dieses Primat der Kritik zu verstehen ist. Während der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto definiert Arendt das Verhältnis von Theorie und Praxis in einem regelrecht adornitischen Gestus als ein indirektes: »Sie wissen«, entgegnet sie MacPherson, »daß bei all den modernen Philosophen irgendwo in ihrem Werk ein ziemlich apologetischer Satz steht, der lautet: Denken ist auch Handeln. Oh nein, das ist es eben nicht! Dies zu behaupten ist ziemlich unehrlich. Ich meine, wir sollten den Tatsachen ins Gesicht sehen: Es ist nicht dasselbe! Im Gegenteil. Ich muß weitgehend aufs Teilnehmen, auf das Eingehen von Verpflichtungen verzichten.« (Arendt 2013 [1972]: 76) Im nächsten Satz überbietet sie dann sogar noch Adornos Pessimismus bezüglich der praktischen Einflussmöglichkeiten der Theoretiker_innen: Zwar glaubt Arendt, »daß das Denken einen Einfluß auf das Handeln hat – auf den handelnden Menschen, weil es dasselbe Ich ist, das denkt und handelt. Aber nicht die Theorie.« (Ebd.) Die Theorie könne das Handeln, wenn überhaupt, »nur durch Veränderung des Bewußtseins beeinflußen.« (Ebd.: 76 f.) Das aber hält Arendt gar nicht für möglich: »Haben Sie jemals über die Zahl der Menschen nachgedacht, deren Bewußtsein Sie zu ändern haben werden?« (Ebd.: 77) Ihren eigenen Anspruch beim Theoretisieren beschreibt sie als viel bescheidener: »Ich will verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist, nicht wahr, Teil in dem Verstehensprozeß.« (Arendt 2013 [1964]: 48) Höchstens gesteht sie noch zu: »[W]enn andere Menschen verstehen – im selben Sinne, wie ich verstanden habe«, dann gäbe ihr das »eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.« (Ebd.: 49) Diese Differenz scheint mir allerdings überdeterminiert: Wenn andere verstehen, wie Arendt verstanden hat – im Sinne von: die Dinge in einem neuen Licht sehen durch die Verwendung der von ihr vorgeschlagenen Begrifflichkeiten –, was ist das dann anderes als eine Bewusstseinsänderung bei ihren Leser_innen? Auch, dass Arendt ihre Texte nicht einfach übersetzt, sondern stets für das entsprechende Zielpublikum angepasst hat, lässt Zweifel an ihrer Behauptung aufkommen, sie sei beim Schreiben »an Wirkung nicht interessiert« (ebd.: 48).

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Adorno erkennen. Bevor ich mich dem Verhältnis von Theorie und Praxis im zweiten Teil des Buches ausführlicher zuwende, möchte ich im nächsten Schritt zunächst den Vorschlag plausibel machen, dass sich auch Adornos Vorgehen als Essayismus beschreiben lässt. Schon am Ende der in den beiden vorherigen Abschnitten besprochenen Antrittsvorlesung erklärt Adorno den Essay zu der Form, die der Benjaminschen Konstellation angemessen ist. Er schließt den Text mit einer Art Selbsteinschränkung: Er sei sich durchaus bewusst, dass sich das Programm, das er vorgeschlagen hat, »gerade als Programm, in Vollständigkeit und Allgemeinheit« (Adorno 2003 [1931]: 339), nicht durchführen lasse. Was ihn dennoch »erstmals zur Formulierung einer Theorie brachte«, nach der er »bislang lediglich in der Praxis der philosophischen Interpretation verfuhr« (ebd.: 342), war ein Einwand, den Adorno von »Repräsentanten der Fundamentalontologie« (ebd.) erhalten haben will. Man habe ihm vorgeworfen, er verleihe »aus blinder Angst vor der Macht der Geschichte, […] der geschichtlichen Faktizität oder deren Anordnung die Macht, die eigentlich den Invarianten, den ontologischen Grundstücken gebühre, treibe Götzendienst mit dem geschichtlich produzierten Sein, bringe die Philosophie um jeden konstanten Maßstab, verflüchtige sie in ein ästhetisches Bilderspiel und verwandle die prima philosophia in philosophischen Essayismus.« (Ebd.: 342 f.) Diesen Einwänden entgegnet Adorno selbstbewusst, dass er »das meiste, was sie inhaltlich besagen, anerkenne«, nur eben das Kritisierte gerade »als philosophisch legitim vertrete.« (Ebd.: 343) Den »Vorwurf des Essayismus« nehme er daher »gerne in Kauf.« (Ebd.) Denn der Essay erscheint Adorno für die vom ihm gesuchte Philosophie des Experimentierens mit der »Gewalt der frisch erschlossenen Wirklichkeit« (ebd.) als die geeignetste Form. »Wenn mit dem Zerfall aller Sicherheit in der großen Philosophie dort der Versuch seinen Einzug nimmt«, dann sei diese Entwicklung zu begrüßen: »Denn wohl vermag der Geist es nicht, die Totalität des Wirklichen zu erzeugen oder zu begreifen; aber er vermag es, im kleinen einzudringen, im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen.« (Ebd.: 344) 27 Jahre nach der Formulierung dieses Programms ist Adorno dann noch einmal ausdrücklich für die Schreibweise des Essays eingetreten. In seinem als Eröffnung der Noten zur Literatur publizierten Text Der Essay als Form (Adorno 2003a [1958]: 9–33) spricht er dem Essay noch einmal genau jene



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Eigenschaften zu, die er in seiner Antrittsvorlesung für eine Philosophie nach dem Ende des Systemdenkens gefordert hatte. Denn »als Methode«, so Adorno, »zieht der Essay, der Idee nach, die volle Konsequenz aus der Kritik am System.« (Ebd.: 16) Neben dem »Akzentuieren des Partiellen gegenüber der Totale[n]« (ebd.: 17) und der »Beziehung auf Erfahrung« (ebd.: 18) ist es vor allem die Verweigerung gegenüber Systematik und Methode traditio­ neller Philosophie, die Adorno dem Essay zugutehält: »Der Essay pariert nicht der Spielregel organisierter Wissenschaft und Theorie, […] zielt nicht auf geschlossenen, deduktiven oder induktiven Aufbau.« (Ebd.) Stattdessen verfährt er, wie es in der wohl am häufigsten zitierten Sentenz aus diesem Text heißt, »methodisch unmethodisch.« (Ebd.: 21) Das macht den Essay für Adorno zur »kritische[n] Form par excellence« (ebd.: 27). Tatsächlich dominiert der Essay als Form dann auch bei Adorno die eigene Publikationspraxis. Wie Arendt hat auch er den Großteil der mittlerweile in den Gesammelten Schriften abgedruckten Texte nicht, wie das heute im akademischen Betrieb üblich ist, direkt für Sammelbände oder peer-reviewed Journals geschrieben. Die meisten dieser Texte sind vielmehr zuerst als Eingriffe oder Stichworte, wie einer der Bände immer noch im Untertitel heißt, in aktuelle gesellschaftliche Debatten in Zeitungen, Zeitschriften oder als Radiobeiträge konzipiert worden – also als Essays im strengen Sinne. Dennoch ist auch bei Adorno auf den ersten Blick ersichtlich, dass er »nicht nur Essays verfasst und in vielen seiner Schriften dem Drang zur Totalität nachgegeben hat« (Benhabib 2011: 663  f.). Auch sein Denken scheint letzten Endes »stärker traditionellen Darstellungsweisen verhaftet als behauptet« (Wellmer 1985: 85). Anders gewendet: Auch bei Adorno gibt es zunächst eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem an Benjamin geschulten methodischen Ideal sowie dem damit verbundenen Eintreten für »kleine Formen« (vgl. Lehr 2003) und der Tatsache, dass er sein – noch dazu methodologisches – Hauptwerk Negative Dialektik scherzhaft, jedoch keinesfalls zu Unrecht, als »dickes Kind« (zit. nach Müller-Doohm 2011: 661) bezeichnen konnte. Mit der nicht mehr vollendeten Ästhetischen Theorie war mindestens ein weiteres »dickes Kind« unterwegs. Auch hier wäre es zu kurz gegriffen, einfach zu konstatieren, es handle sich bei diesen »doch in Wirklichkeit [um] Essays oder Essay-Montagen« (Wiggershaus 2012: 33; ähnlich Scholze 2000: 302). Denn der Umfang ist nicht das einzige Kriterium für eine Revision des methodischen Selbstverständnisses: So ist beiden Büchern doch auch eine gewisse systematische Strenge nicht einfach abzusprechen. Auch spielt sich Adornos Denken, anders als er es Walter Benjamin zuge-

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sprochen hatte, weiterhin »im Bereich der Begriffe« (Adorno 2003b [1965]: 177) ab. In der Negativen Dialektik findet sich gar ein regelrechtes Plädoyer für begriffliche Strenge. Wenn ich hier dennoch an meinem Vorschlag festhalten möchte, sein Denken als essayistisch zu charakterisieren, dann also auch hier nicht (nur) im Sinne eines sturen Festhaltens am Genre, sondern im Sinne einer allgemeineren, wie Adorno es selbst formuliert hat, »Verfahrensweise des Denkens« (Adorno 2003a [1958]: 17). Diese Verfahrensweise des Denkens unterscheidet sich dann doch recht stark von Arendts essayistischer Denkhaltung. Zwar ist auch Adornos Vorgehen experimentell und (schon deswegen) tentativ. Jedoch ist sein Essayismus etwas zurückhaltender. Das ist weniger eine Frage des persönlichen Temperaments, sondern hat mit dem methodischen Ideal selbst zu tun, das Adorno vorschwebt. Während Arendts politische Eingriffe durchaus etwas Angriffslustiges an sich haben und auch den Irrtum nicht scheuen (vgl. Weißpflug 2013), vertritt Adorno einen vorsichtigeren Essayismus, der »seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert« (Adorno 2003a [1958]: 25). Ich habe es im vorangegangenen Abschnitt bereits angedeutet: Auch wenn klassische Begriffsarbeit, wie die Philosophie sie bis dahin betrieben hatte, für Adorno – und darauf zielte seine oben rekonstruierte Kritik aus der Antrittsvorlesung (3.1) – unfähig (geworden) war, die uns umgebende Welt angemessen zu erfassen, fordert er keine Abkehr vom begrifflichen Denken. Vielmehr schwebt ihm eine neue Art des Umgangs mit Begriffen vor. Ändern soll sich, wie wir uns den zu erfassenden Gegenständen mit Begriffen annähern. In seinen späteren Aufsätzen und in der Negativen Dialektik wird Adorno in diesem Zusammenhang vom »Vorrang des Objekts« (Adorno 2003c [1966]: 185 ff.) sprechen. Wobei »Objekt« bei Adorno zunächst einmal nur den Ausschnitt aus der Welt bezeichnet, auf den wir uns in einem bestimmten Moment gerade beziehen. Was das in einem konkreten Falls ist, variiert je nach (erkenntnistheoretischer) Situation. »Objekt« ist bei Adorno immer der vom Subjekt gerade betrachtete Gegenstand. Dabei kann es sich tatsächlich um einen Gegenstand im engeren Sinne handeln, aber (zumindest für den Moment der Betrachtung) zum Beispiel auch um ein anderes Subjekt. Auch – und das ist es, was Adorno selbst am meisten interessiert – ein anderer Begriff kann das »Objekt« der Betrachtung sein.138 Adornos Argument 138 »Anders als fast die gesamte philosophische Tradition macht er keinen erheblichen Unterschied zwischen der Behandlung der belebten und der unbelebten Welt. Das Verhältnis von Subjekt zu Objekt und das von Subjekt zu Subjekt fallen zusammen. Die Rücksicht auf die Individualität von Objekten der Natur oder des alltäglichen Gebrauchs und dieje-



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erinnert hier an Nietzsches frühe Sprachkritik: Jedes Mal, wenn wir einen (notwendig allgemeinen) Begriff an ein Objekt der Betrachtung anlegen (etwa den Begriff »Baum« auf einen real existierenden Baum im Wald beziehen), schließen wir damit eine Vielzahl an Eigenheiten des gerade betrachteten konkreten Baums aus – Adorno spricht hier vom »Einzelnen und Besonderen« (ebd.: 20) oder in seiner charakteristischen Formulierung vom »Nichtidentischen« (ebd.: 24). Da Erkenntnis für Adorno aber auch nicht ohne Begriffe zu haben ist, insofern alles Denken für ihn begriffliches Denken ist, schwebt ihm stattdessen eine Art »Selbstkritik des Begriffs« (ebd.: 139) vor. Es gelte, wie es in einer pointiert-programmatischen Formulierung heißt, »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.« (Ebd.: 27) Adornos »Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen abzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« (Ebd.: 21) Genau das kann für Adorno die Benjaminsche Idee der Konstellation leisten. In durchaus gewollter Anspielung auf die astronomischen Wurzeln des Begriffs soll das betrachtete Objekt in immer neuen Anläufen von verschiedenen Begriffen umkreist werden: Durch dieses konstellative Umkreisen soll der Gegenstand aufgeschlossen werden, »hoffend, daß er aufspringe etwa wie Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer, sondern eine Nummernkombination.« (Ebd.: 166) Das Spielerische dieser Bewegung möchte Adorno jedoch mit begrifflicher Strenge kombiniert wissen. Die Begriffe, mit denen ein Objekt umkreist wird, sollen daher (in den eben beschriebenen Grenzen die dem gesetzt sind) so präzise wie möglich sein. »Ausdruck und Stringenz« (ebd.: 29) lauten Ador­nos (von Kant übernommene) methodologische Schlagworte hier. Deswegen liegt auch seinen spielerischsten Essays immer eine präzise Begriffsarbeit zugrunde. Das Spielerische seiner Texte kommt dann wiederum durch das wiederholte Umkreisen des Gegenstandes mit verschiedenen (gleichwohl präzise verwendeten) Begriffen auf verschiedenen »Umlaufbahnen« zustande. Genau wie die astronomische Konstellation stellt sich Adorno seine Versuchsanordnungen – zuweilen spricht er auch von »Denkmodellen« oder »Modellanalysen« (ebd.: 39) – nicht als perfekte Kreise, sondern als Ellipsen vor, in denen die Begriffe ihren Gegenstand auf verschiedenen Umlaufbahnen mal näher und mal ferner und aus verschiedenen Winkeln umkreisen.

nige für andere Subjekte sind für Adorno nur zwei Seiten einer Medaille.« (Seel 2004: 25)

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Vieles, was heutigen Leser_innen an der Form von Adorno-Texten so seltsam vorkommt, erklärt sich aus diesem Vorgehen: Deswegen fehlen in fast ausnahmslos allen seinen Texten einleitende Strukturangaben. Deswegen gibt es auch in seinen systematischeren Büchern wie der Negativen Dialektik »keine Herleitung einer These, nicht deren schrittweise Exposition und Begründung«, deswegen scheint dort »jede aufsteigende Linie einer Argumentation zu fehlen« (Honneth 2016c: 93). Stattdessen präsentiert sich der Text »als ein kunstvoll gewirktes Netz aus einigen wenigen, ständig variierenden Gedankenmotiven« (ebd.), das manchmal eher an Prosa denn an einen wissenschaftlichen Text erinnert: »[D]ie Sätze wiederholen ständig nur dieselben paar Grundgedanken, variieren sie um immer neue Nuancen, ohne eine These zu begründen oder ein Argument voranzutreiben.« (Ebd.) Die Negative Dialektik ist nicht nur das Buch, in dem diese Methode am ausführlichsten erläutert wird, sondern stellt auch die wahrscheinlich gelungenste Umsetzung dieses Verfahrens dar.139 Das Objekt sind dort philosophische Begriffe und Ideen, die in immer neuen Anläufen tastend von anderen Begriffen umkreist werden. Der Umfang des Buches ergibt sich dann aus der Aneinanderreihung derartiger Denkkonstellationen. Das Buch ist, wie Adorno in der Einleitung schreibt, »ein Ensemble von Modellanalysen.« (Adorno 2003c [1966]: 39) Deren Aneinanderreihung ist aber auch nicht nur dem Umfang des betrachteten Gegenstandes geschuldet. Vielmehr werden die einzelnen Modellanalysen von Adorno – auch hierin der astronomischen Metapher treu – selbst wieder in ein konstellatives Verhältnis zueinander gesetzt. Mit dieser Idee, »Verbindlichkeit ohne System« (ebd.) herzustellen, hatte Adorno auch schon in Der Essay als Form gespielt. Über den Essay schreibt er darin: »Er korrigiert das Zufällige und Vereinzelte seiner Einsichten, indem sie, sei es in seinem eigenen Fortgang, sei es im mosaikhaften Verhältnis zu anderen Essays, sich vervielfachen, bestätigen, einschränken« (Adorno 2003a [1958]: 25). Hierin zeigt sich dann doch noch eine weitere Gemeinsamkeit mit Arendt: Obwohl sich beider Essayismus im Detail stark unterscheidet, praktizieren beide ein »unsystematic systembuilding« (Canovan 1992: 5).

139 Wenn wir Axel Honneths Interpretation folgen, dann stellt die »Einleitung« des Buches den einzigen tatsächlich gelungenen Versuch der Durchführung dieser Methode dar (vgl. Honneth 2016c).



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3.4 Theorie als Ethos Arendts und Adornos Bemühungen um neue Arten des Denkens und Schreibens sind nicht nur als Arbeitsanweisungen an Philosoph_innen zu verstehen. Hinter beider Projekten stehen – hierin ganz den Charakteristika des Essays verpflichtet – auch umfassendere Vorschläge für neue Weltverhältnisse. Arendt will den hergebrachten Vorstellungen von Politik, »deren überlieferter Sinn und deren tradierte Bedeutung am Denken hindern« (Knott 2017: 9), nicht einfach ein neues Begriffsgerüst gegenüberstellen. Stattdessen geht es ihr darum, wie sie es im Anschluss an Sokrates formuliert, wieder »Wind« ins Denken zu bringen (Arendt 2012 [1971]: 142 f.). Schon aus diesem Grund – ich hatte das oben bereits angedeutet – sind ihren Schriften auch keine direkten Handlungsanweisungen zu entnehmen. Denn dass Arendts politische Theorie, wie es ein eingespieltes Lamento der Rezeption manchmal beklagt, keinerlei Blaupausen für politische Institutionen enthält (und sich auch darüber hinaus mit konkreten Vorschlägen zurückhält), ist alles andere als ein Zufall. Im Vorwort zum Band Zwischen Vergangenheit und Zukunft, das oft als eines ihrer wenigen methodologischen Selbstzeugnisse angesehen wird, beschreibt Arendt ihre Texte ausdrücklich als »Übungen im politischen Denken« (Arendt 2012 [1961]: 18).140 Zu diesem Zweck enthalten sie, so Arendt, »Kritisches ebenso wie Experimentelles«, aber sie versuchen niemals, »eine Art von utopischer Zukunft zu entwerfen« und machen »keine Vorschriften darüber, was gedacht werden soll oder welche Wahrheiten hochzuhalten wären« (ebd.). Sie sollen lediglich helfen, »Erfahrungen darin zu erwerben, wie man denkt.« (Ebd.) Arendts essayistischer Schreibstil liegt nicht zuletzt in diesem Anspruch begründet. Denn es scheint ihr, wie sie schreibt, »daß der Essay als literarische Form eine natürliche Nähe zu den mir vorschwebenden Übungen hat.«141 (Ebd.: 18 f.) Im Einklang mit dieser Selbstauskunft setzt sich in der jüngeren ArendtForschung zunehmend die Ansicht durch, dass Arendts theoriepolitisches Projekt am besten als Einübung einer »spezifische[n] Denkhaltung« zu beschreiben sei; als »Versuch, im Denken eine bestimmte Haltung zur Welt 140 Für eine ausführliche Interpretation, die diesen Anspruch ernst nimmt, vgl. Robaszkiewicz (2017). 141 Arendt nimmt hier die Etymologie des Begriffs »Essay« ernst: »Arendt understood political theory as a set of experience-based exercises – essays in the classical sense of the term« (Hyvönen 2014: 570).

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einzunehmen« (Weißpflug 2019: 10; vgl. auch Hyvönen 2014; Knott 2017; Robaszkiewicz 2017), eine Haltung, die Arendt mit und in ihrer Denk- und Schreibpraxis vorgelebt hat. Arendt geht es nicht darum, ihren Leser_innen eine »rationale, systematische Theorie der Politik« (Weißpflug 2019: 15) vorzulegen, wie das zum Beispiel Jürgen Habermas getan hat, sondern sie spricht lediglich eine Einladung aus; »eine Einladung, im Nachdenken über Politik eine andere Haltung einzunehmen.« (Ebd.) Wofür diese Einladung genau wirbt, darauf komme ich im gleich folgenden zweiten Teil dieses Buches genauer zu sprechen. Noch direkter lässt sich die von Adorno geforderte Neuausrichtung des philosophischen Denkens auch als Werben für ein neues Weltverhältnis lesen. Denn auch sein Essayismus will mehr sein als philosophische Methodologie. Vielmehr steht die konstellative Annäherung ans Objekt bei ihm auch Modell für eine über die Praxis des Denkens hinausgehende »Verhaltensweise« (Adorno 2003a [1964]: 602). Das anzuerkennen hilft, um auch manche der etwas skurrileren Stellen aus den Minima Moralia besser zu verstehen. Wenn Adorno beispielsweise beklagt, es würde »verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen« (Adorno 2003d [1951]: 44), dann steht dahinter die Vorstellung eines Weltverhältnisses, das »Konzentration« (Adorno 2003a [1964]: 602), »Präzision« (Adorno 2003c [1966]: 62) und Entschlossenheit mit »Zögern«, »Bedacht« (Adorno 2003d [1951]: 43) und »Geduld« (Adorno 2003a [1964]: 602) kombiniert. Martin Seel (2004: 40) sieht hierin sogar das Potential, um mit Adorno über eine »alternative Ethik« nachzudenken. Demnach wird ausgehend von Adorno »kontemplative[s] Verhalten« (ebd.: 35) zu einer Art »Grundmodell richtiger Praxis« (ebd.: 37); Adorno in der Folge zum Vertreter einer »kontemplative[n] Ethik« (ebd.: 29). Das ist keine Ethik im engeren Sinn. Sie zielt weder auf Verpflichtungen oder Zwänge irgendwelcher Art, wie das zum Beispiel deontologische Ethiken tun, noch ist sie wie konsequentialistische Ansätze am Ergebnis von Handlungen interessiert.142 Eine solche von Adorno inspirierte Ethik wird nicht vom Ende her gedacht, sondern vom Ausgang: Sie fordert eine Ausgangsposition, die bei der »Intensität der Aufmerksamkeit« (ebd.: 41) beginnt. Demnach, so Seel, geht es Adorno nicht nur im Denken um »vorbehaltlos[e] Aufgeschlossenheit«, in der »eine Er142 Vgl. dazu auch Adornos eigenen Durchgang durch diese Positionen in seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie (Adorno 2010 [1963]).



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kenntnis des Besonderen möglich [wird], die zugleich eine Achtung vor ihm mit einschließt« (ebd.: 34). Vielmehr schwebe ihm auch darüber hinaus eine neue Form der »ungeteilten Weltzuwendung« (ebd.: 33) vor.143 Wenn wir Seels Interpretation folgen, dann wird auch für Adorno die eigene Denkund Schreibpraxis also zugleich zum Vorbild für eine neue Haltung zur Welt. Das Weltverhältnis, das ihm vorschwebt, ist jedoch nicht das der bewussten Paria, sondern das der denkenden Philosoph_innen. Und spätestens an dieser Stelle stößt die parallele Lesart Arendts und Adornos dann auch an ihre Grenzen. Im nun folgenden zweiten Teil des Buches will ich daher statt auf die Gemeinsamkeiten einen Blick auf die verbleibenden Differenzen zwischen beider Denken werfen. Das vorliegende Kapitel über Arendts und Adornos philosophische Herangehensweisen dient dabei zugleich als Sprungbrett. Wer die Arbeiten von Arendt und/oder Ador­ no aufgreift, so hoffe ich gezeigt zu haben, arbeitet mit Theoretiker_innen, deren Denken ständig in Bewegung geblieben ist. Sich auf sie zu berufen kann daher nur heißen, sie weiterzudenken (Meyer 2016: 59). Im zweiten Teil dieses Buches versuche ich genau dies zu tun. Dabei bediene ich mich in einem gewissen Sinn selbst der von Benjamin inspirierten Methode der Montage, denn ich werde versuchen, beide Perspektiven zu kombinieren. Es ist meine These, dass die Werke von Arendt und Adorno, wenn sie in Verbindung gebracht werden, zu mehr in der Lage sind, als sich »gegenseitig [zu] illuminieren« (Arendt 2012b [1968]: 254). Vielmehr sollen sie, wie sich mit einem aus Adornos Antrittsvorlesung stammenden Zitat sagen ließe, »so lange in verschiedene Anordnungen gebracht werden, bis sie zur Figur zusammenschießen« (Adorno 2003 [1931]: 335). Auch mein Vorschlag ist dabei eine Einladung an die Leser_innen: Eine Einladung, Arendts politisches Denken mit Adornos kritischer Gesellschaftstheorie zusammenzudenken.

143 So gehört Adorno laut Seel »mit Nietzsche und Heidegger zu denjenigen Autoren, die nur darum keine Ethik geschrieben haben, weil ihr Werk durchweg eine Ethik ist.« (Seel 2004: 29)

II. Konturen einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno

In ihrem Aufsatz Tradition und die Neuzeit hat sich Arendt mit Karl Marx’ Versuch beschäftigt, eine angemessene Antwort auf den Traditionsbruch zu formulieren (vgl. 3.1). Dass dieser Antwortversuch schließlich in einem Werk voller »Unstimmigkeiten« und »Widersprüche« (Arendt 2012 [1954]: 33) mündete, sei Marx daher auch gar nicht anzulasten. Vielmehr glaubt Arendt ohnehin, dass nur die »zweitrangigen Schriftsteller« glatte Werke hinterlassen hätten: »Bei den großen Autoren führen [Widersprüche] meist in den eigentlichen Mittelpunkt ihres Werkes und bilden den wichtigsten Schlüssel für ein echtes Verständnis ihrer Probleme und ihrer neuen Einsichten.« (Ebd.) Nicht nur bei Marx, sondern auch bei vielen »anderen großen Autoren« verberge sich hinter »einer scheinbar nur provozierenden, mit Paradoxen spielenden Tonart« oftmals die »echte Aporie« (ebd.), mit neuen Phänomenen fertig werden zu müssen, für die die Tradition des Denkens keine Begriffe mehr zur Verfügung stellt.144 Diese Bemerkungen, die Arendt in Bezug auf Marx tätigt, ließen sich ohne weiteres auch auf Arendt selbst und auf Adorno übertragen. Durch die Erfahrung totaler Herrschaft sind auch sie beide – das habe ich im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt – mit einem neuen Phänomen konfrontiert, für dessen Verständnis die Begrifflichkeiten zu dieser Zeit noch nicht zur Verfügung standen. Auch ihre Werke enthalten mindestens Vereinseitigungen, wenn nicht gar Aporien. Und auch bei Arendt und Adorno lässt sich über diese nicht einfach hinwegsehen, sondern sie führen, wie Arendt es für Marx diagnostiziert hat, ins Zentrum ihrer Schriften. Diese Vereinseitigungen und Aporien sind Thema des zweiten Teils dieser Studie. 144 In Menschen in finsteren Zeiten äußert Arendt sich ganz ähnlich über Lessing, dem sie anrechnet, dass ihm die »Parteinahme für die Welt« mehr gegolten habe, als »die Widerspruchslosigkeit mit sich selbst« (Arendt 2012 [1959]: 17). Mit der Idee, dass Widersprüche in der Theorie oftmals auf Widersprüche in der Realität verweisen, steht sie Grundannahmen dialektischer Theoriebildung nahe, wie sie auch von Adorno vertreten werden.

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Bis zu diesem Punkt habe ich mich auf das konzentriert, was ich die rekonstruktive oder theoriegeschichtliche These genannt habe: Ich habe versucht zu zeigen, dass sich das Denken Arendts und Adornos in vielerlei Hinsicht ähnlicher ist, als es von Leser_innen zumeist angenommen wird. Die beiden Autor_innen, die aus ganz unterschiedlichen Theorietraditionen kommen, haben nicht nur ähnliche zeitgeschichtliche Erfahrungen gemacht – das teilen sie mit vielen anderen ihrer Generation –, sondern haben auf diese auch ähnlich reagiert. Das heißt konkret, sie haben bei ihren Verstehensversuchen vergleichbare Fragen gestellt und sind trotz ihrer ganz unterschiedlichen theo­retischen Prägung oft zu erstaunlich ähnlichen Antworten gekommen. Dieses versöhnende Vorgehen stößt spätestens dort an seine Grenze, wo man sich, statt auf die Diagnosen zu schauen, Arendts und Adornos jeweilige Therapievorschläge genauer vergegenwärtigt. Spätestens dann nämlich wird das, was ich im ersten Teil der Arbeit oft als unterschiedliche Betonung rekonstruiert habe – auf der einen Seite Arendts eher politischer Schwerpunkt, auf der anderen Seite Adornos Perspektive des kritischen Theoretikers –, zu ausgewachsenen, einander diametral gegenüberstehenden Gegensätzen. Arendt, so hatte ich gezeigt, sieht die Ursprünge des Totalitarismus zu einem nicht geringen Teil im Niedergang und Verlust der gemeinsamen politischen Welt begründet. Ihre Reaktion hierauf besteht entsprechend in einer Erinnerung und Neuerzählung dessen, was das Politische einmal geheißen haben mag (und wieder heißen könnte). In dem, was sie etwas altmodisch »die soziale Frage« nennt, sieht sie geradezu eine Gefahr für dieses Projekt. Für Adorno hingegen, der schon seine Faschismusanalyse eher im Vokabular des Sozialkritikers verfasst, besteht die Gegenstrategie eben nicht in Politik, sondern in Kritik, genauer in einer fortlaufenden Kritik sozialer Verhältnisse, die er ausdrücklich als nicht politisch verstanden wissen will. Nun handelt es sich bei diesen gegensätzlichen theoretischen Projekten nicht einfach nur um (gleichsam formale) Differenzen, die dazu führen, dass das vergleichende Vorgehen an seine Grenzen stößt. Sondern damit sind, so meine These, auch innerhalb beider Theoriegebäude jeweils genau die Stellen markiert, an denen sie jede für sich in jene Vereinseitigungen und Aporien führen, von denen eben die Rede war. An dieser Stelle setzt meine systematische Behauptung an. Es wird im zweiten Teil dieser Arbeit meine These sein, dass die beiden Theorien gerade da, wo sie scheinbar am weitesten voneinander entfernt sind (ja, einander diametral gegenüberstehen), in ein Ergänzungsverhältnis gebracht werden könnten und sollten, das helfen kann, über eine mögliche gemeinsame Theoriebildung nach Arendt und



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Ador­no nachzudenken. Eine Theoriebildung, die nicht in die Sackgassen tappt, in die sich ihr jeweiliges Denken so prominent verläuft. Habe ich Arendts und Adornos Theoriebildung im ersten Teil der Arbeit nebeneinandergelegt, um zu zeigen, dass der Weg, den beide gehen, ein Stück weit der gleiche ist, nehmen die beiden an dieser Stelle sozusagen unterschiedliche Weggabelungen. Im Folgenden werde ich für die These eintreten, dass man beide Wege (zugleich) gehen sollte (auch wenn das Bild der Denkwege dann schief wird). Hierbei bleibe ich dem Vorgehen der Theoriegeschichte in systematischer Absicht treu. Das heißt, ich werde Arendt bzw. Adorno auf den von ihnen eingeschlagenen Wegen erst einmal jeweils folgen. Es gilt zunächst detailliert nachzuvollziehen, dass, wie und warum sie letztlich jeweils in eine Sackgasse führen. Auch die systematische Pointe soll anschließend mit Hilfe eines theoriegeschichtlichen Vorgehens plausibel gemacht werden. Denn ich möchte im hermeneutischen Nachvollzug zeigen, dass die_der jeweils andere Autor_in begriffliche Instrumente bereitstellt, um aus genau den je spezifischen Sackgassen, Vereinseitigungen und Aporien der_des einen herauszuführen und dass es deswegen Sinn macht, sie komplementär zu lesen. Mit diesem Vorgehen folge ich Schluchters (2007: 2 ff.) in der Einleitung dieser Arbeit zitierten Forderung, eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht müsse die Auswahl der von ihr behandelten Autor_innen auch sachlich ausdrücklich begründen. Die geforderte sachliche Begründung geht dabei über das Baukastenmodell, das sich nach dem bisher Gesagten geradezu aufdrängt, noch hinaus. Denn Arendt und Adorno, so meine Behauptung, könnten das Defizit der_des jeweils anderen nicht nur gleichsam wahllos beheben, sondern sie könnten dies auch in besonders angemessener Weise tun. Ich vertrete die These, dass Arendts und Adornos Theorien – auch weil ihnen die Erfahrung totaler Herrschaft in der Moderne gemeinsam ist und sie auf diese ähnlich reagieren – vergleichbar einer musikalischen Suite in einer gleichen (oder verwandten) Tonart geschrieben sind und daher, wenn man so will, auch dort zueinander passen, wo sie eigentlich ganz verschiedene, ja, auf den ersten Blick einander entgegenstehende Projekte verfolgen.145 Konkreter formuliert: Arendts Verständnis des Politischen könnte vielleicht 145 Vgl. auch Arendts eigene Rechtfertigung für die gemeinsame Veröffentlichung verschiedener Texte im Sammelband Zwischen Vergangenheit und Zukunft: »Die Einheit der Teilstücke, welche für mich die Veröffentlichung in Buchform rechtfertigt, ist nicht die Einheit eines Ganzen, sondern, wie bei einer Suite in der Musik, die Einheit einer Folge von Sätzen, welche in derselben oder einer verwandten Tonart komponiert sind.« (Arendt 2012 [1961]: 19)

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einen Politikbegriff bereitstellen, der mit Adornos Einwänden gegen die Existenz eines ebensolchen (positiven) Politikbegriffs kompatibel ist bzw. der die nächstmögliche Annäherung an ein Politikverständnis darstellt, mit dem Adorno leben könnte.146 Das soll im folgenden vierten Kapitel zunächst gezeigt werden. Umgekehrt ist die Idee, Adornos spezifisches Verständnis von Kritik als ein Instrument vorzustellen, mit dem sich über die wiederum bei Arendt problematische »soziale Frage« in einer Weise nachdenken lässt, die Arendts Einwänden gegen ebendiese standhält. Mit Hilfe von Adornos Kritikbegriff, so die These, lässt sich die kritische Pointe, die der Arendtschen Unterscheidung des Politischen und des Sozialen zugrunde liegt, aufrechterhalten und trotzdem über die Kritik (und anschließende Politisierung) von sozialen Fragen nachdenken. Das wird dann das Thema des fünften Kapitels sein.

4. Politik Selten sind sich Leser_innen in der Politischen Theorie und Sozialphilosophie über etwas so einig, wie über die Tatsache, dass Adorno ein problematisches Verhältnis zur politischen Theorie hatte. Obwohl es immer wieder Versuche gegeben hat, mit dieser Problematik in der einen oder anderen Art umzugehen – indem etwa Adornos Rolle als politisch intervenierender Intellektueller herausgestellt wurde (vgl. Demirovic 1999; Martin 2013; Söllner 2019), die politischen Implikationen seiner Schriften betont wurden (vgl. Hammer 2006; Mariotti 2016; Tettlebaum 2008) oder man den Versuch unternahm, im Anschluss an seine Theoreme eine politische Theorie zu konturieren (vgl. Han 2016; Menke 2004; Zuidervaart 2007) –, stimmt die Forschung doch weitestgehend darin überein, dass sich in Adornos Schriften keine politische Theorie im strengen Sinne findet.147 Adorno hat nie ein sei146 Diese Arbeit steht nicht in der Tradition des Straußianismus. Ich unterstelle dem Theoretiker Adorno keine esoterische Position, die von der in seinen Schriften formulierten, exoterischen, abweicht. Einfacher ausgedrückt: Ob Adorno mit meinem Vorschlag wirklich einverstanden wäre, darf nicht nur bezweifelt werden, sondern ist für mein Vorhaben auch irrelevant. 147 Überblicke über dieses Problem finden sich bei Chambers (2004) oder Ruschig und Schiller (2014). Selbst Autor_innen, die Adorno ansonsten notorisch wohlgesonnen sind wie Fabian Freyenhagen (2014) oder Raymond Geuss (2013: 101) problematisieren diesen Mangel.



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ner kritischen Theorie angemessenes Verständnis des Politischen entwickelt. Mehr noch: Nicht nur finden sich in seinen Texten kaum konkrete Aussagen zu politischem Handeln oder Institutionen, sondern wir begegnen sogar einer ostentativen Weigerung, über Politik auch nur nachzudenken.148 Eine mögliche Theorie der Politik unterliegt bei Adorno einem strengen »Bilderverbot« (Adorno 2003c [1966]: 207). Dieser Umstand wird, grob gesprochen, aus zwei unterschiedlichen Richtungen kritisiert. Eine Kritik lautet wie folgt: Mit dieser Verweigerungshaltung gegenüber Fragen des Politischen gerät Adorno in einen Widerspruch zu seiner eigenen, eigentlich doch auf radikalen gesellschaftlichen Wandel zielenden Theoriebildung. Diese Widerspruchsthese geht vor allem auf die westdeutsche Studierendenbewegung zurück, mit der Adorno im Laufe der 1960er Jahre zunehmend in Konflikt geraten war (Adorno 2003g [1969]: 794 f.). Sie fußt wahrscheinlich stärker auf deren persönlicher Enttäuschung darüber, dass Adorno den politischen Protest der Studierenden nicht vehementer unterstützt hat, denn auf einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit seiner Theorie und könnte, so viel sei hier vorweggenommen, falscher nicht sein. Eine zweite Kritik an Adornos Verweigerungshaltung argumentiert entgegengesetzt. Insbesondere Vertreter_innen der sogenannten zweiten Generation der Frankfurter Schule, die die diskurstheoretische Wende der Kritischen Theorie vollzogen haben, haben stets die Folgerichtigkeit von Adornos Weigerung betont. Glaubt man ihnen, dann steht Adorno für eine »Theorie reiner Herrschaft« (Dubiel 1994: 232). Herrschaft, so der Vorwurf, der sich auf den ersten Blick besonders gut an der im zweiten Kapitel meiner Arbeit rekonstruierten Dialektik der Aufklärung festmachen lässt, wird demnach in Adornos Konzeption als so stark und gefestigt gedacht, dass sich – wenn seine Diagnose zutrifft – über eine mögliche Befreiung von ebendieser Heteronomie nicht einmal mehr nachdenken lässt. Diese Folgerichtigkeitsthese ist philosophisch ernstzunehmender. Ihre Vertreter_innen haben zunächst einmal richtig erkannt, dass sich Adornos Verweigerungshaltung gegenüber dem Politischen konsequent aus seiner Theorieanlage ergibt. Allerdings schießen sie insofern über das Ziel hinaus, als für sie daraus folgt, 148 In einem Brief an Thomas Mann beantwortete Adorno dessen Bitte um »ein positives Wort […], das eine auch nur ungefähre Vision der wahren, der zu postulierenden Gesellschaft gewährte« (Adorno und Mann 2002: 122), mit der Erklärung, dass er sich ganz bewusst zu politisch-praktischen Dingen nicht äußere. Bei dieser Verweigerungshaltung handle es sich um eine aktive Entsagung: »[W]ahrhaft eine Askese, glauben Sie mir, denn meiner Natur läge das Andere, der fessellose Ausdruck der Hoffnung viel näher.« (Ebd.: 128)

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dass Adorno nicht nur keine politische Theorie vorgelegt hat, sondern, dass sich innerhalb seines Theorierahmens überhaupt nicht mehr über freiheitliche Momente nachdenken lässt. In den folgenden beiden Unterkapiteln möchte ich zuerst die eine, dann die andere Position widerlegen. Gegen die Karikatur, die die Vertreter_innen der Widerspruchsthese zeichnen, werde ich detailliert zeigen, inwiefern Adornos Boykott der politischen Theorie vorerst mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus seiner Gesellschaftstheorie folgt (4.1). Anschließend werde ich jedoch gegen die Vertreter_innen der Folgerichtigkeitsthese argumentieren, dass Adorno trotz allem weiterhin an der Aufhebung gesellschaftlicher Heteronomie interessiert bleibt. Nicht nur enthält seine Diagnose mehr Brüche und Möglichkeiten für widerständiges oder sogar freiheitliches Handeln, als oft behauptet wird, auch bleibt es das Projekt seiner kritischen Theorie, an ebendiesen anzusetzen. Vor allem in seiner späten Philosophie ist Adorno auf der Suche nach einem Modus, wie ein nicht instrumentelles – das heißt freiheitliches – Denken möglich wäre (4.2). Richtig ist allerdings, dass Adornos Nachdenken über die Möglichkeit gesellschaftlicher Emanzipation stets im Status eines vorbereitenden Handelns verbleibt. Es ist Adorno nie gelungen, seine Suchbewegung in eine politische Theorie zu überführen. Eine solche Überführung aber kann, so die Hauptthese dieses Kapitels, gerade mit Hannah Arendts Hilfe vollzogen werden. Zum Abschluss des Kapitels werde ich daher Arendts Politikbegriff als ein Mittel einführen, das, aus ganz ähnlichen Erfahrungen entstanden und auf ähnlichen Grundpositionen beruhend, viele von Adornos Bedenken gegenüber der Möglichkeit und Form politischer Praxis teilt. Nur folgt für Arendt daraus keine Enthaltung, sondern sie macht diese Bedenken gerade zum Zentrum ihres Nachdenkens über Politik (4.3). 4.1 Keine Politik. Nirgends »Auf die Frage ›Was soll man tun‹ kann ich wirklich meist nur antworten ›Ich weiß es nicht‹.« Adorno, Keine Angst vor dem Elfenbeinturm

Eine gängige Kritik in Bezug auf Adorno besagt, dass es in seinem Denken einen Widerspruch gibt zwischen seiner in aller Radikalität vorgetragenen negativen Gesellschaftsdiagnose und seiner gleichzeitigen Weigerung, an gesellschaftsverändernder Praxis – im Sinne von Politik – (als Person) teilzunehmen oder (als Theoretiker) über diese auch nur nachzudenken. Diese Kritik wur-



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de vor allem von Vertreter_innen der deutschen Studierendenbewegung vorgebracht, die sich über Adornos »Praxisabstinenz« (Krahl 1998 [1969]: 674) enttäuscht zeigten. Adornos Verhältnis zu und Auseinandersetzung mit der Studierendenbewegung der 1960er Jahre ist heute selbst ein nicht ganz unbedeutender Teil der bundesrepublikanischen (Intellektuellen)geschichte:149 Adorno, aus seinem (im ersten Kapitel beschriebenen) Exil auch deshalb nach Deutschland zurückgekehrt, um »an der Erziehung der jungen Generation in Deutschland« (Horkheimer 2014: 261) mitzuwirken, hatte die Studierendenbewegung zunächst maßgeblich inspiriert. Die Art und Weise, mit der ein Theorieprofessor hier die wahrscheinlich wirkmächtigste Emanzipationsbewegung der Bundesrepublik mehr oder weniger direkt beeinflusste, ist für Mitglieder meiner Generation nur noch schwer vorstellbar.150 Die Protestierenden lasen und diskutierten die Schriften der Kritischen Theorie und beriefen sich explizit darauf.151 Sie wollten der Kritischen Theorie »die Instrumente entnehmen, mit deren Hilfe sich die versteinerten Verhältnisse 149 Auf diese kann ich hier nicht detailliert eingehen. Eine umfassende Dokumentation dieser Geschichte findet sich bei Kraushaar (1998). 150 Philipp Felsch (2018: 23) spricht für die 1960er Jahre gar von der »Bundesrepublik Adorno«. Einen plastischen Eindruck geben zudem die von Heinz Bude (2018) in Adorno für Ruinenkinder versammelten Generationenportraits. Wobei die Art von Adornos Einfluss schon damals selbst ein Politikum war. Wurden von konservativer Seite und der SpringerPresse »Vaterschaftsklagen wg. Terrorismus« (Tiedemann 2000: 9) erhoben, so hat Ador­ no selbst stets das Indirekte seines Einflusses betont. Als er in einem 1969 unter dem Titel Keine Angst vor dem Elfenbeinturm (Adorno 2003d [1969]: 402–409) erschienenen Interview mit dem Spiegel auf den Zusammenhang zwischen seiner Theoriebildung und den studentischen Protesten angesprochen wurde, reagierte er zwar mit Verständnis: »Das möchte ich nicht leugnen […]. Ich würde schon glauben, daß etwa die Kritik gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, die ich auch in ihren demonstrativen Formen für völlig legitim halte, ohne das Kapitel ›Kulturindustrie‹ in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und mir nicht möglich gewesen wäre.« Jedoch gibt er auch zu bedenken: »[M]an stellt sich oft den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis zu kurzschlüssig vor. Wenn man 20 Jahre mit dieser Intensität gelehrt und publiziert hat wie ich, geht das schon in das allgemeine Bewußtsein über.« (Ebd.: 404) 151 Wenn hier davon gesprochen wird, dass sich die Studierendenbewegung auf die Kritische Theorie bezogen habe, dann muss das präzisiert werden: Die Studierendenbewegung, die sich stark auf die Texte der Kritischen Theorie berief, umfasste vor allem die Frankfurter und Berliner Teile der Bewegung, die damals aber beide wichtige Zentren des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes darstellten. Die Kritische Theorie, auf die man sich hierbei bezog, meint vor allem Texte Horkheimers, Adornos sowie Marcuses und ist zudem stark auf (wenige) frühe Texte wie Autoritärer Staat, Traditionelle und kritische Theorie, die Dialektik der Aufklärung oder die Studien zum autoritären Charakter fokussiert (Demirovic 1998: 71).

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nicht nur begreifen, sondern – ganz im Sinne von Horkheimers programmatischem Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie aus den 30er Jahren – auch verändern lassen sollten.« (Schwandt 2010: 177 f.) Anders gewendet: Die Studierendenbewegung verstand Adornos theoretische Unternehmung als politisches Programm. Im Laufe der 1960er Jahre kam es genau deswegen dann aber zunehmend zu Spannungen zwischen der Bewegung und ihrem vermeintlichen Spiritus Rector. Während die Studierenden von Adorno mehr Engagement für ihre Sache einforderten, nahm er eine zunehmend ambivalente Position gegenüber der Bewegung ein. In seinen Äußerungen zwar weiter solidarisch – Adorno sollte später von »einseitiger Solidarität« (Adorno 2003f [1969]: 777) sprechen –, wollte er jedoch weder »Aktionsprogramme« liefern, noch »gar Aktionen solcher, die durch die kritische Theorie angeregt sich fühlen, unterstütz[en].« (Ebd.: 794) Die Gründe hierfür lagen vor allem in einer grundverschiedenen Bewertung der Situation. Während die Studierenden glaubten, Teil einer »entstehenden revolutionären Bewegung« (Krahl 1998 [1969]: 674) zu sein, erachtete Adorno die Möglichkeit für genuin politische, das heißt gesellschaftsverändernde Praxis (auch unterhalb der Schwelle einer Revolution) für verstellt. Für die spätere Rezeption stellt die Auseinandersetzung, die in der Folge über diese Frage entbrannte, eine Schwierigkeit und einen Glücksfall zugleich dar: eine Schwierigkeit, weil sie für das Bild von Adorno als einem elitistischen Mandarin, der die Behaglichkeit des »Grand Hotel Abgrund« (Lukács 1963 [1920]: 17) genießt, während die Welt um ihn herum in Flammen steht, zu einem großen Teil (mit)verantwortlich ist; einen Glücksfall jedoch, weil sie Adorno dazu veranlasst hat, die in seiner Gesellschaftstheorie angelegte Politikabstinenz expliziter zu erklären und zu rechtfertigen. Schon bevor die Auseinandersetzung mit den Studierenden an Fahrt gewann, war Adorno in den 1950er und 1960er Jahren darangegangen, seine in der Dialektik der Aufklärung noch abstrakt und im Gestus einer Zivilisationsgeschichte vorgetragene These zunehmender Herrschaft in eine soziologisch konkretere Gesellschaftstheorie zu übertragen. Dass es sich dabei tatsächlich um eine Übertragung handelt, wird schon daran deutlich, dass sich die Ebenen, auf denen sich Herrschaft gemäß der Dialektik der Aufklärung zunehmend durchsetzt, (in leicht abgewandelter Form) in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften der 50er und 60er wiederfinden. Auch laut seinen im engeren Sinne gesellschaftstheoretischen Texten setzt sich Herrschaft objektiv (»Menschen über Menschen«) und subjektiv oder



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subjekttheoretisch (»Herrschaft über innere Natur«) durch. Gleichfalls findet sich die These einer der Logik des Allgemeinen gleichsam notwendig innewohnenden Tendenz, das Besondere zu unterdrücken, in Form eines generellen (gleichsam dem politischen Handeln intrinsischen) Bedenkens in den genannten Schriften wieder.152 Im Folgenden werde ich diese hier zugegebenermaßen noch recht abstrakt umrissene Unterteilung weiter aufschlüsseln und erklären. Jede dieser drei Ebenen konstituiert für Adorno einen Einwand gegen oder ein Bedenken bezüglich (der Möglichkeit von) Politik. Adornos Zeitdiagnose – seine These von der »verwalteten Welt«153, wie das entsprechende Schlagwort lautet – hat zunächst eine objektive Dimension. Die »tatsächliche […] Übermacht der objektiven Verhältnisse« (Adorno 2003f [1969]: 765) ist, laut Adorno, so gewaltig, dass sie politisches Handeln weitestgehend unmöglich macht (4.1.1). Und sie hat damit korrespondierend auch eine subjektive Dimension. Denn es ist ein Charakteristikum dieser objektiven Verhältnisse, dass sie bis tief in die Subjekte hineinwirken und so die Möglichkeit zur Spontaneität, die Adorno genau wie Arendt auch (dazu später mehr) als eine Art Grundbedingung politischen Handelns ansieht, verstellen (4.1.2). Drittens kommt für Adorno schließlich noch ein über die Zeitdiagnose hinausgehendes, gleichsam überhistorisch gültiges Bedenken hinzu: Auch unter anderen historischen Bedingungen sieht Adorno immer – aber insbesondere in Bezug auf kollektive Praxis – die Gefahr, dass die »Repression des Einzelnen durchs Allgemeine mitgesetzt ist.« (Ebd.) (4.1.3) 4.1.1 Die These der objektiven Aussichtslosigkeit von Praxis In einer ersten Annäherung ließe sich sagen: Adornos Gesellschaftstheorie, seine These von der »verwalten Welt«, kann in eine objektive und eine subjektive Dimension unterteilt werden. Diese Unterteilung wird von Ador­ no selbst so vorgenommen. Viel trennschärfer als er es in der Dialektik der Aufklärung getan hat, unterscheidet Adorno in seinen im engeren Sinne 152 Die Darstellung der drei Ebenen in der Dialektik der Aufklärung findet sich in Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. 153 Da sich die Formel von der »verwalteten Welt« – alternativ ist oft auch von der»verwalteten Gesellschaft« oder der »vergesellschafteten Gesellschaft« die Rede – fast durch Adornos gesamtes Werk zieht und zu einer Art feststehendem Begriff mit eigenem Eintrag im AdornoABC (Behrens 2003: 225 f.) geworden ist, werde ich den Begriff im Folgenden nicht jedes Mal mit Textstellen belegen.

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gesellschaftstheoretischen Aufsätzen,154 aber auch in der Negativen Dialektik ausdrücklich zwischen der »Objektivität der Gesellschaft« und dem »Bewußtsein der Vergesellschafteten« (Adorno 2003c [1965]: 15) oder den »übermächtig daseienden Verhältnissen als solche[n]« einerseits und der »psychologische[n] Verfassung der Menschen« (ebd.: 18) andererseits. Darüber hinaus nimmt er in seinen späteren Schriften sogar eine eindeutige Hierarchisierung zwischen den Ebenen vor: »Die objektive Theorie der Gesellschaft, als eines den Lebendigen gegenüber Verselbständigten, hat den Primat über die Psychologie, die ans Maßgebende nicht heranreicht.« (Ador­ no 2003f [1969]: 773; Hervorh. T. A.) Immer wieder betont er die »Vorgängigkeit von Gesellschaft vorm Einzelbewußtsein« (Adorno 2003c [1966]: 182; Hervorh. T. A.). In diesem Abschnitt werde ich mich daher zuerst dieser objektiven Ebene der Diagnose zuwenden, auf der Adorno das Problem vorrangig zu verorten scheint, bevor ich mich im nächsten Abschnitt mit der daraus folgenden subjektiven – oder besser: subjektivierenden – Dimension beschäftige. Aber zunächst einmal: Was heißt es also, wenn Adorno von »der Macht des Bestehenden« (Adorno 2003c [1966]: 29) spricht, die die Möglichkeit zu politischer Praxis »auf unabsehbare Zeit vertagt« (ebd.: 15)? Adornos »objektiver« Einwand gegen die Möglichkeit von Politik besteht aus zwei Teilen. In einer an Lukács angelehnten Terminologie – von der Adornos Gesellschaftsverständnis mindestens inspiriert ist (vgl. Stahl 2018) – ließe sich zunächst sagen: Adorno geht von einer »Verdinglichung der gesellschaftlichen Institutionen, ihrer Verselbständigung gegenüber den Individuen« (Jepsen 2014: 214) aus. Zugleich sind es für Adorno – auch das eine These, die sich mit Lukács Idee aus Geschichte und Klassenbewußtsein deckt – genau diese Individuen, die, obwohl sie »Objekte, nicht Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses sind«, diesen »doch als Subjekte in Gang halten.« (Adorno 2003b [1968]: 358) Einfacher ausgedrückt: Obwohl den Gesellschaftsstrukturen also eine reale »Objektivität« (Adorno 2003c [1966]: 345) zugesprochen wird, sind diese immer noch menschengemacht, haben sie eine konstruktivistische Dimension. Da beide Teile dieser These für meine Zusammenführung von Adornos Gesellschaftstheorie mit Arendts Politikverständnis am Ende dieses Kapitels zentral sind, möchte ich sie hier nacheinander aufgeschlüsselt rekonstruieren. 154 Wenn hier und im Folgenden von Adornos gesellschaftstheoretischen Aufsätzen die Rede ist, dann ist nicht ausschließlich, aber meistens der Textkorpus gemeint, der heute in den Bänden 8 (Soziologische Schriften I) sowie 10.1 und 10.2 (Kulturkritik und Gesellschaft I bzw. II) der Gesammelten Schriften abgedruckt ist.



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Die materielle Übermacht oder die »herrschende Objektivität«. In Aufsätzen, in denen Adorno in immer neuen Anläufen seine Gesellschaftstheorie zu umreißen versucht, stellt er sich stets gegen Gesellschaftsverständnisse, in denen »Gesellschaft […] als das unmittelbare Zusammenleben von Menschen angesprochen [wird], aus deren Haltung gleichsam das Ganze folgt« (Adorno 2003d [1951]: 169). Das heißt, er definiert Gesellschaft zunächst – gegen seinerzeit gängige Verständnisse in der Soziologie, wie sie zum Beispiel von Max Weber oder Georg Simmel vertreten wurden (Bonß 2008: 31 f.) – als mehr als die Summe ihrer Teile. Ganz zu Anfang seines Aufsatzes Gesellschaft, der nach Adornos eigener Angabe »etwas wie die Quintessenz« seiner »theoretischen Vorstellungen von Gesellschaft« (Adorno 2003a [1966]: 569) enthält, wehrt er sich ausdrücklich gegen solche Definitionen: »Faßte man etwa ihren Begriff [den der Gesellschaft, T. A.] als den der Menschheit samt all den Gruppen, in welche sie zerfällt und aus welchen sie sich bildet, oder, simpler noch, als die Totalität der in einem Zeitabschnitt lebenden Menschen, so würde verfehlt, was im Wort Gesellschaft mitgedacht ist. Die höchst formal klingende Definition präjudizierte, daß die Gesellschaft eine von Menschen, daß sie menschlich sei, unmittelbar eins mit ihren Subjekten« (Adorno 2003c [1965]: 9). »[U]nmittelbar eins mit ihren Subjekten« ist die Gesellschaft laut Adorno aber gerade nicht. Im Gegenteil: Sie ist vielmehr »objektiv«, das heißt, sie ist etwas Eigenes, stellt »eine eigenständige Realität« (Bonß 2008: 33) dar, die den Menschen äußerlich ist und ihnen gegenübertritt. »[D]as spezifisch Gesellschaftliche«, wendet Adorno daher gegen die eben zitierte Definition ein, besteht gerade »im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen« (Adorno 2003c [1965]: 9). Er betont, »daß Gesellschaft auf jeden Einzelnen primär als Nichtidentisches, als ›Zwang‹« (ebd.: 12) stößt. Auch grenzt sich Adorno an dieser Stelle ausdrücklich von Max Webers intentionalistischer Vorstellung ab, nach der alle objektiven sozialen Gebilde auf den »subjektiv gemeinten Sinn« (zit. nach Lichtblau 2017: 406) von Individuen zurückzuführen seien. Stattdessen hält er es Denkern wie Émile Durkheim und Talcott Parsons zugute, diese »Unabhängigkeit und Abgesetztheit des gesellschaftlichen Systems« hervorgehoben zu haben, »das auf seiner eigenen Ebene, nicht als bloße Resultante der Handlungen von Individuen begriffen werden müsse.« (Adorno 2003 [1955]: 43) In Texten wie Marginalien zu Theorie und Praxis oder Resignation, die aus der Zeit der Auseinandersetzung mit der Studierendenbewegung stammen

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(und manchmal als direkte Antworten an diese gedacht waren), setzt Adorno diese Objektivitätsthese dann ausdrücklicher zur (politischen) Handlungsmacht der Subjekte in Beziehung. Das Eigene, das die Gesellschaft darstellt, ist für ihn demnach so (wirk)mächtig, dass »das Verhalten des Individuums, sei es noch so reinen Willens, nicht heranreicht an eine Realität, die dem Individuum die Bedingungen seines Handelns vorschreibt und einschränkt.« (Adorno 2003f [1969]: 764) Die »Vormacht des Gegebenen« (Adorno 2003c [1966]: 261) sei so überwältigend, dass sie »die Praxis eines jeden Einzelnen weithin zur Irrelevanz verurteil[t].« (Adorno 2003f [1969]: 764) Aus dieser Dominanz der objektiven Gesellschaftsstruktur gegenüber individueller Praxis leitet Adorno dann direkt und meines Erachtens etwas kurzschlüssig auch die Irrelevanz kollektiver Praxis ab: »Ist aber einmal das Handeln des Einzelnen, und damit aller Einzelnen, verächtlich gemacht, so lähmt das auch das kollektive.« (Ebd.: 765) In der Folge hat auch die Studierendenbewegung für Adorno kaum Aussichten auf Erfolg: Ihr Aufbegehren werde an den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts ändern. Was die Studierenden tun, sei daher nicht mehr als »Pseudo-Praxis« oder »Scheinrevolution« (ebd.: 772).155 Adorno vergleicht sie gar mit Don Quijote, jener berühmten Romanfigur, deren Kampf gegen Windmühlen nicht nur aussichtslos war, sondern uns in seiner Sinnlosigkeit und Verkennung der Realität auch verrückt erscheint. Genau wie die Windmühlen, gegen die der berühmte Junker reitet, fühle sich die »reale […] Macht« von den Aktionen der Studierenden »kaum gekitzelt« (ebd.: 773). Aber worin genau besteht die »Vormacht eines Objektiven über die einzelnen Menschen« (Adorno 2003c [1966]: 295)? In der Antwort auf diese Frage bleibt Adorno zuweilen etwas vage.156 Liest man die für diese Frage einschlägigen Passagen, lassen sich aber mindestens zwei Aspekte heraus155 Der Protest der Studierenden ist für Adorno nicht nur deswegen »Pseudo-Aktivität« (Adorno 2003f [1969]: 760; Hervorh. T. A.), weil das politische Engagement der Studierenden zu nichts führt, sondern auch weil es sie über diese Ineffektivität – das heißt über die Sinnlosigkeit des eigenen Handelns – gerade hinwegtäuschen soll: Die Aktionen der Studierenden sind für Adorno »nach psychiatrischer Sprache Restitutionsphänomene.« (Ebd.) 156 Das ist nicht einfach soziologische Fahrlässigkeit, sondern hat teilweise mit seinem Gesellschaftsverständnis selbst zu tun: Den Gesellschaftsbegriff, der Adorno vorschwebt, macht es geradezu aus, dass er »weder unmittelbar zu greifen noch, wie naturwissenschaftliche Gesetze, drastisch zu verifizieren« (Adorno 2003c [1965]: 10) sei. Was seiner Wirksamkeit allerdings keinen Abbruch tut: »Denn während Gesellschaft weder aus Einzeltatsachen sich ausabstrahieren noch ihrerseits wie ein Faktum dingfest machen läßt, gibt es kein soziales Faktum, das nicht durch Gesellschaft determiniert wäre.« (Ebd.)



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stellen, die er für diese These als zentral zu erachten scheint. In den drastischeren, vor allem gegenüber der Studierendenbewegung geäußerten Formulierungen klingt es manchmal fast so, als fürchte sich Adorno vor den überlegenen Gewaltmitteln auf Seiten der Herrschaft. Wirklich gesellschaftsverändernde Politik (oder gar ein revolutionärer Umsturz) ist unmöglich aufgrund der überlegenen Gewaltmittel des Staates, den Adorno in Einklang mit der klassisch marxistischen Überbau-These als eine Art Schutzmacht des Kapitalinteresses und Garanten des Status quo ansieht. Dessen Übermacht an Material ist so überlegen, so scheint er sagen zu wollen, dass sich ein Aufbegehren dagegen – über den Rahmen hinaus, den dieser Staat seinen Staatsbürger_innen ohnehin einräumt –157 von vornherein erübrigt. Schon der Versuch erscheint einfältig: »Gegen die, welche die Bombe verwalten, sind Barrikaden lächerlich« (Adorno 2003f [1969]: 771), hatte Adorno den protestierenden Studierenden entgegengehalten. Wobei die Frage, inwiefern dieses konkrete Gewaltmittel wirklich einen Vorteil im Kampf gegen Demonstrant_innen schafft, an dieser Stelle ausgeklammert werden kann. Selbstverständlich glaubt auch Adorno nicht, dass die politische Praxis der Studierenden deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil im Zweifelsfall Atombomben auf Protestierende (noch dazu auf dem eigenen Staatsgebiet) geworfen werden könnten. »Die Bombe«, die wiederholt in Adornos Texten auftaucht, ist eher als Chiffre zu verstehen.158 Eine Chiffre, die, so zumindest mein Interpretationsvorschlag, für die immense technische Überlegenheit der Gewaltmittel auf Seiten der Herrschaft steht. Eine Chiffre, die zudem ein wenig von ihrem hyperbolischen Klang verliert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Adorno bei weitem nicht der Einzige war, der sich ihrer damals bediente. Im Gegenteil: Das »Zeitalter der Bombe« (Adorno 2003c [1962]: 629) ist eine durchaus typische Epochenbestimmung für eine Zeit, die sich, in Anlehnung an Reinhart Koselleck gesprochen, zwischen totalitärer Erfahrung und endzeitlicher Erwartung bewegt. Eine ähnliche Epochenbestimmung wird, um nur das hier naheliegende Beispiel zu nennen, auch von Hannah Arendt vorgenommen.159 Und ich werde später thematisieren, 157 »[D]ie Gebieter lassen temporär die Spielenden gewähren.« (Adorno 2003f [1969]: 771 f.) 158 Anspielungen auf »die Bombe« finden sich nicht nur in den hier rekonstruierten Marginalien zu Theorie und Praxis, sondern auch in zahlreichen anderen Texten Adornos wie zum Beispiel Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft (Adorno 2003b [1968]: 366), Erziehung nach Auschwitz (Adorno 2003b [1966]: 675), Fortschritt (Adorno 2003c [1962]: 629) und nicht zuletzt in der Negativen Dialektik (Adorno 2003c [1966]: 314). 159 So resümiert Arendt einmal über ihre Generation: »[d]aß wir uns sehr viel mehr mit dieser Furcht als mit irgendeinem anderen Problem beschäftigen« (Arendt 2012 [1962]: 227).

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dass auch Arendt diesem Aspekt, der technischen Überlegenheit der Gewaltmittel auf Seiten der Herrschaft, einige Aufmerksamkeit geschenkt hat. Nur bewertet hat sie ihn ganz anders; das wird vor allem in der Diskussion ihres Machtbegriffs deutlich werden. An vielen anderen Stellen und in weniger drastischen Formulierungen betont Adorno hingegen, dass es ein »Subjekt der Herrschaft« (Ahrens 2003: 245) gar nicht mehr gibt: »Gesellschaft selbst beherrscht ihre Individuen als Superstruktur.« (Ebd.) Geht man nach der Häufigkeit ihrer Formulierung, scheint Adorno selbst diese These wichtiger zu sein als die von der Überlegenheit der Gewaltmittel. Sie gilt für revolutionäre wie für reformistische Politik gleichermaßen: Die »Welt« selbst ist »als durch und durch vergesellschaftete, so übermächtig gegenüber allen Einzelnen […], daß ihnen kaum etwas übrigbleibt, als sie hinzunehmen, wie sie sich gibt« (Adorno 2003e [1962]: 467). Diese zweite Form der gesellschaftlichen Übermacht konstituiert aber nicht nur ein Problem, sondern stellt auch – so paradox das zunächst klingen mag – so etwas wie eine Ansatzstelle für eine mögliche Gesellschaftsveränderung dar. Ich möchte diesen Aspekt im Folgenden als die »konstruktivistische« Dimension von Adornos Gesellschaftstheorie etwas vertiefen. Die konstruktivistische Dimension von Adornos Gesellschaftsverständnis. Obwohl die Rede von der »Selbständigkeit des Übermächtigen« (Adorno 2003c [1965]: 17) bei Adorno durchaus ernstgemeint und die »Ohnmacht der Subjekte«, wie er ausdrücklich betont, »real« (Adorno 2003d [1962]: 506) ist, werden die gesellschaftlichen Strukturen Adornos Analyse nach von genau den Menschen (re)produziert, denen sie dann wieder objektiv entgegentreten. Anders gewendet: Auch wenn die Gesellschaft den Menschen als eigenständige Realität äußerlich ist, wurde sie von ebendiesen Menschen zuallererst geschaffen. Selbst Adornos Superstruktur kommt nicht von ungefähr. Vielmehr ist sie zunächst einmal »menschliche[s] Produkt« (Adorno 2003c [1965]: 11), das heißt, sie wird von Menschen ins Werk gesetzt und aufrechterhalten: »Die Gesellschaft, die undurchdringlich den Menschen gegenübersteht, sind sie doch selbst.« (Adorno 2003g [1969]: 797) Das gilt auch für ihre eigenen Texte: In der kurzen Einleitung zu Über die Revolution beispielsweise finden sich sieben Anspielungen auf die »Bombe« (Arendt 2020 [1963]: 17) oder den möglichen »Untergang der gesamten Menschenwelt oder doch zumindest der gesamten uns bekannten Zivilisation.« (Ebd.: 22)



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Aber wie ist das zu verstehen? Wenn »noch die übermächtigen sozialen Prozesse und Institutionen in menschlichen entsprangen« (Adorno 2003c [1965]: 17), wieso beherrschen sie uns dann? Für die Antwort auf diese Frage müssen wir uns kurz Adornos Kritik der politischen Ökonomie zuwenden. Auch wenn die Bemerkungen zur »Tauschgesellschaft«, »Warenform« und »Verwertungstendenz« oft in Adornos Schriften nur eingestreut werden und in Andeutungen verbleiben, lässt sich festhalten: Die gegenwärtige Gesellschaft steht für Adorno vollständig unter der Regie des Produktionsprozesses.160 Innerhalb dieses Produktionsprozesses kommt jedem Gesellschaftsmitglied eine spezifische Funktion zu. In der spätkapitalistischen Gesellschaft »muß jeder Einzelne, um sein Leben zu fristen, eine Funktion auf sich nehmen« (ebd.: 10). Jede_r Einzelne ist also von der Totalität abhängig. Umgekehrt kann sich »das Ganze« aber auch überhaupt nur »vermöge der Einheit der von seinen Mitgliedern erfüllten Funktionen« (ebd.) erhalten. Dieser gesellschaftliche (Re)produktionsprozess ist spätestens im Spätkapitalismus außer Kontrolle geraten und hat sich zunehmend verselbständigt: Die »gesellschaftlichen Tendenzen [beginnen] sich über den Köpfen der Menschen durch[zu]setzen« (Adorno 2003 [1955]: 54). Anstatt dass der (Re)produktionsprozess für die Menschen da ist – sie am Leben erhält –, sind die Menschen nur noch für diesen da. In der spätkapitalistischen Gesellschaft muss nicht nur jede_r Einzelne eine Funktion haben, sondern wird auch »gelehrt, zu danken, solange er eine hat.« (Adorno 2003c [1965]: 10) Ständig im Laufrad stehend und »nach Lücken, offenen Stellen, ›jobs‹ suchen[d]« (ebd.: 16) wird der Mensch zum Getriebenen dieses (selbst ange160 Ob und inwiefern sich bei Adorno tatsächlich eine Kritik der politischen Ökonomie findet, ist in der Forschung umstrittener, als man wahrscheinlich annehmen würde. Ich halte es mit denjenigen Interpretationen, die glauben, dass Adorno vor allem das (durch das »Identitätsprinzip« (Adorno 2003c [1966]: 149) angetriebene) zunehmende Naturhaftwerden des Weltverhältnisses kritisiert. Der Kapitalismus ist dieser Lesart zufolge »nur« die aktuelle (wenn auch besonders wirkmächtige) Ausdrucksform davon: »Adorno is a Marxist and believes that capitalism – the process of the reification of things and persons by which concrete use-values are reduced to abstract exchange-values – is nefarious. However, he departs from Marx insofar as he holds that capitalism is only symptomatic of a more fundamental evil. For Adorno, the underlying cause of radical evil is not socio-ecomomic: it resides in the form of rationality itself.« (Finlayson 2002: 2) Pointiert ließe sich sagen: Adorno dreht Lukács’ Verdinglichungsthese kurzerhand um: Es ist die zunehmende Verdinglichung des Denkens, die zur Warenform geführt hat und nicht vice versa. (Wobei die Warenform dann wiederum verstärkend auf die Verdinglichung des Denkens zurückwirkt.) Eine Lesart, die der Kritik der politischen Ökonomie eine größere Bedeutung für Adornos Theoriebildung zuschreibt, als ich das hier tue, vertritt Braunstein (2011).

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stoßenen) Prozesses, den er aus der Binnenperspektive nun kaum noch überblicken kann. Dass die »Expansion des Tauschverhältnisses« (Adorno 2003 [1960]: 125) immer mehr Bereiche erfasst, sich zunehmend ausdifferenziert und komplexer wird, kommt noch erschwerend hinzu.161 In der Folge mutet dieser Prozess die in ihn verstrickten Menschen schließlich naturgegeben an. Es kommt, wie Lukács es formuliert hätte, zur zunehmenden Verdinglichung: »Was eine unmäßige Apparatur ihnen [den Menschen, T. A.] aufdrängt, die sie selber bilden und in die sie eingespannt sind, und was naturhafte Momente virtuell eliminiert, wird ihnen zur Natur.« (Adorno 2003e [1962]: 467) An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass der Umstand, »daß das von Menschen Gemachte, die Institutionen im weitesten Sinne […] zu zweiter Natur werden«, für Adorno nicht einfach nur eine Begleiterscheinung der materiellen Verhältnisse ist, die diesen gleichsam als eine Art Absicherung zu Hilfe kommt. Vielmehr macht gerade dieser Aspekt für Adorno »das Wesen [ihrer] Objektivität« aus (Adorno 2003c [1962]: 631). Er stellt hier das Argumentationsmuster des klassischen Marxismus auf den Kopf (und relativiert zugleich sein eigenes soeben rekonstruiertes Argument gegen die Studierenden etwas): »Nicht die materiellen Voraussetzungen […], die losgelassene Technik als solche, stellen die Erfüllung in Frage. […] Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang. Der mythische wissenschaftliche Respekt der Völker vor dem Gegebenen, das sie doch immerzu schaffen, wird schließlich selbst zur positiven Tatsache, zur Zwingburg« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 59). Für mich ist an dieser Stelle daher auch weniger entscheidend, wie Adornos Analyse dieses Verdinglichungsprozesses im Detail aussieht (noch, ob seine Beschreibung einer empirischen Überprüfung standhalten würde), als vielmehr die Tatsache, dass sein Gesellschaftsverständnis diese konstruktivis-

161 Adorno spricht auch von der »Undurchsichtigkeit der entfremdeten Objektivität« (Adorno 2003 [1955]: 54). Ein weiterer Faktor, der es erschwert, diesen Konnex zu durchbli­ cken, ist die Tatsache, wie Adorno manchmal in Randbemerkungen andeutet, dass dieser kapitalistische Funktionszusammenhang nicht nur Urheber von Heteronomie ist, sondern die in ihn verstrickten Menschen auch ernährt: »Der Prozeß zehrt davon, daß die Menschen dem, was ihnen angetan wird, auch ihr Leben verdanken.« (Adorno 2003c [1965]: 18) Es ist also nicht nur ohnehin schwierig, diese Zusammenhänge zu durchschauen, sondern es gibt (für viele) gar keine besonders hohe Motivation dazu, dies zu tun.



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tische Komponente enthält.162 Denn diese konstruktivistische Dimension stellt einen für mein Projekt wichtigen Ansatzpunkt dar: Sie macht erstens Adornos eigene Gegenstrategie (im Ausgang von seiner Diagnose) verständlich, wie ich sie im nächsten Unterkapitel rekonstruieren werde – eine solche sah er, aller Skepsis gegenüber politischer Praxis zum Trotz, im Primat der Theorie (4.2.1). Und zweitens begründet diese konstruktivistische Komponente die Anschlussfähigkeit von Arendts Politikverständnis an Adornos Gesellschaftstheorie, wie ich im Anschluss aufzeigen werde (4.3.1). Denn schon Adornos kritische Theorie hält bewusst: »Nur sardonisch ist die Naturwüchsigkeit der Tauschgesellschaft Naturgesetz; die Vormacht von Ökonomie keine Invariante. […] Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären« (Adorno 2003c [1966]: 190 f.). Oder kürzer: »So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann.« (Adorno 2003b [1968]: 370) Bevor ich mich zunächst Adornos und dann Arendts Vorschlägen zuwende, wie diese Verhältnisse zu ändern wären, muss der Komplexität der Theorie Rechnung getragen werden, die meine bisherige, heuristisch verkürzte Darstellung noch nicht berücksichtigte. 4.1.2 Die These vom »Ende des Individuums« Kenner_innen von Adornos Gesellschaftstheorie wird sofort auffallen, dass ich bisher die Zusammenhänge stark vereinfacht habe. Denn während es zwar richtig ist, dass Adorno das politische Engagement der Studierendenbewegung deshalb für Scheinpraxis und gesellschaftsverändernde Politik generell für unmöglich hält, weil die materiellen Verhältnisse –»die objektive Struktur der Gesellschaft« (Adorno 2003c [1966]: 198), die den potentiell handelnden Individuen gegenübersteht – sie zur Irrelevanz verdammen, gibt es jedoch noch einen zweiten Grund, warum Adorno die Chancen zur gesellschaftlichen Veränderung qua politischem Handeln auf lange Zeit für verstellt erachtet. Dieser zweite Grund hängt aufs engste mit besagten materiellen Verhältnissen zusammen, wiegt jedoch recht besehen noch schwerer. Die Diagnose von der »verwalteten Welt« enthält neben der soeben erläuter162 Für Adorno selbst scheint dies ebenfalls die entscheidende Pointe zu sein. Denn, wie er ausdrücklich betont, „[i]n der Reduktion der Menschen auf Agenten und Träger des Warentauschs versteckt sich die Herrschaft von Menschen über Menschen. Das bleibt wahr trotz all der Schwierigkeiten, denen mittlerweile manche Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie konfrontiert sind.“ (Adorno 2003c [1965]: 14)

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ten These über die objektive Aussichtslosigkeit von Praxis auch noch eine subjektive Dimension. Für Adorno sind es nicht einfach nur die materialistische Übermacht der Gewaltmittel und »die Trivialität, daß alles mit allem zusammenhängt« (Adorno 2003c [1965]: 13), die ihn zur Skepsis bezüglich der Möglichkeit gelingender politischer Praxis führen. Als wäre das noch nicht genug, erachtet er die Möglichkeit zu gesellschaftlicher Veränderung auch auf einer tieferen Ebene für verhindert. Denn es ist eine Folge dieser objektiven Bedingungen, dass sie bis hinab auf die Ebene der Individualität »verwaltend« – in einer moderneren sozialphilosophischen Terminologie würde man sagen: subjektivierend –163 wirken und die menschliche Fähigkeit zur Spontaneität, die Adorno genau wie Arendt als eine Art Conditio sine qua non politischen Handelns ansieht, behindern.164 Ich schlage deshalb vor, analog zum oben besprochenen objektiven hier von Adornos subjektivem Einwand gegenüber der Möglichkeit von Politik zu sprechen. Obwohl die »Objektivität […] der total vergesellschafteten Gesellschaft« (Adorno 2003c [1966]: 309) von Adorno »dem Individuum und seinem Bewußtsein vorgeordne[t]« (ebd.) wird, gelte es, letztere nicht zu vernachlässigen: »Askese gegen die Psychologie«, so lässt er uns in seinen Marginalien zu Theorie und Praxis wissen, »ist aber auch objektiv nicht durchzuhalten.« (Adorno 2003f [1969]: 773). Denn: »Anders als durch die Psychologie hindurch, in der die objektiven Zwänge stets aufs neue sich verinnerlichen, wäre […] [nicht] zu verstehen, daß die Menschen einen Zustand unverändert destruktiver Irrationalität passiv sich gefallen lassen« (ebd.). Dass den objektiven Verhältnissen bei Adorno überhaupt das Primat zukommt, hängt auch mit seinem Verständnis davon zusammen, was ein Subjekt (im Allgemeinen) ist und was der moderne Begriff des Individuums (im 163 Adorno verwendet noch nicht den heute in der Sozialphilosophie gängigen Terminus der Subjektivierung, sondern spricht von »Anpassung«, »Standardisierung«, »Normung« oder »Gleichmacherei« (zum Beispiel Adorno 2003 [1952]: 371 und 2003d [1951]: 135, 235 sowie 2003c [1965]: 18). 164 Adornos oft kritische Bemerkungen gegenüber Philosophien, die sich affirmativ auf die menschliche Fähigkeit zur Spontaneität berufen (zum Beispiel Adorno 2003c [1966]: 59, 221 und 2010 [1963]: 262), beziehen sich stets auf deren Postulat, besagte Spontaneität sei in der aktuellen historischen Situation empirisch vorhanden und/oder anrufbar. Damit ist keinesfalls gesagt, dass er diese aktuell gleichsam für verstellt erachtete Fähigkeit nicht selbst auch grundsätzlich als Bedingung der Möglichkeit von Politik ansieht (Adorno 2003c [1965]: 18 und 2003g [1969]: 796 f.).



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Besonderen) beinhaltet. Das Individuum ist für Adorno keine überhistorische, anthropologische Kategorie und schon gar nicht denkt er dabei an ein kantisches (oder anderes) transzendentales Subjekt. Stattdessen werden Subjekte für Adorno in und durch die gegebenen historischen Bedingungen geprägt. Das ist an sich erst einmal kein Spezifikum der »verwalteten Gesellschaft« im Spätkapitalismus: Subjekte sind für Adorno immer durch und durch gesellschaftlich geformt.165 Das »Einzelwesen«, so schreibt er in den Minima Moralia, wird »gerade in seiner Beziehung aufs Allgemeine erst ein Besonderes« (Adorno 2003d [1951]: 153). Und er expliziert dies im Folgenden noch: »Nicht bloß ist das Ich in die Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihr sein Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhalt kommt aus ihr« (ebd.: 175). In diesem Zusammenhang erscheint Adorno als eine Art Vordenker Foucaults.166 Für das moderne Individuum spezifiziert Adorno diese These, dass alle Subjektivität durch gesellschaftliche Bedingungen geformt wird, noch weiter: Das, was wir heute im engeren Sinne unter einem Individuum verstehen – »wenn wir vom Individuum sprechen, dann meinen wir dabei ja nicht einfach das biologische Einzelwesen, sondern eben wirklich den in sich selbst reflektierten und sich als geistige Einheit konstituierenden Einzelmenschen« (Adorno 2006 [1964/1965]: 338) –, ist eine genuin moderne Erscheinung.167 Adorno datiert die Anfänge des »Individuum[s] selber, wie dessen Name bis heute gebraucht wird, […] kaum allzuweit hinter Montaigne oder den Hamlet, allenfalls auf die italienische Frührenaissance zurück.« (Adorno 2003b [1953]: 450; vgl. auch Adorno 2003b [1961]: 290 ff.) Der Übergang von der feudalen Ordnung des Mittelalters zur Neuzeit habe den Prozess angestoßen, an dessen Ende die freie, selbstbestimmte Einzelperson stehe. Es sind die Produktionsverhältnisse des Frühkapitalismus, die die Herausbildung von 165 Das wird auch an seiner Kritik des Marxschen Entfremdungsverständnisses deutlich: »[D]ie Rede von der Selbstentfremdung« ist für Adorno gerade deshalb »unhaltbar […], weil sie mit Vatermiene zu verstehen gibt, der Mensch wäre von einem Ansichseienden, das er immer schon war, abgefallen, während er es nie gewesen ist« (Adorno 2003c [1966]: 274). 166 Die Ähnlichkeiten zwischen Adorno und Foucault im Allgemeinen und ihren Individuations­ theorien im Besonderen sind schon des Öfteren herausgestellt worden (vgl. Allen 2016 oder Cook 2018). 167 Ohne Adornos »Theorie des Individuums« (Schweppenhäuser 2009: 79) hier in Gänze nachvollziehen zu wollen, rekonstruiere ich an dieser Stelle nur, was für die hier verhandelte Frage nach der (Un)möglichkeit von Politik direkt relevant ist. Darstellungen von Adornos Theorie des Subjekts im Allgemeinen oder des Individuums im Besonderen finden sich bei Kayserilioğlu (2018), Schroer (2011), Schweppenhäuser (2009: 79–91) oder Weyand (2001).

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Individualität befördert haben: »Als die freie Marktwirtschaft das Feudalsystem verdrängte und des Unternehmers wie des freien Lohnarbeiters bedurfte«, konstatiert Adorno in seinem Aufsatz Individuum und Organisation, »bildeten sich diese Typen nicht nur als berufliche, sondern zugleich als anthropologische; Begriffe, wie der der Selbstverantwortung, des Vorblicks, des sich selbst genügenden Einzelnen, der Pflichterfüllung, aber auch starrer Gewissenszwang, die verinnerlichte Bindung an Autoritäten, stiegen auf.«168 (Adorno 2003b [1953]: 450) Anders ausgedrückt: In einer (kurzen) Phase der bürgerlichen Gesellschaft – während des »Liberalismus des zerstreuten Unternehmertums« (Adorno 2003e [1969]: 787) – bestand laut Adorno für die Menschen die Möglichkeit, sich zu autonomen Individuen zu entwickeln, weil die auf Konkurrenz und freier Marktwirtschaft basierenden Produktionsverhältnisse Wert auf Eigeninitiative und Unabhängigkeit gelegt haben. Damals, so Adorno, »stand eine Prämie auf Individualität« (Adorno 2003b [1953]: 444).169 Dieser »Begriff des Individuums, historisch entsprungen« erreiche heute jedoch – heute meint dabei den Spätkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre – »seine historische Grenze.« (Ebd.: 450) Denn während der Frühkapitalismus das Individuum überhaupt erst herausgebildet habe, hätte der Spätkapitalismus es wieder zerstört. »Was zu Beginn des neuen Zeitalters mit den Menschen sich zutrug, wiederholt sich heute, auf geschichtlich höherer Stufe, mit umgekehrtem Akzent.« (Ebd.) Oder anders: »Aufstieg und Fall des autonomen Subjekts« (Wagner 2005: 207; Hervorh. T. A.) sind historische Vorgänge und von gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt. Die faktischen Bedingungen, durch die das geschieht, sieht Adorno in den strukturellen Veränderungen des Kapitalismus, genauer, in den Produktionsbedingungen: »Heute«, schreibt er dazu, »verlieren Konkurrenz und freie Marktwirtschaft gegenüber den zusammengeballten Großkonzernen

168 In einem ähnlichen Tenor heißt es in den Minima Moralia: »Das Individuum verdankt seine Kristallisation den Formen der politischen Ökonomie, insbesondere dem städtischen Marktwesen. Noch als Opponent des Drucks der Vergesellschaftung bleibt es deren eigenstes Produkt und ihr ähnlich. Was ihm den Widerstand erlaubt, jeder Zug von Unabhängigkeit, entspringt im monadologischen Einzelinteresse und dessen Niederschlag im Charakter.« (Adorno 2003d [1951]: 169) 169 Diese Beschreibung des Frühkapitalismus als eines zunächst einmal emanzipatorischen und auf Selbständigkeit ausgerichteten Projekts ist, wenn auch ohne die subjekttheoretische Schlussfolgerung, jüngst von Elizabeth Anderson (2019) wiederholt worden.



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und den ihnen entsprechenden Kollektiven mehr und mehr an Gewicht.«170 (Adorno 2003b [1953]: 450) Entsprechend würde auch die auf Eigeninitiative und Unabhängigkeit – also auf ein Mindestmaß an Autonomie – angelegte bürgerliche Subjektivität nicht mehr benötigt. So wie die Produktionsbedingungen der frühkapitalistischen bürgerlichen Gesellschaft die Ausbildung von Individualität überhaupt erst beförderten, sorgt der auf soziale Kontrolle ausgerichtete Spätkapitalismus wieder für den Niedergang des Individuums: »Statt eines innerlich gefestigten Ichs bildet der moderne Spätkapitalismus nun mehr sich konform verhaltende Sozialcharaktere aus, die sich reflexhaft den jeweils geltenden Anforderungen anpassen.« (Schroer 2011: 279) Die fortschreitende Verwaltung der Welt verwandelt die Individuen zunehmend in »standardisiert[e] und verwaltet[e] Menscheneinheiten« (Adorno 2003d [1951]: 153). In den Minima Moralia, in denen das Changieren zwischen Anpassung und Aufrechterhaltung von Individualität (auch Adornos eigener; ich hatte das im ersten Kapitel ausführlich thematisiert) eines der Hauptmotive ist, heißt es noch drastischer als in anderen Texten, Individualität werde im Spätkapitalismus »liquidiert« (ebd.; vgl. auch ebd.: 147). An dieser Stelle gibt es zwei, je nach Lesart von Adorno parallel oder nacheinander vorgetragene Erklärungen dafür, wie dieser Prozess genau vonstattengeht: Zum einen scheint Adorno den Niedergang des Individuums als eine Art »Anpassung« (Adorno 2003c [1965]: 18) der Menschen an den Produktionsprozess im engeren Sinne zu denken. Die Menschen werden den Maschinen, die sie bedienen, immer ähnlicher. Sie werden immer mehr »zu Bestandstücken der Maschinerie geprägt« und machen »sich selbst der Apparatur ähnlich« (Adorno 2003b [1953]: 451). Zum anderen wird dieser Vorgang durch das unterstützt, was Adorno »Kulturindustrie« nennt, womit die Individuen auch über ihren Arbeitstag hinaus erfasst werden können.171 170 Auch diese These, dass die emanzipatorischen Potentiale des Frühkapitalismus letztendlich an Skaleneffekten scheitern, findet sich – detaillierter ausgeführt – bei Anderson (2019) wieder. 171 Ich bin, wie Markus Schroer (2011), an dessen Rekonstruktion ich mich hier orientiere, Anhänger der These, dass diese beiden das Individuum zusehends zurichtenden Vorgänge von Adorno als gleichzeitig ablaufend (und einander ergänzend) gedacht werden. Es gibt dazu aber auch andere Positionen: Gerhard Schweppenhäuser (2009: 82–85) zum Beispiel nimmt an, dass der frühe Adorno eher Anhänger der Monopolkapitalismus-These war und die Auslöschung von Individualität durch Anpassung an den Produktionsprozess betont hat. Der späte Adorno habe hingegen stärker die These von der »Individualität als Ideologie« verfolgt. In diesem Erklärungsmodell – nach dem Individualität nicht per Standardisierung einfach abgeschafft, sondern durch »Pseudoindividualität« ersetzt wird – ist die Kulturindustrie-These wichtiger. Peter Wagner macht gar »dreierlei Weise[n]« aus, in

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Den Begriff der Kulturindustrie hat Adorno vor allem in seiner Zeit im amerikanischen Exil entwickelt. Seine prominenteste und ausführlichste Formulierung findet sich im Abschnitt »Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug« im Anhang der Dialektik der Aufklärung (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 141–191), jedoch wird auch in den späteren gesellschaftstheoretischen Aufsätzen immer wieder auf den Begriff rekurriert (Adorno 2003 [1963]: 337–345). »Kulturindustrie« ist für Adorno eine Art Sammelbezeichnung für die gesamte Bandbreite der damals gängigen Medienprodukte: »Zeitungen und Zeitschriften, Radio ebenso wie Fernsehen und Film sowie alle anderen Einrichtungen des Unterhaltungswesens und der Freizeitindustrie fallen unter dieses Verdikt.« (Schroer 2011: 278) Kulturindustrielle Produkte unterscheiden sich für Adorno in zweierlei Hinsicht von »echten« – oder, in seiner Terminologie, »autonomen« – Kunstwerken. Zum einen bezüglich ihrer Produktionsbedingungen: »Die gesamte Praxis der Kulturindustrie überträgt das Profitmotiv blank auf die geistigen Gebilde.«172 (Adorno 2003 [1963]: 338) Zum anderen ändert sich mit den Bedingungen, unter und nach denen kulturindustrielle Güter produziert werden, auch deren Inhalt: »Die Kulturwaren der Industrie richten sich […] nach dem Prinzip ihrer Verwertung, nicht nach dem eigenen Gehalt und seiner stimmigen Gestaltung.« (Ebd.) Sprach Adorno autonomen oder authentischen Kunstwerken gar ein widerständiges Potential heteronomen Gesellschaftsverhältnissen gegenüber zu – dazu später mehr (4.2.3) –, so geben die Produkte der Kulturindustrie nur ein (geglättetes und harmonisiertes) Abbild des spätkapitalistischen Alltags ab. Damit aber werden die zum Zeitvertreib und Vergnügen angebotenen Erzeugnisse der Kulturindustrie eigentlich nur zum »Verdummungsmittel« (Adorno 2003c [1951]: 22): »Die Kulturindustrie ist Ausdruck der spätkapitalistischen, total verwalteten Welt. Sie erfüllt die wichtige Funktion, die einzelnen Mitglieder der Gedenen Adorno »seine Theorie vom Verschwinden des autonomen Subjekts« untermauere: »durch die psychoanalytisch und sozialforscherisch angelegte These von der autoritären Persönlichkeit; durch die kultursoziologisch und ästhetisch argumentierende These vom Aufstieg der Kulturindustrie und durch eine sozialepistemologisch operierende Theorie der Wissensformen der verwalteten Gesellschaft.« (Wagner 2005: 211) 172 Nun wollte auch Samuel Beckett, darin ist Adorno nicht naiv, mit seinen Stücken Geld verdienen. »Neu an der Kulturindustrie« sei aber »der unmittelbare und unverhüllte Primat der ihrerseits in ihren typischsten Produkten genau durchgerechneten Wirkung.« (Adorno 2003 [1963]: 338; Hervorh. T. A.) Erstrebten autonome Kunstwerke ihren Profit »nur mittelbar, durch ihr autonomes Wesen hindurch«, so sind »[g]eistige Gebilde kulturindustriellen Stils [nicht] länger auch Waren, sondern sind es durch und durch.« (Ebd.)



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sellschaft auf beinahe unmerkliche und geradezu angenehme Weise an die Bedingungen der verwalteten Welt zu gewöhnen. Sie stellen mit gleichsam weichen Methoden her, was sonst nur durch äußeren Terror und Zwang zu erreichen möglich scheint: Eine manipulierbare Masse, die zu keinerlei Widerstand und Widerspruch nicht mehr nur nicht in der Lage ist, sondern auch gar nicht die Motivation hat, weil sie mit dem, was ist, einverstanden ist.« (Schroer 2011: 279) Nicht nur wird die vormals herrschaftskritische »Kultur« nun mit industriellen Methoden massenhaft (und für einen Markt) produziert, auch stellt sie die Individuen gewissermaßen ruhig. Dies geschieht zum einen, indem sie als Ablenkung fungiert: Dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit binden, verhindern die Produkte der Kulturindustrie »die einfachste Kenntnis und Erfahrung der bedrohlichsten Vorgänge und der wesentlichen kritischen Ideen und Theoreme« (Adorno 2003b [1968]: 364). Zum anderen – und für Ador­ no wichtiger – verhindert die Kulturindustrie emanzipatives Handeln aber auch auf einer noch grundsätzlicheren Ebene. Durch die fortwährende Wiederholung »dessen, was der Fall ist« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 10), trocknet sie im Individuum »automatisch oder planvoll« die Fähigkeit zur Spontaneität aus. Die »Fähigkeit, die Welt konkret anders sich vorzustellen« (Adorno 2003b [1968]: 364; vgl. auch Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 158) wird gelähmt: Kulturindustrielle Erzeugnisse konditionieren ihre Konsument_innen »zu willenlosen Rezipienten, leiten zur Einfügung und Anpassung in das Bestehende ein, zerstören Kreativität und Phantasie und unterhöhlen damit jegliche Form von Autonomie und Individualität« (Schroer 2011: 279). Dieser subjektivierende Effekt, den die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen auf die Individuen haben – die vollständige Lähmung der Fähigkeit, sich eine andere Welt vorzustellen, ja, die Erzeugung von Einverständnis mit dem Status quo –, tritt sozusagen noch erschwerend zur objektiven »Übermacht des Gegebenen« (Adorno 2003b [1968]: 364) hinzu und stellt den zweiten (Teil)grund dar, aus dem Adorno die Möglichkeit zum politischen Handeln für verstellt erachtet: »Der Zirkel schließt sich. Es bedürfte der lebendigen Menschen, um die verhärteten Zustände zu verändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation, fortgesetzt, daß sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge.« (Adorno 2003c [1965]: 18)

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Ein mögliches Gegensteuern gegen die Tendenzen der verwalteten Welt müsste sich für Adorno daher zunächst auf die (Aus)bildung der hier eingeforderten »lebendigen Menschen« konzentrieren. Bevor ich mir seine Vorschläge diesbezüglich anschaue, gilt es an dieser Stelle aber noch Adornos dritten Einwand gegenüber der Möglichkeit von Politik einzuführen. Dieser Einwand ist eigentlich gar kein Einwand. Es handelt sich eher um eine Art Bedenken. Ein Bedenken aber, das potentiell alle Politik betrifft, nicht nur jene in der »verwalteten Welt«. 4.1.3 Politik im Konjunktiv: »Die Alternative von Spontaneität und Organisation« In Anbetracht des eben Gesagten mag die These dieses Unterkapitels zunächst vielleicht etwas verwundern: Aber Adorno hat trotz seiner eigenen scheinbar hoffnungslosen Diagnose zumindest potentiell an der Möglichkeit zur Gesellschaftsveränderung durch demokratische Praxis festgehalten. Das hat etwas mit dem Status des bisher Rekonstruierten zu tun. Denn bei der These von der »verwalteten Welt« (und dem aus ihr folgenden objektiven und subjektiven Einwand gegen die Möglichkeit von Politik) handelt es sich nicht um eine Sozialontologie, sondern um eine Zeitdiagnose.173 Das heißt, es handelt sich um eine Diagnose, die sich auf die Gegenwart der 1950er und 1960er Jahre bezieht, aber keinesfalls universelle, überzeitliche Gültigkeit beansprucht. An dieser Stelle ist noch gar nicht entscheidend, wie plausibel diese Zeitdiagnose ist oder ob sie einer empirischen Überprüfung standhalten würde.174 Ausschlaggebend für meinen hier unternommenen Vorschlag ist erst einmal nur, dass es sich bei der These von der »verwalteten Welt« und den sich hieraus ergebenden Einwänden gegenüber der Möglichkeit von Politik 173 Adorno hat den »Zeitkern« aller Wahrheit – auch bezüglich der eigenen Theorie – stets betont (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 9 und Adorno 2003e [1962]: 462, 472). Siehe zur Zeitdiagnose bei Adorno auch Braunstein und Müller-Doohm (2011). 174 Schon Adorno selbst hat sie immer wieder infrage gestellt. In leichtem Spannungsverhältnis zur rigorosen Rhetorik, die seine Texte dominiert – aber im Einklang mit dem Diktum »nur die Übertreibung ist wahr« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 139) –, finden sich in seinen Schriften zwischendurch immer wieder Formulierungen, die eher darauf schließen lassen, dass er die Gesellschaft als zur oben beschriebenen Totalität tendierend erachtet, nicht jedoch davon ausgeht, dass diese Integration bereits vollständig abgeschlossen ist. Ich gehe am Ende des fünften Kapitels noch einmal genauer auf diesen Gesichtspunkt ein.



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um eine Zeitdiagnose handelt. Denn das heißt im Umkehrschluss auch, dass Adorno selbst die Möglichkeit demokratischen Handelns nicht unter allen Umständen und für alle Zeit ausgeschlossen hat. Tatsächlich gab es für Adorno einen Zeitpunkt in der Vergangenheit, an dem er wahrhaft gesellschaftsverändernde Praxis für möglich erachtete, und er hielt sie auch in Zukunft potentiell wieder für möglich. In der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit spekuliert er über einen solchen »versäumten Augenblick« (Adorno 2003e [1962]: 470) in der Vergangenheit: »Ich selbst glaube, in meiner Jugend einen Augenblick erlebt zu haben, in dem das sehr nahe daran gewesen ist.« (Adorno 2006 [1964/1965]: 250) Adorno denkt hier an die Zeitspanne, die mit der Russischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs beginnt und mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und den Schauprozessen in Moskau endet. Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass der Zeitpunkt, den Adorno hier benennt, der gleiche ist, auf den auch Arendt immer wieder verweist, wenn sie auf die Frage angesprochen wird, wann denn ihrem Politikbegriff, den sie in Anlehnung an die antike Polis modelliert, in der Moderne jemals Wirklichkeit zukam. Wie sich Arendt auf die Frage, welche moderne Institution ihrem Politikbegriff angemessen wäre, auf das im Zuge der Februarrevolution 1917 eingeführte Rätesystem beruft (Arendt 2020 [1963]: 379–399), so ist auch für Adorno »das Scheitern des Projekts der Räterepublik, auf das, nach kurzem demokratischen Zwischenspiel, der autoritäre Staat folgte […] der politische Wendepunkt gewesen.«175 (Schweppenhäuser 2009: 38) In seiner Vorlesung schwankt Adorno in der Folge sogar, ob er den eigenen Thesen untreu werden soll: »Und ich bin deshalb eigentlich auch nicht so ganz überzeugt von jener dia­ lektischen Lehre, die ich selber Ihnen pflichtgemäß vorgetragen habe; und ich möchte Ihnen das wenigstens als ein Fragezeichen zu dem, was ich Sie sozusagen aus der Tradition, aus der ich komme, lehren mußte, immerhin einmal hinzusetzen, – obwohl es natürlich bis jetzt nicht geworden ist und die Geschichtsphilosophie es bekanntlich immer leichter hat, sich auf die Seite der stärkeren Bataillone zu stellen als auf die Seite der schwächeren. 175 In einem gewissen Sinne kann der Zusammenschluss, der ursprünglich unter dem Namen der »Frankfurter Schule« bekannt geworden ist, ja als direkte Reaktion darauf verstanden werden, dass der Augenblick der »Verwirklichung« revolutionärer Philosophie letztendlich »versäumt« (Adorno 2003c [1966]: 15) wurde, wie es im bekannten Anfangszitat der Negativen Dialektik heißt. Nicht umsonst wird die frühe Kritische Theorie auch als »Theorie der ausgebliebenen Revolution« (Wiggershaus 1987: 347) bezeichnet.

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Es ist das eine überhaupt im höchsten Maß spekulative Frage: es wäre möglich gewesen oder nicht möglich gewesen, die sich wahrscheinlich überhaupt nicht bündig entscheiden läßt.«176 (Adorno 2006 [1964/1965]: 250) Aber auch wenn man Adornos Zeitdiagnose ernster nimmt, als er selbst das hier zu tun scheint, dann bleibt bestehen, dass damit stets nur die »aktuelle Unmöglichkeit« (Adorno 2003f [1969]: 779; Hervorh. T. A.) gesellschaftsverändernder Praxis diagnostiziert wird. Die Möglichkeit zu lebendiger demokratischer Praxis ist auch für Adorno nur »temporär gelähmt« (Adorno 2003c [1966]: 242). Denn der zeitdiagnostische Charakter der These von der »verwalteten Welt« impliziert umgekehrt auch, dass »richtige Politik« (Adorno 2010 [1963]: 262) zumindest potentiell in Zukunft wieder möglich sein könnte. »Wahre Politik«, die anders als die Scheinpraxis der Studierendenbewegung auf Veränderung der Gesellschaftsverhältnisse zielt, bleibt also auch für den pessimistischen Adorno stets der Fluchtpunkt. Sie wird nur, wie es im bekannten Anfangszitat der Negativen Dialektik heißt, »vertagt« (Adorno 2003c [1966]: 15). Sie bekommt eine »Atempause« (ebd.: 243). Etwas, das vertagt wird, wird aber nicht für grundsätzlich unmöglich erklärt. Es wird nur auf einen späteren Zeitpunkt »aufgeschoben« (ebd.: 242). Dass Adorno »an der Möglichkeit eingreifender Veränderung der Gesellschaft zu dieser Stunde zweifelt« (Adorno 2003g [1969]: 794; Hervorh. T. A.), heißt also nicht, dass er sie grundsätzlich und für immer für unmöglich hält. Sie könnte in Zukunft wieder möglich sein. Allerdings stünde auch eine mögliche zukünftige Politik unter einem – dieses Mal überhistorisch gedachten – Vorbehalt. Diesen Vorbehalt möchte ich hier als Adornos dritten Einwand gegenüber der Möglichkeit von Politik einführen. Bei diesem handelt es sich genau genommen gar nicht um einen Einwand, sondern eher um ein Bedenken, um eine »permanente Sorge« (Ah176 Wer Argumente für eine weniger totalisierende Adorno-Lesart sammeln möchte, wird in der Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit reihenweise fündig. Ador­ no warnt die anwesenden Studierenden hier vor dem Kurzschluss, »daß nämlich, wann immer Freiheitsbewegungen unterlegen sind, das deshalb geschehen sei, weil es damals halt noch nicht möglich war. Hegel hat zwar auf die abstrakte Möglichkeit geschimpft, Marx auch; aber es gibt auch eine abstrakte Unmöglichkeit: die abstrakte Unmöglichkeit post festum, die einem unter ganz allgemeinen Gesichtspunkten einreden will, daß lediglich der Mißerfolg beweise, daß es nicht möglich gewesen sei, – und dieser Schluß allein ist nicht zulänglich.« (Adorno 2006 [1964/1965]: 250 f.) Fast möchte Adorno daher »im Gegensatz zu der gesamten dialektischen Tradition von Hegel und von Marx, denken, daß es eigentlich immer möglich gewesen wäre, daß es in jedem Augenblick möglich gewesen wäre.« (Ebd.: 249)



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rens 2003: 245) Adornos. Überhistorisch gültig ist diese Sorge, weil sie (sehr wahrscheinlich) über die Zeitdiagnose der »verwalteten Welt« hinaus auch für eine »später mögliche Praxis« (Adorno 2003c [1966]: 243) Gültigkeit besäße.177 Der Vorbehalt oder die Sorge ergibt sich direkt aus der Grundfigur von Adornos Denken. Sein Denken kreist, so habe ich im Verlauf der Arbeit immer wieder angedeutet, um die Frage nach einem angemessenen Verhältnis zwischen dem Identischen und dem Nicht-Identischen, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen dem Universalen und dem Partikularen. Angemessen soll dieses Verhältnis deswegen sein, weil Adorno zwar grundsätzlich befürchtet, dass das Nicht-Identische vom Identischen unterdrückt werden würde, er aber umgekehrt auch nie in einem postmodernen Gestus das Besondere stilisiert wissen will. Vielmehr steht er, genau wie Arendt auch (dazu später mehr), für einen »difference-sensitive universalism« (Rensmann und Gandesha 2012: 14).178 Auf die Frage nach der Möglichkeit von demokratischer Politik übertragen, das heißt in eine Sphäre, in der per definitionem kollektiv verbindliche Entscheidungen getroffen werden, wird diese Denkfigur aus naheliegenden Gründen besonders virulent.179 Die abstrakte »Herrschaft des Allgemeinen 177 An diesem Punkt halte ich es mit dem »realistischen« oder »postmetaphysischen« (Wellmer 2005: 241) Adorno. Es gibt aber auch eine »erlösungsphilosophische« (ebd.: 239) Lesart. Letztere lässt »nur noch eine Hoffnung auf Erlösung und keine verändernde Praxis mehr zu« (ebd.). Anhänger_innen dieser erlösungsphilosophischen Lesart können sich zum Beispiel auf den Aphorismus Sur l’eau aus den Minima Moralia stützen: »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‹« (Adorno 2003d [1951]: 179). In diesem »postpolitischen Utopismus« (Marchart 2019: 161) gibt es dann auch keine (demokratische) Politik mehr: »Das Ziel richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung.« (Adorno 2003f [1969]: 769) Demgegenüber zeichnet sich der »realistische« Adorno dadurch aus, dass er die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung an menschliches (und das heißt letzten Endes politisches) Handeln knüpft, auch wenn er diese Möglichkeit »hier und heute« für verstellt erachtet. Darüber hinaus vertritt der »realistische« Adorno die These, dass es »ohne Arbeitsteilung auch nicht ginge« (Adorno 2003d [1969]: 407) und selbst das Leben in der befreiten Gesellschaft weiterhin demokratischer Aushandlungsprozesse bedürfte. 178 Auch wenn ich die Betonung andersherum gesetzt hätte: Ich würde sowohl Arendt als auch Adorno eher als Theoretiker_innen der Alterität (des Nicht-Identischen, der Pluralität) mit einem Sinn für das Universale (für eine diese Alterität ermöglichende Ordnung) bezeichnen. 179 Der politische Theoretiker, der das explizit in dem etwas abstrakten, von Adorno verwendeten Vokabular von Universalität und Partikularität herausstellt, ist Ernesto Laclau (2018).

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über das Besondere« (Adorno 2003c [1965]: 14) wird hier zur potentiell konkreten Herrschaft der politischen Ordnungen über ihre Mitglieder oder der Mehrheit über die Minderheit. An den ohnehin ganz wenigen Stellen, an denen Adorno überhaupt (vage) über eine gute politische Praxis spekuliert, kommt er immer wieder auf dieses Problem zu sprechen. So zum Beispiel in den Marginalien zu Theorie und Praxis, in denen er der Scheinpraxis der Studierenden entgegenhält, dass ein »nicht bornierter Begriff von Praxis indessen [sich] einzig noch auf Politik […] beziehen [kann], auf die Verhältnisse der Gesellschaft« (Adorno 2003f [1969]: 764). Dass Adorno hier überhaupt offen über demokratische Praxis als kollektive Selbstregierung, als Möglichkeit, auf die gesellschaftlichen Bedingungen, auf die »Einrichtung der Welt« (Adorno 2010 [1963]: 262) Einfluss zu nehmen, spekuliert, ist schon ein Befund für sich. Adorno wäre aber nicht Adorno, würde er selbst diese vorsichtige Spekulation nicht sofort auch wieder mit einer Einschränkung versehen. Denn es solle sich auch niemand über den Umstand täuschen, schiebt er wenig später hinterher, »daß in eben der politischen Erweiterung des Praxisbegriffs Repression des Einzelnen durchs Allgemeine mitgesetzt ist.« (Adorno 2003f [1969]: 765) Die Rede vom »Mitgesetztsein« legt zunächst nahe, dass Adorno hier von einer in der Sache liegenden Notwendigkeit auszugehen scheint. Dennoch, schreibt er an der gleichen Stelle, könne diese Repression verhindert werden. Wie das geschehen kann, dass kann für Adorno aber nur die Theorie zeigen: »Der Archimedische Punkt: wie eine nicht repressive Praxis möglich sei, wie man durch die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne, ist, wenn überhaupt, anders als theoretisch nicht aufzufinden.« (Ebd.: 777) Nun kann man diese Stelle als zusätzliche Komplikation für meinen Vorschlag lesen: Adorno führt hier eine weitere Qualifikation bezüglich der Möglichkeit von demokratischer Politik ein. Eine Qualifikation, für die er zudem überhistorische, das heißt über die Gegenwartsdiagnose der »verwalteten Welt« hinausgehende Gültigkeit zu beanspruchen scheint. Auch wenn gesellschaftliche Veränderung in Zukunft wieder möglich sein sollte, so scheint uns Adorno hier sagen zu wollen, bleibt die Institutionalisierung demokratischer Politik mit Risiken behaftet. Man kann die gleiche Stelle aber auch wie folgt interpretieren: Adorno fragt hier geradezu nach einem Politikbegriff; er fordert an dieser Stelle im wahrsten Sinne des Wortes eine seinem Denken angemessene politische



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Theorie.180 Und es wird im Folgenden meine These sein, dass Hannah Arendt eine solche seinem Denken angemessene politische Theorie geliefert hat. Eine politische Theorie, die den »Konflikt zwischen Ordnung und Individuum« (Ahrens 2003: 245) ebenfalls sieht, diese Sorge darum aber in der Folge gerade zum Zentrum ihres Nachdenkens über Politik macht. Bevor ich ausführlich zeige, dass und inwiefern diese Behauptung zutrifft (4.3), gilt es im nächsten Abschnitt zunächst noch einen Blick auf Adornos eigene Auswege aus dem diagnostizierten Zustand zu werfen (4.2). Denn anders als es zum Teil angenommen wird, gibt es diese Auswege durchaus. Nur liegen sie für Adorno (noch) nicht in der Politik. 4.2. Mit Adorno gegen Adorno? Ich erinnere mich eines Gesprächs mit Kafka, das vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. »Wir sind«, so sagte er, »nihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen«. Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als böser Demiurg, die Welt sein Sündenfall. »O nein«, meinte er, »unsere Welt ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechter Tag.« — »So gäbe es außerhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen, Hoffnung?« — Er lächelte: »Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung, — nur nicht für uns.« Brod, Der Dichter Franz Kafka

Adornos These, Politik sei »angesichts der übermächtigen sozialen Kräfte und Einrichtungen« (Adorno 2003 [1952]: 368) aussichtslos, hat ihm den 180 Christoph Menke (2004: 178 f.) hat diese Stelle genauso interpretiert. Und er hat – leider ohne das auch nur mit einem einzigen Wort weiter zu erläutern – ergänzt, dass es »Hegels und Arendts Begriff der Politik« sei, den Adorno hier im Sinn habe. Eine solche Lesart, nach der Adorno regelrecht nach einem seiner kritischen Theorie angemessenen Politikbegriff verlangt, könnte sich zudem auf weitere Textstellen stützen. In den allerletzten Sätzen seiner bekannten Moralphilosophie-Vorlesungen versucht Adorno sich an dem folgenden bezeichnenden Fazit: »Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch sein darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt«, und er ergänzt, gleichsam Rahel Jaeggis (2014) Lebensform-These antizipierend: »[M]an könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik« (Adorno 2010 [1963]: 262).

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Ruf eines unverbesserlichen Pessimisten eingebracht, der die Möglichkeit einer Veränderung zum Besseren kategorial auszuschließen scheint. Adorno, so das Bild, wird zum resignativen Apokalyptiker, in dessen Theorierahmen emanzipatorische Praxis nicht einmal mehr gedacht werden kann.181 Dieses Bild ist überzeichnet. Im vorangegangenen Unterkapitel hatte ich bereits dafür argumentiert, dass auch für Adorno verändernde Praxis nicht grundsätzlich und für immer, sondern eben nur zeitweise unmöglich ist. Selbst für den pessimistischen Adorno gab es einen Zeitpunkt in der Vergangenheit – wenn auch nur einen kurzen historischen Augenblick –, in dem er die Möglichkeit zur Befreiung von Heteronomie als gegeben erachtete. Und selbst der pessimistische Adorno hält sie darüber hinaus – und in meinem Zusammenhang interessanter – für die Zukunft potentiell wieder für möglich. Aber auch zu seiner Zeit, in der er die Möglichkeit zur demokratischen Veränderung als verstellt erachtete, war Adornos Denken nicht einfach resignativ. Tatsächlich dachte er auch in der Zwischenzeit über Mittel und Wege nach, gegen die herrschende Heteronomie anzugehen. Nur liegen diese Mittel und Wege für ihn eben (noch) nicht in der Politik. Vielmehr haben sie alle entweder propädeutischen Charakter und/oder Statthalterfunktion für eine erst zukünftig zu verwirklichende »rechte Praxis« (Adorno 2003b [1953]: 450), für eine Politik im Konjunktiv. Diese widerständigen Praktiken, die Adorno gegen das sich selbst reproduzierende Ganze in Stellung bringt, gilt es im Folgenden skizzenhaft zu vergegenwärtigen. Ich werde drei Gegenstrategien Adornos, mit denen er gegen die herrschende Heteronomie anzuarbeiten gedenkt, vorstellen. In einem idealtypisierenden Vorgehen, das Adornos eigener verschlungener Darstellungsweise nicht gerecht wird, möchte ich – »mit Adorno gegen Adorno« – jede dieser drei Strategien jeweils als Antwort auf einen der oben skizzierten drei Einwände bzw. Vorbehalte rekonstruieren. Erstens: Angesichts der »Verstelltheit wahrer Politik hier und heute« (Ador­no 2003b [1962]: 430) ruft Adorno »die Zeit der Theorie« (Adorno 1998 [1965]: 198) aus. Die zur zweiten Natur gewordene »Vormacht des Objektiven« (Adorno 2003c [1966]: 295) müsse, so Adorno, durch kritische Theoriearbeit zunächst aufgedeckt, analysiert und als menschengemachte 181 Jürgen Habermas (1968: 12) hat in Bezug auf Adorno von einer »resignativen Enthaltsamkeit gegenüber Praxis« gesprochen. In einem ähnlichen Tenor hat Niklas Luhmann (1990: 236) Adornos Vorgehen als »ein resigniertes Kommentieren des Untergangs« charakterisiert. Adorno selbst hat sich schon zu Lebzeiten kritisch zum Vorwurf der Resignation geäußert (Adorno 2003g [1969]: 794–799).



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erkannt werden. Erst anschließend könne, wenn überhaupt, über politisches Handeln nachgedacht werden (4.2.1). Zweitens: Angesichts seiner Dia­gnose vom »Ende des Individuums« nimmt Adorno eine, wie er es nennt, »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 2003 [1959]: 571) vor. Das heißt konkret, dass er sich auf Fragen der Pädagogik und Bildung konzentriert, um das autonome Individuum, das er verloren glaubt, überhaupt erst einmal wiederzugewinnen, bevor dieses die Bühne der Welt betrete (4.2.2). Und drittens: So wie Adorno immer Sorge trägt, dass Allgemeines Einzelnes nicht unterdrückt, denkt er zumindest über Rationalitäten und Verhaltensweisen nach, für die diese Logik nicht gelten würde. Nur traut er politischem Handeln kaum zu, dieser Gefahr zu entgehen, sondern nur der Denkform der Negativen Dialektik und – eng damit verwandt – der Ästhetik. Vor allem die Kunst wird für ihn daher zum »Statthalter einer besseren Praxis« (Adorno 2003 [1970]: 26) (4.2.3). 4.2.1 Gegen den objektiven Einwand: Ein »Primat der Theorie« Adorno gibt zwar die Hoffnung auf die Möglichkeit einer besseren Gesellschaft nicht auf, es bleibt allerdings bei einer vagen Hoffnung. In jenem Moment (das heißt: in den 1950er und 60er Jahren) war ein besserer Zustand nach Adornos Einschätzung jedenfalls weder als Tendenz am Horizont erkennbar, noch direkt durch demokratische Praxis erreichbar (Adorno 2003g [1969]: 794, 798). Daher bestand Adorno stattdessen auf einem »Primat der Theorie« (Schwandt 2010: 191; Freyenhagen 2014: 873 ff.). Der prägnante Beginn der Negativen Dialektik kann durchaus in diesem Sinne verstanden werden: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward« (Adorno 2003c [1966]: 15), schreibt er hier in Anspielung auf Marx’ elfte Feuerbachthese. Einfacher ausgedrückt: Weil Praxis unmöglich ist, bleibt uns »nur« die Theo­ rie: »Denken ist für Adorno […] die einzig mögliche (rettende) Praxis in Zeiten der Verunmöglichung politischen Handelns.« (Marchart 2019: 150) Was aber kann Philosophie oder Theorie, was Praxis nicht kann? Adorno hat in seinen Schriften mehrere Gründe für diese theoriepolitische Entscheidung angeführt. Wenn die schiere Anzahl der Textbelege ein Indiz ist, dann scheint der wichtigste – und auch für mein Projekt interessanteste – der zu sein, dass Adorno Theoriearbeit in der damaligen Situation als eine Art notwendiges Propädeutikum zur (Wieder)herstellung der Möglichkeit politischen Handelns ansah. Adorno glaubte – es ließe sich fast

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sagen: in etwas undialektischer Manier –, dass es zuerst notwendig sei, die gegenwärtige Situation und die durch sie auferlegten Handlungsbeschränkungen vollständig zu erkennen und zu analysieren, bevor politisch-praktisch etwas dagegen unternommen werden könne: Er erachtet es, wie er in den bereits des Öfteren zitierten Marginalien zu Theorie und Praxis schreibt, als »unbestritten, daß die vernünftige Analyse der Situation die Voraussetzung zumindest von politischer Praxis ist: sogar in der militärischen Sphäre, der des kruden Vorrangs von Praxis, wird so verfahren.« (Adorno 2003f [1969]: 765) Zunächst einmal sei wichtig, hatte Adorno schon einige Jahre zuvor in seinem Text Individuum und Organisation gefordert, dass »die Menschen unverhüllt der Stellung innewerden, an die sie der Zwang der Verhältnisse bannt« (Adorno 2003b [1953]: 454). Der erste Schritt zur (praktischen) Veränderung der objektiven Verhältnisse, so also Adornos Grundannahme, liegt in ihrer (theoretischen) Analyse. Diese vermeintliche »Flucht in die Theorie« (Marchart 2019: 150) ist aber nicht einfach nur einer persönlichen Vorliebe oder Charakterdisposition Ador­nos geschuldet.182 Die Entscheidung hat vielmehr ihren sachlichen Grund in seiner Sozialtheorie, genauer: in dem, was ich oben als die konstruktivistische Dimension derselben bezeichnet habe. Anders als die in dieser Hinsicht etwas irreführende Rede von den »objektiven« Verhältnissen vielleicht suggerieren könnte, so hatte ich in Abschnitt 4.1.1 gezeigt, geht Ador­ no davon aus, dass selbst die damalige aporetische Situation menschengemacht ist: Die »herrschende Objektivität […] realisiert sich einzig durch die Individuen hindurch« (Adorno 2003c [1966]: 345). Überwältigend werden diese menschengemachten Verhältnisse erst dadurch, dass dieser Umstand opak, nicht mehr gesehen, schließlich vergessen und zur zweiten Natur wird. Das Potential der Philosophie sieht Adorno demgegenüber in ihrem »antimythologischen Impuls« (Adorno 2003e [1962]: 465). Theoriearbeit habe zunächst »das bloß von Menschen Gemachte zu durchschlagen und auf sein menschliches Maß zurückzuführen.« (Ebd.) Wenn das Problem hauptsächlich darin besteht, »daß die Individuen sich als bloße Objekte verkennen 182 Obwohl Adorno zugesteht, dass das auch eine Rolle spielt: »Ich sehe ab von der Frage, ob das von theoretischen Denkern, einigermaßen empfindlichen und keineswegs stoßfesten Instrumenten, verlangt werden kann. Die Bestimmung, die ihnen in der arbeitsteiligen Gesellschaft zugefallen ist, mag fragwürdig, sie selber mögen durch sie deformiert sein. Aber sie sind durch sie auch geformt; gewiß können sie, was sie wurden, nicht aus bloßem Willen abschaffen. Das Moment subjektiver Schwäche, das der Einengung auf Theorie anhaftet, möchte ich nicht verleugnen.« (Adorno 2003g [1969]: 794)



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und sich nicht als Träger der Geschichte wissen«, dann gelte es genau »diesen Schein […] fortzunehmen.« (Adorno 2003b [1951]: 292) Manchmal macht Adorno den Eindruck, als halte er es hierfür gar nicht unbedingt für nötig, sämtliche dem Kapitalismus zugrundeliegenden Mechanismen vollständig zu durchdringen. Zumindest für den ersten Schritt genügt es, so lässt er uns wissen, »die Nichtverstehbarkeit zu verstehen, die den Menschen gegenüber zur Undurchsichtigkeit verselbständigten Verhältnisse aus Verhältnissen zwischen Menschen abzuleiten.« (Adorno 2003c [1965]: 12) Ich werde im fünften Kapitel noch ausführlicher darauf eingehen, wie sich Adorno dieses Verstehen der Nichtverstehbarkeit vorstellt oder genauer ausgedrückt: wie sein Kritikbegriff funktioniert. An dieser Stelle soll zunächst einmal nur festgehalten werden, dass eine solche theoretische Analyse für Adorno eine unerlässliche Voraussetzung für die Möglichkeit von Politik darstellt: »Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 59), hatte es dazu schon in der Dialektik der Aufklärung geheißen. In der Abgetrenntheit von der gesellschaftlichen Praxis, die der Theorie auch damals schon vorgeworfen wurde und auch heute noch immer wieder vorgeworfen wird, sieht Adorno dann auch gar keinen Nachteil für dieses Vorhaben: »Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm gar keine Angst« (Adorno 2003d [1969]: 403), hatte er in einem Interview mit dem Spiegel, das aus der Zeit der Studierendenproteste stammt, einmal trotzig erklärt. Im Gegenteil: Adorno geht sogar davon aus, dass nur solche Theorie, die keiner »praktischen Vorzensur unterworfen wird« (ebd.), die also nicht zuallererst nach ihrer Anwendbarkeit gefragt wird, die Art von »kompromißlos kritisch[em]« und »[o]ffene[m]« (Adorno 2003g [1969]: 798) Denken bereitstellen kann, die er für sein Projekt als notwendig erachtet. Ein Grund, warum die Kritische Theorie sich diese Ignoranz gegenüber der Frage nach der eigenen Anwendbarkeit erlauben kann, ist gerade ihre – ohnehin gegebene – eigene Ohnmacht: »Weil Philosophie zu nichts gut ist«, schreibt Adorno in seinem programmatischen Aufsatz Wozu noch Philosophie, »ist sie noch nicht verjährt« (Adorno 2003e [1962]: 471; Hervorh. T. A.). Solange das Denken sich dessen bewusst bleibt, »ohne Mentalreservat, ohne Illusion […] seine Funktionslosigkeit und Ohnmacht sich eingesteht« (ebd.), stellt diese Wirkungslosigkeit aber zunächst einmal gar kein Problem, sondern eher einen Vorteil dar. Denn nur solange sich Theorie nicht »von vorneherein der Praxis unterwirft« (Adorno 2003d [1969]: 403), kann sie

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über den Status quo hinausweisen – »erhascht vielleicht einen Blick in eine Ordnung des Möglichen, Nichtseienden, wo die Menschen und Dinge an ihrem rechten Ort wären.« (Adorno 2003e [1962]: 471) Einen »Ausweg« aus der vertrackten Situation kann für Adorno daher »einzig Denken finden, und zwar eines, dem nicht vorgeschrieben wird, was herauskommen soll, wie so häufig in jenen Diskussionen, bei denen feststeht, wer recht behalten muß […]. Sind die Türen verrammelt, so darf der Gedanke erst recht nicht abbrechen. Er hätte die Gründe zu analysieren und daraus die Konsequenzen zu ziehen. An ihm ist es, nicht die Situation als endgültig hinzunehmen. Zu verändern ist sie, wenn irgend, durch ungeschmälerte Einsicht.« (Adorno 2003g [1969]: 796) Zugleich sollte diese Abgetrenntheit von der gesellschaftlichen Praxis aber auch nicht hypostasiert werden. Denn obwohl der Elfenbeinturm, in dem Denken größeren Freiheiten unterliegt als im Rest der Gesellschaft, für Ador­no eine Art Insel der Freiheit innerhalb der gesellschaftlichen Totalität darstellt, zielt die hier betriebene kritische Theorie ja auf die Veränderung besagter gesellschaftlicher Totalität. Damit diese Unternehmung aufgeht, darf das Projekt also kein rein akademisches bleiben: »Eine der wichtigsten Bedingungen für die Veränderung […] wäre, daß die Sachverhalte, auf die ich hindeut[e], allgemein bewußt, etwa schon im politischen Unterricht behandelt würden und dadurch etwas von ihrer verhängnisvoll blinden Gewalt verlören.«183 (Adorno 2003e [1969]: 790) Und insofern ist Theorie für Adorno dann mehr als nur ein »Surrogat für verändernde Praxis« (Marchart 2019: 150). Wenn Denken nicht gar selbst »ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis« (Adorno 2003f [1969]: 761) ist, dann bereite es diese zumindest vor. Pointiert formuliert: Adorno hat vielleicht keine Theorie der Politik, aber er betreibt Theorie als Politik.184 Trotzdem sind Theorie und Politik nicht das gleiche. Auf die von Marx noch geforderte Einheit von Theorie und Praxis hatte sich gerade die Studierendenbewegung ja immer wieder berufen. Adorno hat demgegenüber jedoch – in gut Arendtscher Manier – immer auf der Eigenständigkeit der

183 Es ist daher nur konsequent, dass sich Adorno – wie ich im folgenden Abschnitt genauer erläutern werde –Gedanken über Bildung gemacht hat. 184 Zur Deutung der Theorie als Praxis bei Adorno vgl. Freyenhagen (2014: 876  f.). Für Chris­toph Menke (2004: 180 f.) hingegen zielt Adornos Theorie eher auf Praxis.



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beiden Tätigkeitsweisen beharrt.185 Theorie bleibt für ihn eher Propädeutik für eine erst zukünftig wieder mögliche Politik. Wenn es laut Adornos Gesellschaftsdiagnose »das politische Handeln kollektiver Selbstregierung nicht gibt, dann kann das für ›politisches‹ Handeln heute nur heißen, dass es nicht das Handeln der Politik selbst, sondern ein Handeln zur Herstellung von Politik ist; ein Handeln also, das Arendt aufgrund seiner Logik, der Logik eben der Herstellung, ›präpolitisch‹ genannt hat. […] ein Handeln, das die Handlungsform der Politik herbeiführen soll, aber noch nicht ist.« (Menke 2004: 180 f.) Es gibt für Adorno darüber hinaus (mindestens) noch eine zweite Funktion von Theorie, die im Zusammenhang mit der Frage nach politischer Praxis interessant ist. Denn Theorie ist nicht nur Propädeutik für zukünftige Praxis. Auch eine in Zukunft vielleicht wieder mögliche demokratische Politik müsste für Adorno weiterhin theoretisch angeleitet bleiben: »Ohne kontemplatives Moment artet die Praxis in begriffslosen Betrieb aus« (Ador­no 2003a [1964]: 603). Adorno geht davon aus, »daß anders als durch Denken, und zwar durch unbeirrbares und insistentes Denken, so etwas wie die Bestimmung dessen, was zu tun richtig sei, richtige Praxis überhaupt, nicht vollziehbar ist.« (Adorno 2017 [1969]: 137) Dies impliziert umgekehrt: »Praxis ohne Theorie, unterhalb des fortgeschrittenen Standes von Erkenntnis, muß mißlingen« (Adorno 2003f [1969]: 766). Schon deshalb, aufgrund seines Mangels an Reflexion, kann der Protest der Studierenden für Adorno gar nicht sinnvoll auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielen: »Falsche Praxis ist keine.« (Ebd.) 4.2.2 Gegen den subjektiven Einwand: Die »Wendung aufs Subjekt« Setzt Adorno angesichts der objektiven Übermacht der Verhältnisse auf ein »Primat der Theorie«, also darauf, dass Handlungsbeschränkungen zuerst durchschaut werden sollen, bevor etwas zu deren Veränderung getan werden 185 Adorno befürchtete, dass der von den Studierenden proklamierten Einheit von Theorie und Praxis die Tendenz innewohne, de facto »in die Vorherrschaft von Praxis überzugehen.« (Adorno 2003g [1969]: 795) Glauben wir Adornos Einschätzung, dann hatte schon Marx »die elfte Feuerbachthese so autoritär vorgetragen, weil er ihrer nicht ganz sicher sich wußte.« (Ebd.) Es drohe Praxis vollends selbst zur Ideologie zu werden: »Bei Marx war die Lehre von jener Einheit beseelt von der – schon damals nicht realisierten – präsenten Möglichkeit der Aktion. Heute zeichnet eher das Gegenteil sich ab. Man klammert sich an Aktionen um der Unmöglichkeit der Aktion willen.« (Ebd.)

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darf, so besteht sein eigener Vorschlag angesichts der subjektiven Verunmöglichung von Politik in einer »Wendung aufs Subjekt« (zum Beispiel Adorno 2003 [1959]: 571 oder 2003b [1966]: 676). Adorno selbst lässt keinen Zweifel daran, dass er hier – auf der subjektiven Ebene – das größte Potential bezüglich der Möglichkeit gesellschaftsverändernder Praxis sieht: »Wenn heute die Spur des Menschlichen« an etwas »zu haften scheint«, so heißt es dazu in einer typisch paradoxen und leicht reservierten Formulierung in den Minima Moralia, dann »einzig am Individuum als dem untergehenden« (Adorno 2003d [1951]: 171; Hervorh. T. A.). Das scheint zunächst in einem Spannungsverhältnis zum von Adorno selbst proklamierten »Primat« der objektiven Bedingungen »über die Psychologie« zu stehen, die – ich hatte die Stelle bereits zitiert – »ans Maßgebende« für ihn gerade »nicht heranreicht.« (Adorno 2003f [1969]: 773) Unter den Einwänden gegen die Möglichkeit von Politik wiegt jener der objektiven Überlegenheit der gesellschaftlichen Tendenz für Adorno am schwersten. Warum dann also das »Heilmittel« auf der subjektiven Seite suchen? Es gibt bei Adorno zwei verschiedene Antworten auf diese Frage. Zum einen stellt die Wendung aufs Subjekt für ihn eine Art Behelfslösung dar, einen Ersatz für die aktuell verstellte Politik. Gerade weil Adorno den Versuch, die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern, im Spätkapitalismus für aussichtslos erachtet, glaubt er, wenn überhaupt, dann nur hier ansetzen zu können. Nur bei den Subjekten, so heißt es beispielsweise in Erziehung nach Auschwitz, sei ein praktischer Eingriff noch möglich: »Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen […] zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt sind, sind Versuche […] notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt.« (Adorno 2003b [1966]: 675 f.) Das Subjekt ist, wie Adorno an anderer Stelle schreibt, »das einzige Potential, durch das diese Gesellschaft sich ändern kann, und in dem zwar alle Negativität des Systems sich speichert, zugleich aber doch auch das, was über das System, so wie es heute nun einmal ist, hinausweist.«186 (Adorno 1993 [1968]: 255; Hervorh. T. A.) 186 Fabian Freyenhagen hat angesichts dieser scheinbaren Schizophrenie einmal bemerkt: »Pessimism and optimism often come as a pair. In Adorno’s case, his deep pessimism about the contemporary social world is coupled with a strong optimism about human potential.« (Freyenhagen 2015: 1) Adornos Hoffnung auf das Individuum ist jedoch keinesfalls unbegründet, sondern ergibt sich aus seinem oben rekonstruierten Subjektverständnis. Ich hatte in Abschnitt 4.1.2 ausgeführt, dass Adorno an kein wie auch immer geartetes vorgängiges Subjekt denkt, sondern dass die Entität, die wir »Individuum« nennen, für ihn – im Guten wie im Schlechten – gesellschaftlich geformt ist. Dieses Individuum entstand



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Es handelt sich bei Adornos »Wendung aufs Subjekt« aber nicht nur um eine Verlegenheitslösung, die ihm durch die objektiven Bedingungen aufgezwungen wird. Denn zum anderen sieht er im Ansetzen beim Subjekt auch eine Bedingung der Möglichkeit von politischer Veränderung. Adorno hält ein mündiges oder autonomes Subjekt – er verwendet beide Begriffe ausdrücklich synonym (Adorno 2017 [1969]: 136, 139 f.) – für die absolute Grundvoraussetzung, die Conditio sine qua non, von Demokratie. Das Kultivieren von Mündigkeit ist, wie er in einem ausdrücklich demokratietheoretischen Vokabular formuliert, »zugleich von eminenter politischer Bedeutung; seine Idee ist, wenn man so sagen darf, politisch gefordert. Das heißt: eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.« (Adorno 2017 [1966]: 107) In seinem Vortrag zur Erziehung zur Mündigkeit mahnt Adorno an, dass Mündigkeit die »Voraussetzung« sei, »von der eine freie Gesellschaft abhängt« (Adorno 2017 [1969]: 135). Wie aber kann man die Menschen zur Mündigkeit »bewegen« (ebd.: 147)? Die »Herstellung eines richtigen Bewußtseins« (Adorno 2017 [1966]: 107) muss für Adorno die schulische Pädagogik leisten. Sie ist das »direktem und planbarem gesellschaftlichen Einfluss unterworfene Moment der Erziehung der nachwachsenden Generation« (Weyand 2001: 152).187 Nun ist erst im durch das liberale Bürgertum geprägten Frühkapitalismus und befindet sich im Spätkapitalismus im »evidente[n] Verfall« (Adorno 2003c [1966]: 344). Jedoch unterdrückt die ständig nach Anpassung verlangende normative Ordnung des Spätkapitalismus Individualität nicht nur: Einerseits sind die Subjekte im Spätkapitalismus zwar dazu gezwungen, »den organisatorischen Forderungen der Gesellschaft widerstandslos sich zu unterwerfen.« (Adorno 2003a [1962]: 161) Andererseits aber verlangt gerade eine solche ständige Anpassung an teilweise wechselnde gesellschaftliche Anforderungen, so Adornos dialektisches Argument, auch »eine Wendigkeit, die von Individualität nicht zu trennen ist.« (Ebd.) Die Forderung nach Anpassung und die nach Autonomie widersprechen einander nicht nur, »sondern sind zugleich verflochten.« (Ebd.) »Individualität«, so die psychoanalytische Pointe hier, ist daher »sowohl Produkt des Drucks wie das Kraftzentrum, das ihm widersteht« (Adorno 2003c [1966]: 279). In dieser Tatsache bestätigt sich für Adorno – an dieser Stelle seine eigene Totalitätsthese gleichsam aufweichend –, »daß die vielberufene Integration unmöglich ist.« (Adorno 2003a [1962]: 161) 187 Genau genommen stellt die schulische Erziehung für Adorno nur die zweitbeste Option dar. Als – zumindest gesellschaftstheoretischer – Anhänger der Freudschen Theorie geht er davon aus, dass eigentlich viel früher angesetzt werden müsste. So hätte die Erziehung nach Auschwitz »auf die frühe Kindheit sich zu konzentrieren.« (Adorno 2003b [1966]:

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Adorno selbst bekanntermaßen gar kein Pädagoge. Sein Beitrag zu diesem Projekt ist daher ein indirekter: Er besteht in der »Erziehung der Erzieher.« (Adorno 2003 [1959]: 569) Zum einen ist Adorno, in seiner Funktion als Professor für Philosophie und Soziologie, an der Ausbildung von Lehrer_innen beteiligt (Adorno 2003a [1961]: 474–494) und engagiert sich auch darüber hinaus bildungspolitisch in Fachausschüssen und Gremien (Weyand 2001: 152). Zum anderen setzt er sich vor allem auch publizistisch für die Aufklärung von Lehrer_innen ein. Das heißt, er bildet sie nicht nur selbst aus, sondern bietet auch in einer Vielzahl von Aufsätzen, Vorträgen und Radiobeiträgen Vorschläge zur Lehrer_innenausbildung an. So war es für mich, der aus der Politischen Theorie und Sozialphilosophie kommt, zunächst etwas überraschend, was für ein großer Anteil von Adornos Aufsätzen sich mit Fragen der Erziehung, des Unterrichts und der politischen Bildung beschäftigt.188 Auffällig ist auch, dass es sich gerade bei vielen von Adornos heute wirkmächtigeren Aufsätzen zu Erziehungsfragen ursprünglich um Radiobeiträge handelt.189 Adornos »demokratische Pädagogik« (Adorno 2003 [1959]: 568) behält jedoch den Status eines Programms; die wenigen konkreten Maßnahmen, die er vorschlägt, verbleiben in Andeutungen. Eindeutiger ist er hingegen bei der Formulierung des Ziels. Klar scheint ihm, dass das Ziel einer jeden demokratischen Erziehung ein mündiges, das heißt durchaus in einem kantischen Sinne autonomes Subjekt (Han 2016: 189 f.) sein muss: »Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet« (Adorno 2003e [1969]: 785). Dabei betont Adorno stark – das ist ein Unterschied zu Kant – das negativistische Moment dieser Befähigung. Denn Selbstdenken »erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal 676) Nur findet die familiäre Erziehung im Privaten, im oikos, statt. Sie bleibt dem direkten gesellschaftlichen Eingriff (und erst recht dem der kritischen Theoretiker_innen) weitestgehend entzogen. Die Eltern aber, bei denen die frühkindliche Erziehung stattdessen liegt, sind selbst bereits gefestigte Produkte der objektiven Bedingungen. Die einzige Eingriffsmöglichkeit ist hier daher eine indirekte: Über eine Veränderung dessen, was Adorno »geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima« (ebd.: 677) nennt. 188 Einen Eindruck davon vermittelt der Band Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, der eine Vielzahl von Adornos bildungstheoretischen Beiträgen versammelt. 189 Das gilt zum Beispiel für seine beiden wohl bekanntesten Beiträge zu Bildungsfragen: Sowohl Erziehung nach Auschwitz als auch Erziehung zur Mündigkeit waren ursprünglich Radiovorträge bzw. -gespräche.



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vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte« (ebd.).190 Autonome Individuen sind für Adorno solche, die »innerhalb dieser heteronomen, dieser ihr in ihrem eigenen Bewußtsein entrückten Gestalt« eben nicht »alles schlucken und akzeptieren.« (Adorno 2017 [1969]: 144) Die »einzige wirkliche Konkretisierung«, die er daher wagen will, ist die, »daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.« (Ebd.: 145) In einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse ohnehin auf Anpassung drängen, hätte Erziehung »durchs Elternhaus, soweit sie bewußt ist, durch die Schule, durch die Universität […] eher die Aufgabe, Widerstand zu kräftigen, als Anpassung zu verstärken.« (Adorno 2017 [1966]: 110) Auch wenn Adornos erziehungstheoretisches Programm eher vage bleibt, verweist sein Fokus auf die Erziehung zur Mündigkeit (der Einzelnen) zumindest potentiell auf die Möglichkeit zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse – auf Politik. Jan Weyand (2001: 154) sieht damit gar »die oft vorgetragene These von der mangelnden Praxis Adornos« als widerlegt an. Und Sangwon Han (2016: 181) glaubt in Adornos »Wendung aufs Subjekt« gar seine »Politische Theorie« ausgemacht zu haben. Ich widerspreche diesen Interpretationen nicht grundsätzlich, denke aber, dass es zu weit ginge, in Adornos Fokus auf Erziehungsfragen bereits eine vollständig ausgearbeitete politische Theorie zu sehen. Zwar verweist Adornos Hinwendung zum Subjekt auf eine potentiell in Zukunft wieder mögliche Politik.191 Jedoch verbleibt auch sie im Stadium eines Propädeutikums. Genau wie die Konzen­ tration auf philosophische Kritik oder Theorie soll auch die »Wendung aufs Subjekt« eine künftige politische Praxis erst vorbereiten. Max Horkheimer hat dies in einem Gespräch mit Adorno einmal leicht überspitzt, aber wie ich finde treffend wie folgt formuliert: »Your view is that we should live our lives in such a way that things will get better in a hundred years.« (Adorno und Horkheimer 2019: 13) Die langfristige Anlage dieser Strategie ist aber noch nicht einmal ihr primäres Problem. Vielmehr wird Adorno bei seinem engen Fokus auf pä­ dagogische Fragen auch seinem eigenen dialektischen Anspruch untreu, da 190 Sangwon Han hat vorgeschlagen, Adornos Verständnis von Mündigkeit als Abwandlung von Kants bekanntem Diktum zu reformulieren: »Habe Mut, durch deinen eigenen Verstand nein zu sagen!« (Han 2016: 193) 191 Wirkliche Demokratie, so Adorno in Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, wäre eine, in der sich »Menschen […] selbst als Subjekte der politischen Prozesse wissen«, als »identisch mit dem Volk selber, als Ausdruck seiner Mündigkeit.« (Adorno 2003 [1959]: 559)

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er diesen Zusammenhang zu stark in Vorbereitung und Durchführung unterteilt. Zuweilen scheint es, als plädiere er hier für eine Art strikt zu trennendes Phasenmodell: Erst gelte es, die »Spontaneität […], von der alles abhinge«, in den autonomen Individuen wiederzuerwecken, die dann daran gehen könnten, die »verhärteten Zustände zu verändern« (Adorno 2003c [1965]: 18) oder, in einer moderneren Terminologie gesprochen: politisch zu handeln. Ich werde später mit Arendt dagegenhalten, dass Adornos Modell hier zu sehr trennt, was nicht zu trennen ist und dass die Konstitution von Autonomie auch in der politischen Sphäre selbst stattfindet; dass es auf der Bühne der Welt selbst auch zu einer »Er-mächtigung der Subjekte« (Kayserilioğlu 2018: 15) kommt sowie dass politisches Handeln selbst eine »Praxis der Ermächtigung« (ebd.: 162) darstellen kann (4.3.2). Bevor ich auf diesen Zusammenhang zu sprechen komme, gilt es an dieser Stelle aber noch kurz einen Blick auf Adornos dritte Gegenstrategie zu werfen. 4.2.3 Vom Versuch, die Freiheit zu denken: Negative Dialektik und Kunst Denn auch über das, was ich Adornos generelles Bedenken gegenüber der Möglichkeit von Politik genannt hatte, lässt sich mit Adorno, das heißt im Rahmen seiner Theoriebildung, zumindest nachdenken. Ich hatte behauptet, dass eine Art Grundsorge Adornos sich auf das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen dem Universalen und dem Partikularen oder – in der Terminologie, für die er bekannt geworden ist – zwischen dem Identischen und dem Nicht-Identischen bezieht. Und ich hatte darüber hinaus behauptet, dass diese Grundsorge im Zusammenhang mit der Frage nach der Möglichkeit von Politik besonders virulent wird. Dass diese Sorge Adornos nicht ganz unberechtigt ist, lässt sich schon erahnen, wenn man eine niedrigschwellige Vorstellung davon zugrunde legt, was demokratische Politik ist. Nach einer Definition, die sich in vielen Einführungen in die Politikwissenschaft findet, ist Politik ganz allgemein die Formulierung, Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Das heißt, Politik ist das Treffen von Entscheidungen, die dann für alle Personen mit ihren je besonderen Vorstellungen vom guten Leben allgemein verbindlich sind. Dass ein Partikulares (zum Beispiel eine bestimmte politische Position oder Gruppe) hierbei Gefahr läuft, durch ein Allgemeines oder eine Allgemeinheit unterdrückt zu werden, scheint auf der Hand zu liegen. Das Extrembeispiel für dieses Problem ist sicherlich »the ›tyranny of the Universal‹ of the French revolutionary terror and its Sovjet Maoist offspring« (Villa



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2012: 94). Aber auch in liberalen – »verwalteten« – Demokratien sah Adorno diese Gefahr stets als gegeben an. Und selbst eine zukünftige »wahre« Demokratie, so seine oben bereits rekonstruierte Warnung, müsse sich dieses Risiko stets bewusst halten. Adornos Ideal besteht auf der anderen Seite aber auch nicht in einer postmodernen Stilisierung des Besonderen oder Partikularen. Vielmehr ist er auf der Suche nach einem angemessenen Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, Universalem und Partikularem.192 Das lässt sich besonders gut an den wenigen Stellen zeigen, an denen sich Adorno – der selbst auferlegten Askese (Adorno und Mann 2002: 128) zum Trotz – wenigstens vagen Spekulationen über die befreite Gesellschaft hingibt. Im Aufsatz Zu Subjekt und Objekt, einem weiteren Text, der dem Kontext der Studierendenbewegung entstammt, heißt es dazu in dem für Adorno typischen Konjunktiv: »Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt«, so wäre diese nur vorstellbar als »Kommunikation des Unterschiedenen. […] Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.« (Adorno 2003h [1969]: 743) Und in den Minima Moralia hält er sogar in einem stärker politikwissenschaftlichen Vokabular fest: »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen.«193 (Adorno 2003d [1951]: 116) So vage und abstrakt diese Hinweise sein mögen, Adornos späte Philosophie kann durchaus als auf der Suche nach einer Rationalität verstanden werden, die zu dieser »Kommunikation des Unterschiedenen« in der Lage wäre. Die (vorläufigen) Ergebnisse dieser Suchbewegung hat er in der Negativen Dialektik und in seiner nicht mehr vollendeten Ästhetischen Theorie festgehalten. Da ich im dritten Kapitel bereits etwas ausführlicher auf die 192 »The point is not simply to underline ›the resistance otherness offers to identity‹ à la Derrida or Levinas. Rather, it is to preserve the tension between the identical and the nonidentical, while imagining a social state – a ›totality‹ – that is nothing more than the ›togetherness of diversity‹. In other words, the point is to reimagine society as a collection of differences whose ›reconcilement‹ does not in any way demand their erasure« (Villa 2012: 94). 193 Im gleichen Aphorismus findet sich die bekannte Formulierung, dass der bessere Zustand als einer zu denken sei, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« (Adorno 2003d [1951]: 116) Ich werde im nächsten Abschnitt argumentieren, dass Arendts um den Begriff der Pluralität zentrierte politische Handlungstheorie gewissermaßen eine Radikalisierung dieser Idee ist. Ihre Utopie ist eine, in der man nicht nur »ohne Angst« verschieden ist, sondern seine Verschiedenheit mit Stolz zur Schau trägt.

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Methode der negativen Dialektik eingegangen bin, möchte ich sie hier nicht nochmal im Detail beschreiben. Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass Adorno dem negativ dialektischen Denken in Konstellationen das angesprochene Vermittlungsverhältnis zutraut: Das konstellative Denken stellt eine Annäherung an die Frage dar, wie das Besondere (während des Vorgangs konstellativen Denkens: das Objekt) und das Allgemeine (Begriffe, die um dieses Objekt kreisen) in einer Weise miteinander vermittelt werden können, die sowohl dem Besonderen Gerechtigkeit widerfahren lässt, als auch dieses Besondere in ein Allgemeines eingebettet denkt. Hier will ich die Aufmerksamkeit stattdessen noch kurz auf eine Schrift richten, die im bisherigen Verlauf dieser Studie noch keine größere Rolle gespielt hat. Denn Adorno traute dieses Vermittlungsverhältnis auch autonomen Kunstwerken zu, über deren Möglichkeit er in seiner 1966 begonnenen, aber nicht mehr vollendeten Ästhetischen Theorie nachdachte. Die Sphäre der Kunst nahm für ihn gleich in mehreren Hinsichten eine Art »Ausnahmestellung« (Müller-Doohm 2001: 715) in der »verwalteten Gesellschaft« ein. »Kunst«, schreibt Adorno in seinem Fragment gebliebenen Alterswerk, »hat inmitten herrschender Utilität zunächst wirklich etwas von Utopie« (Adorno 2003 [1970]: 461). Daher sei es an ihr, »wortlos festzuhalten, was der Politik versperrt ist.« (Adorno 2003b [1962]: 430) Die Rede von der »Utopie« sollte hier allerdings nicht so verstanden werden, dass Kunstwerke für Adorno wirklich den positiven Entwurf einer möglichen zukünftigen Gesellschaftsordnung enthielten. Auch »der Kunst [ist] ihre Utopie, das nicht Seiende, schwarz verhängt« (Adorno 2003 [1970]: 204). Mehr noch: Adorno traute der Kunst die »Erinnerung […] an das Mögliche gegen das Wirkliche« (ebd.) sogar nur unter der Bedingung zu, dass sie negativ bleibt. Zwar müsse Kunst – die von Adorno auch als eine Art »bewußtlos[e] Geschichtsschreibung, Anamnesis des Unterlegenen, Verdrängten, vielleicht Möglichen« (ebd.: 384) beschrieben wird – auf die bestehende Wirklichkeit bezogen bleiben, jedoch entfalte sie ihr kritisches Potential nur, solange sie einen strikt »antithetischen Standpunkt zur Gesellschaft« (Müller-Doohm 2001: 717) einnehme: »Keine Wahrheit der Kunstwerke ohne bestimmte Negation« (Adorno 2003 [1970]: 195).194 194 Ich interessiere mich an dieser Stelle vor allem für die Rolle, die Adorno der Kunst als und für die Möglichkeit gesellschaftsverändernder Praxis zuschreibt und kann hier dementsprechend keine Gesamtdarstellung geben, die der Ästhetischen Theorie auch nur annähernd gerecht würde. Ein empfehlenswerter Überblick findet sich bei Endres, Pichler und Zittel (2019).



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Der Grund, warum Adorno ausgerechnet Kunstwerken diese Fähigkeit zuspricht, liegt zum einen in ihren spezifischen Produktionsbedingungen, zum anderen – und als Folge daraus – in einer besonderen, ihnen eigenen Form von Rationalität. Weil »Kunstwerke«, so Adornos Behauptung, vom kapitalistischen Produktionsprozess ausgenommen seien, könnten sie zum »Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschen Zugerichteten« (ebd.: 337) werden. Als »das Andere, vom Getriebe des Produktions- und Reproduktionsprozesses der Gesellschaft Ausgenommene, dem Realitätsprinzip nicht Unterworfene« (ebd.: 461) muss sich Kunst also nach nichts richten. Ja, sie darf es laut Adorno nicht einmal: Nicht nach der Nachfrage auf dem Markt und auch nicht nach den Vorlieben ihrer Rezipient_innen. Insbesondere – und in unserem Zusammenhang besonders interessant – darf Kunst auch nicht (direkt) politisch sein. Diesen Punkt hatte Adorno in einer Debatte mit Walter Benjamin – und vermittelt über diesen wohl auch mit Bertolt Brecht (Adorno und Benjamin 1994: 168-175) – besonders betont. Kunstwerke können für ihn paradoxerweise nur dann gesellschaftskritische Wirkung entfalten, wenn sie gerade nicht versuchen politisch zu sein: »An der Zeit sind nicht die politischen Kunstwerke, aber in die autonomen ist die Politik eingewandert« und zwar »dort am meisten, wo sie politisch tot sich stellen, so wie Kafkas Gleichnis von den Kindergewehren, in dem die Idee der Gewaltlosigkeit mit dem dämmernden Bewußtsein von der heraufziehenden Lähmung der Politik fusioniert ist.« (Adorno 2003b [1962]: 430) Kunst darf für Adorno auf gar nichts abzielen, sie darf nichts »wollen«. Denn alles »Neue ist«, wie er es in der Einleitung der Ästhetischen Theorie etwas umständlich umschreibt, »aus Not, ein Gewolltes, als das Andere aber wäre es das nicht Gewollte. Velleität kettet es ans Immergleiche […]. Es intendiert Nichtidentität, wird jedoch durch Intention zum Identischen« (Adorno 2003 [1970]: 41). Nur wenn ein Kunstwerk ausschließlich »um seiner selbst willen« gemacht wird, traut Adorno ihm das »Münchhausenkunststück der Identifikation des Nichtidentischen« zu; dann kann Kunst – wie schon negativ dialektisches Denken – eine Rationalität entfalten, der die oben geforderte Vermittlung zwischen Allgemeinem und Besonderem gelingt.195 195 Ob der Begriff »Rationalität« hierfür dann überhaupt noch Sinn macht, steht auf einem anderen Blatt. So legt Adorno auch deshalb so große Hoffnungen auf den Bereich der Ästhetik, weil Kunst seines Erachtens den Rahmen des begrifflichen Denkens, dem negativ dialektisches Denken trotz allem weiterhin verhaftet bleibt (vgl. Kapitel 3), zu über-

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Daher würde es meines Erachtens auch zu weit gehen zu behaupten, bei der Negativen Dialektik und/oder der Ästhetischen Theorie handle es sich eigentlich um Adornos politische Theorie.196 Kunst bleibt bei ihm eher so etwas wie ein »Modell möglicher Praxis« (Adorno 2003 [1970]: 359). Als ein »Modell« – laut dem Duden eine »veranschaulichende Ausführung eines vorhandenen oder noch zu schaffenden Gegenstandes« (Duden 2021) – bleiben Kunstwerke letztendlich impotent. Sie verlangen zwar, wie Adorno in einer etwas messianistisch klingenden Terminologie schreibt, nach der Aufhebung »des Bestehenden« (Adorno 2003 [1970]: 359). Sie können diese aber selbst keinesfalls herbeiführen: »Daß Kunstwerke politisch eingreifen, ist zu bezweifeln« (ebd.). Sie sind »Statthalter einer besseren Praxis« (ebd.: 26), können diese letztendlich aber nicht einmal guten Gewissens versprechen: »Kunstwerke ziehen Kredit auf eine Praxis, die noch nicht begonnen hat und von der keiner zu sagen wüßte, ob sie ihren Wechsel honoriert.« (Ebd.: 129) Ich schlage daher stattdessen vor, negative Dialektik und Kunst als Suchbewegungen Adornos zu verstehen; als Suchbewegungen nach der Antwort auf die Frage, wie das Nicht-Identische zu seinem Recht kommen kann.197 Als Suchbewegungen freilich, die Adorno nie in eine politische Theorie überführt hat. Oder in den Worten Jay Bernsteins: »Adorno never managed to translate the promises borne by artistic practice [or negative dialectics, T. A.] into political praxis.« (Bernstein 2012: 57) Diese Übersetzungsleistung, so werde ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels zeigen, kann aber mit Hannah Arendts Hilfe vollzogen werden. Nicht nur liest sich ihre politische Handlungstheorie zuweilen so, als wäre sie als direkte Antwort auf Adornos These der »verwalteten Welt« geschrieben worden, sondern es weist auch ihr Ringen um die Frage nach den Konturen einer politischen Ordnung (Allgemeines), die Pluralität ermöglicht und befördert (Partikulares), erstaunliche Analogien zu der Denkfigur auf, die Adorno nur der negativen Dialektik oder der Kunst zutraute. Mit Hilfe von Hannah schreiten in der Lage ist und »Erkenntnis« dadurch »um das von ihr Ausgeschlossene«, wie Adorno schreibt, »komplettiert« (Adorno 2003 [1970]: 87). 196 Das tut zum Beispiel Espen Hammer, wenn er schreibt: »[I]ndeed, negative dialectics is Adorno’s political philosophy, though in a coded and highly mediated form – the only form which he sees as possible in a world that prohibits […] practice.« (Hammer 2006: 98) Eine ähnliche Behauptung mit Bezug auf die Ästhetische Theorie findet sich bei Bernstein (2012: 57). 197 Ich orientiere mich damit an einem Vorschlag von Susan Buck-Morss, die das zentrale achte Kapitel ihrer Pionierstudie The Origin of Negative Dialectics mit »Theory and Art: In Search of a Model« (Buck-Morss 1979: 122) überschrieben hatte.



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Arendts Begrifflichkeiten, so meine These, lässt sich Politik so verstehen, dass sie wie die Kunst an der »Identifikation des Nichtidentischen« und damit an einer Grundvoraussetzung des versöhnten Zustandes im Sinne der »Kommunikation des Unterschiedenen« zumindest arbeitet. 4.3 Mit Arendt gegen Adorno Das Bild vom elitistischen Mandarin Adorno (Finlayson 2002: 9), der lieber auf der Veranda des Grand Hotels Abgrund Cocktails schlürft, anstatt sich aktiv an der Veränderung der Welt zu beteiligen, ist, wie wir sahen, eine Karikatur und so schlicht nicht haltbar. Richtig ist jedoch, dass Ador­no nie ein Verständnis politischen Handelns oder politischer Institutionen entwickelt hat. Dass und, wichtiger, warum dem so ist, habe ich in den beiden vorangegangenen Abschnitten dargelegt. Ich habe gezeigt, dass es sich bei Adornos auffälligem Schweigen zum Thema Politik weder um einen Widerspruch zu seiner eigenen kritischen Theorie, noch einfach um eine zufällige »Leerstelle« (König 2016: 346) oder »Lücke« (Bohmann und Sörensen 2019: 9) handelt, sondern dass er seine Weigerung, über die Möglichkeit von Politik auch nur nachzudenken, ausdrücklich rechtfertigt und begründet. Seine These von der »Verstelltheit wahrer Politik hier und heute« (Ador­no 2003b [1962]: 430), so hatte ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels gezeigt, ergibt sich erst einmal folgerichtig aus seiner Gesellschaftstheorie. Trotzdem, das war die Behauptung des zweiten Abschnitts, ist Adornos Denken nicht resignativ. Seine Theoriebildung kreist vielmehr um die Frage, wo sich angesichts der eigenen düsteren Diagnose der »verwalteten Welt« noch Handlungsspielräume befinden, wie diese vergrößert werden können und wie damit, trotz alledem, Widerstand gegen die Herrschaft der bestehenden Verhältnisse geleistet werden kann. Jedoch haben alle seine Vorschläge bestenfalls propädeutischen, vorbereitenden Charakter für eine erst in Zukunft zu verwirklichende demokratische Praxis. Schlechterenfalls sind sie nur »Ersatz« (Seel 2004: 14) für eine solche. Im Folgenden möchte ich daher vorschlagen, Adornos Kritische Theorie um Arendts Politikbegriff zu ergänzen. Nach dem bisher Gesagten scheint dieser Vorschlag ja schon nahezuliegen, denn Adorno hat zeit seines Schaffens an einer Gesellschaftstheorie gearbeitet, aber nie ein Verständnis des Politischen vorgelegt. Arendt hingegen, die große Skepsis gegenüber dem »Raum des Gesellschaftlichen« (Arendt 2016 [1958]: 47) hatte (dazu im fünf-

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ten Kapitel mehr), ist vor allem für ihren exponierten Politikbegriff bekannt. Mein Vorschlag ist aber nicht einfach in der Tatsache begründet, dass Arendt die politische Sphäre stärker beachtet, sondern vor allem in der spezifischen Art und Weise, wie sie das tut. Es wird im Folgenden meine These sein, dass es sich bei Arendts Verständnis des Politischen nicht einfach um irgendeinen beliebigen Politikbegriff handelt, sondern um einen, der in besonderer Weise zu Adornos Denken passt.198 Um diese These plausibel zu machen, werde ich die Grundzüge von Arendts politischem Denken im Folgenden in drei Abschnitten rekonstruieren. Jeder der drei Abschnitte antwortet in der einen oder anderen Weise auf einen von Adornos drei Einwänden. Meine hier vorgelegte Systematisierung entspricht dabei dem neueren Forschungsstand. Sie ist darüber hinaus jedoch nicht besonders unkonventionell. Der Großteil der interpretativen Arbeit wird durch die Anordnung meiner Darstellung geleistet.199 Schon der Ausgangspunkt von Arendts Politikbegriff, ihre Betonung der immer gegebenen Möglichkeit des Neuanfangs, macht den Eindruck, als sei er ausdrücklich gegen Adornos Diagnose gerichtet, die Möglichkeit zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse sei objektiv verstellt. Eng damit verknüpft entwickelt sie zudem eine Theorie der Macht, mit der sich aussichtsreich über die Frage nachdenken lässt, unter welchen Bedingungen die Macht der Menschen gegen die materielle Übermacht (des Staates oder der Strukturen) Erfolg haben kann (4.3.1). Und während Adorno das autonome, mündige Individuum als Vorbedingung für die Möglichkeit von Politik im strengen Sinne des Wortes sieht, das zuerst (zum Beispiel 198 Ich greife hier eine eher experimentelle These Jay Bernsteins auf, der einmal festgestellt hat: »Arendt’s political philosophy is the closest approximation to a critical political philosophy matching the modernist program of first generation critical theory to have appeared.« (Bernstein 2012: 58) Er hält diese These jedoch für so selbstverständlich, dass er sie nie systematisch begründet hat. Auch Christoph Menke (2004: 178 f.) und Sangwon Han (2016: 18–23) bringen Arendts Politikbegriff als einen dem Denken Adornos angemessenen ins Spiel, begründen ihre Auswahl Arendts jedoch mit keinem weiteren Wort. Nicht zuletzt findet sich der Vorschlag, Adornos Kritische Theorie um Arendts Politikbegriff zu erweitern, auch bei Helmut König (2016: 360 ff.). Er vertritt allerdings keine These der Angemessenheit, sondern bringt Arendt ausdrücklich gegen Adornos Verweigerungshaltung ins Spiel. 199 Im dritten Kapitel habe ich erläutert, dass Arendt absichtlich keine ganz systematische Theorie der Politik ausgepinselt hat. Dennoch lassen sich sowohl »Grundelemente einer politischen Handlungstheorie« (Straßenberger 2020: 54) als auch »Konturen [einer] guten politischen Ordnung« (ebd.: 89) bei Arendt herausarbeiten und sind immer wieder herausgearbeitet worden.



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über Bildungsinstitutionen) kultiviert werden muss, bevor es die politische Sphäre überhaupt betreten kann, lenkt Arendt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass auch (und für sie: gerade) die politische Sphäre eine subjekt­ ermächtigende Funktion haben kann. Für Arendt bildet sich das »Wer-einerist« (ebd.: 219) in der Praxis politischen Handelns überhaupt erst heraus; dem öffentlichen Raum kommt dabei eine wirklichkeitserzeugende Kraft zu, in der die Urteilskraft der politisch Handelnden ständig weiter ausgeprägt wird (4.3.2). Und nicht zuletzt kreist Arendts gesamtes Nachdenken über politische Ordnungen um die Frage, die ich als Adornos generelles – über die zeitdiagnostischen Einwände hinausgehendes – Bedenken charakterisiert hatte: Die Frage, »wie man durch die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne« (Adorno 2003f [1969]: 777) oder in Arendts Terminologie: wie Pluralität institutionell gesichert werden kann, ist das zentrale Anliegen ihres Nachdenkens über Politik. Besonders neuere Arendt-Lesarten betonen, dass ihre gesamte Theoriebildung von der Frage angeleitet wird, wie das Besondere (Pluralität) von einem Allgemeinen (Institutionen) nicht nur nicht unterdrückt, sondern gerade ermöglicht und sichtbar gemacht werden kann (4.3.3). 4.3.1 Der Neuanfang und die Macht Im ersten Abschnitt dieses Kapitels (4.1) habe ich die These vertreten, dass Adornos Zeitdiagnose von der »verwalteten Welt«, aus der sein objektiver und sein subjektiver Einwand gegen die Möglichkeit von Politik folgen, die gesellschaftstheoretische Ausformulierung seiner in den 1940er Jahren aufgestellten Grundthese einer Dialektik der Aufklärung darstellt.200 Diese Grundthese, so hatte ich schon ausgeführt, ist Adornos (und Horkheimers) direkte Reaktion auf die Erfahrung totaler Herrschaft und die Nachricht von Auschwitz. Nun stellt die Erfahrung totaler Herrschaft auch den Ausgangs- und Mittelpunkt – den »nervus rerum« (Meints-Stender 2011: 9) – von Hannah Arendts Theoriebildung dar. Und ihr Versuch, diese Erfahrung zu verstehen, ihre Analyse der totalen Herrschaftsform, so habe ich im zweiten Kapitel gezeigt, weisen durchaus einige interessante Überschneidungspunkte mit der Adornos auf. Die politiktheoretischen Schlüsse, die Arendt aus dieser Ana200 Darauf, dass »Dialektik der Aufklärung« sowohl den Titel des von Adorno gemeinsam mit Horkheimer verfassten Buches als auch die Grundthese von Adornos Philosophie bezeichnet, hat auch Andreas Hetzel (2011: 389) ausdrücklich hingewiesen.

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lyse zieht, sind aber ganz andere, es ließe sich sagen: gegenteilige. Ein erster Hinweis darauf findet sich schon ganz am Ende dieser Analyse selbst. Am Ende der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft folgen die letzten anderthalb Seiten etwas unvermittelt, ja geradezu abrupt auf die 977 Seiten Darstellung von Antisemitismus, Imperialismus und totaler Herrschaft, die im Konzentrationslager-Kapitel ihren Höhepunkt erreicht. Zwar warnt Arendt hier noch einmal vor der »allenthalben zunehmende[n] Verlassenheit« (Arendt 2011 [1951]: 978) und der drohenden Weltlosigkeit. Jedoch ist ihr Blick in die Zukunft vorsichtig optimistisch. Denn das »eiserne Band des Terrors, mit dem der totalitäre Herrschaftsapparat die von ihm organisierten Massen in eine entfesselte Bewegung reißt« (ebd.), laufe kaum Gefahr, etwas Dauerhaftes zu errichten. Die Gefahr, die von der totalen Herrschaft ausgehe, sei eher die, »daß sie die uns bekannte Welt zu verwüsten droht, bevor wir die Zeit gehabt haben, aus diesem Ende einen neuen Anfang entstehen zu sehen, der an sich in jedem Ende liegt, ja der das eigentliche Versprechen des Endes an uns ist.« (Ebd.: 979; Hervorh. T. A.) Und die anschließende Passage, bei der es sich zugleich um die allerletzten Sätze des gesamten Buches handelt, lautet dann: »Initium ut esset, creatus est homo – ›damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen‹, sagt Augustin. Dieser Anfang ist immer und überall da und bereit. Seine Kontinuität kann nicht unterbrochen werden, denn sie ist garantiert durch die Geburt eines jeden Menschen.« (Ebd.) Das ist ja zunächst einmal ein bemerkenswertes Ende für dieses Buch. Was hat es damit auf sich? Der Neubeginn. Was in den Elementen und Ursprüngen etwas unvermittelt erscheint und gleichsam nachgeschoben wird, bildet den eigentlichen Ausgangspunkt und das Zentrum von Arendts Politikverständnis, das heißt, das Ende der Elemente und Ursprünge markiert den Anfang von Arendts politischer Theorie: Das Herausstellen der menschlichen Fähigkeit des NeuAnfangen-Könnens.201 201 Dass und zu welchem Ausmaß dies der Fall ist – denn es geht weit über die hier zitierten letzten Buchsätze hinaus –, hat Margaret Canovan in ihrer heute als Klassiker der Sekundärliteratur geltenden Studie Hannah Arendt: A Reinterpretation of Her Political Thought (1992) systematisch gezeigt. Ein Grund, warum Canovan nach ihrem ersten, bereits 1974 erschienenen Buch The Political Thought of Hannah Arendt eine zweite Monografie zu Arendt vorgelegt hat, war dann auch, diesen Punkt stärker zu betonen, dass »virtually



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Diese Prämisse wird oft als Arendts eigentlich innovativer Beitrag zur Politischen Theorie angesehen. Zwar gab es auch vor Arendt Philosophen, die sich für das Vermögen, etwas überhaupt neu beginnen zu können, interessiert haben: »Gestoßen waren darauf Augustinus und Kant, auf die sich Arendt beruft, wie auch, auf eigentümliche Weise, der späte Heidegger.« (Marchart 2005: 17) Jedoch hat niemand von ihnen »je den Anfang als Anfang so ins Zentrum der eigentlichen Überlegungen gerückt wie Hannah Arendt.« (Ebd.) Für Thomas Meyer gehört »Arendts Idee, dass mit der Geburt eines jeden Menschen, eines jeden Gedankens ein ebenso kleiner wie radikaler, jedwede historische Erfahrung und jede Form des Pessimismus widerlegender Neuanfang gemacht ist,« gar »zum Unerhörtesten, was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat.« (Meyer 2018: 57) Entsprechend scheint es gerade diese Betonung des Anfangens gewesen zu sein, die Arendt für viele ihrer Leser_innen attraktiv gemacht hat. Der »Rezeptionsboom« (Kahlert und Lenz 2001: 7) ihrer Schriften in den 1990er Jahren ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sie als Theoretikerin des Neubeginns nach dem Zusammenbruch des Ostblocks geradezu prädestiniert erschien, um die erwarteten Neuanfänge zu informieren und theoretisch zu erfassen (Bernstein 2020: 124). Die große Bedeutung der Idee des Neubeginns ergibt sich aber nicht nur aus ihrer Außenwirkung. Dem »Rätsel des Anfangs« (Arendt 2020 [1963]: 305) kommt vielmehr auch innerhalb von Arendts Theoriebildung ein kaum zu überschätzender Rang zu. Denn nicht nur steht die Idee des AnfangenKönnens selbst in einem wörtlichen Sinne am Anfang von Arendts politischer Theoriebildung, sondern sie bleibt auch, über diesen Ausgangspunkt hinaus, ihr zentrales Mantra: Es handelt sich um einen »Zuspruch, der alle journalistischen und philosophischen Texte Arendts wie ein Grundakkord begleitet: Du kannst neu beginnen.«202 (Marchart 2005: 17 f.) Der sture Optimismus, der in diesem Grundakkord zum Ausdruck kommt, ist nicht etwa auf ein »Sentiment« oder eine »charakterliche Disposition der Autorin« (Marchart 2007: 350) zurückzuführen.203 Vielmehr entspringt er, wie Oliver Marchart the entire agenda of Arendt’s political thought was set by her reflections on the political catastrophes of the mid-century« (Canovan 1992: 7). 202 Für Grit Straßenberger (2020: 56) bildet die menschliche Fähigkeit des Anfangen-Könnens bei Arendt »den normativen Kern ihrer um Freiheit zentrierten politischen Handlungstheorie.« 203 Oliver Marchart (2007: 349) hat in diesem Zusammenhang auf die »Ambivalenz« hingewiesen zwischen dem »tiefen Pessimismus« (ebd.: 350) von Arendts Diagnose, der zugleich »von einem nahezu verwegenen Optimismus konterkariert wird« (ebd.). In einem ähnli-

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es formuliert hat, der »tiefsten ›ontologischen‹ Schicht ihrer Theorie« (ebd.). Im Folgenden will ich diese tiefenontologische Schicht ihrer Theorie kurz vergegenwärtigen. Arendts politische Theorie beruht auf der Annahme, dass Menschen unter (fast) allen Umständen dazu in der Lage sind, einen neuen Anfang zu machen. An keiner anderen Stelle hört man ihr die existentialistische Tradition, aus der sie kommt, so deutlich an. Die Fähigkeit des Neu-Anfangen-Könnens gehört für Arendt zu den »Bedingungen menschlicher Existenz« (Arendt 2016 [1958]: 21).204 Weil die Menschen geboren werden, das heißt weil sie selbst als ein Neuanfang in die Welt kommen, sind sie auch selbst zumindest potentiell »zum Handeln im Sinne des Neuanfangs begabt« (ebd.: 217). Die Tatsache der »Natalität« (ebd.: 18) oder »Gebürtlichkeit« (ebd.: 217), wie Arendt in einer Aneignung und Abwandlung Heideggerscher Begrifflichkeit schreibt, dass nämlich der Mensch als »Neuankömmling« (ebd.: 18) in die Welt kommt, dass er also »selbst ein neuer Anfang ist«, befähigt ihn nach Arendt dazu, »selbst einen neuen Anfang zu machen, das heißt zu handeln.« (Ebd.) Umgekehrt ist einen neuen Anfang zu machen, in ihrer Beschreibung des Handelns, »wie eine zweite Geburt‚ in der wir die nackte Tatsache des chen Gestus hat Rainer Forst seine Arendt-Deutung unter den Titel eines »Republikanismus der Furcht und der Rettung« (Forst 2011: 196–208; Hervorh. T. A.) gestellt und Arendt damit, eigenem Bekunden nach, »in die Nähe zweier philosophischer Antipoden [ge]rück[t], Theodor W. Adorno [sic!] einerseits und Isaiah Berlin andererseits.« (Ebd.: 197) 204 Arendt will ihre Rede von den »Bedingungen menschlicher Existenz« (Arendt 2016 [1958]: 21) nicht mit der Annahme einer wie auch immer gearteten »Natur« des Menschen verwechselt wissen: »[D]ie Rede von der Bedingtheit der Menschen und Aussagen über die »Natur« des Menschen sind nicht dasselbe. Auch die Gesamtsumme menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten, insofern sie menschlichen Bedingtheiten entsprechen, stellt nicht so etwas wie eine Beschreibung der Menschennatur dar. […] Die radikalste Veränderung in der menschlichen Bedingtheit, die wir uns vorstellen können, wäre eine Abwanderung auf einen anderen Planeten […]. Dies würde heißen, daß die Menschen ihr Leben den irdisch-gegebenen Bedingungen ganz und gar entziehen und es gänzlich unter Bedingungen stellen, die sie selbst geschaffen haben. Der Erfahrungshorizont eines solchen Lebens wäre vermutlich so radikal geändert, daß das, was wir unter Arbeiten, Herstellen, Handeln, Denken verstehen, in ihm kaum noch einen Sinn ergäbe. Und doch kann man kaum leugnen, daß selbst diese hypothetischen planetaren Auswanderer noch Menschen blieben; aber die einzige Aussage, die wir über ihre Menschennatur machen könnten, wäre, daß sie immer noch bedingte Wesen sind, wiewohl unter solchen Verhältnissen die menschliche Bedingtheit ausschließlich Produkt von Menschen selbst wäre.« (Ebd.: 19 f.). Harald Bluhm (2001: 12) hat das einmal, wie ich finde treffend, eine »formale Anthropologie« genannt.



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Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.« (Ebd.: 215) Um dieses Argument besser zu verstehen, muss ich noch eine zweite von Arendts Grundbedingungen hinzuziehen: Das »Faktum menschlicher Pluralität« (ebd.: 213). Jenes »Gesetz der Erde«, die Pluralität, »manifestiert sich« für Arendt »auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit« (ebd.): »Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.« (Ebd.) Diese Zusammenhänge weiter ausdifferenzierend, betont Arendt zu Beginn des zentralen fünften Kapitels der Vita activa mit dem Titel »Das Handeln«, dass Verschiedenheit und Besonderheit nicht dasselbe seien. Sie unterscheidet in dem Kontext drei Begriffe: Erstens, »Besonderheit oder Andersheit, diese merkwürdige Eigenschaft der ›alteritas‹, die allem Seienden als solchem eignet« (ebd.). Diese allem Seienden innewohnende Alterität, die in Adornos Terminologie auch als Nicht-Identisches bezeichnet werden könnte, »kennzeichnet […] Pluralität überhaupt« (ebd.: 214). Zweitens, »Verschiedenheit«: Gemeint ist die Verschiedenheit »des organischen Lebens […], die über das schiere Anderssein hinausgeh[t].«205 (Ebd.) Und drittens sei es unter diesen Variationen des organischen Lebens wiederum »nur dem Menschen eigen, diese Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck zu bringen, sich selbst von Anderen zu unterscheiden und eventuell vor ihnen auszuzeichnen, und damit schließlich der Welt nicht nur etwas mitzuteilen

205 Inwiefern genau die Verschiedenheit des organischen Lebens über »das schiere Anderssein« der allem Seienden innewohnenden »allgemeinsten Besonderheit« hinausgeht, darüber lässt Arendt ihre Leser_innen weitestgehend im Dunkeln. Zumindest, wenn man von solchen eher behauptenden denn erklärenden Andeutungen absieht, wie der, dass bereits die »primitivste[n] Formen« organischen Lebens »Variationen und Verschiedenheiten aufweisen, die über das schiere Anderssein hinausgehen.« (Arendt 2016 [1958]: 214) Für eine kritische Diskussion der Unterscheidung von Verschiedenheit und Andersheit vgl. Arnold (2016: 610 f.).

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– Hunger und Durst, Zuneigung oder Abneigung oder Furcht –, sondern in all dem auch immer zugleich sich selbst.« (Ebd.; Hervorh. T. A.) Im Menschen, so Arendt weiter, wird »die Besonderheit, die er mit allem Seien­den teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder einzigartig ist.« (Ebd.) Die menschliche Fähigkeit, etwas Neues zu beginnen, so argumentiert Arendt, seine »Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare […] beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem, der war, ist, oder sein wird, geschieden ist« (ebd.: 217). Obwohl diese Einzigartigkeit als Potential jederzeit in jedem Menschen vorhanden ist, muss sie jedoch zuerst aktiviert werden. Die Tätigkeiten, in denen diese Aktivierung geschieht, sind das Sprechen und das Handeln: »Sprechen und Handeln sind die Tätigkeiten, in denen diese Einzigartigkeit sich darstellt. Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein […]. Dies aktive In-Erscheinung-Treten eines grundsätzlich einzigartigen Wesens beruht, im Unterschied von dem Erscheinen des Menschen in der Welt durch Geburt, auf einer Initiative, die er selbst ergreift« (ebd.: 214). Nun bürden diese Thesen dem Individuum eine Menge auf. Unter den modernen Bedingungen einer globalisierten kapitalistischen Welt klingen sie gar etwas realitätsfern. Bis hierhin hat es gar den Anschein, als mache Arendt den gleichen Fehler, den ich Adorno oben attestiert hatte, nur unter umgekehrten Vorzeichen. So wie er zu kurzschlüssig argumentiert, wenn er aus »Verhältnisse[n] der Gesellschaft, welche die Praxis eines jeden Einzelnen […] zu Irrelevanz verurteilen« (Adorno 2003f [1969]: 764; Hervorh. T. A.), folgert, die Möglichkeit zu kollektiver Praxis sei ebenfalls nachhaltig gelähmt, so scheint Arendt den Spieß hier nur umzudrehen und von der qua Geburt garantierten Möglichkeit des Individuums, etwas Neues zu beginnen, auf die Möglichkeit der Veränderung politischer – und das heißt ja stets auch kollektiver – Verhältnisse zu schließen. Am Ende seiner Vorlesungen Probleme der Moralphilosophie hatte Adorno – den von mir hier unternommenen Gegenvorschlag gleichsam antizipierend – schließlich ausdrücklich gegen die existentialistische Tradition (spezifischer gegen Sartre) gerichtet davor gewarnt, »gegen die verwaltete Welt, die Spontaneität, das Subjekt […] zu verabsolutieren« (Adorno 2010 [1963]: 262).



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Dies tut Arendt jedoch – und das unterscheidet sie dann wieder von jener existentialistischen Tradition – gerade nicht. Denn obwohl die Möglichkeit zur Initiative für sie tatsächlich beim Individuum liegt, muss ihr scheinbarer Individualismus mit zwei Qualifikationen versehen werden. Andersherum: In zweierlei Hinsicht (be)denkt Arendt die kollektive Dimension des Handelns, in zweierlei Hinsicht konzeptualisiert sie die Verknüpfung zwischen Neubeginn und Kollektivität. Erstens wird schon der Rahmen des Handelns von Arendt nicht individualistisch gedacht. Auch der Arendtsche Neuanfang findet nicht im luftleeren Raum statt. Anders als manchmal behauptet wird (Honig 1995: 140), vollzieht sich Handeln auch für sie nicht ex nihilo: »Der Mensch schöpft die Welt nicht gottgleich aus dem Nichts […], sondern auf Basis dessen, was er vorfindet und durch sein Handeln verändert« (Marchart 2011: 299). Diese vorgefundenen Grundlagen – in einer moderneren soziologischen Terminologie würden wir von bereits bestehenden (Handlungs) strukturen sprechen – nennt Arendt »das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (Arendt 2016 [1958]: 225). »Da Menschen«, wie es im entsprechenden Abschnitt der Vita activa heißt, »nicht von ungefähr in die Welt geworfen werden, sondern von Menschen in eine schon bestehende Menschenwelt geboren werden, geht das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten allem einzelnen Handeln und Sprechen voraus, so daß sowohl die Enthüllung des Neuankömmlings durch das Sprechen wie der Neuanfang, den das Handeln setzt, wie Fäden sind, die in ein bereits vorgewebtes Muster geschlagen werden und das Gewebe so verändern, wie sie ihrerseits alle Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise affizieren.« (Ebd.: 226) Zu Handeln bedeutet daher, um im Bild zu bleiben, »den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat« (ebd.). Das ist zwar eine metaphorische, aber empirisch doch schon viel aufschlussreichere Beschreibung dessen, was passiert, wenn man als Individuum handelt, das bereits in bestehenden sozialen Praxen und Strukturen eingebunden ist. Zweitens – und für meinen Vorschlag noch bedeutsamer – wird auch das Handeln selbst, anders als zuweilen geltend gemacht worden ist, von Arendt nicht »individualistisch« gedacht (Hagengruber 2009: 14; vgl. auch Wagner 2005: 225). Zwar kann das Individuum bei Arendt immer auch alleine die Initiative ergreifen, aber soll der Neubeginn nicht ins Leere laufen, soll das eigene Handeln wirksam werden, dann muss es von anderen aufgegriffen und weitergetragen werden. Gemäß ihrer in der Vita activa verfolgten Me-

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thode einer Art Rückbesinnung (vgl. Kapitel 3.3 ) erinnert Arendt in diesem Zusammenhang daran, dass »das Griechische wie das Lateinische zwei ganz verschiedene und doch in einem bestimmten Zusammenhang stehende Worte besaßen, mit denen sie das bezeichneten, was wir handeln nennen.« (Arendt 2016 [1958]: 235) Den griechischen Begriffen »αρχειν (anfangen, anführen und schließlich befehlen und herrschen) und πραττειν (mit etwas zu Ende kommen, etwas ausrichten, es vollenden)« entsprächen die beiden lateinischen Worte »agere (in Bewegung setzen und anführen) und gerere (dessen Grundbedeutung tragen dann, wie das πραττειν, die Bedeutung von ausführen, betreiben, vollziehen annimmt).« (Ebd.; vgl. auch Arendt 2012b [1958]: 218 f.) In beiden Sprachen also sei das, was wir heute als handeln bezeichnen, »in zwei klar voneinander geschiedene Teile bzw. Stadien« (Arendt 2016 [1958]: 235) unterteilt: »[E]twas wird begonnen oder in Bewegung gesetzt von einem einzelnen, der anführt, woraufhin ihm viele gleichsam zu Hilfe eilen, um das Begonnene weiter zu betreiben und zu vollenden.«206 (Ebd.) Wo dies geschieht, wo ein_e Anfänger_in andere findet, die unterstützen, die mitmachen, entsteht das, was Arendt »Macht« nennt. Die Macht. Arendts Machtbegriff möchte ich im Folgenden als ein zweites Grundelement ihrer politischen Handlungstheorie einführen, das als Theo­rem geradezu prädestiniert erscheint, um über die von Adornos Gesellschaftstheorie postulierten Handlungsbeschränkungen nachzudenken. Habe ich Arendts Theorem des Neubeginnens zunächst eher mit Adornos Diagnose kontrastiert, so möchte ich nun ihren Machtbegriff als ein theoretisches Instrument einführen, dass auch angesichts von Adornos gesellschaftstheoretischer Diagnose von Relevanz sein könnte. Denn Arendts Machtbegriff wurde nachgerade konzipiert, um erfassen zu können, warum und unter welchen Umständen die Macht der Wenigen der Übermacht der Vielen, der Strukturen und/oder der Gewaltmittel überlegen sein kann. Diese Konzeptualisierung leistet Arendts Machtbegriff in zweierlei Hinsicht. Einmal antwortet ihr Machtverständnis auf die im engeren Sinne materialistische Dimension von Adornos Diagnose: Arendts Beschäftigung mit dem Phänomen der Macht war ja geradezu von der Frage ausgegangen, wie es sein kann, dass die Macht auf der Straße, historisch gesehen, oftmals gegen die 206 In ihrem Aufsatz Revolution und Freiheit hebt Arendt die Versammlungsfreiheit deswegen als unabdingbare »Voraussetzung für die Freiheit des Handelns« hervor, weil »kein Mensch allein handeln kann.« (Arendt 2012 [1962]: 248)



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staatliche Übermacht an Gewaltmitteln ankommen konnte. Damit scheinen ihre Ausführungen zum Machtbegriff wie gemacht, um begrifflich fassen zu können, wann und unter welchen Umständen »[g]egen die, welche die Bombe verwalten« (Adorno 2003f [1969]: 771), Barrikaden nicht lächerlich sind (I). Darüber hinaus hilft uns Arendts Verständnis von Macht zweitens auch dabei, um über das nachzudenken, was ich die konstruktivistische Dimension von Adornos Strukturbegriff genannt habe. Adorno hat immer darauf bestanden, so hatte ich oben gezeigt, dass der Strukturzusammenhang der Gesellschaft menschengemacht ist. Seine scheinbare Unveränderbarkeit resultierte daraus, dass dies undurchsichtig wird und »verhärte[t]« (Adorno 2003c [1966]: 76). Es ist ein Spezifikum von Arendts Machtbegriff, genau diesen Zusammenhang in einem politischen Vokabular thematisieren (und kritisieren) zu können (II). (I) Unter »Macht« versteht Arendt – in dezidierter Abgrenzung von der Tradition politischen Denkens, für die exemplarisch Max Weber steht (Arendt 2013 [1970]: 36) – keine Verfügungsmacht (Einzelner oder mehrerer) über andere, sondern »(kollektive) Akteursmacht« (Volk 2013a: 508). Macht bezeichnet bei ihr in erster Linie »die Handlungsfähigkeit politischer Akteure, sich mit Anderen zusammenzuschließen, um ein gemeinsames Anliegen zu verfolgen« (Straßenberger 2020: 67). Die kollektive, gemeinschaftliche und die befähigende, konstituierende Dimension bilden gemeinsam die doppelte Grundlage aller unterschiedlichen Dimensionen von Macht, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde. Macht entsteht für Arendt überall da, und nur da, wo sich Menschen zu einer wie auch immer gearteten (politischen) Gruppe vereinigen. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner: »Macht […] besitzt eigentlich niemand« (Arendt 2016 [1958]: 252). Vielmehr entsteht sie, wie es an einer in diesem Kontext häufig zitierten Stelle heißt, »zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.« (Ebd.) Macht ist, so erklärt uns Arendt, »allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent« (Arendt 2013 [1970]: 53) und daher als Potential dort immer und überall vorhanden, wo mehrere Menschen zusammen sind. Zwar liegt sie »in jeder Ansammlung von Menschen potentiell vor« (Arendt 2016 [1958]: 251), sie muss aber aktualisiert werden. Diese Aktualisierung entsteht diskursiv und im gemeinsamen Handeln. Wenn Macht nicht nur in Potenz vorliegt, sondern im politischen Handeln realisiert wird, spricht Arendt von »lebendige[r] Macht« (Arendt 2013 [1970]: 42).

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Während die Konstitutionsbedingungen von Macht also in Kollektivität bestehen, ist Macht im Ergebnis vor allen Dingen ein »Vermögen« (Schulze Wessel 2013: 44). Dieses Vermögen, so Arendt, ist »erstaunlich unabhängig von rein materiellen Faktoren. Eine zahlenmäßig kleine, aber durchorganisierte Gruppe von Menschen kann auf unabsehbare Zeiten große Reiche und zahllose Menschen beherrschen, und es ist historisch nicht allzu selten, daß kleine und arme Völker den Sieg über große und reiche Nationen davontragen.« (Arendt 2016 [1958]: 253) In diesem Sinne, erklärt Arendt, habe die Geschichte von David und Goliath einen Wahrheitsgehalt. Allerdings nur, solange man sie metaphorisch verstehe und »auf die Verhältnisse zwischen Menschengruppen« (ebd.) übertrage. Nicht nur könne sich dann »[d]ie Macht der Wenigen […] unter Umständen der Macht von Vielen überlegen erweisen«, sondern auch könnten »Volksaufstände gegen die materiell absolut überlegenen Gewaltmittel eines Staates eine fast unwiderstehliche Macht erzeugen« (ebd.). Arendt entwickelt ihren Machtbegriff an verschiedenen Stellen ihres Werkes. Was sie im Abschnitt »Der Erscheinungsraum und das Phänomen der Macht« in der Vita activa zum ersten Mal systematisch einführt – und was hier tatsächlich erst einmal nicht mehr ist als eine Antithese zu Adornos weit düstererer Einschätzung der Lage, eine Gegenbehauptung im engeren Sinne des Wortes –, wird in ihrem Essay Macht und Gewalt oder auch in ihrer großen Studie Über die Revolution mit historischen und empirischen Beispielen unterfüttert und weiter ausgearbeitet.207 Der unmittelbare Anlass für die Abfassung des bekannten Aufsatzes Macht und Gewalt war die globale Studierendenbewegung der 1960er Jahre – präziser: Arendts Sorge um die zunehmende Gewaltbereitschaft der rebellierenden Studierenden. Damit, dies nur am Rande, wurde dieser Text aus dem gleichen Anlass geschrieben, der auch Adorno dazu gebracht hatte, seine Einwände gegenüber der Möglichkeit von Politik zu formulieren. In Macht und Gewalt konstatiert Arendt – und es fällt mir fast schwer, das nicht als einen ausdrücklichen Kommentar zu Adornos These von »der tatsächlichen Übermacht der objektiven Verhältnisse« (Adorno 2003f [1969]: 765) zu lesen: 207 Arendt hat sich jedoch auch in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft schon mit der Frage der Macht beschäftigt. Hier taucht das Thema vor allem ex negativo, das heißt in Form von Machtverlust auf. Für einen differenzierten Überblick über die Nuancen ihres Machtbegriffs in verschiedenen Werken vgl. Brunkhorst (2011).



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»Seit Beginn des Jahrhunderts hat man immer wieder behauptet, die Chancen für Revolutionen hätten sich entscheidend verringert, ja Revolutionen wären nicht mehr möglich, und zwar wegen der ständig anwachsenden Zerstörungskapazität von Waffen, die ihrem Wesen nach nur der Staatsmacht zur Verfügung stehen.«208 (Arendt 2013 [1970]: 48) Gegen diese These wendet Arendt ein, dass sie einer empirischen Überprüfung kaum standhalte. Im Gegenteil: Die jüngere Geschichte habe »einen Rekord an erfolgreichen wie gescheiterten Revolutionen« (ebd.: 49) aufgestellt. In Über die Revolution bemerkt Arendt, dass es die Moderne als Zeitalter geradezu ausmache, dass sie »aus Revolutionen geboren ist und von Revolutionen dauernd erschüttert wird« (Arendt 2020 [1963]: 61). Und sie betont, dass das 20. Jahrhundert sogar besonders viele Revolutionen erlebt hat; dass es sich geradezu um »ein Jahrhundert der Revolutionen« (ebd.: 23) handelt. Angesichts der (wahrscheinlich zutreffenden) These von der zunehmenden Überlegenheit staatlicher Gewaltmittel wird diese Diagnose jedoch erklärungsbedürftig. »Waren die Leute«, fragt sich Arendt in Macht und Gewalt daher, »die gegen eine so erdrückende Übermacht auch nur zu rebellieren versuchten, einfach wahnsinnig? Und wie erklären sich denn erfolgreiche Revolutionen oder auch nur eine vorübergehende Machtergreifung?« (Arendt 2013 [1970]: 49) Die »Lösung des Rätsels«, schiebt sie direkt hinterher, sei einfach. Zum einen sei »die Kluft zwischen staatlichen Gewaltmitteln und dem, womit das Volk sich zur Not bewaffnen kann – von Bierflaschen und Pflastersteinen bis zu Molotow-Cocktails und Schußwaffen« seit jeher so groß gewesen, »daß die modernen technischen Errungenschaften kaum ins Gewicht fallen.«209 (Ebd.) Zum anderen sei aber auch »die verbreitete Vorstellung von der Revolution als Folge des bewaffneten Aufstandes ein Märchen. […] Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen. Aber diese an sich 208 Es ist vollkommen müßig, hier über die Frage zu spekulieren, ob sie Adorno beim Schreiben dieser Zeilen im Hinterkopf hatte. Als Beleg führt Arendt ihn freilich nicht an. Sie verweist mit Franz Borkenau aber immerhin auf ein (verhältnismäßig weniger bekanntes) Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (Arendt 2013 [1970]: 48 f.). 209 Arendt scheint hier Adornos These von der staatlichen Übermacht nicht nur zuzustimmen, sondern sie radikalisiert sie sogar noch: Die Gewaltmittel der Herrschaft waren der Macht auf der Straße schon immer hoffnungslos überlegen. In dieser Radikalisierung wird die Zeitdiagnose aber zugleich auch abgeschwächt: Aufgrund dieses schon immer immensen Vorsprungs fallen moderne technische Entwicklungen nicht mehr sonderlich ins Gewicht.

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absolute Überlegenheit währt nur solange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist, das heißt, solange Befehle befolgt werden und Polizei und Armee bereit sind von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Ist das nicht mehr der Fall, so ändert sich die Situation jählings. Nicht nur kann der Aufstand nicht niedergeworfen werden, die Waffen wechseln die Hände, und zwar manchmal, wie etwa in der Ungarischen Revolution, binnen weniger Stunden« (ebd.; Hervorh. T. A.; vgl. auch Arendt 2020 [1963]: 381). Diese erstaunliche Antwort Arendts verweist zugleich auch schon auf die zweite Hinsicht, in der ihr Machtbegriff interessant ist, um über Adornos These von der Unmöglichkeit von Politik weiterführend nachzudenken. Denn Arendts Ausführungen zur Macht sollen hier gar nicht in erster Linie als alternative Zeitdiagnose oder Gegenthese zu Adorno eingeführt werden. Sie sind vor allem deshalb interessant, weil Arendt mit ihrem Machtbegriff ein Analyseinstrument bereitstellt, mit dem sich Adornos Fragestellung politiktheoretisch wenden lässt. Arendt bringt hier Adornos Feststellung, dass »noch die übermächtigen sozialen Prozesse und Institutionen in menschlichen entsprangen« (Adorno 2003c [1965]: 17), gleichsam vom anderen Ende aus denkend auf den Punkt: Die »absolute Überlegenheit währt nur solange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist« (Arendt 2013 [1970]: 49). Im folgenden Abschnitt werde ich genauer erklären, was damit gemeint ist. (II) Die bisherige Darstellung von Arendts Machtbegriff, nach der es sich dabei im Wesentlichen um ein Konzept handelt, um kollektives Handlungsvermögen politiktheoretisch zu fassen, ist in der Forschung seit langem etabliert. Dass dem nun folgenden Aspekt Beachtung geschenkt wird, ist hingegen eine Entwicklung jüngeren Datums. Das macht ihn meines Erachtens jedoch nicht weniger plausibel. Zunächst sei die Entwicklung der Forschungsdiskussion zu dem Thema kurz skizziert: Es galt in der ArendtForschung lange Zeit als unhinterfragte Gewissheit, Arendts Machtbegriff als ausschließlich emanzipatorisch oder als »intrinsically normatively positive phenomenon« (Allen 2002: 143) zu beschreiben. So ist für Andreas Anter »der Machtbegriff bei Arendt absolut positiv besetzt« (Anter 2012: 97; Hervorh. T. A.). Nach Gerhard Göhler nimmt Arendt »eine Extremposition ein«, weil sie »Macht allein normativ« (Göhler 2011: 231; Hervorh. T. A.) bestimmt. Und Amy Allen (2002: 142) schreibt ausdrücklich: »[For Arendt] power relations are always normatively good«. Diese immer noch sehr weit verbreitete Interpretation geht wahrscheinlich auf Jürgen Habermas’ frühe und einflussreiche Arendt-Deutung zurück. Habermas hatte Arendts Verständnis von Macht als eine Art Fundament



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genutzt, um sein eigenes Konzept des kommunikativen Handelns darauf aufzubauen.210 Um das plausibel tun zu können, hat er vor allem die kommunikative Dimension ihres Machtbegriffs betont. Was ihn an Arendts Konzept von Macht interessiert, ist, wenig überraschend, die »konsenserzielende Kraft der auf Verständigung gerichteten Kommunikation« (Habermas 1987: 231). Habermas nimmt diese theoriepolitische Operation jedoch zu dem Preis einer sehr einseitigen Rekonstruktion vor: »Der Machtbegriff Arendts wird bei Habermas lediglich in seiner normativen, freiheitsbegründenden Aufladung vorgestellt« (Schulze Wessel 2013: 41). Das ist für sich genommen nicht falsch, aber eben nur die halbe Wahrheit. Demgegenüber hat die neuere Forschung herausgearbeitet, dass Macht bei Arendt erst einmal etwas normativ Neutrales ist: Macht ist auch für Arendt »nicht notwendigerweise freiheitsbegründend.« (Ebd.: 43; Hervorh. T. A.) Es sind vielmehr »zunächst formale Kriterien, mit denen Arendt den Machtbegriff bestimmt.«211 (Ebd.) Macht umschreibt bei Arendt vorerst nur eine Form von Zustimmung. Diese kann emanzipatorisch sein – und es sind die Momente, in denen das der Fall ist, für die Arendt sich am meisten interessiert –, sie muss es aber ausdrücklich nicht. »Repressive Machtkonstellationen« (Volk 2013a: 510) sind für sie ebenfalls denkbar und möglich. Historisch kommen sie wahrscheinlich sogar häufiger vor. In Macht und Gewalt stellt Arendt deswegen die Bedeutung der Gewaltenteilung heraus: »[E]ine einfache Mehrheitsgesellschaft, die nur auf Macht basiert, kann Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken und abweichende Meinungen ohne alle Gewaltsamkeit sehr wirkungsvoll abwürgen. Ungeteilte und unkontrollierte Macht kann eine Meinungsuniformität erzeugen, die kaum weniger ›zwingend‹ ist als gewalttätige Unterdrückung.« (Arendt 2013 [1970]: 43)

210 Auf die (eingestandenen und uneingestandenen) Arendtschen Wurzeln von Habermas’ Denken ist oft hingewiesen worden (vgl. Benhabib 2006; Straßenberger 2011; Verovšek 2019). Und so ist es fast folgerichtig, dass diese Deutung von Arendts Machtbegriff als per se emanzipatorisch vor allem in der Frankfurter Schule vertreten ist (vgl. Allen 2002; Benhabib 2006; Forst 2011; Saar 2009). Eine wichtige Ausnahme stellt hier Hauke Brunkhorst dar, der ausdrücklich auf die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität von Arendts Machtbegriff hingewiesen hat (2011). 211 Außer in dem hier zitierten Aufsatz von Schulze Wessel (2013) findet sich diese Ansicht zum Beispiel auch bei Brunkhorst (2011), Straßenberger (2020: 66–72) oder Volk (2013a).

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Außerdem bezieht sich ihr Machtbegriff nicht nur auf die Macht auf der Straße. Auch politische Ordnungen basieren auf Macht. »Alle politischen Institutionen« stellen für Arendt »Manifestationen und Materialisationen von Macht« (ebd.: 42; Hervorh. T. A.) dar. Analog zur akut aktivierten »lebendige[n] Macht« (ebd.) spricht sie in Bezug auf diese, gleichsam »erstarrte« Unterstützung der herrschenden Ordnung von »organisierte[r]« oder »institutionalisierte[r] Macht« (ebd.: 53). Es handelt sich bei dieser institutionalisierten Macht gleichsam um die »Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses« (ebd.: 42), der besagte Institutionen überhaupt erst ins Leben gerufen hatte. Institutionalisierte Macht basiert also auf einem einst expliziten, mittlerweile aber »nur noch« stillschweigenden (und manchmal vielleicht auch unreflektierten und nur übernommenen) Konsens. Das Potential zum Repressivwerden von Macht wird im Fall dieses stillschweigenden und in Strukturen sedimentierten Konsens besonders akut. Zugleich lässt sich hieran deutlich zeigen, welche grundlegende Bedeutung Macht nach Arendt hat: Denn das Extrembeispiel für Arendts These, dass es keine wie auch immer geartete politische oder soziale Ordnung ganz ohne Machtbasis geben kann, ist einmal mehr die totale Herrschaft: »Es hat nie einen Staat gegeben, der sich ausschließlich auf Gewaltmittel hätte stützen können. Selbst die totale Herrschaft, deren wesentliches Herrschaftsmittel Konzentrationslager, Polizeiterror und Folter sind, bedarf einer Machtbasis« (ebd.: 51). Zwar handelt es sich hierbei für Arendt nicht um die »lebendige Macht des Volkes« (ebd.: 42), sondern um ein minderwertiges Substitut – schließlich wird die Machtbasis im Totalitarismus »von der Geheimpolizei und einem Netz von Spitzeln gestellt« (ebd.: 51). Der entscheidende Punkt jedoch, der an dieser Stelle deutlich wird, ist, dass für Arendt keine staatliche (oder staatsähnliche) Struktur auch nur denkbar ist, die ganz ohne Machtbasis, ohne »Unterstützung« (ebd.: 42) auskommt. Macht kann zwar bis zu einem von Arendt nicht genau bestimmten Grad von Gewalt substituiert werden, das heißt, die Verhältnisbestimmung von Macht und Gewalt variiert von Staatsform zu Staatsform, aber Gewalt kann Macht nie ganz ersetzen. Bloße Gewalt kann zwar mit Vielem fertigwerden, aber »da ein Einzelner niemals imstande ist, den Gewaltapparat ohne die Hilfe anderer in Gang zu halten, bedarf es wiederum der Macht derer, die die Gewalt unterstützen bzw. – und in der Politik laufen diese Dinge auf das gleiche hinaus – […] gehorchen.« (Arendt 2020 [1963]: 227) Ganz ohne Unterstützung durch zumindest einen Teil der Bevölkerung, so Arendts These, kommt keine herrschende Ordnung aus. Aus diesem Grund werden Revolutionen für sie »ge-



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rade […] nicht ›gemacht‹ und am wenigsten durch eine lernbare Prozedur, in der man vom Dissent zur Verschwörung, von passivem Widerstand zum bewaffneten Aufstand fortschreitet.« (Arendt 2013 [1970]: 49) Im Gegenteil: Sie brechen sogar erst dann aus, »wenn sich herausgestellt hat, daß die Macht [bereits, T. A.] auf der Straße liegt.« (Arendt 2020 [1963]: 69) Wenn wir nun, wie die neuere Forschung das tut, beide Dimensionen von Arendts Machtbegriff – die emanzipatorische und die potentiell repressive – anerkennen und zudem die Unterscheidung zwischen lebendiger und sedimentierter Macht berücksichtigen, dann kann dieser vielschichtige Machtbegriff eine sozialphilosophische Kritik der Macht informieren (Volk 2013a: 505). Und im Rahmen meiner Fragestellung lässt sich damit Adornos Diagnose in ein politiktheoretisches Vokabular übersetzen und in diesem analysieren. Denn wo bei ihm die ursprünglich menschengemachten aber letztendlich verfestigten Verhältnisse nur als Problem auftauchen, da bietet Arendt mit ihrem Machtbegriff ein »Vermögens-/Unvermögens-Arrangement« (ebd.: 511), in dem Fragen wie die, welche Institutionen und Strukturen wann wie viel Unterstützung erfahren (oder wann sie eben keine Unterstützung mehr erfahren) überhaupt erst einmal politiktheoretisch erfasst (und in der Folge gegebenenfalls kritisiert) werden können. Genau wie für Adorno leben Menschen auch für Arendt »unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur.« (Arendt 2016 [1958]: 19) Arendt bleibt bei dieser Diagnose jedoch nicht stehen, sondern entwickelt ein begriffliches Handwerkszeug, mit dem sich politiktheoretisch analysieren lässt, wann die potentielle lebendige Macht (einer Gruppe von Individuen) gegenüber der institutionalisierten Macht – »gegenüber den Gesetzen, den Institutionen, den Regierenden oder Herrschenden« (Arendt 2013 [1970]: 50) – eine Chance hat. Damit verschwindet das Problem, das Adorno aufwirft, nicht einfach. Ein Referat von Arendts Machtbegriff ist nicht bereits die Lösung für gesellschaftlich auferlegte Handlungsbeschränkungen. Aufgelöst werden können diese letztendlich nur durch gesellschaftsverändernde Praxis, nämlich durch Politik. Was mit Arendts Machtbegriff aber geleistet werden kann, ist, dieses Problem in einem politischen Vokabular zu erfassen und einer Analyse zuzuführen. Und damit letztlich einen indirekten aber grundlegenden Beitrag zu dessen praktischer Veränderung zu leisten.212 212 In diesem Sinne hält mein Vorschlag am von Adorno geforderten »Primat der Theorie« fest. Vgl. dazu auch Arendts eigene methodologische Selbstauskunft: »Es liegt in der Natur von Erwägungen wie den hier vorgetragenen, daß sie Lösungen nicht bieten können und

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4.3.2 »Wer-einer-ist«: Zur subjektkonstituierenden Kraft pluraler Öffentlichkeit Mit den Theoremen des Neubeginns und der Macht habe ich im vorangegangenen Abschnitt zwei zentrale Komponenten von Arendts politischer Handlungstheorie als eine Art alternatives Instrumentarium vorgestellt, um über den objektiven Teil von Adornos Diagnose der »verwalteten Welt« nachzudenken. Jedoch kann Arendts Politikbegriff nicht nur als Antwort auf die objektive Dimension von Adornos Gesellschaftstheorie gelesen werden. Darüber hinaus adressiert ihr Verständnis politischen Handelns im öffentlichen Raum auch das, was ich oben den subjektiven Einwand Adornos genannt hatte. Denn Adorno konstatiert nicht nur die objektive Aussichtslosigkeit von Politik, sondern zweifelt an der Möglichkeit zur demokratischen Veränderung schon aus Gründen, die tiefer liegen, nämlich auf der subjektiven Ebene. Während Adorno – so lautete sein subjektiver Einwand gegen die Möglichkeit von Politik – nur die verwaltenden, gleichmachenden Eigenschaften der gesellschaftlichen Verhältnisse sieht und das autonome Individuum zuerst über Bildungsinstitutionen kultiviert wissen will, bevor es sich handelnd in die Öffentlichkeit einschalten darf, so gibt Arendt zu bedenken, dass dem öffentlichen Raum selbst auch schon subjektkonstituierende und subjektermächtigende Potentiale innewohnen können. Auch wenn sich Arendt dem sozialphilosophischen Standardvokabular verweigert und selten vom »Individuum« oder »Subjekt« spricht,213 enthält ihr politisches Denken »eine Vorstellung von Subjektivität […], die Sozialität und Individualität zu verbinden sucht« (Baratella 2018: 231). Nicht nur ist ihre Handlungstheorie eng mit einer Theorie der Individualität verwoben, auch geht sie davon aus, dass eine intersubjektive »Wirklichkeit« (Arendt 2016 [1958]: 63) von der Existenz einer pluralen Öffentlichkeit geradezu abhängt. Individuum und Welt konstituierten sich bei Arendt gegenseitig. Wo diese Wechselbeziehung gelingt – und nur da – können sich autonome Individuen mit Urteilskraft herausbilden.

nicht einmal bieten dürfen. Aber sie können vielleicht etwas zu einer Selbsterklärung beitragen und vor allem dazu ermuntern, dem Wesen und den Möglichkeiten des Handelns […] nachzugehen. Mit anderen Worten, sie möchten eine Besinnung einleiten, deren vielleicht noch in weiter Ferne liegendes Endresultat eine unserer eigenen Zeit und unseren Erfahrungen gemäße Philosophie der Politik sein würde.« (Arendt 2012b [1957]: 79) 213 An der einzigen mir bekannten Stelle, an der Arendt vom »Subjekt« spricht, tut sie das in abwertender Absicht (Arendt 2012d [1958]: 91 f.).



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»Wer-einer-ist«. Dass die Konstitution von Individualität in Arendts Denken eine zentrale Rolle einnimmt, lässt sich in einer ersten Annäherung schon daran festmachen, dass das zentrale fünfte Kapitel der Vita activa, in dem Arendt die Grundelemente ihres politischen Handlungsbegriffs entwickelt, bezeichnenderweise mit einem Abschnitt beginnt, der »Die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen« (ebd.: 213–222) überschrieben ist. Ich hatte im vorangegangenen Unterkapitel bereits ausgeführt, dass »[d]as Faktum menschlicher Pluralität« (ebd.: 213) laut Arendt durch Sprechen und Handeln aktualisiert werden muss. Im Sprechen und Handeln, so drückt Arendt das aus, »unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein« (ebd.: 214). In diesen Tätigkeiten »offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind«, sie »zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt« (ebd.: 219). Ohren, die nicht in der phänomenologischen Tradition geschult wurden, könnten von diesen Bemerkungen schnell in die Irre geführt werden. Denn anders als die Rede vom »Offenbaren« und »Zeigen« vielleicht suggerieren mag, denkt Arendt Individualität keinesfalls essentialistisch. Im Gegenteil: Wie Adorno wendet sich auch Arendt ausdrücklich von jeglichem »starken Subjektbegriff ab« (Baratella 2018: 229) und betont stattdessen, »dass die soziale Einbindung jedes Einzelnen seiner Ich-Bildung vorausgehe.« (Ebd.) Die Vorstellung ist hier daher nicht, dass das Individuum im öffentlichen Erscheinungsraum sein wie auch immer geartetes, vorgängig gegebenes, wahres Wesen zu erkennen gibt: »Die durch das Handeln enthüllte Person ist kein latentes Subjekt, das vor dem Handeln schon existiert hätte.« (Tassin 2011: 305) Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Das Individuum wird durch öffentliches Sprechen und Handeln, durch die oben bereits angesprochene »zweite Geburt« (Arendt 2016 [1958]: 215) erst erzeugt: »Die Individualität des Individuums ist [bei Arendt, T. A.] nicht als Rückwendung auf sich selbst oder im Sinne einer Selbstentfaltung innerer Werte konzipiert, sie ist die Individualität eines handelnden Subjekts.« (Jaeggi 1997: 72) Um das zu verdeutlichen, unterscheidet Arendt im Laufe des genannten Kapitels immer wieder zwischen dem »Was-einer-ist« und dem »Wer-einerist« (Arendt 2016 [1958]: 219, 222 f. oder 231 f.). Die Unterscheidung wird in der Sekundärliteratur zumeist so interpretiert, dass sie gerade eine ausdrückliche Wendung gegen essentialistische Identitätskonzeptionen darstellt.214 Das 214 Vgl. die Zitation der Stelle bei Honig (1995: 141), Jaeggi (1997: 72 f.), Loidolt (2019) oder Tassin (2011: 305).

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erschließt sich vielleicht nicht auf den ersten Blick, wenn man mit einem alltagssprachlichen Verständnis an diese Formulierungen herangeht. Aber Arendt stellt dem »Was-einer-ist«, das heißt den »Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten« (ebd.: 219), die jemand besitzt, das »Wer-einer-ist« entgegen. Das Wer aber beschreibt bei ihr weder die Summe irgendwelcher Merkmale (wie zum Beispiel Geschlecht, Religion, Ethnie und/oder Nationalität) oder Eigenheiten (wie eben Gaben, Talente, Defekte etc.), sondern eine »personale Einzigartigkeit« (ebd.), das heißt »eine Lebensgeschichte als eine einzigartige Konstellation von Ereignissen und Entscheidungen, Handlungen und Handlungsfolgen.« (Jaeggi 1997: 73) Arendt interessiert »weniger die Frage, wer der Mensch sei, der auch hier im Verschwinden begriffen scheint, wie es bei Michel Foucault heißt, als die Frage, was die Menschen tun.« (Baratella 2018: 230) Denn, so Arendt, nur im Handeln gibt jemand »Aufschluß […] darüber, wer er ist« (Arendt 2016 [1958]: 220). Während wir auf der einen Seite folglich nicht den Fehler begehen sollten, Arendts »Theorie der Person« (vgl. Loidolt 2019) essentialistisch zu verstehen, sollten wir uns auf der anderen Seite ebenso davor hüten, die Arendtsche Person als »Inbegriff des selbstmächtigen […] oder gar sichselbst-erschaffenden Subjekts« (Jaeggi 1997: 74) zu deuten. Die Person entsteht für Arendt zwar im Handeln und sie verfügt als eine solche, die qua Geburt zur Initiative fähig ist, über die Fähigkeit, einen neuen Anfang zu machen. Jedoch verfügt sie nicht im gleichen Sinne über sich selbst, über das »Wer-einer-ist«. In Bonnie Honigs Formulierung: »Arendt’s actors are never self-sovereign.«215 (Honig 1995: 140) »Im Unterschied zu dem, was einer ist, im Unterschied zu den Eigenschaften, Gaben, Talenten, Defekten, die wir besitzen und daher so weit zum mindesten in der Hand und unter Kontrolle haben, daß es uns freisteht, sie zu zeigen oder zu verbergen, ist das eigentlich personale Wer-jemand215 Und zwar sind sie dies in mindestens zweierlei Hinsicht nicht. Erstens in dem Sinne, den ich im vorangegangenen Abschnitt bereits behandelt habe: Da Individuen immer schon in gesellschaftliche Praktiken eingebunden sind und nur in diesen handeln (Stichwort »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (Arendt 2016 [1958]: 225)), können sie niemals souverän über die Ergebnisse ihrer Handlungen verfügen. Zweitens und im Zusammenhang mit der Frage nach der »Person« (ebd.: 219) interessanter: So wie es gilt, nicht »die Spontaneität, das Subjekt […] zu verabsolutieren« (Adorno 2010 [1963]: 262), weil es immer schon in intersubjektiven Bezügen eingebunden ist, so ist auch meine Identität meiner eigenen Kontrolle deswegen entzogen, weil sie sich erst in einer gemeinsamen Welt bildet: einer Welt, die ich mit anderen teile und die durch diese anderen erst (mit) konstituiert wird.



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jeweilig-ist unserer Kontrolle darum entzogen, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun.« (Arendt 2016 [1958]: 219) Andersherum: Die »Aufschluß-gebende Qualität des Sprechens und Handelns« (ebd.: 220) offenbart mich vor allem den Mit-Handelnden – nicht aber mir selbst. Die Person bleibt sich selbst in einem gewissen Sinne fremd. Arendt beschreibt diesen Subjektivierungsprozess auch anhand der Figur des »Daimon«: Einem »Schutzgeist« aus der griechischen Mythologie, »der jeden Menschen durch sein Leben begleitet, ihm aber immer nur über die Schultern guckt, so daß er von allen, die einem Menschen begegnen, eher gekannt werden kann als von ihm selbst.« (Arendt 2012d [1958]: 92) Unter den hier angesprochenen Begegnungen – das sollte an dieser Stelle ausdrücklich herausgestellt werden – versteht Arendt freilich nicht irgendwelche Begegnungen, sondern nur solche, die im öffentlichen – und das heißt bei ihr immer: in dem im engeren Sinne politischen – Raum stattfinden: »Es ist der tiefe, über alles im gewöhnlichen Sinne Politische hinweggreifende Sinn des Öffentlichen, daß dieser ›daimon‹, der gar nichts Dämonisches an sich hat, also dies Personhafte in einem Menschen, nur da erscheinen kann, wo es einen öffentlichen Raum gibt.« (Ebd.) Daher sollte meine Rede vom gegenseitigen Ergänzungsverhältnis zwischen Arendt und Adorno an dieser Stelle wahrscheinlich besonders ernst genommen werden. Es gilt hier sowohl mit Arendt gegen Adorno, als auch mit Adorno gegen Arendt zu denken. Denn während Adornos Theorie, so meine Kritik im Vorangehenden, zu sehr auf den vorpolitischen Raum fokussiert, hat es bei Arendt oft den Anschein, als könne Individualität ausschließlich in der Öffentlichkeit entstehen. »Es gibt [bei Arendt, T. A] keine Person ohne den öffentlichen Raum« (Meints-Stender 2011: 235).216 Gemeinsinn und Urteilskraft. Ein ums andere Mal verweist Arendt in der Vita activa darauf, dass es eines öffentlichen Raumes bedarf, »um nur überhaupt 216 So lautet zumindest immer noch die recht einhellige Meinung der Arendt-Forschung in dieser Frage. Sophie Loidolt hat kürzlich überzeugend gezeigt, dass es auch bei Arendt durchaus verschiedene »layers of the self« (Loidolt 2019: 179) gibt und ich werde im fünften Kapitel noch thematisieren, dass der private Raum und die Sphäre der schulischen Bildung für Arendt in der Tat wichtige vorbereitende Funktionen einnehmen. Allerdings scheint Arendt darauf zu beharren, wie auch Loidolt in ihrer extrem differenzierten Analyse einräumt, dass »full personhood« (ebd.: 174) letztendlich nur im öffentlichen Raum zu haben ist.

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in Erscheinung treten zu können« (Arendt 2016 [1958]: 263). Ohne diesen »Erscheinungsraum« hingegen »und ohne ein Minimum an Vertrauen auf Handeln und Sprechen als Weisen des Miteinander wäre für Menschen weder die Realität der Außenwelt noch die ihrer eigenen Identität je wirklich vorhanden.« (Ebd.: 264) Während ich mich im ersten Teil dieses Abschnitts auf den hier zweitgenannten Aspekt, den der »eigenen Identität«, konzen­ triert habe,217 gilt es nachfolgend, die Aufmerksamkeit auf das ominöse »Minimum an Vertrauen« auf die »Realität der Außenwelt« zu legen, das Arendt hier einfordert und das den Anschein macht, als könne es durchaus auch als Spitze gegen Adornos These vom »Verblendungszusammenhang« gelesen werden. Denn tatsächlich scheint es sich hier auf den ersten Blick um einen nicht zu vernachlässigenden Unterschied zu Adorno zu handeln. Trotz Arendts etwas eigenwilligem Umgang mit den ideengeschichtlichen Quellen, den ich im dritten Kapitel thematisiert hatte, ist sie durchaus eine ernstzunehmende Phänomenologin (vgl. Borren 2010; Loidolt 2017). Und als Phänomenologin geht sie zunächst einmal davon aus, dass den Erscheinungen Wirklichkeit zukommt. Ich habe im dritten Kapitel ebenfalls thematisiert, dass Adorno diesen Ausgangspunkt teilt; auch wenn er eine gewisse Skepsis gegenüber dem phänomenologischen Unmittelbarkeitsdenken hegt. Auch bei Arendt ist das jedoch kein unvermitteltes »zu den Dingen« mehr, wie es Adorno in seiner Antrittsvorlesung kritisiert hatte. Denn der phänomenologische Ausgangspunkt wird von ihr intersubjektiv gewendet: »Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unserer selbst« (Arendt 2016 [1958]: 63), schreibt sie dazu in der Vita activa. Was uns Arendt damit sagen will: Jede_r Einzelne von uns schaut nur aus der eigenen (Teilnehmer_innen)perspektive auf die Welt. Das ist der einzige Zugang, den wir haben. Soll dieser Zugang nicht auf den kleinen Ausschnitt der eigenen Perspektive beschränkt bleiben, dann sind wir auf die Perspektiven der anderen angewiesen. Nur wenn wir die Dinge

217 Obwohl Arendt den Personenbegriff verwendet und stark auf ihn fokussiert, geht es in ihrer Individuierungstheorie um mehr als nur um die Frage der Identität: »Hannah Arendts ›Person‹ ist so etwas wie ein Held: einzigartig, sofern sie sich handelnd in die Welt einschaltet und dort etwas realisiert, das nur sie bewirken kann. Die Person erfüllt nicht nur gesellschaftliche Muster, sie ist nicht nur ›persona‹ in dem Sinne, dass sie nur vorgegebene Rollenerwartungen erfüllt. Sie ist ein autonomes Individuum: In dieser Hinsicht ist sie ›absolument moderne‹.« (Jaeggi 1997: 72)



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von vielen unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten, können wir die Realität in ihrer vollen Fülle erfahren: »Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.« (Ebd.: 72) Wirklichkeit oder Objektivität entsteht erst aus der »Gesamtsumme« (ebd.) einer Vielzahl verschiedener Perspektiven. Diese Perspektivenvielfalt, die Tatsache, dass uns die Welt »allen gemeinsam ist«, ist für Arendt gar »[d]as einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können« (ebd.: 264). Diese unbedingte Angewiesenheit auf die Perspektiven anderer wird von Arendt aber nicht als Beeinträchtigung empfunden, sondern bejaht. Denn wo eine große Perspektivenvielfalt herrscht, da bildet sich heraus, was Arendt in der Vita activa noch »Gemeinsinn« oder »gesunden Menschenverstand« (ebd.: 265) nennt und was sie in der nicht mehr vollendeten Schrift Vita contemplativa später »Urteilskraft« nennen wollte.218 Ausgangspunkt ihrer Ideen zur Urteilskraft bildet Kants Kritik der Urteilskraft. Was Kant eigentlich als ästhetisches Vermögen konzipiert hatte, wendet Arendt politisch: Gemeinsinn oder Urteilskraft ist für sie eine Art sechster Sinn, »der unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektives Gemeinsames und darum eben Wirkliches« (ebd.: 264 f.) verwandelt. Es handelt sich, wenn man so will, um die ins einzelne Subjekt verlagerte Fähigkeit zur Übernahme der Perspektiven anderer. Sie befähigt 218 Über Arendts nicht mehr vollendete Theorie der Urteilskraft ist vor allem in den vergangenen zehn Jahren viel geschrieben worden (vgl. Baratella 2018; Hermann 2019; MeintsStender 2011; Zerilli 2016). Die Thematik taucht seit den 1950er Jahren – zunächst oft beiläufig – in den meisten von Arendts Schriften auf. Was hier noch eher tastenden Charakter hat, wollte Arendt in ihrem nicht mehr vollendeten Alterswerk Vita contemplativa systematisch ausarbeiten. Das Gegenstück zur Vita activa war auf drei Bände angelegt, die den drei grundlegenden geistigen Tätigkeiten entsprechen sollten, nämlich dem Denken, dem Wollen und dem Urteilen. Während die ersten beiden Bände heute in einer Doppelausgabe bei Piper erhältlich sind, ist der Band zur Urteilskraft unvollendet geblieben. Das ist sogar noch untertrieben: Als Arendt verstarb, fand sich lediglich ein Titelblatt mit zwei dem Text voranzustellenden Mottos in ihrer Schreibmaschine eingeklemmt. Beim heute unter dem Titel Das Urteilen erhältlichen Buch handelt es sich um eine »spekulativ[e] Rekonstruktion« (Beiner 2020: 7), die Roland Beiner aus Arendts an der New School for Social Research gehaltenen Vorlesungen und Seminaren rekonstruiert hat.

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Individuen dazu, die Blickwinkel möglichst vieler anderer zu berücksichtigen, damit aber auch, vom eigenen Standpunkt zu abstrahieren und das Beurteilte aus ganz vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Diese Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen (ohne diese Perspektiven de facto vorher erfragen zu müssen), nennt Arendt auch »Einbildungskraft« oder mit Kant »erweiterte Denkungsart«. Sie stellt für sie »die politische [Fähigkeit] par excellence« dar, »weil wir durch sie die Möglichkeit haben, ›an der Stelle jedes anderen zu denken‹.« (Arendt 2012b [1958]: 216) Da es sich beim Gemeinsinn um die Verlagerung des kollektiven phänomenologischen Prozesses der Wirklichkeitskonstitution in die Einzelnen handelt, besteht die einzige Möglichkeit, erweiterte Denkungsart, Einbildungskraft oder den Gemeinsinn zu erlernen oder zu stärken, darin, ihn so oft wie möglich in der Praxis zu erfahren und einzuüben. Zwar glaubt Arendt, dass die Fähigkeit zum Gemeinsinn potentiell in jedem Menschen angelegt ist, sie muss aber ausgebildet und trainiert werden. Und die einzige Möglichkeit, »das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft« (Arendt 2010 [1963]: 64) zu üben, besteht für Arendt darin, sie in der Praxis anzuwenden und zu erfahren: Je häufiger wir in der plural verfassten politischen Öffentlichkeit mit divergierenden Perspektiven konfrontiert werden, desto besser wird unsere Fähigkeit, andere Standpunkte in der Welt (hypothetisch) einzunehmen; desto stärker wird unser Gemeinsinn, wird unsere Urteilskraft. Der öffentliche Raum wird von Arendt daher zumindest potentiell als subjektermächtigend gedacht. Nur hier – unter Bedingungen der Pluralität  – kann das Individuum seine Urteilskraft ausbilden, einüben, ständig erneuern und weiter stärken. Für Arendt kann sich nur in der kontinuierlichen Konfrontation mit anderen Meinungen, Ansichten und Perspektiven das herausbilden, was Adorno ein mündiges Individuum nennt. Zugleich ist die Konstitution mündiger Menschen in Arendts Theorieanlage aber auch notwendig auf das Vorhandensein dieser pluralen Öffentlichkeit angewiesen. Arendts selbstbewusste, mutige politisch Handelnde und die »Weltlichkeit der Welt« (Meints-Stender 2011: 236) bedingen sich gegenseitig: »Beides aber kann sich nur entfalten, wo es die Bedingung der Möglichkeit für einen öffentlichen Raum gibt.« (Ebd.) Anders gewendet: Auch Wirklichkeit im Arendtschen Sinne ist stets prekär und nicht einfach voraussetzungslos gegeben. Denn auch in Arendts Anlage ist das autonome Individuum, der »Held«, wie sie ihre politisch Handelnden manchmal nennt, kein transzendentales Subjekt. Auf die »›Men-



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schennatur‹« (Arendt 2016 [1958]: 72) ist auch für sie in dieser Hinsicht gerade kein Verlass, sondern Subjektivität entsteht bei ihr erst in Sozialität. »Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.« (Ebd.: 73) Die Frage, wie verwaltet oder plural die Welt, in der wir leben, tatsächlich verfasst ist, ist damit noch lange nicht entschieden. Obwohl sich bei Arendt sicherlich ein gewisses phänomenologisches Grundvertrauen in die »Selbigkeit der Gegenstände« (ebd.: 72) findet, sollten auch ihre Ausführungen zur Wirklichkeitskonstitution und zur Ausbildung von Urteilskraft nicht einfach als optimistische Gegenthese zu Adornos pessimistischer Darstellung der »verwalteten Welt« missverstanden werden. Das genaue Gegenteil ist nämlich der Fall: Auf der zeitdiagnostischen Ebene ist Arendt keinen Deut weniger skeptisch als Adorno. Sie sieht die von ihr als notwendig postulierte plurale Öffentlichkeit in der modernen Massengesellschaft gerade nicht als gegeben an: »Die Vita activa entfaltet hinsichtlich dieses Problems eine Diagnose, die für die Wirklichkeitsfähigkeit des Gegenwartsmenschen verheerend ausfällt.« (Loidolt 2021) Der »Konformismus einer Massengesellschaft« (Arendt 2016 [1958]: 72), wie Arendt in gewisser Nähe zu Adornos Kulturindustrie-These schreibt,219 gefährdet diese Fähigkeit auch für sie radikal. Ein jedes Mitglied der modernen Arbeitsgesellschaft, Arendts animal laborans, leidet auch ihrer Diagnose zufolge an einem radikalen »Realitätsverlust« (ebd.: 73). Arendts in der Vita activa vorgenommene Besinnung ist keine Deskrip­ tion der Wirklichkeit, sondern ein normatives – »therapeutisches« (Weißpflug 2019: 15) – Projekt. Arendt möchte an eine Möglichkeit erinnern, deren Wirklichkeit damit keinesfalls behauptet ist. Ihr Nachdenken ist in vielerlei Hinsicht ein Nachdenken über »die Bedingung der Möglichkeit von Politik« (Schmitz 2001: 19). Wenn eine gute politische Ordnung eine plurale Öffentlichkeit ermöglicht, dann hilft sie uns, unsere Urteilskraft auszubilden und unseren Wirklichkeitssinn zu stärken. Wie eine solche politische Ordnung, die das ermöglicht, ungefähr aussehen müsste, das will ich mir zum Abschluss dieses Kapitels noch ansehen.

219 In ihrem Aufsatz Kultur und Politik vertritt Arendt selbst eine These über die Kulturindustrie. Sie diagnostiziert hier, »daß die moderne Gesellschaft den ›Wert‹ der Kultur entdeckte, das heißt sich der Kulturdinge für ihren Zweck bemächtigte und sie in Werte transformierte.« (Arendt 2012c [1958]: 277)

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4.3.3 Aktualisierte Pluralität: Konturen einer guten politischen Ordnung Gegen Adornos Einwand, die Möglichkeit zu echter demokratischer Praxis sei bis hinab auf die subjektive Ebene verstellt, habe ich – gleichsam ergänzend zu seinen eigenen bildungstheoretischen Bemühungen diesbezüglich (vgl. 4.2.2) – mit Arendt auf die subjektivierenden Potentiale der Öffentlichkeit verwiesen. Ist die Öffentlichkeit plural verfasst, dann ist die hier stattfindende Subjektivierung (auch) subjektermächtigend. Das aber führt zu der Frage: Wann ist ein öffentlicher Raum plural verfasst? Wie muss die politische Ordnung beschaffen sein, die eine solche Subjektermächtigung durch Pluralität zu leisten vermag? Dieser Frage will ich mich im nun folgenden Abschnitt widmen. Hat sich meine bisherige Darstellung von Arendts politischem Denken auf ihre Handlungstheorie konzentriert, so möchte ich nun, komplementär dazu, die »Konturen [einer] guten politischen Ordnung« (Straßenberger 2020.: 89) skizzieren, die sich bei Arendt finden. Ich möchte vorschlagen, ihr Ringen mit der Frage, wie eine gute politische Ordnung beschaffen sein müsste, als Beschäftigung mit dem gleichen Problem zu lesen, das ich oben als Adornos generelles Bedenken eingeführt hatte. Hatte selbst der »pessimistische« Adorno gesellschaftliche Veränderung durch demokratische Politik nicht grundsätzlich und für immer ausgeschlossen, so hatte er aber doch einen in Zukunft unter den richtigen Umständen wieder möglichen »nicht bornierte[n] Begriff von Praxis« (Adorno 2003f [1969]: 764) oder den einer »wahre[n] Politik« (Adorno 2003b [1962]: 430) unter den Generalverdacht gestellt, dass bei jeglichem kollektiven Entscheiden die, wie er es nannte, »Repression des Einzelnen durchs Allgemeine mitgesetzt ist.« (Adorno 2003f [1969]: 765) Das Interessante an Arendts Nachdenken über politische Ordnungen ist, dass sie diese Sorge zu teilen scheint. Der Unterschied zu Adorno besteht darin, dass Arendt nicht bei der Formulierung des Problems stehenbleibt. Vielmehr macht sie diese Schwierigkeit in der Folge zum Zentrum ihres Nachdenkens über Politik. Mehr noch: Sie fragt danach, wie eine politische Ordnung beschaffen sein müsste, in der das Einzelne durchs Allgemeine nicht nur nicht unterdrückt, sondern gerade ermöglicht würde. Dieses durch ein Allgemeines ermöglichtes Einzelnes heißt bei Arendt Pluralität. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels möchte ich vorschlagen, Arendts Pluralitätstheorem als politisch zum Ausdruck gebrachtes Nicht-Identisches zu verstehen. In einer ersten Annäherung könnte bereits die Rezeptionsgeschichte von Arendts Politikverständnis als Parabel auf Adornos grundsätzliches Partikular-



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universal-Problem gelesen werden. Denn die Rezeption von Arendts Politikbegriff ist eine Geschichte für sich. Obwohl Arendt spätestens seit dem Erscheinen von The Origins of Totalitarianism 1951 (vor allem in den USA) große Anerkennung als öffentliche Intellektuelle, streitbare Publizistin und politische Kommentatorin fand, wurde sie von der im engeren Sinne akademischen Welt (vor allem in Deutschland) lange kaum beachtet. Viele Jahre galt sie als gräkophile Nostalgikerin, die zur modernen Politischen Theorie wenig beizusteuern hat. Diese ehemals gültige »Standardauffassung« (Benhabib 2006: II) wird heute von niemandem mehr ernsthaft vertreten. Spätestens seit dem Ende der 1990er Jahre sind sich die meisten Rezipient_innen einig, dass Arendt eine moderne Denkerin ist, deren Konzept politischen Handelns auch für die aktuelle politische Theoriebildung fruchtbar gemacht werden kann. Uneinigkeit besteht weiterhin jedoch darüber, warum dem so ist. Am Anfang der intensiveren Auseinandersetzung mit ihrem Werk Mitte der 1990er Jahre waren es vor allem zwei Theorieprojekte, die Arendt für sich vereinnahmen wollten. Die hier entstandene Teilung der Rezeption in zwei Hauptstränge zieht sich teilweise bis heute durch.220 Dabei handelt es sich um die Frage, ob Arendt eher Vordenkerin eines deliberativen und universalistischen, auf die politische Ordnung zielenden Demokratiemodells ist, oder ob sie als Ideengeberin eines agonalen und radikaldemokratischen, umkämpften – Partikularität und Dynamik betonenden – Politikverständnisses gesehen werden sollte. Die Einordnung Arendts in die Genealogie des ersten, »universalistischen« Modells wird oft dem wohl wichtigsten Vordenker der deliberativen Demokratietheorie selbst zugeschrieben: Jürgen Habermas. Sein Begriff der Öffentlichkeit ist ebenso von (einer kritischen Auseinandersetzung mit) Arendt beeinflusst, wie er die Praxis-poiesis-Unterscheidung nach eigenen Angaben von ihr gewinnt. In Bezug auf Arendts Machtbegriff betont Habermas (1987: 229 f.) ausdrücklich, sein Potential liege »in der Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerichteten Kommunikation«. Und es ist oft bemerkt worden, dass diese Arendt-Bezüge wohl um einige nicht eingestandene Einflüsse ergänzt werden müssten (vgl. Verovšek 2019). Die Lesart Arendts als »Muse« der deliberativen Demokratietheorie 220 Ich werde allerdings im Folgenden argumentieren, dass diese Zweiteilung gerade dabei ist, sich aufzulösen, weil sie durch eine dritte Lesart abgelöst wird. Diese dritte Lesart, die als institutionentheoretische beschrieben werden kann, nimmt die beiden früheren Lesarten gleichsam in sich auf.

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– tatsächlich finden sich bei Habermas immer nur verstreute Andeutungen auf lose Inspirationen – wurde später von Seyla Benhabib systematisch entfaltet und rezeptionsgeschichtlich in ihrer Wirkmächtigkeit verstärkt. In ihrem Buch Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne (vgl. Benhabib 2006) stellt sie Arendt endgültig als Denkerin einer »dialogischpartizipative[n] Demokratie« (Straßenberger 2020: 160) vor. Auf einige frühe Besprechungen, die Benhabib dafür kritisierten, dass sie Arendt zur deliberativen Demokratietheoretikerin mache, antwortet sie im Vorwort zur Neuauflage selbstbewusst: »Auf den Vorwurf, ich hätte Arendt so gelesen, als sei sie eine Habermasianerin, würde ich schlicht antworten wollen, dass ich genau das umgekehrte Anliegen verfolge, nämlich zu zeigen, in welchen Hinsichten Habermas ein Arendtianer ist.« (Benhabib 2006: V) Andere, wie Maurizio Passerin D’Entrèves (1994), stimmen mit dieser Lesart überein. Arendts Status als eine Art (entfernte) Ahnherrin der deliberativen Demokratietheorie gilt heute als etabliert. Ich möchte hier nicht in die Diskussion darüber einsteigen, ob und inwieweit diese Aneignung aus streng ideengeschichtlicher Perspektive plausibel ist,221 wie sie im Detail vonstattengeht und wo die feinen Unterschiede zwischen verschiedenen Autor_innen liegen, die ich hier als deliberative Arendt-Interpret_innen zusammenfasse. In unserem Zusammenhang ist vor allem interessant, dass sich dieser Rezeptionsstrang stark auf Arendts Machtbegriff konzentriert. Die deliberativen Leser_innen eint, dass sie Arendts Idee des »acting in concert«, des Miteinander-Handelns unterstreichen. Sie eint darüber hinaus, dass sie besagtes Miteinander-Handeln als Synonym für Kooperation und Konsens verstehen. Und sie alle fragen sich mit (und teilweise gegen) Arendt, wie die Macht, die in der Revolution (verstanden als Gründung) entsteht, auf Dauer gestellt werden kann. Ihre paradigmatischen Quellen sind daher Macht und Gewalt sowie Über die Revolution (und nicht etwa die Vita activa). Sie lesen Arendt vor allem als universalistische Denkerin. Denn die Sorge um das Gemeinsame, das Verbindende und den Konsens darüber ist für sie ebenso zentral wie die Frage nach der politischen Ordnung, die die Macht, die in der Gründung entsteht, auf Dauer stellen und kanalisieren kann.

221 Einiges spricht dafür, dass das nicht der Fall ist: »Habermas und Benhabib rezipieren Arendt vornehmlich aus einer kritischen, zentrale Grundüberlegungen revidierenden Perspektive« (Straßenberger 2011: 349). Margaret Canovan (1983: 112) hat das einmal ein »creative missreading« genannt.



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Diesen deliberativen, universalistischen Lesarten stehen die sogenannten agonalen oder radikaldemokratischen Arendt-Interpretationen gegenüber. Einer ihrer bekanntesten Vordenker ist Dana Villa, der in seinem Buch Arendt and Heidegger: The Fate of the Political (1996) die heideggerianischen Wurzeln von Arendts Denken systematisch herausgearbeitet hat. Er wendet sich explizit gegen Habermas’ und Benhabibs Interpretation, die er »dialogical/universalist« (Villa 1996: 70) nennt, und merkt – besonders gegenüber Benhabib – an, sie übersehe die »initiatory or performative dimension« (ebd.) von Arendts Denken. Da sich Benhabib im Vorwort zur Neuauflage ihres Buches später ausdrücklich gegen diese Vorwürfe gewehrt hat, werden die beiden oft als exemplarische Vertreter_innen der zwei einander gegenüberstehenden Arendt-Lager angesehen, wobei Benhabib für das dialogisch-universalistische und Villa für das agonale-partikularistische Lager steht. Das heißt aber nicht, dass Villa der einzige »agonale« Arendt-Leser ist. Andere wichtige performative Lesarten stammen von Bonnie Honig, Andreas Kalyvas oder Richard Wolin.222 Die entsprechende Interpretation erlebt innerhalb der radikaldemokratischen Theoriebildung zudem aktuell eine Renaissance (Marchart 2010: 35–38; Meyer 2019). Was diese teilweise ganz unterschiedlichen Studien miteinander verbindet, ist, dass sie die griechischen und heideggerianischen Traditionsbestände in Arendts Denken betonen. Das zeigt sich an ihrem Fokus auf den Agon, den Wettstreit und ihre Ausführungen zu Arendts Konzept der Natalität sowie dem damit verbundenen Insistieren auf der immer gegebenen Möglichkeit des Neu-Anfangen-Könnens. Die »Agonalen« lesen, konträr zu den »Deliberativen«, lieber die Vita activa als Über die Revolution. Auch Arendts Überlegungen zum Zivilen Ungehorsam werden oft radikaldemokratisch gedeutet (vgl. Celikates 2017). Die agonalen, radikaldemokratischen ArendtInterpret_innen betonen insgesamt das partikulare, das aufbrechende Moment ihres Denkens. Nach ihnen »sind es gerade nicht-institutionalisierbare Praktiken« wie die von Arendt betonte menschliche Fähigkeit, einen neuen Anfang zu machen, oder eben der zivile Ungehorsam, »die jene politischen Veränderungen initiieren, die das Recht [oder die politische Ordnung allgemein, T. A.] vor Erstarrung bewahren.« (Ebd.: 31) Arendt ist für sie eine Denkerin, die sich vor dieser Erstarrung fürchtet. Für radikaldemokratische Leser_innen ist sie in erster Linie eine Denkerin der Dynamik und des Neu222 Ein guter Überblick über diese Lesarten, der trotzdem die Besonderheit der einzelnen Aneignungen zu Wort kommen lässt, findet sich bei Ackerman und Honig (2011).

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anfangs. Dabei erscheint ihnen die Frage nach der politischen Ordnung nicht nur theoretisch vernachlässigbar, ja, zu geordnete, starre Zustände sind ihnen geradezu unerwünscht. Diese Debatte konnte nur deswegen überhaupt geführt werden, weil sich tatsächlich beide Momente – nämlich »Spontaneität und Organisation« (Ador­no 2003f [1969]: 777; Hervorh. T. A.) – in Arendts Denken nachweisen lassen.223 Meistens wird dies sogar von den miteinander konkurrierenden Lesarten selbst anerkannt. Nur wird das Vorhandensein der jeweils anderen – universalistischen oder partikularen – Elemente im nächsten Schritt dann ebenso oft als »basic and inescapable self-contradiction at the heart of her theory« (Villa 1996: 56) abgetan und in der Folge wird für das Primat oder zumindest ein Übergewicht der die eigene Lesart stützenden Elemente argumentiert.224 Ich schlage stattdessen vor, an dieser Stelle Arendts zu Beginn des zweiten Teils dieser Arbeit zitiertes Diktum ernst zu nehmen. Arendt hatte behauptet, dass »solche grundlegenden und offenkundigen Widersprüche« niemals »zweitrangigen Schriftstellern« unterlaufen, bei »großen Autoren« aber zumeist direkt »in den eigentlichen Mittelpunkt ihres Werkes« (Arendt 2012 [1954]: 33) führen. Auch in ihrem Fall verweist der scheinbare Widerspruch in der Theorie demnach auf eine echte Aporie. Oder, wie die Kritische Theo­ rie es formulieren würde: Der Widerspruch in der Theorie verweist auf eine Schwierigkeit in der Realität. Arendt, so wie ich sie interpretiere, ist hier – ihrem Widerwillen gegenüber dem Begriff zum Trotz – ganz Dialektikerin.225 Mit meinem Vorschlag, dieses Diktum auch auf Arendt selbst anzuwenden, will ich die Gleichzeitigkeit von universalen und partikularen Elementen aber nicht, wie Villa das tut, als Widerspruch werten, sondern vielmehr als Ausdruck eines Ringens beschreiben: Arendt ringt mit der Frage, wie Partikularität und Spontaneität, die sich bei ihr in der ständigen Möglichkeit des Neu-Anfangen-Könnens, in Pluralität und in Konflikt äußern, auf Dauer gestellt werden können. Sie treibt das Problem um, wie eine (uni223 Shmuel Ledermann (2014) hat das einmal nah am Text überzeugend aufgezeigt, auch wenn ich mit dem Schluss, den er daraus zieht – Arendts Denken sei vom Republikanismus abzugrenzen und vollständig in der Existenzphilosophie zu verorten – nicht einverstanden bin. 224 Ein Pendant der deliberativen Seite findet sich bei Maurizio Passerin D’Entrèves (1994: 84 f.), der von einer »tension« zwischen Arendts »two models« spricht. 225 Arendt nannte dialektisches Denken einen »Trick« (Arendt 2012 [1954]: 33). Durch ihr Werk verteilt finden sich immer wieder polemische Spitzen gegen den Begriff (beispielsweise Arendt 2013 [1970]: 57 f. und 2016 [1958]: 83, 123).



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versale) politische Ordnung verfasst sein müsste, die die Möglichkeit zum (partikularen) dissentiven politischen Handeln nicht nur nicht unterdrückt, sondern gerade ermöglicht. Arendt sucht einen Weg, um die Stelle noch ein letztes Mal zu bemühen, »wie man durch die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne« (Adorno 2003f [1969]: 777).226 Die jüngste Arendt-Rezeption hat dies erkannt. Das gilt insbesondere für diejenigen Leser_innen, die Arendt institutionentheoretisch rezipieren. Denn nachdem die Frage, ob Arendt mit ihrem Politikbegriff das Universale, das Gemeinsame, das Assoziative – kurz: die Ordnung – betont, oder ob sie eher für ein nicht-identisches, agonales, dynamisches, also ein die Ordnung aufbrechendes Politikmodell steht, zwei Jahrzehnte lang die Forschung beschäftigt hat, lässt sich aktuell eine weitere Verschiebung in der Rezeption beobachten. Wollte man Arendts Rezeptionsgeschichte als Phasenmodell erzählen, könnte man festhalten: Nach einer ersten Phase weitgehender NichtRezeption und einer zweiten Phase, die sich um die Frage drehte, ob Arendt eher einem deliberativen oder einem agonalen Politikmodell zuzuordnen sei, tritt die Forschung aktuell in eine dritte Phase ein: die institutionentheoretische Phase. Diese soll zum Abschluss dieses umfangreichen vierten Kapitels noch kurz in ihren Grundzügen skizziert werden. Die institutionentheoretische Lesart hat ihre ideengeschichtlichen Vorläufer in Interpretationen, die die Wichtigkeit der römischen, auf die Verfassung der politischen Ordnung fokussierten Tradition gegenüber den griechischen – agonalen – Elementen in Arendts Denken betont haben.227 Sie hat ihre Vorläufer also in Interpretationen, die die Perspektive von Über die Revolution gegenüber der der Vita activa starkmachen. Der Einbezug der römischen Elemente ihres Denkens hat es ermöglicht, früher vernachlässigte ordnungspolitische Themen wie politische Institutionen, das Recht und den 226 Es wird im Folgenden jedoch meine These sein, dass es Arendts dialektisches Politikverständnis gerade ausmacht, dass es sich bei Spontaneität und Organisation in ihrem Denken eben nicht um wie auch immer geartete Alternativen handelt, sondern die beiden vielmehr in einem gegenseitigen Ermöglichungsverhältnis zueinander stehen. 227 Exemplarisch für dieses Vorgehen steht Tsao (2002). Obwohl ich im Folgenden argumentieren werde, dass die institutionentheoretische Lesart die beiden anderen hier skizzierten Rezeptionstraditionen systematisch in sich aufnimmt, steht sie im engeren ideengeschichtlichen Sinne (hier klassisch verstanden als die korrekte Abfolge des Einflusses von einer Idee auf die andere) nicht im gleichen Maße in der Tradition beider Ansätze. Die Linie verläuft eher von den hier als agonal betitelten Lesarten über die Verschiebung von Athen nach Rom hin zur institutionentheoretischen Lesart. Vgl. zu dieser Genealogie auch Volk (2010: 17 ff.).

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Staat in Arendts Denken systematisch zu untersuchen.228 Am Ende dieser Untersuchungen steht eine Lesart, die den Vorteil hat, dass sie die beiden zuvor konkurrierenden Lesarten in sich aufnimmt. Damit aber wird Arendt nicht nur ideengeschichtlich angemessener verstanden, sondern ihr Denken wird für die hier verhandelte Frage auch systematisch interessanter, ermöglicht sie es doch, produktiv über ein dialektisches Politikverständnis nachzudenken, wie es Adorno zu fordern schien. Inwiefern ist das der Fall? Die institutionentheoretischen Lesarten nehmen die anderen beiden Lesarten in sich auf, das heißt sie betonen sowohl die universalen Elemente in Arendts Denken – das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer politischen Ordnung – als auch die agonalen, aufbrechenden, dynamischen, die das Neue initiierenden Momente. Wenn ich hier behaupte, die neue Lesart nehme die beiden älteren miteinander konkurrierenden in sich auf, dann ist damit allerdings keinesfalls gemeint, dass es sich dabei um eine wie auch immer geartete goldene Mitte oder um eine Art Balanceakt handelt. Denn die institutionentheoretische Lesart ist auf dem oben aufgespannten Spektrum zwischen Allgemeinem und Besonderem keinesfalls in der Mitte zu verorten. Sie tritt vielmehr aus diesem Spektrum heraus und zwar in einem durchaus dialektischen, das bedeutet Spontaneität und Organisation vermittelnden Sinn: Die neueren institutionentheoretischen Lesarten haben richtig erkannt, dass es Arendt zufolge eines Allgemeinen, das heißt konkret einer politischen Ordnung bedarf, die ein Besonderes, das meint ein agonales, nicht-identisches, gegebenenfalls dissentives Handeln ermöglicht, ja befördert.229 Das auf diese Weise Ermöglichte nennt Arendt freilich nicht 228 Wobei ich der institutionentheoretischen Lesart nicht nur all diejenigen Studien zurechne, die sich in den vergangenen Jahren direkt mit Fragen von Institutionen (vgl. Förster 2009), Staatlichkeit (vgl. Schulze Wessel, Volk und Salzborn 2013) und Recht (vgl. Goldoni und McCorkindale 2012; Volk 2010) bei Arendt auseinandergesetzt haben, sondern auch die Lesarten, die Arendts Denken einem »Republikanismus des Dissens« (vgl. Thiel und Volk 2016) oder einem »dissentivem Republikanismus« (Straßenberger 2020: 120) zuordnen. Dazu gehört meines Erachtens auch Margaret Canovans Studie Hannah Arendt. A Reinterpretation of Her Political Thought, in der sie zwar den Dissensbegriff nicht explizit starkmacht, aber schon 1992 von einem »New Republicanism« spricht. 229 Dass es beim Dialektikbegriff nicht um die Frage des richtigen Maßes geht, betont Ador­ no: »Vermittlung zwischen den einander entgegengesetzten Paaren des Denkens stellt sich nicht auf dem berühmten goldenen Mittelweg her, von dem Arnold Schönberg einmal sehr hübsch gesagt hat, es sei der einzige Weg, der ganz bestimmt nicht nach Rom führe« (Adorno 2016 [1962/1963]: 37 f.). Ich will hier nicht verschweigen, dass auch institutionentheoretische Interpret_innen manchmal davon sprechen, dass es gelte, eine »institutionelle Balance zu finden« (Thiel 2012: 138). Der eigentlich innovative Beitrag dieser Lesart



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Nicht-Identisches, sondern Pluralität. Für Arendt muss jede politische Ordnung bereitstellen, was laut der Vita activa einst die antike Polis bereitstellte, nämlich einen »Raum […], innerhalb dessen die Handelnden dann in Erscheinung treten konnten« (Arendt 2016 [1958]: 244). Gleichzeitig wirkt die so gelebte Nicht-Identität – Arendt würde von aktualisierter Pluralität sprechen – legitimierend und stabilisierend (sowie transformierend) auf jenes Allgemeine (die politische Ordnung) zurück, das sie gerade erst ermöglicht hatte: »So steht das Handeln nicht nur im engsten Verhältnis zu dem öffentlichen Teil der Welt, den wir gemeinsam bewohnen, sondern ist diejenige Tätigkeit, die einen öffentlichen Raum in der Welt überhaupt erst hervorbringt.« (Ebd.: 249; Hervorh. T. A.) Die institutionentheoretischen Lesarten heben dies hervor, indem sie betonen, dass »der freiheitliche Gehalt und die Dauerhaftigkeit und Stabilität einer politischen Ordnung das eigentliche Anliegen von Arendts Theoretisieren« (Thiel und Volk 2016: 347; Hervorh. T. A.) sind. Nach ihnen geht es Arendt um »die Dialektik von Stabilität und Erneuerung, von Konflikt und Ordnung, von Dauerhaftigkeit und Neubeginn.«230 (Ebd.: 348) Die institutionentheoretischen Lesarten nehmen ihren Ausgangspunkt bei Arendts Begriff der Pluralität (Thiel 2013: 268). An dieser Stelle sei betont, dass dieser keinesfalls mit dem liberalen Begriff des Pluralismus verwechselt oder gleichgesetzt werden sollte (das tut zum Beispiel Hermann 2019: 180 f.). Pluralität ist für Arendt weder etwas, das einfach da – im Sinne von »gegeben« – ist, noch handelt es sich um etwas, für das in der Öffentlichkeit irgendeine Form von Kompromiss gefunden werden müsste. Vielmehr muss Pluralität nach Arendt aktiv hergestellt werden (Arendt 2016 [1958]: 213 ff.). Pluralität ist für sie etwas, für das schon deshalb kein Kompromiss besteht jedoch darin, dass das gegenseitige Ermöglichungsverhältnis von allgemeiner politischer Ordnung und partikularem dissentivem Handeln betont wird. 230 In einem gewissen Sinne ist Arendt hierbei sogar die konsequenter dialektische Denkerin als Adorno. Zumindest dann, wenn man die – von mir zugegebenermaßen recht strapazierte – Stelle aus den Marginalien zu Theorie und Praxis ernst nimmt, in der Adorno davon spricht, dass es darum gehe, den »Archimedische[n] Punkt: wie eine nicht repressive Praxis möglich sei, wie man durch die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne, […] [zu] finden« (Adorno 2003f [1969]: 777; Hervorh. T. A.). Während Adorno Dynamik und Statik also, wie ein Großteil der aktuellen Politischen Theorie, als Alternativen sieht und nach dem richtigen Maß fragt, wird dieser Zusammenhang von Arendt tatsächlich dialektisch gedacht: Organisation (politische Ordnung) muss Spontaneität ermöglichen. Die so ermöglichte Spontaneität muss das sie ermöglichende Allgemeine wiederum konstituieren, stabilisieren und transformieren. Hier nach der unabhängigen und abhängigen Variable zu fragen, wäre von vorneherein verfehlt.

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gefunden werden sollte, weil ihre Verwirklichung erst Freiheit bedeutet. Politik nach Arendt ist nichts anderes als die Sichtbarmachung dieser Pluralität.231 Von diesem Ausgangspunkt kommend teilen die institutionentheoretischen Interpret_innen mit den deliberativen zunächst den Aspekt, dass sie das Miteinander-Handeln in Arendts Denken betonen. Denn nur im Miteinander-Handeln kann Pluralität überhaupt entstehen. Die institutionentheoretischen Leser_innen trennt aber von den deliberativen wiederum die Auffassung, dass dieses Miteinander-Handeln weder als notwendigerweise vernünftig vorgestellt wird noch als eines, das unbedingt auf einen Konsens abzielt. Politik zielt nach Arendt gerade nicht auf die Herstellung einer wie auch immer gearteten Identität. Für die Herstellung von Pluralität ist die Auseinandersetzung selbst wichtiger als deren Ergebnis. Der Weg wird zum Ziel, wenn man so will. Der Weg aber, das ist der »Vorgang des Hörens und Gehört-werdens, in dem ein Ausbuchstabieren politischer Alternativen vorgenommen wird. Responsivität und Expressivität sind Ergebnisse eines solchen Diskurses, in dem konfligierende, manchmal wohl gar unvereinbare Meinungen zur Austragung gebracht werden. […] Inhaltliche Übereinstimmung ist eine mögliche Folge, wichtiger aber ist Arendt die Verständigung über politische Streitfragen im Sinne eines to agree that we disagree, also einer die Fortsetzung des Streits erlaubenden Anerkennung der Position des Gegenübers.« (Thiel und Volk 2016: 350 f.) Durch diese Betonung des nicht-identischen Moments des Konflikts wird Arendt scheinbar in die Ecke der Radikaldemokrat_innen gerückt. Allerdings unterscheidet sie sich auch von diesen: Denn anders als für die Denker_innen des Politischen, die Politik immer nur als revolutionären Akt des Aufbrechens einer alten Ordnung konzeptualisieren, braucht es für Arendt durchaus ein Allgemeines in Form einer institutionellen Ordnung, innerhalb deren der Neubeginn stattfindet; weniger, um die konfliktive Dynamik zu begrenzen,232 als vielmehr, um sie gar erst zu ermöglichen (Arendt 2020 [1963]: 222). Für Arendt ist es die Aufgabe einer politisch-institutionellen 231 Ausführlich zu diesem Punkt schreibt Loidolt (2015). 232 Obwohl das auch eine Rolle spielt (Arendt 2016 [1958]: 241–251). Da politischem Handeln von sich aus die Tendenz innewohnt, »vorgegebene Schranken zu sprengen und Grenzen zu überschreiten«, braucht es für Arendt »Einrichtungen und Gesetze, mit denen wir immer wieder versuchen, den Bereich der menschlichen Angelegenheiten halbwegs zu stabilisieren« (ebd.: 238).



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Ordnung, »Gelegenheiten« für nicht-identisches politisches Handeln »regelmäßig bereitzustellen« (Arendt 2016 [1958]: 247): »Wenn Arendt von einer gelungenen politischen Praxis spricht, geht es ihr, wie Jeremy Waldron bemerkt, nämlich immer um ›structured politics‹. Politisches Handeln […] spielt sich ihr zufolge stets in zumindest schwach institutionalisierten Räumen ab, etwa Volksgesellschaften oder Räten. In Räumen also, in denen politisches Handeln ›[…] basic rules of political procedure‹ folgt. Erst eine solche Institutionalisierung ermöglicht ihr zufolge jene Gleichheit im politischen Aushandlungsprozess herzustellen, die für die Erfahrung politischer Freiheit als Miteinander-Handeln notwendig ist.« (Thiel und Volk 2016: 351 f.) Das führt schließlich zur dialektischen Pointe von Arendts Politikbegriff. Denn gleichzeitig wirkt dieses konflikthaft und dynamisch vorgestellte politische Handeln (diese gelebte Nicht-Identität) wiederum auf genau jene Ordnung (jenes Allgemeine) zurück, die es erst ermöglicht hatte. Denn auch das Allgemeine, das die politische Ordnung darstellt, ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Auch die Institutionen und Strukturen, die »Gelegenheitsstrukturen« (Straßenberger 2020: 107) für konfliktiv politisches Handeln darstellen sollen, sind nicht einfach gegeben. Bei Verfassungs- und Gesetzgebung handelt es sich für Arendt nicht um vorpolitische Akte, wie es der Vorstellung der alten Griechen entsprach, die sie in der Vita activa manchmal referiert.233 Anders als bei den alten Griechen in der Polis müssen diese Strukturen für Arendt durch politisches Handeln – und im politischen Handeln – erst geschaffen werden. Auf diese Weise können politisch Handelnde die politische Ordnung als ihre eigene verstehen: Als eine, die sie sich selbst gegeben haben. Arendt interessiert sich hier einerseits für die Gründung der 233 So war »das Gesetz der griechischen Stadtstaaten« weder das Resultat von noch dem Gehalt nach politisches Handeln. Für die Griechen war der Akt der Gesetzgebung vielmehr »eine vorpolitische Aufgabe« (Arendt 2016 [1958]: 78): Die Grenzen der Polis mussten gezogen und die Spielregeln geschrieben sein, bevor darin politisch gehandelt werden konnte. Deswegen »brauchte der Gesetzgeber auch nicht Bürger der Stadt zu sein«, sondern wurde, wenn wir Arendts Rekonstruktion Glauben schenken, »häufig von auswärts berufen.« (Ebd.: 431) In gewissem Sinne haben diese Ausführungen in der Vita activa dazu beigetragen, den Weg für die institutionentheoretische Lesart lange zu verstellen, indem sie für bare Münze genommen und als Ausdruck von Arendts Verfassungsverständnis angesehen wurden. Dabei referiert sie hier eigentlich nur die griechische Position, der sie die agonalen Elemente ihres Denkens entnimmt. Sie will sie aber ausdrücklich mit dem römischen Sinn für die politische Ordnung zusammengedacht wissen.

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politischen Ordnung selbst. So ist die amerikanische Revolution für sie nicht aufgrund der Befreiung von der englischen Herrschaft interessant, sondern aufgrund der Gründung der Freiheit (Arendt 2020 [1963]: 212). Das eigentlich Revolutionäre ist für sie, dass in den dreizehn Kolonien damals »eine Art von Verfassungsfieber« (ebd.) ausgebrochen sei. Als es darum ging, »eine neue Staatsform zu konstituieren« (ebd.: 217), wurden die Verfassungsentwürfe »nicht nur summarisch von dem Volk ratifiziert, sondern Abschnitt für Abschnitt und bis in alle Details in den townhall meetings […] diskutiert« (ebd.: 218). Andererseits nimmt Arendt die ständige Erneuerung dieses Gründungsversprechens in und durch aktive Partizipation am politischen Geschehen in den Blick: »Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht«, schreibt sie in Macht und Gewalt, »ist die Unterstützung des Volkes.« Diese ist wiederum aber nichts anderes als »die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses […], welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat« (Arendt 2013 [1970]: 42). Für Arendt muss die politische Ordnung (das Allgemeine) – auch lange nach ihrer Gründung – in und durch aktive Partizipation am politischen Geschehen ständig bestätigt und erneuert sowie in dieser ständigen Erneuerung, im nicht-identischen, das heißt hier abweichenden, dissidenten politischen Handeln immer auch transformiert werden. Ich habe diesen Abschnitt mit dem Vorschlag begonnen, die Gleichzeitigkeit von universellen, die Organisation betonenden und partikularen, auf Spontaneität fokussierten Elementen in Arendts politischer Theorie nicht als Selbstwiderspruch, sondern als Ausdruck eines Ringens zu verstehen, eines Ringens mit der Frage, »wie eine nicht repressive Praxis möglich sei« (Adorno 2003f [1969]: 777), das heißt wie demokratische Politik gedacht werden kann, in der das Einzelne, Partikulare oder Nicht-Identische nicht nur nicht unterdrückt wird, sondern, im Gegenteil, wie einem Einzelnen durch ein Allgemeines überhaupt erst zum Ausdruck verholfen werden kann. Ich hatte vorgeschlagen, Arendts Verständnis von Pluralität als ein solches politisch zum Ausdruck gebrachtes Nicht-Identisches zu verstehen. Gleichzeitig ist auch das entsprechend beschaffene Allgemeine für sie nicht vorab gegeben, sondern wird durch plurales politisches Handeln, das heißt durch eine Vielzahl miteinander konfligierender Positionen, überhaupt erst geschaffen; geschaffen, weiter bestärkt und ständig weiter transformiert. Allerdings beantwortet Arendt die Frage, wie Dynamik in politischen Ordnungen auf Dauer gestellt werden kann, nicht vollumfänglich, sondern ringt eher mit ihr. Eine vollständig ausbuchstabierte Antwort auf diese Fra-



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ge lässt sich ihren Texten nicht ohne weiteres entnehmen; zumindest dann nicht, wenn wir unter einer solchen Antwort eine am Reißbrett entworfene Blaupause für politische Institutionen verstehen. Auch wenn Arendts in Über die Revolution formulierte Bewunderung für so etwas wie ein Rätesystem immer wieder als (vage) Präferenz gelesen worden ist, bleibt die Frage nach dem genauen institutionellen Design einer solchen Ordnung eine, die (zumindest teilweise) außerhalb von Arendts Theoriebildung liegt.234 Zwar kann über sie mit Arendtschen Mitteln durchaus nachgedacht werden, eine Lösung ist Arendts Theorie aber nicht vorgefertigt zu entnehmen. Damit liegt die Frage zugleich aber auch außerhalb des Rahmens dieser Arbeit. Denn das erklärte Ziel meines Vorhabens ist es, die Konturen einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno zu umreißen, um so deren Möglichkeit plausibel zu machen. Diese Möglichkeit aber ergibt sich daraus, dass Arendts Nachdenken über eine gute politische Ordnung den Versuch darstellt, die Rationalität, die Adorno nur negativ dialektischem Denken oder der Kunst zutraute – nämlich ein Besonderes zu denken, das vom Allgemeinen nicht unterdrückt, sondern ermöglicht wird –, in ein politisches Vokabular zu übersetzen.

234 »Bei aller Begeisterung, die Arendt für das Rätesystem empfand, glaube ich nicht, dass sie das Problem, das Jefferson so sehr umtrieb, je gelöst hat – nämlich wie man eine stabile, dauerhafte politische Institution entwickelt, in der der revolutionäre Geist ein Zuhause findet.« (Bernstein 2020: 122)

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5. Kritik »Kritik ist aller Demokratie wesentlich.« Adorno, Kritik

Im vorangegangenen Kapitel habe ich mich mit Adornos Skepsis gegenüber der Möglichkeit von Politik beschäftigt. Ich habe mich zunächst gegen diejenigen Kritiker_innen gewendet, die glauben, dass Adorno in einen Widerspruch zu seiner eigenen, eigentlich doch als kritisch markierten Gesellschaftstheorie gerät. Dieses Bild habe ich etwas korrigiert und stattdessen – meinem theoriegeschichtlichen Vorgehen gemäß – Adornos Einwände gegen die Möglichkeit von Politik zunächst ernst genommen und nachvollzogen. Anschließend habe ich mich dem anderen Extrem der Rezeption zugewandt und gegen die These argumentiert, mit Adorno lasse sich über eine mögliche Befreiung von Heteronomie gar nicht mehr nachdenken. Ich habe aufgezeigt, dass auch Adorno sich mit dem Problem beschäftigt, wie sich gegen die »Nichtübereinstimmung von Individuum und sozialer Ordnung« (Saar 2009: 570) in der »verwalteten Welt« noch angehen lässt. Nur liegt das, »was hilft« (Adorno 2003f [1969]: 770), liegt die Möglichkeit zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse für Adorno aktuell (noch) nicht in der Sphäre der demokratischen Politik. Zum Abschluss des Kapitels habe ich daher Hannah Arendts Politikbegriff als eine Möglichkeit vorgeschlagen, dennoch über Veränderung qua politischem Handeln nachzudenken. Arendt, so lautete meine Behauptung, hat sich, aus ähnlichen Erfahrungen heraus und von einer ähnlichen Diagnose ausgehend, sozusagen ähnliche »Sorgen« gemacht. In der Folge hat sie genau die Bedenken, die bei Adorno zur Praxisabstinenz geführt haben, zum Zentrum ihres Nachdenkens über Politik gemacht. Hannah Arendt, so habe ich argumentiert, hat ein Verständnis des Politischen entwickelt, das der kritischen Gesellschaftstheorie Adornos gleichsam antwortet und dieser angemessen ist. Ein zugegebenermaßen naheliegender Einwand gegen meinen Vorschlag könnte nun lauten: Warum überhaupt Adornos Bedenken ernst nehmen? Warum nicht einfach Politik machen oder – als politische Theoretiker_innen – über Politik nachdenken und diesen ohnehin etwas opaken und nicht mehr ganz zeitgemäßen Denker einfach fallen lassen? Dass ich Adornos Denken ernst nehmen möchte, hat nicht nur mit meinem theoriegeschichtlichen Vorgehen zu tun, sondern es ist meine These, dass wir auch von Adorno noch etwas lernen können und dass sein Denken deshalb vielleicht zwar



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immer noch etwas opak, aber gar nicht so veraltet ist. Das gilt, so meine weitergehende Behauptung, insbesondere dann, wenn wir mit Hannah Arendt weiterarbeiten wollen. Denn Arendts Politikbegriff, wie ich ihn im vorangegangenen Kapitel rekonstruiert habe, hat bekanntlich seinen Preis. Dieser ist in der Rezeption als die Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen – oder topologisch formuliert: als die Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten – bekannt geworden. Arendts Denken, das wissen selbst oberflächliche Kenner_innen ihres Werkes, bevorzugt Politik zu dem Preis eines Ausschlusses dessen, was sie in einer etwas altmodischen Terminologie »die soziale Frage« nennt.235 An dieser Stelle ergeben sich bereits einige, wenn auch zunächst rein formale Parallelen zu Adorno: Eine erste besteht darin, dass es sich bei der Unterscheidung von Politischem und Sozialem, genau wie es bei Adornos Verweigerungshaltung gegenüber dem Politischen der Fall war, nicht um einen blinden Fleck im Sinne einer Auslassung handelt. Die Trennung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen ist nicht einfach nur eine »Leerstelle von Arendts Theorie« (Straßenberger 2020: 140; Hervorh. T. A.). Vielmehr erfolgt der Ausschluss des Sozialen auch bei Arendt bewusst und ergibt sich auch zunächst einmal konsequent aus ihrer Theorieanlage.236 Darüber hinaus handelt es sich auch in diesem Fall nicht um irgendein randständiges Problem, das wir einfach vernachlässigen könnten. Vielmehr stellt die Politisch-sozial-Unterscheidung den »systematischen Kern von Arendts politischem Denken« (Benhabib 2006: 220) dar. Ja, sie steht so sehr im Zen235 Der einschlägigste Beleg für diese Formulierung ist wohl das zweite Kapitel des Buches Über die Revolution, das mit dem Titel »Die soziale Frage« überschrieben ist. Da es sich um eine zum geflügelten Wort – oder besser: zum geflügelten Problem – aufgestiegene Formulierung innerhalb der Arendt-Forschung handelt, werde ich hier ähnlich vorgehen, wie ich es für Adornos Terminus der »verwalteten Welt« getan habe und die Formulierung »die soziale Frage« oder »das Soziale« nicht immer mit Textstellen belegen. 236 Hanna Pitkin, die Arendts Konzept des Sozialen eine Kritik in Buchlänge widmet, hat das wie folgt formuliert: »This book traces the career of one problematic concept in the thought of one major political theorist of our time. The concept merits attention not because the theorist got it right and used it to teach an important truth, but quite the contrary, because the concept was confused and her way of deploying it radically at odds with her most central and valuable teaching. If studying it is nevertheless worthwhile, that is because its significance transcends the technicalities of textual interpretation and the critique of a particular thinker’s work. If the concept was a mistake, that mistake was not just idiosyncratic or careless, and the problem that the concept intended to address remains problematic.« (Pitkin 2000: 1; Hervorh. T. A.)

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trum desselben, dass ihre Theoriebildung ohne diese Unterscheidung nur schwer vorstellbar ist.237 In einem noch stärkeren Sinne als es bei Adornos vermeintlicher Lücke der Fall war, lässt sich mit Arendt über soziale Fragen nicht nur nicht nachdenken – das heißt nicht nur liefert uns Arendt keine begrifflichen Instrumente, um soziale Missstände oder Ungerechtigkeiten anzuprangern –, sondern die Unterscheidung verstellt geradezu die Möglichkeit zur Kritik sozialer Verhältnisse (Jaeggi 2008: 4). Und so hat die Unterscheidung sicher das Ihre dazu beigetragen, dass der Arendt-Rezeption nach ihrem kometenhaften Aufbruch in der Folge des Zusammenbruchs des Ostblocks heute wieder etwas der Wind aus den Segeln genommen wurde – nachdem besagter Ostblock nachholend und im Eilverfahren neoliberalisiert wurde. So diagnostizierte Rahel Jaeggi schon vor einiger Zeit: »Etwas verkürzt lässt sich behaupten: Es ist die ›Wiederkehr der sozialen Frage‹ im nationalen wie im internationalen Maßstab, die zu dieser Situation geführt hat; es sind die etwas unscharf unter dem Stichwort der ›Globalisierung‹ diskutierten Veränderungen des sozialen und politischen Gefüges unserer Gesellschaften und die mit dem ›neuen Kapitalismus‹ einhergehenden Umbrüche, die das politische Wahrnehmungsfeld wieder erreicht haben und die dazu geführt haben, dass Hannah Arendts politische Theorie heute erneut in den Hintergrund getreten ist. Machte man sich noch Mitte der 1990er Jahre schon mit der Verwendung des Begriffs ›Kapitalismus‹ des linken ›Ökonomismus‹ verdächtig, dessen sich einige gerade mit Hilfe von Hannah Arendt entledigt hatten, so wird heute niemand mehr ernsthaft bestreiten wollen, dass Wirtschaft und Gesellschaft, ökonomische, soziokulturelle und politische Dimensionen des sozialen Gefüges miteinander auf eine Weise verflochten sind, die es ratsam erscheinen lässt, sie in ihrem Zusammenhang zu analysieren. Eine Erneuerung der Kritik der politischen Ökonomie, wie Albrecht Wellmer sie unlängst gefordert hat, und nicht das aristotelische Festhalten an der ›Trennung von Brot und Politik‹ (Benhabib) scheint so das Gebot der Stunde zu sein. Genau für diese Aufgabe aber wird man sich im Werk Hannah Arendts kaum Unterstützung versprechen.« (Ebd.: 3 f.)

237 Das entspricht auch Arendts eigenem Selbstverständnis: »Freiheit kann der Sinn von Politik nur sein, wenn wir unter dem Politischen einen öffentlichen Raum verstehen, der sich nicht nur von der Sphäre des Privatlebens abgrenzt, sondern sogar immer in einem gewissen Gegensatz zu ihr steht.« (Arendt 2012b [1958]: 209)



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Aus den beiden genannten Gründen, weil die Unterscheidung für Arendts Theoriebildung so zentral ist und weil sie systematisch die Möglichkeit, mit Arendts Theorie weiterzuarbeiten, erschwert, hatte Seyla Benhabib (2006: 220) dereinst gefordert: »Jede Argumentation, mit der wir für Arendts bleibende Relevanz eintreten, muss irgendeine vertretbare Rekonstruktion ihrer stark umstrittenen Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen, dem Öffentlichen und dem Privaten anbieten.« Und genau das möchte ich im Folgenden tun. Im letzten Kapitel dieser Arbeit möchte ich eine solche »vertretbare Rekonstruktion« vorschlagen. Es wird dabei meine These sein, dass ein an Adorno geschultes Verständnis von Kritik (sozialer Verhältnisse) bei diesem Unterfangen helfen kann. In umgekehrt-analogem Vorgehen zum vierten Kapitel werde ich dafür die Problematik in einem ersten Schritt zunächst nachvollziehen. Was ist das überhaupt: das Soziale bei Arendt? Wo und wie führt sie die Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen ein? Dies geschieht, bevor ich die gängigen und, so viel sei hier vorweggenommen, berechtigten Kritiken an der Unterscheidung zu Wort kommen lasse (5.1). So wie ich es im vorangegangenen Kapitel für Adorno getan habe, werde ich auch Arendt hier zunächst ernst nehmen und in einem zweiten Schritt daher fragen, warum sie die Unterscheidung einführt. Denn die Differenzierung zwischen dem Politischen und dem Sozialen enthält, neben einer ganzen Reihe von Pro­ blemen, auch ein kritisch-emanzipatorisches Potential. Dieses besteht, etwas verkürzt gesagt, in der Behauptung einer spezifischen Autonomie des Politischen, wie sie in den vergangenen Jahren von radikaldemokratischen Denker_innen ebenfalls wieder zunehmend auf die Agenda gesetzt wurde (vgl. Hebekus und Völker 2012; Marchart 2010). Dieses kritische Potential ist ein Grund dafür, warum die Rezeption, der problematischen Unterscheidung zum Trotz, mit Arendt weitergearbeitet und, dem Postulat von Benhabib folgend, Angebote gemacht hat, wie damit umgegangen werden könnte. Daher werde ich anschließend die Rekonstruktionen skizzieren, die die Rezeption bisher angeboten hat. Viele dieser teilweise höchst fruchtbaren Interpretationen haben miteinander gemeinsam, dass sie versuchen, an diesem kritisch-emanzipatorischen Potential festzuhalten und »mit Arendt gegen Arendt« weiterzudenken, um sie so für aktuelle politische Theoriebildung fruchtbar zu machen (5.2). An diese Versuche, die ich als meinem Projekt entgegenkommende Vorarbeiten verstehe, möchte ich dann mit Ador­nos Kritikbegriff gleichsam andocken. Hierzu werde ich in einem dritten Schritt Adornos Kritikverständnis, das in den bisherigen Kapiteln schon des Öfte-

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ren gestreift wurde, systematischer vorstellen. So wie ich oben argumentiert habe, dass Arendts Politikbegriff nicht nur irgendeiner ist, mit dem man Adornos blinden Fleck erhellen kann, so ist auch hier die These, dass es sich bei Adornos Kritikbegriff nicht um einen beliebigen handelt, mit dem Arendts Leerstelle besetzt werden kann. Vielmehr werde ich zeigen, dass sich mit und im Anschluss an Adorno ein Kritikbegriff formulieren lässt, der mit Arendts ursprünglicher Intention, das heißt mit dem Grund, warum sie die Politisch-sozial-Unterscheidung überhaupt eingeführt hatte, in Einklang steht. Um die Pointe dieses Kapitels vorwegzunehmen: Gerade Adornos Zurückhaltung, die ihm in Bezug auf das Thema Politik zum Problem wurde, stellt hier eine Stärke dar. Gegen diejenigen Lesarten, die in Adorno vornehmlich einen Ideologiekritiker (mit einem inhaltlich stark aufgeladenen Kritikbegriff) sehen, werde ich daher seinen Negativismus ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Mit Hilfe eines von Adorno inspirierten Negativismus, so meine These, lässt sich das kritisch-emanzipatorische Potential, das der Politisch-sozial-Unterscheidung innewohnt, aufrechterhalten und gleichzeitig deren (aporetische) Vereinseitigung überwinden, das heißt eine Kritik sozialer Verhältnisse betreiben (5.3). 5.1 Die Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen Ein wichtiges methodologisches Instrument Arendts bei der Entwicklung ihrer politischen Theorie ist »die Kunst der Unterscheidung« (Benhabib 2006: 199). Als Arendt auf der ersten ihr zu Ehren veranstalteten Konferenz 1972 in Toronto von Mary McCarthy auf ihre »mittelalterliche Denkungsart« der »distinctio« (zit. nach Arendt 2013 [1972]: 113) angesprochen wird, gibt sie dies offen zu: »Ich beginne immer alles […] indem ich sage: A und B sind nicht dasselbe« (ebd.: 114). Nur, korrigiert sie ihre Freundin, handle es sich dabei nicht um eine mittelalterliche, sondern um eine antike Denkungsart. Das Vorgehen komme nicht von Thomas von Aquin, sondern stamme »direkt von Aristoteles.« (Ebd.) Zu Arendts bekannteren Unterscheidungen gehört die im vierten Kapitel bereits behandelte zwischen Macht und Gewalt. Dazu gehören aber auch –  ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die zwischen Autorität und Herrschaft, Freiheit und Souveränität, Schuld und Verantwortung, vita activa und vita contemplativa und nicht zuletzt ebendie zwischen dem Politischen und dem Sozialen sowie zwischen deren räumlichen Entsprechungen öffent-



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lich und privat oder die in diesen Räumen verorteten Tätigkeitsweisen: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Arendts unterscheidendes Vorgehen wird oft für ihre produktive Kreativität verantwortlich gemacht und befähigt sie nicht selten überhaupt erst zu dem, was ich im dritten Kapitel als ihre Neuerzählung des Politischen charakterisiert hatte.238 Die »Kunst, Unterschiede zu machen« (Benhabib 2006: 199), birgt aber auch ein »Risiko der Urteilskraft« (Straßenberger 2020: 126). Denn Arendts Unterscheidungen zeichnen nicht nur für ihren Einfallsreichtum, sondern ebenso für einen Großteil der Kritik verantwortlich, die an ihrem Werk geübt wurde. Das gilt für keine andere ihrer Unterscheidungen so sehr wie für die grundlegendste ihres Denkens: Die Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen oder – in ihrer räumlichen Ausformulierung – die zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. »Der Streit ist alt« (Weißpflug und Förster 2011: 67): Die Politisch-sozial-Unterscheidung ist bereits auf der Konferenz im November 1972 in Toronto das erste Mal ausführlich kritisiert worden (Arendt 2013 [1972]: 89–103) und seitdem andauerndes und zen­ trales Ziel der Kritik.239 Es handelt sich um ein »endlessly recurring trope« (de Jongh 2021: 882) innerhalb der Arendt-Forschung. Mit der Unterscheidung hat Arendt »all jenen, die an einer Fortführung ihres Denkens interessiert sind, eine schwere Bürde auferlegt.« (Sörensen 2016: 185) Im Folgenden gilt es herauszustellen, worin diese Bürde besteht. Es geht zunächst darum, genauer zu verstehen, was das überhaupt ist: die Differenzierung zwischen dem Politischen und dem Sozialen. 5.1.1 »The Attac of the Blob«: Was ist das überhaupt, das Soziale? Dass ich dieses Kapitel mit der Frage beginne, was das Soziale bei Arendt überhaupt meint, ist nicht nur meinem theoriegeschichtlichen Vorgehen geschuldet. Es gibt auch einen sachlichen Grund dafür. Denn Arendts strikte Sphärentrennung hat die Rezeption nicht erst im Stadium der Problematisierung, sondern schon einen Schritt vorher – beim Versuch, sie überhaupt 238 Vgl. schon die Kommentare von C. B. Macpherson (nach Arendt 2013 [1972]: 97) und Albrecht Wellmer (ebd.: 100) in der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto. 239 Die strikte Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen wird auch von Arendt wohlwollend gegenüberstehenden Leser_innen kritisiert. Um nur ein paar bekanntere zu nennen, die alle nicht im Verdacht stehen, übertrieben kritisch gegenüber Arendt eingestellt zu sein und die die Unterscheidung dennoch in der einen oder anderen Weise problematisieren: Benhabib (2006: 199–271), Bernstein (1986), Canovan (1978), Jaeggi (2008), Straßenberger (2020: 126–142) und Pitkin (2000).

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erst einmal stringent nachzuvollziehen – vor Schwierigkeiten gestellt (vgl. Junger und Riescher 2013). Symptomatisch für diesen Umstand ist, dass sich in der Sekundärliteratur sowohl der Vorwurf findet, die Politisch-sozial-Unterscheidung sei zu scharf, als auch der, sie sei zu unscharf gezogen. So wird auf der einen Seite gesagt, Arendt trenne zu stark zwischen dem Politischen und dem Sozialen, der Gegensatz sei zu dogmatisch. Diese Position findet sich zum Beispiel bei Seyla Benhabib (2006), die in diesem Zusammenhang von einem »phänomenologischen Essentialismus« (ebd.: 199), oder von einer »ontologischen Abgrenzung« (ebd.: 251) spricht. Auf der anderen Seite wird über die Politisch-sozial-Unterscheidung aber auch geschrieben, sie sei »notoriously hard to grasp« (Canovan 1992: 116). Auch in der vielleicht prominentesten Formulierung der Kritik an Arendts Konzept des Sozialen, in Hanna Pitkins an Science-Fiction-B-Movies der 1950er Jahre gemahnendem Buchtitel Attac of the Blob (2000), schwingt das schwer Greifbare der Unterscheidung mit. In einer ersten Annäherung ließe sich vielleicht sagen: Die Trennlinie ist in der Theorie zu scharf gezogen, wird aber unklar, sobald man versucht, sie auf reale politische oder soziale Phänomene zu beziehen. Die Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen durchzieht Arendts gesamtes Werk. Ich möchte im Folgenden die drei Texte analysieren, in denen sie am prominentesten ist und sich ihre Problematik am augenscheinlichsten entfaltet. Die Politisch-sozial-Unterscheidung wird von Arendt in der Vita activa zunächst unter Rückgriff auf das Modell der antiken Polis entfaltet. In Über die Revolution wird sie dann auf ein modernes Beispiel angewendet und offenbart hier ihre Problematik. Spätestens in ihrem Text zu Little Rock, der zu Arendts zeitgenössischen politischen Interventionen gehört, wird die Unanwendbarkeit der Unterscheidung dann eklatant. Vita activa. Wenn es überhaupt so etwas wie eine systematische Ausarbeitung von Arendts Politikbegriff gibt, dann findet sie sich in der Vita activa. Arendt entwirft hier eine Phänomenologie menschlicher Tätigkeiten. Sie unterscheidet zwischen den drei menschlichen »Grundtätigkeiten« (Arendt 2016 [1958]: 16): dem Arbeiten, Herstellen und Handeln. Um Grundtätigkeiten handelt es sich für Arendt deshalb, »weil jede von ihnen einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist« (ebd.): »Die Tätigkeit der Arbeit entspricht dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers, der in seinem spontanen Wachstum, Stoffwechsel und Verfall



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sich von Naturdingen nährt, welche die Arbeit erzeugt und zubereitet, um sie als die Lebensnotwendigkeiten dem lebendigen Organismus zuzuführen. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst. Im Herstellen manifestiert sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens […]. Das Herstellen produziert eine künstliche Welt von Dingen, die sich den Naturdingen nicht einfach zugesellen, sondern sich von ihnen dadurch unterscheiden, daß sie der Natur bis zu einem gewissen Grade widerstehen und von den lebendigen Prozessen nicht einfach zerrieben werden. In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, das von Natur in der Natur heimatlos ist; und die Welt bietet Menschen eine Heimat in dem Maße, in dem sie menschliches Leben überdauert, ihm widersteht und als objektiv-gegenständlich gegenübertritt. Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Herstellens steht, ist die Weltlichkeit, nämlich die Angewiesenheit menschlicher Existenz auf Gegenständlichkeit und Objektivität. Das Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt. Die Grundbedingung, die ihr entspricht, ist das Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern.« (Ebd.: 16 f.; Hervorh. T. A.) Zusammen konstituieren diese drei Grundtätigkeiten die vita activa. Entsprechend ist der Analyse einer jeden der drei Tätigkeitsformen ein Kapitel gewidmet. Das Buch ist »um die drei Kapitel, die jeweils eine Analyse der Arbeit, des Herstellens und des Handelns enthalten, zentriert« (ebd.: 14). Aber dieser Aufbau ist nur ein Teil der Geschichte. Die entscheidende Pointe versteckt Arendt in einem Nachsatz: »Ein abschließendes Kapitel geht historisch darauf ein, wie sich diese Tätigkeiten in der Neuzeit zueinander verhalten haben, aber auch in der systematisch gehaltenen Analyse der anderen Kapitel werden die verschiedenen Konstellationen innerhalb der Vita activa […] immer mitberücksichtigt.« (Ebd.) Denn die Geschichte, die Arendt in der Vita activa tatsächlich erzählt, ist die Geschichte des Verhältnisses dieser Tätigkeitsformen zueinander: Es ist eine Geschichte von »Umstülpungen und Umkehrungen« (ebd.: 400), in der »alte Scheidelinien« zunächst »verwischt« (ebd.: 48) werden und es schließlich zur »Umkehr der überlieferten Rangordnungen« (ebd.: 103) kommt.

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Arendt hat ihre Analyse der drei Grundtätigkeiten zunächst in »eine Art Topologie des menschlichen Lebens« (Weißpflug und Förster 2011: 65) einmontiert. Das heißt, sie hat jeder der drei Tätigkeitsformen »einen ihr zugehörigen Ort in der Welt« (Arendt 2016 [1958]: 90) zugewiesen und einen ihr zugehörigen »Sinn«, eine Handlungslogik, der diese Tätigkeitsweise »entspricht«. Der Sinn des Tätigseins ist »von dem Ort abhäng[ig], an dem es sich vollzieht.« (Ebd.: 96) So hat das Arbeiten ursprünglich, das heißt in der Vita activa stets: in der attischen Polis, seinen Ort im Bereich des Privaten, des Haushalts und der Familie oder – in der altgriechischen Terminologie – im oikos. Da die Tätigkeit der Arbeit »der Aufrechterhaltung des Lebens, dem individuellen und dem der Gattung« (ebd.: 135) dient, ist sie an den biologischen Lebensprozess, an den »Kreislauf der Natur« (ebd.: 117) gebunden. Für den »Sinn« der Arbeit ergibt sich daraus zweierlei: Zum einen ist sie durch Kreisförmigkeit gekennzeichnet, zum anderen durch Notwendigkeit. Kreisförmig ist der Prozess des Arbeitens, weil es in ihm um die Produktion von Lebensmitteln (das bedeutet Konsumgütern) im engeren Sinn geht, die, kaum sind sie produziert, auch wieder verzehrt, das heißt konsumiert werden (ebd.: 114–119). Die Produkte der Arbeit sind daher, in Arendts Terminologie, weltlos.240 Arendt teilt hier Adornos Einschätzung (vgl. 4.1.2), dass ein gewichtiges Problem der Produktionssphäre darin besteht, dass sie von ständiger Wiederholung gekennzeichnet ist: »Das Arbeiten [ist] niemals ›fertig‹, sondern dreht sich in unendlicher Wiederholung in dem immer wiederkehrenden Kreise, den der biologische Lebensprozeß ihm vorschreibt und dessen ›Mühe und Plage‹ erst mit dem Tod des jeweiligen Organismus ein Ende findet.«241 (Ebd.: 117). 240 »Die Arbeitsprodukte, die Erzeugnisse des Stoffwechsels des Menschen mit der Natur, sind nicht dauerhaft genug, um Teil der Welt zu werden« (Arendt 2016 [1958]: 139). Ganz genau genommen hat die Tätigkeit des Arbeitens zwei Komponenten: Die eine besteht aus Produktion und Konsumtion und ist daher tatsächlich vollkommen weltlos. Die zweite Komponente der Arbeit hat allerdings zumindest eine Verbindung zum materiellen Teil der Arendtschen Welt, da es hier um deren Pflege und Erhaltung geht: »Nicht ganz so vordringlich, aber nicht weniger eng in den Kreislauf der Natur gebunden, stellt sich die zweite Aufgabe der Arbeit, die in dem niemals endenden Kampf mit den Wachstumsund Verfallsprozessen besteht, durch die die Natur dauernd in die von Menschen erstellte Welt eindringt und ihre Beständigkeit und Tauglichkeit für menschliche Zwecke bedroht. Nicht nur die Erhaltung des Körpers, sondern auch die Erhaltung der Welt erfordert die mühevolle, eintönige Verrichtung täglich sich wiederholender Arbeit.« (Ebd.: 118 f.) 241 Wobei das, was die Arbeit zur »Mühe und Plage« macht, für Arendt gar nicht so sehr von der Frage abhängt, ob es sich um harte oder leichte Arbeit handelt. Entscheidend ist



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In der Formulierung, dass der biologische Lebensprozess die Arbeit »vorschreibt«, deutet sich auch schon an, warum die diesem Prozess zugrundeliegende Logik die Notwendigkeit ist. Denn weil das Arbeiten der Erhaltung des Lebens selbst dient – und damit die grundlegendste Voraussetzung für alle anderen menschlichen Tätigkeiten, auch das politische Handeln, darstellt –, wird es »von den menschlichen Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten diktiert« (ebd.: 40; Hervorh. T. A.; vgl. auch ebd.: 130). Der Lebensprozess »folgt einer ihm inhärenten Notwendigkeit« und hat daher »mit Freiheit im eigentlichen Sinne nichts zu tun« (Arendt 2012b [1958]: 203). Arendt formuliert das noch nicht in dem heute in der Sozialphilosophie gängigen Sprachspiel, aber der Sache nach beschreibt sie die Sphäre des Arbeitens – ganz ähnlich zu Adorno – als eine Sphäre, die die Individuen, die sich in ihr aufhalten, in einer bestimmten Art subjektiviert: »Das natürliche Zusammenleben im Haushalt hatte […] seinen Ursprung in der Notwendigkeit, und Notwendigkeit durchherrschte alle Tätigkeiten, die in diesen Bereich fielen.« (Arendt 2016 [1958]: 40) Das wiederum lässt langfristig auch das Individuum, das diese Tätigkeiten ausführt, nicht unberührt: »Animal laborans is […] distinguished by a particular mentality or mode of thinking-in-the-world. It cannot conceive of the possibility of breaking free or beginning anew; ›sheer inevitability‹ and privatization dominate it.« (Dietz 1991: 234) Dem Arbeiten ist das Handeln in zweierlei Hinsicht entgegengesetzt.242 Zum einen findet Handeln nicht im Privaten statt, sondern in der Öffentlichkeit. Der Ort der Politik ist die polis. Das ist notwendigerweise so, weil das Handeln auf andere angewiesen ist: »Handeln ist die einzige Tätigkeit der Vita activa, die sich ohne die Vermittlung von Materie, Material und Dingen direkt zwischen den Menschen abspielt.« (Arendt 2016 [1958]: 17) Zum anderen unterscheidet sich das Handeln insofern vom Arbeiten, als dass es nicht durch Kreisförmigkeit und Notwendigkeit gekennzeichnet ist, sondern gerade einen Ausbruch aus Kreisförmigkeit oder jeglicher anderen

vielmehr diese Tatsache der »endlosen Wiederholung« (Arendt 2016 [1958]: 119) und die »Ausdauer, deren es bedarf, um jeden Tag von neuem aufzuräumen, was der gestrige Tag an Unordnung gebracht hat«; »leider«, so schreibt Arendt, »hat nur der Augiasstall die wunderbare Eigenschaft, sauber zu bleiben, wenn er einmal gesäubert ist.« (Ebd.) 242 Ich weiche für meine Rekonstruktion von Arendts eigener Dramaturgie ab. Zwischen dem Arbeiten und dem Handeln steht bei ihr noch das Herstellen, das sowohl mit dem Bereich des Haushalts als auch mit dem Raum des Politischen Verbindungen aufweist. Ich bespreche das Herstellen nachfolgend noch ausführlicher (5.2.1).

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Form von vorgegebenen Abläufen darstellt. Seine Logik ist daher nicht die der Notwendigkeit, sondern die der Freiheit.243 Während diese Tätigkeiten in der Antike laut Arendts Rekonstruktion »unterschiedene, genau voneinander getrennte Einheiten« (ebd.: 38) darstellten und sich an verschiedenen Orten abspielten, kommt es spätestens mit Beginn der Neuzeit, so eine der Hauptthesen der Vita activa, zu einer zunehmenden »Vermischung« (Weißpflug und Förster 2011: 65) der Sphären. Den (bisherigen) Höhepunkt erreicht diese, als es in der Neuzeit zum Aufstieg der Gesellschaft kommt. Die Gesellschaft oder das Gesellschaftliche (in der englischen Version des Buches spricht Arendt auch vom »social realm«) trägt Angelegenheiten und mit ihnen Handlungslogiken, die eigentlich in den privaten Raum gehören, in die Öffentlichkeit. Das markanteste Beispiel, an dem Arendt das festmacht, ist die – auch heute noch gegebene – Dominanz von im weitesten Sinne wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen im öffentlichen Diskurs. Das Bild der Familie (das für Arendt eigentlich in den oikos gehört) wird in der Moderne zunehmend auf den (National) staat übertragen und kollektive Haushaltsangelegenheiten treten als politische Fragen auf.244 Für die alten Griechen allerdings wäre dies eine geradezu absurde Vorstellung. Denn ein Begriff wie »politische Ökonomie«, so lässt uns Arendt wissen, ist aus der Perspektive antiken Denkens ein Oxymoron: »[W]as immer ›ökonomisch‹ war, nämlich zugehörig zum schieren Leben des Einzelnen und zum Überleben der Gattung, war dadurch bereits als nicht-politisch identifiziert und definiert.« (Arendt 2016 [1958]: 39) Mit der Ökonomie tritt in der Moderne aber nicht nur eine Angelegenheit in die Öffentlichkeit, die eigentlich ins Private gehört. Sondern es verdrängt auch der Sinn, welcher der Sphäre des Haushalts zugehört, mit seiner durch Kreisförmigkeit und Notwendigkeit gekennzeichneten Handlungslogik 243 Da ich Arendts politischen Handlungsbegriff im vorangegangenen Kapitel 4.3 schon ausführlich diskutiert habe, belasse ich es hier – wo es nur darum geht zu zeigen, inwiefern »das Soziale« als Gegenstück »des Politischen« in Arendts Theoriebildung zum Problem wird – bei dieser kurzen Vergegenwärtigung. 244 »Uns ist es selbstverständlich, diese Dinge nicht genau voneinander zu trennen, weil wir seit dem Beginn der Neuzeit […] jedes politische Gemeinwesen im Bild der Familie verstehen, dessen Angelegenheiten […] wie ein ins Gigantische gewachsener Haushaltsapparat verwaltet und erledigt werden. Das wissenschaftliche Denken, das dieser Entwicklung entspricht, heißt nicht mehr politische Wissenschaft, sondern ›National-Oekonomie‹ oder ›Volks-Wirtschaft‹ oder ›social economy‹ und alle diese Ausdrücke weisen darauf hin, daß wir es in der Tat mit einer Art ›kollektiven Haushaltens‹ zu tun haben.« (Arendt 2016 [1958]: 39)



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die freiheitliche Logik des Handelns: Die Handlungslogik der Gesellschaft trägt »nivellierende Züge, […] das, was wir heute Konformismus nennen« (ebd.: 50). Ihre konformisierende Kraft – die Nähe zu Adornos These vom verwalteten Individuum im Spätkapitalismus (vgl. 4.1.2) ist hier unüberhörbar – droht als »Herrschaft des Niemand« die Möglichkeit zu freiem Handeln zu ersticken: »Entscheidend für dieses Phänomen ist schließlich nur, daß die Gesellschaft in allen ihren Entwicklungsstadien das Handeln genauso ausschließt wie früher der Bezirk des Haushaltes und der Familie. An seine Stelle ist das SichVerhalten getreten, das in jeweils verschiedenen Formen die Gesellschaft von allen ihren Gliedern erwartet und für welches sie zahllose Regeln vorschreibt, die alle darauf hinauslaufen, die Einzelnen gesellschaftlich zu normieren, sie gesellschaftsfähig zu machen und spontanes Handeln wie hervorragende Leistungen zu verhindern.« (Ebd.: 51 f.) Das Eindringen der Notwendigkeit in den Bereich der Öffentlichkeit – »die hypothetische Einheitlichkeit des ökonomischen Gesellschaftsinteresses« (ebd.: 51) – und die konformisierende Wirkung gesellschaftlicher Normativität – »die hypothetische Einstimmigkeit der gängigen Meinungen« (ebd.) – sieht Arendt grundsätzlich als akute Bedrohungen für die dem Handeln eigene Logik der Freiheit an. Das ist der Grund für ihre Aversion gegen soziale Fragen, wie sie sich zum Beispiel in der Französischen Revolution gestellt haben. Über die Revolution. Wird die Genese der Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen in der Vita activa als einigermaßen abstrakte Verfallsgeschichte im Stile der Dialektik der Aufklärung erzählt, als Geschichte der zunehmenden Kolonialisierung des politischen Bereichs durch die Logik des Sozialen, so wird in der Schrift Über die Revolution die politische Behandlung der »sozialen Frage« zur Hürde, an der die Französische Revolu­ tion (laut Arendt) letztendlich scheitert. In ihrer oft einfach als »Revolutionsbuch« bezeichneten Studie, die 1963 das erste Mal erschien, stellt Arendt die ihrer Ansicht nach gelungene amerikanische Revolution ihrem, nach Arendts Dafürhalten missglückten, französischen Pendant gegenüber. Während die erstere politisch gewesen sei, weil sie in der Gründung einer neuen politischen Ordnung – einer »novus ordo saeclorum« (Arendt 2020 [1963]: 269) – mündete, sei letztere an dieser Aufgabe gescheitert und stattdessen im Terror versunken, weil in ihr »die soziale

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Frage« zu lösen versucht wurde. Die soziale Frage, das ist in diesem konkreten Fall die existentielle Armut des weitaus größten Teils der französischen Bevölkerung im 18. Jahrhundert. Man könnte Arendt durchaus eine Portion Zynismus unterstellen, wenn sie konstatiert: »[D]er Unterschied zwischen Arm und Reich als solcher hat bis zum Anbruch der Neuzeit und bis zum Ausbruch der Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts als ebenso natürlich für das Leben des politischen Organismus gegolten wie der Unterschied zwischen Krank und Gesund für das Leben des menschlichen Organismus.« (Ebd.: 29) Zum Problem für die Revolution wird die soziale Frage laut Arendt erst, »als man im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert daran zu zweifeln begann, daß Armut zu den Bedingungen gehört, unter denen Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist« (ebd.) und die französischen Revolutionäre in der Folge versucht haben, die Not der Massen mit politischen Mitteln zu beheben. Denn das Problematische an dem, »was wir gemeinhin die soziale Frage nennen und was wir einfacher und treffender die Tatsache der Armut nennen sollten« (ebd.: 86), ist für Arendt weniger, dass es sich dabei um einen »Zustand des Beraubtseins und des Entbehrens« (ebd.: 87) handelt. Vielmehr sei Armut für Menschen vor allem deshalb entwürdigend, »weil ihr Elend sie unter den absoluten, unaufhörlichen Zwang des rein Körperlichen stellt, also unter eine Notwendigkeit« (ebd.). In dem Moment, in dem Robespierre und die Seinen versuchten, des Problems der Armut mit politischen Mitteln Herr zu werden, ermöglichten sie es der Kreisförmigkeit und Notwendigkeit – die Motive aus derVita activa tauchen hier wieder auf –, in den öffentlichen Raum einzudringen: »Mit der Armut in ihrer konkreten Massenhaftigkeit erschien die Notwendigkeit auf dem Schauplatz der Politik; sie entmachtete die Macht des alten Regimes, wie sie die werdende Macht der jungen Republik im Keim erstickte, weil sich herausstellte, daß man die Freiheit der Notwendigkeit opfern mußte.« (Ebd.) Das Handeln in der Revolution wird dadurch einem Diktat unterworfen: Wo die Revolutionär_innen eigentlich völlig ergebnisoffen und frei über eine republikanische Verfassung verhandeln sollten, da schränkte »die drängende Not des Volkes« (ebd.) ihre Handlungsspielräume ein.



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Für Arendt kommt noch erschwerend hinzu, dass diese Notwendigkeit die Freiheit nicht nur in dem Sinne einschränkt, dass sie den Handlungsspielraum der Akteur_innen limitiert, sondern – als wäre das nicht genug – dass Notwendigkeit für Arendt quasi ontologisch an Gewalt gekoppelt ist: »Solange wir denken können, haben Menschen diese Befreiung [von der Lebensnotwendigkeit, T. A.] sich mit Gewalt auf Kosten anderer verschafft« (ebd.: 168). Heute erscheint für Arendt daher »nichts veralteter und überflüssiger, als zu versuchen, die Menschheit durch politische Mittel von Armut zu befreien, ganz abgesehen davon, daß nichts vergeblicher und gefährlicher wäre […]. Die Gewaltsamkeit, mit der die Revolutionen der Neuzeit versuchten, mit der Notwendigkeit nicht nur für wenige, sondern für alle fertigzuwerden, hat nur dazu geführt, daß die Gewalt selbst sich der Notwendigkeit anglich und den politischen Bereich zerstörte – das heißt den einzigen Bereich, in dem Menschen wirklich frei sein können.« (Ebd.: 169) In Amerika, so Arendt weiter, konnte die »Gründung der Freiheit« hingegen deswegen gelingen, »weil den ›gründenden Vätern‹ die politisch unlösbare soziale Frage nicht im Wege stand« (ebd.: 99). Ob das Amerika des 18. Jahrhunderts wirklich, wie Arendt behauptet, nicht unter dem »Fluch der Armut« (ebd.: 96) stand, ist hier nicht entscheidend. Die Aussage wird schon von Arendt selbst gleich doppelt qualifiziert. Zum einen seien die arbeitenden Klassen in Amerika »nur arm, aber nicht verelendet« (ebd.: 100) gewesen, was Arendt in einem wirtschaftshistorisch stark verkürzten Argument auf »natürliche Ursachen« wie »die Weite des Kontinents und seinen ungeheuren Reichtum an Rohstoffen« (Arendt 2012 [1962]: 246) sowie »das Fehlen einer feudalistischen Klassenstruktur« (Arendt 2020 [1963]: 324) zurückführt. Zum anderen weiß auch Arendt, »daß die soziale Frage in ihrer einfachen Brutalität in gewissem Sinne in Amerika sehr wohl existierte und daß Jeffersons Bild einer ›lovely equality‹ sich sehr schnell als Trugbild herausgestellt hätte, wenn es irgendeinem von ihnen eingefallen wäre, den Blick auf das furchtbare und furchtbar erniedrigende Elend der schwarzen Sklaven zu werfen, die doch unmittelbar jedem vor Augen standen.« (Ebd.: 103) Das ist kein Sarkasmus, sondern ein von Arendt durchaus ernstgemeintes Argument. So wie Jacques Rancières Anteillose in der Aufteilung des Sinnlichen keinen Platz haben (Rancière 2002: 41 ff.), werden die Sklav_innen

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im Amerika des 18. Jahrhunderts wortwörtlich nicht gezählt. Sie sind, noch einmal in Rancières Terminologie, kein Teil der Rechnung (ebd.: 34).245 Da das Elend der Sklav_innen, so Arendts Argument, »schlechterdings ›unsichtbar‹« (Arendt 2020 [1963]: 105) war, ist auch niemand auf die – in ihren Augen: fatale – Idee gekommen, es als politisch zu bearbeitendes Problem zu verstehen. Völlig ironiefrei schreibt Arendt, es sei der amerikanischen Revolution zugutegekommen, dass sie »in einer Art elfenbeinernen Turm vonstatten gegangen [ist], durch dessen feste Mauern das erschreckende Schauspiel menschlicher Not, die anklagende Stimme des Elends nicht drangen.«246 (Ebd.: 140) Die Gründerväter hätten es daher »leicht« gehabt, über die Verfassung zu verhandeln: »Wie auf einer Insel saßen sie, die von keinem Leiden um sie in ihren Gefühlen beirrt, von keiner vordringlichen Not zur Unterwerfung unter die Notwendigkeit versucht, von keinem Mitleid verlockt wurden, ihre Vernunft über den Haufen zu werfen« (ebd). Da die Ausgangsbedingungen der amerikanischen Revolution im Vergleich zur Französischen andere waren, konnte man sich hier – statt mit sozialen – mit genuin politischen Problemen (konkret: der Frage der besten Verfassung) beschäftigen und die Gründung der Freiheit so gelingen. Die Befreiung von Armut wird in Über die Revolution also zu einer Art Grund­ 245 Nachdem Arendt den tatsächlichen Anteil der Sklav_innen an der Gesamtbevölkerung vorgerechnet hat – auf 1 850 000 Weiße kommen in ihrer Rechnung ca. 400 000 Sklav_innen – resümiert sie: »Hieraus kann man nur schließen, daß die Finsternis, in der Sklaven leben, noch um einige Grade schwärzer ist als die Finsternis der Armut und des Elends. Nicht der arme Mann, wie Adams meinte, sondern der schwarze Sklave war schlechterdings ›unsichtbar‹, wurde immer und von allen übersehen.« (Arendt 2020 [1963]: 105) Auf einige Affinitäten – oder Kooperationspotentiale – zwischen Rancière und Arendt ist immer mal wieder hingewiesen worden (vgl. Jaeggi 2008; Meyer 2011). 246 Ich werde die durchaus berechtigten Kritiken an Arendts Politisch-sozial-Unterscheidung und an ihren Implikationen im nächsten Abschnitt getrennt behandeln. Hier nur so viel: Es ist nicht so, dass Arendt die Problematik der Sklaverei, wie manchmal behauptet wird, völlig ignoriert hätte. Sie ist sich »des ursprünglichen Verbrechens […], auf dem das Gefüge der amerikanischen Gesellschaft beruhte« (Arendt 2020 [1963]: 105), durchaus bewusst. Das Revolutionsbuch ist aber vor allem »eine politische Fabel« (Straßenberger 2020: 135). Es richtet sich an die amerikanische Gegenwartsgesellschaft und will – gleichsam perlentauchend – an das erinnern, was Freiheit, verstanden als public happiness, in diesem Land einmal bedeutet hat. Dennoch würde ich keinesfalls postkolonialen Theoretiker_innen widersprechen wollen, die darauf hinweisen, dass Arendt jenem »ursprünglichen Verbrechen« auch nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenkt und dass die Kritik, die sie an der Sklaverei tatsächlich übt, im Verhältnis zur Rolle, die die durch Sklaverei geschaffene Ausgangslage für die amerikanische Revolution hatte, erstaunlich wenig Raum einnimmt.



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voraussetzung für eine erfolgreiche Institutionalisierung öffentlicher Freiheit. Das mag zwar die manchmal gegen Arendt vorgebrachte Kritik widerlegen, sie habe eine »von sozialen Fragen gänzlich unbeeindruckte Theorie« (Straßenberger 2020: 137) vorgelegt: An anderer Stelle benennt Arendt als die zentralen Herausforderungen ihrer Zeit dann auch ausdrücklich »die Befreiung der Armen und Unterdrückten, das heißt die Lösung der sozialen Frage und die Abschaffung des Kolonialismus und die Gründung der Freiheit, die Einrichtung eines neuen politischen Körpers« (Arendt 2012 [1962]: 248). Es untermauert jedoch die Auffassung, dass Arendt sozioökonomische Fragen, wie sie auch ausdrücklich schreibt, »außerhalb des Rahmens politischer Überlegungen« (ebd.: 250; Hervorh. T. A.) geregelt wissen wollte. Die »Befreiung von Notwendigkeit« geht bei ihr »immer dem Errichten des Gebäudes der Freiheit [voraus]« (ebd.: 249).247 Jeder Versuch, von dieser Reihenfolge abzuweichen, führt für Arendt hingegen zwangsläufig zum »Schiffbruch der Freiheit auf dem Felsen der Notwendigkeit« (ebd.: 250). Little Rock. Am Anfang dieses Kapitels habe ich die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen vor allem in der Theorie scharf gezogen ist und dann schwer greifbar wird, wenn man sie zu direkt auf die Wirklichkeit überträgt. Diese Arbeitshypothese führt zu folgender Frage: Bin ich in meiner Rekonstruktion zu streng mit Arendt? Ist die Unterscheidung von Arendt gar nicht so strikt gedacht, wie es in Vita activa oder Über die Revolution – beides anerkanntermaßen keine historischen Darstellungen – suggeriert wird? 247 Wobei offenbleibt, wie diese Befreiung von Notwendigkeit genau vonstattengehen soll. Die wenigen Äußerungen, die Arendt dazu tätigt, deuten darauf hin, dass sie hier, ganz ähnlich wie Marx, großes Vertrauen in die technische Entwicklung (insbesondere von Produktionsmitteln) hegte: So gebe es »heute die sehr berechtigte Hoffnung, daß sich mit der Fortentwicklung der Naturwissenschaften und ihrer Technologie in nicht allzu ferner Zukunft Möglichkeiten eröffnen werden, um diese wirtschaftlichen Angelegenheiten auf technischer und naturwissenschaftlicher Grundlage […] zu handhaben.« (Arendt 2012 [1962]: 250) Sie lobt die »Erfindung der stummen Roboter, mit denen Homo faber dem Animal laborans zu Hilfe gekommen ist« (Arendt 2016 [1958]: 142), und beschreibt des Öfteren die zunehmende Automation in allen Lebensbereichen (ebd.: 173, 208). Es bleibt jedoch unklar, warum bessere technische Möglichkeiten zur Armutsbekämpfung durch Technik automatisch dazu führen sollten, dass diese Fragen vorpolitisch entschieden werden können. Während ich noch einsehe, dass »die Technik« selbst »politisch neutral« (Arendt 2020 [1963]: 95) ist, erscheint mir Arendts Annahme, die »technischen Mittel im Kampf gegen die Armut könnten in völliger politischer Neutralität gehandhabt werden« (Arendt 2012 [1962]: 250; Hervorh. T. A.), geradezu naiv.

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Denn eine Möglichkeit, mit dieser problematischen Figur in Arendts Denken umzugehen, wäre, das Politische und das Soziale als Idealtypen im Sinne Max Webers zu deuten. Die Politisch-sozial-Unterscheidung wäre demnach eine Art Messlatte, die an die Wirklichkeit zwar angelegt werden kann, jedoch wäre von vorneherein klar, dass der empirisch durchschnittlich gegebene Realtypus vom durch die Messlatte gesetzten Anspruch abweicht.248 Systematisch wäre das sicher nicht der unproduktivste Umgang mit der Unterscheidung. Ideengeschichtlich ist er jedoch nicht besonders belastbar. Arendt hat meines Wissens an keiner Stelle jemals den Status eines Idealtyps für ihre Unterscheidung beansprucht, obwohl sie sich der Vorzüge der »in weiten Kreisen akzeptierte[n] Gewohnheit des Konstruierens von ›Idealtypen‹, ob nun mit oder ohne Rechtfertigung« (Arendt 2012 [1971]: 137) durchaus bewusst war. Und spätestens ein Blick in ihren Essay Reflections on Little Rock zeigt, dass Arendt selbst durchaus den Anspruch hegte, die gesellschaftliche Wirklichkeit direkt in eine politische und eine soziale Sphäre unterteilen zu können. Dabei verwendet sie »das Politische« und »das Soziale« nicht als unerreichbare Normen, denen die soziale Wirklichkeit ohnehin niemals gerecht wird, sondern der als politische Intervention gedachte Text beansprucht, die Realität tatsächlich (eindeutig) in diese zwei Sphären unterteilen zu können. Der Essay ist wahrscheinlich ihre direkteste Anwendung der Unterscheidung auf ein reales zeitgenössisches Ereignis. Arendt kommentiert in diesem kurzen Text die Aufhebung der Segregation an staatlichen Schulen in den USA. Nachdem der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1954 im Zuge der unter der Sammelbezeichnung Brown vs. Board of Education verhandelten Fälle entschieden hatte, dass die Segregation an öffentlichen Schulen verfassungswidrig ist, weigerten sich einige südliche Bundesstaaten – darunter auch Arkansas – dieser Entscheidung zu folgen. Als dessen damaliger Gouverneur Orval Faubus neun jugendlichen Schüler_innen mit afroamerikanischer Herkunft den Zutritt zur Little Rock Central Highschool unter Androhung von Gewaltanwendung verweigerte, entsandte Präsident Eisenhower am 24. September 1957 Bundestruppen in die Stadt. Die Soldaten eskortierten die Schwarzen Schüler_innen auf dem von einem wütenden weißen Mob blockierten Schulweg ins Gebäude und dort bis vor die Türen der Klassenzimmer. Als Arendt eine Weile später Bilder dieser Szene zu sehen bekam, reagierte sie, ihres Zeichens verfolgte Jüdin und eigentlich – es sei ans erste Kapitel 248 Dieser Vorschlag findet sich zum Beispiel bei Hannes Bajohr (2011: 13–25).



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dieser Arbeit erinnert – mit großer Sensibilität für Minderheiten-Thematiken und das Problem politisch Ausgeschlossener begabt, vollkommen kontraintuitiv und kritisierte Eisenhowers Vorgehen scharf. Ihre Kritik erschien verspätet, denn nachdem der Commentary, der den Text ursprünglich in Auftrag gegeben hatte, sich weigerte, die eingereichte Version zu drucken, wurde der Text erst zwei Jahre später im Dissent publiziert.249 Und er schlug ein wie eine Bombe. Denn Arendt argumentiert in dem Text gegen die von der Bundesregierung durchgesetzte Aufhebung der Segregation. Diese absurde Ansicht, so werde ich im Folgenden zeigen, kann nicht zuletzt auf ihren Anspruch zurückgeführt werden, den in der Vita activa anhand der attischen Polis entwickelten Gegensatz zwischen dem Politischen und dem Sozialen oder dem Gesellschaftlichen direkt an ein reales Ereignis anzulegen.250 In ihrem Text führt Arendt zwei Argumente ins Feld, warum ihrer Ansicht nach »die per Gesetz erzwungene Integration um kein Deut besser [sei, T. A.] als die gesetzlich erzwungene Rassentrennung« (Arendt 1999 [1959]: 101). Das erste der beiden Argumente gebe ich hier nur der Vollständigkeit halber wieder: Arendt erklärt, dass die erzwungene Durchsetzung eines Bundesgesetzes in einem Bundesstaat den von ihr hoch gelobten Föderalismus – konkreter: die Gewaltenteilung und das »System von ›checks and balances‹« (ebd.: 109) – ruinieren könnte. Arendt, die gemäß ihrem im vierten Kapitel rekonstruierten Verständnis von Macht davon ausgeht, »daß Macht – im Unterschied zu Zwang – durch Teilung mehr Macht hervorbringt« (ebd.), sieht den Verfassungskompromiss in Gefahr, dessen Aushandlung sie in Über die Revolution beschrieben hatte. Nicht indem die Bundesregierung 249 Der Text erschien jedoch auch hier nicht, ohne dass die Redaktion ihm eine Rechtfertigung voranstellte: Der Artikel würde nicht gedruckt, weil er in irgendeiner Form die Ansicht der Zeitschrift wiedergebe, sondern im Gegenteil, weil man »an die Meinungsfreiheit« glaube, »auch da, wo Auffassungen vertreten werden, die uns völlig verfehlt erscheinen.« (Zit. nach Straßenberger 2020: 129) 250 Es geht mir an dieser Stelle nur darum zu zeigen, wie die (zu direkte) Anwendung der Politisch-sozial-Unterscheidung auf ein reales Phänomen zu Schwierigkeiten führt. Forscher_in­ nen der Critical Philosophy of Race haben in jüngerer Zeit vermehrt darauf hingewiesen, dass das jedoch nicht die gesamte Geschichte ist und dass rassistische oder kulturalistische Vorurteile bei Arendts Bewertung wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt haben dürften. Mindestens kann ihr wahrscheinlich eine gewisse »white ignorance« gegenüber den spezifischen Schwierigkeiten der Schwarzen Bevölkerung vorgeworfen werden (vgl. Burroughs 2015). Arendt hat ihre Ignoranz später übrigens teilweise eingestanden. In einem Brief an Ralph Ellison, der sie für ihre Einlassungen zu Little Rock kritisiert hatte, hat sie sich für ihre Unkenntnis bezüglich einiger Aspekte der afroamerikanischen Perspektive auf die Situation entschuldigt.

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die Segregation aus dem Gesetzestext streicht, aber indem sie diese Aufhebung im widerspenstigen Bundestaat durchsetzt, greift sie in dessen einzelstaatliche Souveränität ein, so in etwa Arendts erstes Argument. Arendts zweites Argument nimmt nicht nur den größeren Raum im Artikel ein, sondern ist auch für das, was ich hier zeigen möchte, bedeutsamer: Denn Arendt zweifelt an, ob die Frage der Segregation an Schulen überhaupt in den Entscheidungsbereich des Staates fällt. Oder, in der hier bisher verwendeten Terminologie: Arendt bezweifelt, ob es sich bei der Aufhebung der Segregation an Schulen überhaupt um eine politische Frage handelt. Für Arendt stellt das Erziehungswesen erst einmal keine politische, sondern eine soziale Angelegenheit dar. Genauer gesagt: Es steht an der Grenze zwischen dem im engeren Sinne privaten Bereich des oikos – Kindererziehung, so Arendt, »gehört zur Privatsphäre von Heim und Familie« (ebd.: 111) – und der Gesellschaft, »jene[m] sonderbar[en], irgendwie zwitterhafte[n] Reich zwischen dem Politischen und dem Privaten« (ebd.: 104). Denn auf der einen Seite haben Eltern das Recht, »ihre Kinder so großzuziehen, wie es ihnen paßt« (ebd.: 111). Zum anderen gelte es jedoch auch, »Kinder auf die Erfüllung ihrer künftigen Pflichten als Staatsbürger vorzubereiten.« (Ebd.) Damit Letzteres gewährleistet werden könne, habe der Staat wiederum das Recht, »Minimalanforderungen für die Staatsbürgermündigkeit vorzuschreiben.« (Ebd.) Diese beträfen jedoch nur die allgemeine Schulpflicht und den Unterricht in bestimmten Fächern. Anders ausgedrückt: Sie betreffen »den Inhalt der Erziehung eines Kindes und nicht den Kontext«. Für das Kind selbst sei die Schule daher zwar »der erste Ort, wo es außerhalb des Zuhauses Verbindung aufnimmt mit der öffentlichen Welt«, jedoch ist »[d|iese öffentliche Welt […] nicht die politische, sondern die gesellschaftliche Sphäre, und für das Kind ist die Schule, was der Arbeitsplatz für den Erwachsenen ist.« (Ebd.) Die Entscheidung seitens des Obersten Gerichtshofes, die Segregation mit politischen Mitteln aufzuheben, stelle daher einen Eingriff in eine private Entscheidung der Menschen dar. Ja, es verletzte gar, wie es in einer Formulierung heißt, die sich geradezu haarsträubend anhört, das »gesellschaftliche Recht auf Diskriminierung«.251 Nun verliert diese Formulierung zwar etwas 251 »Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist. Es geht nicht darum, wie die Diskriminierung abgeschafft werden kann, sondern um die Frage, wie man sie auf den Bereich der Gesellschaft, wo sie legitim ist, beschränkt halten kann; wie man verhindern kann, daß sie auf die politische und persönliche Sphäre übergreift, wo sie sich verheerend auswirkt.« (Arendt 1999 [1959]: 105)



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an Schärfe, wenn man berücksichtigt, woher Arendts Beharren auf diesem vermeintlichen Recht kommt: Zum einen ist es geprägt von einer tiefsitzenden Angst vor »Konformismus«, der sich schlimmstenfalls zu einer »Massengesellschaft« (ebd.: 105) entwickeln kann. Zum anderen scheint Arendt beim ausgerufenen »Recht auf Diskriminierung« vor allem an das zu denken, was Politikwissenschaftler_innen sonst das »Recht auf freie Vereinigung« nennen (ebd.: 106). Jedoch macht das die Sache nur unwesentlich besser. Unklar bleibt mindestens, warum Arendt Schulen dieses Recht auf freie Vereinigung zugesteht – sie setzt sie ausdrücklich eher mit Erholungszentren und Vergnügungsstätten gleich als mit Bussen, Eisenbahnen oder Hotels, die sich »in Geschäftsvierteln« befinden. Letztere liegen für sie zwar »auch nicht direkt im politischen Bereich«. Jedoch gehörten »solche Dienstleistungen doch eindeutig zur Sphäre der Öffentlichkeit«, da sie »jedermann braucht, um seinen Geschäften nachzugehen« (ebd.: 106 f.). Warum das für Schulen nicht der Fall sein sollte, hat viele Leser_innen brüskiert.252 Verstehen lässt es sich –  wenn auch nicht unbedingt entschuldigen, um eine Differenzierung zu verwenden, die Arendt selbst sehr wichtig ist (Arendt 2012b [1953]: 110) – aus der zu direkten Anwendung der Sphärentrennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen auf ein reales Phänomen. 5.1.2 Das »endlose Palaver der Agora«: Kritik der Unterscheidung Es dürfte nach dem bisher Gesagten kaum verwundern, dass Arendts Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen in der Rezeption auf Kritik gestoßen ist. Selbst Richard Bernstein (1986: 245) – anerkanntermaßen einer von Arendts wohlwollendsten Leser_innen – musste zugeben: »It is difficult to imagine anyone having a neutral reaction to this analysis.« Und tatsächlich sind die Kritiken Legion. Die Politisch-sozial-Unterscheidung ist vehement, ausführlich und aus ganz verschiedenen Blickwinkeln kritisiert worden. Im Folgenden möchte ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit die wichtigsten dieser Kritiken in groben Linien nachzeichnen, um von da aus 252 So schreibt etwa Benhabib: Es »ist schwer einzusehen […], dass Schulen mit ihrem öffentlich-politischen Status eher Urlaubsorten statt Bussen, Bahnhöfen oder Kinos gleichen sollten.« (Benhabib 2006: 240) Und ein paar Seiten später: »Es ist eine Sache, wen ich zum Abendessen einlade oder mit wem ich meine Ferien verbringe, eine andere Sache aber, in den wichtigen Institutionen einer Gesellschaft wie den Schulen eine Trennung nach rassischen, ethnischen oder religiösen Kriterien durchzuführen.« (Ebd.: 243)

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auf ein noch fundamentaleres und grundsätzlicheres Problem zu sprechen zu kommen, das sich aus Arendts Sphärentrennung meines Erachtens ergibt. Meine Rekonstruktion ordnet die verschiedenen Schwierigkeiten grob den drei oben rekonstruierten Texten zu. Das ist meinerseits ein idealtypisches Vorgehen. In Wahrheit hängen die im Folgenden zu rekonstruierenden Einwände enger miteinander zusammen und haben mehr Überschneidungspunkte zueinander als meine säuberlich aufteilende Rekonstruktion suggeriert. Aus naheliegenden Gründen haben sich feministische Leser_innen von der in der Vita activa vorgenommenen Sphärentrennung besonders irritiert gezeigt. Nicht nur entwickelt Arendt ihr Politikverständnis hier am Modell der griechischen Polis: Das von ihr hochgehaltene Politikmodell ist also eines, das Frauen (ebenso wie Sklav_innen und andere Nicht-Bürger_innen; tatsächlich: die überwiegende Mehrheit der Einwohner_innen) systematisch aus der Politik ausschloss. Auch wenn man – wie ich das ausdrücklich tue – davon ausgeht, dass Arendt nicht für eine maßstabsgetreue Wiederherstellung der Polis argumentiert, sondern die dort vorgetragene Geschichte eher einer Problematiserung der Gegenwart dient (vgl. Kapitel 3), konkreter: wenn man also davon ausgeht, dass Arendt nicht wirklich für einen Ausschluss von Frauen und anderen Nicht-Bürger_innen aus der Politik plädiert, dann bleibt immer noch die Tatsache bestehen, dass sie genau diejenigen Tätigkeiten abwertet, die bis heute in der überwiegenden Mehrheit von Frauen bewältigt werden. So ist das, was Arendt unter der Tätigkeit des »Arbeitens« fasst, vor allem Reproduktionsarbeit: »[T]he laboring Arendt has captured so vividly is more readily recognizable for the feminist reader as that associated with women’s traditional activities as childbearers, preservers, and caretakers within the househould and family. […] The cyclical, endlessly repetitive processes of household labor – cleaning, washing, mending, cooking, feeding, sweeping, rocking, tending – have been time-honored female ministrations, and also conceived of and justified as appropriate to women. Since the Greeks, the cyclical, biological processes of reproduction and labor have been associated with the female, and replicated in a multitude of historical institutions and practices. It is indeed curious that Arendt never makes this central feature of the human condition an integral part of her political analysis.« (Dietz 1991: 240) Und selbst wenn man bereit ist, darüber hinwegzusehen – zum Beispiel indem man darauf verweist, dass Arendt ihre Sphärentrennung »selbst nicht



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direkt mit geschlechtlicher Arbeitsteilung in Verbindung brachte« (Hark 2011: 360) –, dann bleibt immerhin noch die Tatsache, dass sich so etwas wie die »Frauenfrage« (ebd.) mit Arendt nur schwer fassen lässt. Im Gegenteil: Die Emanzipation der Frau darf in einem Arendtschen Rahmen eigentlich gar nicht politisch thematisiert werden. Denn sie gilt in einem solchen Rahmen »sui generis als nicht politisch, ja mehr noch als Frage, deren Politisierung das Politische bzw. die politische Sphäre existentiell gefährden würde.« (Ebd.) Denn bei der Emanzipation der Frau handelt es sich in diesem Modell – wortwörtlich – um den Übertritt von jemand, der dem Haushalt angehört, in den politischen Bereich. An der meines Wissens einzigen Stelle, an der Arendt in der Vita activa überhaupt auf die Emanzipation der Frauen und der Arbeiter_innen Bezug nimmt, wird deren erfolgreicher Kampf um Anerkennung nicht als Errungenschaft gefeiert, sondern als Symptom der Kolonialisierung des Politischen durch das Private gedeutet: »Daß die Neuzeit die Arbeiter und Frauen in nahezu dem gleichen historischen Augenblick emanzipiert hat, geht nicht nur auf Konto einer größeren Vorurteilslosigkeit, sondern hängt aufs engste damit zusammen, daß die moderne Gesellschaft die mit den Lebensnotwendigkeiten verbundenen Tätigkeiten und Funktionen aus ihrem jahrtausendealten Versteck an das Licht der Öffentlichkeit gebracht hat.« (Arendt 2016 [1958]: 89) Diese Stelle ist nicht so zu deuten, dass Arendt tatsächlich gegen die Emanzipation der Frauen und Arbeiter_innen gewesen wäre. Das widerspricht all ihrem sonstigen Denken, das so sehr auf die Etablierung gerade politischer Gleichheit pocht; an späterer Stelle im gleichen Text erkennt sie zumindest »den doch selbstverständlichen Anspruch auf Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse« (ebd.: 390) auch noch ausdrücklich an.253 Jedoch fragt Hanna Pitkin (2000: 4) vollkommen zu Recht zurück: »Why would a thinker whose intent is so clearly liberatory and empowering develop a concept so blatantly contrary to that intent?« Eine andere Kritik fokussiert darauf, dass Arendt das »Problem der Armut«, wie es in Über die Revolution in einer etwas altbackenen Terminologie heißt, von der politischen Thematisierung und Lösung ausgeschlossen wissen will. In einer moderneren Ausdrucksweise würden wir sagen: Mit Arendt lassen sich Verteilungsfragen nicht politisch bearbeiten. Auch hierbei 253 Auch Arendts anerkennendes Portrait der weiblichen Arbeiter_innen-Führerin Rosa Luxem­ burg (Arendt 2012 [1966]: 46–74) spricht eine andere Sprache.

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handelt es sich nicht einfach nur um ein Themenfeld, zu dem Arendt nichts beizutragen hätte. Denn präziser wäre es auch hier zu sagen, dass solche Fragen in einem Arendtschen Rahmen nicht als politische thematisiert werden dürfen: »[D]ie Anwendung der Arendt’schen Begrifflichkeiten [stellt] die Vertreter ›sozialer Interessen‹ allzu schnell unter den Generalverdacht […], die politische Öffentlichkeit aufweichen und zu einem Feld rein sozialer (Verteilungs-)Fragen und privater Bedürfnisse machen zu wollen.« (Junger und Riescher 2013: 219 f.) Arendt-Leser_innen werden daher »vor die Alternative von Freiheit oder Wohlstand« (ebd.: 219; Hervorh. T. A.) gestellt. Dies aber ist nicht nur ein gerechtigkeitstheoretisches Defizit in Arendts Denken (vgl. Kuchler 2012). Die Problematik spitzt sich dadurch weiter zu, dass es sich bei Verteilungsfragen in modernen Demokratien nicht nur um Fragen der Gerechtigkeit handelt, sondern dass auch Arendts ureigenes Projekt – ihr Plädoyer für aktive politische Partizipation – davon unterhöhlt wird. Denn während das »Streben moderner Gesellschaften nach sozialem Ausgleich ihrer Mitglieder« in Arendts Augen nur einen »Auswuchs der privaten Gleichartigkeit in den politischen Raum und damit Teil jenes ›unnatürlichen Wachstums des Natürlichen‹« darstellt, das schließlich das Politische kolonialisiert, ergibt sich der hohe Stellenwert, den moderne Gesellschaften der Gerechtigkeit zuschreiben, nicht nur aus irgendwelchen »romantischen Sehnsüchten nach ›Gleichmacherei‹« (Junger und Riescher 2013: 248 f.). Vielmehr kommt dieser »aus der Erkenntnis, dass es für die Pluralität der Meinungen und Lebensformen zwar elementar ist, dass nicht alle Menschen gleich sind, dass aber ein gewisses Maß an Gleichheit in materiellen Angelegenheiten und Chancen notwendig ist, damit demokratische Prinzipien nicht Leerformen darstellen.« (Ebd.: 249) Die Behandlung dessen, was Arendt »die soziale Frage« nennt, ist nämlich auch eine Politik erst ermöglichende und sie bewahrende Einrichtung:254 254 Ich werde im folgenden Abschnitt noch ausführlicher darauf eingehen, dass Arendt diesen Umstand anerkennt, ja selbst immer wieder betont. Sie will ihn aber vorpolitisch gelöst wissen. Arendt unterliegt hier dem, was Oliver Marchart (2019: 153) (in Bezug auf Herbert Marcuse) ein »Phantasma der Berechenbarkeit« nennt: Sie geht davon aus, dass das zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder notwendige Maß an Gütern objektiv quantifiziert werden kann. Diese Quantifizierung (sowie die anschließende faire



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»Politische Gleichheit und gesellschaftliche Diskriminierung können einfach nicht koexistieren.« (Benhabib 2006: 242) Vielmehr sind »gewisse Niveaus gesellschaftlicher und ökonomischer Gleichheit unerläßlich […], damit politische Gleichheit in Anspruch genommen werden kann.« (Ebd.) Soll das Politische selbst nicht bedroht werden, muss für ein Mindestmaß an fairen Bedingungen zwischen den verschiedenen am demokratischen Prozess beteiligten Akteur_innen gesorgt sein. Dafür aber bräuchte es »gerade nicht den Ausschluss von ökonomisch-sozialen Themen aus der Politik, sondern deren bewusste Gestaltung« (Junger und Riescher 2013: 249). Und eine solche »Waffengleichheit« (Fraenkel 1991: 358) umfasst nicht nur die im engeren Sinne ökonomischen Grundlagen der Politik. Die soziokulturellen spielen eine ebenso wichtige Rolle. So würden heute wohl die wenigsten Politischen Theoretiker_innen die Wichtigkeit der Schulbildung für das Funktionieren der Demokratie bezweifeln: »Schulen sind ganz abgesehen davon, ob sie öffentlich oder privat finanziert werden, in jeder Gesellschaft bedeutende öffentliche Institutionen, weil sie Schauplätze der Sozialisation sind, durch deren Vorgaben die kommenden Generationen einer Gesellschaftsordnung geprägt werden.« (Benhabib 2006: 240) Noch stärker als im Fall der anderen Kritikpunkte scheint sich Arendt dieses Umstands eigentlich bewusst zu sein. Mit ihrem Aufsatz Die Krise in der Erziehung hat sie noch einen zweiten Text zu dem Thema veröffentlicht. Stärker noch als im Text zu Little Rock betont sie hier die Wichtigkeit der Erziehung als Vorbereitung auf die Welt. Und ich stimme sogar mit ihr darin überein, dass diese Vorbereitung teilweise in Abgeschiedenheit vom Licht der Öffentlichkeit geschehen muss. Aber auch hier vermag sie nicht zu erklären, warum die Tatsache, dass dieser Raum des Privaten von der Öffentlichkeit abgetrennt ist, zugleich implizieren soll, dass politisch nicht über die Gestaltung dieses Raumes beraten und entschieden werden soll. Gleichheit in der Politik, so schreibt Arendt in ihrem Artikel zu Little Rock selbst, kann erst dann erreicht werden, »wenn die ungleichen Voraussetzungen in WirtVerteilung besagter Güter) ist dann eine Aufgabe der Verwaltung (und nicht der Politik). Eklatant wird diese Ansicht zum Beispiel während der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, wo sie auf diesen Punkt angesprochen darauf beharrt, dass die Frage »wie viele Quadratmeter jedes menschliche Wesen braucht, um atmen und ein anständiges Leben leben zu können« eine sei, die »man wirklich errechnen kann.« (Arendt 2013 [1972]: 93 f.)

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schaft und Erziehung ausgeräumt sind.« (Arendt 1999 [1959]: 99; Hervorh. T. A.) Wie das geschehen soll, wenn die Sphäre der Erziehung zugleich von politischen Eingriffen jeglicher Art geschützt wird, bleibt bei Arendt allerdings ein Rätsel. Die Sphärentrennung leistet ihr also auch hier keinen guten Dienst. Mehr noch: Es drängt sich der Verdacht auf, dass es sich hier nicht nur um ein Problem dieser vielen konkreten Fragen handelt. Vielmehr kommen grundsätzlich Zweifel auf, ob die strikte Trennung überhaupt beibehalten werden kann (Straßenberger 2020: 134). Es stellt sich die Frage, was der Politik noch bleibt, wenn einmal alle vermeintlich »sozialen Fragen« von der politischen Behandlung ausgeschlossen wurden. Und so sind die bisher rekonstruierten Kritiken, die aus feministischer, gerechtigkeitstheoretischer oder bürgerrechtlicher Perspektive an Arendts strenger Sphärentrennung geübt worden sind, allesamt Nebenschauplätze – was deren Leistung keinesfalls schmälern soll – gegenüber einem tiefer liegenden Problem, das sich aus der Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen ergibt. In der pointierten Formulierung Hanna Pitkins, die diesem Abschnitt auch seinen Titel gab: »[T]here is more wrong here than injustice. On this account, I suggest, one cannot even make sense of politics itself […]. What is it that they talk about together, in that endless palaver in the agora?« (Pitkin 1981: 336; Hervorh. T. A.) Es stellt sich also die Frage, was nach Arendt überhaupt politisch verhandelt werden kann. Auch diese Frage hat sich Arendts langjährige Freundin Mary McCarthy wohl als eine der ersten gestellt. In der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto hält sie Arendt entgegen: »Nun, ich habe mich immer gefragt: Was eigentlich soll jemand auf der öffentlichen Bühne, im öffentlichen Raum noch tun, wenn er sich nicht mit dem Sozialen befaßt? […] Was bleibt da noch? Mir scheint, wenn Sie erst einmal eine Verfassung haben und die Gründung hinter Ihnen liegt, und wenn Sie ein Rahmenwerk von Gesetzen geschaffen haben, dann ist die Bühne frei für das politische Handeln. Und das einzige, was dem politischen Menschen [dann noch, T. A.] bleibt, ist, was die Griechen taten: Krieg führen! Das aber kann nicht richtig sein! Wenn andererseits alle Fragen der Wirtschaft, der menschlichen Wohlfahrt, des ›busing‹ – was immer die soziale Sphäre berührt – von der politischen Bühne ausgeschlossen sind, dann wird es für mich mysteriös. Es bleiben nur noch Kriege und Reden übrig. Aber die Reden können nicht einfach Reden sein. Sie müssen Reden über etwas sein.« (Zit. nach Arendt 2013 [1972]: 90; Hervorh. T. A.)



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Dieses Problem, das von Pitkin und McCarthy schon in Arendts eigenem favorisierten Bezugsrahmen – dem der antiken Polis – aufgeworfen wird, scheint in der modernen Gesellschaft noch mehr Dringlichkeit zu gewinnen. Mehr noch als in der Antike wird es in modernen Gesellschaften zunehmend schwierig, ein »soziales« von einem »politischen« Problem zu unterscheiden. Schon in der angesprochenen Diskussion hatte Albrecht Wellmer entsprechend nachgehakt: »Ich möchte Sie bitten, ein Beispiel für ein soziales Problem unserer Zeit zu nennen, welches nicht gleichzeitig ein politisches Problem ist. Nehmen Sie irgend etwas: das Erziehungs- oder Gesundheits- oder Großstadtpro­blem, ja selbst das einfache Problem des Lebensstandards. Es scheint mir, daß in unserer Gesellschaft […] die sozialen Probleme unvermeidlich politische Pro­bleme sind. Doch wenn das stimmt, dann wäre auch wahr, daß man zwischen dem Sozialen und dem Politischen in unserer Gesellschaft unmöglich eine Unterscheidungslinie ziehen kann.« (Ebd.: 93) Diese Nachfrage scheint aktuell eher noch an Schärfe zu gewinnen: Die fortschreitende Globalisierung und zunehmende Neoliberalisierung haben dazu geführt, dass politische, ökonomische und soziokulturelle Dimensionen der gesellschaftlichen Verhältnisse noch enger miteinander verflochten sind als das vor einem knappen halben Jahrhundert – als Wellmer seine Diagnose aufgestellt hatte – bereits der Fall war (Jaeggi 2008: 3 f.). Weil Arendt auf diese Frage weder im Gespräch noch später je eine befriedigende Antwort gegeben hat, sah Michael Gerstein »den grundlegend entpolitisierten Charakter [i]hres Denkens« (zit. nach Arendt 2013 [1972]: 94) enthüllt.255 In ähnlicher Manier diagnostizierte ihr Ottfried Höffe (1993: 32) später, letztlich einen »apolitische[n] Begriff des Politischen« vorgelegt zu haben. Arendts »Bestimmung des Politischen«, so lautet der gleiche Einwand in der Formulierung von Alex Demirovic (2019: 189), »bleibt formal.« Die Ironie dürfte offensichtlich sein: Das Denken, das wie kaum ein anderes auf die »Rückkehr des Politischen« (Marchart 2005: 168) abzielt, vermag letztlich 255 Im Gespräch weicht Arendt der Antwort zunächst aus: »Das Leben ändert sich dauernd, und dauernd sind Dinge da, die dazu auffordern, daß über sie gesprochen wird. Zu allen Zeiten werden die Menschen, die miteinander leben, Angelegenheit haben, die in den Bereich des Öffentlichen gehören, die ›es wert sind, in der Öffentlichkeit beredet zu werden‹.« (Arendt 2013 [1972]: 90  f.) Tatsächlich scheint das einzige paradigmatische Beispiel von Politik, das sie je selbst inhaltlich benennt, die Gründung der politischen Ordnung, also die Verfassungsgebung selbst, zu sein.

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nicht einmal zu sagen, »was genuin politische im Gegensatz zu ›bloß‹ sozialen Fragen« (Straßenberger 2020: 141) überhaupt ausmacht. Ja mehr noch: Arendt, so lautet der Vorwurf, hat den Bereich des Politischen vollständig »entleert« (Sörensen 2016: 190). Ihrem anspruchsvollen Verständnis des Politischen nach ist – vielleicht mit Ausnahme der Verfassungsgebung selbst – nichts wirklich politisch. Was aber nutzt so ein apolitischer Politikbegriff? 5.2 Mit Arendt gegen Arendt? Vor dem Hintergrund des zuletzt Gesagten mag es zunächst verwunderlich erscheinen, dass überhaupt noch an Arendt angeschlossen, dass überhaupt noch mit ihrer politischen Theorie weitergearbeitet wurde. Der Grund hierfür scheint vor allem in der Potenz ihres Politikbegriffs zu liegen, wie auch ich ihn im vierten Kapitel dieser Arbeit hochgehalten habe: »Even if […] her categorical distinction of the social and the political is untenable and will not stand up to critical scrutiny, there is something extremely important about what she stresses. What cannot be denied is that Arendt has provided us with one of the most subtle and appealing analyses of what participatory politics means. Her sensitive description stands as a shining exemplar of what politics once might have been, and even more important, what it may yet become. […] And her vision of politics stands as a critical standard in judging what today goes by the name of politics.« (Bernstein 1986: 246) Nur wird dieses »shining exemplar of what politics once might have been, and […] what it may yet become« – leider, möchte man sagen – auf der Folie der Politisch-sozial-Unterscheidung entwickelt. Die Rezeption sah sich daher seit jeher vor die Frage gestellt, wie mit Arendts Politikbegriff weitergearbeitet werden könnte und wie zugleich die problematischen Aspekte der strikten Sphärentrennung zurückgewiesen werden könnten. Für Seyla Benhabib steht und fällt die Möglichkeit, mit Arendts politischer Theorie weiterzuarbeiten, gar mit dieser Frage. Jede Argumentation – so hatte ich sie oben bereits zitiert –, mit der für Arendts bleibende Relevanz eingetreten wird, müsse »irgendeine vertretbare Rekonstruktion ihrer stark umstrittenen Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Politischen, dem Öffentlichen und dem Privaten anbieten.« (Benhabib 2006: 220) Es lohnt sich, diese Forderung genau zu lesen. Denn die Rede



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von der »vertretbaren Rekonstruktion« beinhaltet hier zweierlei, je nach dem, welcher ihrer Teile betont wird: Vertretbar soll diese Rekonstruktion zum einen sachlich, in Bezug auf die hier verhandelte Frage sein: Wie mit Arendt weiterarbeiten ohne die (problematischen Aspekte der) Unterscheidung? Es soll sich zum anderen aber auch um eine vertretbare Rekonstruktion handeln. Das heißt, der Bezug zu Arendts Text und die Intention, die sie mit dieser Unterscheidung ursprünglich einmal verfolgt hatte, sollen bestehen bleiben. Aber warum braucht es überhaupt eine solche vertretbare Rekonstruktion? Warum können wir als Leser_innen nicht einfach (nur) »perlentauchend« vorgehen? Die Legitimation dafür können wir ja bei Arendt selbst finden.256 Als sie etwa im Fernsehgespräch mit Roger Errera (Arendt 2013 [1974]: 116–133) auf die theoretische Tradition, aus der sie kommt und damit einhergehend die politische Richtung, der sie zuzuordnen ist, angesprochen wird, antwortet sie immerhin wie folgt: »Ich bediene mich, wo ich kann. Ich nehme, was ich kann und was mir paßt. […] Ich denke, einer der großen Vorteile unserer Zeit ist wirklich, was René Char, wie Sie wissen, gesagt hat: ›Unserer Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.‹ Das heißt, es steht uns vollkommen frei, uns aus den Töpfen der Erfahrungen und Gedanken unserer Vergangenheit zu bedienen.« (Ebd.: 124 f.) Warum übernehmen wir also nicht auch, wo wir können und was uns passt? Konkreter: Warum (über)nehmen wir nicht einfach Arendts Politikbegriff, lassen ihre Abgrenzung zum Sozialen aber fallen? Schließlich ist das ein recht gängiges Verfahren in der Politischen Theorie und Sozialphilosophie. Dass sich ein solches Vorgehen nicht auch an dieser Stelle ohne weiteres – in der Sprache der Kritischen Theorie: ohne Vermittlung – anwenden lässt, hat mit dem Status der Politisch-sozial-Unterscheidung in und für Arendts Denken zu tun. Denn diese stellt nicht nur die innertheoretische Kontrastfolie dar, auf der Arendt dann mittels einer Abgrenzung ihr anspruchsvolles Konzept des Politischen entwickelt: Arendt »gewinnt einen Begriff politischer Freiheit allein durch eine Trennung des Politischen vom Sozialen.« (Demirovic 2019: 189) Ein Vorgehen, das Dana Villa treffend als eine »contrastive theory of freedom« (Villa 2008b: 339; Hervorh. T. A.) bezeichnet. Sondern die Abgrenzung enthält auch über die Theoriebildung im engeren 256 Für eine ausführlichere Beschreibung von Arendts Methode des »Perlentauchens« siehe das dritte Kapitel dieser Arbeit.

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Sinne hinaus einen kritischen Sinn. Bei der geforderten »vertretbaren Rekonstruktion« geht es daher nicht nur um ideengeschichtliche Redlichkeit, sondern auch darum, diese kritische Pointe nicht zu verlieren. Und diese Pointe besteht eben nicht nur in dem anspruchsvollen Politikbegriff, den Arendt aus der Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Sozialen gewinnt, sondern auch in dieser Unterscheidung selbst. Im Folgenden werde ich genauer erläutern, was damit gemeint ist. Ich hatte ganz zu Anfang dieses Kapitels bereits angedeutet, dass die Debatte um die Politisch-sozial-Unterscheidung nicht neu ist. Ihr Beginn kann auf die Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto datiert werden (Arendt 2013 [1972]: 89–103). Sie dauert seitdem an. Dass die Debatte seit langem geführt wird, heißt jedoch nicht, dass sie auf der Stelle tritt. Vielmehr hat sich die Auseinandersetzung über die Jahre erheblich entwickelt. So lässt sich der Umgang der Rezeption mit der Sphärentrennung grob in drei Phasen unterteilen. Die erste Phase – das heißt die Debatte der 1970er und 1980er – ist von einer Art doppelter Ratlosigkeit geprägt. Zum einen von Ratlosigkeit darüber, wie »das Soziale« bei Arendt überhaupt zu fassen, wie es zu verstehen ist. Zum anderen aber auch von Ratlosigkeit darüber, wie damit umzugehen ist. Die Reaktionen lassen sich entsprechend als unproduktive Kritiken charakterisieren. Als Kritiken also, die die Unterscheidung als problematisch zurückweisen, ohne wirklich einen alternativen Umgang damit vorzuschlagen. Nicht, dass eine von Adorno inspirierte Arbeit grundsätzlich ein Problem mit einem rein negativen Kritikverständnis hätte – ganz im Gegenteil, dazu später mehr. Dennoch ist es in diesem Fall begrüßenswert, dass dieser reine Negativismus in den 1990er und 2000er Jahren von einem produktiveren Umgang mit der Politisch-sozial-Unterscheidung abgelöst wurde. Vor allem seit den 2000ern sind vermehrt diejenigen Lesarten auf den Plan getreten, für die sich mittlerweile die Formulierung »mit Arendt gegen Arendt« zu denken eingebürgert hat. Diese Interpretationen eint, dass sie die kritische Pointe der Sphärentrennung selbst betonen, die, zusammenfassend gesagt, in einer Anerkennung der Autonomie und Spezifik des Politischen liegt und die Unterscheidung in der Folge produktiv wenden. Das bedeutet, sie wird nicht mehr in Gänze zurückgewiesen, sondern lediglich ihre Anwendung in einer bestimmten, nämlich essentialistischen Art wird abgelehnt. Jüngst ist zudem eine dritte Strategie auf den Plan getreten. Vor allem in der englischsprachigen Forschung ist derzeit ein Trend erkennbar, die Bedeutung der Politisch-sozial-Unterscheidung herunterzuspielen. Parteigänger_innen dieser Strategie konzentrieren sich stattdessen auf andere Ressourcen, die sich



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Arendts Werk entnehmen lassen und mit denen produktiv über soziale Fragen nachgedacht werden kann. Die Politisch-sozial-Differenzierung selbst spielt hier höchstens noch insofern eine Rolle, als dass ihre Bedeutung – im Vergleich zu diesen alternativen Ressourcen – verharmlost wird. Sie wird daher weder zurückgewiesen noch produktiv gewendet, sondern strenggenommen übergangen. Auch wenn es dort nicht ausdrücklich unter dem Titel einer Rezeptionsgeschichte geschah, habe ich die erste Phase der Rezeption in Abschnitt 5.1 bereits ausführlich nachvollzogen. Im Folgenden werde ich ausnahmsweise von meiner theoriegeschichtlichen Chronologie abweichen und das Feld der beiden verbleibenden Lösungsvorschläge von hinten aufrollen. Zunächst sollen hier kurz die neuesten Versuche, eine affirmative Theorie des Sozialen bei Arendt herauszuarbeiten, besprochen werden (5.2.1). Das geschieht nicht nur der Vollständigkeit halber: Tatsächlich helfen uns diese neueren Lesarten, Arendts Anliegen besser zu verstehen, denn sie verdeutlichen, dass Arendt eine Denkerin ist, die sich um die sozio-ökonomischen Voraussetzungen politischen Handelns sehr wohl sorgt. Damit tragen sie nicht nur zu einem hermeneutisch angemesseneren Verständnis von Arendts Projekt bei, sondern plausibilisieren nebenbei auch das von mir angestrebte Ergänzungsverhältnis weiter. Allerdings schießen diese Lesarten insofern über das Ziel hinaus, als ihre These, dass sich bei Arendt bereits eine vollständige Theorie des Sozialen auffinden lässt, nur zum Preis einer (zu) einseitigen Rekon­ struktion zu haben ist. Bei meinem hier verfolgten Projekt, die Möglichkeit einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno auszuweisen, helfen sie deshalb nur bedingt. Deswegen werde ich anschließend – und nun wieder im Einklang mit meinem Vorgehen, die Hauptstränge von Arendts und Adornos Denkens nachzuvollziehen – auf diejenigen Lösungsvorschläge rekurrieren, die die Politisch-sozial-Unterscheidung nicht zugunsten anderer Ressourcen in Arendts Denken herunterspielen, sondern die das Potential der Unterscheidung selbst betonen (5.2.2) und sie daher produktiv wenden (5.2.3). 5.2.1 Das Herstellen als Brückenkonzept In den vergangenen Jahren ist vor allem in der englischsprachigen Forschung ein Trend erkennbar, das Problem der Politisch-sozial-Unterscheidung bei Arendt mittels einer Strategie anzugehen, die Maurits de Jongh (2021: 882) einmal als »depurified reading« bezeichnet hat; depurified sind diese Inter-

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pretationen, weil die beiden Sphären einander hier nicht mehr purifiziert, also in Reinformen, gegenüberstehen. Vertreter_innen dieser Lesart sind beispielsweise Steven Klein (2014, 2020: 96–128), Patchen Markell (2011) oder Bonnie Honig (2017). Diese Interpretationen eint, dass sie die Bedeutung des Herstellens in und für Arendts Denken betonen. Das Herstellen, dessen Besprechung ich bisher aufgeschoben habe, führt Arendt in der Vita activa zwischen dem Arbeiten und dem Handeln als eine der drei Grundtätigkeiten ein. Sie weicht damit von Aristoteles’ Praxis-poiesis-Unterscheidung ab, von dem sie »[d]ie eigentlich politischen Unterscheidungen zwischen privat und öffentlich, zwischen dem Haushaltsbezirk und dem öffentlichen Bereich« (Arendt 2016 [1958]: 102) zunächst übernommen hatte. Während die klassische Antike »den Unterschied zwischen Arbeiten und Herstellen ignoriert hat« (ebd.), zieht Arendt hier noch einmal eine Binnendifferenzierung ein. Liegt der Sinn des Arbeitens in der Reproduktion des Lebens im engeren Sinne des Begriffs, so zielt das Herstellen auf die Errichtung der materiellen – dauerhaften – Welt (in der dann politisch gehandelt werden kann). Wie Arbeiten auch, stellt es also eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit des Handelns dar. Anders als Arbeiten ist das Herstellen dem öffentlichen Raum sogar verbunden, da es ihn teilweise mit konstituiert. Das Vorgehen der neueren »depurified readings« besteht darin, diesen Umstand zu betonen. Durch differenzierte Diskussionen des Kapitels über das Herstellen in der Vita activa (Arendt 2016 [1958]: 161–212) wird gezeigt, dass die Trennlinie zwischen der von der Logik der Notwendigkeit bestimmten Sphäre der Arbeit und der freiheitlichen Sphäre des Handelns auch in der »Architektur der Vita activa«257 nicht so strikt angelegt ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Dem Herstellen kommt hierfür die Funktion eines Bindeglieds zu, das den Abgrund zwischen den anderen beiden Sphären überbrückt: »[T]he conceptual triad of labor, work, and action is best understood not as a single, functionally continuous three-part distinction, but rather as the fraught conjunction of two different pairs of concepts – labor and work, and work an action.« (Markell 2011: 18) Das Herstellen wird so zum »point at which her two pairs of concepts meet« (ebd.).258 Von da aus wird in einem zweiten Schritt der Argumentation dann die (wortwörtlich: grundlegende) Bedeutung des Herstellens für das Handeln 257 Der Untertitel von Patchen Markells (2011) einschlägiger Interpretation lautet On the Architecture of »The Human Condition«. 258 Was Markell gar zu der (meines Erachtens eher gewagten) These verleitet, dass »work and not action is the most important concept in The Human Condition« (Markell 2011: 18).



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herausgestellt: »Far from merely reflection Arendt’s hostility to the sup­ posedly anti-political characteristics of fabrication, I’ll propose that critique is undertaken as much in defense of a rich, non-reductive understandig of work and its objects, and of their significance for action and politics« (ebd.: 18 f.). Diese Bedeutung des Herstellens liegt vor allem in seiner weltbildenden Funktion (Klein 2014: 857). Arendts Weltbegriff, den ich im zweiten Kapitel dieser Arbeit bereits ein Stück weit besprochen habe, besteht aus einer kommunikativen und aus einer materiellen Dimension. Was in diesen neueren Interpretationen des Sozialen bei Arendt passiert, könnte auch als Aufwertung der materiellen Dimension der Welt gedeutet werden. Arendts »Sorge um die Welt« (Arendt 2010 [1993]: 24) wird hier auf die materielle Welt ausgedehnt. Denn für Arendt – ich habe das in Abschnitt 4.3.3 thematisiert – braucht es stets einen öffentlichen Raum, in dem politisches Handeln stattfinden kann. Dieser Erscheinungsraum wird zum einen durch die anderen Anwesenden konstituiert, er ist aber auch von profaneren materiellen Konstitutionsbedingungen abhängig. So braucht es etwa – um nur ein sehr niedrigschwelliges Beispiel zu nennen – einen Raum, in dem eine solche Versammlung stattfinden kann wie eine Town Hall oder ein Parlament.259 Ohne hier noch tiefer in die genauen Funktionsweisen dieser neuen Deutung einzutauchen, scheint mir ihr Wert auf der Hand zu liegen. Sie verhilft uns, ganz allgemein gesprochen, zu einem hermeneutisch nuancierteren Verständnis von Arendts Denken. Indem sie die Wichtigkeit des Herstellens in Arendts Theorieanalage betonen, verdeutlichen die hier genannten Autor_innen weiter, dass sich Arendt sehr wohl Gedanken um die materiellen Voraussetzungen des politischen Handelns gemacht hat. Und sie sind auch jenseits der Arendt-Exegese interessant, weil sie dazu inspirieren 259 Vgl. dazu auch die entsprechende Stelle bei Klein: »For Arendt, such mediation [between subjective need and political action, T. A.] is possible because things and objects, even as they are oriented toward the instrumental pursuit of goals, also potentially open up spaces of appearance and judgment – that is, they are potentially received and discussed in terms other than just technical usefulness and through that reception generate relationships between individuals concerned with the shape or appearance of the world. A space of appearance is thus a context that is constituted by shared objects of concern, a space in which both objects and the individuals discussing them appear. This dual aspect of objects Arendt terms their worldliness, which reflects the human capacity to construct a lasting world of artificial objects that comprise a stable meaningful location for various activities and affairs.« (Klein 2014: 858 f.) Bonnie Honig (2017) hat diese Idee – allerdings nur noch in lockererem Anschluss an Arendt – schließlich zu einer »political theory of public things« weiterentwickelt, in der sie für die Bedeutung von öffentlichen Gütern als eine Art notwendige Bedingung für demokratische Gemeinschaften argumentiert.

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können, über eine stärker politische Begründung für soziale Institutionen wie beispielsweise den Wohlfahrtsstaat nachzudenken. Entgegen liberaler Verständnisse des Wohlfahrtsstaates als Almosen-Institution kann mit Arendt die weltbildende Dimension auch der materiellen Umgebung betont werden (das tut Klein 2014 ganz explizit). Es handelt sich bei diesen Lektüren also zweifelsohne um produktive Vorschläge. Zwei Schwierigkeiten sehe ich dennoch bei diesen Aneignungen: Zum einen schießen diese Vorschläge über das Ziel hinaus, wenn sie Arendts (zweifellos vorhandene) Sorge um die materiellen Ermöglichungsbedingungen politischen Handelns mit der These kurzschließen, Arendt habe diese Besorgnis bereits in eine befriedigende Lösung für das Problem überführt. Einfacher ausgedrückt: Arendt ist sich der Wichtigkeit materieller Voraussetzungen für politisches Handeln zwar sehr wohl bewusst, das ändert aber nichts daran, dass sie diese Voraussetzungen vorpolitisch (wie auch immer das genau funktionieren soll) geschaffen wissen will. Gerade deshalb fallen diese Sorgen bei ihr ja in den Bereich des Herstellens (und des Arbeitens) und eben nicht in den des Handelns.260 Zweitens missachten diese Interpretationen das Diktum Benhabibs, dem ich mich hier verschrieben habe: Sie bieten gerade keine vertretbare Rekonstruktion von Arendts Politisch-sozialUnterscheidung. Weder lösen sie die Unterscheidung auf, noch wenden sie sie kritisch. Eher ignorieren sie sie und wenden sich stattdessen anderen Teilen von Arendts Werk zu, um über eine positive Konzeption des Sozialen nachzudenken. Diese positive Konzeption wird dann bestenfalls noch gegen die Politisch-sozial-Unterscheidung abgewogen.261 Schlechtestenfalls wird die von Arendt eingezogene Sphärentrennung einfach zu einer Art Selbstmissverständnis erklärt, um das man sich nicht weiter zu kümmern brauche.262 260 Anders gewendet: Während mir der systematische Wert dieser Lesarten auf der Hand zu liegen scheint, gehen sie exegetisch mindestens gewagt vor, wenn sie suggerieren, innerhalb von Arendts Theoriegebäude bereits eine umfassende Kritik der politischen Ökonomie vorzufinden. In der Interpretation, die diesbezüglich am weitesten geht, wird Arendt gar zu so etwas wie der Theoretikerin des Wohlfahrtsstaates par excellence (vgl. Klein 2014 und 2020). Es braucht jedoch zumindest einiges an interpretativer Arbeit, um diesen Vorschlag mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass Arendt die Begriffe der »politischen Ökonomie« oder der »social economy« zu Selbstwidersprüchen erklärt hatte (Arendt 2016 [1958]: 39) und eine dezidierte Kritikerin des Wohlfahrtsstaats war (Arendt 2020 [1963]: 402 f.). 261 Für diese Strategie steht Markell (2011: 20), der seine Interpretation ausdrücklich als eine Art »counterweight« zur Politisch-sozial-Unterscheidung verstanden wissen will. 262 Für diese Strategie steht Klein (2014: 866), der glaubt, dass Arendt mit der Unterscheidung



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Mein Vorhaben ist demgegenüber einem stärkeren theoriegeschichtlichen Anspruch verpflichtet. Denn meine Strategie zielt gerade nicht auf den Vergleich Arendts und Adornos hinsichtlich irgendwelcher randständigen Konzepte, sondern auf die Behauptung, dass ein Gespräch zwischen den beiden Theorierichtungen gerade in Bezug auf ihre Hauptthesen und -theoreme interessant sein könnte. Darüber hinaus denke auch ich, dass die Politisch-sozial-Unterscheidung bei Arendt eben nicht nur ein Problem darstellt, sondern dass in der Unterscheidung selbst auch ein Potential steckt. Das war, so hatte ich behauptet, der Sinn von Benhabibs Forderung, nicht nur irgendeine Lösung für das Problem zu präsentieren – die ja zum Beispiel auch im »perlentaucherischen« Ignorieren der Unterscheidung liegen könnte –, sondern eine plausible Aneignung vorzulegen. Dieses Potential, das neben allem Problematischen in der Differenzierung zwischen dem Politischen und dem Sozialen auch steckt, markiert zugleich die Stelle, an der ich dann mit Adorno wieder anknüpfen möchte. Worin dieses Potential besteht, werde ich im nächsten Unterkapitel genauer erläutern. 5.2.2 Die Autonomie des Politischen Die zuvor rekonstruierten »depurified readings« haben durchaus ihren Charme. Sie lösen das Problem der Sphärentrennung bei Arendt allerdings nicht, sondern umgehen es vielmehr. Im Folgenden möchte ich daher eine andere Strategie verfolgen. Ich werde mich auf solche Interpretationsvorschläge konzentrieren, die die Politisch-sozial-Unterscheidung nicht zugunsten anderer Ressourcen in Arendts Denken beiseitelegen, sondern die Differenz selbst produktiv wenden. Die Abgrenzung zwischen dem Politischen und dem Sozialen – der Anlass für den fundamentaleren Teil der Kritik an Arendts Werk – hat nämlich auch, so die These dieses Abschnitts, einen »systematischen Sinn und […] ›emanzipatorischen‹ Charakter« (Jaeggi 2008: 5). Während dieser systematische Sinn von der frühen Rezeption nicht gesehen wurde und von der neuesten (bewusst) vernachlässigt wird, gibt es eine mittlere Phase, in der Leser_innen ihn anerkannt haben und betont wissen wollten. Selbstverständlich reicht es nicht aus, den emanzipatorischen Charakter der Unterscheidung anzuerkennen und in der Folge zu behaupten. zwischen dem Politischen und dem Sozialen »fails to pursue her own argument«. Bereits Hanna Pitkin (2000: 1) sah das Konzept »radically at odds with her most central and valuable teaching.« Für Pitkin folgte daraus jedoch keinesfalls, dass man die Unterscheidung einfach übergehen könne, im Gegenteil.

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Man entledigt sich der zuvor besprochenen Probleme nicht einfach, indem man auf dem kritischen Sinn der Abgrenzung beharrt. Dieses Beharren ist vielmehr nur der erste Schritt. Auch diese Lesart muss die eingeforderte vertretbare Rekonstruktion dann noch anbieten. Das ist von einigen – allen voran von Benhabib selbst – getan worden und hat in der Folge zu den mittlerweile zum geflügelten Wort aufgestiegenen Versuchen geführt, »mit Arendt gegen Arendt« weiterzudenken. Bevor ich mir einige der bekanntesten dieser Versuche etwas genauer anschaue, gilt es aber zunächst herauszustellen, worin dieser kritische Sinn eigentlich genau bestehen soll. Dazu muss ich kurz etwas ausholen. In der Sekundärliteratur zu Arendt ist auffällig oft darauf hingewiesen worden, dass eine gewisse Familienähnlichkeit zwischen ihrer Beschreibung des Sozialen und Adornos Konzept der instrumentellen Vernunft besteht. So fragt sich Jeremy Arnold zum Beispiel: »What, then, is the problem of the social […]? It is, I would argue, more or less what it always was for many 19th and 20th century German thinkers: the rise and domination of not just a politics but a culture of instrumental rationality, bureaucracy, management administration, and technocracy. […] In short, the social […] shows Arendt to be in even closer alignment with Benjamin, Adorno, Horkheimer, Foucault and other 20th century critics of modernity.« (Arnold 2016: 617) Angesichts der lange dichotomen Rezeption der beiden Ansätze, die ich in der Einleitung dieser Arbeit ausführlich besprochen habe (vgl. insbesondere den Abschnitt »(K)eine Rezeptionsgeschichte«), ist schon die schiere Häufigkeit dieser Behauptung ein Befund für sich. So hatte unter anderen auch Oliver Marchart vorgeschlagen: »Arendts Annahme einer kontinuierlichen Ausdehnung des Sozialen auf Kosten des Politischen könnte als Variante einer Verhängniserzählung à la Adorno gelesen werden, jedenfalls wenn für das ›Soziale‹ die Wörter ›Warenform‹ und ›Äquivalenzprinzip‹ eingesetzt werden.«263 (Marchart 2007: 350) Für so manche Leser_innen mag es sich dabei um ein großes »Wenn« handeln. Jedoch ist die Behauptung bei näherem Hinsehen gar nicht so abwegig, wie man zunächst vielleicht annehmen könnte. Arendts in der Vita activa 263 Ähnliche Hinweise wie die von Arnold und Marchart finden sich zudem bei Auer, Rensmann und Schulze Wessel (2003: 23 f.), Benhabib (2006: 56 ff.), Bernstein (1986: 239 f.), Pitkin (2000: 7–10), Sörensen (2016: 187 f.) und Villa (2008b: 340).



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vorgetragenes Narrativ vom Aufstieg des Sozialen in der Neuzeit erzählt die Geschichte davon, wie zuerst die Tätigkeitsweise von Homo Faber und dann die des Animal laborans triumphieren. Das Problem sieht Arendt darin, dass damit jeweils Aktionsmodi und -logiken in den Vordergrund rücken, die (in der einen oder anderen Weise) auf die Unterdrückung von Differenz, Kontingenz und der Freiheit des Handelns zielen. So lesen sich nicht wenige Beschreibungen in der Vita activa, in denen das mit der Notwendigkeit assoziierte Soziale die freiheitliche Sphäre des Handelns kolonialisiert, so, als könnten sie auch der Dialektik der Aufklärung entstammen: »Unter den hervorragenden Merkmalen der Neuzeit von ihren Anfangsstadien bis in die Welt noch, in der wir leben, lassen sich überall die typischen Verhaltungsweisen von Homo faber nachweisen: die Tendenz, alles Vorfindliche und Gegebene als Mittel zu behandeln; das große Vertrauen in Werkzeuge und die Hochschätzung der Produktivität im Sinne des Hervorbringens künstlicher Gegenstände; die Verabsolutierung der Zweck-Mittel-Kategorie und die Überzeugung, daß das Prinzip des Nutzens alle Probleme lösen und alle menschlichen Motive erklären kann; die souveräne Meisterschaft, für die alles Gegebene sofort Material wird und die gesamte Natur sich ausnimmt wie ›ein ungeheuer großes Stück Stoff, aus dem wir herausschneiden können, was wir wollen, um es wieder zusammenzuschneidern, wie wir wollen‹; die Gleichsetzung von Klugheit mit Scharfsinn oder Findigkeit und die Verachtung für alles Denken, das nicht einfach abzielt auf ›die Fabrizierung von künstlichen Gegenständen, vor allem von Werkzeugen, mit denen man Werkzeuge produzieren kann, um die Fabrikation weiterhin bis ins unendliche zu variieren‹; schließlich die Selbstverständlichkeit, mit der Handeln und Herstellen identifiziert werden, bzw. mit der alles Handeln im Sinne eines Herstellens verstanden wird.« (Arendt 2016 [1958]: 389) Und an einer anderen Stelle im Buch stellt Arendt selbst sogar – freilich ohne das so zu nennen – explizit eine Dialektik der Aufklärung heraus, wenn sie festhält: »Niemand wird den ungeheuren Zuwachs an Wissen und Macht leugnen, den die Entwicklung der Naturwissenschaften dem Menschen eingetragen hat; […] und die ersten fünfzig Jahre unseres Jahrhunderts enthalten eine größere Anzahl entscheidender Entdeckungen als alle Jahrhunderte der uns bekannten Geschichte zusammengenommen. Aber wer wüßte nicht, daß man die gleiche Entwicklung mit kaum weniger Recht auch für das nachweisliche Anwachsen der Verzweiflung, für die Entzauberung der Welt, für

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die Entstehung des Nihilismus […] verantwortlich machen kann« (ebd.: 332 f.). In ihrem monografielangen Versuch, das Soziale bei Arendt zu definieren, hat Hanna Pitkin daher die folgende Beschreibung vorgeschlagen. Vom Sozialen spreche Arendt immer dann, wenn es ihr darum gehe »a collectivity of people« zu beschreiben »who, for whatever reason – whether because of their character, their institutions, or their ways of thinking – cannot, or at any rate do not, direct or even intentionally influence the large-scale resultants of what they are doing.« (Pitkin 2000: 201 f.) Diese Beschreibung ähnelt – zumindest in diesem Abstraktionsgrad – dann doch auffällig Adornos Erzählung von einer Dialektik der Aufklärung, das heißt einer (bei ihm: seit Urzeiten) dominanter werdenden instrumentellen Rationalität, die in der modernen, gleichmachenden »verwalteten« und verwaltenden Welt ihren (bisherigen) Höhepunkt erreicht hat. Auch Adornos Bestandsaufnahme lokalisiert das Problem in als übermächtig erfahrenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die über die Handlungsmacht der sie konstituierenden Individuen triumphieren. Das dafür verantwortliche Prinzip sieht er zwar weniger in der Dominanz anthropologisch gedachter Tätigkeitsweisen und Lebensformen als vielmehr in einer Kontingenz und Differenz verleugnenden Logik des Identitätsdenkens (die in der Moderne zum Strukturprinzip des Tausches geworden ist), das alles Besondere auf einen (abstrakten) allgemeinen Nenner bringt und gleichmacht; jedoch laufen diese beiden Erklärungsansätze im Ergebnis auf das Gleiche hinaus. Wenn wir aber die Behauptung akzeptieren, dass dem Sozialen in Arendts Theoriegebäude eine Funktion zukommt, die jener der »instrumentellen Vernunft« in Adornos Denken vergleichbar ist, dann ließe sich ebenfalls sagen, dass das Politische – das, was Arendt das Handeln nennt – als Gegenstück zu ebendieser instrumentellen Vernunft gedacht ist. Andersherum formuliert: Die Sphäre des Politischen ist dann die Sphäre des nicht-instrumentellen Handelns, der freiheitlichen Rationalität oder sie ist zumindest Arendts Versuch, eine solche zu denken. Das Beharren auf der Politisch-sozial-Unterscheidung ist dann ein Beharren auf der Spezifik und Autonomie des Politischen.264 Es geht Arendt dann weniger um eine Disqualifikation sozialer als vielmehr um eine Qualifikation politischer Fragen: »Der Sinn dieser starken Dichotomisierung von ›sozial‹ 264 In seinem Aufsatz The »Autonomy of the Political« Reconsidered (2008b) hat Dana Villa diesen Punkt ausführlich herausgestellt und betont.



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und ›politisch‹« liegt dann »in der Abwehr eines naturalistischen Verständnisses politischer Fragen und einer technischen Vorstellung von deren Lösung.« (Jaeggi 2008: 16) Während das Soziale für eine Logik des Sachzwangs steht, verweist das Politische auf einen Handlungsspielraum. Und in dieser Behauptung einer Spezifik und Autonomie des Politischen – in dieser Erinnerung an und dem Beharren auf Handlungsspielräume(n) – besteht das gesuchte emanzipative Potential von Arendts Unterscheidung. Arendt steht hier denjenigen oft aus dem frankophonen Raum stammenden »Philosophien des Politischen« (vgl. Hebekus und Völker 2012) nahe, die in der einen oder anderen Weise die Rede von »dem Politischen« im Kontrast zu »der Politik« in den Mittelpunkt ihrer Theoriebildung rücken, um sich so für die Repolitisierung verschiedener Lebensbereiche einzusetzen.265 Ein solcher Einsatz scheint aktuell dringlicher denn je.266 Will man Arendt für dieses Projekt einspannen, dann besteht das Problem etwas zugespitzt formuliert allerdings darin, dass sie in einem gewissen Sinne zu nah an Adorno dran ist. Denn sie zieht die Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Politischen nicht nur zu scharf, sondern auch – das hatte ich in Abschnitt 5.1 gezeigt – fällt bei ihr einfach zu viel unter das Verdikt des Sozialen. Arendt konzipiert mit dem Politischen zwar eine nicht-instrumentelle, freiheitliche Rationalität, sie denkt diese aber so anspruchsvoll – und behält sie so wenigen ausgewählten historischen Momenten vor –, dass sich innerhalb des von ihr zur Verfügung gestellten theoretischen Rahmens – auch das habe ich oben bereits besprochen – kaum noch etwas als politisch behandeln lässt. Etwas polemisierend liese sich sagen: Während die Menschen bei Adorno aufgrund seiner Zeitdiagnose der »verwalteten Welt« nicht mehr politisch handeln, so können sie es bei Arendt nicht mehr aufgrund ihres 265 Auch wenn Arendt nicht zwischen »dem Politischen« und »der Politik« differenziert, kann ihre Unterscheidung zwischen Politik/dem Politischen auf der einen und dem Sozialen auf der anderen Seite analog zu dieser Differenz verstanden werden. Es ist daher kein Zufall, dass sich die Denker_innen der politischen Differenz gerne auf sie berufen. Für eine Verortung Arendts in dieser Denktradition vgl. Marchart (2010: 32–58). 266 Allerspätestens seitdem die Postdemokratie-Debatte den politiktheoretischen Mainstream erreicht hat, wird die Diagnose einer zunehmenden Entpolitisierung von immer mehr Gesellschaftsbereichen kaum noch ernsthaft von irgendjemandem bezweifelt: »Tatsächlich grassiert die Entpolitisierung von Bereichen, die Bereiche gemeinsamen Handelns sein sollten und könnten; tatsächlich verfängt sich die Politik im Versuch verwaltungstechnischer oder marktförmiger Lösungen von Problemen, die sich so nicht lösen lassen werden.« (Jaeggi 2008: 17) Zur Diagnose einer zunehmenden Entpolitisierung vgl. auch Volk (2013b). Eine (Zwischen)bilanz der Postdemokratie-Diagnose findet sich mittlerweile bei Saar (2019).

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Politikverständnisses. Denn wenn man sie beim Wort nimmt, dann handelt auch kaum jemand wirklich politisch. Mit diesem Problem konfrontiert, hat die Forschung mittlerweile Vorschläge unterbreitet, wie mit Arendt am kritischen Sinn der Politisch-sozial-Unterscheidung festgehalten werden kann und zugleich über Arendt hinaus Dinge politisch behandelt werden können. Diese Vorschläge der Rezeption gilt es zum Abschluss dieses Zwischenkapitels noch zu vergegenwärtigen. 5.2.3 Die Politisierbarkeit sozialer Fragen Der erste Vorschlag, den ich hier als eine Art Wegbereiter einführen möchte, wird oft Benhabib zugeschrieben, obwohl sich Varianten davon auch bei anderen Autor_innen finden. In ihrem längst selbst zum Klassiker der Arendt-Forschung aufgestiegenen Buch Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne hatte Benhabib drei Weisen vorgeschlagen, wie die Unterscheidung zwischen »dem Politischen« und »dem Sozialen« bei Arendt verstanden werden könnte. Sie könnte, so Benhabib, erstens auf Gegenstandsbereiche bezogen sein. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass »Fragen der ökonomischen Verteilung sozial genannt werden, und zwar im Arendt’schen Sinne des Begriffs, der sowohl den ökonomischen wie auch den richtiggehend sozialen Bereich einschließt, hingegen würden Verfassungsdebatten über Bedeutung, Geltungsbereich und Absicht des Ersten Verfassungszusatzes als politisch bezeichnet werden.« (Benhabib 2006: 223) Zweitens könnten die beiden Bereiche »jedoch auch nach dem Muster von Einstellungen unterschieden werden.« (Ebd.; Hervorh. T. A.) Und drittens könnte die Unterscheidung als eine institutionelle begriffen werden: »Das Gesellschaftliche hätte sich dann auf die Ökonomie und auf die Zivilgesellschaft zu beziehen; wohingegen das Politische auf die Öffentlichkeit, den Staat und seine Institutionen Bezug nehmen würde.« (Ebd.) Während die oben besprochenen Kritiken (vgl. 5.1.2) meistens entweder von der ersten, essentialistisch zu nennenden Unterscheidung ausgehen, das heißt »von genuin sozialen oder politischen Themen« (Weißpflug und Förster 2011: 67; Hervorh. T. A.), oder von der dritten, institutionellen Unterscheidung, plädiert Benhabib – die fairerweise eingesteht, dass »jede dieser Methoden, die Trennlinie […] zu ziehen, […] ihre Probleme [hat]« (Benhabib 2006: 223; Hervorh. T. A.) – dafür, »dass die einzig produktive Methode zur Unter-



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scheidung des Gesellschaftlichen vom Politischen, die auch der Kritik standhalten kann, in der Berücksichtigung von Einstellungen liegt.« (Ebd.: 225) In einem streng textexegetischen Sinne geht Benhabib mit diesem Vorschlag bereits über Arendt hinaus. Sie denkt hier nach eigenem Bekenntnis »mit Arendt gegen Arendt« (ebd.: 199). Denn nicht nur stehen dieser Lesart (zu) viele Stellen bei Arendt gegenüber, an denen sie durchaus »essentialistisch« (Weißpflug und Förster 2011: 68) oder »territorial« (Markell 2011: 16) argumentiert. Ich denke hier an Arendts oben bereits beschriebene Annahme »einer den Tätigkeiten inhärenten Lokalisierbarkeit« (Arendt 2016 [1958]: 90), die »in der Natur der Sache selbst« (ebd.: 96), angelegt sei. Auch sollte spätestens meine Rekonstruktion der Little-Rock-Episode gezeigt haben, dass Arendt selbst sehr wohl die Tendenz hat, in Gegenstandsbereichen – und nicht in Modi – zu denken. Es ist ja nicht so, dass Arendt nicht erkannt hätte, dass der eigentlich von ihr als privat deklarierte Gegenstand Schulbildung in dem Moment, in dem die Little Rock Nine die vormals Weißen vorbehaltene Schule betraten, bereits in einem politischen Modus verhandelt wurde. Im Gegenteil: Es ist diese politische Behandlung eines von ihr eigentlich als privat eingeordneten Gegenstandes, die sie gerade zurückweisen will.267 Trotz dieser Einwände hält Benhabib ihren Vorschlag jedoch für den einzig sinnvoll gangbaren Weg. Rahel Jaeggi hat im Anschluss daran in eine ganz ähnliche Richtung argumentiert. In ihrem schmalen Band Wie weiter mit Hannah Arendt? hat sie Benhabibs Überlegungen aufgenommen und zu einer Theorie der Politisierung ausgebaut. Sie folgt zunächst Benhabibs Appell, »Arendts Grenzziehung zwischen dem Politischen und dem Sozialen […] als eine Unterscheidung [zu] verstehen, die sich weniger auf Gegenstandsbereiche als vielmehr auf den Modus der Thematisierung von Fragen bezieht.« (Jaeggi 2008: 6 f.) Demnach ginge es Arendt dann »weniger darum, Fragen des Haushalts, der Reproduktion oder allgemeiner, der Ökonomie aus dem Bereich des Politi267 Albrecht Wellmer scheint dieselbe Ansicht zu vertreten. Ähnlich wie Benhabib denkt er, dass es »[k]onsequenter« von Arendt gewesen wäre, »hätte sie anerkannt, daß soziale – und ökonomische – Fragen zu politischen Fragen werden, sobald sie in einem Raum öffentlicher Freiheit als gemeinsame Angelegenheiten thematisiert werden.« (Wellmer 1999: 147) Er attestiert Arendt jedoch einen »latenten Konkretismus«; Arendt selbst, so seine Kritik, »tendierte […] aber dazu, die Autonomie des Politischen auch in einem inhaltlichen Sinn zu verstehen« und »einen scharfen Schnitt zu legen zwischen spezifisch politischen Problemen und Gegenständen und solchen, die zur Sphäre der Moral, der sozialen Wohlfahrt, der Privatsphäre, der Ökonomie oder auch des Schutzes von Grundrechten gehören.« (Ebd.: 144)

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schen auszuschließen«, sondern darum, »politische von nicht- oder vorpolitischen Weisen der Behandlung (bzw. Nichtbehandlung) von Fragen des gemeinsamen Lebens zu unterscheiden.« (Ebd.: 7) In einem nächsten Schritt nimmt Jaeggi aber – hier geht sie über Benhabib hinaus – die These von der Spezifik und Autonomie des Politischen noch ernster: »Kein Bereich«, so Jaeggi weiter, »wäre dann von sich aus politisch oder unpolitisch; alles hingegen kann, muss aber auch erst politisiert werden.« (Ebd.; Hervorh. T. A.) Aber wie stellt sie sich eine solche Politisierung vor? Was muss geschehen, damit eine vormals soziale Frage zu einer politischen wird? Die Antwort, die Jaeggi gibt, ist so einfach wie verblüffend: »Politisch werden soziale Fragen offensichtlich nach Arendts Auffassung […] dann, wenn sie als von Menschen gemachte dechiffriert werden können.« (Ebd.: 13) Dies ist der Fall, wenn, wie Jaeggi nicht zufällig in einer Adorno-nahen Terminologie formuliert, »[a]us einem Naturereignis […] gesellschaftlich hergestelltes, von Menschen verschuldetes Unrecht, aus schicksalhaften Mächten ein von Menschen ins Werk gesetztes falsches Leben« (ebd.) wird. Und sie fügt hinzu: »Was von Menschen gemacht ist, muss nicht so sein, wie es ist; es kann von Menschen – handelnd – verändert werden.« (Ebd.) Wie aber kann ein »von Menschen ins Werk gesetztes falsches Leben« als ein solches erkannt werden? Wie können gesellschaftliche Verhältnisse als von Menschen gemachte dechiffriert werden? Für die Antwort auf diese Frage beruft sich Jaeggi auf eine Stelle aus Über die Revolution, an der Arendt über den jungen Marx spricht. Obwohl Jaeggis Vorschlag systematisch noch ein Stück weit produktiver ist als der von Benhabib, ist es ihr so zugleich gelungen, ihn stärker in Arendts Text zu verankern. Denn relativ zu Anfang des in diesem Zusammenhang zentralen zweiten Kapitels »Die soziale Frage« hat Arendt im Revolutionsbuch einige anerkennende Bemerkungen zu Marx fallenlassen. Und zwar zollt sie dem jungen Marx (und nur dem jungen, dazu gleich mehr) hier Anerkennung dafür, die vormals soziale Frage der Armut politisch gedeutet zu haben. Der große Verdienst des jungen Marx, so schreibt Arendt, sei die »Transformation der sozialen Frage in einen politischen Faktor« (Arendt 2020 [1963]: 90; vgl. auch Jaeggi 2008: 7) gewesen. Es war wirksam und originell von Marx, so Arendt weiter, »daß er die drängende Not der Massenarmut politisch auslegte und so in jenem Aufstand, der der Not entsprang, eine Revolution für die Sache der Freiheit sah. Was die Französische Revolution ihn lehrte, war, daß Armut ein politischer Faktor allerersten Ranges sein kann.« (Arendt 2020 [1963]: 89) Das begriffliche Handwerkszeug, mit dem Marx diese Umdeutung geleistet hat, war der Be-



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griff der »Ausbeutung«. Marx’ Ausbeutungsbegriff wird im Revolutionsbuch zwar nicht eingängiger rekonstruiert, Arendt hebt jedoch seine Leistung als kritisches Instrument hervor: Der Begriff habe deutlich gemacht, »daß Armut nicht ›natürlich‹ ist, sondern die Folge davon, daß eine Gruppe von Menschen sich in den Besitz der Gewaltmittel zu setzen gewußt hat und so zur ›herrschenden Klasse‹ wurde.« (Ebd.: 90) Wie weit die ideengeschichtliche Dimension von Jaeggis These – also die Behauptung, dass sich ihre Deutungsalternative bei Arendt bereits angelegt findet – trägt, muss hier nicht abschließend geklärt werden. Ihr stehen ähnliche Textstellen und Gegenargumente entgegen, wie sie schon Benhabibs Vorschlag gegenübergestanden hatten. Auffällig ist zudem, dass Richard Bernstein schon zwanzig Jahre vor Jaeggi auf die Marx-Stelle in Über die Revolution verwiesen hat.268 Nun kann die mehrfache Berufung auf dieselbe Textstelle so gedeutet werden, dass auch andere Leser_innen den hier unterbreiteten Vorschlag plausibel finden. Sie kann aber auch ein Symptom des Umstands sein, dass es einfach nicht viele andere Textstellen bei Arendt gibt, die diese Lesart stützen.269 Denn Stellen, an denen Arendt soziale Fragen als politisierbare beschreibt, sind rar und ihnen stehen (zu) viele andere – hier teilweise bereits zitierte – gegenüber, in denen sie sehr wohl essentialistisch 268 Bernstein (1986: 300) zitiert die Stelle lediglich in einer Fußnote und bemerkt, dass seine Kollegin Sara Shumer dafür argumentiert habe, Arendt als Theoretikerin der Transformation von sozialen Fragen in politische zu lesen. Der Text Sara Shumers, in dem das geschehen sein soll, wird von Bernstein aber nicht zitiert und ich habe ihn nicht gefunden. 269 Mir selbst sind nur zwei weitere Textstellen bekannt, die diese Interpretation stützen könnten. Eine findet sich in der bereits zitierten Stelle aus der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto. Auf Mary McCarthys Bitte hin, ihren Politikbegriff einmal inhaltlich zu konkretisieren, antwortet Arendt (der eigentlichen Frage ausweichend) mit den Worten: »Zu allen Zeiten werden die Menschen, die miteinander leben, Angelegenheiten haben, die in den Bereich des Öffentlichen gehören – die ›es wert sind, in der Öffentlichkeit beredet zu werden‹. Was das im jeweiligen historischen Augenblick für Sachen sind, ist wahrscheinlich äußerst verschieden.« (Arendt 2013 [1972]: 90 f.) Das ist nicht nur sehr vage, sondern Arendt scheint hier auch eher von einem längerfristigen historischen Wandel der Lebensformen auszugehen, denn von einer Ad-hoc-Politisierung im aktivistischen Sinne. Denn sie ergänzt: »Im Mittelalter zum Beispiel waren die großen Kathedralen die öffentlichen Räume, die Rathäuser kamen erst später hinzu. […] Was also zur jeweils gegebenen Zeit öffentlich wird, scheint mir äußerst verschieden zu sein. Es wäre ganz interessant, dies in einer Art historischen Untersuchung zu verfolgen« (ebd.: 91). Eine zweite mir bekannte Stelle, die sich noch eindeutiger in so eine Stoßrichtung deuten lässt, entstammt dem Aufsatz Wahrheit und Politik. Arendt warnt hier vor der »Gefahr, Tatsächliches für notwendig und daher für unabänderbar zu halten« (Arendt 2012 [1972]: 363).

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zu argumentieren scheint. Wenn diese nicht gar überwiegen, so halten sie sich mindestens die Waage.270 Auch für diesen Vorschlag stellt die Episode um Little Rock zudem die Probe aufs Exempel dar. Denn wenn es Arendt selbst um Politisierung gegangen wäre, dann wären die Ereignisse um Little Rock die ideale Gelegenheit gewesen, um einen solchen Politisierungsvorgang zu exemplifizieren: Handelt es sich doch um ein Paradebeispiel für eine vormals private Frage, die zu einer politischen wurde.271 Ich tendiere daher zu der Auffassung, dass die von Jaeggi zitierte Stelle (und die beiden von mir ergänzten) nicht ausreichen, um Arendt schon selbst eine eigene Theorie der Politisierung zuzuschreiben. Selbst wenn sie mit der Idee gespielt haben sollte: Ausgearbeitet hat sie sie nicht. Trotzdem ist das kurze Marx-Referat aus Über die Revolution aufschlussreich. Ich schlage aber vor, es (leicht) anders zu deuten, als Jaeggi das getan hat. Nicht als Beleg dafür, dass Arendt bereits eine umfassende Theorie der Politisierung vorgelegt hat, sondern, im Gegenteil, als das Eingeständnis des Mangels einer solchen. Es fällt doch auf, dass Arendt Marx zwar auf drei Seiten dafür lobt, die soziale Frage politisch gedeutet zu haben, in ihrem sonstigen Werk aber niemals wieder auf dieses Problem eingeht. Sie lobt Marx für seine Kritik sozialer Verhältnisse, vielleicht ahnend, dass eine solche mit ihrem eigenen begrifflichen Apparat schwer vorzunehmen ist. Arendt fragt hier nach einem Kritikbegriff. Einem Kritikbegriff, der in ihrem eigenen Werk noch nicht zu finden ist, von dem sie aber denkt, dass sie ihn bei Marx gefunden hat. Zumindest an der von ihr rekonstruierten Stelle. Denn auch diese, zugegebenermaßen ohnehin schon etwas wohlwollende Lesart, muss noch mit einer Einschränkung versehen werden: Arendt beruft sich ausschließlich – ich hatte es bereits angedeutet – auf den jungen Marx. Nur dessen Kritikform erscheint ihr mit ihrem eigenen Projekt kompatibel: Sie lobt den jungen Marx für seinen ent-naturalisierenden und rein negativen Kritikbegriff. Ent-naturalisierend ist dieser, weil Marx aufgezeigt hat, »daß Armut nicht ›natürlich‹« (ebd.), sondern menschengemacht ist. Was aber von Menschen gemacht ist, das kann durch menschliches Handeln auch wieder verändert werden. Negativ ist dieser, weil der junge Marx den Revolutionär_innen zwar zeigt, dass die

270 Für eine Diskussion des Verhältnisses der essentialistischen zu den konstruktivistischen Stellen bei Arendt vgl. Markell (2011). 271 In ihrem Aufsatz Die Krise in der Erziehung problematisiert Arendt vielmehr »die Tatsache«, dass Erziehung »zu einem politischen Problem […] geworden ist« (Arendt 2012a [1958]: 255).



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Verhältnisse verändert werden können, jedoch keine konkreten Vorgaben darüber macht, wie das genau getan werden sollte.272 Es ist der späte Marx, den Arendt immer wieder für seinen geschichtsphilosophisch gedachten Ökonomismus sowie für seine Utopie eines Zustandes, in dem alle menschlichen Tätigkeiten – Arbeiten wie Handeln gleichermaßen – überflüssig wären, kritisierte: »In der Geschichte der menschlichen Freiheit wird Marx’ Platz so zweideutig bleiben wie die Revolutionen, die durch seine Lehren inspiriert wurden. Zwar hat niemand so überzeugend die soziale Frage politisch gedeutet wie der junge Marx, niemand auch so zündend von dem Elend der Massen als dem Resultat menschlichen Unrechts, von Unterdrückung und Ausbeutung, gesprochen wie er; aber es war schließlich der gleiche Marx, dem in eigentlich allen Schriften nach dem Kommunistischen Manifest der echt revolutionäre Elan seiner Jugend in pseudowissenschaftlichen, ökonomischen Begriffen erkaltete. Wo man bisher nur die ewig gleichen Naturbedingungen menschlichen Lebens auf Erden gesehen hatte, hat er als erster die Willkür der Gewalt und Unterdrückung entdeckt; aber dies hat ihn am Ende auch nur dazu geführt, das eiserne Gesetz historischer Notwendigkeit in jede Gewalttat und jede Vergewaltigung hineinzuinterpretieren.« (Ebd.: 92) Der späte Marx ist in Arendts Darstellung also irgendwann von dem rechten Weg abgekommen, den der junge Marx eingeschlagen hatte. Ein Theoretiker, der, um im Bild zu bleiben, zeit seines Schaffens auf genau diesem Weg weitergewandert ist, ist Adorno. Das zu zeigen, ist das Thema des nun folgenden letzten Abschnitts der Arbeit.

272 So zumindest Arendts Lesart. Ob das eine akkurate Marx-Interpretation ist, ist hier uninteressant. In ihrem Aufsatz Über den Zusammenhang von Denken und Moral lobt Arendt auch Sokrates ausdrücklich für sein negativistisches Vorgehen: »Denn wenn wir die sokratischen Dialoge betrachten, so ist da niemand unter den Gesprächspartnern des Sokrates, der jemals einen Gedanken hervorbrachte, der nicht ein Windei war. Sokrates tat eigentlich das, was Plato, sicherlich im Gedanken an ihn, von den Sophisten sagte: Er befreite Menschen von ihren ›Meinungen‹, das heißt von jenen nicht untersuchten Vorurteilen, die das Denken verhindern, indem sie die Annahme nahelegen, daß wir wissen, wo wir nicht nur nicht wissen, sondern auch nicht wissen können, und half ihnen, so Plato weiter, das, was schlecht in ihnen war, ihre Meinungen, loszuwerden, ohne allerdings sie gut zu machen, ihnen Wahrheit zu geben.« (Arendt 2012 [1971]: 142; Hervorh. T. A.)

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5.3 Mit Adorno gegen Arendt Ein Kritikverständnis, das Arendts politischer Theorie angemessen wäre, so habe ich zum Ende des vorangegangenen Unterkapitels angedeutet, müsste durchgängig das leisten, was Arendt Marx’ Begriff der Ausbeutung für die Frage der Armut attestiert hatte: Es müsste eine vormals soziale in eine politische Frage überführen helfen. Diese Überführung impliziert zweierlei: Soll die Politisch-sozial-Unterscheidung (und mit ihr ihre kritische Pointe) nicht zugunsten einer Konstellation aufgegeben werden, »in der alles und damit zugleich nichts politisch ist« (Hebekus und Völker 2012: 21), muss sie erstens eine Strategie der Entnaturalisierung verfolgen. Ein solches Kritikverständnis muss also aufzeigen, dass gesellschaftliche (Herrschafts)verhältnisse nicht naturgegeben sind, sondern – wie Arendt es in Bezug auf das Thema Armut formuliert hatte – »die Folge davon, daß eine Gruppe von Menschen sich in den Besitz der Gewaltmittel zu setzen gewußt hat und so zur ›herrschenden Klasse‹ wurde.« (Arendt 2020 [1963]: 90) Wo »man bisher nur die ewig gleichen Naturbedingungen menschlichen Lebens auf Erden gesehen hatte«, da gilt es, »die Willkür der Gewalt und Unterdrückung [zu] entdeck[en]« (ebd.: 92). Darüber hinaus dürfte ein Arendts Politisierungstheorie angemessener Kritikbegriff zweitens jedoch nur dies leisten. Das heißt, er dürfte nur zeigen, dass es sich bei den aktuell existierenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht um Naturbedingungen handelt, dass die Dinge also nicht so sein müssen wie sie sind. Er müsste das zuvor »Undenkbare denkbar« machen, um einen »Möglichkeitssinn« (Marchart 2019: 172) in den (potentiell politisch handelnden) Akteur_innen zu stiften. Ein Arendts Theorie angemessener Kritikbegriff dürfte über diese Bewusstmachung von Handlungsspielräumen aber nicht hinausgehen. Er dürfte nicht, wie Marx das (selbst bereits persiflierend) formuliert hatte, »der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen[treten]: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder!« (Marx 2017 [1844]: 345) Denn ein solches mit einer bereits a priori bekannten Wahrheit operierendes Kritikverständnis würde auf einer grundsätzlicheren Ebene in Konflikt mit Arendts Politikbegriff geraten. Eine Auffassung nämlich, die davon ausgeht, es gebe eine feststellbare Wahrheit, die politisch bloß umgesetzt werden müsste, fällt bei Arendt in die Kategorie des Herstellens, nicht aber in die des (politischen) Handelns. Genau ein solcher Kritikbegriff aber – also einer, der auf die Entnaturalisierung der »verselbstständigten Macht des Sozialen« (Han 2016: 18) zielt, sich zugleich jedoch auf diese Entnaturalisierung beschränkt – findet sich



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bei Adorno. Das Ziel von Adornos kritischer Theorie ist die »Entmythologisierung« (Adorno 2003c [1966]: 148) oder »Entzauberung« (Adorno 2003 [1954]: 477) der als übermächtig erfahrenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Zugleich beschränkt sich Adorno auf diese Entzauberung. Er vertritt einen strikten Negativismus. Adornos Philosophie, so werde ich im folgenden Abschnitt zeigen, ist im Kern eine »Philosophie des Nein-Sagens« (Han 2016: 27), des Nein-Sagens zum gesellschaftlichen Ist-Zustand. Jegliche Vorstellung davon, »wie es besser wäre« (Bittner 2009: 134), wird von ihm dann aber ausdrücklich mit einem strengen »Bilderverbot« (Adorno 2003c [1966]: 207) belegt. Mit etwas Wohlwollen ließe sich vielleicht sagen: Adorno überlässt die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse dann der kollektiven Praxis: der Politik.273 Damit aber scheint sein Kritikbegriff ideal geeignet zu sein, um eine Politisierung im Arendtschen Sinne vorzubereiten. Etwas zugespitzt formuliert: Gerade Adornos Zurückhaltung bei »positiven Vorschlägen« (Adorno 2003e [1969]: 793), die ihm in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit politischen Handelns zum Problem wurde, stellt hier – bei der Frage nach einem Kritikbegriff, der Arendts Politisierungsstrategie ergänzen könnte – eine Stärke dar. Am Anfang eines Abschnitts, der versucht, Adornos Kritikverständnis auf einen Begriff zu bringen, steht man zunächst vor einer ähnlichen Schwierigkeit, vor der wir schon zum Beginn des Abschnitts zu Arendts Politikverständnis (4.3) standen. Ähnlich wie es für die Politische Theorie Arendts der Fall war, ist es gar nicht so einfach, ohne weiteres von dem (einen) Kritikbegriff Adornos zu sprechen. Vielmehr, so viel dürfte sich im Verlauf der Arbeit schon angedeutet haben, scheint Adorno mehrere unterschiedliche Strategien nebeneinander zu verfolgen. Wer sich daran macht, Adornos Kritikbegriff auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, steht gleich zu Beginn dieses Unterfangens vor der Frage, was die im ersten Kapitel beschriebenen Aphorismen über das beschädigte Leben des Intellektuellen im Exil mit der (hypothetischen) Urgeschichte der Zivilisation aus dem zweiten Kapitel zu tun haben. Und was hat es mit der Methode der Negativen Dialektik auf sich, die in Kapitel drei Thema war? Welche Rolle spielen gar die eher gesellschaftstheoretischen, politisch-aufklärerischen Eingriffe und erziehungs273 Die These, dass Adornos um das Konzept der Negativität konzentrierter Kritikbegriff, implizit, aber dennoch bewusst, letztendlich auf politische Praxis zielt, hat Sangwon Han (2016) in Buchlänge verteidigt. Für Han ist allerdings die Negation des Bestehenden bereits eine Form von Politik. Er spricht daher auch von der »Politik der Negativität« (Han 2016: 137).

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theoretischen Schriften, die ich im vierten Kapitel besprochen habe? Das erste von zwei Hauptzielen dieses letzten Kapitels ist es daher, die zentralen Eigenschaften von Adornos Kritikbegriff herauszuarbeiten, die allen diesen genannten Formen zugrunde liegen. Das zweite besteht darin, aufzuzeigen, dass diese Eigenschaften das Potential haben, Arendts politische Theorie zu informieren. Eine mögliche Antwort auf die Frage, wie Adornos Kritikverständnis auf den Begriff zu bringen sei, besteht in der Titulierung seines Denkens als Ideologiekritik. Nicht nur, aber vor allem in der englischsprachigen Sekundärliteratur ist diese Charakterisierung recht gängig. Für mein Projekt stellt diese Beschreibung allerdings keine Lösung, sondern zunächst einmal ein zusätzliches Problem dar. Denn wenn die Klassifizierung Adornos als Ideologiekritiker – endgültig und ohne weitere Qualifikation – zuträfe, dann würde mein Vorschlag hier, gleichsam auf den letzten Metern, an seine Grenze stoßen. Das Verfahren der Ideologiekritik scheint gerade kein dem Arendtschen Projekt angemessenes Kritikverständnis zu sein: War sie doch eine ausgesprochene Opponentin des ideologiekritischen Gestus. Von einigen Autor_innen ist sogar explizit argumentiert worden, dass Ideologiekritik dem Arendtschen Projekt zuwiderläuft, diesem gar diametral entgegensteht (vgl. Förster 2016; Kuchler 2015: 188 f.; Weißplug 2019: 104–114). Ich möchte den letzten Abschnitt dieser Studie daher damit beginnen, diesen potentiellen Einwand zunächst zu entkräften. Das soll von zwei Seiten aus geschehen. Zum einen werde ich zeigen, dass es eine sehr spezifische Form von Ideologiekritik ist, für die Adorno eintritt. Sein Verständnis von Ideologiekritik, das auch einfach als immanente Kritik bezeichnet werden könnte, kommt ohne externe Maßstäbe oder die Annahme einer privilegierten Perspektive der Theoretiker_innen aus und misst die spätkapitalistische Gesellschaft nur an ihren eigenen, internen Maßstäben. Anders als es in vielen anderen linkshegelianischen Theorien der Fall ist, geschieht dies bei Adornos außerdem nicht mit dem Ziel, in einem zweiten Schritt zur Verwirklichung des vollen Potentials der noch nicht erfüllten eigenen Maßstäbe aufzurufen. Sondern es geht ihm, bescheidener, lediglich um den Ausweis von deren kontingentem Charakter. Am Grunde seiner Ideologiekritik liegt ein Negativismus, der nicht sagt – ja nicht einmal genau weiß –, wie ein besserer Zustand zu denken sei und der also gerade nicht dem von Arendt verworfenen Handeln-wie-Herstellen-Modell der Politik aufsitzt (5.3.1). Zum anderen ist Ideologiekritik nur ein Teil von Adornos umfangreicherem kritischen Projekt (größtenteils) immanenter Kritik. Ich schlage daher vor,



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den Negativismus – und nicht die Ideologiekritik – als einendes Zentrum von Adornos Kritischer Theorie anzuerkennen (5.3.2) und als mögliche Ergänzung von Arendts Politiktheorie in Anschlag zu bringen (5.3.3). 5.3.1 Arendt, Adorno und das Problem der Ideologiekritik Nachdem das sozialphilosophische Verfahren der Ideologiekritik lange wie ein Auslaufmodell erschien, erlebt das Kritikmodell seit einigen Jahren ein erstaunliches Revival.274 Diese Rückkehr der Ideologie (vgl. Beyer und Schauer 2021) geht jedoch mit der Ablösung von einigen als problematisch erachteten Grundannahmen klassischer Verständnisse von Ideologie und Ideologiekritik einher. Adorno spielt bei diesen Reaktualisierungsversuchen höchstens noch die Rolle eines Strohmanns. Sein Verständnis von (Ideologie)kritik fungiert als Beispiel für die radikal-totalisierende Variante dieser Kritikform, von der man sich heute gerade abgrenzen will. So attestieren Rahel Jaeggi und Robin Celikates (2017: 106) Adorno einen »totalisierenden Gebrauch« des Ideologiebegriffs, der zu strikt zwischen »falschem und wahrem Bewusstsein« unterscheide. Ein solches Verständnis von Ideologie und deren Kritik erachten viele zeitgenössische Philosoph_innen jedoch als problematisch. Denn: »Von welchem Standpunkt aus lässt sich die ideologische Verblendung diagnostizieren?« (Ebd.) Adorno ist dieser Lesart nach bestenfalls ein Vertreter klassischer Ideologiekritik, wie sie von Marx und Engels in Die deutsche Ideologie epochemachend entwickelt wurde. Im schlechteren Fall steht er gar für eine radikalisierte Variante dieses Ideologiebegriffs (ebd.: 104). Wäre diese Interpretation zutreffend, dann würde Adornos Kritische Theorie tatsächlich konträr zu Arendts Projekt stehen. Denn der Punkt, den Jaeggi und Celikates kritisieren – dass die Ideologiekritiker_innen zu objektiv zwischen wahr und falsch unterscheiden zu können glauben und zudem auch noch eine privilegierte Einsicht in ebendiese Wahrheit zu besitzen beanspruchen – ist auch von Arendt zeit ihres Schaffens kritisiert worden. Genau ein solches Kritikverständnis ist aus Arendtscher Perspektive besonders problematisch. Ich möchte im Folgenden zunächst noch einmal verdeutlichen, warum das der Fall ist. Denn Arendts Kritik an der Ideologiekritik scheint zunächst einmal ein Problem für meinen Vorschlag darzustellen. 274 Der Motor der aktuellen ideologiekritischen Renaissance liegt dabei eher im angloamerikanischen Sprachraum. Auffällig ist zudem, dass sich diese vor allem in der analytischen Philosophie ereignet (vgl. Anderson 2019; Haslanger 2017; Stanley 2018; Rössler 2017: 337–351).

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Arendt und das Problem der Ideologiekritik. Arendt stand dem ideologiekritischen Projekt ausgesprochen skeptisch gegenüber. In einem 1953 gehaltenen Vortrag zum Thema Religion und Politik beschäftigt sie sich beispielsweise mit Marx’ »Weigerung, das ernst zu nehmen, was jede Epoche ›von sich selbst sagt und sich einbildet‹« (Arendt 2012a [1953]: 313). Sie sieht sein Vorgehen ambivalent: »Er war der erste, der sich die Geschichte systematisch – und nicht nur mit dem natürlichen Wissen darüber, daß Worte sowohl die Wahrheit verhüllen wie enthüllen können – ansah und feststellte, wie sie sich in den Äußerungen der großen Staatsmänner oder den intellektuellen und spirituellen Manifestationen einer Epoche enthüllte. Er weigerte sich, irgendeine von ihnen in ihrer Oberflächenbedeutung zu nehmen, und brandmarkte sie als ›ideologische‹ Fassaden, hinter denen sich die wahren geschichtlichen Kräfte verbergen. Später nannte er dies den ›ideologischen Überbau‹, doch am Anfang stand seine Entscheidung, das, was die Menschen sagen, nicht ernst zu nehmen« (ebd.: 312). Auch an vielen anderen Stellen finden sich bei Arendt immer wieder (und nicht selten: polemische) Spitzen gegen Kritikverständnisse, »deren Sinn und Ziel die Entlarvung ist« (Arendt 2020 [1963]: 13; vgl. auch ebd.: 146; 2012 [1961]: 18).275 Dabei handelt es sich laut Arendt keinesfalls um ein Problem, das die Ideologiekritik exklusiv beträfe. Ihre »Kritik der Ideologiekritik« ist vielmehr in die im dritten Kapitel rekonstruierte »weitreichende Betrachtung und Abkehr von der Tradition der abendländischen Philosophiegeschichte eingebettet, in die Arendt [eben auch, T. A.] Marx und die 275 Ob es irgendeine Theorieform gibt, die von solchen Tendenzen ganz frei ist, ist eine offene Frage. Arendts eigenes Werk ist es meines Erachtens jedenfalls nicht immer. Das kann man zum Beispiel in der Einleitung ihres Buches Über die Revolution sehen, in der sie zuerst jene »Zweige […] der Gesellschaftswissenschaften« kritisiert, »deren Sinn und Ziel die Entlarvung ist« (Arendt 2020 [1963]: 13), nur um drei Seiten später selbst so vorzugehen, wenn sie in der Debatte um Kommunismus und Antikommunismus »beiden Seiten […] einen geheimen Vorbehalt nachweisen« will und erklärt, was diese doch »in Wirklichkeit« und »in Wahrheit« (ebd.: 16; Hervorh. T. A.) meinen. Auch mit Bezug auf die Ideen der amerikanischen Gründerväter bemerkt sie später, man könne »niemals sicher sein, ob solche Worte im Ernst gemeint oder konventionell dahingesagt sind« (ebd.: 210 f.), weshalb sich Arendt mehr als einmal in dem Buch mit der Frage beschäftigt, was »[i]n Wahrheit« (ebd.: 288) gemeint war oder was eine bestimmte Formulierung unter der Oberfläche »verrät« (ebd.: 191). In ganz seltenen Fällen erachtet sie Ideologiekritik sogar offen als legitim, zum Beispiel im Fall von Kriegspropaganda: »Die Suche nach verborgenen Motiven ist hier völlig gerechtfertigt.« (Arendt 2012a [1953]: 315)



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Ideologiekritik stellt.« (Weißpflug 2019: 113) Das Problem besteht nach Arendts Rekonstruktion seit Platon. Marx ist für sie weniger der Begründer des ideologiekritischen Gestus, sondern stellt nur die letzte Zuspitzung einer Art zu denken dar, wie sie nach Arendt seit Platons Höhlengleichnis in der Philosophie vorherrscht. Es sind – je nach Zählart – zwei oder drei Schwierigkeiten, die Arendt mit dem entlarvenden Denken hat: Bedenklich am ideologiekritischen Gestus ist aus Arendts Perspektive erstens »der objektive Wahrheitsanspruch« (Förster 2016: 3). Denn aus einem Anspruch auf objektive – und damit per definitionem nicht verhandelbare – Wahrheit folgt für sie notwendigerweise die Abwertung von Meinungen und damit von Pluralität. »Philosophische Wahrheit«, schreibt Arendt in ihrem Aufsatz Wahrheit und Politik, ist »ihrem Wesen nach unpolitisch.« (Arendt 2012 [1972]: 348) Arendt geht davon aus, »daß der unerschöpfliche Reichtum des menschlichen Gesprächs unweigerlich zum Stillstand kommen müßte, wenn es eine Wahrheit gäbe, die allen Streit ein für allemal schlichtet« (ebd.: 333 f.). Der zwingende, Kontingenz und Alternativen ausschließende »Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt«, legt nach ihr daher »die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen« (ebd.: 333). Wo Wahrheit herrscht, da gibt es keine (legitime) Meinungsverschiedenheit. Zweitens und eng damit zusammenhängend ist von einigen Arendt-Leser_innen auf den »Bruch mit der Teilnehmerperspektive« (Förster 2016: 3) hingewiesen worden, den die Ideologiekritiker_innen vollziehen müssen. Denn nicht nur gehen Letztere von der eben beschriebenen Existenz einer objektiven Wahrheit aus, sondern sie beanspruchen auch eine privilegierte Einsicht in diese, die den »›gewöhnlichen‹ Akteuren« (Celikates 2009: 21) verwehrt bleibt: »Der Ideologiekritiker kennt die wahren Interessen und Bedürfnisse der Unterdrückten, da er nicht geblendet ist und den ideologischen Schein durchschaut.« (Förster 2016: 3) Aus diesen beiden genannten Problemen ergibt sich drittens ein teleologisches Handlungsmodell. Denn wer die objektive Wahrheit kennt, muss auf diese nur noch hinarbeiten. Verhandelbar ist maximal noch das beste Mittel zu diesem Zweck. Der Zweck selbst ist es jedoch nicht mehr. Ein solches teleologisches Handlungsmodell aber ist gar kein Handlungsmodell im Arendtschen Sinne. Es bedeutet vielmehr, wie es in ihrer Terminologie heißt, Handeln mit Herstellen zu verwechseln (Arendt 2016 [1963]: 375–388). Denn es ist das Herstellen, dem es eigen ist, »daß es immer in der Zweck-Mittel-Kategorie erfolgt, die überhaupt den

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ihr einzigen legitimen Ort in der Sphäre des Herstellens und Fabrizierens hat.« (Arendt 2012c [1958]: 291) Im Aktionsmodus des Herstellens gerät den Menschen alles zum Mittel, sie denken, in Adornos Terminologie, instrumentell. Es scheint, als stünde das Verfahren der Ideologiekritik in einem unlösbaren Spannungsverhältnis zum Arendtschen Politikbegriff. Und vielleicht nicht nur zum Arendtschen. In seinem 2016 unter dem Titel Metakritische Reflexionen des Realismus. Hannah Arendt und das Problem der Ideologiekritik erschienenen Aufsatz geht Jürgen Förster sogar so weit und bringt das im vierten Kapitel dieser Arbeit ausführlich behandelte Problem des Politikdefizits im Denken von Adorno (und seinen Kolleg_innen am Frankfurter Institut für Sozialforschung) direkt mit dem Problem der Ideologiekritik in Verbindung: »Wenn«, so schreibt Förster hier, »das Politische und die Politik sowohl im Marxismus als auch in der Kritischen Theorie von Adorno, Horkheimer und Marcuse kaum berücksichtigt wurden, ist das meines Erachtens durch die zentrale Stellung der Ideologiekritik bedingt.« (Förster 2016: 3) Auch wenn ich denke, dass es sich bei der These, Arendt lehne jeglichen Bruch zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive vehement ab, um einen etwas zu eingespielten Gestus der Forschung handelt, deren Richtigkeit einmal einer systematischen Überprüfung unterzogen werden sollte,276 scheinen – mit dem Eintreten der Ideologiekritik für eine objektive Wahrheit und mit dem daraus folgenden Handeln-wie-Herstellen-Modell – genug Gegenargumente zusammenzukommen, um meinem Vorschlag, Arendts politische und Adornos Kritische Theorie zusammenzudenken, kurz vor dem Ziel den Wind aus den Segeln zu nehmen. Eine so verstandene Ideologiekritik ist nicht nur keine geeignete Kritikform, um Arendts politische Theorie zu ergänzen, ja, sie scheint ihr diametral entgegenzustehen. Das ist übrigens eine Ansicht – falls das in meinem Referat dieser Position nicht deutlich geworden sein sollte –, der ich weitestgehend zustimme. Wo ich im Folgenden jedoch widersprechen möchte, ist die zu schnelle und bruchlose Einordnung Adornos in diese Tradition der Ideologiekritik: Zum einen ist Adorno nicht 276 Im ersten Kapitel dieser Arbeit habe ich thematisiert, dass Arendt eine leichte Außenseiterposition durchaus nicht verachtet. In der Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto hat sie die Qualitäten der_des Paria ausdrücklich auf ihre eigene Position als politische Theoretikerin übertragen, die, »wenn es um die Politik ging«, den »Vorteil« hatte, »auf etwas von außen zu sehen«, gerade weil sie »von Natur aus kein Handlungsmensch« (Arendt 2013 [1972]: 79) sei. Wie Theorie – also die Reflexion über gesellschaftliche Verhältnisse – ganz ohne (leichte und diesen Umstand reflektierende) Außenperspektive auf diese Verhältnisse funktionieren soll, ist mir ohnehin unklar.



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nur Ideologiekritiker. Er betreibt Ideologiekritik als eine Methode neben anderen. Zum anderen ist es eine sehr spezifische Variante der Ideologiekritik, derer er sich bedient. Eine Variante, die in einer nicht-paternalistischen Art und Weise vorgeht, ohne eine objektive Wahrheit zu verkünden und ohne ein teleologisches Handlungsmodell zu propagieren.277 Ich möchte so weit gehen vorzuschlagen, dass seine Kritische Theorie als der Versuch verstanden werden kann, einen Kritikbegriff zu entwickeln, für den die Bedenken, die Arendt gegen die Ideologiekritik geäußert hat, nicht gelten. Dies zu zeigen, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. Adornos Ideologiekritik. Adornos Einordnung in die Tradition der Ideologiekritik wird nicht nur von Verteter_innen des aktuellen ideologiekritischen Revivals und in kritischer Absicht vorgenommen. Auch von wohlwollenderen Leser_innen wird er regelmäßig mit dem Titel des Ideologiekritikers bedacht. Insbesondere in der englischsprachigen Sekundärliteratur ist diese Charakterisierung recht gängig.278 Ich finde diesen Umstand zunächst einmal verwunderlich und ich stehe mit dieser Haltung nicht alleine da. In seiner Studie Adorno and the Political wundert sich zum Beispiel auch Espen Hammer: »Considering how common it is to think of the early Frankfurt School as being primarily engaged in ideology critique, it may be surprising to find that the notion of ideology appears rather infrequently in Adorno, and that when it appears it is usually surrounded by a set of anxious qualifications regarding its meaning and viability as a focal-point with reference to which critique can occur.« (Hammer 2006: 83 f.) Diese Reihe an Qualifikationen, mit denen Adorno die Ideologiekritik laut Hammer versieht, will ich mir im folgenden Abschnitt genauer ansehen. Es wird dabei meine These sein, dass Adorno da, wo er sich überhaupt auf diese Kritikform beruft, eine spezifische Variante von Ideologiekritik im Sinn hat, auf die die Arendtschen Einwände gegen diese Kritikform – privilegierte Einsicht der Theoretiker_innen in objektive Wahrheit und ein daraus fol277 Dass Adorno kein teleologisches Handlungsmodell propagiert, ist noch zurückhaltend formuliert. Hatte ich im vierten Kapitel doch ausführlich problematisiert, dass er kaum für irgendein Handlungsmodell steht. 278 Für englischsprachige Forschungsbeiträge siehe Cook (2001), Geuss (1981), Grant (2013) und Jameson (1990). Für deutschsprachige Texte, die Adorno als Ideologiekritiker lesen, vgl. Förster (2016) sowie Menke (2010).

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gendes teleologisches Handlungsmodell – gerade nicht zutreffen. Stattdessen zielt Adornos Modell der Ideologiekritik oder der immanenten Kritik, genau wie Arendt es für einen ihrer Politisierungstheorie angemessenen Kritikbegriff gefordert hatte, ausschließlich auf Entnaturalisierung von zuvor für unabänderlich gehaltenem »Gegebenen« und bloßem »So-Sein« (Adorno 2003b [1966]: 685). Ein erster, meine Lesart stützender Hinweis liegt bereits in der Tatsache, dass Adorno sich nur an zwei Stellen überhaupt ausführlich mit Ideologie und deren Kritik beschäftigt: So haben es die Begriffe »Ideologie« und »Ideologiekritik« nur jeweils einmal in die Überschriften von Adorno-Texten geschafft: Einmal als er 1953 einen kurzen medientheoretischen, ursprünglich unter dem Titel How to Look at Television in den USA veröffentlichten Artikel unter der Überschrift Fernsehen als Ideologie (Adorno 2003a [1953]: 518–532) auf Deutsch wiederveröffentlicht sowie das andere Mal in seinem ein Jahr später erschienenen Beitrag zur Ideologienlehre (Adorno 2003 [1954]: 457–477).279 Interessant ist zudem, wie er sich hier auf Ideologie und Ideologiekritik bezieht. Der Beitrag zur Ideologienlehre ist in erster Linie eine Darstellung und Kritik der Ideengeschichte der Ideologiekritik »seit den Anfängen der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts« (ebd.: 458). Bemerkenswert ist auch, dass Adorno den Aufsatz damit beginnt, Ideologienlehren aus der frühen Neuzeit – hierin Arendts Kritik an der Ideologiekritik nicht unähnlich – für ihren Paternalismus zu kritisieren. Es sind zwei Vorwürfe, die er den damaligen Ideologieverständnissen macht. Zum einen arbeiten sie, so Adorno, mit einem überhistorischen Verständnis von Ideologie: Indem solche überhistorischen Ideologieverständnisse ein »falsches Bewußtsein« proklamieren und es zu einer Art »Grundbeschaffenheit der Menschen oder ihrer Vergesellschaftung überhaupt« erklären, werden nicht nur »ihre [die der Ideologie, T. A.] konkreten Bedingungen ignoriert, sondern überdies wird auch die Verblendung gleichsam als Naturgesetz gerechtfertigt und die Herrschaft über die Verblendeten 279 Ich will nicht verschweigen, dass Adorno auch an anderen Stellen vereinzelt von »Ideologie« spricht. Weitere systematische Auseinandersetzungen mit dem Begriff – und vor allem mit dem Begriff der »Ideologiekritik« – sind mir aber nicht bekannt. In der Negativen Dialektik, ihres Zeichens immerhin auch »Methodologie« (Adorno 2003c [1966]: 9) von Adornos materiellen Arbeiten, fällt die Bezeichnung »Ideologiekritik« auf 412 eng bedruckten Seiten nur ganze drei Mal. Als methodologische Selbstauskunft wird der Begriff von Adorno fast nie verwendet. Er nutzt ihn eigentlich nur, wenn er andere Verständnisse von Ideologiekritik referiert.



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daraus begründet« (ebd.: 459). Zum anderen wendet sich Adorno hier ganz explizit gegen Ideologiekritikverständnisse, die den Ideologiekritiker_innen eine archimedische Perspektive einräumen: »Der Anteil an der ewigen Ideen­ welt wird dem vorbehalten, was durchs Ausgenommensein von der physischen Arbeit privilegiert ist.« (Ebd.: 457) Und diese Kritik betrifft für Adorno nicht nur frühneuzeitliche Ideologiekritikkonzeptionen: »Motive solcher Art« würden vielmehr »überall mitklingen, wo von Ideologie die Rede ist« (ebd.). Später im Text hebt er auch noch das »technisch-manipulative Moment« (ebd.: 463) an manchen Spielarten der Ideologiekritik, vor allem der »französischen Schule« (ebd.: 461) der idéologues um Destutt de Tracy, hervor und warnt – an Arendts Teleologievorbehalte gemahnend – vor der »Vorstellung, daß man durchs rechte Wissen um den Chemismus der Ideen die Menschen lenken könne« (ebd.: 464). Der entscheidende Streitpunkt zwischen Arendt und Adorno dürfte viel eher in der Bewertung von Marx’ Ideologieverständnis liegen. Denn während zumindest der späte Marx für Arendt gerade ein Paradebeispiel für den (von Adorno ebenfalls kritisierten) Paternalismus darstellt, ist er für Adorno der Theoretiker, der mit diesen problematischen Ideologieverständnissen gebrochen hat. Auch wenn Adorno – auch dies bezeichnend – in seinem Beitrag zur Ideologienlehre mit keinem Wort erklärt, warum das der Fall sein soll. Zum einen führt er hierfür die älteste Entschuldigung der akademischen Philosophie an: Platzmangel.280 Zum anderen aber – und für die Frage nach Adornos eigenem Ideologieverständnis auch interessanter – könne die »Ideologienlehre des wissenschaftlichen Sozialismus« (ebd.) für die aktuelle, das heißt spätkapitalistische Gesellschaftsformation ohnehin keine Aktualität mehr beanspruchen; zumindest nicht ohne größere Modifikation. Das hat mit einem von Adorno diagnostizierten »Strukturwandel und Funk­tions­ wechsel von Ideologie und Ideologiebegriff« (ebd.) zu tun. In der zweiten Hälfte des Textes möchte Adorno daher »[a]nstatt theoretischer Erörterungen darüber, wie der Ideologiebegriff heute zu formulieren wäre« (ebd.: 473) – man beachte den typischen Konjunktiv –, nur noch »einige Hinweise auf die konkrete gegenwärtige Gestalt der Ideologie selbst« (ebd.) geben. Denn Adorno glaubt, dass sich aktuell, das heißt hier in der verwalteten Gesell280 »Ich verzichte darauf, diese Lehre [des wissenschaftlichen Sozialismus, T. A.] zu behandeln. Im Umriß ist sie allgemein bekannt. Andererseits aber würden die Formulierungen, auf denen sie basiert, insbesondere die Frage nach dem Verhältnis der inneren Konsistenz und Selbständigkeit des Geistes zu seiner gesellschaftlichen Stellung, minutiöse Interpretationen erfordern.« (Adorno 2003 [1954]: 464)

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schaft des Spätkapitalismus, »im spezifischen Gewicht des Geistes etwas Entscheidendes verändert hat.« (Ebd.) Laut Adornos Rekonstruktion war Geist oder Geistiges im bürgerlichen Zeitalter etwas gegenüber den materiellen Verhältnissen Eigenständiges. Nun einmal positiv auf den Ideologiebegriff bezugnehmend schreibt er hierzu: »Von Ideologie läßt sich sinnvoll nur soweit reden, wie ein Geistiges selbständig, substantiell und mit eigenem Anspruch aus dem gesellschaftlichen Prozeß hervortritt.« (Ebd.: 474) Daraus folgt, so das Argument, dass Ideologie ebenso wie sie »Unwahrheit« war, stets auch ein »Wahrheitsmoment« (ebd.) enthielt. Beispielsweise sind die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft Freiheit und Gleichheit auch für Adorno erstrebenswerte Ideale. Darin liegt ihr Wahrheitsmoment. Unwahr oder ideologisch werden sie erst dadurch, dass die gleiche bürgerliche Gesellschaft, die sie propagiert, ihre substantielle Verwirklichung systematisch unterbindet. Im Spätkapitalismus geht aber auch diese fadenscheinige Doppelstruktur noch verloren. Zum einen, so Adornos Diagnose, nehme der Geist gegenüber den »Vorgängen in den Tiefenstrukturen der Gesellschaft […] etwas Ephemeres, Dünnes, Ohnmächtiges« an (ebd.: 473). Diese Annahme war uns im vierten Kapitel unter dem Stichwort des Primats der objektiven, das heißt der materiellen Bedingungen bereits begegnet. Zum anderen, und in diesem Zusammenhang noch interessanter, kommt es immer mehr zu einer Art inhaltlichen Entleerung von Ideologie. Spätestens mit dieser verliert das Geistige seine Selbständigkeit gegenüber den materiellen Verhältnissen vollends: »Das gesellschaftlich bedingte falsche Bewußtsein von heute ist nicht mehr objektiver Geist, auch in dem Sinne, daß es keineswegs blind, anonym aus dem gesellschaftlichen Prozeß sich kristallisiert, sondern wissenschaftlich auf die Gesellschaft zugeschnitten wird. Das geschieht mit den Erzeugnissen der Kulturindustrie, Film, Magazinen, illustrierten Zeitungen, Radio, BestsellerLiteratur der verschiedensten Typen […] und nun in Amerika vor allem auch Fernsehen.«281 (Ebd.: 474 f.) Dadurch schwindet aber auch der Eigengehalt der Ideologie selbst zusehends. Sie wird inhaltlich entleert und zielt nur noch auf die Identifika­ tionen der Massen mit den »powers that be« (Adorno 2003c [1966]: 205). 281 Fernsehen als Ideologie (Adorno 2003a [1953]: 518–532), der zweite einschlägige Text zum Thema Ideologie, den ich oben erwähnt habe, ist der Versuch, diesen Umstand einmal am empirischen Material aufzuzeigen. Vgl. ausführlicher zu dieser Diagnose auch meine Diskussion der Kulturindustrie-These in Abschnitt 4.1.2.



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In den Minima Moralia heißt es dazu prägnant: »[D]ie Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit ist geschwunden. Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren bloße Verdopplung.« (Adorno 2003d [1951]: 241) Ideologie – wenn diese Begriffsverwendung dann überhaupt noch Sinn macht – besagt heute »kaum mehr […], als daß es so ist, wie es ist« (Adorno 2003 [1954]: 477). Wolle man daher in einem Satz zusammenfassen, worauf die Ideologie der verwalteten Gesellschaft hinauslaufe, dann müsse man sie, so Adorno, »als Parodie des Satzes: ›Werde was du bist‹ darstellen: als überhöhende Verdopplung und Rechtfertigung des ohnehin bestehenden Zustandes« (ebd.: 476). Denn: »Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt.« (Ebd.: 477) Die Menschen, so schließt Adorno seine Bestandsaufnahme, nehmen ihre (prekäre) Situation »nicht länger als Ausdruck einer Idee hin, so wie sie noch das bürgerliche System der Nationalstaaten empfinden mochten«, sondern sie »finden sich mit dem Gegebenen ab im Namen von Realismus.« (Ebd.) Diese »neue Ideologie«, so heißt es schon im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung, hat »die Welt als solche zum Gegenstand.« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 170) Ihr einziger Inhalt besteht in einem »Kultus der Tatsache« (ebd.). Die Ideologie des Spätkapitalismus verhüllt nichts mehr, sondern dient nur noch der »Verkündung dessen, was ist.« (Ebd.) Das erschwert zwar, wie ich im nächsten Unterkapitel noch genauer zeigen werde, eine rein immanent verfahrende Gesellschaftskritik, die ansonsten die herrschenden Normen an den tatsächlichen Verhältnissen messen könnte: Im Spätkapitalismus hingegen bleibt »[k]ein Spalt« mehr »im Fels des Bestehenden, an dem der Griff des Ironikers sich zu halten vermöchte.« (Adorno 2003d [1951]: 241) Indem die aktuelle vorherrschende Ideologie sich »darauf beschränkt, das schlechte Dasein durch möglichst genaue Darstellung ins Reich der Tatsachen zu erheben« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 170 f.) mache sie die Arbeit der Ideologiekritiker_innen aber auch einfacher. Denn mit ihrer Wahrheit, das heißt mit ihrem vernünftigen Potential, schrumpft auch ihre Unwahrheit. Das ideologiekritische Projekt wird erleichtert, weil der ideologische Schleier – wenn das Vokabular hier dann überhaupt noch Sinn ergibt – dünner wird. Da ideologische Lügen keinen Eigengehalt mehr haben, der die Menschen anspricht, wie es für die Idee der Freiheit und Gleichheit der Fall gewesen ist, werden sie leichter zu durchbrechen. So konstatiert Adorno am Ende seines Beitrags zur Ideologienlehre:

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»Seitdem aber die Ideologie kaum mehr besagt, als daß es so ist, wie es ist, schrumpft auch ihre eigene Unwahrheit zusammen auf das dünne Axiom, es könne nicht anders sein als es ist. Während die Menschen dieser Unwahrheit sich beugen, durchschauen sie sie insgeheim zugleich. Die Verherrlichung der Macht und Unwiderstehlichkeit bloßen Daseins ist zugleich die Bedingung für dessen Entzauberung.« (Adorno 2003 [1954]: 477) Anders ausgedrückt: Weil »Ideologie und Realität derart sich aufeinanderzubewegen«, weil die »Realität mangels jeder anderen überzeugenden Ideologie zu der ihrer selbst wird, bedürfte es nur einer geringen Anstrengung des Geistes, den zugleich allmächtigen und nichtigen Schleier von sich zu werfen.« (Ebd.) Mit dieser Wandlung im konkreten Gehalt der Ideologie verändert sich aber auch das zentrale Ziel der Ideologiekritik: Wenn die Ideologie selbst nur noch in einem »Pseudorealismus« (Adorno 2003a [1953]: 525) besteht, also in der Behauptung, dass die Dinge eben so sind, wie sie sind und nicht anders sein könnten, dann wird die »Entzauberung« (Adorno 2003 [1954]: 477) genau dieser Auffassung zum obersten ideologiekritischen Gebot. Oder, um das Vokabular zu verwenden, dessen sich auch Arendt in ihrem oben besprochenen Marx-Referat bedient: Dann benötigt man einen Kritikbegriff, der entnaturalisiert.282 Denn dann braucht es nur noch den Nachweis, dass die Dinge eigentlich gar nicht so sein müssen, wie sie sind. Der Weg zur Bewusstmachung von Alternativen zum scheinbar alternativ­ losen Ist-Zustand besteht bei Adorno in einer Kombination aus immanenter und transzendenter Kritik, wie im Folgenden gezeigt wird.

282 Auch Adorno selbst bedient sich des Öfteren der Terminologie der Entnaturalisierung. In Abschnitt 4.1.1 habe ich bereits gezeigt, dass sich das Verhängnisvolle der vermeintlich »objektiven« Verhältnisse für ihn vor allem daraus ergibt, dass sich historisch gewordene Zusammenhänge »in zweite Natur« verwandeln (Adorno 2003 [1950]: 67; vgl. auch Ador­no 2003 [1963]: 631 und 2003c [1966]: 350). Ich verwende die Begriffe »Entmythologisierung«, »Entzauberung« und »Entnaturalisierung« hier daher weitestgehend syno­ nym.



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5.3.2 Adornos »Philosophie des Nein-Sagens« »[D]enken heißt stets kritisch denken. Und kritisch denken bedeutet stets dagegen sein.« Arendt im Fernsehgespräch mit Roger Errera »Ich fürchte nicht den Vorwurf unfruchtbarer Negativität.« Adorno, Die Aktualität der Philosophie

In seinem 1962 veröffentlichten Aufsatz Wozu noch Philosophie definiert Ador­no die Aufgabe der Philosophie im »Widerstand gegen die heute gängige Übung und das, dem sie dient, gegen die Rechtfertigung dessen, was nun einmal ist.« (Adorno 2003e [1962]: 461) Aber wie kann Philosophie diesen Widerstand leisten? Wie muss sie dafür verfahren? Was ist Kritik nach Adorno? Die Versuche, Adornos kritisches Verfahren kondensiert zu fassen, sind zahlreich. Dabei scheint sich die Forschung nicht immer ganz einig zu sein, ob Adorno eher für ein immanentes (Han 2016: 110–127; vgl. Jaeggi 2005; O’Connor 2013: 44–53; vgl. Wesche 2018) oder eher für ein transzendentes, das heißt externe Maßstäbe anlegendes Kritikmodell (vgl. Honneth 2012b; Freyenhagen 2015) steht. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich Adorno bewusst beider Strategien bedient bzw. dass es sich bei dieser vermeintlichen Doppelstrategie auch hier um den Ausdruck eines Ringens handelt. Eines Ringens mit der Frage, wie, angesichts der eigenen Gesellschaftsdiagnose, noch Kritik geübt werden kann, ohne eine privilegierte Einsicht der Theo­ retiker_innen voraussetzen zu müssen und ohne Maßstäbe von außen an die Gesellschaft heranzutragen. Das Ergebnis dieses Ringens ist ein immanentes Kritikmodell, das Adorno um ein (schwach) transzendentes Moment ergänzt wissen will.283 Noch entscheidender für mein Projekt ist, dass diese 283 Eine gründliche Lektüre des Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft hätte diese Debatte übrigens abkürzen können. Der Text, der den Bänden 10.1 und 10.2 der Gesammelten Schriften ihren Titel gab, stellt eine konzentrierte Auseinandersetzung mit der Frage dar, ob Kritik immanent oder transzendent erfolgen sollte. Adorno lässt hier keinen Zweifel daran, dass er beides will: »Die Alternative, Kultur insgesamt von außen, unter dem Oberbegriff der Ideologie in Frage zu stellen, oder sie mit den Normen zu konfrontieren, die sie selbst auskristallisierte, kann die kritische Theorie nicht anerkennen. Auf die Entscheidung: immanent oder transzendent zu bestehen, ist ein Rückfall in die traditionelle Logik« (Adorno 2003c [1951]: 25). Eine abwägende Darstellung, die nicht nur die Existenz des immanenten und des transzendenten Verfahrens bei Adorno anerkennt, sondern auch

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Doppelstrategie stets einem strengen Negativismus verpflichtet bleibt; einem Negativismus, der weder die eine objektive Wahrheit noch eine privilegierte Einsicht in ebendiese proklamiert. Für ihn gilt, dass er sich vor teleologischen Handlungsmodellen (oder Handlungsanweisungen im Allgemeinen) hütet – und ich möchte so weit gehen und sagen: Adornos Vorbehalte demgegenüber sind noch größer als die Arendts. Immanente Kritik nach Adorno. Diesem Kritikmodell kommt bei Adorno das Primat zu. Er versucht in erster Linie eine Strategie »immanenter Kritik« (Adorno 2003c [1966]: 183) zu verfolgen. In diesem Abschnitt möchte ich mir daher zuerst genauer ansehen, wie das zu verstehen ist: Was ist immanente Kritik (nach Adorno)? Ganz generell gesprochen misst diese Kritikform ihr Objekt zunächst einmal an dessen eigenem Anspruch oder Begriff. Es handelt sich um ein Vorgehen, »das dem zu kritisierenden Gegenstand kein externes normatives Kriterium wie etwa ein ›extrahistorisches Ideal‹ oder ein ›metaphysisches Prinzip‹ gegenüberstellt. Stattdessen wird der Maßstab dem Gegenstand selbst entnommen.« (Lingk 2018: 199) Dieser allgemeinen Definition der immanenten Kritik stimmt Adorno zunächst zu. In seiner Vorlesung Einführung in die Dialektik von 1958 heißt es dazu: »Der dialektische Weg ist nun immer der der immanenten Kritik, das heißt, es darf […] nicht etwa an die Sache ein ihr äußerliches Kriterium herangebracht werden, keine ›Versicherung‹ und kein ›bloßer Einfall‹, sondern sie muß, um zu sich selber zu kommen, an sich, an ihrem eigenen Begriff gemessen werden.« (Adorno 2015 [1958]: 51) Für Adorno kommt es zunächst immer auf »die denkende Konfrontation von Begriff und Sache« (Adorno 2003c [1966]: 148) an, wie es in einer mit »Verhältnis zum Linkshegelianismus« überschriebenen Passage in der Negativen Dialektik heißt.284 Es gelte, die »Differenz der Phänomene von dem, anschaulich erläutert, warum dieser glaubt, beide Strategien zu brauchen, findet sich bei Lingk (2018). 284 Neuere Beispiele für ein solches immanentes oder eben linkshegelianisches Vorgehen aus dem Umfeld der Kritischen Theorie wären Axel Honneths Das Recht der Freiheit (2011), Titus Stahls Immanente Kritik (2013) oder Arvi Särkeläs Immanente Kritik und soziales Leben (2018). Ich werde jedoch gleich noch zeigen, dass sich die spezifische (rein negativistische) Form der immanenten Kritik, für die Adorno argumentiert, an entscheidender Stelle vom aktuellen Linkshegelianismus unterscheidet.



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was sie von sich aus zu sein beanspruchen« (ebd.: 48), bewusst zu machen. Und die Sache oder das Phänomen, auf das Adorno dieses Verfahren primär anwendet, ist natürlich die spätkapitalistische Gesellschaft: »Einsicht in das, was ist, aber eben in einem solchen Sinn, daß diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich ›der Fall ist‹, wie Wittgenstein gesagt haben würde, an dem mißt, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich die Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren«. (Adorno 1991: 31) Das methodologische Schlagwort, dessen sich Adorno bedient, um dies zu tun, ist die »bestimmte Negation« (Adorno 2003c [1966]: 161). Demnach wäre, wie es ganz zum Ende seines kurzen Aufsatzes mit dem Titel Kritik heißt, »in Variation eines berühmten Satzes von Spinoza, […] das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren« (Adorno 2003e [1969]: 793). An dieser Stelle, die manchmal als prägnantester Ausdruck von Adornos Kritikvorstellung angesehen wird, ist es wichtig, den Begriff »Index« nicht zu überlesen. Ein Index (vom Lateinischen indicare) deutet auf etwas hin. Was Adornos Idee der bestimmten Negation – anders als man zunächst vielleicht annehmen könnte – hingegen nicht erlaubt, ist einen einfachen Umkehrschluss auf das positive Andere. Auch wenn der Schlussaphorismus der Minima Moralia, in dem Adorno davon spricht, dass »die vollendete Negativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegelschrift ihres Gegenteils zusammenschießt« (Adorno 2003d [1951]: 283), vielleicht so gelesen werden könnte.285 Jedoch ist Adorno in seinen methodologischen Schriften diesbezüglich eindeutig. Ausdrücklich gegen Hegel gerichtet, von dem er das Vorgehen der bestimmten Negation übernimmt, warnt er in der Negativen Dialektik: »Fehlgeschlossen aber wird durch die unmittelbare Erhebung der Negativität, der Kritik am bloß Seienden, zum Positiven, so als ob die Insuffizienz dessen, was ist, garantierte, daß, was ist, jener Insuffizienz ledig wäre.« Und er ergänzt weiter einschränkend: »Auch im Äußersten ist Negation der Negation keine Positivität.« (Adorno 2003c [1966]: 385) Adornos Kritikverständnis möchte stattdessen »Negation der Negation [bleiben, T. A.] welche nicht in Position übergeht« (ebd.: 398; Hervorh. T. A.). Immer wieder findet sich bei ihm die Forderung nach ei285 So ist es meines Erachtens irreführend, wenn Marc Nicolas Sommer von einer »Struktur des Ablesens des Richtigen aus dem Falschen« (Sommer 2014: 278; Hervorh. T. A.) bei Adorno spricht.

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ner »unbeirrten Negation«, die sich »nicht zur Sanktionierung des Seienden hergibt.« (Ebd.: 162) Nun hat sich Adorno dieses negative Vorgehen nicht einfach ausgesucht. Der Grund, der dieses Verfahren für ihn notwendig – akkurater wäre: zum einzig möglichen – macht, liegt in seiner im vierten Kapitel dieser Arbeit bereits vorgestellten Gesellschaftsdiagnose der verwalteten Welt: »Ist das Ganze der Bann, das Negative, so bleibt die Negation der Partikularitäten, die ihren Inbegriff an jenem Ganzen hat, negativ. Ihr Positives wäre allein die bestimmte Negation, Kritik, kein umspringendes Resultat, das Affirmation glücklich in Händen hielte.« (Ebd.: 161) Adorno arbeitet hier, wenn man so will, eigentlich sogar mit einem doppelten Negativitätsbegriff: »In zweierlei Hinsicht will negative Dialektik […] den Gedanken des Negativen […] radikalisieren. Zum einen beharrt sie auf der Negativität der bestehenden Welt. Die Wirklichkeit ist nicht letztlich – im Wesentlichen und im Ganzen – versöhnt und nur in ihrem faktischen, gegenwärtigen Zustand defizient. […] Auf der anderen Seite ist Philosophie ihrerseits der Negation verpflichtet: Sie versteht sich als Widerstand und Kritik, die im Modus des Einspruchs gegen das Negative verbleibt und als ›unbeirrte Negation‹ sich dem Umschlag zum Positiven verweigert.« (Angehrn 2008: 267) Einfacher ausgedrückt: Adorno bedient sich einer negativistischen Methode also aufgrund seiner negativistischen Diagnose. Letztere wird von Hannah Arendt bekanntermaßen nicht eins zu eins geteilt. Im Gegenteil: Ihre politische Theorie bejaht offensiv die fast immer gegebene Möglichkeit eines politischen Neuanfangs und der Veränderung der Welt. An dieser Stelle schlage ich also eindeutig vor, mit Adorno auch gegen Arendt zu denken. Ich operiere hier unter der doppelten Hypothese, dass sowohl Adornos Zeitdiagnose der verwalteten Welt (zumindest in ihrer totalen Form) unhaltbar ist, als auch, dass Arendt zu optimistisch ist, was die – von ihr zu voraussetzungslos gedachte – Möglichkeit zur Veränderung der Welt angeht. Eine Pointe meines Projekts besteht darin, dass ich die Frage, wem hier bis zu welchem Grad Recht zu geben ist (wessen Diagnose wie weit trägt), gar nicht vorab beantworten muss. Mein Vorschlag erkennt das Faktum der verwalteten Welt (das heißt hier die faktische Existenz von Handlungsbeschränkungen) an, verfällt aber dennoch nicht in einen Fatalismus: Wie verwaltet die Welt ist (wie stark die Handlungsbeschränkungen sind), das kann sich immer nur in der politischen und kritischen Praxis selbst zeigen. Ich werde diese Behauptung im nachfolgenden und letzten Unterkapitel dieses Buches noch etwas genauer



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erläutern. An dieser Stelle geht es mir zunächst nur darum, zu zeigen, dass ein negativ verfahrender Kritikbegriff, wie Adorno ihn vorschlägt, zum oben rekonstruierten Arendtschen Politisierungsverständnis in besonderem Maße passt; und zwar erst einmal unabhängig von der Frage, ob (und wie weit) wir Adornos Begründung für diesen teilen. Leser_innen, die diesen Vorschlag unplausibel finden, könnten mir nun immer noch Folgendes entgegenhalten: Schön und gut, Adorno tritt nicht von außen mit neuen Normen an die Gesellschaft heran – der Einwand der privilegierten Einsicht der Theoretiker_innen fällt durch die immanente Methode also weg. Aber das teleologische Handlungsmodell (die Anwendung einer Herstellenslogik im Bereich des Handelns), so der potentielle Einwand gegen meinen Vorschlag, bleibt in Adornos Kritikverständnis präsent. Wenn nicht direkt, dann zumindest durch die Hintertür: Denn die Theoretiker_innen tragen zwar keine wie auch immer geartete Wahrheit von außen an die Gesellschaft heran. Jedoch werden Normen aus den »objektiven Tendenzen« der bestehenden Gesellschaft – eine Terminologie, die Arendt die Haare zu Berge stehen lassen würde – extrahiert, um den Zustand dieser Gesellschaft dann wiederum an diesen Normen zu messen. Die bestehende Gesellschaft wird so zwar mit ihren eigenen Normen konfrontiert, aber sie wird letztendlich immer noch mit Normen konfrontiert. Und in der Folge wird dann – so könnte der Einwand zumindest lauten – zur Verwirklichung dieser Normen, das heißt zur Anpassung der Wirklichkeit an diese (eigenen) Ideale aufgerufen. Dieser potentielle Einwand gegen meinen Vorschlag würde allerdings unterschätzen, wie weit Adornos Negativismus geht. Erstens – das sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt – sind die einzigen Normen, an denen Adorno dieses Verfahren jemals durchführt, die Normen Freiheit und Gleichheit. Bei Freiheit und Gleichheit handelt es sich aber nicht nur um Normen, die auch in Arendts politischem Denken wichtige Referenzpunkte darstellen (Arendt 2020 [1963]: 39–45), sondern vor allem auch um solche, deren Forderungen so »abstrakt und unbestimmt« (Geuss 2005: 47) bleiben, dass ihre Realisierung geradezu der politischen und sozialen Praxis überlassen werden muss: »While the contradiction between the concept of freedom and its abstract realization is often blatant, what its realization would require, however, must be a matter of political negotiation and reflection: it is not written a priori into the concept itself.« (Hammer 2006: 85) Zweitens, und im Rahmen meiner Untersuchung noch interessanter, besteht das Ziel von Adornos immanenter Kritik eben nicht einfach in einem

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Aufruf zur besseren Befolgung oder vollständigeren Verwirklichung der (bisher verfehlten) Normen – hierin unterscheidet sich Adorno von den meisten anderen sowohl damaligen als auch heutigen Linkshegelianer_innen. Zwar merkt er vereinzelt an, dass es sich bereits um einen Schritt in die richtige Richtung handeln würde, wenn die bürgerliche Gesellschaft ihre eigenen bisher nicht befolgten Normen Freiheit und Gleichheit endlich einmal verwirklichen würde, denn »die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere.« (Adorno 2003e [1969]: 792 f.) Jedoch stellt diese Normenbefolgung für ihn immer nur eine Art zweitbeste Option dar. In »der gegenwärtigen Situation« – ich erinnere hierbei an Adornos Ausführungen zur gegenwärtigen Lage der Ideologie(kritik) von oben (5.3.1) – sei »die höhere Form, auf welche nach progressiver Konzeption die Gesellschaft sich hinbewegen sollte, nicht mehr als Tendenz aus der Wirklichkeit konkret herauszulesen« (ebd.: 793). Daher sei es aktuell auch »keineswegs stets möglich, der Kritik die unmittelbare praktische Empfehlung des Besseren beizugeben« (ebd.: 792). Es geht Adorno beim Aufzeigen der Diskrepanz zwischen Norm und Wirklichkeit also in erster Linie nicht um eine Aufforderung, den bisher nicht befolgten Normen endlich nachzukommen. Diese Aufforderung entsteht, wenn überhaupt, als Nebenprodukt und bleibt schlechtes Substitut. Wichtiger ist Adorno das Aufzeigen der Diskrepanz selbst. Denn er will durch die Verdeutlichung der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit (zum Beispiel hinsichtlich der Norm Freiheit) lediglich aufzeigen, dass die aktuell existierende Realität nicht in einem emphatischen Sinne wahr ist und dass die Dinge deshalb nicht so sein müssen, wie sie sind. Durch das Aufzeigen der Kluft zwischen normativem Anspruch und Wirklichkeit hofft Adorno der Gesellschaftsordnung »die gleichsam höhere Dignität eines dauerhaften Soseins« (Flügel-Martinsen 2019: 458) zu nehmen. Man kann sich das auch anhand der von Rahel Jaeggi vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen »interner« und »immanenter« Kritik verdeutlichen: Den Kritikmodus, der darauf aufmerksam macht, dass eine Gesellschaft bestimmte Normen oder Ideale für sich beansprucht, die aber de facto in dieser Gesellschaft nicht verwirklicht sind, nennt sie »interne« Kritik (Jaeggi 2014: 261–276). Wenn beispielsweise die CDU vorgibt, christliche Werte zu repräsentieren, gleichzeitig aber für ein hartes Vorgehen gegen Geflüchtete eintritt, dann kann man das – relativ einfach – intern kritisieren. Eine Partei, die ein hartes Vorgehen gegen Menschen in Not fordert, hat mit christlichen Werten wenig zu tun. Will sie weiterhin an diesen festhalten, dann sollte sie ihre politischen Positionen dahingehend anpassen. Den



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Begriff der »immanenten« Kritik will Jaeggi (ebd.: 277–301) aber für ein Kritikmodell mit einem »stärkeren Anspruch« reserviert wissen. Nach ihrem Vorschlag sollte immanente Kritik eine Kritikform bezeichnen, die darüber hinaus auch die Forderung nach der Transformation der kritisierten gesellschaftlichen Strukturen selbst enthält. Zwar setzt auch immanente Kritik dafür zunächst intern – also bei den von der kritisierten Gesellschaft selbst hochgehaltenen Normen und Idealen – an. Jedoch ist sie dann »weniger an der Rekonstruktion oder Einlösung normativer Potentiale als an einer […] Transformation des Bestehenden orientiert« (Jaeggi 2009: 286). Eine so verstandene immanente Kritik trete dann, »wie Marx sagt, ›nicht mit einem vorgefertigten Ideal der Wirklichkeit entgegen‹, sie entnimmt es ihr aber auch nicht einfach, sondern entwickelt dieses Ideal aus […] der Wirklichkeit selbst.« (Ebd.) Jaeggi bezeichnet dieses Vorgehen auch als »›negativistische‹ Variante immanenter Kritik« (Ebd.). Es ist diese Variante von Kritik, die Adorno im Sinn hat. Denn Adornos »immanente Kritik [ist] keine apologische Kritik, die versucht, das normative Ideal und die Realität bloß zu vergleichen und dadurch allein die Unvollständigkeit einer Gesellschaft zu kritisieren. Sie ist eine radikale Kritik, die auf den Strukturwandel und ferner den Wandel der sozialen Normen selbst, die jenen Strukturwandel betreiben, abzielt.« (Han 2016: 124) Der Sinn von Adornos immanenter Kritik, die Norm und Wirklichkeit vergleicht, liegt also nicht in einer Angleichung der Wirklichkeit an die Norm, sondern in der Transformation der Wirklichkeit und der Norm.286 Damit schließt sich der Kreis zum vorangegangenen Kapitel. Denn die Frage, die bei Adorno freilich offenbleibt, zielt darauf, wie der Zusammenhang von immanenter Kritik und politisch-gesellschaftlicher Transformation dann genau gedacht werden soll. An einigen Stellen in Adornos Texten hat es den Anschein, als würde er davon ausgehen, dass das Aufzeigen der Diskrepanz selbst schon für diese Transformation sorgt; dass »das Freilegen des Mangels von sich aus das Potential seiner Überwindung enthält.« (Angehrn 2008: 268 f.) Das wird von Formulierungen suggeriert, an denen Adorno der Negation »[d]ie spekulative Kraft« zuspricht, »das Unauflösliche aufzu286 In der Negativen Dialektik deutet Adorno am Beispiel der Kritik des Tauschprinzips an, wie er sich eine gelungene immanente Kritik vorstellt: »Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch.« (Adorno 2003c [1966]: 150)

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sprengen« (Adorno 2003c [1966]: 38). Mit dieser optimistischen und meines Erachtens zu einfach gedachten Idee würde er sich heute wieder in guter Gesellschaft befinden. Denn auch heute noch – ich werde das im Schluss dieses Buches noch einmal vertiefen – neigt die Kritische Theorie manchmal zu dieser ursprünglich auf Hegel zurückgehenden Idee: »Wenn Marx recht hat, muss Kritik, um eine in der Realität wirksame Gewalt, Macht oder Kraft der Subversion und der sozialen Transformation zu werden, mehr als bloße Kritik sein, indem sie sich mit etwas anderem verbindet. Kritische TheoretikerInnen und PhilosophInnen tendieren jedoch bisweilen dazu, der Kritik selbst eine subversive Kraft zuzuschreiben, die sie von den sozialen Kämpfen entkoppelt« (Celikates 2019: 397). Die auch quantitativ bei weitem überwiegende Anzahl der Textbelege deutet jedoch darauf hin, dass Adorno sich dieses Problems bewusst war und dass er sich letztendlich für eine andere Strategie entschieden hat. In dieser führt das Aufzeigen der Diskrepanz noch nicht selbst zu gesellschaftlicher Veränderung, sondern ist nur »ein bescheidener Anfang von Praxis.« (Adorno 2003c [1966]: 337) Kritik als »erste Bedingung von Widerstand« (ebd.) ist nur eine Art Propädeutik für die dann in einem nächsten Schritt durch politische Praxis herbeizuführende Transformation; eine politische Praxis, auf die Adornos Kritikbegriff dann zwar zielt (ebd.: 15, 203, 242 f., 337), die aber mit Adornos eigenem theoretischem Apparat kaum mehr gedacht werden kann (vgl. Kapitel 4). An dieser Stelle müsste dann mit Arendts Politikbegriff weiterführend angesetzt werden.287 Adornos transzendentes Moment. Unabhängig davon, wie man das Verhältnis von immanenter Kritik zu Politik denkt – ob das Aufzeigen von Widersprüchen in der aktuellen Gesellschaftsformation durch immanente Kritik also selbst schon als die politisch-gesellschaftliche Transformation herbeiführend gedacht wird oder nur als die Bedingung zu deren Möglichkeit –, so hat das rein immanente Vorgehen als Kritikmodell seine Grenze. Es sind vor allem zwei Schwierigkeiten, die Adorno für das Modell immanenter Kritik ausmacht. Erstens handelt es sich beim Aufzeigen einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit stets um ein riskantes Vor287 Und so ist, was hier aus Darstellungsgründen nacheinander gezeigt wird, in der theoretischen Praxis als gleichzeitig ablaufend, stets aufeinander rückwirkend und eng ineinander verwoben zusammenzudenken.



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gehen. Denn eine mögliche Lösung des Problems, die gar nicht so fern liegt, könnte im Aufgeben des Anspruchs selbst bestehen. Im Aphorismus Die Wahrheit über Hedda Gabler in den Minima Moralia artikuliert Adorno diese Sorge, indem er die »Amoralität« des 19. Jahrhunderts auf eine Reaktion auf Kritik am Bürgertum zurückführt: »Die Kritik konfrontierte die bürgerliche Gesellschaft wie ökonomisch so moralisch mit ihren eigenen Normen. Dagegen blieb der herrschenden Schicht, wollte sie nicht einfach der apologetischen Lüge und ihrer Ohnmacht verfallen wie die Hofpoeten und staatserhaltenden Romanciers, nichts anderes übrig, als das Prinzip selber zu verwerfen, an dem die Gesellschaft gemessen wird, also ihre eigene Moral.« (Adorno 2003d [1951]: 105) Fabian Freyenhagen hat diese Sorge, die übrigens nicht nur Adornos Variante, sondern sämtliche Formen der immanenten Kritik betrifft, gesellschaftstheoretisch reformuliert: »[E]ven if one successfully mounted an immanent critique of our current social world (say, conclusively showing that real democracy cannot be achieved within it despite its presenting itself as realising this ideal), such cri­tique could only demonstrate the cost of holding on to a value or ideal (to stay with that example, one might have to admit that the current social world cannot be fully democratic).« (Freyenhagen 2015: 13 f.) Nun verweist dieses Risiko nicht zuletzt auf die Kontingenz menschlichen Handels und ist daher ein Risiko, dem man – will man diese Kontingenz nicht leugnen – kaum ganz wird entgehen können. Interessanter ist daher eine zweite Schwierigkeit, die sich für Adorno aus dem rein immanenten Vorgehen ergibt. Denn zweitens ist immanente Kritik als die »Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit« nur insofern möglich, »wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann.« (Adorno 2003 [1954]: 465) In seinem Beitrag zur Ideologienlehre führt Adorno den Natio­ nalsozialismus als Extrembeispiel für dieses Problem an. Es sei geradezu naiv, die Nazis immanent zu kritisieren: »Nicht bloß spottet das Niveau der Schriftsteller Hitler und Rosenberg jeder Kritik«, sondern es sei auch innerhalb dieser Niveaulosigkeit gar »kein objektiver Geist« (ebd.) auffindbar. Die »sogenannte Ideologie des Nationalsozialismus«, schreibt er in erstaunlicher Nähe zu Arendts Analyse aus den Elementen und Ursprüngen, ist rein »manipulativ ausgedacht, bloßes Herrschaftsmittel, von dem im Grunde kein

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Mensch, auch die Wortführer nicht, erwartet hat, daß es geglaubt oder als solches ernst genommen werde.«288 (Ebd.: 466) Es ist reine Herrschaft und kein Glaube an die wie auch immer geartete »Wahrheit« des Nationalsozialismus, die dessen Anhänger_innen »überzeugt«: »Augenzwinkernd wird auf die Macht verwiesen: gebrauche einmal deine Vernunft dagegen und du wirst schon sehen, wohin du kommst« (ebd.).289 Eine abgeschwächte Version dieses Einwands gilt laut Adorno aber auch für die aktuelle Gesellschaftsformation. Im Abschnitt zur Ideologiekritik weiter oben bin ich auf dieses Problem bereits eingegangen: Der Spätkapitalismus droht zwar nicht roh mit der Macht. Aber während es »noch gute Zeiten« gewesen seien, »als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm« (Adorno 2003b [1961]: 284), fehlt der aktuellen gesellschaftlichen Formation jegliches Moment, an dem die immanent verfahrenden Kritiker_innen sich festhalten könnten. Daraus hat Adorno einen Schluss gezogen, der von vielen Linkshegelianer_innen gerne überlesen wird: Dass nämlich »gänzlich ohne Sprung, in eigener Bewegung, die Philosophie aus ihrem Traum nicht erwacht; daß sie dazu dessen bedarf, was ihr Bann fernhält, eines Anderen und Neuen« (Adorno 2003c [1966]: 184). Deswegen ergänzt Adorno sein Modell immanenter Kritik um ein transzendentes Moment: »Ganz ohne Wissen von außen freilich, wenn man so will ohne ein Moment von Unmittelbarkeit, eine Dreingabe des subjektiven Gedankens, der übers Gefüge von Dialektik herausblickt, ist keine immanente Kritik fähig zu ihrem Zweck.« (Ebd.: 183; Hervorh. T. A.) Denn: »Immanente Kritik hat ihre Grenze daran«, schreibt Adorno und formuliert damit so etwas wie das zentrale Spannungsverhältnis seiner Theorieanlage, »daß schließlich das Gesetz des Immanenzzusammenhanges eins ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre.« (Ebd.) Adorno geht also davon aus, dass es für Kritik in der verwalteten Gesellschaft eines Anstoßes von außen bedarf. Die Forderung nach einem solchen Anstoß kann in zweierlei Weise interpretiert werden. Ich möcht eine eher 288 Zu Arendts ähnlicher Sicht dieser Dinge berichtet ausführlich das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. Für Arendt bringt der Geistliche aus dem Dom-Kapitel von Kafkas Prozess die Logik der totalen Herrschaft auf den Punkt, als er »dem Angeklagten K ihr Grundprinzip in einem Satze erklärt: ›Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.‹« (Arendt 2011 [1951]: 522) 289 Adorno geht so weit und spekuliert, ob die Absurdität der Thesen nicht vielleicht sogar »darauf angelegt [ist], auszuprobieren, was den Menschen nicht alles zugemutet werden kann, solange sie nur hinter den Phrasen die Drohung vernehmen oder das Versprechen, daß etwas von der Beute für sie abfällt.« (Adorno 2003 [1954]: 466)



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anthropologische und eine stärker gesellschaftstheoretische Ausdeutung vorschlagen. An einigen Stellen macht es den Eindruck, als proklamiere Adorno mit seinem Beharren auf einem transzendenten Moment doch eine Art Rest-Spontaneität in den verwalteten Individuen (zum Beispiel ebd.), die er genau wie Arendt anthropologisch zu deuten scheint. Was bei Arendt freilich als die robuste Fähigkeit »eine Reihe von vorne anzufangen« ausformuliert wird, deutet Adorno zurückhaltender: Lediglich die Fähigkeit des Subjekts zu leiden kann von den verwaltenden Bedingungen der Gesellschaft nie ganz getilgt werden. Das Leiden stellt für Adorno in dieser Deutung einen wenigstens minimal transzendenten Maßstab der Kritik dar. Mit Hilfe des Ansatzes beim menschlichen Leiden will Adorno seine Kritik »sozialphilosophisch begründen« (Lingk 2018: 208). Die Idee ist, dass das Leiden auch in der verwalteten Gesellschaft – in der immanente Kritik gemäß Adornos neuem Ideologiebegriff nichts mehr hat, woran sie sich festhalten kann – als eine Art (negatives) normatives Kriterium bestehen bleibt.290 Zudem ermöglicht das Leiden, wie Adorno es in seinen Vorlesungen zur Negativen Dialektik formuliert hat, eine Art »Erkenntnis von unten nach oben« (Ador­ no 2019 [1965/1966]: 122). Denn Leiden meint bei Adorno vor allem das Leiden der Mitglieder der Gesellschaft an ebendieser.291 Die Aufgabe der kritischen Theoretiker_innen besteht für ihn lediglich darin, dieses »Leiden beredt werden zu lassen« (Adorno 2003c [1966]: 29). Die Aufgabe einer kritischen Philosophie lautet also, diesem diffusen Leiden mittels begrifflicher Reflexion zur Artikulation zu verhelfen: Worte, Begriffe und Konzepte dafür zu finden, die es als Leiden erkennbar machen und – idealerweise – nach Ursachen dafür zu suchen. Damit aber beansprucht die Theorie keinen »god trick« (Haraway 1988: 581) oder »Blick von nirgendwo« (vgl. Nagel 1992), sondern versteht sich als Reflexionsinstanz, die von den Gesellschaftsmitgliedern selbst gemachte Erfahrungen aufgreift. Um einen möglichen Paternalismus der Theoretiker_innen zu verhindern, bleibt zudem auch hier ein strenger Negativismus anleitend. Adornos Rekurs auf die Leidenserfahrungen der Gesellschaftsmitglieder muss aber nicht unbedingt als robuste Anthropologie gedeutet werden. 290 Das ist auch die These, die Fabian Freyenhagen (2015) in Buchlänge verteidigt hat. Jedoch zu dem Preis, dass er das immanente Kritikmodell bis an den Rand der Bedeutungslosigkeit herunterspielt. Zudem lädt er das Leiden für seinen Versuch, Adorno als negativen Aristoteliker zu lesen, wesentlich substantieller auf, als ich es hier vertrete. 291 Und es meint nicht, wie Raymond Geuss (2005: 41 f.) absurderweise suggeriert, Adornos persönliches Leiden.

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Er kann auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass er die eigene Gesellschaftsdiagnose letztendlich doch nicht so total denkt, wie seine Rhetorik es zumeist suggeriert: Denn »Bewußtsein«, so heißt es am Ende der Negativen Dialektik, könne »gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.« (Adorno 2003c [1966]: 370) Im nun folgenden letzten Unterkapitel werde ich diesen Gedanken noch etwas vertiefen. Dabei werden Arendts und Adornos Zeitdiagnosen noch einmal nebeneinandergelegt. 5.3.3 Ein Versuch, die beiden Perspektiven zusammenzudenken Ziel meiner vorangegangenen Rekonstruktionen war der Nachweis, dass Arendt und Adorno nicht nur thematisch geeignet zu sein scheinen, ihre jeweiligen Leerstellen wechselseitig auszufüllen, sondern dass sie dies auf bemerkenswert angemessene Weise tun. Ich möchte jedoch ausdrücklich nicht so weit gehen zu behaupten, dass eine solche Zusammenführung ganz nahtlos vonstattengeht. Vielmehr muss hierfür immer noch – ich habe versucht, das in den Kapitelüberschriften anzuzeigen – ein Stück weit mit Arendt gegen Adorno und mit Adorno gegen Arendt gedacht werden. Der Vorschlag dieses Ergänzungsverhältnisses operiert dabei unter einer doppelten Hypothese: Auf der einen Seite geht er davon aus, dass die Welt wahrscheinlich nicht ganz so verwaltet ist, wie Adorno das diagnostiziert hat. Politisches Handeln, auch mit dem Ziel genuiner Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, ist nach wie vor möglich. In den Worten der Altermundialisierungsbewegung(en): »Eine andere Welt ist möglich.« (Marchart 2005: 168) Auf der anderen Seite unterliegt die Möglichkeit politischen Handelns – die potentiell immer gegebene Möglichkeit, einen neuen Anfang zu machen – wesentlich mehr (im weitesten Sinne: sozialen) Voraussetzungen, als Arendt das zuweilen suggeriert. Ja, eine andere Welt ist möglich. Aber eben nicht ohne weiteres. Dabei kann diese Theoriestudie nicht abschließend klären, wessen (Zeit)diagnose wie weit trägt. Vielleicht kann die Frage, wie viel Handlungsspielraum in einer gegebenen Situation tatsächlich existiert, ohnehin immer nur in der politisch-kritischen Praxis beantwortet werden.292 Auf 292 Eine Pointe meines Vorschlags besteht auch darin, dass diese Frage gar nicht vorab geklärt werden muss. Die Hypothese ist, dass uns Arendt und Adorno – wenn sie zusammengedacht werden – theoretische Werkzeuge an die Hand geben, mit denen wir über politisches Handeln nachdenken können, ohne (mögliche) Handlungsbeschränkungen aus dem Blick zu verlieren.



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der Ebene der Theorien lässt sich jedoch noch eine weitere entgegenkommende Tendenz für meinen Vorschlag ausmachen: Denn an manchen Stellen scheinen Arendt und Adorno selbst schon zu ahnen, dass die Realität mehr Graustufen enthält, als es die eigenen Diagnosen zuweilen suggerieren. An diesen Stellen rücken ihre Zeitdiagnosen näher aneinander. Im Abschnitt zur Autonomie des Politischen (5.2.2) habe ich schon darauf hingewiesen, dass es falsch wäre, Arendts Beharren auf der fast immer gegebenen Möglichkeit eines Neuanfangs einfach als optimistische Gegenthese zu Adornos Gesellschaftstheorie zu begreifen. Arendts Narrativ von der sich in der Moderne zunehmend verselbständigenden Macht des Sozialen suggeriert eher, dass sie Adornos Diagnose massiver Handlungsbeschränkungen in der Moderne im Allgemeinen und im Spätkapitalismus im Besonderen zunächst einmal teilt.293 Der Aufstieg des Sozialen, von dem die Vita activa handelt, ist ihre Theorie dieser Handlungsbeschränkungen.294 Bezüglich der Möglichkeit politischen Handelns ist sie daher auch wesentlich pessimistischer, als ihre emphatische Betonung des Neubeginns es suggerieren mag. Das ist auch der Grund für ihren starken Fokus auf die Antike, der heutigen Leser_innen manchmal zunächst etwas sonderbar vorkommt: Denn Arendt greift auch deswegen so oft auf antike Beispiele zurück, weil sie davon ausgeht, dass »das Politische so wenig immer und überall existiert [hat], daß historisch gesprochen nur wenige große Epochen es gekannt und verwirklicht haben.« (Arendt 2010 [1993]: 41 f.) Der Mensch ist für sie gerade nicht notwendigerweise ein politisches Wesen.295 293 Dass auch für Arendt der Spätkapitalismus, den sie freilich nicht so nennt, noch einmal eine Steigerung gegenüber ihrer eigenen generelleren Modernitätsdiagnose darstellt, lässt sich an ihren Ausführungen zur Arbeitsgesellschaft im letzten Abschnitt der Vita activa ablesen. 294 Dass die Vita activa eine Analyse der »Bedrohung der Handlungsfähigkeit in der modernen Welt« enthält, betont zum Beispiel Ahrens (2005: 126–134). In einem Text mit dem pointierten Titel In schlechter Gesellschaft hat der gleiche Autor (2003) auch auf die Überschneidungen von Adornos Diagnose der »verwalteten Welt« mit Arendts Narrativ vom »Aufstieg der Gesellschaft« hingewiesen. 295 Zumindest nicht in einem ontologischen Sinn. In mehreren ihrer Texte kritisiert Arendt die Fehlübersetzung des aristotelischen »zoon politikon« als »Definition des Menschen als eines politischen Lebewesens« (Arendt 2010 [1993]: 37). Die Berufung auf Aristoteles’ Begriff beruhe auf einem Missverständnis: »Aristoteles, für den das Wort ›politikon‹ durchaus ein Adjektiv der Polis-Organisation und nicht eine beliebige Bezeichnung für menschliches Zusammenleben überhaupt war, meinte keineswegs, daß alle Menschen politisch seien oder daß es Politik, nämlich eine Polis, überall gäbe, wo Menschen lebten. Aus seiner Definition waren nicht nur Sklaven ausgeschlossen, sondern auch die Barbaren asiatischer, despotisch regierter Reiche, an deren Menschsein er keinesfalls zweifelte. Was

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Pointiert gewendet: Ihre Diagnose ähnelt der Adornos viel stärker als man erst einmal vermuten würde. Es sind ihre Repliken auf diese Bestandsaufnahme, die sich fundamental unterscheiden: Während Adorno die Chancen auf genuine politische Veränderung aufgrund seiner These von der verwalteten Welt zusehends schwinden sieht und in der Folge auf alternative Widerstandsstrategien ausweicht, um der herrschenden Heteronomie entgegenzutreten, kann Arendts theoriepolitisches Projekt – ich erinnere auch an das dritte Kapitel – durchaus als Versuch gelesen werden, an diese »wenigen großen Glücksfälle der Geschichte« (ebd.: 42) zu erinnern, um deren erneutes Auftreten heute wahrscheinlicher zu machen. Damit sind jedoch auch bei ihr keinerlei Garantien verbunden. »Wir können«, so befürchtet Arendt ganz am Ende ihres erst kürzlich posthum veröffentlichten Aufsatzes Die Freiheit, frei zu sein, »allenfalls darauf hoffen, daß die Freiheit in einem politischen Sinn nicht wieder für Gott weiß wie viele Jahrhunderte von dieser Erde verschwindet.« (Arendt 2018: 42; Hervorh. T. A.) Umgekehrt gibt es auch bei Adorno – ich hatte das im Abschnitt zur Politik im Konjunktiv (4.1.3) bereits angedeutet – immer wieder Formulierungen, die den Schluss zulassen, dass er die Gesellschaft als zur oben beschriebenen Totalität tendierend erachtet, nicht jedoch davon ausgeht, dass diese Integration bereits vollständig abgeschlossen ist. Ohnehin ist bei Ador­no nicht immer ganz klar, welche von seinen düsteren Formulierungen seiner hyperbolischen Methode geschuldet sind, und wie viel davon für sich beansprucht, »explanatorische Theorie« (Honneth 2016b: 70) oder soziologisch akkurate Beschreibung der Wirklichkeit zu sein.296 Diese Uneindeutigkeit wird besonders deutlich, wenn man seine philosophischen und seine stärker empirischen Arbeiten nebeneinanderlegt. Während er dem »Hang zur Totalisierung« in ersteren viel häufiger nachgibt, ist in vielen seiner empirischen Arbeiten »beinahe die entgegengesetzte Tendenz zu bemerken« (Söllner 2006: 236).

er meinte, war lediglich, daß es eine Eigentümlichkeit des Menschen ist, daß er in einer Polis leben kann und daß diese Polis-Organisation die höchste Form menschlichen Zusammenlebens darstellt […]. Politik also im Sinne des Aristoteles […] ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit und findet sich keineswegs überall, wo Menschen zusammenleben. Es gibt sie, nach Meinung der Griechen, nur in Griechenland und auch dort nur für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum.« (Ebd.: 37 f.) 296 Adorno gab selbst des Öfteren zu bedenken, er »habe das Düstere übertrieben, der Maxime folgend, daß heute überhaupt nur Übertretung das Medium von Wahrheit sei.« (Ador­ no 2003 [1959] 567; vgl. auch Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 139)



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Diese Diskrepanz lässt den Schluss zu, dass Adorno bezüglich der eigenen Totalitätsbehauptung auch seine Zweifel hatte und zumindest die »Spuren und Splitter«, von denen er in der Antrittsvorlesung schrieb, dass sie die Hoffnung gewährten, »einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten«, auch für ihn schon inmitten der verwalteten Welt bereits existieren.297 Dabei nahm Adorno ausgerechnet die Studierendenbewegung zum Anlass, die eigene Diagnose in Zweifel zu ziehen. In seinem Vortrag Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft, den er im April 1968 auf dem Deutschen Soziologentag hielt, formuliert Adorno diese Zweifel noch vorsichtig: »Erst in jüngster Zeit werden Spuren einer Gegentendenz gerade in verschiedensten Gruppen der Jugend sichtbar: Widerstand gegen blinde Anpassung, Freiheit zu rational gewählten Zielen, Ekel vor der Welt als Schwindel und Vorstellung, Eingedenken der Möglichkeit der Veränderung. Ob demgegenüber der gesellschaftlich sich steigernde Destruktionstrieb doch triumphiert, wird sich weisen.« (Adorno 2003b [1968]: 368) In der einen Monat später gehaltenen Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie wird er dann direkter. Hier deutet er die Studierendenbewegung als Indiz dafür, dass die Integration der »verwalteten Welt« nicht so weit fortgeschritten ist, wie er angenommen hat und dass es anscheinend doch noch Raum 297 Diese Diskrepanz wird auch von Sighard Neckel (2005: 193 f.) herausgestellt: »Erstaunen löst vor allem auch aus, welcher Natur die empirischen Gegenbeweise sind, die ihm selbst zum Anlass werden seine gesamte Sozialtheorie auf den Prüfstein stellen zu lassen. Denn nicht nur manche Einzelergebnisse aus Studien etwa zur Propaganda der politischen Rechten führt Adorno in diesem Zusammenhang an, sondern auch immer wieder Befunde der von ihm so geliebten Spontanumfragen, die er am Institut für Sozialforschung zu gesellschaftlichen Ereignissen seiner Zeit ab und zu durchführen ließ. Ein solcher ›Qui­ ckie‹, wie derartige Spontanumfragen am Institut gerne genannt wurden, fand etwa auch statt, als sich 1966 Prinzessin Beatrix der Niederlande mit dem deutschen Diplomaten Claus von Amsberg vermählte und Adorno neugierig war, zu erfahren, welche Bedeutung das Publikum einem solchen Ereignis wohl beimessen würde. Die Ergebnisse waren aus heutiger Sicht nicht überraschend: Die Befragten genossen das königliche Spektakel als Unterhaltung und willkommene Abwechslung im Fernsehalltag, ohne ihm jedoch besonderes Gewicht für das eigene Leben zu verleihen. Dass der ›Schein als Wirklichkeit‹ erlebt werden würde, davon konnte jedenfalls kaum die Rede sein. Einem heutigen Leser fällt der ungeheure Kontrast auf, der zwischen den theoretischen Diagnosen Adornos über das Ende des Individuums in der modernen Gesellschaft und der Banalität – so muss man beinahe schon sagen – jener empirischen Informationen besteht, denen – wie im Fall der Ergebnisse ganz gewöhnlicher Meinungsumfragen – zugetraut wird, den harten Urteilsspruch, den Adorno über die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen verhängt hatte, noch einmal in die Berufungsinstanz schicken zu können.«

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für kritisches Denken und Widerspruch gibt. Er schreibt hier, dass es sich bei der Studierendenbewegung um »eine wirklich emanzipatorische Bewegung [handelt], die dazu führen möchte, daß der Gedanke nicht gegängelt wird, daß den universalen Zwängen der Anpassung, wie sie die Gesellschaft ausübt und wie sie von der Kulturindustrie nun auch noch verwaltet werden, so etwas wie die Bildung von autonomer Urteilsfähigkeit und Urteilskraft gegenübergestellt wird. Und diese Erwägungen führen dann über das bloß Institutionelle der Universität hinaus und werden zur Kritik einer Gesellschaft, die, indem sie die Menschen in stets wachsendem Maß integriert – wie man das so nennt –, gleichzeitig den Menschen ihre Möglichkeit unterschlägt. Ich möchte sagen, das Beglückende für einen älteren Menschen wie mich an der Bewegung der Studenten ist, daß die Annahme, wie sie zum Beispiel in den negativen Utopien von Huxley oder von Orwell gemacht worden ist, daß diese Integration so glatt einfach aufgehe, daß die Einrichtung der Gesellschaft es fertigbringe, daß man in der Hölle lebt und die Hölle gleichzeitig für den Himmel hält, daß das also doch nicht klappt; das funktioniert nicht, und darin liegt etwas unbeschreiblich Hoffnungsvolles.«298 (Adorno 1993 [1968]: 100 f.) 298 Adorno hat sich noch an einigen anderen Stellen ähnlich geäußert. Zum Beispiel im Briefwechsel mit Herbert Marcuse ein gutes Jahr später: »Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen« (Adorno 2000: 115). Dass es sich dabei nicht nur um eine Höflichkeitsfloskel dem alten Freund gegenüber handelt, mit dem Adorno zu diesem Zeitpunkt – gerade bezüglich der Frage, wie die Studierendenbewegung zu bewerten sei – im Clinch liegt, zeigt auch eine ganz ähnliche Formulierung an anderer Stelle. Die Prominenz der Stelle lässt die Ernsthaftigkeit erahnen, mit der Adorno über diese Frage nachgedacht hat. In einem Entwurf für das Vorwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung schreibt er: »Eine Erfahrung ist in dem Buch nicht anti[zi]piert, obzwar sie in anderen unseren Texten angedeutet wird: gegen den Übergang zur total verwalteten Welt, der nicht bruchlos, sondern über Diktaturen und Kriege sich vollzieht, setzt zumindest die Jugend sich zur Wehr. Die Protestbewegung in allen Ländern der Erde, in beiden Blöcken sowohl wie der Dritten Welt bezeugt, daß nicht so glatt zu integrieren ist. Verhülfe das Buch den Impulsen des Widerstands zu einem Bewußtsein, das sie aufhellt und daran hindert, blinder Praxis aus Verzweiflung sich zu unterstellen und kollektiven Narzißmus zu verfallen, so könnte ihm das eine reale Funktion verschaffen. Die Idee einer befreiten Gesellschaft ist kritischer Theorie immanent.« (Adorno 2003c [1969]: 8) Der Entwurf stammt aus dem Februar 1969. Warum er so nicht abgedruckt wurde, konnte ich nicht nachvollziehen. Im dann tatsächlich gedruckten – mit April 1969 datierten – Vorwort ist immerhin noch vom »Übergang zur verwalteten Welt« (Adorno und Horkheimer 2003 [1947]: 9) die Rede und davon, dass die »in dem Buch erkannte Entwicklung zur totalen Integration […] unterbrochen« sei, wenn auch, wie Adorno und Horkheimer direkt hinzufügen, »nicht abgebrochen« (ebd.: 10; Hervorh. T. A.).



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Und in der letzten Sitzung dieser Vorlesung weist er seinem grundlegenden Gesellschaftsbefund dann gar den Status einer reinen – das heißt in Zukunft noch zu überprüfenden – Hypothese zu: »Wir sind alle bis zu einem gewissen Grad davon ausgegangen, daß die gegenwärtige Kulturindustrie, zu der man alle Mächte der gesellschaftlichen Integration in einem weiteren Sinne hinzurechnen muß, tatsächlich die Menschen so macht, so prägt oder zum mindesten so erhält, wie sie nun einmal sind. Es steckt darin aber wirklich etwas Dogmatisches und etwas Unüberprüftes; und wenn ich jedenfalls an den Entwicklungen des letzten Jahres etwas habe lernen dürfen, dann ist es das, daß man diese Identität von objektiven Stimuli und objektiven Bewußtseinsstrukturen, die den Menschen auch geprägt haben, und der Verhaltensweisen der Menschen selbst nicht ohne weiteres unterstellen kann. Und es wäre eigentlich die wichtigste Aufgabe, so will es mir scheinen, der empirischen Sozialforschung heute, im Ernst einmal dahinterzukommen, wie weit denn nun wirklich die Menschen so sind und so denken, wie sie von den Mechanismen gemacht werden.« (Ebd.: 255) Adorno ist dieser vom ihm selbst geforderten Überprüfung der eigenen These nicht mehr nachgekommen. Vieles spricht aber dafür, dass seine Zweifel heute noch angebrachter sind als sie es damals schon waren: »Zumindest im globalen Maßstab wird man durchaus davon sprechen können, dass die Gesellschaft an vielen Orten tatsächlich genau ›so anarchisch verläuft, wie sie in der stets noch irrationalen Zufälligkeit des Einzelschicksals erscheint‹. Die ökonomischen und politischen Krisen der Gegenwart, die Bürgerkriege und Migrationsbewegungen sind Indikatoren dafür, dass die Integrationskraft der zur Weltvergesellschaftung tendierenden Weltwirtschaftsordnung dramatisch nachlässt. Insofern wird man die These von der verwalteten Welt nicht ohne weiteres für eine kritische Gesellschaftstheorie von heute übernehmen können.« (Schweppenhäuser 2009: 78 f.) Ich kann und möchte das hier aber auch gar nicht abschließend klären. Die vorliegende Arbeit möchte gar keine Zeitdiagnose sein. Ihr Ziel bestand darin, Arendts und Adornos Ansätze im theoriegeschichtlichen Nachvollzug so nebeneinanderzulegen, dass die Möglichkeit einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno sichtbar wird. Ein solches Ergänzungsverhältnis scheint mir unabhängig von der konkreten Zeitdiagnose geboten: Denn eine kritische Theorie ohne Politikbegriff – also eine Kritik

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sozia­ler Verhältnisse ohne ein Verständnis politischen Handelns als Modus der Veränderung ebendieser Verhältnisse – ist »zahnlos«. Ihre Angebote hätten keine Chance in der Realität umgesetzt zu werden. Ihre Kritik bliebe wirkungslos. Zugleich gilt, was Adorno in seinem kurzen, mit Kritik betitelten Aufsatz geschrieben hat: »Kritik ist aller Demokratie wesentlich.« (Adorno 2003e [1969]: 785) Denn eine politische Theorie, die ausschließlich auf das politische Handeln abstellt, die sozialen Bedingungen aber, in denen die Handelnden immer schon eingewoben sind und aus denen heraus sie erst aktiv werden, ignoriert – die also über ihre eigenen Voraussetzungen nicht nachdenken kann –, bleibt ebenso unvollständig. Im nun folgenden Fazit soll die Möglichkeit einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno noch einmal konzentriert erläutert werden. In Form eines Ausblicks wird dann noch auf die Möglichkeiten hingewiesen werden, die ein solcher Vorschlag auch für aktuelle Debatten um das Verhältnis von Kritischer Theo­rie und Politik bereithält.

6. Die Möglichkeit(en) einer politischen kritischen Theorie nach Arendt und Adorno Resümee. Die vorliegende Arbeit hat ihren Ausgangspunkt bei dem Erstaunen darüber genommen, wie strikt getrennt die Rezeptionen der politischen Theorie Hannah Arendts und der kritischen Philosophie Theodor W. Ador­ nos bisher verlaufen sind. Vor diesem Hintergrund war es mein Ziel, die Topografie zwischen den beiden Ansätzen überhaupt erst einmal zu erschließen. Die »beiden vollkommen unterschiedlichen Theoriesprachen, deren Protagonisten sich immer nur gegenseitig geringschätzten« (König 2008: 584), sollten hier – das erste Mal überhaupt in einer Monografie – mitein­ ander ins Gespräch gebracht werden. Die Form, die ich diesem nachholenden (und inszenierten) Dialog gegeben habe, war die einer Theoriegeschichte in systematischer Absicht. Mit diesem methodologischen Vokabular wollte ich nicht nur den Umstand fassen, dass beider Theoriebildungen hier im rekonstruktiven Nachvollzug nebeneinandergelegt wurden, sondern zugleich die doppelte Zielsetzung der Arbeit ausweisen. Denn es ging mir zum einen darum, einer Forschungsintuition nachzugehen, die in jüngerer Zeit mehr und mehr undogmatische Leser_innen zu haben scheinen: Nämlich der These, dass sich Arendts und



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Adornos Denken in einigen (zentralen) Punkten wesentlich ähnlicher ist, als es die unterschiedlichen Theoriesprachen, in denen dies vorgetragen wird, vermuten lassen würden und als die bislang eher dichotome Rezeption es anzuerkennen bereit war. Zum anderen lag dieser Arbeit die systematische These zugrunde, dass sich die beiden Ansätze gerade da, wo sie weiterhin diametral bleiben, gegenseitig informieren und korrigieren können. Die Arbeit war hierfür in zwei Teile aufgeteilt. Im ersten Teil waren die bisher nicht gesehenen Affinitäten das dominante Thema: Für Arendt wie für Adorno steht die Katastrophe der totalen Herrschaft im 20. Jahrhundert in (mindestens) dreierlei Weise am Anfang ihrer Theoriebildung. Die totale Herrschaft war erstens Ursache der (persönlichen) Erfahrung von Flucht, Exil und, in Adornos Fall, Rückkehr ins Land der Täter_innen. Die Fluchtund Exilerfahrung haben aber Arendt und Adorno nicht nur gemeinsam, sondern sie wird von beiden in Form der Figuren der_des selbstbewussten Paria und der_des Intellektuellen in der Emigration auch in ähnliche theoretische Metaphern überführt. Aufgezwungene und leidvolle Außenseiterstellungen werden von beiden in Positionen der Stärke umgewandelt und stellen, als Figuren, in beiden Fällen so etwas wie erste Vorprägungen ihres später systematisch entwickelten Politik- respektive Kritikverständnisses (Kapitel 1) dar. Aber auch über das am eigenen Leib biografisch Erlebte hinaus bleibt beider Denken zweitens von der unaufhörlichen wie aussichtslosen Bürde getrieben, das Unbegreifliche des Zivilisationsbruchs zu begreifen. Die jeweiligen Analysen der Entstehungsbedingungen und Mechanismen der totalen Herrschaft waren für mich hier daher nicht nur deshalb interessant, weil sie eine der auffälligsten der hier gesuchten Gemeinsamkeiten zwischen Arendt und Adorno darstellen, sondern auch, weil sie für ein Verständnis der späteren theoretischen Projekte Arendts und Adornos im Einzelnen unabdinglich sind. Bei den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft und der Dialektik der Aufklärung handelt es sich um die jeweiligen Ausgangs-, Drehund Angelpunkte ihrer gesamten weiteren Theoriebildung – es handelt sich um die Schlüssel zum Verständnis ihrer späteren Werke (Kapitel 2). Drittens macht die Erfahrung totaler Herrschaft für beide auch eine konsequente Demontage und ein Neu-Durchdenken der philosophischen Tradition nötig. Ich habe die jeweilige Kritik und das anschließende NeuDurchdenken der philosophischen Tradition, für welches sich sowohl Arendt als auch Adorno auf Walter Benjamin berufen, schließlich als ein drittes (und für diese Arbeit letztes) geteiltes Hauptmotiv der beiden Autor_innen vorge-

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Konturen einer politischen kritischen Theorie

stellt. Auch wenn diese Neu-Aneignungen der philosophischen Tradi­tion im Detail ganz unterschiedlich vonstattengehen, habe ich dafür plädiert, beider Vorgehen als Praxis einer essayistischen Denkhaltung zu verstehen (Kapitel 3). Diese Vermittlung, an der ich mich im ersten Teil der Arbeit versucht habe, hat mich schon unter rein intellektuellen- oder ideengeschichtlichen Gesichtspunkten interessiert. Darüber hinaus hatte aber auch dieses vermeintlich rein rekonstruktive Vorgehen schon eine systematische Stoßrichtung. Denn ihr Ziel war es, den im zweiten Teil unterbreiteten Vorschlag eines möglichen Ergänzungsverhältnisses vorab zu plausibilisieren. Dieses Ergänzungsverhältnis stand im zweiten Teil der Arbeit dann im Mittelpunkt. In einem gewissen Sinne setzte die systematische These meiner Arbeit da ein, wo die Plausibilität der theoriegeschichtlichen Behauptung endete. Denn im zweiten Teil bin ich zunächst von den trotz allem verbleibenden Unterschieden zwischen Arendt und Adorno ausgegangen. Es war meine These, dass die beiden vor allem dann diametral bleiben, wenn der Blick weg von den (in vielen Fällen: geteilten) Diagnosen und hin zu ihren Therapievorschlägen gerichtet wird. Denn während Arendts Reaktion auf ihre eigene kritische Theorie der Moderne in einer Erinnerung und Neuerzählung dessen besteht, was das Politische (gegenüber dem Sozialen) einmal geheißen haben mag (und was es heute wieder heißen könnte), besteht Adornos Antwortversuch auf die von ihm konstatierte Dialektik der Aufklärung in einer fortlaufenden Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, die er ausdrücklich als unpolitisch verstanden wissen will. Ich habe jedoch dafür argumentiert, dass Arendt und Adorno an dieser Stelle zusammengedacht werden können. Um die Möglichkeit eines solchen Komplementärverhältnisses auszuweisen, bin ich in einem gewissen Sinne selbst zum Theorien-Monteur im Benjaminschen Sinn geworden. Ich habe die beiden Denkgebäude an ihren jeweiligen Schwachstellen aneinandergelegt und vorgeschlagen, mit Arendt gegen Adorno und mit Adorno gegen Arendt zu denken. Hierbei ging es mir um den Nachweis, dass die eine nicht nur gleichsam wahllos die Leerstelle des anderen ausfüllt (und vice versa). Mein Argument bestand nicht nur in dem Baukastenmodell, das sich hier geradezu aufzudrängen schien, nach dem in der einen Ecke die Theoretikerin der Politik steht, die sich über die gesellschaftlichen Voraussetzungen ebendieser Politik keine Gedanken macht und in der anderen Ecke der Gesellschaftstheoretiker, dem es wie kaum einem anderen an einem Politikbegriff mangelt. Son-



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dern meine These ging über dieses modulare Stecksatzmodell noch hinaus: Ich habe argumentiert, dass Arendt und Adorno eben nicht nur in der Lage sind, die blinden Flecken der jeweils anderen Position auszuleuchten, sondern dass sie diese Leerstellen angemessen ausfüllen. So könnte Arendts Verständnis des Politischen (gerade wie es jüngst rezipiert wird) einen Politikbegriff bereitstellen, der mit Adornos Bedenken gegenüber (der Möglichkeit von) Politik kompatibel ist. Arendts Verständnis des Politischen stellt die nächstmögliche Annäherung an eine politische Theorie dar, die Adornos Kritischer Theorie angemessen ist (Kapitel 4). Umgekehrt habe ich Adornos rein negativistisches, entnaturalisierendes – gleichsam zurückhaltendes – Verständnis von Kritik als ein Instrument vorgestellt, mit dem sich über die (wiederum bei Arendt problematische) »soziale Frage« in einer Weise nachdenken lässt, die Arendts Bedenken gegenüber der Thematisierung gesellschaftlicher Belange standhält (Kapitel 5). Der Schwerpunkt dieses Buches lag im Nachweis dieser potentiellen Kompatibilität zweier bisher nur als Gegensätze wahrgenommener Theorien. Während der größere Teil der Arbeit daher darauf abzielte, die Konturen dieses Ergänzungsverhältnisses zu zeichnen, um so seine Möglichkeit plausibel zu machen, will ich ganz zum Schluss noch den systematischen Wert hervorheben, den dieser Vorschlag für aktuelle Debatten haben könnte: Ich möchte andeuten, dass Arendts und Adornos Ansätze nicht nur in ein Ergänzungsverhältnis gebracht werden könnten, sondern auch sollten; dass es also – auch über das theoriegeschichtliche Interesse an Arendt und Adorno hinaus – Gründe gibt, die ein solches Unternehmen lohnenswert erscheinen lassen. Ausblick. Das vorgeschlagene Ergänzungsverhältnis von Arendt und Adorno soll hier in Form eines Exempels zugleich als Plädoyer dafür einstehen, dass die Perspektiven der Politischen Theorie und der Sozialphilosophie (auch über Arendt und Adorno hinaus) zusammengedacht werden sollten. Das bedeutet: Weder sollten die Analysen politischen Handelns und politischer Institutionen auf der einen Seite und kritische Gesellschaftstheorie auf der anderen getrennt erfolgen, wie das im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb mit seiner auch institutionell eingeschriebenen Trennung zwischen der an politikwissenschaftlichen Instituten angesiedelten Politischen Theorie und der an Philosophie-Instituten betriebenen Sozialphilosophie zuweilen geschieht. Auf der anderen Seite sollte die sozialphilosophische Perspektive umgekehrt auch nicht einfach zu »einer Art Seitenstrang« oder »Unterdiszi-

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plin der politischen Philosophie« (Honneth 2012a: 12) degradiert werden, wie das an englischsprachigen Universitäten häufig passiert. Vielmehr gilt es, die Eigenständigkeit und Spezifik beider Frageperspektiven zu erhalten und beide dennoch zusammenzudenken.299 Konkreter formuliert: Diese Studie kann auch als Plädoyer dafür verstanden werden, dass die Kritik sozialer Verhältnisse und ein Verständnis politischen Handelns als Modus der Veränderung ebendieser Verhältnisse von einer Theorie, die sich als kritisch versteht, stets zusammengedacht werden sollten. Eine kritische Gesellschaftstheorie ohne die Fähigkeit, Politik – hier in einem weiten Sinne verstanden als all diejenigen (kollektiven) Prozesse, mit denen sich gesellschaftliche Verhältnisse transformieren lassen – begrifflich zu fassen, bleibt unvollständig. Gesellschaftskritik, die unabhängig von politischen und sozialen Kämpfen gedacht wird, unabhängig also von der Frage ihrer Realisierung, bleibt harmlos. Auf der anderen Seite droht eine Theorie des Politischen ohne Gesellschaftstheorie von vorneherein zu scheitern. Das Unternehmen einer Politischen Theorie, die ausschließlich auf das politische Handeln abstellt, die sozialen Bedingungen aber ignoriert, in die alle politisch Handelnden immer schon eingewoben sind und aus denen heraus sie erst aktiv werden (können), und die damit nicht über ihre eigenen Voraussetzungen nachdenken kann, ist vergeblich. Die Dringlichkeit dieses Plädoyers wird noch deutlicher, wenn nicht auf die Ebene der Fächertrennung – Politische Theorie versus Sozialphilosophie  – geschaut, sondern sozusagen eine Ebene tiefer angesetzt wird: Die jüngst wieder aufgeworfene Debatte um das Verhältnis von Kritischer Theorie und Politik macht deutlich, dass insbesondere die Kritische Theorie (hier verstanden als spezifische Variante der Sozialphilosophie, der die obengenannte Eigenart zukommt) immer noch eine schwierige Beziehung zum Thema Politik hat.300 Denn nicht nur die Gesellschaftstheorie Adornos, sondern auch viele andere derjenigen Theorierichtungen, die gemeinhin unter dem Etikett »kritische Theorie(n)« zusammengefasst werden, zeichnen sich auffällig oft durch ein gespanntes Verhältnis zum Thema Politik aus.301 Diese Feststellung gilt relativ unabhängig davon, wie man sich im Streit über die Erbschaft der Kritischen Theorie (vgl. Dubiel 1994) positioniert. Das heißt, sie 299 Plädoyers für die Eigenart des sozialphilosophischen Fragens finden sich auch bei Jaeggi und Celikates (2017: 8–14) sowie bei Loick (2017: 11 f.). 300 Vgl. Bohmann und Sörensen (2019); Deranty und Genel (2021); Harcourt (2020); Ludovisi (2016). 301 Für einen Überblick vgl. schon Chambers (2004).



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gilt unabhängig davon, ob man mit dem Begriff »kritische Theorie« die historische »Frankfurter Schule« meint oder ob man die Nachfolgegeneration(en) um und im Anschluss an Jürgen Habermas miteinbezieht. Ja, sie gilt sogar relativ unabhängig von der Frage, ob man »kritische Theorie« mit großem oder mit kleinem »k« schreibt – unabhängig von der Frage also, ob man unter kritischer Theorie vor allem die in Frankfurt ansässige Theorietradition fasst oder ob man »das Kompositum kritische Theorie« (Flügel-Martinsen 2019: 450) weit versteht und sich schulen- und ansatzübergreifend auf eine Vielfalt kritischer Ansätze bezieht. Die Diagnose einer gewissen Politikferne beansprucht – in verschiedenen Abstufungen – auch für eine möglichst breite Definition von kritischer Theorie Gültigkeit.302 Schon ihrem wahrscheinlich wichtigsten ideengeschichtlichen Vorläufer Karl Marx ist ein Hang zum Ökonomismus nachgesagt worden, der gesellschaftliche Veränderung eher ökonomischen Pfadabhängigkeiten denn dem politischen Handeln einzelner oder kollektiver Subjekte zuschrieb.303 Ganz sicher lässt sich den oft als Begründern der Frankfurter Schule angesehenen Autoren Horkheimer und Adorno ein Politikdefizit attestieren. Besonders Letzterer war – das war ein zentrales Thema dieses Buches – nicht nur für die ihm eigene »politikwissenschaftliche Leerstelle« (Bohmann und Sörensen 2019: 20) bekannt, sondern für eine regelrechte »Askese der politischen Theorie« (Jepsen 2014) berüchtigt. Diejenigen Theoretiker_innen, die zuweilen unter dem Sammelbegriff der zweiten Generation der Frankfurter Schule zusammengefasst werden, haben unter anderem auf diesen Umstand reagiert.304 Denn Adornos Negativismus war einer der Gründe, warum Habermas und seine Mitstreiter_innen und Schüler_innen die sogenannte diskurstheoretische Wende der Kritischen Theorie betrieben haben. Einer ihrer Vorwürfe lautete, Adornos Konzeption von kritischer Theorie sei so total, dass mit seinem Ansatz über eine Veränderung der Verhältnisse – das heißt über politisches Handeln – gar nicht mehr nachgedacht werden könne. Die 302 Für ein weites Verständnis von kritischer Theorie, das sich systematisch und nicht örtlich definiert, plädieren zum Beispiel Allen (2016: xi–xviii) oder Salzborn (2015). 303 Unter anderem – um einen hier naheliegenden Beleg anzuführen – tut dies Arendt (2020 [1963]: 92 f.). 304 Die Rede von den »Generationen« der Frankfurter Schule ist mit einer ganzen Reihe von Nachteilen behaftet. Nicht der geringste ist der, dass hier eine inhaltliche Geschlossenheit innerhalb der vermeintlichen Generationen suggeriert wird, die so de facto nicht existiert (hat). Eine Auseinandersetzung mit der Generationenproblematik und zugleich ein Portrait der sogenannten zweiten Generation, das nicht nur auf Jürgen Habermas fixiert ist, findet sich bei Açıkgöz (2014).

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Konturen einer politischen kritischen Theorie

Nachfolgegenerationen der Frankfurter Schule haben die Sphäre der Politik in der Folge – mal mehr und mal weniger explizit – zumindest zum Thema gemacht. Jedoch wurde die Integration der Kritik gesellschaftlicher Bedingungen in ein Verständnis von Politik oft teuer erkauft. Denn nicht nur auf der Ebene der Gesellschaftstheorie hat die zweite Generation der Frankfurter Schule ihren »kritischen Stachel« (Sünker 2020: 7) eingebüßt. Auch ihr politisches Projekt ist einfach kein besonders radikales (Geuss 2013: 101; Marchart 2019: 153). Und selbst wenn wir über die Frankfurter Schule im engeren Sinne hinausblicken und kritische Theorie möglichst weit verstehen und etwa poststrukturalistische Ansätze wie denjenigen Michel Foucaults miteinbeziehen, lässt sich die Diagnose der Politikferne zumindest nicht ohne weiteres aus dem Weg räumen.305 In jüngerer Zeit werden diese Debatten über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Politik auch wieder vermehrt explizit geführt. Schon während einer Diskussion zwischen dem französischen politischen Theoretiker Jacques Rancière und dem damaligen Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Axel Honneth kam es 2009 zu einer Debatte, bei der der »[e]rwartbare« Streit »Soziales versus Politisches« (Deranty und Genel 2021: 21) wieder aufbrach. Während Honneth gemäß seinem zentralen Anerkennungsparadigma auf die sozialen Bedingungen der Freiheit fokussiert und zumindest nicht »unmittelbar« politisch wird, steht Rancière für ein auf den politischen Bruch fokussiertes Modell – hierin Arendt nicht unähnlich – und damit für eine »Absage an das Soziale« (ebd.: 28).306 In ihrem Ende 2019 erschienenen Band Kritische Theorie der Politik haben Ulf Bohmann und Paul Sörensen (2019: 10) die Frage, »ob und wie eine Kritische Theorie der Politik möglich ist«, dann noch einmal systematisch aufgeworfen.307 Der Antwort keinesfalls gewiss, haben die beiden Herausgeber in ihrem imposanten Band das internationale Who is Who der sich aktuell in der Tradition der kritischen Theorie(n) verortenden Autor_innen eingeladen, um noch einmal gemein305 Zu dem Vorschlag, Foucault im weiteren Sinne zur Tradition der kritischen Theorie zu zählen, vgl. Allen (2016). Die Zeiten, in denen Foucault als jemand galt, der der Politikwissenschaft gar nichts zu sagen hat, sind jedoch vorbei. Zu Foucaults »weitem Weg« in die Politische Theorie vgl. Marchart und Martinsen (2019). 306 Aus dieser Begegnung ist ein kleiner Band hervorgegangen, der die damaligen Inputreferate, Kommentare und einige weitere kurze Texte der beiden Autoren zu dem Thema enthält (vgl. Honneth und Rancière 2021). 307 2016 gab es bereits einen der Stoßrichtung nach ähnlichen – allerdings stark auf Adorno fokussierten – englischsprachigen Band mit dem Titel Critical Theory and the Challenge of Praxis (vgl. Ludovisi 2016).



Die Möglichkeit(en) einer politischen kritischen Theorie 

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sam über die Frage nachzudenken, »wie eine Kritische Theorie der Politik heute aussehen bzw. betrieben werden sollte.«308 (Ebd.: 25) Und 2020 hat der an der Columbia University lehrende Jura- und Politikprofessor Bernard Harcourt den zu engen Fokus der kritischen Theorien (auf Kritik und ihre Bedingungen) zum Anlass genommen, um das Verhältnis von Critique and Praxis, wie der Titel seines Buches lautet, noch einmal neu auszuleuchten. Das vorliegende Buch kann auch als Beitrag zu diesen Debatten und als eine Intervention in diese verstanden werden. Damit soll keinesfalls suggeriert werden, Arendt und Adorno seien die einzigen theoretischen Ressourcen, mit denen sinnvollerweise über politische kritische Theoriebildung nachgedacht werden könnte. Ausgangspunkt meines Nachdenkens über das Thema war ausdrücklich das Erstaunen darüber, dass Arendt und Adorno bisher nicht miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Deswegen ist meine Arbeit von diesen beiden Autor_innen ausgegangen und hat sich (nur) auf diese konzentriert. Bezüglich des systematischen Vorschlags, der hier unterbreitet wird, haben Arendt und Adorno daher wahrscheinlich nicht das letzte Wort. Oder präziser: Sie haben es wahrscheinlich nicht alleine. Bei dem von mir vorgeschlagenen Ergänzungsverhältnis handelt es sich um einen möglichen Vorschlag. Viele andere bleiben weiterhin denkbar. Es handelt sich jedoch um einen Vorschlag, der die Spezifika der politiktheoretischen und der sozialphilosophischen Seite des Projekts ernst nimmt, sie in ihrer Eigenart bewahrt und dennoch miteinander vermittelt und so eine gewisse Umfänglichkeit für sich beanspruchen kann. Was mit der Zusammenführung der Perspektiven Arendts und Adornos gewonnen wäre, das lässt sich auch anhand eines Zitats verdeutlichen. Der älteste mir bekannte Text, der ausdrücklich auf einige »sonderbare« Affinitäten zwischen Arendt und Adorno hingewiesen hat, ist der im zweiten Teil dieser Arbeit bereits zitierte Aufsatz Zur Faschismusanalyse Hannah Arendts und Theodor W. Adornos: Erkundungen in ungeklärten Verwandtschaftsverhältnissen von Jörn Ahrens (1995). Eigentlich setzt sich der Gießener Soziologe hier, wie der Titel ja auch unmissverständlich ankündigt, nur mit den Faschismusanalysen Arendts und Adornos auseinander. Sein Text endet jedoch – etwas unvermittelt – mit einer Vermutung: »Möglicherweise«, so beschließt Ahrens seinen Text,

308 Einige der Antwortvorschläge habe ich mir in einer Besprechung dieses äußerst empfehlenswerten Bandes auf der Plattform Soziopolis angesehen (vgl. Albrecht 2020).

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Konturen einer politischen kritischen Theorie

»liegt in der Wahrnehmung der Affinitäten zwischen Arendt und Adorno, unter Berücksichtigung ihrer Unterschiede, der Schlüssel zu einer sensiblen Theorie der zeitgenössischen Vergesellschaftung – einer Theorie, die das Faktum der hochgradig entfremdeten und verwalteten Welt illusionslos konstatiert, jedoch die Hoffnung auf ein autonomes Handeln mündiger Einzelner nicht aufgegeben hat.« (Ebd.: 40) Diese Ahnung mit Argumenten zu unterfüttern und vom Status einer Intuition in den einer begründeten These zu überführen, war das Ziel dieses Buches.

Danksagung

Das vorliegende Buch ist eine gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Juni 2020 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht und im Februar 2021 verteidigt habe. Mein erster und wichtigster Dank gilt meinem Erstbetreuer Rainer Forst: für die Förderung seit meiner Zeit als Masterstudent und für den umfassenden Rückhalt während der gesamten Promotionsphase. Ich bin ihm besonders dankbar, dass er mir zu einem Zeitpunkt vertraut hat, als mein Projekt dieses Vertrauen noch nicht gerechtfertigt hat. Ein ebenso großer Dank geht an Martin Saar. Obwohl sich die Arbeit in einem fortgeschrittenen Zustand befand, als er die Zweitbetreuung übernommen hat, war er ein echter Zweitbetreuer im besten Sinne, der Kapitel gelesen und kommentiert und mich in vielen akademischen Fragen beraten hat. Die ersten drei Jahre der Arbeit an diesem Projekt wurden von einem Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert, wofür ich sehr dankbar bin. Der eigentliche Schreibprozess begann dann während eines Forschungsaufenthaltes am Department of Political Science der Yale University im Herbst 2016. Ich danke Seyla Benhabib für die freundliche Einladung. Sie war damals gerade dabei, ihren Band Exile, Statelessness, and Migration zur Publikation vorzubereiten und das erste Kapitel dieser Arbeit verdankt ihrem dazugehörigen Seminar einiges. Ein besonderer Dank gilt meinen Frankfurter Kolleg_innen und Freund_innen; einigen von ihnen fürs Lesen und Kommentieren von Abschnitten, allen für Gespräche über Theorie und alles andere sowie zahlreiche Mittagessen und eine gute Zeit. Ich danke insbesondere Eva Buddeberg, Lorina Buhr, Corina Färber, Marcus Häggrot, Tobias Heinze, Katharina Hoppe, Jakob Huber, Anastasiya Kasko, Kristina Lepold, Esther Neuhann und Regina Schidel. Für Gespräche über oder besonderen Zuspruch zu diesem Vorhaben danke ich außerdem Svenja Ahlhaus, Amy Allen, Asaf Angermann, Javier Burdmann, Marcus Döller, Jürgen Förster, James Ingram, Maurits de Jongh, Helmut König, Waltraud

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Handeln und Kritik

Meints-Stender, Christoph Menke, Till van Rahden, Maria Robaszkiewicz, Liesbeth Schoonheim, Grit Straßenberger, Elia Scaramuzza, Peter Verovšek und Maike Weißpflug. Fertiggestellt wurde die Dissertation auf einer Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der DFG-Kollegforschergruppe Justitia Amplificata. Auch für diese Möglichkeit sei Rainer Forst sowie seinem CoDirektor Stefan Gosepath herzlich gedankt. Für die reibungslose und sehr angenehme Zusammenarbeit bei Justitia, die es mir ermöglicht hat, mich die meiste Zeit auf meine eigene Forschung zu konzentrieren, danke ich Dimitrios Efthymiou und Sonja Sickert. Ohne die Veröffentlichungen von Lars Rensmann zu Arendt und Adorno hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Ich habe mich vor diesem Hintergrund besonders gefreut, dass er sich bereit erklärt hat, an meiner Prüfungskommission teilzunehmen. Auch den anderen beiden Kommissionsmitgliedern Sophie Loidolt und Ferdinand Sutterlüty sei an dieser Stelle für ihre Fragen und Anregungen herzlich gedankt. Sowohl die Abschlussphase der Dissertation als auch die gesamte Überarbeitung zur Buchversion fallen in die Pandemie. Vor diesem Hintergrund bin ich für die großartige institutionelle Betreuung, die mein Manuskript auf dem Weg zum Buch erfahren hat, besonders dankbar. Mein Dank geht hier an Miryam Schellbach vom Campus Verlag für ihr »eigenmächtiges« Engagement, das das Erscheinen in dieser Reihe erst möglich gemacht hat. Ich danke zudem dem Kollegium des Frankfurter Instituts für Sozialforschung für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Ein herzlicher Dank richtet sich an das gesamte Redaktionsteam des Instituts – Sidonia Blättler, Nils Lehnhäuser, Sarah Sandelbaum und Ina Walter – für die hervorragende Betreuung. Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle Nina Trčka danken, die das gesamte Manuskript gelesen und korrigiert hat. Ihr aufmerksames Lektorat hat diesen Text zu einem besseren Buch gemacht. Für ihre Unterstützung während des Studiums und für alles andere danke ich meinen Eltern Hans-Georg und Regina Albrecht. Meiner Partnerin Merle Tilk danke ich für ihre bedingungslose Unterstützung und für die über Jahre wiederholte Ermahnung mich klar auszudrücken. Mein Großvater Roland Eichhorn war alles andere als ein Theoretiker. Aber er war, seit ich denken kann, eines meiner größten Vorbilder. Er ist im Februar 2020 gestorben und hat die Einreichung dieser Dissertation leider nicht mehr erlebt. Ihm ist dieses Buch gewidmet.

Literatur

Ackerman, John Wolfe und Bonnie Honig 2011: Agonalität, in: Wolfgang Heuer, Bernd Heiter und Stefanie Rosenmüller (Hg.): Arendt-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart und Weimar: Metzler, 341–347. Açıkgöz, Muharrem 2014: Die Permanenz der Kritischen Theorie: Die zweite Generation als zerstrittene Generationsgemeinschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot. Adorno, Theodor W. 1970 [1951]: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Psyche 24. 7, 486–508. Adorno, Theodor W. 1993 [1946]: Antisemitismus und faschistische Propaganda, in: Ernst Simmel (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a. M.: Fischer, 148–161. Adorno, Theodor W. 1993 [1968]: Einleitung in die Soziologie, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 15. Hg. von Christoph Gödde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 1998 [1965]: Metaphysik. Begriff und Probleme, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 14. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2000: Kritik der Pseudo-Aktivität. Adornos Verhältnis zur Studentenbewegung im Spiegel seiner Korrespondenz. Eine Dokumentation, in: Frankfurter Adorno Blätter VI. Hg. im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs. Göttingen: edition text + kritik, 42–116. Adorno, Theodor W. 2003 [1924]: Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 1: Philosophische Frühschriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7–77. Adorno, Theodor W. 2003 [1931]: Die Aktualität der Philosophie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 1: Philosophische Frühschriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 325–344. Adorno, Theodor W. 2003 [1933]: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 2. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Handeln und Kritik

Adorno, Theodor W. 2003 [1946]: Anti-Semitism and Fascist Propaganda, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 397–407. Adorno, Theodor W. 2003 [1950]: Spengler nach dem Untergang, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 47–71. Adorno, Theodor W. 2003a [1951]: Freudian Theory and the Pattern of Fascist Propaganda, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 408–433. Adorno, Theodor W. 2003b [1951]: Individuum und Staat, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 287–292. Adorno, Theodor W. 2003c [1951]: Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 11–30. Adorno, Theodor W. 2003d [1951]: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 4. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2003 [1952]: Vorurteil und Charakter, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 9.2: Soziologische Schriften II.2. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 360–373. Adorno, Theodor W. 2003a [1953]: Fernsehen als Ideologie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 518–532. Adorno, Theodor W. 2003b [1953]: Individuum und Organisation, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 440–456. Adorno, Theodor W. 2003 [1954]: Beitrag zur Ideologienlehre, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 457–477.



Literatur

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Adorno, Theodor W. 2003 [1955]: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 42–85. Adorno, Theodor W. 2003a [1958]: Der Essay als Form, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 9–33. Adorno, Theodor W. 2003b [1958]: Erpreßte Versöhnung. Zu Georg Lukács »Wider den mißverstandenen Realismus«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 251–280. Adorno, Theodor W. 2003 [1959]: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan BuckMorss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 555–572. Adorno, Theodor W. 2003 [1960]: Kultur und Verwaltung, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 122–145. Adorno, Theodor W. 2003a [1961]: Philosophie und Lehrer, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 474–494. Adorno, Theodor W. 2003b [1961]: Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 281–321. Adorno, Theodor W. 2003a [1962]: Aberglaube aus zweiter Hand, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 147–176. Adorno, Theodor W. 2003b [1962]: Engagement, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 409–430. Adorno, Theodor W. 2003c [1962]: Fortschritt, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 617–638.

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Handeln und Kritik

Adorno, Theodor W. 2003d [1962]: Jene zwanziger Jahre, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 499–506. Adorno, Theodor W. 2003e [1962]: Wozu noch Philosophie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 459–473. Adorno, Theodor W. 2003 [1963]: Résumé über Kulturindustrie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 337–345. Adorno, Theodor W. 2003a [1964]: Anmerkungen zum philosophischen Denken, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan BuckMorss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 599–607. Adorno, Theodor W. 2003b [1964]: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 11: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 388–408. Adorno, Theodor W. 2003c [1964]: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 413–526. Adorno, Theodor W. 2003a [1965]: Auf die Frage: Was ist deutsch, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 691–701. Adorno, Theodor W. 2003b [1965]: Erinnerungen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 173–178. Adorno, Theodor W. 2003c [1965]: Gesellschaft, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 9–19. Adorno, Theodor W. 2003d [1965]: Vorrede zu Rolf Tiedemanns »Studien zur Philosophie Walter Benjamins«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 178–182.



Literatur

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Adorno, Theodor W. 2003a [1966]: Einleitung zum Vortrag »Gesellschaft«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 569–573. Adorno, Theodor W. 2003b [1966]: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 674–690. Adorno, Theodor W. 2003c [1966]: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 6: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 7–412. Adorno, Theodor W. 2003a [1968]: Interimsbescheid, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 182–186. Adorno, Theodor W. 2003b [1968]: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 354–370. Adorno, Theodor W. 2003c [1968]: Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 702–738. Adorno, Theodor W. 2003a [1969]: A l’écart de tous les courants, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 187–189. Adorno, Theodor W. 2003b [1969]: Auf die Frage: Warum sind Sie zurückgekehrt, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 394–395. Adorno, Theodor W. 2003c [1969]: Aus einem Entwurf »Zur Neuausgabe« der Dia­ lektik der Aufklärung, in: Frankfurter Adorno Blätter VIII. Hg. im Auftrag des Theodor W. Adorno Archivs. Göttingen: edition text + kritik, 8. Adorno, Theodor W. 2003d [1969]: »Keine Angst vor dem Elfenbeinturm«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 20.1: Vermischte Schriften I. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 402–409.

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Handeln und Kritik

Adorno, Theodor W. 2003e [1969]: Kritik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 785–793. Adorno, Theodor W. 2003f [1969]: Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 759–782. Adorno, Theodor W. 2003g [1969]: Resignation, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 794–799. Adorno, Theodor W. 2003h [1969]: Zu Subjekt und Objekt, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 741–758. Adorno, Theodor W. 2003 [1970]: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 7. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2006 [1964/1965]: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 13. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2010 [1963]: Probleme der Moralphilosophie, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 10. Hg. von Thomas Schröder. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2015 [1958]: Einführung in die Dialektik, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 2. Hg. von Christoph Ziermann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2016 [1962/1963]: Philosophische Terminologie, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 9. Hg. von Henri Lonitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2017 [1966]: Erziehung – wozu?, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Hg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 105–119. Adorno, Theodor W. 2017 [1969]: Erziehung zur Mündigkeit, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Hg. von Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 133–147. Adorno, Theodor W. 2019 [1965/1966]: Vorlesung über Negative Dialektik, in: ders.: Nachgelassene Schriften IV. Band 16. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2019 [1967]: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.



Literatur

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Handeln und Kritik

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Literatur

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320

Handeln und Kritik

Arendt, Hannah 2013 [1972]: Diskussion mit Freunden und Kollegen in Toronto, in: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. von Ursula Ludz. München: Piper, 73–115. Arendt, Hannah 2013 [1974]: Fernsehgespräch mit Roger Errera, in: dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk. Hg. von Ursula Ludz. München: Piper, 116–133. Arendt, Hannah 2014 [1945]: Antisemitismus und faschistische Internationale, in: dies.: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Berlin: Edition Tiamat, 31–48. Arendt Hannah 2014 [1950]: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: dies.: Nach Auschwitz. Essays & Kommentare 1. Berlin: Edition Tiamat, 7–30. Arendt, Hannah 2015 [1953]: Eine Antwort, in: Hannah Arendt und Eric Voegelin: Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 53–61. Arendt, Hannah 2016 [1943]: Wir Flüchtlinge. Ditzingen: Reclam. Arendt, Hannah 2016 [1957]: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper. Arendt, Hannah 2016 [1958]: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. Arendt, Hannah 2018: Die Freiheit, frei zu sein. Mit einem Nachwort von Thomas Meyer. München: dtv. Arendt, Hannah 2019: Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966. Hg. von Marie Luise Knott und Ursula Ludz. München: Piper. Arendt, Hannah 2020 [1963]: Über die Revolution. München: Piper. Arendt, Hannah und Karl Jaspers 1993: Briefwechsel 1926–1969. Hg. von Lotte Köhler und Hans Saner. München: Piper. Arendt, Hannah und Eric Voegelin 2015: Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Arnold, Jeremy 2016: Caught in Penelope’s Web: Transformations of the Concept of Life from The Human Condition to The Life of the Mind, in: Constellations. An International Journal for Critical and Democratic Theory 23. 4, 608–620. Auer, Dirk 2003: Paria wider Willen. Adornos und Arendts Reflexionen auf den Ort des Intellektuellen, in: Dirk Auer, Lars Rensmann und Julia Schulze Wessel (Hg.): Arendt und Adorno. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 35–56. Auer, Dirk 2012: Theorists in Exile. Adorno’s and Arendt’s Reflections on the Place of the Intellectual, in: Lars Rensmann und Samir Gandesha (Hg.): Arendt and Adorno. Political and Philosophical Investigations. Stanford: Stanford University Press, 229–245. Auer, Dirk, Lars Rensmann und Julia Schulze Wessel (Hg.) 2003: Arendt und Adorno. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Bajohr, Hannes 2011: Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt. Berlin: Lukas Verlag.



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Handeln und Kritik

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Handeln und Kritik

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Literatur

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328

Handeln und Kritik

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Literatur

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Handeln und Kritik

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Literatur

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Handeln und Kritik

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Literatur

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Handeln und Kritik

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Literatur

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Handeln und Kritik

Tiedemann, Rolf 2003: Editorische Nachbemerkung, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Band 1: Philosophische Frühschriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 379–384. Traverso, Enzo 2000: Auschwitz denken: die Intellektuellen und die Shoah. Hamburg: Hamburger Edition HIS. Trimcev, Rieke 2018: Produktive Erkenntnisfehler. Anachronismen in der politischen Ideengeschichte, in: Gérard Raulet und Marcus Llanque (Hg.): Geschichte der politischen Ideengeschichte. Baden-Baden: Nomos, 69–91. Tsao, Roy 2002: Arendt Against Athens: Rereading the Human Condition, in: Political Theory 30. 1, 97–123. Verovšek, Peter 2019: A Case of Communicative Learning? Rereading Habermas’s Philosophical Project through an Arendtian Lens, in: Polity 51. 3, 597–627. Villa, Dana 1996: Arendt and Heidegger: The Fate of the Political. Princeton: Prince­ ton University Press. Villa, Dana 2008a: Genealogies of Total Domination: Arendt, Adorno, and Ausch­ witz, in: ders.: Public Freedom. Princeton: Princeton University Press, 210–254. Villa, Dana 2008b: The »Autonomy of the Political« Reconsidered, in: ders.: Public Freedom. Princeton: Princeton University Press, 338–354. Villa, Dana 2012: From the Critique of Identity to Plurality in Politics: Considering Arendt and Adorno, in: Lars Rensmann und Samir Gandesha (Hg.): Arendt and Adorno. Political and Philosophical Investigations. Stanford: Stanford University Press, 78–104. Voegelin, Eric 2015 [1953]: Die Ursprünge des Totalitarismus, in: Hannah Arendt und Eric Voegelin: Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 43–51. Volk, Christian 2010: Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts. Baden-Baden: Nomos. Volk, Christian 2013a: Hannah Arendt und die Kritik der Macht, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61. 4, 505–528. Volk, Christian 2013b: Zwischen Entpolitisierung und Radikalisierung. Zur Theorie von Demokratie und Politik in Zeiten des Widerstands, in: Politische Vierteljahresschrift 54. 1, 75–110. Wagner, Peter 2005: Versuch, das Endspiel zu verstehen. Kapitalismusanalyse als Gesellschaftstheorie, in: Axel Honneth (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno–Konferenz 2003. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 205–234. Walter-Busch, Emil 2010: Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik. München: Fink Verlag. Weber, Max 2006 [1917]: Wissenschaft als Beruf. Ditzingen: Reclam. Weissberg, Liliane (Hg.) 2011: Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule. Frankfurt a. M. und New York: Campus.



Literatur

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Weißpflug, Maike 2013: Es gibt keine zeitlose Wahrheit. Hannah Arendt. Eine Neubewertung, in: The Germans 4, 62–69. Weißpflug, Maike 2014: Erzählen und Urteilen. Narrative politische Theorie nach Hannah Arendt, in: Wilhelm Hofmann, Judith Renner und Katja Teich (Hg.): Narrative Formen der Politik. Wiesbaden: Springer, 209–225. Weißpflug, Maike 2018: A Natural History for the 21st century. Rethinking the Anthropocene Narrative with Arendt and Adorno, in: Thomas Hickmann, Lena Partzsch, Philipp Pattberg und Sabine Weiland (Hg.): The Anthropocene Debate and Political Science. London und New York: Routledge, 15–30. Weißpflug, Maike 2019: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken. Berlin: Matthes und Seitz. Weißpflug, Maike und Jürgen Förster 2011: The Human Condition/Vita activa oder Vom tätigen Leben, in: Wolfgang Heuer, Bernd Heiter und Stefanie Rosenmüller (Hg.): Arendt-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart und Weimar: Metzler, 61–70. Wellmer, Albrecht 1985: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wellmer, Albrecht 1999: Hannah Arendt über die Revolution, in: Hauke Brunkhorst (Hg.): Recht auf Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internationale Politik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 125–156. Wellmer, Albrecht 2005: Über Negativität und Autonomie in der Kunst. Die Aktualität von Adornos Ästhetik und blinde Flecken seiner Musikphilosophie, in: Axel Honneth (Hg.): Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 237–278. Wesche, Tilo 2018: Adorno. Eine philosophische Einführung. Ditzingen: Reclam. Weyand, Jan 2001: Adornos Kritische Theorie des Subjekts. Lüneburg: Dietrich zu Klampen. Wiggershaus, Rolf 1987: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. München: Carl Hanser. Wiggershaus, Rolf 2012: Wittgenstein und Adorno. Zwei Spielarten modernen Philosophierens. Basel: Schwabe Verlag. Young-Bruehl, Elisabeth 2004: Hannah Arendt. For Love of the World, 2nd Edition. New Haven: Yale University Press. Young-Bruehl 2011: Leben, in: Wolfgang Heuer, Bernd Heiter und Stefanie Rosenmüller (Hg.): Arendt-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart und Weimar: Metzler, 1–10. Zerilli, Linda 2005: Vorwort, in: Oliver Marchart: Neu beginnen: Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien: Turia + Kant, 7–12. Zerilli, Linda 2016: A Democratic Theory of Judgment. Chicago: Chicago University Press.

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Handeln und Kritik

Zuidervaart, Lambert 2007: Social Philosophy after Adorno. Cambridge: Cambridge University Press. Zuidervaart, Lambert 2017: Truth in Husserl, Heidegger, and the Frankfurt School. Cambridge: MIT Press.

Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie Herausgegeben vom Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Amy Allen Kritik auf der Couch Warum die Kritische Theorie auf die Psychoanalyse angewiesen ist 2022. 300 Seiten. Band 36. ISBN 978-3-593-51533-5

Ferdinand Sutterlüty, Almut Poppinga (Hg.) Verdeckter Widerstand in demokratischen Gesellschaften 2022. 440 Seiten. Band 35. ISBN 978-3-593-51535-9

Tobias Albrecht Handeln und Kritik Politik- und Gesellschaftstheorie nach Arendt und Adorno 2022. 370 Seiten. Band 34. ISBN 978-3-593-51451-2

Kristina Lepold Ambivalente Anerkennung 2021. 210 Seiten. Band 33. ISBN 978-3-593-51355-3

Axel Honneth, Kai-Olaf Maiwald, Sarah Speck, Felix Trautmann (Hg.) Normative Paradoxien Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts 2021. 300 Seiten. Band 32. ISBN 978-3-593-51396-6

Julia König Kindliche Sexualität Geschichte, Begriff und Probleme 2020. 542 Seiten. Band 31. ISBN 978-3-593-51018-7

Peter von Haselberg Schuldgefühle Postnazistische Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik 2020. 200 Seiten. Band 30. ISBN 978-3-593-51191-7

Claudia Czingon Die Berufsmoral der Banker Potentiale und Grenzen finanzwirtschaftlicher Selbstregulierung 2019. 293 Seiten. Band 29. ISBN 978-3-593-51020-0

Christian Zeller Warum Eltern Ratgeber lesen Eine soziologische Studie 2018. 367 Seiten. Band 28. ISBN 978-3-593-50980-8

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Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie Herausgegeben vom Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Dirk Quadflieg Vom Geist der Sache Zur Kritik der Verdinglichung 2018. 404 Seiten. Band 27. ISBN 978-3-593-50665-4

Peter Wagner Fortschritt Zur Erneuerung einer Idee Mit einem Vorwort von Axel Honneth 2018. 174 Seiten. Band 26. ISBN 978-3-593-50748-4

Marcel Mauss Die Nation oder Der Sinn fürs Soziale Herausgegeben von Marcel Fournier und Jean Terrier 2017. 360 Seiten. Gebunden. Band 25. ISBN 978-3-593-50583-1

Andrea Bambey, Hans-Walter Gumbinger Neue Väter? Rollenmodelle zwischen Anspruch und Wirklichkeit 2017. 300 Seiten. Band 24. ISBN 978-3-593-50723-1

Greta Wagner Selbstoptimierung Praxis und Kritik von Neuroenhancement 2017. 332 Seiten. Band 23. ISBN 978-3-593-50579-4

Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Raffaele Laudani (Hg.) Im Kampf gegen Nazideutschland Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943 – 1949 2016. 812 Seiten. Band 22. ISBN 978-3-593-50345-5

Philip Hogh, Stefan Deines (Hg.) Sprache und Kritische Theorie 2015. 359 Seiten. Band 21. ISBN 978-3-593-50495-7

Frieder Vogelmann Im Bann der Verantwortung 2014. 486 Seiten. Band 20. ISBN 978-3-593-50125-3

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Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie Herausgegeben vom Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Peggy H. Breitenstein Die Befreiung der Geschichte 2013. 328 Seiten. Band 20. ISBN 978-3-593-39598-2

Axel Honneth, Ophelia Lindemann, Stephan Voswinkel (Hg.) Strukturwandel der Anerkennung Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart 2013. 303 Seiten. Band 18. ISBN 978-3-593-39513-5

Daniel Loick Kritik der Souveränität 2012. 346 Seiten. Band. 17. ISBN 978-3-593-39514-2

Andreas Kuhlmann An den Grenzen unserer Lebensform Texte zur Bioethik und Anthropologie 2011. 199 Seiten. Band 16. ISBN 978-3-593-39515-9

Uwe Vormbusch Die Herrschaft der Zahlen Zur Kalkulation des Sozialen in der kapitalistischen Moderne 2012. 272 Seiten. Band 15. ISBN 978-3-593-39312-4

Ferdinand Sutterlüty In Sippenhaft Negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten 2010. 295 Seiten. Band 14. ISBN 978-3-593-39050-5

Robin Celikates Kritik als soziale Praxis Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie 2009. 272 Seiten. Band 13. ISBN 978-3-593-38885-4

David Garland Kultur der Kontrolle Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart 2008. 394 Seiten. Band 12. ISBN 978-3-593-38585-3

Joel Whitebook Der gefesselte Odysseus Studien zur Kritischen Theorie und Psychoanalyse 2009. 243 Seiten. Band 11. ISBN 978-3-593-38498-6

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Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie Herausgegeben vom Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Thomas Lemke Die Polizei der Gene Formen und Felder genetischer Diskriminierung 2006. 173 Seiten. Band 9. ISBN 978-3-593-38023-0

Rahel Jaeggi Entfremdung Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems 2005. 268 Seiten. Band 8. ISBN 978-3-593-37886-2

Thomas Biebricher Selbstkritik der Moderne Foucault und Habermas im Vergleich 2005. 416 Seiten. Band 7. ISBN 978-3-593-37599-1

Reimut Reiche Triebschicksal der Gesellschaft Über den Strukturwandel der Psyche 2004. 212 Seiten. Band 5. ISBN 978-3-593-37496-3

Martin Hartmann Die Kreativität der Gewohnheit Grundzüge einer pragmatistischen Demokratietheorie 2003. 338 Seiten. Band 3. ISBN 978-3-593-37243-3

Ferdinand Sutterlüty Gewaltkarrieren Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung 2. Auflage, 2002. 382 Seiten. Band 2. ISBN 978-3-593-37081-1

Axel Honneth (Hg.) Befreiung aus der Mündigkeit Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus 2002. 254 Seiten. Band 1. ISBN 978-3-593-37080-4

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