Geschlecht: divers: Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz - Perspektiven für die Soziale Arbeit 9783839453414

Die »Dritte Option«, der nicht-binäre Geschlechtseintrag beim Standesamt, ist mit der Novellierung des Personenstandsges

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Geschlecht: divers: Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz - Perspektiven für die Soziale Arbeit
 9783839453414

Table of contents :
Inhalt
Die ›Dritte Option‹ als neue juristische und soziale Kategorie – eine Einleitung
Ein Prozess um Anerkennung
Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt
Die ›Dritte Option‹
Making Biological Binarity – Geschlechtszuweisende (Genital-)Operationen bei intergeschlechtlichen Kindern
Intergeschlechtlichkeit als Kategorie zur Reflexion von Geschlechtlichkeit in der Sozialen Arbeit
»Das haben halt dann ein paar Lehrer gewusst«
Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule
Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft
Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit
Die Dritte Option und ihre Relevanz in Jugendarbeit und Jugendkulturforschung
Die Relevanz queerer Jugendzentren für trans* und inter* Jugendliche und junge Erwachsene am Beispiel NRW
Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung für Fachkräfte in Erziehungs- und Bildungsprozessen
Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt – Anerkennung und komplexe Netzwerkarbeit
Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher
Autor*innen

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Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.) Geschlecht: divers

Pädagogik

Melanie Groß (Prof. Dr. phil.), geb. 1975, lehrt Soziale Arbeit an der Fachhochschule Kiel. Ihre Schwerpunkte liegen in der Jugend- und Geschlechterforschung und insbesondere in der Auseinandersetzung mit Diskriminierungsverhältnissen auf der Basis von Differenzkategorien. Katrin Niedenthal, geb. 1970, ist selbstständige Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht in Bielefeld. Seitdem sie Verfahrensbevollmächtigte im Dritte Option-Verfahren war, setzt sie sich regelmäßig juristisch und politisch für die Rechte von inter- und transgeschlechtlichen Menschen ein.

Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.)

Geschlecht: divers Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5341-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5341-4 https://doi.org/10.14361/9783839453414 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Die ›Dritte Option‹ als neue juristische und soziale Kategorie – eine Einleitung Melanie Groß und Katrin Niedenthal .................................................. 7

Ein Prozess um Anerkennung Die Geschichte von der Klage auf die dritte Option beim Geschlechtseintrag Vanja ............................................................................... 17

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt Katrin Niedenthal .................................................................. 27

Die ›Dritte Option‹ Gendertrouble im Gefüge des Sozialen und die Herausforderungen für die Soziale Arbeit Melanie Groß ....................................................................... 45

Making Biological Binarity – Geschlechtszuweisende (Genital-)Operationen bei intergeschlechtlichen Kindern Anike Krämer und Katja Sabisch ..................................................... 61

Intergeschlechtlichkeit als Kategorie zur Reflexion von Geschlechtlichkeit in der Sozialen Arbeit Eine theoretische Kartographie Joris A. Gregor ..................................................................... 73

»Das haben halt dann ein paar Lehrer gewusst« Inter* in pädagogischen Diskursen und die Grenzen des Sagbaren Mart Enzendorfer.................................................................... 91

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule Perspektiven und Forderungen für die Schulsozialarbeit Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas ....................................... 113

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft Elena Barta und Kathrin Schrader ................................................. 149

Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit Heinz-Jürgen Voß ................................................................. 173

Die Dritte Option und ihre Relevanz in Jugendarbeit und Jugendkulturforschung Anne Rimbach .................................................................... 185

Die Relevanz queerer Jugendzentren für trans* und inter* Jugendliche und junge Erwachsene am Beispiel NRW Moritz Prasse ..................................................................... 201

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung für Fachkräfte in Erziehungs- und Bildungsprozessen Melanie Groß und Andreas Hechler .................................................. 211

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt – Anerkennung und komplexe Netzwerkarbeit Daniel Lembke-Peters ............................................................. 225

Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher Ursula Rosen...................................................................... 243

Autor*innen ................................................................... 257

Die ›Dritte Option‹ als neue juristische und soziale Kategorie – eine Einleitung Melanie Groß und Katrin Niedenthal

Seit 2018 gibt es vier mögliche Optionen, das Geschlecht eines Menschen in das Geburtsregister einzutragen. Männlich, weiblich, divers und kein Eintrag. Anlass für die Schaffung des Geschlechtseintrages divers war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in dem sogenannten Dritte OptionVerfahren, mit der der Gesetzgeber verpflichtet wurde, eine verfassungskonforme Neuregelung des Personenstandsgesetzes zu schaffen, weil die vorherige Regelung eine Registrierung des Geschlechts als Regelfall vorsah, aber keine positive Geschlechtsbezeichnung für Menschen ermöglichte, die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Mit der nun geltenden Rechtslage hat das Rechtssystem einen neuen Ort der Sichtbarkeit geschaffen, der in der bis dahin geltenden zweigeschlechtlich strukturierten Ordnung nicht existiert hat. Mit der sogenannten Dritten Option divers ist eine neue juristische und soziale Kategorie entstanden, die die Soziale Arbeit herausfordert Perspektiven im Themenfeld der Geschlechtersensibilität und Geschlechtergerechtigkeit weiterzuentwickeln. Die nun bereits erfolgten Änderungen im Personenstandsgesetz folgen einer gesellschaftlichen Realität, in der Differenz insgesamt sowie geschlechtliche und sexuelle Vielfalt – wenn auch milieuspezifisch – immer fluider geworden sind. Die rechtlichen und damit verbundenen sozialen Veränderungen im umkämpften und vermachteten Feld der Geschlechtlichkeit fordert die an Menschenrechten orientierte Soziale Arbeit heraus. Es gilt den eigenen Beitrag an der Zementierung der Zweigeschlechtlichen Ordnung zu hinterfragen und Perspektiven zu entwickeln, die sozialpädagogische/sozialarbeiterische Konzeptionen und Interaktionen in Bildungs-, Unterstützungs- und Hilfesystemen auf eine Weise weiterführen, die allen Adressat*innen einen Ort der Lebbarkeit einräumen.

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Auch wenn es schon seit 2013 möglich war, den Geschlechtseintrag offen zu lassen, hatte dies nicht zu einer erhöhten Sichtbarkeit von Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität in der Sozialen Arbeit oder in der Gesellschaft insgesamt geführt. Menschen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit, deren Geschlechtseintrag offen gelassen wurde, bleibt als Bezeichnung eine Leerstelle. Diese kann einerseits als Nicht-Existenz gelesen werden, die insbesondere im Kontakt mit Institutionen und Behörden einen Nicht-Ort aufrief, andererseits aber auch als Ort der Befreiung vom Zwang zur Geschlechtlichkeit verstanden werden. Bislang erwarten jedoch Schulen, Kitas, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und viele andere Institutionen, dass Menschen ein entweder weibliches oder männliches Geschlecht haben und stellen damit diejenigen, die ein solches Geschlecht nicht haben, vor eine Vielzahl von Problemen. Mit institutionellen sich immer wieder wiederholenden binären Geschlechtszuweisungen in Akten, Unterlagen, Formularen, Handlungen und Anrufungen in der Sozialen Arbeit sind Vorstellungen, Erwartungen und Rollenbilder verbunden, die den meisten Menschen mit einer cisgeschlechtlichen Identität und endogeschlechtlichen Körpern als unhinterfragbar natürlich und selbstverständlich gelten. Sie produzieren Anreden, Zuschreibungen, Eingrenzungen und Verletzungen bei inter*geschlechtlichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Viele inter*geschlechtliche Kinder erfahren zudem bis heute massive und bisweilen traumatisierende und sie lebenslang in ihrer Lebensqualität sehr stark einschränkende Eingriffe in ihre Körper. Diese Eingriffe werden in einem weit überwiegenden Anteil nicht vorgenommen, weil die medizinischen Eingriffe und Disziplinierungen der Körper notwendig wären, sondern weil Ärzt*innen und Eltern sich der unhinterfragten Norm der Zweigeschlechtlichkeit unterwerfen und gleichsam die Unversehrtheit der inter*geschlechtlichen Körper als nachrangiger einstufen (vgl. Hoenes/Januschke/Klöppel 2019) als die Herstellung der »Zweikörpergeschlechternorm« (Gregor 2015). Auch trans*geschlechtliche Adressat*innen der Sozialen Arbeit waren und sind von der ausschließend konstruierten Zwei(körper)geschlechtlichkeit betroffen und werden hochgradig durch die Systeme des Rechts und der Medizin reguliert, kontrolliert und in ihren Subjektivierungsmöglichkeiten diszipliniert. Gerade die Soziale Arbeit kann und sollte die Herausforderungen annehmen, die nun mit der Änderung im Personenstandsrecht verbunden sind und Perspektiven entwickeln, um den eigenen professionellen Ansprüchen genügen zu können. Ist sie doch im Selbstverständnis eine Profession, die sich an Gerechtigkeit, Menschenrechten, emanzipatorischer Bildung

Die ›Dritte Option‹ als neue juristische und soziale Kategorie – eine Einleitung

und dem Unterstützen von Handlungsfähigkeit verpflichtet. Insbesondere in den Bereichen der Sozialen Arbeit, die explizit geschlechtssensibel arbeiten, ist die Debatte um die Frage des Umgangs mit geschlechtlicher Vielfalt nicht neu (vgl. u.a. Bütow/Munsch 2012). Hier können auch Debatten um Intergeschlechtlichkeit anschließen. Gleichwohl gehen wir davon aus, dass es nach wie vor eine besondere Herausforderung für viele Fachkräfte in der Sozialen Arbeit ist, sich in dem Spannungsfeld von einerseits der Wirkmächtigkeit von Zweigeschlechtlichkeit und andererseits der Kritik an Zweigeschlechtlichkeit zu bewegen. Mindestens seit den Debatten um Differenz, queere Perspektiven und Intersektionalität sind in Kontexten vor allem etwa der Mädchen- und Jungenarbeit (und damit nur in einem sehr kleinen Ausschnitt aller Handlungsfelder der Sozialen Arbeit) intensive Debatten geführt und konzeptionelle Überlegungen umgesetzt worden, an die weiterführende Überlegungen im Anschluss an die Entscheidung zur Dritten Option theoretisch und handlungspraktisch anschließen können (vgl. u.a. Heinrichs 2001, Plößer 2005, Sabla/Plößer 2013, Schrader/von Langsdorff 2014, von Langsdorff 2014, Hartmann/Messerschmidt/Thon 2017). Diese Perspektiven stellen zweigeschlechtliche Regulierungen insgesamt in Frage und suchen dennoch nach Wegen, um Räume für kollektives Empowerment und auch den Schutz von benachteiligten und diskriminierten Gruppen zu ermöglichen. Oft stehen dabei die lebenslagenbedingten Binnendifferenzen von Gruppen im Zentrum der Überlegungen. Weder auf der Ebene der Forschung noch auf der Ebene der Handlungspraxen kann aber bislang, bis auf wenige Ausnahmen (vgl. u.a. Bochert/Focks/Nachtigall 2018, Hechler 2015, Enzendorfer/Haller 2020), auf eine breite Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit der Infragestellung des Zweigeschlechter- und Zweikörpergeschlechtersystems zurück gegriffen werden. Genau an dieser Stelle setzt der vorliegende Sammelband an und fokussiert das Thema der Herausforderungen und Perspektiven durch die Neujustierungen im gesellschaftlichen System der Geschlechtlichkeit. Dabei schließen viele Texte an queere, feministische und postkoloniale Theorieansätze sowie vorliegenden Publikationen zu Intergeschlechtlichkeit und auch zu Transgeschlechtlichkeit an und erweitern mit weiterführenden theoretischen und konzeptionellen Überlegungen die Perspektive insbesondere für das Thema Intergeschlechtlichkeit. Auf der Ebene der Forschung wird insgesamt deutlich, dass die Datenlage sehr überschaubar ist und dass die oft vorgenommene empirische kategoriale Zusammenfassung all derjenigen, die nicht der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit entsprechen, nicht

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hilfreich ist, um die Bedarfe und Vulnerabilität spezifischer Gruppen zu erkennen und spezifische Angebote entwickeln zu können. In nahezu allen Beiträgen wird eine erforderliche Auseinandersetzung der Fachkräfte mit den eigenen Voraussetzungen des So-Geworden-Seins und der eigenen Vergeschlechtlichung formuliert. Diese ist keineswegs banal und erfordert eine sehr hohe selbstreflexive Kompetenz, weil sie das Alltagswissen auf eine Art und Weise durchkreuzt, die auch vor der Infragestellung der eigenen Identität nicht Halt macht. Dafür braucht es nicht nur qualifizierte Angebote innerhalb des Studiums des Sozialen Arbeit, sondern auch Reflexionsschleifen in den Handlungsfeldern, für die die Soziale Arbeit Gelegenheitsstrukturen schaffen müsste, was u.a. auch aufgrund der nicht selten prekären Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit oft nicht ausreichend umgesetzt wird. Der vorgelegte Band hat nicht den Anspruch, eine umfassende Bearbeitung aller Perspektiven für die Soziale Arbeit zu leisten, sondern möchte vielmehr Einblicke und Anschlüsse bieten, die in vielen Handlungsfeldern weiter bearbeitet werden können.

Zu den Beiträgen im Einzelnen Vanja beschreibt in dem Text Ein Prozess um Anerkennung. Die Geschichte von der Klage auf die dritte Option beim Geschlechtseintrag welche persönlichen Erfahrungen und politischen Überlegungen zu der Entscheidung für das Dritte Option-Verfahren geführt haben und welche Ziele gemeinsam mit der Kampagnengruppe für eine Dritte Option bis zum Bundesverfassungsgericht verfolgt wurden. Dabei wird deutlich, wie viele Handlungsfelder der Sozialen Arbeit (und auch der Bildungsinstitutionen) auf dem Lebensweg einer intergeschlechtlichen Person relevant werden können – als Orte der Unterstützung oder auch als Orte der Begrenzung. In dem Beitrag von Katrin Niedenthal wird erläutert, welche Bedeutung der Geschlechtseintrag eines Menschen hat und welche rechtlichen Verfahren es gibt, um diesen zu ändern. Sich aus der aktuellen Rechtslage ergebende Rechtsunsicherheiten und offene Handlungsbedarfe werden beispielhaft ebenso aufgezeigt, wie grundsätzliche höchstgerichtliche Erwägungen zur Anerkennung der selbstempfundenen Geschlechtsidentität. Melanie Groß zeigt in ihrem Beitrag, welche Bedeutung die kritische Reflexion der Zweigeschlechterordnung für die Professionalität der Sozialen Ar-

Die ›Dritte Option‹ als neue juristische und soziale Kategorie – eine Einleitung

beit hat. Sie arbeitet theoretische Leerstellen und Anschlüsse für die Debatte um Intergeschlechtlichkeit für die Soziale Arbeit heraus und zeigt, dass diese fruchtbar gemacht werden können, um dem Anspruch der Sozialen Arbeit Unterstützung zu leisten, Bildung zu gestalten und Handlungsfähigkeit zu stärkengerecht werden zu können. Der Beitrag von Anike Krämer und Katja Sabisch zeichnet die Entwicklung der systematischen operativen Zuweisung von intergeschlechtlichen Kindern beginnend mit dem sogenannten Baltimorer Behandlungskonzept nach und diskutiert aktuelle Entwicklungen. Mit Blick auf die Medizin als Profession wird die Frage gestellt, aus welchem Grund nach wie vor medizinisch nicht notwendige geschlechtszuweisenden Operationen durchgeführt werden. Es wird festgestellt, dass es derzeit verschiedene Denkstile in der Medizin gibt, der pathologisierende, der normierende und der emanzipatorische Denkstil, die sich zum Teil widersprechen und dennoch parallel bestehen. Nur äußerer Druck durch Aktivismus und Politik kann nach Einschätzung der Autorinnen die emanzipatorische Denkstilumwandlung langfristig herbeiführen. Im Artikel von Joris Gregor wird die Relevanz von Intergeschlechtlichkeit für das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit – und damit nicht zuletzt für die Soziale Arbeit – aus theoretischer Perspektive vermessen. Das System der Zweigeschlechtlichkeit stabilisiert sich auch über die Erforschung, Vermessung, Versehrung und Tabuisierung intergeschlechtlicher Körper. Dabei beschränkt sich die Wirkmächtigkeit schulmedizinischer Kolonialisierungen gerade nicht auf den ›westlichen‹ Raum, sondern wirkt in ›nicht-westlichen‹ Kulturkreisen doppelt kolonialisierend, indem westliche und damit letztlich weiße Normen den Maßstab für den Umgang mit Inter* bilden. Der Artikel zeigt, dass Intergeschlechtlichkeit einen bedeutenden sozialen Gehalt im ›westlichen‹ kulturellen System der Zwei(körper)geschlechtlichkeit aufweist und deshalb in seiner Komplexität in geschlechtssensible Reflexionen einfließen sollte. In dem Beitrag von Mart Enzendorfer werden pädagogische Geschlechterdiskurse und ihre komplexen Ausschließungssysteme kritisch hinterfragt. Die rekonstruktive Analyse einer biografischen Erzählung einer intergeschlechtlichen Person bildet das Kernstück dieses Beitrags und bietet eine Reflexion der Grenzen, aber auch Zwischenräume des Sagbaren im pädagogischen Kontext. Die (bisher in der Forschung fehlenden) Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen zeigen sowohl Problemfelder als auch Handlungsspielräume in pädagogischen Kontexten auf.

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Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Chancen und Herausforderungen sich mit der Änderung des Personenstandsgesetzes und Einführung einer Dritten Option für den Kontext Schule und die Schulsozialarbeit ergeben. Vor dem Hintergrund empirischer Befunde zeigen sie, dass der Sozialen Arbeit in bzw. am Ort der Schule eine zentrale Bedeutung zukommt, wenn es darum geht, intergeschlechtliche Schüler*innen zu unterstützen und Diskriminierung entgegen zu wirken. Mittels einer qualitativen Befragung von Schulsozialarbeiter*innen in Berlin arbeiten sie darüber hinaus heraus, auf welchen Ebenen die Hilfe und Unterstützung ansetzen kann und welche Barrieren hierbei zu überwinden sind. Kathrin Schrader und Elena Barta zeigen mit Verweis auf theoretische Konzepte der Intersektionalität und Vulnerabilität die Wechselwirkung von Heteronormativismen, Bodyismen und Klassismen anhand von Beispielen aus der Sozialen Arbeit auf. Ihnen geht es um die Perspektive, die Wirkmächtigkeit dieser interdependenten Herrschaftsverhältnisse nicht nur zu analysieren, sondern darüber hinaus auch zu zeigen, welche Angriffsmöglichkeiten sich bieten. Die Beispielfelder sind Wohnungslosigkeit, Asylverfahren und Gefängnisse. Hierbei zeigen sie, inwiefern Psychiatrisierung und Ableismus als Teil von Bodyismus fungieren und schließen mit einer Perspektive, welche die Handlungsfähigkeit in der Sozialen Arbeit und Forschung von Betroffenen erweitern kann. Heinz-Jürgen Voß zeigt, dass aktivistische Erfolge, die mit dem Themenfeld Intergeschlechtlichkeit und der Dritten Option verbunden sind, immer auch mit weiteren aktivistischen Bestrebungen in Zusammenhang stehen und plädiert dafür, diese in der Sozialen Arbeit ernst zu nehmen und als Ausgangspunkt für gesellschaftliche Veränderungen zu fassen. Der Beitrag zeigt, dass die Implementierung von Intergeschlechtlichkeit eine Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit ist und mit Anforderungen an die Fachkräfte sowie an die Hochschulen verbunden ist. Anne Rimbach beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Notwendigkeit einer intersektionalen und queeren Perspektive in der Jugendarbeit sowie in der Jugendkulturforschung. Dabei fokussiert sie in einem ersten Schritt die Fachkräfte in der Jugendarbeit. Ausgehend von Erkenntnissen zu Queer Theory und Intersektionalität legt sie dar, weshalb die Anliegen von Inter*, Trans* sowie nichtbinären, genderfluiden Jugendlichen und Jugendlichen, die sich nicht mit der heterosexuellen Norm identifizieren, Beachtung in Jugendarbeit und Jugendkulturforschung finden müssen. Nach einem Anriss verschiede-

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ner intersektionaler Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit, gibt der Beitrag Einblicke in intersektionale, queere Forschung in der jugendkulturell geprägten Hardcore-Szene anhand des Promotionsprojekts der Autorin. Moritz Prasse zeigt, dass Queere Jugendtreffs sich in den letzten Jahren für trans* Jugendliche nicht nur bewusst geöffnet, sondern ihr Angebot auch zunehmend professionalisiert haben. Sie sind mittlerweile ein wichtiger Baustein für die Begleitung und Beratung von trans* Jugendlichen. Zugleich verweist er darauf, dass die Angebote der queeren Jugendtreffs sich auch an inter* Jugendliche richten, sie bisher aber nur selten von geouteten inter* Jugendlichen genutzt werden und stellt dies auch in einen Zusammenhang mit fehlenden professionellen Strukturen. Der Beitrag von Melanie Groß und Andreas Hechler betont, dass der institutionalisierte Bildungs- und Erziehungsbereich wesentlich an der Formung von Geschlechterverständnissen beteiligt ist und an der Unsichtbarmachung intergeschlechtlicher Personen systematisch mitwirkt. Sie zeigen, welche Aspekte einer geschlechtersensiblen Selbstreflexion von Fachkräften notwendig sind, um den Bedarfen intergeschlechtlicher Menschen in Erziehungsund Bildungsinstitutionen gerechter werden zu können. Der Beitrag thematisiert dafür die Relevanz des Wissens über Intergeschlechtlichkeit in Kontexten der Sozialen Arbeit aus zwei Blickwinkeln. Zum einen wird eine theoretische Perspektive eingenommen, die unter Bezugnahme verschiedener theoretischer Ansätze begründet, weshalb die Berücksichtigung der Lebenswelten und Bedarfe intergeschlechtlicher Menschen in sozialarbeiterischen Kontexten elementar wichtig ist. Zum anderen zeigt der Beitrag konkrete Umsetzungsmöglichkeiten in der sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Praxis auf. Ziel der dargelegten Perspektive ist die Herstellung angst- und diskriminierungsfreier Räume sowie die Unterstützung der Handlungsfähigkeit der Adressat*innen. Daniel Lembke-Peters geht auf das Zusammenwirken der LSBTIQ*Bewegung anlässlich der neuen Möglichkeiten im Personenstandsrecht ein und legt hierbei einen Fokus auf die LSBTIQ*-Netzwerkarbeit. Der Beitrag geht Fragen nach Zugehörigkeiten zur LSBTIQ*-Bewegung, nach unterschiedlichen Positionen in der Antidiskriminierungsarbeit sowie nach einem kompetenten Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt für die Soziale Arbeit und für verwandte Felder nach. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen verbindet der Beitrag das Trilemma der Inklusion mit der Frage nach Kompetenz im Umgang mit Heterogenität in der LSBTIQ*-Bewegung und ordnet die LSBTIQ*-Netzwerkarbeit als Handlungsebene innerhalb und au-

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ßerhalb der Bewegung mit Rückgriff auf Anerkennungstheorien als wichtige Chance und Herausforderung für die Antidiskriminierungsarbeit ein. Abschließend beschreibt der Beitrag von Ursula Rosen die Situation von Eltern, die oft völlig überraschend ein intergeschlechtliches Kind bekommen, ohne vorher über diese Option aufgeklärt worden zu sein. Zu diesem Umstand tritt häufig eine Verunsicherung durch den medizinischen Betrieb und die immer noch vorherrschende Pathologisierung der Intergeschlechtlichkeit. Der Artikel beschreibt die Situation von Eltern in den verschiedenen Entwicklungsphasen der Eltern-Kind-Beziehung, zeigt Probleme und Bedarfe auf und nennt Alternativen zur medizinischen Sichtweise auf Intergeschlechtlichkeit.

Lesehinweise Insgesamt ist im Bereich der rechtlichen Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt aktuell viel in Bewegung, sodass nicht ausgeschlossen ist, dass bei Erscheinen dieses Bandes bereits weitere Gesetzesänderungen (etwa im Bereich des Transsexuellengesetzes oder zum Verbot der geschlechtsverändernden Operationen an Säuglingen und Kindern) diskutiert und verabschiedet wurden. In diesem Band wird zumeist der Gender-Stern (*) aber auch der GenderDoppelpunkt (:) sowie der Gender-Gap (_) verwendet. Damit orientieren sich die Autor*innen an den derzeit an vielen Orten entstehenden Empfehlungen zu geschlechtergerechter Schreibweise. Leider sind die Schreibweisen mit dem * und dem _ bislang nicht barrierefrei, weil Vorleseprogramme diese Zeichen nicht als Sprechpause sprechen. Um diesem Problem gerecht zu werden, wird momentan teilweise der (unauffälligere) Doppelpunkt statt des Sterns oder des Unterstrichs genutzt. Es finden sich zudem unterschiedliche Schreibweisen etwa von Sammelabkürzungen für geschlechtliche und/oder sexuelle Vielfalt, wie beispielsweise LSBTIQ*, LSBTIQ und LSBTIQ+ für Lesben, Schwule, Bisexuelle, transgeschlechtliche Menschen, intergeschlechtliche Menschen und Queers. Der Zusatz * oder + symbolisiert, dass die Gruppen, die durch die jeweiligen Buchstaben repräsentiert sind, weder in sich homogen sind, noch dass sie die einzigen Gruppen sind, deren geschlechtliche und sexuelle Situierung der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Norm nicht entspricht. Die von den jeweiligen Autor*innen der Texte gewählten un-

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terschiedlichen Benennungsmöglichkeiten sind Beispiele für die Möglichkeiten, die Sprache bietet, um geschlechtliche und sexuelle Vielfalt abzubilden.

… und ein Dank! Abschließend möchten wir uns ganz herzlich bei der Kampagnengruppe für eine Dritte Option für die Unterstützung dieses Buchprojekts bedanken. Ein herzlicher Dank geht auch an alle Autor*innen, die unseren recht straffen Zeitplan trotz der COVID-19 Pandemie mit all ihren Herausforderungen eingehalten haben und darüber hinaus in gemeinsamen konzeptionellen Besprechungen des gesamten Bandes und aktiver Beteiligung an Feedbackschleifen zu den jeweils entstandenen Artikeln zur Qualität des Sammelbandes beigetragen haben. Ein besonderer Dank geht auch an Jonas Lindhorst, Barbara Richters und Mika Schäfer, deren gründliches Korrekturlesen uns eine große Hilfe war. Nicht zuletzt bedanken wir uns auch beim transcript Verlag, der das Projekt von der Idee bis zur Umsetzung unterstützt hat.

Literatur Bochert, Nadine/Focks, Petra/Nachtigall, Andrea (2018): »Trans*, Inter* und genderqueere Jugendliche in Deutschland – partizipativ-empowernde Unterstützungsangebote und ihre Bedeutung für eine menschenrechtsbezogene Soziale Arbeit«, in: Christian Spatscheck/Claudia Steckelberg/DGSA (Hg.), Menschenrechte und Soziale Arbeit, Berlin, Toronto: Budrich, S. 231-243. Bütow, Birgit/Munsch, Chantal (Hg.) (2012): Soziale Arbeit und Geschlecht. Herausforderungen jenseits von Universalisierung und Essentialisierung, Münster: Westfälisches Dampfboot. Enzendorfer, Mart/Haller, Paul (2020): »Intersex and Education: What can Schools and Queer School Projekts learn from Current Discourses on Intersex in Austria?«, in: Dennis A. Francis/Jón Ingvar Kjaran/Jukka Lehtonen (Hg.), Queer Social Movement and Outreach Work in Schools. Queer Studies and Education. Cham: Palgrave Macmillan, S. 261-284. Gregor, Joris A. (2015): Constructing Intersex. Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie, Bielefeld: transcript (veröffentlicht unter Anja Gregor).

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Groß, Melanie (2014): »Intersektionalität. Reflexionen über theoretische und konzeptionelle Perspektiven für die Jugendarbeit«, in: Nicole von Langsdorff (Hg.), Intersektionalität und Jugendhilfe, Berlin/Toronto: Budrich, S. 170-183. Hartmann, Jutta/Messerschmidt, Astrid/Thon, Christine (Hg.) (2017): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogischer Kritik der Heteronormativität, Opladen/Berlin/Toronto: Budrich. Hechler, Andreas (2015): »Intergeschlechtlichkeit in Bildung, Pädagogik und Sozialer Arbeit«, in: BMFSFJ (Hg.), Geschlechtliche Vielfalt. Begrifflichkeiten, Definitionen und disziplinäre Zugänge zu Trans- und Intergeschlechtlichkeiten. Begleitforschung zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität. Berlin, S. 61-74. Heinrichs, Gesa (2001): Bildung, Identität, Geschlecht, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer. Hoenes, Josch/Januschke, Eugen/Klöppel, Ulrike (2019): Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter. Follow Up-Studie, Bochum: Ruhr-Universität Bochum. Langsdorff, Nicole von (2014) (Hg.): Intersektionalität und Jugendhilfe, Berlin/Toronto: Budrich. Plößer, Melanie (2005): Dekonstruktion ∼ Feminismus ∼ Pädagogik. Vermittlungsansätze zwischen Theorie und Praxis, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer. Plößer, Melanie (2014): Normen, Subjekte, Soziale Arbeit. Queere Perspektiven auf ein Ambivalentes Verhältnis, in: Sozialmagazin 3-4, S. 14-20. Sabla, Kim-Patrick/Plößer, Melanie (2013): Gendertheorien und Theorien Sozialer Arbeit: Bezüge, Lücken und Herausforderungen, Opladen/Berlin: Budrich. Schrader, Kathrin/von Langsdorff, Nicolle (2014): Im Dickicht der Intersektionalität, Münster: Unrast.

Ein Prozess um Anerkennung Die Geschichte von der Klage auf die dritte Option beim Geschlechtseintrag Vanja

Bei Fragebögen scheitere ich oft schon an Frage Nummer 2. Ich soll mich entscheiden: ›Frau‹ oder ›Mann‹. Und fühle mich mal wieder – nicht repräsentiert. Irgendwie – übergangen. Keine Medizin, keine Psychologie, kein Gesetz kann mir sagen, dass es mich nicht gibt – als Hermaphrodit. Mein Spiegel beweist doch, dass es mich gibt. Mit diesem Text möchte ich versuchen die persönlichen und politischen Motive für die Klage auf eine dritte Option beim Geschlechtseintrag zu erklären. Wir haben zusammen bis vor das Bundesverfassungsgericht geklagt und am Ende in den meisten Punkten Recht bekommen. Im Grunde habe ich mich in den Kategorien ›Mann‹ oder ›Frau‹ nie so richtig wiedergefunden. Das war für mich schon als Kind sehr klar. Nur Worte dafür hatte ich nicht. Als ich elf Jahre alt war, habe ich zwar als offiziell einziges Mädchen mit den Jungs Fußball gespielt, angefangen zu schreien, wenn ich ein Kleid anziehen sollte, aber was meinen Körper betraf, waren ich und alle anderen sicher, dass ich weiblich bin. Bis die Mädchen und Jungen um mich herum in die Pubertät kamen und meine auf sich warten ließ. Meine Brust blieb flach, aber in den Stimmbruch bin ich auch nicht gekommen. Da wurde klar, dass mein Körper gar keine eigenen ›Geschlechts‹-Hormone produziert. Die Ärztin, die mich deswegen untersucht hat nannte das einen »Genetischen Defekt«. Gemeint war ich. Und die Tatsache, dass ich ein und nicht zwei X-Chromosomen habe. Leider klang es gar nicht wie eine akzeptable Form von Geschlecht, sondern eher nach einer Krankheit. Darum wollte ich nichts davon wissen. Und ich habe auch keine Fragen gestellt oder Hilfe gesucht. Obwohl es natürlich verwirrend war zu merken, dass mein Körper anders ist als der von den meisten um mich herum. Aber aus Scham habe ich lieber geschwiegen.

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Im Internet habe ich dann gelesen: Du kannst eine Frau sein, wie jede andere. Ohne viele Erklärungen, habe ich also Östrogen verschrieben bekommen. Niemand hat dabei gefragt, ob ich wirklich möchte, dass sich mein Körper mehr in Richtung weiblich verändert. Es schien so, als sei dies die einzige Möglichkeit. Mein Biologiebuch in der Schule hatte dann auch noch einen veralteten Text zum »Turner Syndrom«, in dem es hieß, wir X0 Menschen seien weniger intelligent. Ich habe das Thema also für ein paar Jahre verdrängt. Stattdessen der Versuch eine Frau zu werden. Von Anfang an, war ich nicht sehr erfolgreich dabei. Mich als lesbisch zu outen war dann der erste kleine Schritt offensiv damit umzugehen, was eigentlich sowieso alle bemerkt haben. Dass ich eben nicht war, wie andere Frauen um mich herum. Jetzt war ich nach der Schule auch in einer Großstadt gelandet. Hier habe ich zum ersten Mal andere Queers getroffen und mich zumindest mehr verstanden gefühlt, als in der Kleinstadt, wo ich zur Schule gegangen bin. Als ich dann den Film XXY gesehen habe, war plötzlich klar, dass Mediziner*innen sich irren können. Jetzt war ich bereit, auf mich selber zu hören und habe die ungeliebten Hormone einfach weggeworfen, ohne mit einer Ärztin oder meiner Familie zu sprechen. Wie ein Sprung ins kalte Wasser, irgendwie aufregend und beängstigend, aber vor allem gut hat sich das angefühlt. Wenig später habe ich mir zum Ausprobieren einen Bart angeklebt. Es war Liebe auf den ersten Blick Wenn ich offensichtlich keine Frau bin, vielleicht sollte ich das mit dem Mann sein mal versuchen, dachte ich mir. Ich hatte jetzt auch ein paar andere trans* Menschen getroffen. Auch wenn mir klar war, dass ich nicht unbedingt ein Mann bin, träumte ich von einem Bart und tieferer Stimme. Jetzt blieb die Frage, ob ich eine Person finde, die mir statt Östrogen ein Rezept für Testosteron aufschreibt. Ich ging zum Arzt und wurde wieder enttäuscht. Jetzt sollte ich erst ein Gutachten vorlegen und beweisen, dass ich eine »Geschlechtsidentitätsstörung« hätte, um Hormone verordnet zu bekommen. Mein Einwand, dass mein Körper ja sowieso keine eigenen Hormone produziere und ich außerdem selber entscheide, welche Hormone ich nehme, wurde nicht akzeptiert. Als ich 16 war und gar nicht so genau wusste wer ich bin, hat kein Mensch gefragt. Jetzt, als ich endlich wusste, was ich will, sollte mein eigener Wunsch auf einmal nicht ausreichen? Während mir schon zu Schulzeiten auch mal Zettelchen geschrieben wurden, auf denen stand, »Du siehst aus wie ein Zwitter« war ich jetzt nicht inter* genug?

Ein Prozess um Anerkennung

Sondern eigentlich Frau – nur ohne Hormone – aber trotzdem Frau – und sollte deswegen jetzt den Trans*-Weg gehen? Mir blieb keine Wahl, ich besorgte mir das gewünschte Gutachten und bekam, was ich wollte. Das Testosteron wirkte erstaunlich schnell. Fast als hätte mein Körper nur darauf gewartet kam ich dem Normbild eines Mannes so nah – wie ich niemals an das Normbild einer Frau herangekommen war. Da blieb nur diese Kleinigkeit mit dem Pass. Mittlerweile guckten die Leute immer seltsamer, wenn ich mit Bart und tiefer Stimme meinen Ausweis zeigte. Der behauptete nämlich immer noch, ich wäre weiblich. Ich habe kurz überlegt, ob ich jetzt noch ein weiteres Gutachten einholen soll, um den Pass über das TSG1 (Transexuellengesetz) zu ändern. Aber weil ich mich trotz äußerem passing2 nie komplett als Mann gefühlt habe, schien mir das irgendwie verlogen. Sicher, mein veränderter Körper fühlte sich passender an. Aber im Inneren war ich immer noch die gleiche Person. Nicht Frau, nicht Mann sondern Inter*, Trans*, divers. Vor allem aber war ich wütend. Je mehr ich mich mit der Geschichte von Inter* und Trans* beschäftigt habe, je mehr andere Trans und Inter ich traf, umso mehr wurde mir klar, ich will das nicht mehr. Mich wieder verstecken. So tun, als wäre ich ein Mann, nur, damit die anderen sich nicht in ihrer »Zwei-Geschlechter-Matrix« gestört fühlen. Ich will, dass die Leute endlich akzeptieren, dass wir da sind. Als Inter * und Trans*. Und dass wir okay sind, wie wir sind. Ich will, dass es aufhört, dass wir angepasst und unsichtbar gemacht werden. Da war viel Trotz und Stolz in mir drin. Auch ein zunehmendes Bewusstsein, dass nicht mein Körper und meine Identität hier das eigentliche Problem sind. Sondern eine Gesellschaft, die mich an eine weibliche Norm anpassen wollte. Eine Gesellschaft, die sogar schon kleine Kinder ungefragt, ohne medizinische Notwendigkeit an den Genitalien operiert. Weil Narben und Schmerzen angeblich immer noch besser seien, als einen Körper zu haben, der offensichtlich nicht männlich oder weiblich, sondern intergeschlechtlich ist.

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Das Transexuellengesetz regelt in Deutschland wie Trans* ihren Geschlechtseintrag ändern lassen können. Große Teile des TSG wurden vom Bundesverfassungsgericht bereits für verfassungswidrig erklärt und gestrichen. Passing aus dem Englischen to pass for oder to pass as »als … durchgehen«, »sich als … ausgeben«. In diesem Kontext meint »passing« von außen nicht mehr als Frau, oder als Inter*, sondern als Mann wahrgenommen zu werden beziehungsweise als Mann durchzugehen.

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Vor allem aber war ich zum ersten Mal nicht mehr alleine mit diesen Gefühlen. In queerfeministischen Gruppen, in Trans*-Gruppen, bei Inter*Treffen, immer mehr und mehr habe ich andere gefunden, die auch unzufrieden waren mit engen Geschlechterrollen und dem Anpassungsdruck. An dieser Stelle war klar, ich möchte Veränderungen bewirken. Nicht nur für mich, sondern auch und vor allem für die Inter* und Trans*, die fühlen wie ich. Mit dem Wissen, endlich auch Leute zu kennen, die ein ähnliches Interesse haben, fühlte ich mich stark genug dafür. Jetzt blieb die Frage »Wie?«. In einer Gesellschaft, in der so vieles nach Geschlechtern getrennt ist, wo fange ich da an? Bei der Medizin, deren Umgang mit Inter* immer noch davon geprägt ist, an eine männliche oder weibliche Norm anzupassen? Bei den Toiletten, die jetzt im Zuge der dritten Option plötzlich so viel diskutiert werden? Und das, obwohl die Bahn schon seit Jahren Unisextoiletten hat. Fange ich an beim Sport, der noch immer nach Geschlechtern trennt und Inter* wie Caster Semenya ausschließt? Bei den Formularen im Amt, beim Onlineticket – überall, wo ich m oder w ankreuzen muss? Fange ich an in Kindergarten und Schule, wo schon die Kleinsten oft beigebracht bekommen, in geschlechtergetrennten Gruppen zu spielen? Fange ich an bei den Läden, die Kleidung – ja sogar Socken – nach Geschlechtern sortieren? Dank neuester Technik geht es sogar so weit, dass Menschen per Pränataldiagnostik prüfen, ob ein Fötus bestimmte Formen der Intersexualität hat, zum Beispiel nur ein x Chromosom wie ich. Bis zu 70 Prozent entscheiden sich dann, wenn sie die Wahl haben, gegen die Geburt, obwohl es einen Kinderwunsch gibt. Mir ist ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch sehr wichtig, aber trotzdem ist es zu kritisieren, wenn nur bestimmte Kinder nicht erwünscht sind, andere aber schon. Eine angebliche Normalität von Mann* und Frau* wird erst mit Gewalt hergestellt: durch Selektion, durch OPs, durch Anpassungsdruck. Für mich war klar, die Veränderung muss radikal sein. Radikal heißt an der Wurzel. Ich wollte nicht nur einen Teil der Auswüchse von diesem Zwei-GeschlechterSystem verändern, sondern dahin gehen, wo alles angefangen hat: Logischerweise war der Anfang für mich die Geburtsurkunde. Irgendwann hatte irgendwer ohne mich zu kennen, ohne dass ich selber etwas dazu sagen konnte, eingetragen, dass ich weiblich sei. Wenn ich will, dass die Leute verstehen, akzeptieren, dass ich Inter* bin, muss ich also genau hier anfangen. Ich wollte nicht als Mann oder Frau, sondern als Inter* anerkannt werden. Ganz offiziell. Denn eine erste offizielle Anerkennung des Geschlechts kann vielleicht

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mit dazu beitragen, dass sich die anderen oben genannten Punkte verändern lassen. Zumindest ist das eine Hoffnung, die wir in der Kampagnengruppe zur Dritten Option alle teilen. Wenn es einen dritten Eintrag gibt, lässt sich schwerer begründen, dass es medizinische Anpassungen an eine weibliche oder männliche Norm braucht. Aber natürlich war es nicht mit einem einfachen Besuch beim Standesamt getan. Offiziell war es ja gar nicht möglich einen Eintrag als inter*/divers zu haben. Letztendlich haben wir als Gruppe über fünf Jahre weiter daran gearbeitet und uns bis vor das Bundesverfassungsgericht geklagt. Auch hier war es kein Zufall, sondern eine strategische Überlegung, dass wir den Gerichtsweg gegangen sind: Während in der Politik Inter* und Trans* als vermeintliche Minderheitenthemen oft hinten anstehen, muss ein Gericht den Einzelfall betrachten. Für uns war klar, dass es auch deswegen eine realistische Perspektive auf einen erfolgreichen Prozess gab, weil auch die letzten Verbesserungen für Trans* nicht von der Politik ausgingen, sondern durch Einzelpersonen eingeklagt wurden. Eine andere politische Frage ist da etwas komplizierter gewesen – doch auch hier ist uns allen die Entscheidung eigentlich sehr leicht gefallen. Natürlich wäre eine Welt am besten, in der kein Mensch mehr ein Geschlecht angeben muss. Aber wir leben nun mal immer noch in einer Welt, in der Geschlecht eine große Rolle spielt. Solange das so ist, fanden wir es wichtiger und realistischer erstmal durch einen expliziten dritten Geschlechtseintrag Sichtbarkeit und Akzeptanz zu schaffen für Inter* und Trans*, anstatt zu versuchen, dass der Geschlechtseintrag für alle gestrichen wird. Gerade für Antidiskriminierungsarbeit kann so ein dritter Eintrag sehr viel mehr Möglichkeiten bieten. Juristisch war es auch gar nicht möglich auf eine Abschaffung des Geschlechtseintrages für Alle zu klagen. Ich hätte nur die Möglichkeit gehabt mein Geschlecht offen zu lassen. Aber das schien mir nie wie eine gleichberechtigte Option. Männer und Frauen hätten dann weiter einen Geschlechtseintrag. Nur wir als Inter* und Trans* hätten stattdessen eine Leerstelle und würden wieder unsichtbar bleiben. Aber auch politisch glaube ich, dass ein Erfolg der Klage eben nicht nur darin liegt, dass es jetzt einen dritten Eintrag gibt, sondern auch darin, dass besonders in der Zeit nach dem Urteil so viel über Inter* und zwar weniger aber auch über Trans* in den Medien berichtet wurde, wie wir es vorher nicht erlebt haben.

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Vor allem in den ersten Jahren der Klage haben wir als Kampagnengruppe in vielen verschiedenen Städten Infoveranstaltungen organisiert und erklärt, was das überhaupt heißt Inter *und Trans*. Wir haben über Chromosome, Identität und Hormone gesprochen. Manchmal ist es immer noch unglaublich für mich zu merken, dass jetzt acht Jahre später so viele Fragen, die uns anfangs gestellt wurden, gar nicht mehr gestellt werden. Einfach weil die Fragen schon in Zeitungen oder Serien beantwortet werden. Wir konnten im Grunde dabei zugucken, wie sich das Wissen zu Trans* und auch Inter* von Jahr zu Jahr vermehrte. Insgesamt war es auch einfach eine großartige Erfahrung in einer zwar kleinen aber feinen Gruppe sehr strukturiert und beständig an diesem Prozess und der Kampagne drumherum zu arbeiten. »True focus lies somewhere between rage and serenity« (Professor X, X-Men First Class). Ich habe bis heute keine Gruppe getroffen, die so fokussiert zusammengearbeitet hat. Aber nicht alles hat sich nur verbessert. Leider gab es zu dem Erfolg der Klage auch viel Hetzte in den Kommentarspalten des Internets und natürlich wurde sich darüber lustig gemacht. Aber trotzdem haben wir es geschafft Präsenz zu zeigen. Wenn sich dann Rechte so sehr von dieser Entwicklung bedroht fühlen, dass sie meinen, irgendwelche Adressen im Internet veröffentlichen zu müssen, ist das traurig und beängstigend. Aber es zeigt sehr deutlich, dass es nicht darum gehen kann, diese angeblichen »Sorgen« von vermeintlich »besorgten Eltern« immer und überall ernst zu nehmen. Stattdessen muss es darum gehen sich von rechter Hetze nicht einschüchtern zu lassen. Und weiter zu arbeiten. An einer Gesellschaft, die Vielfalt nicht nur mit mehr oder weniger großer Toleranz hinnimmt, sondern Vielfalt akzeptiert und wertschätzt. Wichtig war uns als Gruppe von Anfang an auch zu zeigen, dass die Interessen von Trans* und Inter* eigentlich miteinander zusammen hängen. Außerdem gibt es nun mal auch Menschen die inter* und trans* sind. Letztlich geht es vor allem um Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Manche Inter* sind enttäuscht fälschlich als Trans* angesehen zu werden. Das kann ich verstehen. Manche Inter* sagen »Wie sollen wir zusammen arbeiten? Wir kämpfen gegen OPs am Geschlecht – die wollen welche«. Aber so einfach ist das nicht. Manche Trans* wollen keine Operationen. Manche Inter* entscheiden sich vielleicht später im Leben noch für welche. Auch sonst denke ich – das wichtigste bei allem bleibt doch die Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

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Darum ist es ein Problem, wenn Kinder ungefragt operiert werden, nur weil sie Inter* sind. Aber darum ist es genauso eine tolle Errungenschaft, wenn Trans* mit OPs, für die sie sich selbst entscheiden, ein besseres Gefühl zum eigenen Körper bekommen können. Darum ist auch völlig klar, dass wir weiter streiten werden für einen dritten Geschlechtseintrag, der unabhängig ist von irgendwelchen medizinischen oder psychologischen Gutachten. Entscheiden ist die Selbstidentifikation und nicht, was wer anders sagt. Niemand sollte sich die eigene Geschlechtsidentität vorschreiben oder bestätigen lassen müssen. Diese ist nicht nur vom Körper oder der Psyche allein abhängig, sondern ein komplexes Zusammenspiel. Wir alle werden von einer Welt, die enge Geschlechterrollen propagiert, eingeschränkt. Wenn sich diese Rollen auflockern, kann das auch für viele, die selber gar nicht Inter* oder Trans* sind, ein Gewinn sein. Besonders in Zeiten von gesellschaftlichem Rechtsruck ist darum wichtig, dass wir als Inter und Trans diesen Kampf um Anerkennung, diesen Kampf gegen die Zwei-GeschlechterMatrix nicht alleine kämpfen. Beispiele, wie das neue Gesetz in Ungarn3 aber auch das Vorgehen von Trump in den USA4 oder die Hetze der AfD in Deutschland5 zeigen, dass wir

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In Ungarn hat Präsident Orban gerade erst ein Gesetz verabschiedet, wonach Menschen ihr bei der Geburt festgelegtes Geschlecht nicht mehr ändern können. Das zwingt Trans* und Inter*, die nicht im bei Geburt festgelegten Geschlecht leben, dazu, sich jedes Mal, wenn der Ausweis gezeigt werden muss, sich zu outen (vgl. https://w ww.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/diskriminierendes-gesetz-ungarn-schra enkt-rechte-von-trans-und-inter-personen-ein/25846352.html) (zuletzt abgerufen am 30.08.2020). Die Obama-Regierung hatte erst 2016 in einem Gesetz zum Schutz der Bürgerrechte im Gesundheitswesen die Definition von Geschlecht über das biologische Geschlecht hinaus ausgeweitet. Das Gesundheitsministerium unter Trump erklärte dagegen, die Regierung werde nun zur Interpretation des Wortes »Geschlecht« als »männlich oder weiblich und wie von der Biologie bestimmt« zurückkehren (vgl. https://www.fr.de/politik/usa-donald-trump-diskriminierung-lgbt-transgender-bi den-gesundheitswesen-zr-13797334.html) (zuletzt abgerufen am 30.08.2020). Die AfD-Fraktion im thüringischen Landtag kommentierte das Urteil zur Dritten Option so: »Das Persönlichkeitsrecht umfasst auch das Recht auf Schizophrenie«. Zu einer Grafik, die Symbole von Mann und Frau mit einem gezeichneten Clown in Regenbogenfarben ergänzte, schrieben sie zudem: »Ein Richter flog übers Kuckucksnest«. (https://www.morgenpost.de/politik/article212514129/Wie-die-AfD-auf-Fa cebook-noch-immer-Hass-verbreitet.html, zuletzt abgerufen am 30.08.2020).

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als Trans* und auch Inter* aufmerksam bleiben müssen. Weil auch erkämpfte Fortschritte wieder nichtig gemacht werden können. Darum ist es wichtig, dass solidarische Menschen uns im Streiten für ein Recht auf Geschlecht unterstützen. Darum ist es wichtig, wenn sich in der Sozialen Arbeit mit den spezifischen Interessen und Bedarfen von Inter* und Trans* auseinandergesetzt wird. Deswegen freue ich mich, zu diesem Buchprojekt beitragen zu können und hoffe, dass es ein weiterer Schritt sein kann, auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Ein dritter Geschlechtseintrag, wie es ihn jetzt gibt, war nie das Ziel, sondern ist eigentlich viel eher ein Anfang. Von hier aus kann jetzt hoffentlich eine bessere Beratung von Inter* und ihren Eltern, ein Umdenken in der Medizin, oder eine Inter* und Trans*inklusive Sexualpädagogik erreicht werden.   Auch wenn für mich persönlich nach dem jahrelangen Prozess erst mal Durchatmen angesagt ist, tut es gut zu merken, dass wir etwas geschaffen haben, auf dem Andere jetzt aufbauen können. Zum Abschluss noch ein kurzes Gedicht, das die ganze Motivation für diesen Prozess vielleicht in aller Kürze zusammenfassen kann.   Diskriminierung, bitte Ich bin Teil einer Kampagne, um diskriminiert zu werden. Klingt komisch, ist aber so. Warum? Naja, zur Zeit gilt: Für das Gesetz gibt es mich nicht, für die Medizin bin ich krank, für die Psychologie gestört. Im besten Fall ein Gendersternchen. Ein*e nette*r Freak. Habe keine Toilette, keinen Sportverein, keine Pronomen, keine Kleidung, keinen Platz. Das tut weh. Das macht wütend und traurig und ängstlich. Aber diese ganze Energie wird jetzt vor Gericht gebracht. Habt ihr schon einmal Deutschland verklagt? Ich möchte, dass anerkannt wird, dass es mich und andere gibt. Als Inter*, als Hermaphrodit. Dann kann ich auch mal sagen:

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»Ey, Diskriminierung!« Weil, wer mich jetzt als »gestört« auf der Straße beschimpft, glaubt das gleiche wie die Psychologie. Wer mich in Formularen übergeht, ist im Recht, weil das Recht mich nicht kennt. Wer mich behandeln, ändern, anpassen will, will das gleiche wie die Medizin. Darum schrei ich jetzt, bis es wer hört. Mache mich nackt, um gesehen zu werden, und schreibe über das, wofür im Deutschen noch immer die Worte fehlen: Mich als Hermaphrodit.   Wir haben diesen dritten Geschlechtseintrag eingeklagt, um zu zeigen: Inter* sein ist nichts, was korrigiert oder verhindert werden muss. Intersex sein ist nichts, was von Mediziner*innen ungefragt »weg gemacht« werden muss. Intersex sein ist nichts, was Schwangere so sehr erschrecken sollte, dass Mensch lieber kein oder ein anderes Kind bekommt als eins, das vermeintlich nicht perfekt ist. Es hat schon immer Leute gegeben, die von der Anatomie, von den Hormonen oder von den Chromosomen her nicht oder nicht nur ›Mann‹ oder ›Frau‹ waren. Und es wird Zeit, das zu respektieren, anstatt es wegzuoperieren, zu verdrängen oder zu verhindern Menschliche Körper sind nun einmal sehr divers. Es gibt unglaublich viele verschiedene Schuhgrößen, Körperformen und Gesichtszüge. Warum sollte ausgerechnet Geschlecht nur als Variante A oder Variante B existieren? Die Zwei-Geschlechter Ordnung, in der wir leben, ist nicht natürlich. Auch wenn das gerne so behauptet wird.   Zu manchen Zeiten, an manchen Orten der Welt wurden wir Inter* und Trans* verehrt. Als besonders spirituelle Wesen, die sowohl Männliches als auch Weibliches in sich tragen und darum ›komplett‹ sind. Zu anderen Zeiten wurden Inter* und Trans* verfolgt oder verbrannt. Aber eines galt schon immer. Auch wenn viele es nicht hören wollen: Wir sind da.

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Der Kampf um die gesellschaftliche und politische Anerkennung der real existierenden Geschlechtervielfalt wird bereits seit langem auch juristisch geführt. Dabei geht es nicht nur um die Eintragung des Geschlechts oder eines selbst gewählten Vornamens in den Personenstandspapieren, sondern bspw. auch um Leistungen der Krankenkassen oder um rechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Elternschaft von inter* und trans* Menschen. Seit vielen Jahren wird vordringlich außerdem ein Verbot kosmetischer1 geschlechtsverändernder Operationen, die zumeist im Baby- oder Kleinkindalter ohne Zustimmung der Betroffenen durchgeführt werden, gefordert (vgl. hierzu Krämer/Sabisch in diesem Band). Wenn von der Dritten Option gesprochen wird, die Ausgangspunkt für diesen Sammelband ist, ist schlagwortartig die Möglichkeit eines weiteren positiv bezeichnenden Geschlechtseintrages in den Personenstandsregistern gemeint, die aufgrund der Entscheidung im sog. Dritte Option-Verfahren des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 10.10.2017 (1 BvR 2019/16) geschaffen wurde. Einführend wird daher in dem folgenden Beitrag zunächst die Bedeutung des Geschlechtseintrages in den Personenstandsregistern dargestellt und die verschiedenen in Deutschland bestehenden2 rechtlichen Wege zur amtlichen Änderung des Geschlechtseintrages beschrieben. Anschließend werden Beispiele für weitere damit im Zusammenhang stehende rechtliche Handlungsbedarfe aufgezeigt und abschließend – ebenfalls beispielhaft – ein Blick auf darüber hinausgehende höchstgerichtliche Feststellungen geworfen, die als 1 2

Mit kosmetischen Operationen sind solche gemeint, die nicht aus medizinischen Gründen erforderlich sind. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages im Oktober 2020.

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Argumentationshilfen für die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen und damit auch in der Sozialen Arbeit dienen können.

Die Bedeutung des Geschlechtseintrages Mit Personenstand sind alle Daten über Geburt, Eheschließung und Tod und mit diesen in Verbindung stehende familien- und namensrechtliche Daten gemeint. Zur Erfassung des Personenstandes gibt es verschiedene Register, z.B. das Geburts-, Ehe- und Sterberegister. Auch der Geschlechtseintrag gehört zu dem Personenstand. Das BVerfG (Beschluss v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16) hat zu der Bedeutung des Geschlechtseintrages Folgendes ausgeführt: »Unter den gegebenen Umständen hat die personenstandsrechtliche Anerkennung des Geschlechts Identität stiftende und ausdrückende Wirkung. Der Personenstand ist keine Marginalie, sondern ist nach dem Gesetz die ›Stellung einer Person innerhalb der Rechtsordnung‹ (§ 1 Abs. 1 Satz 1 PStG). Mit dem Personenstand wird eine Person nach den gesetzlich vorgesehenen Kriterien vermessen; er umschreibt in zentralen Punkten die rechtlich relevante Identität einer Person. Daher gefährdet die Verwehrung der personenstandsrechtlichen Anerkennung der geschlechtlichen Identität bereits an sich, das heißt unabhängig davon, welche Folgen außerhalb des Personenstandsrechts an den Geschlechtseintrag geknüpft sind, die selbstbestimmte Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit einer Person spezifisch.« Rechtlich kommt dem Geschlechtseintrag im Personenstandsregister eines Menschen also große Bedeutung zu, zumindest solange die Erfassung des Geschlechts zwingend für alle Menschen vorgeschrieben ist. Und auch im Alltag ist es für Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht der vorherrschenden Geschlechterordnung entspricht, viel schwieriger, die Anerkennung der eigenen Geschlechtsidentität gegenüber anderen (z.B. Schule, Arbeitgeber*innen, Polizei) durchzusetzen, wenn keine entsprechenden Ausweispapiere vorgelegt werden können. Das beginnt bei der richtigen Anrede und geht über alltagspraktische Fragen, wie bspw. dem Umgang mit Patient*innen bei der Aufnahme in ein Krankenhaus, der Anmeldung von Kindern in der Schule

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

bis hin zu Rechtsfolgen von Gesetzen, die noch an den Geschlechtseintrag anknüpfen. In Deutschland müssen nach § 18 PStG Neugeborene innerhalb einer Woche nach der Geburt in das Geburtsregister des zuständigen Standesamtes eingetragen werden. Dabei ist nach § 21 Abs. 1 Nr. 3 PStG auch das Geschlecht des Kindes anzugeben. Was unter Geschlecht zu verstehen ist, wurde erst im Jahr 2010 in der Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz festgeschrieben, nämlich männlich oder weiblich. Unabhängig davon wurde jedoch auch vorher in der Praxis davon ausgegangen, dass ausschließlich zwei binäre Eintragungsmöglichkeiten bestehen. Mittlerweile besteht in sämtlichen Wissenschaftsbereichen und auch in der Rechtsprechung »weitgehend Einigkeit darüber, dass sich das Geschlecht nicht allein nach genetisch-anatomisch-chromosomalen Merkmalen bestimmen oder gar herstellen lässt, sondern von sozialen und psychischen Faktoren mitbestimmt wird« (BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16). Problematisch an dem Zwang zur Eintragung eines Geschlechtes unmittelbar nach der Geburt eines Kindes ist daher, dass bei keinem Neugeborenen von vornherein klar ist, welche Geschlechtsidentität es einmal entwickeln wird (vgl. Schweitzer/Köster/Richter-Appelt 2019). Denn die Geschlechtsidentität besteht aus mehr als den äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmalen und ist daher nicht (immer) von außen durch Dritte (Eltern, Geburtshelfer*innen oder ärztliches Personal) bestimmbar. Die Fremdzuweisung zu einem Geschlecht kann daher direkt nach der Geburt immer nur eine vorläufige sein.

Der Weg zur Dritten Option Bereits im Jahr 2002 hatte Michel Reiter schon die Änderung des eigenen Geschlechtseintrages in »Zwitter« bzw. »Hermaphrodit« oder »intersexuell« bzw. »intrasexuell« beantragt und damit auch rechtlich um die Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern gekämpft.3 Dieses Verfahren wurde nach

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Zu den Hintergründen siehe den Dokumentarfilm Das verordnete Geschlecht (Deutschland 2001, R: Oliver Tolmein und Bertram Rotermund).

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einer ablehnenden Entscheidung des Landgericht München nicht weitergeführt.4 Vor allem die Rechtsstreitigkeiten um die Voraussetzungen des »Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz)« (TSG) haben den Weg zu der Entscheidung in dem Dritte Option-Verfahren bereitet. Denn auch hier hat sich das BVerfG bereits zu der rechtlichen Anerkennung von geschlechtlicher Selbstbestimmung und Geschlechtsidentitäten positioniert. Das TSG ist ein personenstandsrechtliches Sondergesetz, das ein Verfahren für den Wechsel des Geschlechtseintrages für transgeschlechtliche Menschen vorsieht. Seit dem Erlass des TSG im Jahr 1980 wurde dieses in weiten Teilen durch mehrere Entscheidungen des BVerfG für verfassungswidrig erklärt. So war früher Voraussetzung für eine Personenstandsänderung nach dem TSG, dass zuvor eine ›geschlechtsangleichende‹ Operation und Sterilisation vorgenommen wurde. Diese Voraussetzung wurde mit Beschluss des BVerfG vom 11.01.2011, 1 BvR 3295/07 für verfassungswidrig erklärt. Momentan ist nur noch eine Ruine des TSG übrig, der sich noch folgender Regelungsgehalt entnehmen lässt: »Auf Antrag einer Person, die sich auf Grund ihrer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet und die seit mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben, ist vom Gericht festzustellen, daß sie als dem anderen Geschlecht zugehörig anzusehen ist […]« (§ 8 TSG), wenn zusätzlich »mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird« (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG) und sie einen Inlandsbezug aufweist. Das Verfahren nach dem TSG hat hohe Hürden, denn es findet nach § 2 TSG vor einem (spezialzuständigen) Amtsgericht statt, das nach einer persönlichen Anhörung durch Gerichtsbeschluss entscheidet. Zum Nachweis der ›transsexuellen Prägung‹ und des ›Zwangs‹, in dem anderen Geschlecht zu leben, werden von dem Gericht zwei Gutachten von Sachverständigen eingeholt, die aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Erfahrung mit den »besonderen Problemen des Transsexualismus ausreichend vertraut sind« (§ 4 Abs. 3 TSG). Entsprechend der Entscheidung des Gerichtes, ändert das Standesamt anschließend den Personenstandseintrag und ggf. den Vornamen in den Personenstandsregistern. 4

Landgericht München, Beschl. v. 30.06.2003, 16 T 19449/02.

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

Da sich die meisten Beteiligten aus Politik, Interessenverbänden und Wissenschaften einig sind, dass das TSG dringend reformbedürftig ist, wurden in den letzten Jahren mehrmals Gesetzesentwürfe für eine Neuregelung diskutiert.5 Die Vorschläge reichten von der Abschaffung des TSG und einer einheitlichen Regelung des Personenstandswechsels bei Inter- und Transgeschlechtlichkeit im PStG bzw. im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) über eine Schaffung eines weiteren Sondergesetzes für trans* Menschen bis zur Abschaffung eines verpflichtenden Geschlechtseintrages für alle Menschen. Neben den Veränderungen im TSG und den wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu dem Themenfeld (vgl. u.a. Plett 2021 i.E.) hat auch die Beschäftigung des Deutschen Ethikrates mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit Auswirkungen auf die weiteren Entwicklungen gehabt. Der Deutsche Ethikrat hat bereits 2012 in seiner »Stellungnahme Intersexualität« (Deutscher Ethikrat 2012) vorgeschlagen, dass kein Geschlecht in die Personenstandsregister eingetragen werden muss, bis die betreffende Person sich selbst zu ihrem Geschlecht äußern kann. Außerdem wurde empfohlen, das Personenstandsgesetz dahingehend zu ändern, dass außer männlich oder weiblich auch »anderes« als Geschlecht eingetragen werden kann. Betroffene sollten nach Auffassung des Deutschen Ethikrates eine Änderung des Eintrags verlangen können, wenn sich der bisherige Eintrag als unrichtig erwiesen hat (vgl. ebd.). Der Empfehlung des Deutschen Ethikrates folgend wurde im Jahr 2013 § 22 Abs. 3 PStG eingeführt, der die Regelung des § 21 Abs. 1 Nr. 3 PStG modifizierte, indem ergänzt wurde, dass der Geschlechtseintrag zu unterbleiben hat, wenn »das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden« kann. Mit der Änderung war die Hoffnung verbunden, dem Druck entgegenwirken zu können, dem Eltern intergeschlechtlicher Kinder häufig direkt nach der Geburt ausgesetzt sind (siehe dazu auch Rosen in diesem Band). Für die Eltern sollte die Möglichkeit geschaffen werden, sich erst ausführlich informieren zu können und nicht voreilig in geschlechtsverändernde Behandlungen oder Operationen des Kindes einzuwilligen. Seit

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Bundestagsdebatte vom 19.06.2020: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchi v/2020/kw25-de-transsexuellengesetz-698668 (zuletzt abgerufen am 12.10.2020); aktuell diskutierte Gesetzesentwürfe von Bündnis 90/Die Grünen in Bundestag Drucksache 19/19755 (https://dserver.bundestag.de/btd/19/197/1919755.pdf) und der FDP in Bundestag Drucksache 19/20048 (https://dserver.bundestag.de/btd/19/200/1920048.p df) (zuletzt abgerufen am 22.10.2020).

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2013 war es also möglich, den Geschlechtseintrag nach der Geburt eines Kindes zunächst offen zu lassen. Wie später gerichtlich bestätigt wurde, war damit auch für Erwachsene der Weg eröffnet, den Geschlechtseintrag nachträglich zu streichen und ebenfalls offen zu lassen, wenn dieser sich als unrichtig erwies (gem. §§ 47, 48 i.V.m. § 22 Abs. 3 PStG).6 Um diese Regelung und weitere Bedarfe zu evaluieren, wurden in den Jahren 2016/2017 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) für eine Interministerielle Arbeitsgruppe zwei Gutachten erstellt. Eines mit dem Titel »Geschlechtervielfalt im Recht – Status quo und Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt«7 und ein zweites mit dem Titel »Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen«.8 Ohne die vorausgegangene politische, wissenschaftliche und juristische Arbeit vieler verschiedener Akteur*innen zu den Themenfeldern inter*, trans* und Geschlechtervielfalt im Allgemeinen, sowie parallelen Entwicklungen wie z.B. der Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare, wäre die Dritte Option-Entscheidung im Jahr 2017 so vermutlich (noch) nicht möglich gewesen.

Das Dritte Option-Verfahren Im Jahr 2014 entschied sich erneut eine intergeschlechtliche Person dazu, für die Anerkennung des Umstandes, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, auch rechtlich zu streiten und suchte sich Unterstützung für das zu erwartende langwierige Verfahren. Es gründete sich die Kampagnengruppe für eine Dritte Option beim Geschlechtseintrag und Vanja beantragte bei dem zuständigen Ge-

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OLG Celle, Beschl. v. 21.01.2015, 17 w 28/14; BGH Beschl. v. 22. 06.2016, XII ZB 52/15. Gutachten von Nina Althoff, Greta Schabram, Petra Follmar-Otto, Deutsches Institut für Menschenrechte, Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter& Transsexualität, Band 8, Januar 2017, https://www.bmfsfj.de/blob/114066/8a02a5 57eab695bf7179ff2e92d0ab28/imag-band-8-geschlechtervielfalt-im-recht-data.pdf (zuletzt abgerufen am 19.10.2020). Gutachten von Laura Adamietz und Katharina Bager, Begleitmaterial zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität, Band 7, November 2016, https://ww w.bmfsfj.de/blob/114064/460f9e28e5456f6cf2ebdb73a966f0c4/imag-band-7-regelung s--und-reformbedarf-fuer-transgeschlechtliche-menschen---band-7-data.pdf (zuletzt abgerufen am 19.10.2020).

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

burtsstandesamt, dass der bisherige Geschlechtseintrag gestrichen und stattdessen »inter/divers« oder hilfsweise nur »divers« eingetragen werden soll.9 Der Antrag wurde auf diese Weise gestellt, da das anlässlich der Geburt eingetragene Geschlecht nicht zutreffend war. Eine rückwirkende Streichung und das Offenlassen des Geschlechtseintrages waren für Vanja ebenfalls keine akzeptable Lösung, weil es dann statt eines positiven Geschlechtseintrags nur eine Lücke gegeben hätte und keine personenstandsrechtliche Anerkennung des Umstandes, dass Vanja eine intergeschlechtliche Identität entwickelt hatte (vgl. Text von Vanja in diesem Band). Nachdem das Standesamt und sämtliche nachfolgenden gerichtlichen Instanzen den Antrag abgelehnt hatten, wurde schließlich am 02.09.2016 Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG erhoben. Das BVerfG entschied mit Beschluss vom 10.10.2017 (1 BvR 2019/16), dass die damalige Fassung des § 21 Abs. 1 Nr. 3 PStG in Verbindung mit § 22 Abs. 3 PStG gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht verstößt, weil die Regelung eine Registrierung des Geschlechts als Regelfall vorsah, aber keine positive Geschlechtsbezeichnung für Menschen ermöglichte, die sich selbst dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Das BVerfG verpflichtete den Gesetzgeber außerdem, bis 31.12.2018 eine verfassungskonforme Neuregelung für Geschlechtseinträge zu schaffen. Dafür benannte es zwei Möglichkeiten: entweder ganz auf einen verpflichtenden Geschlechtseintrag für alle Menschen zu verzichten oder einen weiteren Geschlechtseintrag zu schaffen. Die Option, ganz auf einen Geschlechtseintrag zu verzichten, begründet das BVerfG damit, dass der personenstandsrechtliche Eintrag überhaupt nur deshalb eine spezifische Bedeutung für die geschlechtliche Identität erlangen würde, »weil das Personenstandsrecht […] die Angabe der Geschlechtszugehörigkeit verlangt. Täte es dies nicht, gefährdete es auch die Entwicklung und Wahrung der Persönlichkeit nicht spezifisch, wenn die konkrete Geschlechtszugehörigkeit einer Person keinen personenstandsrechtlichen Niederschlag fände. Es handelte sich dann beim Geschlecht um keine Größe von personenstandsrechtlicher Relevanz.« (BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16)

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Ausführlich zu dem Verfahren: www.dritte-option.de (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).

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Aktuelle Rechtslage In der nun seit 22.12.2018 geltenden Fassung des § 22 Abs. 3 PStG ist geregelt, dass ein Personenstandseintrag auch ohne Angabe des Geschlechts oder mit der Angabe divers erfolgen kann, wenn das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. Ergänzend wurde zeitgleich § 45b PStG eingeführt, in dem die Voraussetzungen und das Verfahren für die Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens für Menschen mit ›Varianten der Geschlechtsentwicklung‹ geregelt wurde.

Änderungen nach § 45b PStG Für eine Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens muss gegenüber dem Standesamt des Geburtsorts10 eine Erklärung dahingehend abgegeben werden, welcher Eintrag (divers, ohne Eintrag, weiblich, männlich) und ggf. auch welcher (zusätzliche) Vorname zukünftig gewünscht wird. Die Erklärung muss öffentlich beglaubigt werden. Dies kann durch ein Standesamt oder Notar*innen erfolgen. Jugendliche ab 14 Jahren können die Erklärung nach § 45b Abs. 2 PStG nur selbst abgeben, benötigen dazu aber bis zum Erreichen der Volljährigkeit die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter*innen. Sollten die gesetzlichen Vertreter*innen nicht zustimmen, ist das Standesamt verpflichtet, von sich aus das Familiengericht einzuschalten (§ 168a Abs. 1 FamFG). Das Familiengericht ersetzt die Entscheidung der gesetzlichen Vertreter*innen, wenn die Änderung der Angabe zum Geschlecht oder der Vornamen dem Kindeswohl nicht widerspricht (§ 45b Abs. 2 S. 3 PStG). Für Kinder bis 14 Jahre können nur die gesetzlichen Vertreter*innen die Erklärung zur Änderung des Geschlechtseintrages und des Vornamens abgeben. Zusätzlich zu der beglaubigten Erklärung muss eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden, aus der hervorgeht, dass eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ vorliegt. Dabei reicht eine einfache ärztliche Bescheinigung aus, in der keine Diagnose genannt oder weitere Ausführungen gemacht werden müssen. Es ist auch die Vorlage älterer ärztlicher Unterlagen möglich, wenn sich daraus eine entsprechende Feststellung ergibt. Da den Standesämtern jedoch in der Regel die notwendige Fachkompetenz fehlt, um 10

Für Personen, deren Geburtsort außerhalb Deutschlands liegt, ergibt sich das zuständige Standesamt aus § 45b Abs. 4 PStG.

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

zu erkennen, ob sich aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ ergibt, ist die Vorlage einer Bescheinigung zu empfehlen, in der explizit steht, dass eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ vorliegt. Wenn keine ärztliche Bescheinigung über eine bereits erfolgte medizinische Behandlung vorgelegt werden kann, und eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ wegen einer bereits erfolgten Behandlung nicht mehr oder nur durch eine unzumutbare Untersuchung nachgewiesen werden könnte, reicht es aus, wenn die antragstellende Person an Eides statt erklärt, dass eine ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ vorliegt. Wenn die genannten Voraussetzungen (beglaubigte Erklärung, Vorlage der ärztlichen Bescheinigung bzw. der eidesstattlichen Versicherung) vorliegen, ändert das Standesamt den Personenstandseintrag in den Registern. Soweit die gesetzliche Regelung und Theorie. Praktisch gab und gibt es aktuell einige Rechtsstreitigkeiten, da einige Standesämter die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen über das Vorliegen von ›Varianten der Geschlechtsentwicklung‹ anzweifeln. Hintergrund ist ein Meinungsstreit über die Auslegung des Begriffes ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹, da der Begriff im Gesetzeswortlaut nicht weiter definiert ist und auch in dem Gesetzgebungsverfahren zu § 45b PStG verschiedene Definitionen genannt wurden. Vor dem Hintergrund mehrerer Entscheidungen des BVerfG dahingehend, dass ein Anspruch auf Anerkennung der geschlechtlichen Identität unabhängig von dem körperlichen Zustand eines Menschen besteht, legen mehrere Gerichte und andere Jurist*innen die Regelung des § 45b PStG verfassungskonform dahingehend aus, dass dieser für die Änderung des Geschlechtseintrages allen Menschen offen steht, die unabhängig von körperlichen Anlagen eine geschlechtliche Identität entwickelt haben, die dem bei Geburt angenommenen Geschlecht nicht entspricht. Eine andere Auffassung, die unter anderem von dem Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) vertreten wird, möchte die Erklärung einer Person über ihre eigene Geschlechtszugehörigkeit nach wie vor von der Beurteilung des Körpers durch die Medizin abhängig machen und legt den Begriff ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ anhand bestimmter körperlicher Merkmale eng aus. Aufgrund eines Rundschreibens des BMI vom

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10.04.2019 unterstellen einige Standesämter bei Anträgen nach § 45b PStG pauschal das Vorliegen einer Transgeschlechtlichkeit.11 Momentan gibt es weder medizinisch, noch rechtlich eine einheitliche Auslegung des Begriffes ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹. Dies bedeutet, dass auch durch die Einführung des § 45b PStG keine Rechtssicherheit geschaffen wurde, da es auf die Auslegung und Fachkenntnis des jeweiligen Geburtsstandesamtes ankommt.

Änderungen nach §§ 48, 47, 22 Abs. 3 PStG Bereits vor der Einführung des § 45b PStG gab es in dem Personenstandsgesetz mit den §§ 47, 48 PStG Regelungen, um eine Berichtigung des bisher eingetragenen Geschlechtseintrages vornehmen zu lassen. Diese Rechtsgrundlage in Verbindung mit dem neugefassten § 22 Abs. 3 PStG hat das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf in einer Entscheidung aus dem Jahr 2019 für anwendbar erachtet, um einer Person, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht angehört, die Streichung des Geschlechtseintrages zu ermöglichen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.06.2019, 25 Wx 76/17). Diese Entscheidung wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) mit Beschluss vom 22.04.2020 (XII ZB 383/19) aufgehoben. Der BGH hat zwar entschieden, dass alle Personen mit einer nachhaltig empfundenen fehlenden Zugehörigkeit zu dem männlichen oder weiblichen Geschlecht einen Anspruch auf die Eintragung divers oder eine ersatzlose Streichung des Geschlechtseintrags im Geburtenregister haben. Allerdings müssen nach Ansicht des BGH Menschen, bei denen keine ärztlich attestierte körperliche ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ nachgewiesen ist, dafür ein Verfahren nach dem TSG führen. Das TSG sei zwar ursprünglich binär-geschlechtlich formuliert, es sei aber (analog) auch für Personen ohne eine binäre Geschlechtszugehörigkeit anwendbar. 11

Zu dem Meinungsstreit: Weite Auslegung: z.B. AG Dortmund, Beschl. v. 24.09.2019, 310 III 10/19; AG Münster, Beschl. v. 16.12.2019, 22 III 36/19; AG Münster, Beschl. v. 05.02.2020, 22 III 130/18; Mangold/Markwald/Röhner, »Rechtsgutachten zum Verständnis von ›Varianten der Geschlechtsentwicklung‹ in § 45b Personenstandsgesetz«, 2019, https://eufbox.uni-flensburg.de/index.php/s/WwkHJkHaEaHpkQk#pdfvie wer (zuletzt abgerufen am 12.10.20); offen: OLG Nürnberg, Beschl. v. 03.09.2019, 11 W 1880/19; enge Auslegung: BGH, Beschl. v. 22.04.2020, XII ZB 383/19; BerndtBenecke, StAZ 2019, 65 (70); Dutta/Fornasier, FamRZ 2020, 1015; BMI, Rundschreiben v. 10.04.2019, abgedruckt in: StAZ 2019, 151.

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

Damit knüpft der BGH erneut an (vermeintlich vorliegende) körperliche Merkmale an und verweist Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität, die keinen Nachweis über das Vorliegen einer körperlichen ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ vorlegen (können), auf den wesentlich schwierigeren Weg nach dem verfassungsrechtlich bedenklichen TSG. Diese Entscheidung des BGH wurde mit einer Verfassungsbeschwerde12 angegriffen, über die bisher noch nicht entschieden wurde. Es bleibt also abzuwarten, wie sich das BVerfG zu den Voraussetzungen der verschiedenen Regelungen zur Änderung des Geschlechtseintrages nach §§ 47, 48 PStG, § 45b PStG und dem TSG positioniert.

Rechtliche Leerstellen Mit der rechtlichen Möglichkeit der momentan vier Optionen zur Registrierung des Geschlechtes in den Personenstandsregistern alleine ist die rechtliche Anerkennung von intergeschlechtlichen Menschen, aber auch von endogeschlechtlichen13 nicht-binären Menschen bei Weitem noch nicht erreicht. Die bisherige Regelung des Geschlechtseintrages im Personenstandsgesetz kann lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg zur rechtlichen Anerkennung aller Geschlechtsidentitäten sein. Zum einen ist auch die Bezeichnung ›divers‹ nicht für alle aktuell darunter gefassten Geschlechtsidentitäten zutreffend. Und zum anderen wird auch in anderen Rechtsgebieten nach wie vor ausschließlich auf eine binäre Geschlechterkonzeption abgestellt. In der Praxis führt dies zu rechtlich absurden und für die Betroffenen sehr belastenden Situationen. Dies wird deutlich am Beispiel des Abstammungsrechtes: Durch die Änderung des PStG und die Aufhebung des Sterilisationsgebotes im TSG ist es möglich, dass Personen mit einem offenen oder diversen Geschlechtseintrag ein Kind gebären oder zeugen oder Personen, die personenstandsrechtlich als Mann eingetragen sind, ein Kind zur Welt bringen bzw. eine Person mit einem weiblichen Personenstandseintrag ein Kind zeugt. Zugleich ist aber in § 1591 BGB nach wie vor geregelt: »Mutter eines Kindes ist 12

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Verfassungsbeschwerde vom 15.06.2020, 1 BvR 1506/20, https://freiheitsrechte.org/ho me/wp-content/uploads/2020/06/2020-06-16-Verfassungsbeschwerde-Personenstand sgesetz-anonymisiert.pdf (zuletzt abgerufen 19.10.2020). Als endogeschlechtlich werden Menschen bezeichnet, die nicht intergeschlechtlich sind, deren Körper sich also nach medizinischen und gesellschaftlichen Normen eindeutig als nur weiblich oder nur männlich einordnen lassen.

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die Frau, die es geboren hat.« Dies führt dazu, dass Personen, obwohl sie einen offenen, diversen oder männlichen Geschlechtseintrag in ihren Personenstandspapieren vorweisen können, als ›Mutter‹ in die Geburtsurkunde des Kindes eingetragen werden, sobald sie ein Kind zur Welt bringen (§ 42 Abs. 2, 3 Personenstandsverordnung). Der BGH hat den Standpunkt einiger Standesämter bestätigt, dass dann auch der ehemalige – häufig seit vielen Jahren abgelegte – ›weibliche‹ Vorname wieder einzutragen und der teilweise jahrelang geführte ›männliche‹ Vorname abzuerkennen sei (BGH, Beschluss vom 06.09.2017, XII ZB 660/14). Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn ein Mann sein Kind in der Schule anmelden möchte und Papiere vorlegen muss, in denen er als ›Mutter‹ und mit einem ›weiblichen‹ Vornamen bezeichnet wird. Ob bei Geburten, Auslandsreisen oder behördlichen Angelegenheiten – jeder offizielle Akt, bei dem Papiere vorgelegt werden müssen, bringt ein Zwangsouting der eigenen Inter* oder Trans*geschichte mit sich und nötigt dazu, sich vor Fremden erklären zu müssen. Dies ist nur ein Beispiel fehlender Folgereglungen. Darüber hinaus fehlt die Erweiterung der Geschlechtsoptionen oder wahlweise die Schaffung einer genderneutralen Regelung in einer Vielzahl weiterer Gesetze.14 Es besteht zudem eine große Rechtsunsicherheit darüber, ob der Geschlechtseintrag divers bzw. das Offenlassen des Geschlechtseintrages Nachteile bspw. bei Auslandsreisen oder hinsichtlich der Leistungen von Krankenkassen mit sich bringt. Und auch, wenn aus rechtlicher Perspektive eindeutig festzustellen ist, dass Leistungen der Krankenkassen, wie z.B. Vorsorgeuntersuchungen oder Operationen, keinesfalls vom Geschlechtseintrag abhängen, sondern ausschließlich von der medizinischen Erforderlichkeit der jeweiligen Behandlung, ist auch dies Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten. Denn auch bei Ärzt*innen, Krankenkassen oder anderen Behörden fehlt es leider immer noch an Wissen und Fachkompetenz zu Inter*- und Transgeschlechtlichkeit.

… und über den Personenstand hinaus? Das BVerfG hat in mehreren Entscheidungen immer wieder grundlegende Ausführungen zu der gebotenen Anerkennung von Geschlechtsidentitäten ge14

Vom SGB VIII bis zu den Gaststättengesetzen der Länder. Für weitere Beispiele siehe Gutachten aus FN 7.

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

macht, die auch über das Personenstandsrecht hinaus bedeutsam sind. Und auch, wenn Grundrechte als Freiheits- und Gleichheitsrechte zunächst ausschließlich den Staat und seine Organe verpflichten, so sind die Ausführungen zu grundrechtlich geschützten Rechtspositionen eines Menschen auch wegweisend für die soziale und gesellschaftliche Anerkennung dieser Rechtspositionen. Abschließend sollen daher einige Feststellungen aus der Rechtsprechung dargestellt werden, die bei der parteilichen Unterstützung von inter* und trans* Menschen, insbesondere auch im Feld der Sozialen Arbeit, als Argumentationshilfen relevant sein können.

Anerkennung der Geschlechtsidentität Nach der mittlerweile ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist die selbstempfundene Geschlechtsidentität eines jeden Menschen verfassungsrechtlich durch die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. »Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt danach auch die geschlechtliche Identität […], die regelmäßig ein konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit ist. Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität unter den gegebenen Bedingungen herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird. Die Geschlechtszugehörigkeit spielt in den alltäglichen Lebensvorgängen eine wichtige Rolle: Teilweise regelt das Recht Ansprüche und Pflichten in Anknüpfung an das Geschlecht, vielfach bildet das Geschlecht die Grundlage für die Identifikation einer Person, und auch jenseits rechtlicher Vorgaben hat die Geschlechtszugehörigkeit im täglichen Leben erhebliche Bedeutung. Sie bestimmt etwa weithin, wie Menschen angesprochen werden oder welche Erwartungen an das äußere Erscheinungsbild einer Person, an deren Erziehung oder an deren Verhalten gerichtet werden.« (BVerfG, Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 2019/16) Die individuelle Entscheidung eines Menschen über seine Geschlechtszugehörigkeit ist also zu respektieren, denn verfassungsrechtlich geschützt sind auch die Entfaltung der Persönlichkeit und das So-Sein eines Menschen: »Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird […]« (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005, 1 BvL 3/03).

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Mit der Dritten Option-Entscheidung wurde erstmals ausdrücklich ergänzt, dass auch nicht-binäre Geschlechtsidentitäten geschützt sind. »Das Grundgesetz gebietet nicht, den Personenstand hinsichtlich des Geschlechts ausschließlich binär zu regeln. Es zwingt weder dazu, das Geschlecht als Teil des Personenstandes zu normieren, noch steht es der personenstandsrechtlichen Anerkennung einer weiteren geschlechtlichen Identität jenseits des weiblichen und männlichen Geschlechts entgegen. Zwar spricht Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG von Männern und Frauen. Eine abschließende begriffliche Festlegung des Geschlechts allein auf Männer und Frauen ergibt sich daraus jedoch nicht. Aus dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG folgt, dass bestehende gesellschaftliche Nachteile zwischen Männern und Frauen beseitigt werden sollen. Stoßrichtung der Norm ist es vor allem, geschlechtsbezogene Diskriminierung zu Lasten von Frauen zu beseitigen […], nicht jedoch, eine geschlechtliche Zuordnung im Personenstandsrecht festzuschreiben oder eine weitere Geschlechtskategorie jenseits von ›männlich‹ und ›weiblich‹ auszuschließen.« (BVerfG, Beschluss v. 10.10.2017, 1 BvR 2019/16, RN 50) Aus der Anerkennung nicht-binärer Geschlechtsidentitäten ergeben sich gerade in Schulen und anderen Institutionen praktische Fragen wie die des Zugangs zu Toiletten und Umkleiden oder der Teilhabe an geschlechtsspezifischen Angeboten. Dieser Buchbeitrag kann nicht alle diese Themen umfassend behandeln. Daher wird im Folgenden nur beispielhaft auf die – gerade in Schulen und Hochschulen – häufig auftretende Frage nach dem Umgang mit selbstgewählten Vornamen eingegangen.

Anerkennung des selbstgewählten Vornamens Entspricht das in den Papieren eingetragene Geschlecht und der Vorname nicht der selbstempfundenen Geschlechtsidentität, gibt es häufig vor (Abschluss) der amtlichen Änderung des Namens und des Geschlechtseintrages eine längere Phase, in der eine Person bereits offen in dem eigenen Geschlecht lebt und das Umfeld bittet, einen neuen selbstgewählten Vornamen und das entsprechende Pronomen zu nutzen. Der Zusammenhang von Vornamen und Identität wird vom BVerfG immer wieder betont und klargestellt, dass auch das Streben nach einer Kongruenz von geschlechtlichem Selbstverständnis und Vornamen vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht erfasst ist.

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

»In diesem Zusammenhang schützt Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG den Vornamen eines Menschen zum einen als Mittel zu seiner Identitätsfindung und Entwicklung der eigenen Individualität […] und zum anderen als Ausdruck seiner erfahrenen oder gewonnenen geschlechtlichen Identität […].« (BVerfG, Beschluss vom 06.12.2005, 1 BvL 3/03, 48) Der in dieser Entscheidung noch vertretene Grundsatz, dass aus dem Vornamen auf das Geschlecht eines Menschen geschlossen werden können müsse, wurde mittlerweile aufgegeben. Nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 05.12.2008, 1 BvR 576/07, RN 1) kann der Vorname mittlerweile auch so gewählt werden, dass er nicht zwingend über das Geschlecht informiert. Das BVerfG stellt weiterhin klar, dass mit dem Vornamen der Individualität einer Person Ausdruck verliehen wird, dieser den Einzelnen bezeichnet und von anderen unterscheidet. »Der Name eines Menschen ist Ausdruck seiner Identität sowie Individualität und begleitet die Lebensgeschichte seines Trägers, die unter dem Namen als zusammenhängende erkennbar wird […]. Dem heranwachsenden Kind hilft er, seine Identität zu finden und gegenüber anderen zum Ausdruck zu bringen. Die Namensgebung soll dem Kind die Chance für die Entwicklung seiner Persönlichkeit eröffnen und seinem Wohl dienen, […].« (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002, 1 BvL 23/96) Wenn Kinder und Jugendliche also den Wunsch äußern, in der selbstempfundenen Geschlechtsidentität zu leben, darin ernst genommen und entsprechend geschlechtlich angesprochen und behandelt zu werden, formulieren sie damit auch ihr Recht auf das Finden und Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität, das es zu achten gilt. Bei der Durchsetzung des selbstgewählten Vornamens vor der amtlichen Änderung treten jedoch nicht selten große Widerstände seitens der Eltern, Schulen, Behörden und des sozialen Umfeldes auf. In der Erkenntnis, dass die richtige geschlechtliche Ansprache wesentlich ist, um eine diskriminierungsarme Teilhabe am schulischen Leben zu ermöglichen (siehe dazu auch Nachtigall/Ghattas in diesem Band), beschäftigen sich immer mehr Schulen damit, inwieweit die Anerkennung der Geschlechtsidentität durch Nutzung des selbstgewählten Vornamens und Pronomens im Schulalltag möglich ist. Teilweise wird aber auch einfach behauptet, man könne oder dürfe keinen

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selbstgewählten Vornamen nutzen, insbesondere wenn die Eltern sich dagegen aussprechen. Aus einer juristischen Perspektive stellt sich aber vielmehr die Frage, woraus sich das Recht Dritter, also Eltern oder Lehrkräften ergeben könnte, in das Selbstbestimmungsrecht von inter* oder trans* Kindern und Jugendlichen bezüglich ihrer geschlechtlichen Anrede und ihres Namens einzugreifen. Neben wenigen Fällen, in denen eine Rechtspflicht zum Führen des amtlichen Namens explizit vorgeschrieben ist,15 gibt es keine rechtliche Verpflichtung, den nach der Geburt gegebenen und eingetragenen Vornamen fortzuführen. Neben den ausdrücklich im TSG, Namensänderungsgesetz und PStG vorgesehenen Möglichkeiten, den Namen zu ändern, sind auch im Fall von Eheschließungen und Scheidungen (sogar teilweise mehrmalige) Nachnamenswechsel rechtlich unproblematisch vorgesehen, obwohl dem Nachnamen für die Identifizierbarkeit ein höherer Stellenwert als dem Vornamen zukommt. Dies und die gesellschaftlich weit verbreitete Nutzung von Spitznamen verdeutlichen, dass die Weigerung, den selbstgewählten Vornamen zu nutzen, meist eher fehlender Wille als die Sorge vor fehlender Identifizierbarkeit einer Person zugrunde liegt. Solange die betreffende Person eindeutig identifizierbar (z.B. durch Nachname, Geburtsdatum) ist und nicht über Tatsachen getäuscht wird, die mit z.B. dem Schüler*innenausweis (Zugehörigkeit zur Schule) oder Zeugnis (Leistungsbewertung) beurkundet werden sollen, gibt es aus rechtlicher Perspektive keinen Grund, nicht den selbstgewählten Vornamen zu nutzen. Auch in Dokumenten, die Außenwirkung haben, wie Zeugnisse oder Berichte an Behörden, ist die Zuordenbarkeit des Dokumentes zu der betreffenden Person ausschlaggebend. Diese ist auch mit einem selbstgewählten Vornamen gegeben. Die Nutzung des selbstgewählten Vornamens ist nur eins von vielen Beispielen im pädagogischen Feld. Aber eines, das relativ einfach umgesetzt werden kann und den betreffenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im

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Auskunftspflichten gegenüber Behörden, Amtsträgern und Gerichten, sowie bei der Eröffnung eines Bankkontos. Vgl. auch Rechtliche Einschätzung zur »Verwendung des gewählten Namens von trans*Studierenden an Hochschulen unabhängig von einer amtlichen Namensänderung«, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016; http s://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/Literatur_Bildung/ Name_Trans_Studierende.pdf;jsessionid=CEAF06258BA7F37252645FAE727E1470.1_cid 369?__blob=publicationFile&v=1 (zuletzt abgerufen am 12.10.2020).

Rechtliche Wege zur Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt

Alltag eine große Erleichterung verschaffen kann (vgl. Nachtigall/Ghattas in diesem Band).

Fazit und Ausblick Durch die rechtliche Erweiterung der Optionen für den Geschlechtseintrag wurde sichtbarer, dass es nicht nur männlich und weiblich gibt. Damit wurde die Rechtsposition derjenigen gestärkt, die Papiere mit einem diversen oder offengelassenen Eintrag vorweisen können. Das Thema Intergeschlechtlichkeit hat im Zuge der Berichterstattung über das Dritte Option-Verfahren und dem nachfolgenden Gesetzgebungsprozess eine mediale Beachtung erhalten wie nie zuvor. Es bleibt zu hoffen und auch weiterhin dafür zu kämpfen, dass dies nun endlich auch dazu führt, dass die menschenrechtswidrigen kosmetischen Operationen an Kindern16 endgültig eingestellt und Rechtsunsicherheiten aufgrund noch offener Regelungsbedarfe oder unklarer Regelungen behoben werden. Aus juristischer Perspektive stellt sich immer die Frage, ob konkrete Ansprüche oder Bedarfe einer konkreten Person juristisch durchgesetzt werden können und im Idealfall auf diesem Weg sogar ein (weiterer) Schritt in Richtung der Anerkennung aller Geschlechtsidentitäten gegangen werden kann. Klar ist aber auch, dass mithilfe von juristischen Verfahren nur ein Teil zur Anerkennung der Geschlechtervielfalt beigetragen werden kann und diese Verfahren auch belastend für die klagenden oder antragstellenden Personen sind. Die erstrittenen Rechtspositionen helfen zudem meist nicht gegen alltägliche Diskriminierung oder bei der teilweise schmerzhaften Auseinandersetzung mit Familie und Umfeld. Da ist vielmehr gesellschaftlicher Wandel gefragt und eine gute Unterstützung für die Einzelnen, durch Soziale Arbeit, Schule, (peer-)Beratungsangebote, Selbstvertretungsorganisationen und das soziale Umfeld. In vielen pädagogisch relevanten Bereichen gibt es dabei keine eindeutigen gesetzlichen Regelungen, aus denen z.B. Akteur*innen der Sozialen Arbeit klare Handlungsanweisungen entnehmen können. In den allermeisten Fällen gibt es aber auch keine rechtlichen Regelungen, die einer klaren Haltung und parteilichen Unterstützung von geschlechtlicher Selbstbestimmung 16

Zum aktuellen Gesetzesentwurf der Bundesregierung: http://dipbt.bundestag.de/dip2 1/brd/2020/0566-20.pdf (zuletzt abgerufen am 21.10.2020).

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entgegenstehen würden. Anregungen, wie dies in der Praxis umgesetzt werden kann, liefern die nachfolgenden Beiträge in diesem Buch.

Literatur Deutscher Ethikrat (2012): Intersexualität. Stellungnahme, Berlin, https://w ww.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DE R_StnIntersex_Deu_Online.pdf (zuletzt abgerufen am 19.10.2020). Plett, Konstanze (2021 i.E.): Geschlechterrecht: Aufsätze zu Recht und Geschlecht – vom Tabu der Intersexualität bis zur Dritten Option, Bielefeld: transcript (im Erscheinen). Schweizer, Katinka/Köster, Eva Maria/Richter-Appelt, Hertha (2019): »Varianten der Geschlechtsentwicklung und Personenstand«, in: Psychotherapeut 64, S. 106-112.

Die ›Dritte Option‹ Gendertrouble im Gefüge des Sozialen und die Herausforderungen für die Soziale Arbeit Melanie Groß

Ein Blick in die Handlungsfelder und auf die Adressat*innen in der Sozialen Arbeit zeigt, wie wenig wir es bei den Themen Geschlecht und Sexualität mit rein akademischen Diskursen zu tun haben: Längst kennen Kitas etwa Familien, in denen der Vater eines Kita-Kindes schwanger wird, in denen lesbische Mütter oder polyamouröse Netzwerke gemeinsam ein Kind erziehen. Genauso befinden sich Kinder in den Kitas, die intergeschlechtlich oder trans*geschlechtlich sind und gewohnte Muster der zweigeschlechtlichen Ordnung in Frage stellen, gleichwohl aber durch diese normiert werden (vgl. Kennedy 2015). In Hochschulen wenden sich Studierende an Lehrende, weil sie immer wieder etwa durch das Vorlesen von Teilnahmelisten mit Zwangsoutings konfrontiert werden, da Hochschulen die Ergänzungsausweise für Transpersonen nicht anerkennen und in sämtlichen Dokumenten der Hochschule mit dem Deadname der Personalausweise arbeiten. In der Kinder- und Jugendarbeit wissen Fachkräfte oft gar nicht, ob sie mit intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen arbeiten und in der Regel warten queere Jugendliche mit einem Outing bis sie die Bildungsinstitutionen hinter sich gelassen haben, um Diskriminierungen, Ausgrenzungen und Gewalt aus dem Weg zu gehen (vgl. Krell 2015). Intergeschlechtliche Jugendliche in der stationären Jugendhilfe finden sich in einer geschlechtlich binär gestalteten Einrichtung wieder, in der sie – so lässt sich vermuten – um Anerkennung ringen müssen oder in der sie erneut Pathologisierungen, Tabuisierungen, Diskriminierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt werden. Queere Jugendliche mit Fluchterfahrungen oder aus Zuwandererfamilien sind im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe nicht selten auf besondere Weise vulnerabel durch die wechselseitige Verschränkung von Rassismus und Heteronormativität und die darüber hin-

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aus häufig anzutreffende Ausblendung und Dethematisierung dieser Erfahrungen durch die Fachkräfte (in Bezug auf Rassismuserfahrungen vgl. Melter 2011). In unserer Gegenwartsgesellschaft haben wir es also nach wie vor mit einer Paradoxie zwischen Verfestigung und Emanzipation des Zweigeschlechtersystems zu tun, die für Subjekte eine besondere Herausforderung im Prozess der Selbstverortung darstellen. Je nach Kontext und Milieu schwankt der Grad der Anerkennung, je nach Verfasstheit der Institutionen variieren die Subjektivierungsmöglichkeiten und -begrenzungen und je nach strukturellen Bedingungen verändern sich die subjektiven und institutionellen Handlungsmöglichkeiten. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, auf welche Weise die Veränderungen im Gefüge des Sozialen durch die zunehmende rechtliche Sichtbarkeit geschlechtlicher Diversität durch die sogenannte Dritte Option die Soziale Arbeit – auch vor dem Hintergrund der Paradoxie durch die Gleichzeitigkeit gesellschaftlicher Normalisierung und Ablehnung im gesellschaftlichen Alltag – herausfordern, theoretische und methodische Konzepte zu überdenken und weiter zu entwickeln und welche Anforderungen sich für das professionelle Handeln von Fachkräften daraus ergeben.

Paradoxien Geschlecht(er) und Sexualität(en) sind auf vielfältige Weise zentrale Differenzkategorien für die Selbst- und Fremdpositionierung von Subjekten im Ordnungsgefüge einer heteronormativ verfassten Zweigeschlechtlichkeit. Diskurse um die Diversität von Geschlecht und Sexualität haben gezeigt, wie komplex Binnendifferenzen in der Gruppe der als männlich oder weiblich markierten Subjekte sind. Diskurse um die Ausdifferenzierung von Sexualitäten machen die Vielfalt sexueller Orientierungen und damit verbundene Lebensstile deutlich. Insgesamt kann zu Beginn der zwanziger Jahre im 21. Jahrhundert eine enorme Pluralisierung der auf Geschlecht und Sexualität bezogenen sozialen Praxen und Lebensstile beobachtet werden. Diese Pluralisierung betrifft nicht notwendigerweise einen überwiegenden Teil der Subjekte, ist jedoch qualitativ bemerkenswert: Zahllose Selbstbezeichnungen sexueller Lebensstile und Orientierungen kursieren auf Social Media, Facebook arbeitet inzwischen mit einer Liste von 60 ankreuzbaren Geschlechtern für Nutzer*innenprofile, in Fernsehsendungen und Serien

Die ›Dritte Option‹

aber auch in Podcasts, Wissensendungen und Nachrichten werden trans* und intergeschlechtliche Personen deutlich sichtbarer. Seit der Einführung der sogenannten Dritten Option werden darüber hinaus nun auch Stellenausschreibungen mit dem Zusatz m/w/d gekennzeichnet und Städte überarbeiten ihre Richtlinien für eine geschlechtergerechte Sprache, die über die Zweigeschlechtlichkeit hinausweisen. Mit intersektionalen Analyseperspektiven zeigt sich zudem, dass das Denken über Geschlecht und Sexualität nie jenseits weiterer Kategorien sozialer Differenzierung erfolgen und die Komplexität sozialer Wirklichkeit dennoch kaum in Gänze erfasst werden kann. Zugleich erleben wir aber auch, wie persistent die zweigeschlechtliche Ordnung wirkt – die zweigeschlechtliche heterosexuelle Gesellschaftsstruktur bleibt trotz oder gar wegen der individuellen Ausdifferenzierungen für viele Menschen die unhinterfragte Norm. Mehr noch – das Festhalten an dieser Norm bildet darüber hinaus auch einen wichtigen Bezugspunkt für rechte Ideologien, die auf einer Natürlichkeit von Geschlechterbinarität und Heterosexualität beharren und menschenfeindlich auf diejenigen reagieren, die diese Natürlichkeit in Frage stellen (vgl. u.a. Zick/Küpper/Berghan 2019). Die Bekämpfung von Emanzipationsbestrebungen von einengenden, tradierten und normierten Geschlechter- und Sexualitätsbildern und -rollen ist seit mindestens einem Jahrhundert Gegenstand rassistischer und rechtsextremer Diskurse um Normalität und Natürlichkeit. Sie zeigen sich heute u.a. in der Zunahme gewalttätiger Angriffe auf Lesben, Schwule und Trans*personen oder in massiver Gegenwehr gegen Sexualpädagogik an Kitas und Schulen. Sie zeigen sich auch in der Normalisierung von Abwertung von und Gewalt gegen Frauen und Mädchen, die nach wie vor in der Gegenwartsgesellschaft weit verbreitet sind. Rechte Ideologien können insgesamt auf einen relativ breiten (hetero)sexistischen Konsens in der Gesellschaft zurückgreifen, der auf ähnlichen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität basiert. Jedoch erfahren Subjektpositionen, die bislang in die Zonen des Verworfenen (vgl. Butler 1991) verwiesen und durch willkürliche Anerkennungsstrukturen oder Ausschlussmechanismen positioniert blieben, nun zunehmend strukturell verankerte, gesetzliche Regelungen und damit eigentlich auch den Schutz des Staates (vgl. dazu ausführlich Niedenthal in diesem Band). Gleichzeitig bleiben Lebensweisen, die jenseits heteronormativer Ordnungsstrukturen positioniert sind, vielen Menschen und Institutionen gleichsam fremd und besonders, werden exotisiert, pathologisiert, abgewertet und diskriminiert. Insgesamt sind die rechtlich verankerten Teilhabeselbstver-

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ständlichkeiten in der Lebenspraxis und -erfahrung vieler intergeschlechtlicher, nicht-binärer und trans*geschlechtlicher Menschen weit von einer Anerkennung entfernt (vgl. u.a. Gregor 2015, Schneider 2015, Woweries 2015). Die zunehmende rechtliche Sichtbarkeit von geschlechtlicher Vielfalt oder auch die zunehmenden Rechte für nicht-heterosexuelle Beziehungsformen führen zudem bisweilen dazu, dass die Benennung von Diskriminierungen schwieriger wird, weil vermeintlich eine Gleichstellung erreicht sei. Solche paradox anmutenden Gleichzeitigkeiten widersprüchlicher Anforderungen an Subjekte zwischen Ausdifferenzierung und rechtlicher Teilhabe auf der einen und Verfestigung und Abwertung auf der anderen Seite erfordern eine hohe Komplexitätsakzeptanz von Subjekten und eine selbstreflexive Hinterfragung eigener subjektiver Entfaltungswünsche und -verwerfungen.

Leerstellen Die genannten Beispiele skizzieren die Pluralität der Lebensformen, mit denen Institutionen Sozialer Arbeit längst befasst sind oder sein müssten, deren Betrachtung gleichwohl wenig in die grundlegende Analyse der theoretischen, empirischen, konzeptionellen oder methodischen Reflexionen und Weiterentwicklungen in der Sozialen Arbeit insgesamt und in der Kinderund Jugendhilfe im Besonderen Eingang gefunden haben. Trotz der skizzierten Pluralisierung von Geschlecht und Sexualität werden in den Arbeiten zu Geschlecht aus der Sozialen Arbeit die Perspektiven von Inter- und Trans*geschlechtlichkeit wenig bis gar nicht verhandelt und nicht systematisch in die Theoriebildung, empirischen Analysen oder die konzeptionelle Entwicklung von Handlungspraxen aufgenommen. Erkenntnisse aus der Geschlechterforschung werden zwar in der Sozialen Arbeit durchaus zur Kenntnis genommen und in der Geschlechterforschung der Sozialen Arbeit (weiter-)entwickelt, sind aber nicht in ihrer Breite in die sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Diskurse eingelassen (vgl. Bütow/Munsch 2012, Sabla/Plößer 2013). Wenn Geschlecht innerhalb der Profession Sozialer Arbeit in Einführungsbänden oder Grundlagentexten verhandelt wird, dann in der Regel als zweigeschlechtlich gefasste Kategorie und/oder als gesondert zu verhandelndes Thema (für sozialarbeiterische Perspektiven vgl. u.a. Staub-Bernasconi 2008 für sozialpädagogische Perspektiven vgl. u.a. Scherr 1997).

Die ›Dritte Option‹

Auch die sozialwissenschaftliche empirische Basis in Bezug auf Inter* und Transgeschlechtlichkeit ist nach wie vor insgesamt überschaubar und am ehesten im Bereich der Kindheits- oder Jugendforschung, der Diskriminierungs- und Ungleichheitsforschung (vgl. Sabisch 2014, Ghattas/Sabisch 2017) oder der Bildungswissenschaften mit einem Fokus auf Schule und Schulpädagogik zu verorten (vgl. Enzendorfer/Haller 2020, Klocke/Salden/Watzlawick 2020).1 Quantitative Studien, die das Themenfeld der geschlechtlichen mit dem Thema der sexuellen Vielfalt verbinden, fassen dabei aber in der Regel alle sozialen Positionierungen unter dem Stichwort ›LSBTIQ*‹ zusammen – damit bringen sie Erkenntnisse über die Herausforderungen und Diskriminierungserfahrungen von Menschen, die sich jenseits der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit insgesamt verorten, sind aber wenig aussagekräftig für die jeweils spezifischen Problemlagen der Subjekte (so z.B. in Krell/Oldemeier 2015, aber auch in länderspezifischen kleineren Erhebungen wie beispielsweise in Schleswig-Holstein vgl. MSGJFS 2019). Die Perspektive auf die soziale Konstruktion sowie auf die innere Differenz oder auch Binnendifferenz von Kategorien teilen auch Arbeiten zu Heterogenität von Geschlecht oder zu Diversity (vgl. u.a. Krell/Riedmüller/Sieben/Vinz 2007, Salzbrunn 2014), die durchaus Eingang in die pädagogischen und sozialpädagogischen oder sozialarbeiterischen Konzeptionen oder Leitbilder von Institutionen der Sozialen Arbeit gefunden haben. Nicht selten geraten aber solche handlungspraktisch orientierten Konzeptionen dann wieder zu funktionalen Diversity-Konzepten, in denen mit essentialistisch gefassten Kategorien gearbeitet wird (vgl. Lindau 2010). Die in der Analyse sich als hochkomplex erweisende Verschränkung und Pluralisierung sowie Binnendifferenz von Differenzkategorien wird dadurch unterkomplex rekonzeptionalisiert und geraten so oft zu Manifestationen von essentialistischem Denken. Für die Diversity Studies verwies Fuchs (2007) darauf, dass »Worte wie Diversity, Multikulturalität, Gender-Differenz oder Generationenkonflikt als Faktum (behandeln), was eigentlich das Ergebnis von Prozessen und Handlungen – interpretativen Handlungen – ist und deshalb immer wieder neu bestimmt wird. Das heißt, soziologisch oder ethnologisch beziehungsweise anthropologisch verstanden, ist soziale Diversität das Resultat von Differenzierungen, von Differenzhandlungen.« (Fuchs 2007: 17) 1

Einen ausführlichen Überblick über den Stand der empirischen Forschung zur Betroffenheit von Diskriminierung und Gewalt bei trans- und intergeschlechtlichen Jugendlichen siehe Nachtigall und Ghattas in diesem Band.

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Anschlüsse Für die Theoretisierung von Geschlecht als einem der zentralen binären Ordnungsprinzipien unserer Gesellschaft und damit für die analytische Erfassung von Inter- und Trans*geschlechtlichkeit sowie deren Situierung in der heteronormativ verfassten Zweigeschlechtlichkeit ist die Perspektive auf Gender als inter- und intrakategorial differente (vgl. McCall 2005) und interdependente (vgl. Walgenbach 2017) Kategorie hilfreich. Geschlecht ist als sozial hervorgebrachte Kategorie in sich hochdifferent. In der Regel wird sie jedoch im kollektiv verankerten Alltagswissen aber auch in der Forschung binär konzipiert und damit auch homogenisiert. In der Intersektionalitätsforschung wird Geschlecht als verschränkte Kategorie gefasst und gezeigt, auf welche Weise sie mit weiteren Differenzkategorien wechselwirksam verwoben und zugleich in ein durch Wechselwirkungen geprägtes Ordnungsgefüge zwischen Struktur, Repräsentation und Subjekt eingelassen ist (vgl. Winker/Degele 2009). Nach wie vor sind die Debatten um Differenz, die sich mit Heteronormativität oder auch mit Rassismus befassen, nicht in der Breite der Profession der Sozialen Arbeit bearbeitet und in der Regel wenig bis gar nicht auf das Thema Intergeschlechtlichkeit bezogen worden. Dabei sind gerade die Machtund herrschaftskritischen Arbeiten in der Tradition von Black Feminists (u.a. Lorde 1981, Frankenberg 1996, hooks 1996), den Postcolonial Studies (u.a. Mohanty 1988, Gutierrez Rodriguez 2003, Castro Varela/Dhawan 2005, Spivak 2008) und den Queer Studies (u.a. de Lauretis 1991, Hark 1993, Genschel 1996, Engel 2002) sowie der Intersektionalitätsforschung (Schrader/von Langsdorff 2014, von Langsdorff 2014, Groß 2014, Schrader/Barta in diesem Band) theoretische Bezugspunkte, die für eine Weiterführung der Sozialen Arbeit als kritische Soziale Arbeit enorm produktiv für zentrale Fragen der Profession sind und Perspektiven auf das Thema Intergeschlechtlichkeit erhellen können. Mit ihrem machtkritischen Blick sind sie zudem anschlussfähig an die Gegenstandsbestimmung Sozialer Arbeit, die mit Gerechtigkeit, Bildung und Menschenrechten verbunden ist. Soziale Arbeit unterstützt Subjekte in der Erweiterung von Handlungsfähigkeit, in der Bildung von Persönlichkeit und in der Bewältigung von belastenden Lebenssituationen. Alle diese Dimensionen der Sozialen Arbeit berühren Fragen nach Geschlecht und Sexualität und damit immer auch nach geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. So können poststrukturalistische, queere oder auch postkoloniale Perspektiven zeigen, inwiefern Differenzhandlungen Elemente von Formationen und Ordnungs-

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weisen sind, die mit Macht-Wissen-Verschränkungen verbunden sind, deren Infragestellung und Überwindung genuine Aufgaben der Sozialen Arbeit berühren, die sich mit Bildungsprozessen befassen. So sind die Entwicklung von Handlungsfähigkeit und die in bildungstheoretischen Ansätzen formulierte Reflexionsfähigkeit von Subjekten (u.a. von Borst 2009, Bernhard 2018) zentrale Bedingung für Bildungsprozesse und umfassen immer auch die Reflexion der Positioniertheit als »sexuell sozialisierte« (Stein-Hilbers 2000), »vergeschlechtlichte Subjekte« (Villa 2000: 41) innerhalb des kulturellen Systems der »Zweikörpergeschlechtlichkeit« (Gregor 2015 und in diesem Band) einer von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogenen und hervorgebrachten Gesellschaft. Solche Perspektiven auf Differenzen als Ausdruck und Motor von Macht- Wissen-Verschränkungen (Foucault 1998 [1977]) sind für die Positionierung von Subjekten, die die Soziale Arbeit adressiert, und mit denen die Fachkräfte in ihren eigenen Subjektivierungsweisen verstrickt sind, bedeutsam. Strukturtheoretische Perspektive zeigen darüber hinaus, dass Differenzen Ausdruck und Bedingung von Ordnungsstrukturen sind, die maßgeblich über Ein- und Ausschluss von Teilhabe an Gesellschaft mitentscheiden (vgl. dazu u.a. Knapp 2013, Klinger 2003, Winker/Degele 2009). Ordnungsstrukturen, die nun mehr als zwei Geschlechter vorsehen, werden langfristig auch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe der Subjekte haben. Meines Erachtens ist diese strukturelle Neujustierung eine Entsprechung der Pluralisierung von Geschlecht und Sexualität auf den Ebenen der symbolischen Repräsentation und der Subjektivierungsweisen, die nun alte Paradoxien aufzuheben vermag. Bis 2018 hatte sich zwar geschlechtliche Vielfalt insbesondere auf der Ebene der Subjekte gezeigt und war auch immer selbstverständlicher in die Repräsentationen eingelassen – auf der strukturellen Ebene der Gesellschaft war sie jedoch in das Zweigeschlechtersystem verwiesen und damit unsichtbar gemacht. Eine ähnliche Verschiebung auf der strukturellen Ebene, die den Subjekten und den Repräsentationen folgte, war zuvor schon im Jahre 2017 die Öffnung der Ehe ›für alle‹. Die in der Folge entstehende Dynamik des Gendertroubles im Gefüge des Sozialen zeigt sich auch in den Debatten um Adoptionen bei gleichgeschlechtlichen Eltern, operative Eingriffe bei intergeschlechtlichen Kindern und um das Transsexuellengesetz. Sie zeigen den sozialen Wandel, der mit den juristischen Veränderungen verbunden ist. Kritisch bleibt zu fragen, inwiefern diese juristischen und sozialen Neujustierungen nicht nur Emanzipation, sondern auch neue und andere Formen

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der Unterwerfung und Disziplinierung von Subjekten ermöglichen und aufrufen, inwiefern sie also Ausdruck »regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung [sind]. Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert« (Foucault 1998 [1977]: 166). Mit dieser Perspektive, die Foucault immer auch explizit auf die Pädagogik, die Medizin und die Demographie (bisweilen auch Ökonomie) als Achsen einer Machttechnologie des Staates ›Leben zu machen‹ bezieht (vgl. ebd.: 140), ließe sich verstehen, wie es dazu kommt, dass gerade heute im Sexualitäts- und Geschlechterdispositiv so unterschiedliche und bisweilen auch konkurrierende Kämpfe um Anerkennung geführt werden. Möglicherweise haben wir es mit einer neuen Technik »der Unterwerfung der Körper zur Kontrolle von Bevölkerung« (ebd.: 167) zu tun, die erst in der Historisierung sichtbar wird. So lässt sich auch etwa in Bezug auf die Errungenschaft der Ehe für alle fragen, auf welche Weise hier eine Disziplinierung von Homosexualitäten unter die Normen der Heterosexualität erfolgt, die auch mit einer Disziplinierung und Kontrolle von sexuellen Lebensstilen und Beziehungsformen einher geht, die nun nur um so stärker in die Zonen des Unerwünschten verwiesen werden (vgl. dazu ausführlich auch Nay 2017, 2019). Schon jetzt wird deutlich, dass Errungenschaften im Themenfeld geschlechtlicher Vielfalt immer auch einher gehen mit neuen und anderen Verwerfungen und Grenzziehungen: Wer definiert Intergeschlechtlichkeit? Welche körperlichen Merkmale rechnet wer warum dazu? Auf welchen Abgrenzungen und Konstruktionen von Trans*geschlechtlichkeit beharrt der Gesetzgeber usw.? Auf die an solchen Punkten sich entzündenden Konflikte verweist Butler in ihrer Thematisierung der Möglichkeiten und Grenzen des In-Erscheinung-Tretens von Subjekten: »Doch was ist, wenn das stark regulierte Feld des Erscheinens, nicht jede/n zulässt, sondern Zonen verlangt, in denen von vielen erwartet wird, dass sie nicht erscheinen, oder ihnen dies sogar gesetzlich verboten ist?« (Butler 2016: 51) Die Neujustierung im Personenstandsrecht hat jedenfalls (noch) nicht dazu geführt, die Eintragung von Geschlecht ins Geburtenregister gänzlich zu beenden, oder wenigstens für alle Kinder so lange offen zu lassen, bis – ähnlich zur Religionsmündigkeit – Subjekte selbst entscheiden, ob und wenn ja wie sie sich in Dokumenten geschlechtlich verorten wollen. Subjekte bleiben also auf eine spezifische Weise geschlechtlich reguliert und medizinisch

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(fremd-)definiert auch dann, wenn zunächst ein Freiheitsgewinn für eine umgrenzte Gruppe konstatiert werden kann.

Professionalität Die analytische Komplexität, der soziale Wandel und die gesellschaftlichen Paradoxien auf der einen Seite sowie die handlungspraktischen Verkürzungen der Sichtweisen auf Differenzkategorien auf der anderen Seite stellen Fachkräfte vor besondere Herausforderungen. Die dringend notwendige Umsetzung der rechtlichen Veränderungen im Personenstandsgesetz und deren grundlegende Einarbeitung in Methoden, Konzepte und Handlungspraxen verfangen sich in den paradoxen Spannungsverhältnissen, die eine konsequente Sichtweise auf sozial konstruierte, intersektional verfasste und mit der Subjektivität der Fachkräfte verbundenen Differenzkategorien erschweren. Die Persistenz von Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist dort besonders ausgeprägt, wo sie Subjektivierungsprozesse prägen und ermöglichen und somit den meisten Menschen im Alltag zum einen wenig bewusst sind und zum anderen die Bedingung für eigene Subjektivierungspraxen sein können. Für Fachkräfte der Sozialen Arbeit bedeutet dies eine besondere Herausforderung, müssen sie sich doch die eigenen Subjektivierungsbedingungen und -praxen auf besondere Weise reflexiv verfügbar machen (siehe dazu auch Groß 2020 i.E.). Dies ist zwar theoretisch ein zentraler Kern von emanzipatorischen Bildungstheorien sowie einer sich als professionell verstehenden Sozialen Arbeit aber in der Handlungspraxis der Fachkräfte mitnichten ein Automatismus, wie beispielsweise Melter (2011) mit seiner Arbeit zur Dethematisierung von Rassismuserfahrungen Schwarzer Deutscher in der Jugendhilfe(forschung) gezeigt hat. Soziale Arbeit erweist sich hingegen immer auch als Arbeit mit ›den Anderen‹ und als Normierungsarbeit an Subjekten (vgl. Kessl/Plößer 2010, Plößer 2014). Nicht selten sind dabei die sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Interaktionen von Fachkräften mit Adressat*innen die Momente, in denen sich unreflektierte Wissensbestände und Normen zeigen und artikuliert werden, die die Fachkräfte auf der Ebene von Einstellungsäußerungen eher kritisch sehen würden. Professionell agierende Fachkräfte müssen selbstreflexiv misstrauisch gegenüber ihren eigenen Normen und Wahrheitskonstruktionen bleiben, weil sie nie außerhalb von Macht-Wissen-Komplexen stehen können. Sie müssen die ihren Hand-

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lungen zugrunde liegenden Wissensbestände stets aktualisieren und hinterfragen. Dabei können sie sich auf wenige umfassende Ansätze in der Sozialen Arbeit stützen, sondern müssen sich eigentätig in einer komplexen Wissenschaftslandschaft zwischen Disziplin, sogenannten Bezugswissenschaften sowie theoretischen und empirischen Schulen zurecht finden und diese qualitativ unterscheiden. Zugleich befinden sich Fachkräfte immer auch unter dem staatlichen und gesellschaftlichen Anspruch von Normierungs-, Ordnungs- und Kontrollbedürfnissen in sozialregulativen Logiken von Prävention oder Erwerbsgesellschaftslogiken gefangen. Chronisch unterfinanziert und überlastet befinden sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit strukturell bedingt selten in der für Selbstreflexion und Weiterbildung notwendigen Situation ausreichend zeitliche Ressourcen für diese Prozesse zur Verfügung zu haben. Auf struktureller Ebene ist eine angemessenere Ausstattung der Sozialen Arbeit auch Voraussetzung dafür, dass tatsächlich dem Auftrag der menschenrechtsbezogenen Sozialen Arbeit nachgekommen werden kann und diese sich nicht in technokratischen Ansätzen und in der Verwaltung des Scheiterns an Gesellschaft und ihren Normen verfängt. Dennoch ist es erforderlich, dass Soziale Arbeit nicht nur theoretisch und empirisch, sondern auch handlungspraktisch ein gutes Leben für Alle ermöglicht und die dafür erforderlichen Ressourcen akquiriert und ggf. auch advokatorisch politisch erkämpft. In den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, also beispielsweise in den Institutionen der Erziehung und Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Kindertagesstätten, Schulsozialarbeit, erzieherische Hilfen, stationäre Kinderund Jugendhilfe) müssen zudem Konzepte entwickelt werden, die geschlechtliche und sexuelle Emanzipation ermöglichen und Diskriminierung, Pathologisierung und Verletzung verhindern. Dabei müssen die Konzepte eine permanente Weiterentwicklung ermöglichen, um sozialen Wandel adäquat aufgreifen und emanzipatorische Prozesse unterstützen zu können. Hierbei darf Soziale Arbeit sich nicht darauf beschränken spezialisierte Einrichtungen zu etablieren (vgl. dazu Prasse in diesem Band über Queere Jugendtreffs), sondern muss im Querschnitt ihrer Institutionen Differenzsensibilität, Akzeptanz, Anerkennung und Sichtbarkeit auf der Ebene der Subjekte und Repräsentationen umsetzen und zugleich die strukturellen Benachteiligungen, die mit Geschlecht und Sexualität verbunden sind, bekämpfen.

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Fazit Soziale Arbeit ist keine neutrale Akteurin, sondern reproduziert gesellschaftliche Normen durch die Handlungen der Fachkräfte, durch Benennungen und Auslassungen in Theorien, Konzeptionen, Methoden und Dokumentationen auf der Grundlage verinnerlichter Elemente des gesellschaftlichen Ordnungsgefüges. Mittendrin in der Komplexität und Paradoxie von Gesellschaft verbleibt es in der Reflexionsbereitschaft von Forschenden und Fachkräften, ob und inwiefern Sexualitäten und Geschlechter Raum zur Entfaltung erhalten und Unterstützung erfahren oder ob sie begrenzt, dethematisiert und in die Zonen des Verworfenen verwiesen bleiben. Soziale Arbeit muss aber inter*, trans* und nicht-binäre Adressat*innen (und Fachkräfte) zur Kenntnis nehmen, um ihrem eigenen Anspruch, eine Menschenrechtsprofession zu sein, gerecht zu werden (vgl. Bochert/Focks/Nachtigall 2018). Sie muss die Ausschließungen, Benachteiligungen und Verletzungen von und an Subjekten, die durch eine heteronormativ verfasste Gesellschaft hervorgebracht werden, als einen zentralen Gegenstand der Profession anerkennen. So muss sie zur Kenntnis nehmen, dass ein Leben jenseits der Zweigeschlechtlichkeit als Inter*, Trans* oder nicht-binäre Kinder und Jugendliche aber auch Erwachsene je eigene Herausforderungen für die Subjekte bedeuten und dass es dafür auch eine spezifische pädagogische Sensibilität braucht (vgl. dazu Enzendorfer und Groß/Hechler in diesem Band). Gleichzeitig muss sie das Thema als Querschnittsthema behandeln, weil in allen Handlungsfeldern Adressat*innen zu finden sind, die jenseits der Zweigeschlechtlichkeit leben (vgl. dazu Voß und Schrader/Barta in diesem Band). Darüber hinaus muss sie anerkennen, dass geschlechtliche und sexuelle Vielfalt insgesamt eine grundlegende Perspektive ihrer Profession sein sollte. Für die Theoretisierung der Sozialen Arbeit als Profession, die emanzipatorische Bildungsprozesse von Subjekten begleitet und Unterstützungsund Hilfesysteme für ihre Adressat*innen unterhält, sind die Bearbeitung der Leerstellen und Anschlüsse aus poststrukturalistischen und intersektionalen Debatten um Differenz hoch produktiv. Sie ermöglichen eine Sicht auf die Kategorien Geschlecht und Sexualität, die deren Eingebunden-sein in MachtWissen-Komplexe aufzeigt und die strukturellen Begrenzungen und Ermöglichungen sichtbar macht. Theoretisch auf diese Weise konzeptualisierte Soziale Arbeit macht es sich als Handlungspraxis selbstverständlich zur Aufgabe, Subjektpositionen zu stärken, die bislang in die Zonen des Verworfenen verwiesen waren, die als konstitutive Andere vom Subjektstatus ausgeschlossen

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und denen Teilhabe verweigert wurde. Damit stärkt Soziale Arbeit die Handlungsfähigkeit ihrer Adressat*innen und erkennt an, dass die kritische Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse und Paradoxien sowie die eigenen Verstrickungen in diese Verhältnisse notwendige Elemente von Professionalität sind. Zugleich stellt sie sich die Frage, mit welchen Neu-Disziplinierungen die Erweiterung von Subjektivierungsweisen verbunden sein könnten und wie es gelingt, eine solidarische Praxis zu entwickeln.

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Making Biological Binarity – Geschlechtszuweisende (Genital-)Operationen bei intergeschlechtlichen Kindern Anike Krämer und Katja Sabisch

Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie (vgl. Gregor 2015, 2019 und in diesem Band) unterliegt einem historischen Wandel und wurde je nach Kontext unterschiedlich wahrgenommen, erklärt und untersucht (vgl. hierzu Klöppel 2010; Groneberg 2008, Schochow 2009, Schochow/Steger 2016). Allerdings lag die Deutungshoheit über Inter* schon früh bei der Medizin. Die vollständige Durchsetzung des pathologisierenden Denk- und Behandlungsstils begann Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Etablierung der sog. optimal gender policy, die eine frühzeitige Geschlechtszuweisung durch chirurgische Eingriffe vertritt. Erst ab den 1990er Jahren fanden Aktivist:innen Gehör, indem sie die damit einhergehenden Operationen als Menschenrechtsverletzungen deklarierten. Die Diskursverschiebung zeigt sich in verschiedenen politischen und rechtlichen Maßnahmen seit den 2010ern, beginnend mit der Stellungnahme des Ethikrats (2012) über die neue Behandlungsleitlinie S2k »Varianten der Geschlechtsentwicklung« (2016) bis hin zu einem Referentenentwurf für ein Gesetz zum Verbot von Operationen an intersexuellen Kindern, der im Januar 2020 vorgelegt wurde. Ausgehend von den theoretischen Annahmen der optimal gender policy wird der vorliegende Beitrag den Diskurs über Inter* in Deutschland nachzeichnen und schließlich danach fragen, warum Teile der Medizin auch heute noch dem höchst umstrittenen Behandlungskonzept aus den 1950er Jahren folgen.

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Entstehung der systematischen operativen Zuweisung von intergeschlechtlichen Körpern Geschlechtszuweisende Operationen an intergeschlechtlichen Menschen sind seit dem 12. Jahrhundert belegt (vgl. Rolker 2016). Die systematische und später auch kanonisierte operative Zuweisung basiert allerdings auf der Entwicklung eines Behandlungskonzepts, welches in Baltimore in den 1950er und 1960er Jahren entstand. Die Forscher:innen entwickelten auf Basis ihrer gender-imprinting-Theorie eine medizinische Praxis, die auch später in Deutschland übernommen wurde und deren Einflüsse bis heute wirksam sind. Der Psychologe John Money begann in den 1950er Jahren mit seinem Team – insbesondere mit Joan und John Hampson und in Kooperation mit dem pädiatrischen Endokrinologen Lawson Wilkins – am Johns Hopkins Hospital eine breit angelegte Studie zu Hermaphroditismus.1 Im Zuge dieser Forschung wurde die gender-imprinting-Theorie entwickelt, die als Grundlage der neuen Behandlungsleitlinien fungierte. Diese basiert auf der Annahme, dass das äußere Genital (und eben nicht das chromosomale, gonadale oder hormonelle Geschlecht) der Ausgangspunkt für die psychosexuelle Entwicklung eines Kindes sei (vgl. Klöppel 2012:307ff.). Das äußere Genital wird dadurch – als Teil der Selbst- und Fremdwahrnehmung – zum wichtigsten körperlichen Geschlechtsmerkmal deklariert (vgl. Money 1955: 257). Denn die Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle eines Menschen werde durch die Erziehung und die Bestärkung des zugeschriebenen Geschlechtes geprägt, so Money, was zu einer Festigung des Selbstbildes führe und damit zu einer dauerhaften Verankerung der gender role (vgl. Klöppel 2012: 318ff.). Diese soziale Prägung2 des (psychosozialen) Geschlechts vollziehe sich bereits in den ersten 18 Lebensmonaten (Money/Hampson/Hampson 1955: 310). Diese Annahme legitimiert frühe Genitaloperationen, da so die Zugehörigkeit zum zugewiesenen Geschlecht manifestiert werden soll. Die in Baltimore durchgeführte Forschung und das daraus entwickelte Behandlungskonzept sollte auch Hilfe hinsichtlich »problems of hermaphroditism« (Hampson 1955: 268) bieten. Es diente dem Ziel, »[to] enable a patient 1 2

Im Folgenden werden die Begriffe des jeweiligen historischen Kontextes genutzt, da sie eigene Implikationen und Konzepte beinhalten. Die Idee der sozialen Prägung, wie sie im gender-Konzept des Baltimorer Teams vertreten wurde, basiert auf einer unterkomplexen Vorstellung psychosozialer geschlechtlicher Entwicklung. Hier spielen insbesondere die elterliche Erziehung und das wiederholte Zuschreiben einer Männlich- oder Weiblichkeit eine zentrale Rolle.

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to play a reasonably normal role in society and save him from a life of misery and psychologic confusion« (Wilkins et al. 1955: 299). In diesem Zitat zeigt sich, dass Geschlecht nur als rollenkonforme Umsetzung von Weiblichkeit und Männlichkeit als ›normaler‹ Bestandteil der Gesellschaft gedacht wurde.3 Zudem wurde angenommen, dass davon abweichendes Erleben zwangsläufig negative psychische Folgen habe, die unweigerlich in Leid und Verwirrung münden würden. Grundvoraussetzung für eine gesunde Psyche sei demnach die eindeutige Zugehörigkeit zum weiblichen respektive männlichen Geschlecht, die durch das körperliche Erscheinungsbild, Rollenverhalten und dem heterosexuellen Begehren als gesichert gilt. Da die Genitalien hier als wichtigstes körperliches Zeichen der Geschlechtszugehörigkeit gelten, müssten diese bei intergeschlechtlichen Kindern ggf. durch kosmetische Operationen und/oder Hormongabe ›normalisiert‹ werden. So würde es den Eltern auch leichter fallen, das Kind geschlechtskonform zu erziehen. Begründet wurden die Operationen mit der Erklärung, dass die medizinischen Eingriffe eine »Vollendung« (Klöppel 2010: 314) der biologischen Entwicklung darstellen würden. Kriterien für eine gelungene Operation waren neben der Übernahme des zugewiesenen Geschlechts die Möglichkeit des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs, sowie für Jungen das ›Urinieren im Stehen‹.4

Von Intersex zu DSD Die Idee der Genitalien als wichtigstes Zeichen des Geschlechts und die damit einhergehende Vorstellung sozialer Prägung setzte sich auch in Deutschland nach und nach durch. Geschlechtszuweisende Operationen wurden auch hier, spätestens seit Mitte der 1960er Jahre, zum Standardverfahren in der Medizin (vgl. Klöppel 2012: 475). Die Überarbeitung der Behandlungsleitlinien 2005 bei der sog. Chicago Consensus Conference brachte einige Veränderungen mit 3

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Diese Rollenkonformität ist nach Hampson erfolgreich, wenn beispielsweise Spielpräferenzen, Inhalte von Träumen, allgemeinem Verhalten oder auch spontanen Gesprächsthemen dem Bild entsprechend auftreten, ebenso wie heterosexuelle Orientierung (vgl. Hampson 1955: 266). Da Penisaufrichtungen oder Penisaufbauplastiken zu dieser Zeit als wenig erfolgsversprechend galten, wurde das Genital meist als Klitoris eingestuft und in der Folge der ›Norm‹ angepasst. Die Herstellung der ›Norm‹ war dabei das übergeordnete Ziel, wohinter sowohl Fortpflanzungsfähigkeit als auch sexuelle Empfindungsfähigkeit zurücktreten mussten (Klöppel 2012: 315-317).

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sich. So wurde eine neue Nomenklatur eingeführt, die die Zuordnung zu unterschiedlichen Diagnosen gewährleisten sollte. Die Autor:innen schlugen die Bezeichnung »disorders of sex development (DSD)«5 (Lee et al. 2006: 488) vor. Weitere Empfehlungen betrafen Diagnostik und Behandlung, welche von einem multidisziplinären Team erfolgen solle. Zudem sollte das Geschlecht erst nach einer gesicherten Diagnose zugewiesen werden. Die in Baltimore noch praktizierte und empfohlene Geheimhaltung der Intergeschlechtlichkeit vor dem Kind (und vor dem sozialen Umfeld) wurde durch die Consensus Conference verworfen. Die Familienmitglieder sollten nun in Entscheidungen einbezogen und über die Risiken von Operationen aufgeklärt werden. Zudem sollten Operationen nur ab einem bestimmten Grad der Virilisierung durchgeführt werden und sich eher »on functional outcome rather than a strictly cosmetic appearance« (Lee et al. 2006: e491) orientieren. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine frühe operative Zuweisung nicht medizinisch begründet ist. Im Consensus Statement wird betont, dass allgemein die Auffassung vertreten würde, die Bindung zwischen Eltern und Kind würde durch die Operationen am Genital gestärkt und der elterliche Stress gemindert, obwohl es dazu keine systematisch erhobenen Erkenntnisse gäbe (vgl. Lee et al. 2006: e491). In Deutschland sind die Zahlen von Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern zwischen 2005 und 2016 nicht signifikant zurückgegangen. Die von Hoenes, Januschke und Klöppel (2019) durchgeführte Studie zeigt anhand der fallpauschalbezogenen Krankenhausstatistik, dass die Anzahl der Operationen an unter Zehnjährigen mit einer Intersex-Diagnose in diesem Zeitraum relativ konstant geblieben ist (vgl. ebd.). Auch die 2016 erschienene S2k-Leitlinie zu Varianten der Geschlechtsentwicklung6 empfiehlt zuvorderst eine Diagnostik durch ein Expert:innenteam, sowie multidisziplinäre Beratung und Behandlung der Patient:innen und deren Familien. In Bezug auf Diagnosen stellt die Leitlinie klar, dass »operative Eingriffe[] beim nicht-einwilligungsfähigen Kind […] immer restriktiv gestellt werden [sollen]« (Krege/Eckholdt/Richter-Unruh 2016: 19). Das Selbstbestimmungsrecht des Individuums wird betont. Außerdem wird darauf verwiesen, dass lediglich medizinisch indizierte Operationen durchgeführt werden sollen. Auf der formalen Ebene zeigen sich die Entwicklungen auch in der

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Mittlerweile wird auch öfter die Bezeichnung differences of sex development verwendet. Die Leitlinie wurde von verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften erstellt, konkret von der Deutschen Gesellschaft für Urologie, der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie.

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Präambel. Hier wird offiziell »das Bewusstsein für die Unzulänglichkeit des Entweder/Oder von ›Zweigeschlechtlichkeit‹« (ebd.: 4) als Basis der medizinischen Begleitung und Behandlung deklariert. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass sich diese Sicht auf Inter* in der Medizin durchgesetzt hat. Zumindest zeigt unsere Forschung (Krämer/Sabisch 2017, Krämer 2018, Sabisch 2017), dass die Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität in der Medizin eng an alltagsweltliches Wissen gekoppelt sind und selbst Expert:innen in dem Feld spezifische und normative Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität anwenden.

Widerstände Widerstand gegen uneingewilligte Operationen leisteten insbesondere Menschen, die diese selbst erleben mussten. Diese schlossen sich in aktivistischen und Selbsthilfegruppen zusammen und machten erstmals auf die negativen Folgen der geschlechtszuweisenden Operationen aufmerksam. Seit Mitte der 1990er Jahren formieren sich in Deutschland mehr und mehr Gruppen.7 Im Zentrum stehen dabei einerseits der Aspekt, sich mit anderen Erfahrungsexpert:innen auszutauschen und andererseits die Notwendigkeit, auf die Gewalt hinzuweisen, die sie durch die medizinische Behandlung erlebt haben. Anerkennung, Selbstbestimmung und die Wahrung von Menschenrechten (Recht auf körperliche Unversehrtheit, Recht auf den Schutz vor Bevormundung etc.) sind dabei wichtige Forderungen (vgl. IVIM/OII Deutschland 2009). Die Erfahrungen von intergeschlechtlichen Menschen sind geprägt durch Erlebnisse der Delegitimierung, Entmenschlichung und Pathologisierung. Selbstberichte von intergeschlechtlichen Menschen zeigen, wie diese Gewalt durch operative Zuweisung empfunden wird: Erfahrungen der Isolation, des Vorführens, der Ausgrenzung, der Stigmatisierung und des Übergehens (vgl. bspw. XY-Frauen 2010, Völling 2010). So arbeitet Gregor (2015) in der Monografie Constructing Intersex heraus, dass in den Biografien intergeschlechtlicher Erwachsener der Körper ein zen-

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Besonders prägend waren dabei insbesondere die Arbeitsgemeinschaft gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG), die Selbsthilfegruppe XY-Frauen, die später den Dachverein Intersexuelle Menschen e.V. gründete, sowie die deutsche Sektion der Organisation Intersex International (IVIM/OII).

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traler Bestandteil ist und dieser als enteignet und unverfügbar erlebt wird. Auch Geschlecht und der erlebte Prozess der Intersexualisierung strukturieren die Biografie intergeschlechtlicher Menschen. Die »Emanzipation von der medizinisch organisierten Kontrolle« (ebd.: 315) spielt eine wichtige Rolle bezüglich der Wiederaneignung des eigenen Körpers (vgl. ebd.: 313). Auch quantitativ sind die Auswirkungen von operativen Eingriffen messbar. Die sogenannte Hamburger Intersex Studie zeigte, dass die Mehrheit der Befragten unzufrieden mit der operativen Zuweisung war. Die Kritik bezog sich insbesondere auf die mangelhafte Aufklärung und Kommunikation, auf die Behandlungsfolgen von irreversiblen Eingriffen wie Schmerzen oder auch das Einbüßen der Empfindungsfähigkeit der Genitalien. Hinzu kommt das Zurschaugestellt-Werden durch Fotografieren oder die Untersuchung der Genitalien vor größeren Gruppen. Besonders hervorgehoben wurden auch die psychologischen Folgen in Bezug auf das Selbst- und Identitätserleben (vgl. Schweizer/Richter-Appelt 2012). Aufgrund dieser weitreichenden Folgen stellt sich die Frage, warum weiterhin nicht-eingewilligte operative Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen stattfinden. Unserer Meinung nach kann dies nur beantwortet werden, wenn man die Eigenlogik der Medizin näher betrachtet und die Profession als solche in den Blick nimmt.

Medizin als Profession Es muss festgestellt werden, dass Mediziner:innen immer wieder mit Abwehr reagieren, wenn geschlechtszuweisende Operationen in Frage gestellt werden. Aktivist:innen werden vor diesem Hintergrund oft als angriffslustig und impulsiv beschrieben (vgl. Guillot/Bastien Charlebois 2015, Krämer/Sabisch 2017). Mediziner:innen werten die Kritik an den Operationen als unwissenschaftlich, wie es u.a. Guillot und Bastien Charlebois beschreiben (Guillot/Bastien Charlebois 2015: 282). Dies zeigte sich zuletzt auch in den aktuellen Stellungnahmen medizinischer Fachgesellschaften hinsichtlich des Referentenentwurfs zum Gesetz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen.8 So merkt etwa die Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) an: »[D]er Gesetzesentwurf zeichnet sich 8

Der Entwurf ist einzusehen unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungs verfahren/Dokumente/RefE_Verbot_OP_Geschlechtsaenderung_Kind.pdf;jsessionid

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vielmehr durch medizinisch falsche und unpräzise Formulierungen aus und missachtet aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Empfehlungen« (DGKED 2020: 3). Hier bezieht sich die DGKED auf die aktuellen medizinischen Leitlinien (die nach Meinung der DGKED ausreichen, um nicht medizinisch indizierte Operationen ohne informed consent zu vermeiden) und auf Erkenntnisse und Definitionen aus der Biomedizin (denn sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse beziehen sie selbst nicht ein). Aus Sicht der DGKED (und anderen medizinischen Verbänden) sei der Entwurf ungenau, weil er zu wenig zwischen den einzelnen Diagnosen unterscheide und nicht die aktuelle (also medizinische) Definition von DSD (in Abgrenzung zu Inter*) berücksichtige. Denn, so das Argument der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), das biologische Geschlecht könne nicht operativ verändert werden, da das biologische Geschlecht »durch vielfältige genetische und hormonelle Prozesse gesteuert [wird] und während der intrauterinen Phase weitestgehend festgelegt [ist]« (DGKJ 2020: 3). Versteht man Geschlecht also als »Resultat einer einzigartigen Kombination jedes Menschen durch das Zusammenkommen von vielfältigen genetischen, hormonellen, enzymatischen, Umwelt- und auch unbekannten Einflüssen in der Fetal- und Embryonalzeit« (DGKED 2020: 3), so verändern Operationen am Genital lediglich die »Anatomie, Funktion und Optik« (ebd.). Diese Festsetzung verkennt die Komplexität geschlechtlicher Entwicklung und die wechselseitige Wirkung und Verschränktheit von Natur und Kultur. Das Genital wird dabei auf die Zeichenhaftigkeit reduziert, denn es dient sozusagen nur als optische Versicherung der Geschlechtlichkeit. Daher plädieren etwa die DGKED, DGKJ und auch die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) für eine frühe Genitaloperation an Kindern mit der Diagnose eines Androgenitalen Syndroms. Diese würde das Geschlecht des Menschen eben nicht verändern, sondern das ›fehlgebildete Genital‹ der ›Mädchen‹ korrigieren.9 Weiter wird argumentiert, dass ein Operationsverbot somit im Sinne der Medizinethik ungerecht sei, da im Sinne der Minderheit entschieden würde und somit »die Mehrheit psychisch und physisch beeinträchtigt« (DGU 2020: 3) würde. Bei dieser Argumentation wird deutlich, dass nicht etwa die

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=65E72954C3031F65FCF1193D5B59E717.1_cid297?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 13.09.2020) Die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) konstatiert, dass sich die Mehrheit der Menschen mit einer AGS Diagnose weiblich identifiziere. Bei etwa 12-14 % wäre dem nicht so (vgl. DGU 2020: 3).

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Selbstbestimmung des Kindes respektive Menschen im Vordergrund steht, sondern die normierte Vorstellung eines Geschlechtskörpers, bei dem Abweichungen zu psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen.

Denkstile und Alltagswissen Die Medizin genießt eine besondere Stellung innerhalb unserer Gesellschaft, die mit einem hohen Grad an Prestige und keiner direkten Konkurrenz einhergeht. Dadurch besitzt die Medizin erstens das Entscheidungsmonopol darauf, was als krank oder gesund gilt und zweitens das Behandlungsmonopol bezüglich Krankheiten und Symptomen (vgl. Freidson 1979). Allerdings ist die Medizin als soziale Institution – ebenso wie Krankheiten und deren Behandlung – historischen und gesellschaftlichen Einflüssen unterworfen. Sie kann als Denkkollektiv (vgl. Fleck 1994 [1935]) bezeichnet werden, welches normativen Vorstellungen unterliegt, beispielsweise in Bezug darauf, wie sich Kranke zu verhalten haben.10 In Bezug auf Intergeschlechtlichkeit arbeitete Katja Sabisch heraus, wie Alltagswissen das Denken der Medizin beeinflusst (vgl. Sabisch 2017, Krämer 2018). Sabisch identifiziert drei Denkstile, die bei ›DSD‹-Expert:innen zum Tragen kommen.11 Unter Denkstil versteht der Wissenssoziologe Ludwik Fleck (1994 [1935]) ein »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« (ebd.: 130). Denkstile sind also Denk-, Wahrnehmungs- und Verarbeitungsgebilde, die innerhalb von Kollektiven und Individuen wirksam sind. Die hier beschriebenen Denkstile treten gleichzeitig im Denkkollektiv von ›DSD-Expert:innen‹ auf und sind dabei miteinander verschränkt: 1) Der pathologisierende Denkstil zeichnet sich dadurch aus, dass er an biomedizinische Konzepte von Normalität und Abweichung anknüpft und somit intergeschlechtliche Körper (eben als Abweichung von der Norm) als behandlungsbedürftig ansieht. Dies zeigt sich 10

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Balint (1970) spricht hier von der apostolischen Funktion der Medizin und zeichnet nach, wie sich das Verhalten von Ärzt:innen gegenüber Patient:innen verändert, wenn diese sich nicht so verhalten, wie es die Ärzt:innen als richtig oder angebracht empfindet (vgl. ebd.). Der empirischen Basis dienen Expert:innen-Interviews, die im Rahmen des Forschungsprojektes »Intersexualität in NRW. Eine qualitative Untersuchung der Gesundheitsversorgung intergeschlechtlicher Kinder in Nordrhein-Westfalen« erhoben wurden (vgl. Krämer/Sabisch 2017).

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in der Verwendung spezifischer Begriffe wie z.B. ›Fehlbildung‹. 2) Der normierende Denkstil knüpft an Alltagsvorstellungen an. So nehmen Mediziner:innen etwa an, dass intergeschlechtliche Kinder unweigerlich von Diskriminierung und Ausgrenzung im sozialen Umfeld betroffen sind und so unter erheblichen psychischen Beeinträchtigungen leiden. Irreversible Operationen am Genital werden hier als Vorbeugung gegen Diskriminierung gedeutet. Zudem wird (ähnlich wie bei Money) die gesunde psychosexuelle Entwicklung in Frage gestellt, wenn das Kind entscheiden müsse, welche Toilette es benutze oder welche Umkleidekabine die richtige für es sei. Deutlich wird hier, dass alltagsweltliche Wissensbestände in medizinische Praxis übersetzt werden, obwohl es keine empirischen Befunde dazu gibt. Das Alltagswissen wird so zum Referenzrahmen für operative Eingriffe. 3) Im emanzipatorischen Denkstil zeigen sich Denkstilergänzungen oder -umwandlungen, wie etwa die Verwendung von Begriffen wie Varianten der Geschlechtsentwicklung. Auch die Anerkennung von nicht binären Identitäten kann hierunter gefasst werden. Allerdings wird der emanzipatorische Denkstil von den pathologisierenden und normierenden überlagert. Die Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt hat demnach Einzug in das ›DSD‹-Denkkollektiv erhalten, wird jedoch selten in medizinisches Wissen und medizinische Praktiken überführt.

Fazit Dass Mediziner:innen also weiterhin geschlechtszuweisende Operationen vornehmen, gründet in erster Linie auf den tradierten fachspezifischen Denkstilen, die das explizite und implizite Wissen der Mediziner:innen bestimmen. Die pathologisierenden und normierenden Denkstile setzten sich beharrlich fort, da beide ein inner-medizinisches Konstrukt sind und aus der Disziplin selbst hervorgehen. Anders verhält es sich mit dem emanzipatorischen Denkstil. Er gründet auch auf außer-medizinischen und/oder aktivistischen Diskursen, die die Monopolstellung der prestigeträchtigen Disziplin hinterfragen. Aus diesem Grund stellt eine Denkstilumwandlung im Fall der Medizin eine besondere Herausforderung dar. Die Aussage, dass der Referentenentwurf zum Gesetz zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen unwissenschaftlich sei, unterstreicht diese Behauptung. In Verteidigung der pathologisierenden und normierenden Denkstile wird eine wissenschaftliche Wahrheit mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit ins Feld geführt – ein Vorgehen, welches die legitime Vormachtstellung der

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Medizin unterstreichen soll. Wenn also der emanzipatorische Denkstil in Form des Selbstbestimmungsrechts bzw. des Rechts auf körperliche Unversehrtheit von intergeschlechtlichen Kindern gestärkt werden soll, bedarf es einer gesetzlichen Einschränkung medizinischer Macht. Denn die besondere Stellung der Medizin in der Gesellschaft bewirkt ein Machtgefälle und stärkt die Position der Medizin und somit den disziplinspezifischen Denkverkehr. Äußerer Druck, etwa durch den Gesetzgeber, kann die medizinischen Denkstile erweitern und somit den emanzipatorischen Denkstil stärken. Die dadurch entstehenden (möglicherweise) neuen Praktiken – etwa das Abwarten im Gegensatz zum operativen Zuweisen – können die Ausbildung neuer Denkstile (auch in der Medizin) begünstigen.

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verändernden operativen Eingriffen, www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Stellungnahmen/2020/Downloads/020420_Stellungnahme_DGU_RefE_SchutzKinder.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (zuletzt abgerufen am 06.08.2020). Fleck, Ludwik (1994 [1935]): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Freidson, Eliot (1979): Der Ärztestand, Stuttgart: Enke. Gregor, Joris A. (2015): Constructing Intersex. Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie, Bielefeld: transcript (veröffentlicht unter Anja Gregor). Gregor, Joris A. (2019): »Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie«, in: Elisabeth Greif (Hg.), No Lessons from the Intersexed? Anerkennung und Schutz intergeschlechtlicher Menschen durch Recht, Linz: Trauner, S. 105-129. Groneberg, Michael (2008): »Mythen und Wissen zur Intersexualität – Eine Analyse relevanter Begriffe, Vorstellungen und Diskurse«, in: Michael Groneberg/Katrin Zehnder (Hg.), Intersex – Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes? Erfahrungen und Analysen, Freiburg: Academic Press Fribourg, S. 83-145. Hampson, Joan G. (1955): »Hermaphroditic genital appearance, rearing and eroticism in hyperadrenocorticism«, in: Bulletin of the Johns Hopkins Hospital 96 (6), S. 265-273. Hoenes, Josch/Januschke, Eugen/Klöppel, Ulrike (2019): Häufigkeit normangleichender Operationen »uneindeutiger« Genitalien im Kindesalter. Follow Up-Studie, Bochum: Ruhr-Universität Bochum. IVIM/OII Deutschland (2009): »Forderungen«, https://oiigermany.org/forde rungen-archiv/ (zuletzt abgerufen am 07.02.2020). Klöppel, Ulrike (2010): XXOXY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin, Bielefeld: transcript. Krämer, Anike/Sabisch, Katja (2017): Intersexualität in NRW. Eine qualitative Untersuchung der Gesundheitsversorgung von zwischengeschlechtlichen Kindern in Nordrhein-Westfalen. Projektbericht, Studien Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW, Nr. 28. Essen. Krämer, Anike (2018): »Intersex aus soziologischer Perspektive. Eltern – Medizin – Gesellschaft«, in: Julia Koll/JantineNierop/Gerhard Schreiber (Hg.), Diverse Identität. Interdisziplinäre Annäherungen an das Phänomen Intersexualität, Hannover: creo-media, S. 55-66. Krege, Susanne/Eckholdt, Felicitas/Richter-Unruh, Annette (2016): S2kLeitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung, https://www.aem-on

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Intergeschlechtlichkeit als Kategorie zur Reflexion von Geschlechtlichkeit in der Sozialen Arbeit Eine theoretische Kartographie Joris A. Gregor

Hinführung Im Folgenden1 möchte ich die produktive Relevanz von Intergeschlechtlichkeit für das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit (Hagemann-White 1984) – und damit nicht zuletzt für die Soziale Arbeit – aus theoretischer Perspektive vermessen.2 Mein Beitrag appelliert an die Profession Sozialen Arbeit, Geschlecht in seiner Komplexität (statt normativer Binarität) in methodologische Überlegungen zu integrieren und konzeptionelle Überlegungen entsprechend umzusetzen. Er ist eine Einladung zur Auseinandersetzung mit den theoretischen Hintergründen einer inter*sensiblen Sozialen Arbeit. Morgan Holmes (2009) erklärte Intergeschlechtlichkeit 2009 zu einem wissenschaftlichen Objekt, das seit den 1990er Jahren dabei ist, zu einer kulturell herausragenden Kategorie zu werden (becoming a culturally salient category; ebd.: 4). Dieser Prozess des Werdens ist nicht abgeschlossen, nicht zuletzt, weil die kosmetischen (also für die Erhaltung oder Herstellung von Gesundheit unnötigen) operativen und medikamentösen Zurichtungen weiterhin hegemoniale Praxis im Umgang mit intergeschlechtlichen Körpern sind (vgl. Hoenes/Januschke/Klöppel 2019). Seit den 1990er Jahren haben die

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Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung meines Artikels Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie (Gregor 2019). Das vorrangige politische Ziel muss weiterhin die Beendigung von uneingewilligten kosmetischen Zurichtungen intergeschlechtlicher Körper und damit der Einsatz für sexuelle und reproduktive Rechte für intergeschlechtliche Menschen sein (vgl. dazu bspw. Vanja und Krämer/Sabisch in diesem Band sowie Gregor 2021 i.E.).

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verschiedenen politischen Aktivitäten intergeschlechtlicher Menschen jedoch einen Gegendiskurs zu den medizinischen Narrativen gezeitigt.3 Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie zu beschreiben, kann immer nur eine Repräsentation von Wissen sein, das lokal, verkörpert und partikular ist (vgl. Haraway 1995). Der soziale Gehalt einer Kategorie ist gebunden an die kulturelle Ordnung, die er mitstrukturiert. Die folgenden Ausführungen produzieren folglich Wissen aus einer bestimmten partikularen Perspektive ein situiertes Wissen (ebd.) über Intergeschlechtlichkeit. Dieses hier dargestellte situierte Wissen möchte in einer Weise mit anderen Perspektiven in diesem Band in Beziehung treten, die es den Leser*innen erlaubt, das intersubjektive Wissen über Intergeschlechtlichkeit respektive die Dritte Option, das dieser Band vermitteln möchte, als solches zu erfassen. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Nach einer Erinnerung an maßgebliche Prämissen eines sozialkonstruktivistischen Zugangs zu Geschlecht im ersten Abschnitt des Beitrags werde ich im zweiten Abschnitt nach einer äußerst kurzen Darstellung der Medikalisierungsgeschichte zwischengeschlechtlicher Körper4 das Entstehen, den Inhalt und insbesondere den kolonialisierenden Gehalt des Baltimorer Behandlungskonzepts (vgl. Klöppel 2010) der 1950er Jahre herausarbeiten. Das Konzept hat bis heute einen bedeutenden Einfluss auf die medizinische Sicht auf Intergeschlechtlichkeit; Diese Ausführungen bilden den Hintergrund für die gesellschaftstheoretischen Überlegungen im vierten Abschnitt. Die zentralen Thesen, die zu plausibilisieren sind, lauten: 1. Intergeschlechtlichkeit kann im Kontext ihrer Genealogie heute im Verhältnis zur Zweigeschlechtlichkeit und dem Verhältnis der zwei Geschlechter zueinander nicht nur als konstituiert von den und konstitutiv für die Grenzen der kulturellen Matrix der Heterosexualität5 angesehen werden, sie ist darüber hinaus auch in den Prozess der internen Grenzziehung ›männlich – weiblich‹ eingebunden. 3 4

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Die Intersex Society of North America wurde 1993 gegründet, die Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie (AGGPG) 1996 in Deutschland. Der Begriff ›Zwischengeschlechtlichkeit‹ ist ein behelfsmäßiger, um die je spezifischen historischen Benennungen zugunsten einer allgemeineren, epochenüberschreitenden Perspektive zu vermeiden. Ich folge damit der Begriffsverwendung von Klöppel (2010). Heterosexualität impliziert als hegemoniale Norm per definitionem immer auch eine ausschließliche Zweigeschlechtlichkeit (vgl. Butler 1991).

Intergeschlechtlichkeit als Kategorie zur Reflexion von Geschlechtlichkeit

2. Intergeschlechtlichkeit ist zudem im Feld des konstitutiven Anderen zur heterosexuellen Matrix6 in anderer Weise ›produktiv‹ für den Erhalt der Normen als bspw. Trans* oder Homosexualität, weil es sich um ein sozial nicht existentes Phänomen handelt, das nichtsdestotrotz einen sozialen Gehalt aufweist, der insbesondere auf der somatischen Ebene angesiedelt ist.

Diese gesellschaftstheoretischen Implikationen erläutere ich in einem letzten Abschnitt, der in gewisser Weise ein Fazit aus den bisherigen Überlegungen zieht, gleichzeitig aber inhaltlich die zentralen Befunde bündelt. Geschlecht als analytische Kategorie – so eines der zentralen Ergebnisse meiner Forschung – verliert viele ihrer (auch) in der Geschlechter- und queer_feministischen Forschung gesetzten Selbstverständlichkeiten, wenn »Intergeschlechtlichkeit als soziales Phänomen auch jenseits der Konzeption dritter Geschlechter ernst genommen wird« (Gregor 2015: 149) und so den Status einer sozialen Kategorie mit einem analytischen Gehalt erhält, der neue Perspektiven auf die Gestalt von Verwerfungsprozessen gesellschaftlicher Strukturen eröffnet. Die soziale Konstruktion von Intergeschlechtlichkeit ist demnach zwar verwoben mit der sozialen Konstruktion von Geschlecht, weist aber immer auch über diese hinaus.

Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit Geschlecht ist ebenso wenig eine universale Strukturkategorie wie ausschließende Zweigeschlechtlichkeit eine universal geteilte Norm ist. Oyèrónkẹ Oyěwùmí (1998) beispielsweise zeigt, dass es in verschiedenen zeitgenössischen afrikanischen Gesellschaften wichtigere Distinktionsmerkmale als Geschlecht gibt: In der Yorùbá-Gesellschaft in Westafrika (Nigeria, Benin) etwa werden Pronomen nicht mit einem Geschlechtsmarker versehen, sondern am Alter der bezeichneten Person orientiert (vgl. ebd.). Das kulturelle 6

Das ›Verworfene‹ (abject) kultureller Matrices ist als das Andere von der Norm konstituiert (indem bspw. über sprachliche und/oder tätige Gewalt ein Ausschluss produziert/performativ hergestellt wird) ebenso, wie es die Grenzen der Norm als Anderes stabilisiert. (Ein Beispiel wäre etwa die Verwendung von ›schwul‹ als weiterhin häufigste Beleidigung auf Schulhöfen: Die Bezeichnung eines Mitschülers als ›schwul‹ stellt die Abwertung nicht-heterosexueller Männlichkeit heraus.) Das Andere und die Norm bzw. das Verworfene und die Matrix stehen in einem wechselseitigen Verweisungszusammenhang, in dem das eine nicht ohne das andere sein kann.

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System der Zweigeschlechtlichkeit‹ ›westlicher‹ Nationalstaaten basiert also nicht etwa auf einem biologischen Naturfaktum: Geschlecht in seiner ausschließenden Binärcodierung ist ein sozial generiertes Phänomen, das sich, derart tiefgreifend in die ›westliche‹ gesellschaftliche Ordnung eingeschrieben hat, dass es als ›natürlich‹ erscheint. Alltagsweltlich ebenso wie in vielen (rechtlichen wie sozialen) Institutionen wird damit entsprechend von ausschließlich zwei Geschlechtern ausgegangen. Durch diese Naturalisierung funktioniert Geschlecht als komplexitätsreduzierende Ordnungskategorie, die bei entsprechender geschlechtlicher Verortung der Individuen ›auf der Hinterbühne‹ bleibt und meistenteils implizit, präreflexiv und als fraglos gegeben die gesellschaftliche Ordnung mitstrukturiert. Diese Strukturierung mit Hilfe des erstmals von Harold Garfinkel (1967) herausgearbeiteten common sense (of knowledge) am Beispiel Geschlecht orientiert sich an den folgenden Überzeugungen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Es gibt zwei, und nur zwei Geschlechter. Geschlecht ist nicht veränderbar. Die Genitalien sind wesentliche Merkmale des Geschlechts. Alle Abweichungen von den zwei gültigen Geschlechtern sind nicht ernst zu nehmen. Es gibt keinen Übergang oder Übertritt von einem Geschlecht zum anderen, außer für zeremonielle Zwecke. Jeder Mensch muss als eines der beiden Geschlechter klassifiziert (diagnostiziert) werden. Die männlich/weiblich-Dichotomie ist ›natürlich‹. Die Geschlechtszugehörigkeit ist ›natürlich‹.7

Das Wissen um das eigene (zugewiesene) Geschlecht ist an kulturelle Codes gebunden, die jeweilige Gestaltung folgt normativen Maßstäben und strukturiert auch die Interaktion mit anderen. Geschlecht ist »eine für alle Gesellschaftsmitglieder im Prinzip verfügbare, eine allgemeine Differenzkonstruktion« (Dausien 2012: 167; Herv.i.O.) und ist an die Annahme entsprechender Genitalien geknüpft, die in allen Alltagsinteraktionen, bei denen wir bekleidet sind, auf der Ebene einer symbolischen Funktion operieren, die die soziale Ordnung strukturiert (cultural genitals; vgl. Kessler/McKenna 1978: 153ff.). 7

Die Liste wurde zusammenfassend auf der Basis von Garfinkels Text erstellt (vgl. Kessler/McKenna 1978: 113f.).

Intergeschlechtlichkeit als Kategorie zur Reflexion von Geschlechtlichkeit

Der common sense ist demnach immer auch eine »Praxis der Grenzziehung« (Dausien 2012: 168; Herv.i.O.), die ihre Funktionalität über den Ausschluss von Geschlechtskonzepten sichert, die entweder nicht oder nicht eindeutig einem der zwei sozial gültigen Geschlechtsentwürfe entsprechen. Dabei ist grundsätzlich unerheblich, ob Brüche dieser Überzeugungen existieren; entscheidend ist, dass Institutionen, die maßgeblich an der Gestaltung einer Gesellschaft beteiligt sind (bspw. Recht, Medizin, Soziale Arbeit), Zweigeschlechtlichkeit im Sinne des common sense auslegen und entsprechend (re)produzieren, so dass diese Brüche als Ausnahmen (skandalisierte/eventisierte Einzelfälle), Pathologien (Nichtbinarität, Trans* oder Intergeschlechtlichkeit) oder nicht ernstzunehmende Spielereien (Drag, Maskerade) erscheinen. Was sich hier zeigt ist, dass die verschiedenen Phänomene, die dem ›Dazwischen‹ zugeordnet werden, nur als solche eingeordnet werden können, wenn Weiblichkeit und Männlichkeit als die einzig sozial ›gültigen‹, ›gesunden‹, ›normalen‹ Ausprägungen von Geschlechtlichkeit angenommen werden. Im Umkehrschluss verlangt ein ›Dazwischen‹ immer nach Komponenten, zwischen den es verortet ist – mit Lena Eckert (2016) ließe sich dementsprechend konstatieren, dass die zweigeschlechtliche Normalität eben auch auf die (real existierenden, konkreten) ›Dazwischen‹ angewiesen ist, weil sie sich eben auch über die Abgrenzung zu diesen konstituiert. Intergeschlechtlichkeit steht dabei »in einem bedeutsamen Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung unserer sozialen [geschlechtlichen; jag] Ordnung« (Gregor 2015: 28), weil sich die Vorstellung davon, wie genau männliche respektive weibliche Körper auszusehen haben und welche Organe in welcher Form ausgeprägt sein müssen, über die Zeit, insbesondere seit der Epoche der Aufklärung und insbesondere in Mitteleuropa, auch entlang dieser zwischengeschlechtlichen Körper konstituiert hat (siehe zum theoretischen Gehalt dieser Diagnose Abschnitt 4).

Kolonialisierungen: Die Medikalisierung der Geschlechtszuweisung, das Baltimorer Behandlungskonzept und ihre Auswirkungen Die bis heute wirksame Deutungsmacht des medizinischen Diskurses nimmt ihren Ausgang in der Frühen Neuzeit mit der Medikalisierung des Hermaphroditen (vgl. Klöppel 2010: 136ff.). In der Aufklärungszeit konstituiert sie sich mit der Akademisierung der Überwachung des Geschlechtsstatus (Medikalisierung der Geschlechtszuweisung), die Vorstellung vom Zwitter als »abweichendes, unvollkommenes, jedoch in Wahrheit männliches resp. weibliches Individuum«

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(Klöppel 2010: 231). Diese zweigeschlechtliche Logik mit dem Zwitter als Pathologie des Männlichen/Weiblichen und mit ihr die biopolitische Kontrolle von inter* Körpern etabliert sich (vgl. Ebd.: 217) – mit über die Jahrhunderte unterschiedlichen Ansichten darüber, was genau an/in den Körpern pathologisch sei. Heutige Behandlungspraktiken und -richtinien in der Medizin sind damit nicht erst eine ›Erfindung‹ jüngster medizinischer Entwicklungen, sondern lassen sich einbetten in eine Genealogie des »medizinisch-psychologische[n] Hermaphroditismus-Diskurs[es]«, der »sich so als ein Brennpunkt für Praktiken [zeigt], die darauf ausgerichtet sind, Grenzen zwischen männlichem/weiblichem und eindeutigem/uneindeutigem Geschlecht sowie normaler/abweichender Sexualität zu ziehen, festzulegen und zu kontrollieren« (ebd.: 15f.). Klöppel systematisiert den gesamten Prozess der Medikalisierung der Geschlechtszuweisung als »unablässige Suche nach den Ursachen des Hermaphroditismus« (ebd.: 299), bei dem mit Fortschreiten technischer Entwicklungen im medizinisch-biologischen Diskurs die Kriterien, nach denen das Geschlecht zu bestimmen sei, immer detaillierter ausformuliert werden konnten und immer kleinere Einheiten in den Blick gerieten, die als vermeintliche Geschlechtsmarker verhandelt wurden (vgl. Voß 2010: 232ff.). Richard Goldschmidt (1915) führte den Begriff Intersexualität 8 für die Bestimmung des KörperGeschlechts in den Diskurs ein. Von Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Manifestierung des Verweisungszusammenhangs von Geschlecht und Sexualität ein Aspekt, der die folgenden Entwicklungen in bedeutender Weise beeinflusste. Magnus Hirschfeld (1918) systematisierte alle L(i)ebensweisen, die nicht der zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Norm und der daran geknüpften Reproduktionsgewährleistung entsprachen, als Drittes Geschlecht, ›Intersexuelle‹ oder sexuelle Zwischenstufen. Zeitgleich zu Hirschfeld entwickelte Sigmund Freud seine Theorie der konstitutionellen Bisexualität. Er unterstellte damit, alle Menschen hätten eine »grundlegend androgyne psychische Konstitution« (Groneberg 2008: 115) und nahm mit diesem shift vom Körper zur Psyche (vgl. Eckert 2016: 31) einen wichtigen Einfluss auf den Diskurs. Freuds späte Schriften waren die Grundlage für die Entwicklung des Baltimorer Behandlungskonzepts. Basierend auf einer Fehlinterpretation der Bisexualitätsthese (vgl. Eckert 2013: 13) entwickelten u.a. John Money mit Joan 8

Im Folgenden wird der Begriff ›Intersexualität‹ und entlehnte Worte in einfache Anführungszeichen gesetzt, um so seine Genese aus dem medizinischen Diskurs als pathologisierender Begriff zu kennzeichnen.

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Hampson und später auch John Hampson, Robert Stoller und Harold Garfinkel ein Fallmanagement für ›Intersexuelle‹: Money/Hampsons hatten Forschungen an über 100 ›intersexuellen‹ Menschen durchgeführt und dabei Behandlungsmaßstäbe für ihre ›Vereindeutigung‹ herausgearbeitet, Garfinkels (1967) Arbeiten knüpften daran an und basierten auf Stollers (1968) Thesen (vgl. Dietze 2006: 48). Die letztlich entwickelte optimal gender policy des Baltimorer Behandlungskonzeptes basierte auf der gender-imprinting-theory. Jene besagt, dass die Eltern eines Kindes dieses auch unter Berücksichtigung des Aussehens seiner Genitalien erziehen würden, diese also als wichtigen Orientierungspunkt für die soziale Prägung fungierten. Prämisse für diese Überlegungen war die Trennung von sex und gender (role). Mit der Abkopplung des psychosozialen Geschlechts vom körperlichen wurde dieses je nach Geschlechtszuweisung und entsprechender Formung der Genitalien prägbar, und die Genitalien wurden damit zum entscheidenden Orientierungspunkt für die Geschlechtsentwicklung. Die optimal gender policy besagte davon ausgehend, dass vor der endgültigen Prägung der psychosozialen Entwicklung die Genitalien ›intersexueller‹ Kinder entsprechend dem zugewiesenen Geschlecht möglichst vor dem zweiten Lebensjahr zugerichtet werden sollten. Die Diagnose sollte den Patient*innen ebenso verschwiegen werden wie die Gründe für operative Eingriffe oder Medikamentengaben, um den Erfolg der Zuweisung nicht zu gefährden.9 Mit dem Baltimorer Behandlungskonzept »eröffnete sich ein neues Feld der präventiven Behandlung intersexueller Menschen, die normalisierend in den ersten Lebensjahren ansetzte, um die psychosexuelle Entwicklung aktiv zu steuern« (Klöppel 2010: 539f.). In der Folge wurden geschlechtliches Selbstverständnis und der körperliche Geschlechtsstatus eng miteinander verzahnt und so die operative Zurichtung zwischengeschlechtlicher Menschen zur notwendigen Voraussetzung für eine gelingende soziale Integration erklärt. Mit einer die medizinischen Eingriffe begleitenden ›psychologischen Führung‹ der Patient*innen und ihrer Angehörigen sollte die diagnostizierte Geschlechtszugehörigkeit zweifelsfrei plausibilisiert werden und der ›Erfolg‹ der Zurichtungen wahrscheinlich(er) gemacht werden (vgl. Klöppel 2010: 539ff.). Bis heute materialisiert sich dieses Epistem im Heterosexualitätsdispositiv bei der Zurichtung intergeschlechtlicher Körper: Kathrin 9

Zum Baltimorer Behandlungsgesetz und dessen Auswirkungen auf die heutige medizinische Praxis im Umgang mit Intergeschlechtlichkeit vgl. den Artikel von Krämer/Sabisch in diesem Band.

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Zehnder (2010) zeigt in ihrer Studie, dass die Ausrichtung der Sexualität weiterhin ein Marker für eine erfolgreiche Geschlechtszuweisung bei intergeschlechtlichen Menschen ist. ›Intersexuelle‹ Menschen wurden (werden) so zu Versuchsobjekten der psychologischen Geschlechterforschung, und ihre Erforschung erzeugt(e) wiederum paradigmatisches Wissen über die (psychische) Geschlechterdifferenz. Christof Rolker (2016) weist darauf hin, dass vereinzelte Operationen an zwischengeschlechtlichen Menschen bereits unter Bezugnahme auf die Übersetzung des Werks al-tasrif von Abu al-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az-Zahrawi (Albucasis) im 12. Jahrhundert durchgeführt wurden, Heinz Jürgen Voß (2010) beschreibt zwei Fälle geschlechtszuweisender Operationen an Kindern in den Jahren 1787 und 1849 und Katrina Roen (2009) stellt heraus, dass die Klitoridektomien des 19. Jahrhunderts zur Normalisierung ungewöhnlicher weiblicher Genitalien als Nebenfolge der Zurichtung zwischengeschlechtlicher Körper anzusehen sind (vgl. ebd.: 18). Operative Zurichtungen im ›westlichen‹ Raum sind also keine Erfindung der Baltimorer Forscher*innen, sondern haben eine lange Geschichte im Medizindiskurs, die mindestens bis ins Mittelalter zurückreicht. Mit dem Baltimorer Behandlungskonzept werden operative Zurichtungen zwischengeschlechtlicher Menschen ab den 1960er Jahren jedoch allmählich im Medizindiskurs kanonisiert – in den ›westlichen‹ Ländern ebenso wie in den (ehemaligen) Kolonien. Das Wissen, das (nicht nur in Baltimore) über Intergeschlechtlichkeit generiert wurde (und wird), ist je historisch und geographisch gebunden und immer durch soziale, politische und kulturelle Codes sowie methodologische Traditionen hindurch generiert. Jenes Wissen, das für sich beansprucht, ein kulturübergreifendes Konzept von ›Intersexualität‹ entwickelt zu haben, wurde auch erzeugt, indem ›westliche‹ Forscher*innen aus ihrer eurozentristischen Perspektive kolonialisierte, nicht-›westliche‹ Gebiete beforschten. Während die Körper zwischengeschlechtlicher Menschen für die Erforschung der Grenze zwischen den Geschlechtern und ihrer Unterschiede zueinander in den ›westlichen‹ Regionen der Welt medizinisch kolonisiert wurden (vgl. Holmes 2009: 8), diente das erzeugte ›westliche‹ Wissen über ›Intersexualität‹ dazu, seit Mitte des 20. Jahrhunderts indigene Konzepte weiterer Geschlechter mittels Kategorisierung und Benennung als ›Intersexualität‹ zu kolonialisieren. In diesen Prozess war auch Robert Stoller aktiv involviert. »Die westlichen bio- und psycho-medizinischen Erklärungsmodelle sowie seine Begleiterscheinungen von Normalisierung und Pathologisierung erhalten […] in diesem wissenschaftlichen neo-kolonialen Gefüge einen hegemonialen Status«

Intergeschlechtlichkeit als Kategorie zur Reflexion von Geschlechtlichkeit

(Eckert 2017: 104), der bis heute aufrechterhalten wird – der Kategorie Intergeschlechtlichkeit als ›westliches‹ Konzept sind rassistische Elemente damit also inhärent. Der Umgang mit zwischengeschlechtlichen Menschen ist überall dort, wo ausgebildetes schulmedizinisches Personal in die Begutachtung, Diagnostik und Behandlung verwickelt ist, nahezu vollständig kolonialisiert von der ›westlichen‹ Begriffs- und Handlungspraxis. Aber auch in Fällen, bei denen keine Schulmedizin zur Anwendung kommt, folgt der Umgang kollektiven Normierungslogiken. Dan Christian Ghattas (2013) weist dies in seiner Vorstudie zur Lebenssituation von Inter*Personen nach: »In den überwiegend ländlichen Gebieten etwa Ugandas oder auch Teilen Südafrikas gilt die Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes als Strafe für ein früheres Vergehen z.B. der Mutter. NGOs aus Uganda und aus Südafrika berichten von der Tötung intergeschlechtlicher Neugeborener; indem die Mütter die Kinder töten, bewahren sie sich den überlebensnotwendigen Platz in der Gemeinschaft.« (Ebd.: 20) Mit der Kolonialisierung entsteht hier ein komplexes Spannungsfeld zwischen indigenen Konzepten des Umgangs mit Zwischengeschlechtlichkeit und den kolonialisierenden Epistemen der Schulmedizin: Als Signifikate einer vermachteten und gewaltvollen Herrschaftsbeziehung können die schulmedizinischen Vokabeln lebensrettend für die zwischengeschlechtlichen Neugeborenen sein. Dennoch »berichten auch hier jene intergeschlechtlichen Menschen, deren Verwandte in der Lage sind, die von dem in westlicher Medizin ausgebildeten Personal empfohlenen Operationen zu bezahlen, von schwersten physischen und psychischen Beeinträchtigungen nach den medizinischen Eingriffen bis hin zu lebensbedrohlichen Organschäden« (ebd.). ›Intersexualität‹ ist damit eine in sich spannungsreiche Bezeichnung mit kolonialistisch-rassistischem Gehalt und dadurch als »trans- oder überkulturelle[]« (Eckert 2017: 88) Kategorie anzusehen. Sie beschreibt eine Identität, die auf der in den ›westlichen‹ und durch den ›Westen‹ kolonialisierten Gegenden der Welt geteilten Erfahrung basiert, mittels Schulmedizin zugerichtet worden zu sein (Eckert 2009: 41). Intergeschlechtlichkeit ist demnach eine durch Medikalisierung und Pathologisierung erzeugte Kategorie, die ihre Bedeutung und Wirkung mittels Kolonialisierungspraktiken ausgebreitet und alternative zwischengeschlechtliche Konzepte weitgehend mit ihrer Bedeutung besetzt und pathologisiert hat. Die Verwerfung ist damit immer in-

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tersektional mit rassistischen Zuschreibungen verwoben – auf der Individualebene machen inter* BIPoC andere Diskriminierungserfahrungen als weiße, wenn rassifizierende Stereotype die Gesundheitsversorgung erschweren oder gar verhindern10 oder – hier kreuzen sich Subjekt- und Strukturebene – indigene Konzepte von Zwischengeschlechtlichkeit als solche nicht anerkannt, sondern die diagnostizierten Besonderheiten als ›Intersexualität‹ kolonialisiert werden. Intergeschlechtlichkeit besitzt damit sowohl als dem westlichen Kontext inhärentes Phänomen wie auch als kolonialisierendes Epistem ›Intersexualität‹ einen derart bedeutsamen sozialen Gehalt, dass sie als soziale (Ordnungs)Kategorie anzusehen ist.

Verworfenes tertium comparationis: sozialer Gehalt Das ›westliche‹ kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit ist, so habe ich mit meinen bisherigen Ausführungen nachzuzeichnen versucht, ein kulturelles System der Zweikörpergeschlechtlichkeit. Für den Prozess der geschlechtlichen Zuweisung sind zwar sozial fundierte Zuweisungsprinzipien (Kleidung, Verhalten, Heterosexualität etc.) ebenso bedeutsam wie medizinisch-biologisch fundierte (Genitalien, Keimdrüsen, Hormonstatus etc.). Mit der Konzeptualisierung von Intergeschlechtlichkeit als Zwischengeschlechtlichkeit, unter Einbezug aller historisch je spezifischen Implikationen dieses Konzepts (Vollkommenheit, Pathologie, Unvollständigkeit, Entwicklungsstörung, Anderes), kann jedoch erst eine umfassendere Definition von Zweikörpergeschlechtlichkeit entwickelt werden. Umfassendere Definition ist in diesem Kontext immer zu verstehen als Prozess: Indem die Merkmale für die Grenzziehung zwischen den Geschlechtern an immer kleineren Einheiten ›nachgewiesen‹ werden, wird die Erforschung der Grenze zwischen den Geschlechtern mit einer gleichsam asymptotisch anmutenden Logik betrieben, für die intergeschlechtliche Körper eine bedeutende Referenz sind. Intergeschlechtlichkeit entfaltet ihren produktiven Gehalt für/auf das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit gerade mittels der kontinuierlichen, historisch je spezifischen Verhinderung ihrer sozialen Existenz. Die Verhinderung ihrer sozialen Existenz muss parallel zu ihrer Zurichtung (und damit Unsichtbarmachung) Wissen über die Unterscheidung männlicher 10

Diesen Aspekt leite ich aus den Befunden der Arbeit von Tamás Jules Fütty (2019) zur Gewalt gegen Trans*Menschen ab.

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und weiblicher Körper generieren, um intergeschlechtlichen Personen ein ›passendes‹, sozial gültiges Geschlecht zuweisen zu können.11 Ein Nebeneffekt ist die immer tiefer greifende Distinktion des KörperGeschlechts als binär. Mit Zygmunt Bauman (1995) kann der medizinische Umgang mit Intergeschlechtlichkeit als Symptom für die gesellschaftliche Praxis gelesen werden, Unentschiedenheit zu tilgen: Es materialisiert sich in einem speziellen Feld – der Medikalisierung der Geschlechtszuordnung – das Bestreben, die Angst, die die Erfahrung von Ambivalenz begleitet, mit Klassifizierung zu vertreiben, um so (vermeintlich) Ordnung herzustellen und sedimentierte gesellschaftliche Strukturen zu aktualisieren (vgl. ebd.: 13f.). Die Ambivalenz ist Konstituens für gesellschaftliche Ordnung, Zwischenkörpergeschlechtlichkeit Konstituens für eine klar dimensionalisierbare Zweikörpergeschlechtlichkeit. Die Klassifikation von Zwischengeschlechtlichkeit als Pathologie des Normalen ist die Ordnung des Chaos, gleichzeitig kann es ohne Chaos jedoch keine Ordnung geben. Beide sind damit existenziell voneinander abhängig – und bilden dennoch keine Symmetrie: »Um auf der Stufe zu operieren, auf der man die eine Kategorie in die andere überführen kann, muss man eine höhere, umfassendere Stufe betreten bzw. völlig anders geartete Kräfte einsetzen, als die, die im normalen Leben zum Tragen kommen, wo die Menschen eben das eine oder das andere ›sind‹. Auch hier kann die höchste Operationsstufe nicht dargestellt oder vollständig erklärt werden – zumindest nicht mit gesellschaftlichen Begriffen. Die Darstellung solcher Kräfte wird zum Problem.« (Graeber 2012: 103f.) Die Tilgung der Ambivalenz ›Intergeschlechtlichkeit‹ operiert auf und über der Ebene ausschließender Zweigeschlechtlichkeit, während die Überführung intergeschlechtlicher Menschen in eine der sozial gültigen Kategorien auf einer Ebene operieren muss, die einen Überschuss produziert, der nicht mit den (sprachlichen) Mitteln der Zweigeschlechtlichkeit erfasst werden kann. Vereinfacht gesagt: Intergeschlechtliche Körper bleiben auch nach der chirurgischen und/oder medikamentösen Zurichtung intergeschlechtliche (und also durch gängige sprachliche Mittel nicht anerkennend erfassbare) Körper, nun aber eben mit durch den Versuch ihrer Verhinderung entstandenen physischen und psychischen Versehrungen. Die Genitalien als Marker für eine angemessene Geschlechtsentwicklung zu setzen und operativ entsprechend 11

Handlungsleitend ist hier die von der Medizin weiterhin kolportierte Annahme, dass ausnahmslos alle Menschen entweder männlich oder weiblich sind.

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zuzurichten, wird dem intergeschlechtlichen Körper auch deshalb nicht gerecht, weil er immer untrennbar in seinen komplizierten Vorgang des Werdens involviert ist (Roen 2009: 19). Die sozial indizierte Zurichtung körperlicher Materialität bleibt damit immer eine behelfsmäßige, die soziale Komplexität reduziert, um die etablierte gesellschaftliche Ordnung nicht zu gefährden. Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie, wird der Begriff soziologisch ein wenig strapaziert, funktioniert als tertium comparationis12 für das Zweigeschlechtlichkeitssystem. Im eigentlichen Sinne meint der Begriff ›das Dritte des Vergleiches‹, also eine gemeinsame Eigenschaft, die den Vergleich zwischen zwei Komponenten ermöglicht. Die soziologische Strapazierung erfolgt in drei Schritten: Die Genese der Grenze zwischen den Geschlechtern wird erstens als Notwendigkeit für die Distinktion der zwei Geschlechter gesetzt. Diese Grenze wird zweitens eingedenk der sozialen Zuschreibungen an intergeschlechtliche Körper als ›Dazwischen‹ mit Kategorien gefüllt, die sich an wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Oberbegriffen zur Geschlechtskörperunterscheidung orientieren (Morphologie/Genitalien, Keimdrüsen, Hormonstatus, Chromosomen etc.). Drittens werden diese Kategorien als durch die medizinische Erfindung des sex (auch) mittels der Beforschung zwischengeschlechtlicher Körper definiert. Der dritte Schritt ist für die Definition als tertium comparationis unbedingt erheblich, da sich erst über die Erfindung des KörperGeschlechts mittels der mit der Epoche der Aufklärung in Mitteleuropa aufkommenden Obduktion zwischengeschlechtlicher Körper der methodische Anspruch erfüllt, dass es (hier: Intergeschlechtlichkeit) vor dem Vergleich gegeben sein muss: Die Obduktion zwischengeschlechtlicher Körper (auch) zur Erforschung ihrer ›wahren‹ Geschlechtlichkeit produziert Wissen über die (vermeintliche) geschlechtsspezifische Ausprägung der menschlichen Organe und dieses Wissen wird über die Zeit zu einer vermeintlichen Naturtatsache (s. Abschnitt 2). Kurz gesagt: Der Vergleich der (Körper)Geschlechter operiert zugleich immer mit der Herstellung des Unterschieds (Frauen haben einen anderen Chromosomensatz als Männer; die

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Das tertium comparationis (›das Dritte im Vergleich‹) ist der Maßstab für einen Vergleich zwischen zwei Dingen. Der Vergleich findet dabei im Hinblick auf eine Eigenschaft statt. Methodisch ist dabei bedeutsam, dass das tertium comparationis vor dem Vergleich gegeben und unabhängig von den beiden verglichenen Dingen ist (vgl. Lehmann 2013).

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Keimdrüsen der Männer liegen außerhalb des Körpers, die der Frauen innerhalb usw.), und die Bezugsgröße für diesen Vergleich sind jene Kategorien, die erst durch die Obduktion als relevant für eine Grenzziehung zwischen den Geschlechtern konstituiert und in der Folge über die Zeit naturalisiert wurden. Der Gehalt von Intergeschlechtlichkeit als Bezugsgröße für eine geschlechtliche Einordnung hat sich genealogisch manifestiert. Lena Eckert (2016) verweist darüber hinaus auf die Abhängigkeit der Geschlechtskategorien von ihren ›Dazwischen‹: »This system of coordinates of femaleness/femininity and maleness/masculinity is dependent on its ›in-betweens.‹ […] Meaning only appears when two come together; however, these two have to be connected by the hybrid that these entities will form when they merge on the continuum. Argued differently, hybridity can only be constructed if there is an assumed purity of the entities that are merged; moreover, it can always only be merging under a specific criterion that requires definition in the first place. In the bipolarity of such constructions the positions of intersexuality and bisexuality play the significant parts of the other.« (Ebd.: 53) Intergeschlechtlichkeit (und Bisexualität) sind jene ›Dazwischen‹, die explizit auf der Grenze zwischen den Geschlechtern (und ihrer unterstellten Heterosexualität) liegen. Alle weiteren ›Dazwischen‹ sind Konzepte, die die Grenze (vermeintlich) in einem oder mehreren Aspekten überschreiten (Homosexualität, Trans*) oder analytisch auf der darüberliegenden Ebene operieren (Asexualität, Pansexualität, nichtbinär/genderqueer). Intergeschlechtlichkeit nimmt im Feld der ›Dazwischen‹ durch seine spezifische Genese eine Sonderrolle ein, weil es auf somatische Aspekte der Vergeschlechtlichung bezogen ist. Intergeschlechtlichkeit lässt sich im Anschluss an die obigen Ausführungen systematisieren als verworfenes tertium comparationis, als Vexierbild zwischen außen und innen, Eingeschlossenem und Ausgeschlossenem. Als das vom Anerkannten umschlossene ›Dazwischen‹ konkretisiert es die interne Grenzziehung, indem die Grenze zwischen den Geschlechtern immer tiefer gezogen wird. Als Außen provoziert es die regulative Macht der Geschlechternormen, indem es sie im gleichen Zuge als zu regulierendes Element erst ermöglicht, sich dergestalt als Verworfenes der Norm materialisiert und so ihre Grenzen sichtbar macht. In beiden Funktionen wird es ebenso durch die Norm konstituiert, wie es an der Konstitution der Norm beteiligt ist.

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Schluss: Intergeschlechtlichkeit als Kategorie der Sozialen Arbeit Mit meinen Ausführungen habe ich versucht zu zeigen, dass Intergeschlechtlichkeit einen bedeutenden sozialen Gehalt im ›westlichen‹ kulturellen System der Zwei(körper)geschlechtlichkeit aufweist, der aus meiner Sicht dringend und in seiner Komplexität in geschlechtssensible Reflexionen einfließen sollte. Das System stabilisiert sich – neben den im zweiten Abschnitt genannten sozialen Konstruktionen – auch über die Erforschung, Vermessung, Versehrung und Tabuisierung intergeschlechtlicher Körper. Dass wir heute ein derart tiefgehendes Verständnis von der Unterschiedlichkeit der zwei sozial relevanten Geschlechter männlich-weiblich haben, ist auch ein Produkt medizinischer Wissensproduktion zur Einordnung zwischengeschlechtlicher Körper in dieses System. Die Soziale Arbeit, ihre theoretischen Ansätze ebenso wie ihre Konzepte und Handlungspraxen, ist deshalb aufgefordert, Geschlecht in seiner Komplexität in die Konzeption geschlechtersensibler Ansätze zu integrieren. Nicht zuerst die Einführung des dritten positiven Geschlechtseintrags im Dezember 2018, der Anlass des vorliegenden Sammelbandes ist, macht ein solches Umdenken nötig – der angemessene Umgang mit Personen, die keinem der beiden bislang weiterhin dominierend repräsentierten Geschlechter männlich/weiblich zugeordnet sind, sollte Priorität bei den Bemühungen haben. Eine dementsprechend sensibel formulierte Methodologie der Sozialen Arbeit legt den Grundstein für zukünftige Konzeptionen geschlechtersensibler Ansätze und damit letztlich auch die konkrete Umsetzung der Berücksichtigung von Geschlechtervielfalt in den Handlungsfeldern Sozialer Arbeit, wie Heinz-Jürgen Voß sie in seinem Beitrag skizziert. Impulse für die Umsetzung in verschiedenen Praxisfeldern setzen die zahlreichen weiteren Beiträge des Bandes.

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»Das haben halt dann ein paar Lehrer gewusst« Inter* in pädagogischen Diskursen und die Grenzen des Sagbaren Mart Enzendorfer Die Möglichkeit der Personenstandseinträge »divers« oder »inter«1 sind ein wichtiger Schritt, um über die Zweigeschlechtlichkeit hinaus für LGBTIQ+-Rechte einzutreten und diskursive Räume zu schaffen. Sie bieten einen rechtssubjektlichen Status und damit ist zumindest von institutionellrechtlicher Seite für mehr Sichtbarkeit gesorgt. Doch ist die Gesetzesänderung im Personenstand alleine nicht ausreichend, um gesellschaftliche Veränderungen zu erwirken und Diskriminierungserfahrungen abzuwenden. Besonders Intergeschlechtlichkeit ist weiterhin ein tabuisiertes Thema, das immer noch überwiegend im medizinischen Diskurs verhandelt wird. So sind die Geschlechtseinträge »divers«, »inter« oder »offen« in Österreich an medizinische Fachgutachten gebunden.2 Spätestens die gesellschaftlichen Entwicklungen zum Personenstandsgesetz und zum Thema Intergeschlechtlichkeit per se besonders im letzten Jahrzehnt (vgl. Enzendorfer/Haller 2020) erfordern endlich pädagogische Diskurse hinsichtlich des thematischen Ausschlusses von Intergeschlechtlichkeit kritisch zu hinterfragen. Bisher fehlen Theorien zum Thema Intergeschlechtlichkeit in der Pädagogik. Obwohl Intergeschlechtlichkeit kein neues Phänomen darstellt, bleibt sie in pädagogischen Diskursen systematisch ausgeblendet. Auch heteronormativitätskritische Studien blenden das Thema Intergeschlechtlichkeit 1 2

Im Juli 2020 erhält Alex Jürgen als erste Person in Österreich den Geschlechtseintrag »inter« in der Geburtsurkunde. Im September 2020 erging ein (bis dato unveröffentlichter) Erlass des Österreichischen Bundesministeriums für Inneres. Die »Berichtigung« des Geschlechtseintrags steht dabei nur jenen Menschen offen, die mit medizinischem Fachgutachten eine körperliche »Variante der Geschlechtsentwicklung« belegen können.

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überwiegend aus oder erwähnen es nur am Rande. Um ein Verständnis zu erlangen, weshalb pädagogische Diskurse so starr an binären Geschlechterverständnissen festhalten, werde ich nach einer Einführung in das Thema Intergeschlechtlichkeit und einem Überblick vorhandener pädagogischer Studien, pädagogische Diskurse und die Grenzen des Sagbaren theoretisch beleuchten. Vor diesem Hintergrund gehe ich der Frage nach, wie sich diese komplexen Ausschließungssysteme der Diskurse auf die Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen auswirken können. Als Ausgangspunkt setze ich die Sichtbarmachung von Erfahrungen einer intergeschlechtlichen Person im schulischen Kontext und verwende hierfür einen Ausschnitt aus einem selbstgeführten biografischen Interview, das im Rahmen meines Dissertationsprojektes an der Universität Wien geführt wurde. Die rekonstruktive Analyse der biografischen Erzählung bildet das Kernstück dieses Beitrags, die eine Reflexion der Grenzen, aber auch Zwischenräume des Sagbaren innerhalb pädagogischer Diskurse zulässt. Dies ermöglicht (bisher in der Forschung fehlende) Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen sichtbar zu machen und sowohl Problemfelder als auch Handlungsspielräume in pädagogischen Kontexten aufzuzeigen.

Was ist Intergeschlechtlichkeit und wie wird sie verhandelt? Intergeschlechtliche Menschen machen ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen. So kann Intergeschlechtlichkeit bereits bei der Geburt, in der Pubertät oder im Erwachsenenalter festgestellt werden. Ihre Geschlechtsidentität kann inter* sein, muss sie aber nicht. Viele verstehen sich als weiblich, männlich, trans*, nicht-binär oder verwenden eine andere Identitätsbezeichnung (vgl. Plattform Intersex Österreich 20203 , Ghattas 2017). Derzeit wird sowohl im sozialwissenschaftlichen Diskurs als auch von Selbstvertreter*innen zur Beschreibung der Variationen der Geschlechtsmerkmale überwiegend der Begriff Intergeschlechtlichkeit bzw. Inter* genutzt.4 Intergeschlechtlichkeit ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von körperlichen Geschlechtsmerkmalen, die 3 4

Plattform Intersex Österreich (2020), www.plattform-intersex.at/?page_id=192 (zuletzt abgerufen am 10.10.2020). Außerdem etablierte sich aus dem medizinischen Diskurs die Begriffe »Intersexualität« oder »Varianten der Geschlechtsentwicklung« (»VdG«), die teilweise ebenso von Selbstvertreter*innen neu besetzt/übernommen wurden, aufgrund ihres pathologischen Hintergrunds aber auch kritisiert werden.

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nicht in die engen medizinischen und sozialen Normen von Mann und Frau passen. Der Begriff Intergeschlechtlichkeit erschließt sich auch nur aus einer binären Logik von Geschlecht – zwischen zwei Geschlechtern. Die Zweigeschlechternorm hat schwerwiegende Konsequenzen für intergeschlechtliche Menschen, deren Körper sich außerhalb enger medizinischer und sozialer Normen bewegen. Ihre Körper stehen systematisch unter einem »klinischen Blick« (Foucault 1988) und werden als sozialer und integrationswürdiger Notfall verstanden. Wie solchen Integrationskonzepten inhärent, soll eine Eingliederung in ein bestehendes Zweigeschlechtersystem erfolgen, wodurch nicht das System an sich, sondern die Körper der einzelnen Individuen als krank und korrekturbedürftig verstanden werden.5 Intergeschlechtlichkeit ist keine Krankheit, jedoch sind Intersex-Körper mit einer Geschichte der Medikalisierung, Stigmatisierung und Pathologisierung seit Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert (vgl. Klöppel 2010). Medizin und Recht hatten mehr und mehr die Entscheidungsgewalt inne. Die Entscheidung über das »wahre Geschlecht« (Foucault 1989) wurde zur Frage von Expert*innen und nicht mehr von der Person selbst. Wie die Studie von Joris Gregor (2015) aufzeigt, konstruieren solche medizinischen Behandlungen keine männlichen oder weiblichen Körper, sondern verletzte intergeschlechtliche Körper. Die Behandlungen werden als biografische Erfahrungen von Fremdbestimmung und traumatisierenden Verletzungen erlebt (vgl. Gregor 2015). 5

Ausgangspunkt noch heutiger medizinischer Praktiken waren Studien von John Money und seinen Kolleg*innen (vgl. z.B. Money 1952, Money 1955, Money/Hampson 1955, Money/Ehrhardt 1972). Obwohl bereits vor John Money Forschung über Intergeschlechtlichkeit betrieben wurde (vgl. dazu die medizinische Geschichte von Intergeschlechtlichkeit in Klöppel 2010), befasste er sich zum ersten Mal mit dem Zusammenhang zwischen psychologischen Theorien einer Geschlechtsidentität (gender identity) und der chirurgischen Geschlechtszuweisung (sex-reassignment). John Money und Anke Ehrhardt publizierten 1972 ein Behandlungskonzept für Kinder mit ›uneindeutiger‹ Geschlechtsentwicklung, das seit den 1970er Jahren auch im deutschsprachigen Raum Einzug hielt und woran noch bis heute einige Mediziner*innen festhalten (vgl. Hoenes/Januschke/Klöppel 2019). Seither dominieren folgende Annahmen, die unter »optimal gender policy« (Money/Ehrhardt 1972) bekannt sind: Intergeschlechtliche Kinder seien in einem (meist weiblichen) Geschlecht konsistent zu erziehen. Von der Geburt an sollte eine geschlechtsverändernde und ›normalisierende‹ Behandlung bis ins Erwachsenenalter durchgeführt werden. Dabei wird argumentiert, dass dies der einzige Weg sei, um eine optimale und stabile Geschlechtsidentität zu erreichen. Die Behandlung gilt als erfolgreich, wenn der*die ›Patient*in‹ ein ›normales‹ heterosexuelles Begehren entwickelt und sich mit dem ihm*ihr zugewiesenen Geschlecht identifiziert.

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Inter*Bewegungen zeigen die Grenze der hegemonialen Zwei-GeschlechterOrdnung auf und setzen sich gegen Behandlungsmodelle ein, die die Unsichtbarkeit von intergeschlechtlichen Menschen stärken. Sie fordern nicht nur einen für sie passenden Geschlechtseintrag, sondern eine umfassende Entpathologisierung (vgl. dazu auch Enzendorfer/Haller 2020). Obwohl Studien, wie die von Joris Gregor (2015) oder Hertha Richter-Appelt, Lisa Brinkmann und Karsten Schützmann (2006) belegen, wie traumatisierend die medizinische Behandlung erlebt wird und dass die Behandlungserfahrungen von intergeschlechtlichen Menschen mit Traumata von sexuell missbrauchten Kindern vergleichbar seien (vgl. Richter-Appelt/Brinkmann/Schützmann 2006), werden trotzdem weiterhin (vgl. dazu Hoenes/Januschke/Klöppel 2019) operative und hormonelle Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit – und damit in ein Menschenrecht (UN-Konvention, Artikel 24) – durchgeführt. Diese fortführende Praxis wird oft mit folgendem Argument gerechtfertigt: Das intergeschlechtliche Kind stehe im Zwei-Geschlechter-System vor zu großen Problemen (vgl. dazu z.B. Dahlmann/Janssen-Schmidchen 2019). Um dieser Argumentationslogik entgegenzuwirken, braucht es die Inklusion des Themas Intergeschlechtlichkeit außerhalb des medizinischen Kontextes. Das Thema in pädagogischen Diskursen zu verorten, kann einen wichtigen Beitrag zur Inklusion des Themas und zur sozialen Anerkennung beitragen.

Intergeschlechtlichkeit in pädagogischen Diskursen An Bildungsprozessen interessiert mich vor allem der Zusammenhang von Wissensformierungen, Machtverhältnissen und Subjektivierungsprozessen. Pädagogische Diskurse sind an solchen Bildungsprozesses beteiligt, da Diskurse zu Erziehung und Bildung immer eng mit der Frage nach der Kategorie Geschlecht und dem dahinterstehenden Menschenbild verbunden sind. Bestimmte Geschlechter- und Subjektverständnisse werden also durch pädagogische Diskurse reguliert (vgl. Hartmann 2012). Selten wird die Differenzkategorie Geschlecht jedoch reflektiert und auf ihre Auslassungen hin befragt. Gesa Heinrichs (2001) versteht Bildung als »diskursiven Prozess« (ebd.: 219) und zugleich als »ausschließende Konstruktion« (ebd.: 231), in der die Reflexions-, Urteils- und Handlungsfähigkeit der Subjekte ermöglicht und beschränkt werden. »Eine maßgebliche Normalisierung, die im Bildungsprozess geleistet wird, ist die Bildung zum geschlechtlichen Subjekt, welches

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sich (bislang) immer in der Zweigeschlechtlichkeit anzusiedeln hat« (Heinrichs 2001: 230). Die bipolare Einteilung in eindeutig unterscheidbare Kategorien ›Männer‹ und ›Frauen‹ bleibt ein unhinterfragter Referenzpunkt vieler pädagogischer Diskurse. Ein breites Netz von Gesetzen, Theorien und Praktiken hält den pädagogischen Geschlechterdiskurs auf die bipolaren Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ beschränkt. Dieses sogenannte Zweigeschlechterdispositiv führt zu einem systematischen sozialen Ausschluss bzw. einer Pathologisierung von intergeschlechtlichen Menschen. Ihre soziale Anerkennung erhalten sie überwiegend durch einen »klinischen Blick« (Foucault 1988). »Anstatt Intersex-Identitäten als solche anzuerkennen, wurden sie als Geschlechtsdysphorie oder ›gender confusion‹ befürchtet und ängstlich abgewehrt u.a. durch Erziehungsprogramme« (Schweizer 2018: 47). Obwohl es ein breites Angebot an Literatur zu pädagogischen Theorien im Rahmen der Geschlechterforschung in deutscher Sprache gibt, wird Intergeschlechtlichkeit selten erwähnt. Als eine hilfreiche Analysekategorie dient das Konzept der ›Heteronormativität‹. Die Vorstellung von genau zwei Geschlechtern, die anatomisch und sozial voneinander unterscheidbar sind und deren sexuelles Begehren nur auf das jeweils andere gerichtet sind, ist in alle sozialen Beziehungen eingeschrieben. Sie reguliert die Wissensproduktion, strukturiert die Diskurse und lenkt das politische Handeln (vgl. Butler 1997, Hark 2009). So gibt es wichtige pädagogische Studien, die Heteronormativität in pädagogischen Diskursen aus einer dekonstruktiven Perspektive kritisch hinterfragen (vgl. z.B. Kleiner 2015, Hartmann 2012). Intergeschlechtlichkeit wird jedoch in der Regel nicht berücksichtigt und dient höchstens als Mittel zur Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit ohne die Lebenswirklichkeit und Problematiken intergeschlechtlicher Menschen einzubeziehen. Barbara Schütze (2010) identifiziert die Themen Trans* und Inter* als einen »pädagogischen Schattendiskurs« und bezeichnet die Betroffenen als die »vergessenen Subjekte« pädagogischer Geschlechterdiskurse (ebd.: 69). Ausgehend von ihrer Analyse der Geschlechterkonstruktionen in deutschen Schulbüchern kommt Melanie Bittner (2011) zu dem Schluss, dass Inter* in solchen Schulbüchern überhaupt nicht erwähnt wird (ebd.: 81). Die Situation hat sich bis heute nur wenig verändert. Spezifisch zum Thema Intergeschlechtlichkeit finden sich lediglich erste Entwürfe für die pädagogische Praxis, wie etwa didaktische Konzeptionen von Emi Koyama und Lisa Weasel (2003), Ursula Rosen (2018), Christopher Breu (2009) und Andreas Hechler (2016) oder in Anlehnung an ein Kinderbuch ein Unterrichtsmaterial von Queerformat und Ev Blaine Matthigack (2018). Sie zeigen Möglichkeiten zur

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Aufklärung und Sensibilisierung des Themas auf. In Lehrplänen selbst taucht das Thema Intergeschlechtlichkeit per se nicht auf, und wenn im Unterricht überhaupt, als Spezial-, oder Randthema (vgl. Hechler 2016) sowie als Phänomen der Mythologie oder als Beispiel für eine Anomalie (vgl. Ghattas 2017). So entstehen pathologische Selbstbilder des eigenen Körpers und ein Gefühl des Andersseins (vgl. Enzendorfer/Haller 2020). Der in sechs Sprachen vorhandene Elternratgeber »Supporting your intersex child« (IGLYO/OII Europe/EPA 2018) behandelt mögliche Umgangsformen in Familie und Schule. So hilfreich und notwendig die Hinweise in diesem Ratgeber auch sind, zeigen sie auch die problematische Strukturierung von pädagogischen Kontexten: Es fehlen sichere diskursive und physische Räume, um offen über Intergeschlechtlichkeit zu sprechen. Die Abwägungen über ein mögliches Comingout im sozialen Umfeld und der Schule muss sorgfältigst getätigt werden. Besonders in der Schule, aber auch in außerschulischen und familiären Kontexten, verweisen Studien auf die Reproduktion von heteronormativen Strukturen, während andere Verständnisse von Geschlecht und Begehren Formen der Diskriminierung unterliegen (vgl. Übersicht solcher Studien z.B. Kleiner 2018). Eine Vielzahl pädagogischer Studien wiederum reifzieren dichotome Differenzierungen und Festschreibungen, die die Grundlage für didaktische Konzepte und Handlungsstrategien für Pädagog*innen bilden (vgl. dazu auch Breu 2009). Die Dominanz des heteronormativen Geschlechterdiskurses verfestigt die Zweigeschlechtlichkeit zu einer naturhaften Normalität, die als ›das Richtige‹ angesehen wird und andere Geschlechtskörper und -identitäten als Abweichung und ›das Andere‹ konstituieren. »Heterosexualität als Identität und Institution, als Praxis und als System« (Hark 2009:28) ist auch deshalb so unermüdlich und stabil, weil sie als unsichtbares, unausgesprochenes und sehr mächtiges Gefüge des Sozialen wirkt (vgl. ebd.). Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass heteronormativitätskritische Reflexionsprozesse für alle Menschen relevant sind, da allen ein Ausschluss aus dem geschlechtlich ›Richtigen‹ und ›Normalen‹ drohen kann. Dies »verlangt den Subjekten ein hohes Maß an (Selbst-)Disziplinierung ab« (Plößer 2014: 16). Deshalb braucht es in pädagogischen Diskursen nicht (nur) den Fokus auf die ›Ausgeschlossenen‹, sondern auf Normen und Machtverhältnisse in Bildungsprozessen (vgl. ebd). Es ist zu fragen, welchen Beitrag die Pädagogik dazu leisten kann, das Feld geschlechtlicher und heterosexueller Zwänge zu bearbeiten und die performative Kraft der eigenen Diskurse zu analysieren. Mit einem Verständnis von Bildungsprozessen als Konstruktion eröffnen sich durch eine kritische

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Reflexion der pädagogischen Diskurse auch Möglichkeiten, ihre Konstruktion zu erweitern, also auch neue bzw. andere geschlechtliche Subjekte als lediglich Mann und Frau mit aufzugreifen. Gegenwärtig fehlen weiterhin Studien zur Situation intergeschlechtlicher Personen in pädagogischen Kontexten. Wenn, dann wird in pädagogischen Kontexten besonders die Schule in den Fokus genommen. Schule eignet sich möglicherweise als repräsentativer und prominenter Ort, dem Bildungsprozesse bestimmter Subjekt- und Geschlechterverständnisse programmatisch zugrunde liegen. Die erste bisher umfassende (quantitative) Studie über die Erfahrungen von Inter*Personen wurde 2015 in Australien erhoben (Jones et al. 2016). In einer anonymen Online-Befragung wurden 272 Inter*Personen auch über Erfahrungen in der Schule befragt. Von ihnen gaben 92 Prozent an, in der Schule keine positive Information über Intergeschlechtlichkeit erhalten zu haben. So ist es auch nicht verwunderlich, dass zirka die Hälfte aller Befragten weder ihre Lehrer*innen noch ihre Schulkolleg*innen über ihre Intergeschlechtlichkeit informierten und dass die Unterstützung des Schulpersonals als kaum vorhanden dargestellt wird. Das zeigt sich auch in der Studie von Annette Broemdal et al. (2016), laut der Lehrer*innen im Unterricht Formen von Intergeschlechtlichkeit als peinlich oder abnorm kommentieren und gleichzeitig auch sexistische und rassistische Äußerungen der Schüler*innen im Unterricht nicht diskutiert wurden. Friederike Schmidt und Ann-Christine Schondelmayer (2015) veranschaulichen in ihrer Studie, wie Lehrer*innen grundsätzlich LGBTIQ+ Themen gegenüber Toleranz äußern, jedoch sie für ihren Unterricht als nicht relevant darstellen, da sich die Themen nur auf wenige Einzelfälle beziehen oder in ihren Klassen gar nicht vorkommen würden (vgl. ebd.: 226). Die Verantwortung der Aufklärung wird damit an die betroffenen Schüler*innen übertragen. Die aktuelle Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA 2020) evaluierte im Rahmen einer Online-Befragung unter 137 508 LGBTI Teilnehmer*innen in 28 europäischen Ländern auch die Lebenssituation von 1519 intergeschlechtlichen Personen. Dabei geben z.B. 36 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten Diskriminierung durch Personal an der Schule oder an Universitäten und 20 Prozent zuhause erlebt zu haben. Über die Hälfte aller Beteiligten gaben an Bullying-Erfahrungen an der Schule gemacht zu haben (vgl. FRA 20206 ). 6

FRA 2020 Data Explorer: https://fra.europa.eu/en/data-and-maps/2020/lgbti-survey-d ata-explorer (zuletzt abgerufen am 13.09.2020).

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Die Verortung des Themas Intergeschlechtlichkeit in der Pädagogik und ihren Diskursen ist offenbar noch nicht erfolgt und gestaltet sich in einer Zweigeschlechter-Gesellschaft jenseits eines klinischen Blicks herausfordernd. Es ist verwunderlich, dass obwohl Intergeschlechtlichkeit und LGBTIQ+-Lebensweisen generell kein neues Phänomen darstellen, pädagogische Diskurse jedoch so sehr in ihrer Zweigeschlechtlichkeit verharren und damit beharrlich Diskriminierung und Marginalisierung intergeschlechtlicher Menschen reproduzieren. Eine Erklärung ermöglicht ein theoretischer Blick auf Diskurse und ihre Funktionen.

Diskurse und der disziplinäre Irrtum der Pädagogik Im Alltagsgebrauch wird der Begriff Diskurs oft als Gespräch oder Diskussion verstanden. Michel Foucault (1991) erläuterte in seinem Werk »Ordnung der Diskurse« den Diskurs nicht als Sprechakt, sondern als ein regelgeleitetes System von Aussagen bzw. als bestimmte Redeordnung, die gesellschaftlich »kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert« (Foucault 1991: 10f.) wird und bestimmte Wahrheiten, Normalitäten, Abweichungen und Verbote erzeugt. Dazu sind »Prozeduren der Ausschließung« (ebd.: 11) erforderlich, um die Ordnung des ›Wahren‹ innerhalb einer Disziplin zu sichern. »Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann« (ebd.: 11). Besonders zeige sich dies im Bereich der Politik und Sexualität. Die Disziplin dient als Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses, welche eine stetige Reaktualisierung der Regeln erfordert (vgl. ebd.: 25) »Ein Satz muss komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um der Gesamtheit einer Disziplin angehören zu können.« (Ebd.: 24). Der Wille zur Wahrheit ist neben dem verbotenen Wort und der Ausgrenzung des Wahnsinns einer der drei Ausschließungssysteme des Diskurses. Der Wille zur Wahrheit wird durch ein breites Geflecht von Praktiken gestärkt und stützt sich auf eine institutionelle Basis (vgl. ebd.: 15). Damit scheint das dadurch regulierte Wissen als objektiv und für immer gültig. Judith Butler (1993) denkt Diskurs in Anlehnung an Michel Foucault, macht aber besonders auf die zu wiederholenden (performativen) Sprechakte aufmerksam, die zu einem gültigen Wissen führen. Dieses Wissen wird stetig reproduziert und diskursiv erzeugt. Sprache hat hier wirklichkeitserzeugenden Charakter. Wenn wir nun Bezug zu pädagogischen Diskursen herstellen, kann die Beharrlich-

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keit und permanente Reproduktion der Zweigeschlechtlichkeit als Wille zur Wahrheit über nur zwei existierende Geschlechterformen verstanden werden. Dieser stützt sich auf Erziehungs- und Bildungskonzepte, auf ein System von (Lehr-)Büchern, Studien, auf architektonische Einrichtungen wie geschlechtergetrennte Toiletten und Garderoben. Pädagogische Akteur*innen und ihre Adressat*innen sind Träger*innen heteronormativer Diskurse, die in der Familie, im Schulunterricht und anderen gesellschaftlichen Diskursen wiederholt werden und damit zu einem bestimmten ›wahren Wissen‹ beitragen. Der hegemoniale Diskurs lässt somit nur einen bestimmten Vorstellungshorizont möglicher Geschlechtsidentitäten zu und schließt die aus, die den biopolaren Geschlechterkategorien nicht entsprechen (vgl. dazu auch Butler 1991 und 2009). Die Ambiguität und Heterogenität von Geschlechterkategorien wird systematisch ausgegrenzt und tabuisiert. Dies wird auch anhand der Intelligibilität von Judith Butler (1991) deutlich. Wer als intelligibel, also sozial anerkannt bzw. sich innerhalb des sozial Lebbaren finden möchte, muss sich bestimmten geschlechtlichen Ordnungen und Normen unterwerfen und diese damit immer wieder reproduzieren (performativ herstellen). Die Möglichkeit sozial zu existieren, jemand zu sein, bestimmen auch Diskurse, die die Grenzen des »Menschlichen« (Butler 2009) abstecken. Michel Foucault plädiert in seiner Analyse dazu, den Willen zur Wahrheit im Diskurs in Frage stellen zu müssen und »die Souveränität des Signifikanten« (Foucault 1991:33) aufzuheben. Als »disziplinierten Irrtum« (ebd.: 25) bezeichnet Michel Foucault Aussagen, die den Regeln eines Diskurses entsprochen haben, aber letztlich verworfen werden mussten. In früheren Zeiten entsprach zum Beispiel die Leugnung der pflanzlichen Sexualität dem biologischen Diskurs und seinen Regeln (vgl. ebd.). So entspricht auch das Verständnis der ›natürlichen Zweigeschlechtlichkeit‹ einem disziplinierten Irrtum in der Pädagogik. Durch die Sichtbarmachung von bislang Nicht-Artikuliertem in pädagogischen Diskursen und durch ein Hinterfragen, weshalb es bisher nicht artikulierbar war, können Möglichkeiten geschaffen werden, Intergeschlechtlichkeit in der Pädagogik zu verorten. »Verstehen wir Erkenntnis und Kritik als zentrale Parameter von Bildung« (Hartmann 2012: 170), kann mit der Reflexion des binären Geschlechtersystems ein erweitertes Themenspektrum aufgegriffen und ein Beitrag geleistet werden, »verworfene Geschlechtlichkeiten und Sexualitäten anerkennbar werden zu lassen« (ebd.). Als Ausgangspunkt dafür nutze ich die Sichtbarmachung von Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in pädagogischen Kontexten mittels einer rekonstruktiven Analyse biografischer Interviews. Michel Foucault geht

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von keinem autonomen und souveränen Subjekt aus, sondern spricht von einer Konstitution des Subjekts als »Erfahrung« (Foucault 1989:13f), die sich aus einem Netz von Wahrheitsspielen, Wissenscodes, Macht- und Selbstbeziehungen erschließt (ebd.). Das Verständnis über die Funktion von Diskursen und das damit verwobene Konzept der Intelligibilität erscheint mir notwendig, um vor diesem Hintergrund folgenden biografischen Ausschnitt zu analysieren. Im Rahmen dieses Beitrags gehe ich der Frage nach, wie sich diese komplexen Ausschließungssysteme der Diskurse auf die Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen auswirken können und mache damit sowohl Problemfelder als auch Handlungsspielräume in pädagogischen Kontexten sichtbar.

Biografische Erfahrungen Biografische Analysen eigenen sich besonders für die Rekonstruktionen von Erfahrungen, über die bisher noch kaum Forschung und etablierte Theorien existieren (vgl. Dausien 1994: 138f.). Die biografischen Erzählungen bieten Möglichkeiten, Stimmen intergeschlechtlicher Menschen hörbar zu machen und kritische Perspektiven auf Geschlechterdiskurse in pädagogischen Diskursen zu erarbeiten. Dekonstruktive und heteronormativitätskritische Ansätze ermöglichen, Normalisierungszwänge zu erkennen sowie Diskurse, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse kritisch zu reflektieren, stehen aber auch in der Kritik, die Perspektive des Individuums aus dem Blick zu verlieren. Durch die Methode der rekonstruktiven Biografieforschung wird das komplexe Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum reflektierbar (vgl. Rosenthal 2004). Die Wirkung von Diskursen und ihren Macht(beziehungen) auf die Selbstkonstruktion der Subjekte zeigt sich besonders gut durch die Methode der Biografieforschung. Außerdem ermöglicht sie auch widerständige, eigensinnige und ganz individuelle Praktiken zu rekonstruieren, die möglicherweise den Regeln des hegemonialen Diskurses nicht entsprechen (vgl. Tuider 2007). Ausgehend von theoretischen Perspektiven in Anlehnung an Judith Butler und Michel Foucault konzentriere ich mich in diesem Beitrag auf eine Erzählung von Andrea Aigner, die einem biografisch narrativen Interview entstammt.

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»Es« und »Das«. Grenzen und Zwischenräume des Sagbaren – eine biografische Erzählung Andrea Aigner7 ist zum Zeitpunkt des Interviews sechsundzwanzig Jahre alt, bevorzugt das Pronomen »sie« und erzählt über Erfahrungen aus ihrem Leben. Sie beginnt mit Erzählungen aus ihrer Kindheit; damals sei sie schon »auf die Bäume gekraxelt« (2/7) und habe »mit den Buben Fußball gespielt« (2/7). Mit einem »Pubertätsworkshop«, im Rahmen des Schulunterrichts (vgl. dazu auch Enzendorfer/Haller 2020) begann schließlich auch die Zeit, in der sie sich über die Menstruation Gedanken gemacht hat. Als die Periode einige Jahre später weiterhin ausblieb, verspürte sie ein Unbehagen und den Wunsch nach einem Arzt*besuch. Nach vielen Untersuchungen übermittelten Ärzt*innen Andrea Aigner schließlich, dass sie keine Eierstöcke habe, sondern »was anderes […], ob die wirklich Hoden gesagt haben« (3/19) wisse sie nicht mehr. »Auf jeden Fall« habe sie »einen anderen Chromosomensatz« (3/15). Es folgt ein Auszug aus dem Interviewtranskript8 , das aus der Nachfragephase des Interviews entstammt. Andrea Aigner (A) erzählt dem*der Interviewer*in (I) über das vorhandene Wissen in der Familie nach Erhalt ihrer Diagnose: A: Ahm. (2) Ich glaub meine Großeltern wissens nicht. (I: mhm) Ich glaub auch, (1) die meisten anderen wissns nicht. Aber, wenns um Verwandte gegangen ist hats eigentlich immer (1) mei- meine Mama auf- aufgeklärt. Also, (I: mhm) bei Verwandten habs nie ich erzählt. I: Mhm. Ja. Und in der Schule oder so ist es mal dann irgendwann mal? Also dass das dann von Lehrer,innen oder so, also du hast ja gesagt, dass du dann montags dann irgendwie immer wieder gefehlt hast, oder bist später gekommen,(16/15-16/27) In dieser Passage, die in mitten einer längeren Erzählung entnommen wurde, leitet Andrea Aigner zum Thema »des Wissens« über etwas Bestimmtes innerhalb der Familie über, ohne zu konkretisieren wovon eigentlich gesprochen wird. Es wird auch vor dieser Passage nicht klar, wovon Andrea Aigner konkret spricht. Stattdessen verbergen Verben wie »wissns«, »habs« ein rätselhaftes »Es«, dessen Erläuterung fehlt. 7 8

Namen, persönliche Daten und Ortsangaben wurden anonymisiert. Satzzeichen kennzeichnen die Erhöhung bzw. Senkung der Stimme, Pausen in Sekunden wurden durch Zahlen in Klammer vermerkt.

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Bemerkenswert ist auch die wiederholende Formulierung »glauben«, die die Unklarheit und Ungewissheit über das vorhandene Wissen der Großeltern oder der »anderen«, der Verwandten markiert. Nicht nur, was sie wussten ist unklar, sondern ob sie überhaupt etwas wissen, muss einer Vermutung weichen und konnte offenbar bisher nicht mittels einer Nachfrage oder eines Gesprächs mit den Verwandten geklärt bzw. besprochen werden. Wenn die Verwandten etwas wissen, dann nur durch eine Aufklärung durch die Mutter. Die erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung zeigt, dass die Familie als »primärer, wenn auch nicht singulärer Ort« (Micus-Loos 2003: 1), also noch vor pädagogischen Bildungseinrichtungen, einen wesentlichen Beitrag zur Bildung von Geschlechterverständnissen und Geschlechterdifferenzen beiträgt (vgl. ebd.). Dabei entstehen familiäre Handlungen und Beziehungen nicht in einem luftleeren Raum, sondern auch sie sind in heteronormativen Diskursen verwoben und folgen deren Redeordnungen (vgl. Foucault 1991), die im Falle einer Intergeschlechtlichkeit bei Andrea Aigner zu einem Stillschweigen führen bzw. einer Aufklärung über die Mutter bedürfen. Es scheint in jedem Fall bemerkenswert, dass die Mutter über eine Sprecherinnenrolle verfügt, zumindest wird sie ihr von Andrea zugeschrieben. Bei Andrea selbst bildet sich ein Mantel von etwas Unsagbarem über ein rätselhaftes Es in der Familie. Lann Hornscheidt rezipiert Audre Lorde, die Schweigen als Ausdruck von Angst thematisiert: »schweigen […] ist häufig ein aus_druck von angst. schweigen ist ein schutz vor anwesenheit, anwesenheit in w_ortungen, vor denen eine vielleicht angst hat, weil sie ein_e ausgesetzt machen würde in einer situation. schweigen also gibt die idee eines schutzes in einer öffentlichkeit, die nicht als sicher erlebt wird« (Hornscheidt 2012: 240f.). Schweigen ist wiederum ein Erfolg für das ungestörte Führen eines hegemonialen Diskurses, der Prozesse des »Silencing« (Dhawan 2007) unterstützt. Dieses Schweigen wird auch in der Schule, zu der nun der*die Interviewer*in die Erzählung lenkt, fortgesetzt. Wie in der biografischen Erzählung von Andrea Aigner ersichtlich, waren ihre Bildungsprozesse in der Schule von biologistischen und dichotomen Geschlechterverständnissen geprägt und die fehlende Menstruation wurde beispielsweise als pathologisches Phänomen vermittelt (vgl. dazu auch Enzendorfer/Haller 2020). All diese Bildungsprozesse funktionieren als Silencing-Strategie, womit ein tiefgreifender gewaltsamer Akt vollzogen wird, der mehr als nur eine singuläre Unterdrückung des Sprechens darstellt (vgl. Dhawan 2007: 253). Bereits in der Haupterzählung hat Andrea Aigner von wöchentlichen Arztterminen berichtete, die montags auch während der Schulzeit stattgefunden haben; darauf nimmt nun der*die

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Interviewer*in erneut Bezug. Auffallend ist, dass auch der*die Interviewer*in das »Es« bzw. »Das« in der Frage wiederholt und in unvollständigen Formulierungen vorsichtige, vage Bewegungen um das rätselhafte »Es« vollzieht. Andrea schließt direkt mit einer Erinnerung aus der Schulzeit an: A: ahm, ich hab mit (3) fünfzehn, sechzehn, vierzehn, irgendwo da (4) wo ichs erfahren hab, angfangen mit dem Ritzen. (I: mhm) Ahm. Nie besonders tief, also nie als Selbstmordversuch Versuch. Aber (2) ah. (2) Klingt jetzt blöd wenn ich sag, einfach so (1) ich weiß nicht so quasi wie ich das beschreiben soll, (I: mhm) Aber halt nicht um mich selbst umzubringen, sondern einfach nur als Selbstverletzung, ahm. (I: mhm) (4) Das haben halt dann ein paar Lehrer gewusst. (1) (16/29-16/40) Die Verbindung zur vorherigen Passage der Erzählung ist das »Wissen« über etwas. Das »Es« bleibt immer noch unausgesprochen und im »ichs« möglichst verschluckt und unauffällig. Interessant an dieser Stelle ist besonders der Spannungswechsel vom »Es« zum »Das«. Das »Es« bleibt nach wie vor unklar, während das »Das«, nämlich das Ritzen, benannt und auch »gewusst« werden kann bzw. darf. Das Ritzen ist eine häufig auftretende ernst zu nehmende Selbstverletzung unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen und verbreitet sich zunehmend als Phänomen in pädagogischen Kontexten (vgl. Degener/Deimel 2005), während die Ursachen vielseitig und als verzweifelter Lösungsversuch schwieriger, manchmal auch traumatisierender Lebenssituationen beschrieben werden. »Den einzelnen Verletzungen gehen dabei hauptsächlich Gefühle von Einsamkeit, Depression, Wut und Selbsthass, Ohnmacht, Hilflosigkeit und überwältigendem Stress voraus.« (ebd.: 218) Auch unter Peers ist diese Selbstverletzung nicht unbekannt (vgl. ebd.). So scheinen die Kommunikation und das Wissen über »Das« für Andrea Aigner in pädagogischen Kontexten möglich. »Es« ist hingegen weiter nicht benennbar und wird durch ein stellvertretendes benennbares »Das« ersetzt. Auch Annette Degener und Hubertus Deimel (2005) verweisen darauf, dass innere Zustände »Außenstehenden über die Selbstverletzung auf symbolischer Ebene mitgeteilt werden« (ebd.: 217) können. Andrea findet damit einen Zwischenort des Sprechens und damit etwas Unsagbares über etwas anderes Benennbareres zu kommunizieren. A: Ich weiß auch noch, dass ich von einer Lehrerin ahm also ich hatte dann immer ein Schweißband oben, damit man die Narben nicht sieht. (I: mhm) u::nd (2) zwei, drei Jahre nachher am Skikurs, (2) ahm, hat mei- hatten wir

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irgendwie so eine bad taste Party, und da hatte ich zufällig ein- ein Schweißband in knallpink oben. (2) und da hat mir meine damalige Religionslehrerin, die auch Sportlehrerin war, (2) quasi (1) hat mir ah hat mich zur Seite und gesagt, ich soll das Schweißband bitte runtergeben damit sie sieht ob ich wieder geritzt hab. (I: mhm) aber ich weiß nicht, ob sie (1) ahm. Ob die gewusst hat, warum ich geritzt hab, (2). Ich weiß halt nur, dass gewusst hat, dass ich geritzt hab. Und beim Klassenvorstand (2) ist es ähnlich. Da weiß ich auch, dass sie gewusst hat, dass ich geritzt hab, ob sie es gewusst hat warum (1) weiß ich nicht. (I: mhm) Wenn, (1) dann von der Mama. (I: mhm) (16/40-16/53) Eine Lehrerin hat Andrea (bemerkenswerte zwei, drei Jahre später) während eines Skikurses auf das Ritzen angesprochen. Andreas Schweißband in aufmerksam machender »knallpinker« Farbe übernimmt eine Funktion des Sprechens: Das Schweißband spricht in seiner grellen Farbe. Darin kann die Ambivalenz eines Wunschs nach Thematisierung und Verstecken-Wollen gelesen werden: Das grelle Schweißband verdeckt, was da ist. Wie gelingt ein Sprechen über das Schweißband und den verdeckten Narben ohne über »Es« zu sprechen? Und möglicherweise ist genau das ein Abbild der Situation von Andrea: Es geht um ein Tabu, eine Sprachlosigkeit, die in greller Farbe schreit. So bleibt auch in der Erzählung unklar, was konkret in der Situation mit der Lehrerin auf der Party gesprochen wurde. Andrea scheint zu wissen, warum sie ritzt und findet für das »Es« zwar keine verbale Sprache, aber ein stellvertretendes Sprechen am Körper durch den Akt und die erzeugten Narben der Selbstverletzung. Das »Es« bleibt jedoch dennoch still und unsagbar. Davon ist auszugehen, da Andrea nicht sicher ist, ob die Lehrer*innen wissen, warum sie ritzt. Eine Schwere der Sprachlosigkeit legt sich über alle Beteiligten. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Lehrerin am Skikurs »Es« bereits wusste. Das bleibt bis heute auch für Andrea ungeklärt. Ganz ähnlich wie bei ihrer Familie. Der Informationsaustausch ist nicht vorhanden, weder zur Mutter noch zur Lehrerin. Andrea hat nie Kontrolle über dieses Wissen übernommen und das ist für ihr Alter im Teenageralter bemerkenswert. Wie bedrohlich muss die Situation für Andrea gewesen sein, um lieber die Ungewissheit zu ertragen, als sich in die Gefahr des sozialen Unorts zu begeben und nicht dem Mädchen innerhalb der »heterosexuellen Matrix« (Butler 1991) zu entsprechen? Der disziplinäre Irrtum und der Wille zur Wahrheit über nur zwei existierende Geschlechter sind so fest verankert, dass damit ein Schwei-

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gen auch seitens der Lehrer*innen einhergeht, worauf auch die folgende Passage verweist: A: Aber es ist irgendwie nie von den Lehrern ein Input gekommen (I: mhm) (6) ich hätte aber ehrlich gesagt auch nicht gewollt, dass die Lehrer sowas wissen, weil (I: mhm) weil ich find nicht, dass es die, die Art wie sie, wie sie mich behandeln (2) beeinflussen sollt (I: mhm) ob sie das wissen oder nicht. (I: Ja) (16/53-17/2) Es bleibt unklar, was Andrea von den Lehrer*innen erwartet bzw. sich möglicherweise auch gewünscht hätte. Die Formulierung »Input« enthält jedenfalls eine Aktion und weniger eine Reaktion auf das Ritzen von Andrea. Möglicherweise ist mit einem Input ein Rat, eine Frage oder eine Hilfe gemeint. Möglicherweise aber auch ein Input in Form eines Lehrinhalts. Das Kommunizieren über dieses Ritzen am Körper hätte das Potential zu sprechen, das aber nicht genutzt wird und wahrscheinlich auch nicht genutzt werden kann. So folgt unmittelbar darauf die Aussage, dass Andrea Aigner gar nicht gewollt hätte, dass so etwas die Lehrer*innen wissen. Die Aussage, dass dies nicht beeinflussen sollte, wie sie behandelt wird, widerspricht auf den ersten Blick dem Ritzen und dem knallpinken Schweißband, wodurch sie Aufmerksamkeit erwirkt und damit auch anders behandelt wird. Und doch ist die Aussage, nicht anders behandelt werden zu wollen als ein nicht aus der Norm fallen zu wollen zu verstehen. Bezogen auf eine benennbare Selbstverletzung ist diese Ambivalenz und das Risiko des Sprechens möglich. Das Ritzen entspringt außerdem einem in der Pädagogik bekannten Diskurs. Er bietet Möglichkeiten des Zeigens und Sprechens. Deutlich anders wäre dieses »anders behandelt werden« in Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit zu lesen. Damit geht nämlich der drohende Verlust der Intelligibiltät und des Menschlichen einher. Unter dieser Perspektive ist es auch nicht verwunderlich, dass Andra Aigner auch kein Zutrauen hat, dass ein Input möglich sein könnte. »Es« muss versteckt werden und bleiben. Das »Es« verwandelt sich in dieser Passage auch in ein »Sowas«. Die Formulierung enthält etwas Abwertendes oder auch sehr Intimes und Persönliches, das irgendwie nicht zumutbar ist oder zu große Gefahren verbirgt. A: Und, ja. (2) Ich ich, ich hätts nur also, wär ich Lehrerin, (3) würd ichs ganz gern wissen, wenns ein (2) also ich würds ganz gern wissen, wenns ein Kind gibt, das intergeschlechtlich ist, aber halt nur, weil ich halt auch die Vorgeschichte hab und dann (3) vielleicht ein bisschen auf die Eltern, mit

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den Eltern versuch zu reden (1) also ich weiß nicht in welche Richtung keine Ahnung (I: mhm) Aber, (1) ich glaub, wenn ich das nicht hätt, würds mich als Lehrerin auch nicht interessieren (I: mhm) oder nicht nicht interessieren aber einfach nichts angehen. (I: mhm, Ja.) Weißt was ich mein? (17/3-17/9) Erst das Wissen über eine »Vorgeschichte« bietet einen sicheren Raum mit Lehrer*innen zu sprechen. Andrea erwähnt dabei aber nur den möglichen Versuch der Kommunikation mit den Eltern, nicht mit dem intergeschlechtlichen Kind. Vielleicht, weil es gar keinen speziellen Umgang braucht, wenn das pädagogische Umfeld einen sicheren Raum ermöglicht? Diese Stelle widerspricht meinen bisherigen theoretischen Ausführungen, dass pädagogische Diskurse das Sagbare gänzlich regulieren. Zumindest in Andreas Vorstellung als Lehrer*in scheint ein Sprechen über Intergeschlechtlichkeit möglich, wenn klar ist, dass alle Beteiligten ein Vorwissen und Vorerfahrungen mitbringen und damit die Situation auch verstehen können. Und doch ist in Andreas Vorstellung das Sprechen nur mit den Eltern möglich. Die Gefahr der Verwerfung als anerkanntes Subjekt und die damit einhergehende Sprachlosigkeit wird aber zumindest abgeschwächt, sobald ein sicherer Raum geschaffen wird.

Schlussbemerkung Ein passender Geschlechtseintrag im Personenstandsrecht bietet für solche sichereren Räume erste gute Möglichkeiten, kann aber nur der Anfang informierter und reflektierter Geschlechterverständnisse und ihrer Diskurse darstellen. Es ist die Aufgabe vieler Disziplinen, Sagbarkeiten rund um Inter* zu schaffen. »um sprechen zu können, um eine eigene stimme herausbilden, wahrnehmen und positiv und kollektivbildend empowernd wahrnehmen zu können, ist es für personen, deren positionierungen durch interdependente diskriminierungen konstituiert sind, wichtig, empowernde räume zu haben und gestalten zu können. Nur in einem gefühl von sicherheit, von einer möglichkeit umfassend anwesend zu sein, ist es möglich, sprech- und schreibformen herauszubilden, auszuprobieren und mit diesen neue zu_gänge zu welt und gesellschaft zu schaffen.« (Hornscheidt 2012: 243) Andrea wurde lediglich ein pathologisches Bild ihrer körperlichen Geschlechtsmerkmale vermittelt, die als behandlungsbedürftig erschienen. Der Wille zur Wahrheit über nur zwei existierende Geschlechter reguliert

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das Geschlechter- und Subjektverständnis der Familie, der Lehrer*innen und von Andrea. Die dadurch erzeugende lähmende Sprachlosigkeit wird in dieser Passage und durch den Ausdruck des Ritzens deutlich. Es zeigen sich aber auch kleine Möglichkeiten des Sprechens, da der pädagogische Diskurs nicht gänzlich Sagbarkeiten reguliert. Andrea Aigner kann sich zumindest vorstellen trotz dieser machtvollen Wirkung der Diskurse über Inter* zu sprechen, wenn Vorerfahrungen und damit Wissen über Lebensrealitäten von Intergeschlechtlichkeit vorausgesetzt werden können. Dann, aber nur dann, scheint es möglich und wichtig darüber zu sprechen. Es soll in diesem Beitrag nicht diskutiert werden, was genau oder ob überhaupt Lehrer*innen »es« wissen sollen. Das ist eine Frage, die individuell zu klären ist (vgl. IGLYO/OII Europe/EPA 2018). Die Analyse bietet hingegen einen machtkritischen Blick und ein Aufzeigen der Wirkungsweise von pädagogischen Zweigeschlechter-Diskursen, die zu tiefgreifenden Unterdrückungen des Sprechen-Könnens führen. Studien wie die von Friederike Schmidt und Ann-Christine Schondelmeyer (2015) zeigen, dass die Verantwortung der Aufklärung über geschlechtliche Vielfalt an die betroffenen Kinder und Jugendlichen übertragen wird, da die Relevanz nicht erkannt wird. Diese Erkenntnis bezieht sich jedoch vor allem auf LGB(TQ) Personen. Wie die vorliegende biografische Erzählung zeigt, fehlen Inter*Personen oft grundsätzlich die Sprache und Räume des Sagbaren, um für diese Verantwortung überhaupt befähigt zu sein. Ziel geschlechterreflektierter Pädagogik ist ein pädagogischer Diskurs, in dem Inter* selbstverständlich mitgedacht wird. Inter*Realitäten sollten dabei obligatorisch in Curricula, Kinderbücher und Pädagog*innenausbildung als Querschnittthema (vgl. Kleiner 2018: 17) aufgenommen werden. Es geht nicht nur um eine erhöhte Akzeptanz, sondern um eine strukturelle Implementierung von Inter* in pädagogische Diskurse. Erst das ermöglicht soziale benennbare Orte für Inter*Personen. Ob sie diese dann für sich auch nutzen möchten oder ›nur‹ das Wissen mitnehmen nicht ›anders‹ oder ›krank‹ zu sein, obliegt dem jeweiligen Individuum. Pädagogische Diskurse und ihre diversen Normierungs-, Disziplinierungsund damit auch Diskriminierungspraxen verunmöglichen das Sprechen intergeschlechtlicher Menschen auf unterschiedliche Weise. Nicht nur das, was gesagt wird, kann diskriminierend sein, sondern auch das, was nicht gesagt wird (vgl. dazu das Konzept der »ent-erwähnung« von Hornscheidt 2012). Die Thematisierung von Inter* im rechtlichen Kontext durch die Änderungen im Personenstandsgesetz erweist sich für die Pädagogik positiv, da

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mit diesen Rahmenbedingungen (Einführung weiterer Kategorien bei Formularen, Türbeschilderungen etc.) zu einem größeren Bewusstsein beigetragen werden kann, wo bisher meist nur Formen des Aktivismus Aufmerksamkeit schaffen konnten (vgl. Enzendorfer/Haller 2020: 271ff.). Diese Änderungen können aber nur einen ersten Schritt für weiterführende Implementierungen in unterschiedlichen Disziplinen darstellen. Pädagogische Diskurse haben Geschlecht und Geschlechterverhältnisse nicht nur als Gegenstand, sondern Geschlechter(verhältnisse) werden systematisch durch die Disziplin hervorgebracht. Damit wirken sie entscheidend mit, welche Geschlechterverständnisse wir in uns tragen und wo die Grenzen des Sagbaren liegen.

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Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule Perspektiven und Forderungen für die Schulsozialarbeit Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas

Intergeschlechtliche, trans*, genderqueere und non-binäre Kinder und Jugendliche passen körperlich oder psychisch scheinbar nicht in die vorherrschende heteronormative Ordnung, die auf der Vorstellung einer fixen und kohärenten Geschlechtsidentität beruht und in der Regel nur zwei Geschlechter (männlich oder weiblich) anerkennt und akzeptiert. Ausgrenzung, Abwertung oder Nicht-Ernstnehmen, Diskriminierungen und Verletzungen der Menschenrechte sind für viele an der Tagesordnung. Intergeschlechtliche Menschen werden mit Geschlechtsmerkmalen geboren, die sich unter anderem hinsichtlich der Chromosomen, der Genitalien und/oder der hormonellen Struktur nicht in die gängigen Kategorien von »männlich« und »weiblich« einordnen lassen oder die zu beiden Kategorien gehören. Häufig raten Ärzt*innen den Eltern, chirurgische und andere medizinische Eingriffe an intergeschlechtlichen Neugeborenen und Kindern aber auch Jugendlichen vornehmen zu lassen, um so die Körper der Neugeborenen (scheinbar) in den Rahmen entweder männlicher oder weiblicher Geschlechtsmerkmale einzupassen (Ghattas 2017: 10). In den meisten Fällen sind solche Eingriffe medizinisch nicht notwendig und können schwere negative Folgen für intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche in ihrer weiteren Entwicklung haben. Dass diese Praxis geschlechtsnormierender Operationen auch heute immer noch üblich ist, zeigt eine aktuelle Untersuchung von Hoenes, Januschke und Klöppel (2019). Jahrelange Geheimhaltung und Tabuisierung innerhalb der Familie können dazu führen, dass intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche oftmals gar nicht wissen, dass sie intergeschlechtlich sind oder dies in Folge der stark traumatisierenden Erfahrungen verdrängt

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Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas

haben. Auch kann es passieren, dass die Intergeschlechtlichkeit erst in der Pubertät – und damit mitten in der Schulzeit – sichtbar wird. Zugleich sind intergeschlechtliche Menschen keine einheitliche Gruppe, nicht alle intergeschlechtlichen Personen definieren sich selbst als Inter*, es gibt intergeschlechtliche Frauen und Männer oder intergeschlechtliche Trans* oder Non-Binarys, sie haben unterschiedliche Sexualitäten sind hetero, bi, lesbisch oder schwul etc., es gibt intergeschlechtliche BIPoC, intergeschlechtliche Menschen mit Behinderung, aus verschiedenen sozialen Schichten etc. Mit Einführung der »Dritten Option« beim Geschlechtseintrag im Dezember 2018 (eigentlich einer »Vierten Option«, wenn die Möglichkeit, den Eintrag offen zu lassen, mitgezählt wird), wurde auf rechtlicher Ebene anerkannt, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Das reformierte Personenstandsgesetz sieht seither u.a. für intergeschlechtliche Menschen die Option eines dritten Geschlechtseintrags vor – allerdings nur für Personen, die mittels einer ärztlichen Bescheinigung nachweisen können/müssen, dass bei ihnen eine »Variante der Geschlechtsentwicklung« (fremd-)diagnostiziert wurde. Mit der jetzigen Personenstandsregelung zu dem Eintrag »divers« wurde damit grundsätzlich die Chance vertan, einen selbstbestimmten Personenstand für alle Menschen zu ermöglichen, ohne eine spezifische Personengruppe weiter zu pathologisieren (vgl. IVIM/OII Germany 2018). Ungeachtet der berechtigten Kritik an der Einführung eines dritten Geschlechtseintrags, mit dem längst nicht die gesellschaftliche Diskriminierung von intergeschlechtlichen Menschen aufgehoben ist, noch den zentralen Forderungen von Organisationen intergeschlechtlicher Menschen nach einem Verbot von aufschiebbaren, nicht lebenserhaltenden operativen und anderen irreversiblen Eingriffen an Körpern intergeschlechtlicher Kinder nachgekommen wird, hat die politisch-mediale Debatte um die »Dritte Option« doch zumindest eine neue Sichtbarkeit für die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten geschaffen. Aus der nunmehr auch amtlich geschaffenen Existenz einer dritten Geschlechtsoption ergeben sich allerdings neben der reinen Sichtbarkeit weitreichende und, wie wir finden, sehr positive Konsequenzen – auch für die Organisation von Jugendhilfe und Schule. Das Thema »Dritte Option« steht hier im Kontext langjähriger Bemühungen, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt an Schulen und in der Sozialen Arbeit sichtbar zu machen, anzuerkennen und Diskriminierung von LSBTIQ+ abzubauen. Mit der »Dritten Option« ist nun eine neue – nunmehr juristisch verbriefte – Dringlichkeit entstanden, die Jugendhilfe und ihre expliziten wie impliziten Normierungen in

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

Bezug auf Geschlecht und Sexualität zu hinterfragen. Jugendhilfe und Schule adressieren bisher primär »Mädchen« und »Jungen« und sind entlang binärer, heteronormativer Vorstellungen organisiert – die Kritik daran ist nicht neu (vgl. z.B. Bochert/Focks/Nachtigall 2018, Kugler/Nordt 2015, Focks 2014, Klocke/Salden/Watzlawik 2020). So heißt es in § 9 Abs. 3 des SGB VIII bisher: »Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern.« Durch die Dritte Option kann die Existenz intergeschlechtlicher Menschen nicht länger geleugnet werden und zwingt zu einem Um- und Weiterdenken der Kinder- und Jugendhilfe. In Anbetracht der vielschichtigen Diskriminierungserfahrungen von intergeschlechtlichen (trans*, genderqueeren, non-binären etc.) Kindern und Jugendlichen lautet die Frage, was Soziale Arbeit, insbesondere, wenn sie sich auf Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit als Bezugsgröße stützt, dem entgegensetzen kann. Wir blicken dabei in unserem Beitrag auf den Kontext Schule und die Soziale Arbeit innerhalb bzw. am Lernort Schule (im Folgenden als Schulsozialarbeit abgekürzt1 ), da gerade die Schule ein Ort ist, an dem sich viele junge Menschen begegnen und miteinander umgehen. Schule ist eine zentrale Sozialisationsinstanz, die für viele Menschen sehr prägend ist, wo Differenzen und Zugehörigkeiten bzw. Vorstellungen von Normalität und Abweichung z.B. in Bezug auf Geschlecht und Geschlechtsidentität verhandelt und In- und Exklusionsprozesse tagtäglich stattfinden. Daraus resultieren nicht selten erhebliche (psychische und physische) Verletzungen für jene, die als von der Norm abweichend wahrgenommen werden. Während das Verhalten, Einstellungen und Wissen von Lehrkräften in Bezug auf lsbt(i)q+ Jugendliche2 bereits in einigen Studien untersucht wurde (z.B. Klocke 2012, Klocke/Salden/Watzlawik 2020), bleibt die Schulsozialarbeit hier häufig außen vor oder spielt nur eine untergeordnete Rolle. Den konkreten Beitrag der Schulsozialarbeit zu einer gelebten Praxis geschlechtlicher Vielfalt und dem Abbau von Diskriminierung an Schulen wollen

1 2

Zur Kontroverse um die uneinheitliche Bezeichnungspraxis (vgl. Speck 2014: 35ff. und Spies/Pötter 2011: 13ff.). Intergeschlechtliche Jugendliche werden in den wenigstens Studien berücksichtigt, daher steht hier das »i« in Klammern.

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Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas

wir in unserem Artikel genauer beleuchten. Dazu haben wir sechs Schulsozialarbeiter*innen, angestellt bei verschiedenen großen und mittelgroßen Trägern der Jugendhilfe in Berlin, sowie eine Lehrkraft mittels qualitativer Leitfadeninterviews befragt.3 Wir wollten in Erfahrung bringen, wie die »Dritte Option« in den Schulen aufgenommen und ggf. mit Antidiskriminierungsstrategien und dem Schutz von LSBTIQ+ verknüpft worden ist und welche Rolle insbesondere die Schulsozialarbeit bei der Unterstützung intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher spielt.

Lebenswelten und Diskriminierungserfahrungen von intergeschlechtlichen (und lsbtq+) Jugendlichen Intergeschlechtliche Menschen sind überall. Und doch sind sie häufig unsichtbar in der Gesellschaft oder werden von dieser unsichtbar gemacht. Das hat verschiedenen Gründe: »Häufige Alltagserfahrungen intergeschlechtlicher Menschen sind: Isolation, Tabuisierung, Traumatisierung, Schweigen und Sprachlosigkeit, Unverständnis und Bevormundung, Absprechen des Wissens über den eigenen Körper, Fehlinformationen, Fehlbehandlung durch Medizin, Misshandlung durch Medizin und in der Familie, Ignoranz und Diskriminierung im Umfeld und das Fehlen einer nicht-pathologisierenden Sprache für intergeschlechtliche Körper. […] Der Normierungszwang und die Stigmatisierung von Menschen als vermeintlich ›gestört‹ und mit einer ›reparaturbedürftigen‹ Geschlechtsentwicklung behaftet zwingen Inter* in die Selbstwahrnehmung als Patient, Opfer oder gar als Monster: Inter*Menschen können deshalb die erlebte strukturelle und institutionelle Diskriminierung oft nicht als solche wahrnehmen. Ohne Alternativen zu einer ›Sprache der Störung‹ ist es für intergeschlechtliche Menschen schwer, dem Druck standzuhalten: Sich nicht selbst zu diskriminieren, zu kontrollieren und zu zensieren oder medizinischen Eingriffen aus rein sozialen Zwängen heraus zuzustimmen.« (Kromminga 2016: 30)

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Bei der Befragung wurden unterschiedliche Schultypen (Grundschule, Oberschule, integrierte Sekundarstufe, Gymnasium) und verschiedene Berliner Stadtbezirke berücksichtigt. Zwei der Befragten übernehmen zusätzlich koordinierende bzw. Leitungsfunktionen.

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

Die Tatsache, dass ein Mensch einen intergeschlechtlichen Körper hat, kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben sichtbar werden: bei der Geburt, während der Kindheit, der Pubertät, selbst noch im Erwachsenenalter. Abhängig von der individuellen Lebenssituation und dem Grad an Tabuisierung im persönlichen Umfeld können Menschen sehr früh oder auch erst bedeutend später im Leben entdecken, dass sie einen intergeschlechtlichen Körper haben. Manche intergeschlechtliche Menschen finden nie heraus, dass sie intergeschlechtlich sind (Ghattas 2017: 10). Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ist allerdings nur selten ein Thema der Jugendforschung – wenn, dann häufig als ein Spezialthema und ›Sonderfall‹, nicht aber als selbstverständlicher Teil jugendlicher Lebenswelten. Insbesondere zu den spezifischen Lebenssituationen von intergeschlechtlichen, trans*, nicht-binären und genderqueeren Jugendlichen liegen derzeit für Deutschland nur sehr wenige empirische Daten vor.4 Zur Situation intergeschlechtlicher Menschen gibt es kaum empirische Ergebnisse, wenn, dann sind zumeist Erwachsene im Fokus (eine Ausnahme bildet Jones/Hart/Carpenter/Ansara/Leonard/Lucke 2016 für den australischen Kontext). Zudem werden in den meisten Untersuchungen lediglich Dritte stellvertretend befragt, z.B. Eltern, Ärzt*innen, Therapeut*innen etc. – nicht aber die Jugendlichen selbst, die als Expert*innen in ihrer eigenen Sache kaum Gehör finden.5 4

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Die meisten, zum Teil älteren Studien beschäftigen sich mit lesbischen, schwulen, bisexuellen und nur wenige auch mit transgeschlechtlichen Jugendlichen (vgl. z.B. Sauer/Meyer 2016). Für einen Überblick und Zusammenfassung der Studien vgl. Sielert/Timmermanns 2011; für die erste bundesweite Studie zur Lebenssituation von lsbt Jugendlichen, die trans* Jugendliche jedoch nur am Rande und intergeschlechtliche gar nicht behandelt (vgl. Krell/Oldemeier 2015). Die großen, repräsentativen Jugendstudien, wie beispielsweise Shell, Jugendsurvey und PISA, kommen dabei ganz ohne Thematisierung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt und die Berücksichtigung von lsbtiq+ Perspektiven aus. So wurden auch in der neuesten Shell-Studie (Shell Deutschland Holding 2019), veröffentlicht nach der Personenstandsgesetzesänderung, Jugendliche ausschließlich als »männlich« oder »weiblich« befragt und in der Auswertung sichtbar, sexuelle Orientierung bleibt bei der Auswertung ebenso unberücksichtigt. Auch durch die Art der Fragen und der Auswertung werden heteronormative Perspektiven reproduziert und die Lebenswelten von lsbtiq+ Jugendlichen unsichtbar gemacht. Daher können die großen Jugendstudien keinerlei Aussagen über die spezifische Lebenssituation von intergeschlechtlichen, trans* und genderqueeren Jugendlichen in Deutschland treffen (vgl. Focks 2014). Selbst in dem 580 Seiten starken 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2017) werden intergeschlechtliche Kinder- und Jugendliche nicht mit einem Wort erwähnt, obwohl der Bericht vorgibt, die unterschiedlichen Le-

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Deutlich wird aus den existierenden Studien jedoch, dass die Jugendphase für Jugendliche, die nicht den gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität entsprechen, besonders vulnerabel ist (z.B. Krell/Oldemeier 2015). Psychosoziale Schwierigkeiten wie Unsicherheit und Angst, innerer Rückzug und Depression, Selbstzweifel und Selbsthass, Leistungsabfall und Schulabsentismus können mögliche Folgen der erlebten Ausgrenzung und Diskriminierung sein. Eine eigene positive geschlechtliche Identität, entgegen den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen und Erwartungshaltungen zu entwickeln, stellt viele intergeschlechtliche, trans*, nicht-binäre und genderqueere Jugendliche vor eine schwierige Aufgabe. Alarmierend ist insbesondere der Befund eines stark erhöhten Suizidrisikos bei lsb und besonders trans* Personen (vgl. Nordt/Kugler 2015: 209, Plöderl 2016). Für intergeschlechtliche Menschen gibt es hierzu nur wenige Studien und verlässliche Zahlen, jedoch ist auch hier von einem stark erhöhten Suizidrisiko auszugehen (vgl. Jones 2016: 7f., Enzendorfer/Haller 2020: 264). Besonders problematisch ist nach wie vor die Erfahrung allgegenwärtiger Diskriminierung (vgl. zu Trans*: Fuchs/Ghattas/Reinert/Wiedmann 2012, Sauer/Meyer 2016, zu intergeschlechtlichen Menschen: Ghattas 2013, OII Europe 2016, Jones et al. 2016). Dabei kommt es in vielen Fällen zu sich überlappenden Diskriminierungserfahrungen, die nicht nur auf den Kategorien Geschlecht und/oder sexuelle Orientierung beruhen, sondern auch im Hinblick auf Ethnizität, Klasse/sozialer Status, Hautfarbe, Religion, Alter, Behinderung etc. intersektional betrachtet und analysiert werden müssen (vgl. Bochert/Focks/Nachtigall 2018: 233).

Zur Situation von intergeschlechtlichen Jugendlichen in Schule und Ausbildung Intergeschlechtliche Menschen haben sich in den letzten Jahren vermehrt zu Wort gemeldet und die erfahrenen Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen öffentlich gemacht. Im Hinblick auf den Bereich Bildung und

benssituation junger Menschen in Deutschland zu beleuchten. In dem Kapitel »Unterschiedliche sexuelle Orientierungen im Jugendalter«, befasst sich der Bericht immerhin auf genau einer (!) Seite (ebd.: 224) mit der Lebenssituation von lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen, transgeschlechtliche Jugendliche werden hier in einem Satz zumindest erwähnt.

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

Schule haben sie immer wieder darauf hingewiesen, dass sie als aktuelle oder ehemalige Schüler*innen und Studierende oder in der Weiterbildung aber auch als in Ausbildung befindliche Menschen mit Diskriminierung und Mobbing konfrontiert wurden und werden. Das Mobbing umfasst die ganze Bandbreite von Beleidigung und unaufhörlicher Hänselei über andere Formen psychischer Gewalt bis hin zur physischen Gewalt. Besonders intergeschlechtliche Schüler*innen, deren geschlechtlicher Ausdruck, Statur oder andere Teile ihres Aussehens nicht den weiblichen oder männlichen Normen entsprechen, sind hier einem massiven Risiko ausgesetzt. Aber auch jene, die den konformen Erwartungen stärker entsprechen, leiden unter der Unsichtbarkeit und der Ignoranz gegenüber der Existenz von intergeschlechtlichen Menschen, wie sie im Schulsystem weitestgehend die Norm ist. Eine australische (quantitative) Studie von Jones et al. (2016), an der insgesamt 272 Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale im Alter von 16 bis 87 Jahren teilnahmen, zeigt auf, wie im Schulunterricht ausschließlich sogenannte »normale« Jungen und Mädchen beschrieben und abgebildet werden, ohne dass es Anzeichen dafür gab, dass Jugendliche mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale ebenfalls existierten und normal waren: 92 % der 182 Befragten, die auf diese Frage antworteten, gaben an, dass weder Primar- noch Sekundarschule die Aufklärung über angeborene Geschlechtsunterschiede in einer inklusiven und positiven Weise vermittelt hatte (vgl. Jones 2016: 10). Dieselben Befragten gaben 80 Kommentare über die Sexualerziehung, die sie erhalten hatten, ab. Das stärkste Thema, das sich (in 58 Kommentaren) herauskristallisierte, war, dass im Schulunterricht keinerlei Informationen zu Intergeschlechtlichkeit/Variationen der Geschlechtsmerkmale zur Verfügung gestellt wurden, aber dafür sexuelle Abstinenz, Vorstellungen von Körpernormativität, binäre Geschlechts- und Geschlechtskonstruktionen und reproduktiver, penetrativer »Penis-in-Vagina«-Geschlechtsverkehr zentral im Fokus standen: »Das Geschlecht wurde als eine Binärform von ›XX versus XY‹ beschrieben, unter Ausschluss anderer Möglichkeiten, und es wurden nur Menschen mit einem gesunden Körper dargestellt. Edwina […] sagte zum Beispiel: ›Schulen sind an dieser großen Verschwörung des Schweigens über […] Körper beteiligt, die alles andere waren als voll funktionierende Reproduktionssysteme in generischen männlichen und weiblichen Mustern‹.« (Ebd.) Diese Berichte decken sich mit Berichten von in Deutschland lebenden intergeschlechtlichen Menschen und auch mit einer für Deutschland durchgeführten Analyse von Schulbüchern (vgl. Bittner 2011). Auch die Berichte

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zum Schulabbruch und zu den Hürden, die eine weiterführende Ausbildung schwierig oder unmöglich machen, und die wir aus Deutschland und Europa ebenfalls kennen, finden sich in der australischen Studie wieder: Der Anteil der Teilnehmenden, die nur die Grundschule oder einen niedrigeren Abschluss und keine weiterführende Schule besucht hatten (18 %), war weitaus höher als bei der australischen Allgemeinbevölkerung (2 %). Die Studie kam zu dem Schluss, dass angesichts der Tatsache, dass Australier*innen bis zum Alter von 15-17 Jahren schulpflichtig sind, diese hohe Quote darauf hindeutet, dass Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale mehr Probleme in der Schule bzw. während ihrer Schul- bzw. Pubertätsjahre haben könnten, und dass diese Probleme den schulischen Erfolg verhindern (vgl. Jones 2016: 9). Alle intergeschlechtliche Schulabbrecher*innen gingen in Schulen, in denen Intergeschlechtlichkeit niemals erwähnt wurde, nicht in den Lehrplan integriert war und in denen es kein spezifisches Angebot an Schulberatung gab. Diese Situation wurde durch das hohe Vorkommen von Mobbing verschlimmert, von dem 102 der Befragten berichten (vgl. ebd.: 13f.). Manchmal bezog sich das Mobbing auf die den Mitschüler*innen bekannte Variation bzw. Diagnose; häufiger jedoch geschah es auf der Grundlage bestimmter körperlicher Merkmale, die nicht den Erwartungen entsprachen, etwa körperliche Entwicklung oder Körpergröße der intergeschlechtlichen Schüler*innen, oder auf soziale Faktoren, die direkte Auswirkungen medizinischer Eingriffe oder sozialer Diskriminierung waren, etwa Energiemangel oder Lernstörungen oder auf Fehlzeiten aufgrund von medizinischen Eingriffen. Es überrascht daher nicht, dass 57 % der befragten Personen ihre Intergeschlechtlichkeit nicht gegenüber den Lehrkräften und 48 % nicht gegenüber den Mitschüler*innen erwähnten (ebd.: 12f.). Das Mobbing reichte von wiederkehrenden verbalen Beleidigungen und Schikanen bis zu physischer Gewalt und führte bei manchen Befragten schließlich zum Schulabbruch oder zu Selbstmordgedanken. Die Täter*innen waren hauptsächlich Schüler*innen, gelegentlich aber auch Mitglieder des Lehrkörpers. Hilfe von Seiten der Lehrkräfte bekamen die intergeschlechtlichen Schüler*innen nur in seltenen Fällen. So erhielten 92 % keine Informationen über Intergeschlechtlichkeit in einer positiven Weise (vgl. ebd.: 12ff.). Berichte wie diese gibt es auch in Europa, aber sie waren bislang ausschließlich qualitativer Natur (vgl. z.B. Barth/Böttger/Ghattas/Schneider 2013 und OII Europe 2019). Die Agentur für Grundrechte der Europäischen Union hat 2020 eine Studie veröffentlicht, mit der nun zum ersten Mal Zah-

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

len zur Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen in Europa vorliegen (FRA 2020a und FRA 2020b). Diese Zahlen bestätigen die Berichte intergeschlechtlicher Menschen und zeigen insbesondere, dass die Diskriminierung und Mobbing von intergeschlechtlichen Schüler*innen weiterhin an der Tagesordnung sind. Ein speziell zur Verfügung gestelltes Tool, der LGBTI Survey Data Explorer (FRA 2020b), erlaubt es, tief in die Fragestruktur des Fragebogens vorzudringen und so Ergebnisse ans Tageslicht zu holen, die im gerade erschienen Bericht (FRA 2020a), der sich auf die Gesamtheit des Spektrums LSBTI bezieht, nicht in dieser Detailfülle zu finden sind. Dieses Tool wurde für diesen Artikel genutzt, um Zugriff auf die jüngste der Umfrage zugänglichen Kohorte der 15-17-Jährigen zu erhalten und bezieht sich ausschließlich auf intergeschlechtliche Schüler*innen.6 Deren Antworten zeichnen ein erschreckendes Bild vom Ausmaß der erlebten Diskriminierung und Gewalt, die sehr oft höher ist als die lesbischer, schwuler, bisexueller und sogar transgeschlechtlicher Menschen, und das, obwohl – oder vielleicht gerade weil – intergeschlechtliche Schüler*innen im Erfahrungsraum der Unsichtbarkeit, der Ignoranz und Scham noch weniger Möglichkeit haben, sich Hilfe und Unterstützung zu holen: Von den antwortenden intergeschlechtlichen Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren hatten 14 % Erfahrungen mit körperlichen oder sexualisierten Angriffen in den letzten zwölf Monaten, davon 79 % körperliche und 20 % sexualisierte Angriffe oder eine Kombination aus beiden. Die Täter*innen waren dabei in 46 % der Fälle allein, in 53 % der Fälle jedoch zu mehreren, wobei das Geschlecht der Täter*innen mehrschichtig war: 48 % waren männlich, 23 % weiblich und in 23 % der Fälle waren es gemischte Täter*innengruppen. Über die Hälfte (55 %) der 15-17-jährigen intergeschlechtlichen Befragten hatten Erfahrungen mit verbaler Belästigung und Mobbing gemacht. Auf die Frage danach, wo sie den letzten Vorfall von hassmotivierter Schikane vor Ausfüllen der Umfrage erlebt haben, antworteten 39 %, dass sie diesen in der Schule erlebten und 50 % berichteten, dass die Personen, die sie schikanierten, Personen von eben dieser Schule waren. Deutlich mehr als die Hälfte 62 % waren in den letzten zwölf Monaten vor Ausfüllen der Umfrage durch Schulpersonal diskriminiert worden. Auf die Frage, wem sie den letzten Vor-

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Da aus Datenschutzgründen keine Auswertung nach Ländern erfolgen konnte, zeigen die Zahlen den EU-Durchschnitt. Alle folgenden Zahlen und Ergebnisse sind diesem Tool entnommen (FRA 2020b).

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fall von hassmotivierter Belästigung gemeldet hätten, antworteten 86 %: »An niemanden«. Die Frage danach, wie sich der letzte hassmotivierte Gewaltvorfall auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der 15-17-jährigen intergeschlechtlichen Befragten ausgewirkt habe, beantworteten 59 % damit, dass sie danach Angst hatten auszugehen oder Orte zu besuchen, 56 % berichteten, dass sie psychische Probleme (z.B. Depressionen oder Angstzustände) hatten und 9 %, dass sie ärztliche Hilfe benötigten oder ins Krankenhaus mussten. Gefragt nach der Sichtbarkeit von LSBTIQ+-Themen in der Schule, antworteten 46 %, dass nie darüber gesprochen wurde, 15 % hatten Kontakt zu LSBTIQ+-Themen in der Schule, die jedoch in negativer Weise behandelt wurden, und 13 % hatten sowohl positive als auch negative Erfahrungen. Dies bedeutet, dass 74 % der intergeschlechtlichen Schüler*innen keine Informationen oder nur negative bzw. negativ durchsetzte Informationen zu LSBTIQ+Themen in der Schule bekommen haben. Die in der Schule erfahrene physische und psychische Belastung hindert intergeschlechtliche Menschen oft daran, ihr volles Potenzial zu entwickeln, und führt zu schlechten schulischen Leistungen. Infolgedessen können diese Kinder und jungen Erwachsenen erhebliche Schwierigkeiten haben, einen höheren Bildungsabschluss zu erlangen, und sind im Alter von Armut bedroht. Auf einer ebenso alarmierenden Ebene sind intergeschlechtliche Menschen auch mit Bildungsbeeinträchtigungen konfrontiert, die direkt mit der Verletzung ihrer körperlichen Integrität und mit dem Trauma verbunden sind, das mit unsensibler Kommunikation und Misshandlung durch medizinisches Personal sowie mit dem Tabu und der Scham, die ihnen auferlegt werden, verbunden ist. Die meisten Operationen, die in einem frühen Alter durchgeführt werden, führen im Laufe der Jahre zu mehreren Folgeoperationen. Einige Kinder brechen die Schule als Folge dieses langfristigen Genesungsprozesses ab. Es wurde auch berichtet, dass eine unerwünschte hormonelle Behandlung in der Kindheit oder Pubertät mit dem Ziel, den Körper in Richtung des zugeordneten Geschlechts zu verändern, mit einer Verschlechterung der Schulnoten zusammenfällt (vgl. Ghattas 2019, OII Europe 2019: 19f., Jones 2016: 9). Intergeschlechtliche Personen, denen es gelingt, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, haben immer noch mit den kombinierten Auswirkungen der Menschenrechtsverletzungen, die sie erlebt haben, und der Diskriminierung, der sie im Erwachsenenalter immer noch ausgesetzt sind, zu kämpfen.

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

Den zuvor beschriebenen spezifischen Lebenssituationen von intergeschlechtlichen Jugendlichen auf der einen Seite steht auf der anderen Seite ein eklatanter Mangel an (sozialpädagogischen) Unterstützungsangeboten gegenüber, zumeist verbunden mit fehlendem oder mangelhaftem Wissen und Sensibilisierung auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte. Die Lebenssituation von lsbtiq+ Jugendlichen sind sowohl in der Schule als auch der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt wenig bekannt, Fachwissen und Angebote kaum vorhanden, dies gilt insbesondere für die Situation und Bedarfe von intergeschlechtlichen Jugendlichen (vgl. Landeshauptstadt München 2011, Schmidt/Schondelmayer 2015, Klocke/Salden/Watzlawik 2020). Diese Situation verschärft sich außerhalb der großen Metropolen und in ländlichen Regionen noch, wo Unterstützungs- und Aufklärungsangebote für LSBTIQ+ in der Regel kaum vorhanden sind und oftmals das Internet der einzige Weg für Informationsgewinnung und Austausch mit anderen ist (vgl. Nachtigall/Dieckmann/Salheiser 2019). Während es in der (offenen) queeren Jugendarbeit bereits erste Versuche gibt, Schutz- und Empowermenträume nicht nur für trans*, sondern nun auch für intergeschlechtliche Jugendliche zu etablieren (vgl. hierzu Prasse in diesem Band), z.B. in Form eigenständiger Gruppentreffen, Workshops, Räumlichkeiten, Netzwerke nur für intergeschlechtliche Menschen etc., ist das Thema Intergeschlechtlichkeit im Bereich der Schule und der Schulsozialarbeit häufig (noch) wenig präsent.7 Gerade die Schulsozialarbeit bzw. Soziale Arbeit in der Schule hat jedoch die Möglichkeit aufgrund der in Deutschland geltenden Schulpflicht prinzipiell alle Jugendlichen zu erreichen oder zumindest für diese am Ort Schule direkt ansprechbar zu sein. Sie könnte somit einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung von intergeschlechtlichen Jugendlichen sowie darüber hinaus zur Aufklärung und Sensibilisierung in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit und

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Offene Angebote der Jugendhilfe speziell für intergeschlechtliche Jugendliche scheitern häufig (noch) an mangelnden Teilnehmer*innenzahlen. Dies darf jedoch nicht falsch interpretiert werden, in dem Sinne als gäbe es keine intergeschlechtlichen Jugendlichen. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit den Lebenswelten intergeschlechtlicher Jugendlicher, um zu verstehen, warum an sie gerichtete, offene Angebote von ihnen (noch) nicht ohne weiteres aufgesucht werden (können). Auch hier besteht dringender Forschungsbedarf. Dabei ist es wichtig, genauer hinzusehen und die Unterschiede zwischen intergeschlechtlichen und trans* sowie lsb Jugendlichen – trotz bestehender Gemeinsamkeiten – zu reflektieren.

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intergeschlechtliche Themen, zur Kritik der heteronormativen Ordnung und Förderung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt leisten.

Ergebnisse der Befragung: Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule – Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Schulsozialarbeit Im Folgenden werden wir anhand ausgewählter Ergebnisse der qualitativen Untersuchung zeigen, wie sich die Situation für intergeschlechtliche Schüler*innen an Berliner Schulen (aus Sicht der Schulsozialarbeit) konkret darstellt und welche Erfahrungen und welches Wissen es im Hinblick auf das Thema Intergeschlechtlichkeit allgemein gibt.8

Bestandsaufnahme: Sichtbarkeit, Anerkennung und Unterstützung von intergeschlechtlichen Schüler*innen – nur bei »konkreten Fällen«, ansonsten gilt die Devise »Die gibt’s ja hier nicht« Die Interviews zeigen zunächst, dass die Änderung des Personenstandsgesetzes in den Schulen kaum aufgegriffen oder diskutiert wurde, noch folgten daraus verbindliche Konsequenzen für die Schulentwicklung und Gestaltung des Schulalltags. Die Einstiegsfrage, ob (und wenn ja, wie) die Einführung der »Dritten Option« in der Schule thematisiert wurde, wird von Seiten der Schulsozialarbeit bis auf eine Ausnahme verneint: »Nein gar nicht, Dritte Option, nein gar nicht, also am Gymnasium gar nicht und an der Grundschule sowieso nicht. Also die hängen wirklich hinterher. Also da ist noch nichts zur Dritten Option angekommen. Also da musste ich noch drauf bestehen, dass es nicht immer Schulsozialarbeiter heißt, sondern Schulsozialarbeiter*innen.« (Schulsozialarbeit 1)

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Bei der Befragung wurden unterschiedliche Schultypen (Grundschule, Oberschule, integrierte Sekundarstufe, Gymnasium) und verschiedene Berliner Stadtbezirke berücksichtigt. Zwei der Befragten sind an jeweils zwei Schulen tätig; zwei weitere Personen übernehmen zusätzlich koordinierende bzw. Leitungsfunktionen. Die sieben leitfadengestützten qualitativen Interviews mit pädagogischen Fachkräften (sechs Schulsozialarbeiter*innen und eine Lehrkraft) wurden inhaltsanalytisch im Anschluss an Mayring (2015) ausgewertet und die Ergebnisse im Sinne einer partizipativen Feedbackschleife mit Vertreter*innen der Community diskutiert.

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

  »Thema war es, einmal, das war letztes Jahr am Gymnasium. Bei der Aufnahme der neuen Schüler*innen gab es ein Kind, das begleitet wurde von einem Elternteil, das sich weder männlich noch weiblich verortet hat. Und da gab es bei der Schulsekretärin zum ersten Mal ein Chaos im Kopf, weil diese Anmeldebögen halt dazu nichts Verbindliches hatten und sie dann nicht wusste wohin mit dem Kreuz. Und dann fragte sie mich, ob sie die Person dann anstatt von ›Herr sowieso‹ oder ›Frau sowieso‹ mit ›Divers … › ansprechen sollte.« (Schulsozialarbeit 5) Und auch allgemeiner gefragt nach der Thematisierung und Sichtbarkeit von Intergeschlechtlichkeit in den Schulen und dem Arbeitsalltag der Schulsozialarbeit wird das Thema im Vergleich mit anderen Kategorien geschlechtlicher und sexueller Vielfalt sehr nachrangig behandelt oder kommt gar nicht vor: »Grundsätzlich, kann ich hier jetzt nicht so nur von einer Schule sprechen – sondern ich betreue 15 Schulen, dementsprechend krieg‹ ich viele Eindrücke. Grundsätzlich merk‹ ich aber, dass es tatsächlich kein Thema ist.« (Schulsozialarbeit 2) Am ehesten werde in der Schule über Homosexualität und die Vielfalt von Sexualitäten gesprochen, z.B. die Möglichkeit schwul oder lesbisch zu sein, thematisiert. Dies erfolgt nach Aussage aller Befragten fast ausschließlich im Kontext des Fachs »Soziales Lernen«. Darüber hinaus wird verbale Diskriminierung als Anlass genannt, sich mit dem Thema (Homo-)Sexualität zu beschäftigen und Position gegen Diskriminierung zu beziehen. Weitere Formen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, insbesondere Trans* und Intergeschlechtlichkeit, scheinen unbekannt, wobei die verschiedenen queeren Kategorien und Lebenserfahrungen häufig synonym verwendet werden oder (wie auch in dem Zitat unten) durcheinandergeraten. »Homosexualität wird schon öfters mal thematisiert, allein schon, weil es so in dem Sprachgebrauch drin ist: ›Du bist doch schwul‹ oder sowas. Wenn dann sowas kommt wie ›Ey Schwuli‹ oder so, dass das dann thematisiert wird: Was bedeutet das denn überhaupt und warum wird das jetzt abwertend benannt? Also das ist thematisch viel offener und transparenter, würde ich sagen, und schon viel mehr drin als jetzt das Thema Queer. Da gibt es jetzt diesbezüglich nicht so große Themenvielfalt, sondern es geht nur darum zu sagen, es ist total okay, homosexuell oder lesbisch zu sein.« (Schulsozialarbeit 4)

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  »Ich würde sagen so zu 80 %, ist das nicht so’n Thema. An einer Schule speziell, weil es da so einen Fall gibt, ist die intergeschlechtliche Vielfalt da, weil ein Kind genau diesen Fall hatte, wo es sich im falschen Körper befindet. Und sich selber finden musste und da Hilfe brauchte.« (Schulsozialarbeit 3) Insgesamt wird von einer großen Unsicherheit bei den Lehrkräften berichtet, wie sie das Thema geschlechtliche Vielfalt insbesondere Intergeschlechtlichkeit am besten im Unterricht aufgreifen können. »Häufig ist da geschlechtliche Vielfalt dann einfach nur Bienen und Blumen. Ist ja immer auch eine Sache, wie man das dann thematisiert. […] Ja da gibt es dann so Fälle, in Bio, so habe ich das auch mitbekommen: ›Ja Schnecken sind ja auch zweigeschlechtlich, das gibt’s halt.‹ Dann wird das halt so thematisiert, aber nicht mit Fallbeispielen, die vielleicht auch Kinder und Menschen angehen.« (Schulsozialarbeit 4) Die Interviews bestätigen, was auch in anderen Studien bereits festgestellt wurde (vgl. Klocke/Salden/Watzlawik 2020): In schulischen Kontexten bewegt sich häufig erst dann etwas, wenn einzelne »Fälle« bekannt werden, wenn sich also einzelne Schüler*innen als lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intergeschlechtlich oder queer »outen« oder geoutet werden und damit »sichtbar« werden. Erst dann scheint ein Handlungsbedarf unmittelbar einleuchtend. Zwei der Befragten berichten jeweils von so einer »Schlüsselsituation«, einem »ersten Fall« von Intergeschlechtlichkeit, der dann dazu führte, dass sich Schule und Schulsozialarbeit dem Thema geschlechtliche Vielfalt überhaupt angenommen und erste Strategien zum Schutz und zur Antidiskriminierung entwickelt habe. So lange dies jedoch nicht passiert, es vermeintlich keine »Fälle« von intergeschlechtlichen (oder lsbtq+) Schüler*innen gibt, passiert zumeist – nichts. Es herrscht die Devise »Die gibt’s ja hier nicht« (Schulsozialarbeit 3). Doch nicht nur auf Seiten der Schule, zum Teil auch innerhalb der Sozialen Arbeit an Schulen ist die (Fehl-)Einschätzung, »solche Schüler*innen gibt’s hier nicht«, weit verbreitet: »Und was ich so schlimm finde ist, dass die Erwachsenen seitens Schule das dann immer damit begründen: ›Wir haben ja nichts Akutes gerade, wir haben ja keinen Schüler oder Schülerin, die das betrifft‹. Und dabei gar nicht merken, dass das ja auch so Vieles verbaut.« (Schulsozialarbeit 1)   »Mit dieser Frage nach den Toiletten, bin ich damals so gestartet. Da hieß es

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

dann auf meine Nachfrage von der Schulleitung: ›Also wenn das halt dann notwendig ist, können wir ja dann eine Toilette für alle umbenennen, aber jetzt ist es ja nicht notwendig‹.« (Schulsozialarbeit 5) Die Diskriminierungserfahrungen und Bedarfe von intergeschlechtlichen (und lsbtiq+) Schüler*innen werden im Gegensatz zu anderen sozialen Problemen im Schulkontext häufig als nachrangig oder ›Luxusprobleme‹ angesehen, aber nicht als strukturelles und institutionelles, allgegenwärtiges Phänomen. Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen von lsbtiq+ Schüler*innen werden damit negiert. Insbesondere dann, wenn Kinder und Jugendliche sich ›unauffällig‹ verhalten, besteht die Gefahr, sie zu übersehen und ihre Nöte und Sorgen nicht ernst zu nehmen. Dass dabei Diskriminierungs- und Mobbingerfahrungen von Schüler*innen, die der heteronormativen Ordnung vermeintlich nicht entsprechen, ebenso in Aggression und auffälliges Verhalten umschlagen können, bleibt ebenfalls unbemerkt. Bisweilen kommt es zu einer problematischen und falschen Gegenüberstellung von ›unauffälligen‹ lsbtiq+ Jugendlichen und ›auffälligen‹ bzw. den Unterricht störenden ›ausländischen‹ Jugendlichen, die in dieser rassistischen Lesart prinzipiell als nicht-queer und/oder als homo-/trans-/ interfeindlich wahrgenommen werden. So antwortet eine der interviewten pädagogischen Fachkräfte auf die Frage, warum queere Themen in Schule und Unterricht so selten aufgegriffen werden: »Weil die dann sagen: ›Naja, haben wir ja noch nicht, so Kinder, was sollen wir denn manchen, wir haben doch genug Probleme hier mit unseren ausländischen Kindern. Die sind doch jetzt gerade problematisch. Wir müssen ja hier Unterricht machen und so.‹« (Schulsozialarbeit 3) Im gängigen ›Warten auf den ersten Einzelfall‹ zeigt sich eine fehlende Sensibilisierung und völliges Verkennen dessen, was Diskriminierung ist und wie strukturelle und institutionelle Diskriminierung funktioniert. Denn auch das hartnäckige Nicht-Sehen-Wollen oder Leugnen, dass es intergeschlechtliche Schüler*innen gibt, ist eine Form der Diskriminierung durch Unsichtbarmachung und Ignoranz. Zudem kommt es zu einer problematischen Verschiebung der Verantwortung auf die einzelnen Kinder und Jugendlichen. Denn es sind Schule und Jugendhilfe – und nicht die Schüler*innen – dafür verantwortlich, dass die Schule zu einem Ort wird, der Bildung für alle ermöglicht, Schutz vor Diskriminierung bietet und alle Menschen gleichermaßen wert-

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schätzt und in ihrer individuellen Entwicklung fördert (siehe für die Soziale Arbeit: § 1 SGB VIII und für Berlin § 2 SchulG): »Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung ungeachtet insbesondere einer möglichen Behinderung, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen Zuschreibung, des Geschlechts, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung, des Glauben, der religiösen oder politischen Anschauungen, der Sprache, der Nationalität, der sozialen und familiären Herkunft seiner selbst und seiner Erziehungsberechtigten oder aus vergleichbaren Gründen.« (§ 2 Abs. 1 SchulG Berlin) Das Recht auf Bildung und Antidiskriminierung ist darüber hinaus in den UN-Menschen- und Kinderrechtskonventionen fest verankert. Demnach besteht für Schule und Schulsozialarbeit ganz grundsätzlich und unabhängig vom Einzelfall der Auftrag, sich mit Diskriminierung zu befassen und geeignete Maßnahmen zum Abbau zu ergreifen. Dieser Vorgabe steht in vielen Fällen eine schulische Realität gegenüber, die diesen Rechtsanspruch weder umsetzt, noch den notwendigen Schutzraum für von Diskriminierung betroffene Schüler*innen herstellt. »Ich bin mir sogar sicher, dass sich hier ganz viele Schüler*innen nicht outen, weil die sich ja auch denken: ›So’n scheiß, dass ist hier eh so ein gewaltvoller Raum, Schule, da will ich mich ja nicht noch mehr gefährden.‹« (Schulsozialarbeit 1) Es ist somit ganz entscheidend, geschlechtliche (und sexuelle) Vielfalt immer und als Querschnittsaufgabe mitzudenken: Schulsozialarbeiter*innen und Lehrkräfte müssen davon ausgehen, dass intergeschlechtliche (und auch trans*, genderqueere etc.) Kinder und Jugendliche anwesend sind, auch wenn bzw. gerade weil sie meistens nicht geoutet und deshalb unsichtbar sind.

Möglichkeiten und Methoden für die Unterstützung intergeschlechtlicher (und lsbtiq+) Jugendlicher, die Förderung geschlechtlicher Vielfalt und den Abbau von Diskriminierung durch die Schulsozialarbeit Intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche machen die Erfahrung, dass sie im Unterricht, den Inhalten, Lehrbüchern, Medien, Materialien der Schule sowie im Schulalltag so gut wie nie vorkommen; fast immer ist nur von

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

»Mädchen« und »Jungen« die Rede. »Nicht nur der Sachkundeunterricht verfestigt bisher die Vorstellungen einer eindeutigen Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Dies ruft bei inter* Kindern starke Gefühle von Scham und Selbstzweifel hervor.« (Feuge 2020: 12f.) Schulsozialarbeit nimmt daher eine bedeutende Rolle bei der Unterstützung intergeschlechtlicher Jugendlicher und der Förderung und Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt ein. Sie kann Dinge ins Rollen bringen, die sonst im Schulalltag nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Handlungsoptionen und Methoden der Schulsozialarbeit lassen sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen – Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Schulentwicklung – verorten (vgl. Kastirke/Holtbrink 2016).

Ebene der Einzelfallhilfe: Beratung, Unterstützung und Empowerment von intergeschlechtlichen Schüler*innen und ihren Angehörigen Aus den Schilderungen der befragten Schulsozialarbeiter*innen wird deutlich, wie wichtig die individuelle Beratungs- und Unterstützungstätigkeit durch die Schulsozialarbeit – im besten Falle in Kooperation mit den Lehrkräften – sein kann. In dem bereits oben erwähnten »ersten Fall« von Intergeschlechtlichkeit war es die Schulsozialarbeit, die das Kind begleitet und unterstützt hat und zudem (nach Rücksprache mit dem Kind) die Eltern beraten und an eine Beratungsstelle in Berlin weiter verwiesen hat. »Also die Klassenlehrer haben da viele gemunkelt und geredet und die Schulsozialarbeit hat sich dem Kind dann angenommen und ein Vertrauensverhältnis geschaffen, so dass das Kind eigentlich sehr offen reden konnte. Also vorher war es tatsächlich nicht so offen kommuniziert, aber bei der Kollegin dann schon.« (Schulsozialarbeit 2)   »Da war dann die Schulsozialarbeit natürlich total dahinter, und hat versucht Netzwerkpartner zu akquirieren, und beim Sozialen Lernen in die Klassen zu gehen und da für Unterstützung zu sorgen.« (Schulsozialarbeit 3)   »Auch bei dem Fall, den ich da genannt hatte, waren die Eltern sehr verunsichert, und wussten damit gar nicht umzugehen. Die hatten mit so einer Offenheit fast größere Probleme als das Kind selber. Also die Eltern auch mit stärken, das ist total wichtig.« (Schulsozialarbeit 2) Wie auch in diesem Fall dient die individuelle Beratung häufig dazu, zunächst einmal Diskriminierungsstrukturen innerhalb der Schule überhaupt erst auf-

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zudecken und in Folge systematischer zu betrachten und geeignete Maßnahmen zum Umgang und Abbau von Diskriminierung zu entwickeln. Entscheidend ist, den Blick über den ›Einzelfall‹ hinaus auf die Mechanismen struktureller und institutioneller Diskriminierung zu richten. Das Thematisieren von Diskriminierung sollte dabei nicht ohne Absprache und Einverständnis der betroffenen Person erfolgen, erst recht, wenn ein direkter Bezug hergestellt wird. Ansonsten besteht die Gefahr, die diskriminierte Person bei der Thematisierung der Diskriminierung zum Objekt zu machen, indem lediglich ›über‹ sie gesprochen wird oder diese gar ungefragt als Fallbeispiel präsentiert wird (vgl. Klocke/Salden/Watzlawik 2020: 55). Um lsbtiq+, insbesondere intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche, bestmöglich unterstützen und beraten zu können, sind der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, Zeit, Offenheit und Empathie unerlässlich. Vertraulichkeit ist besonders wichtig, wenn die Intergeschlechtlichkeit eines Kindes oder Jugendlichen bekannt wird. Die Person sollte selbst entscheiden können, ob und wem sie davon erzählen und welche Informationen sie Preis geben möchte. Zudem ist es wichtig, die Namen und Pronomen, die die intergeschlechtliche Person für sich selbst wählt, zu akzeptieren und konsequent zu verwenden. Eine solche professionelle Haltung setzt nicht nur Wissen und Sensibilisierung in Bezug auf geschlechtliche Vielfalt, sondern auch um die Besonderheiten und Spezifika von Intergeschlechtlichkeit voraus: z.B. ein Wissen um die Unterschiede und um manche Gemeinsamkeiten zwischen intergeschlechtlichen und transgeschlechtlichen Menschen, die Unterscheidung zwischen geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, Wissen um die besonderen Bedarfe und Bedürfnisse von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen sowie die Fähigkeit zu intersektionalen Analysen. Auch ein umfangreiches Verweisungswissen (Wissen welche Einrichtungen zum Thema Intergeschlechtlichkeit beraten, welche Treffpunkte und Selbstvertretungen intergeschlechtlicher Menschen es gibt, an die bei Bedarf weiter verwiesen werden kann) und ggf. traumapädagogisches Wissen sind für die sozialpädagogische Praxis essentiell. Letzteres ist wichtig, weil intergeschlechtliche Jugendliche durch Operationen und andere medizinische Eingriffe und das daraus resultierende Leid traumatisiert sein können (s.o.). Hinzu kommen Traumata durch die Unsichtbarmachung der Existenz intergeschlechtlicher Menschen in allen Lebensbereichen. Die Stärke der Schulsozialarbeit liegt darin, dass sie über andere Möglichkeiten und Methoden verfügt, Kinder und Jugendliche individuell zu unterstützen, als die Schule sie in der Regel hat. Schulsozialarbeit besitzt größere

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

zeitliche Ressourcen, z.B. für die Beratungsarbeit, und ist niedrigschwelliger. Sie kann sich dabei auf grundlegende Prinzipien einer menschenrechtsbezogenen und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit stützen, die Kinder und Jugendliche nicht in erster Linie als Schüler*innen betrachtet, sondern als junge Menschen in ihrer je eigenen und besonderen Lebenswelt, mit ihren individuellen Stärken und Ressourcen, die es zu fördern gilt. Ziel einer schulsozialarbeiterischen Beratung ist somit nicht (allein) Bildungserfolg, sondern Schüler*innen in ihrer aktuellen Lebenssituation zu unterstützen, zu empowern und zu helfen, ggf. mit Diskriminierungserfahrungen umzugehen sowie die Lernbedingungen der Schüler*innen insgesamt zu verbessern. Partizipative und/oder Peer-to-peer-Projekte sind wichtig, damit lsbtiq+ Kinder und Jugendliche sich als selbstwirksam erfahren können und sich in geschützten Räumen möglichst angst- und diskriminierungsfrei begegnen, vernetzen und unterstützen können (vgl. Bochert/Focks/Nachtigall 2018). Die Einrichtung besonderer (Schutz-)Räume für LSBTIQ+ wäre eine Möglichkeit, so wurde z.B. an einer Berliner Schule (Schule 6) von einer Lehrkraft eine »Queer-AG« für Schüler*innen gegründet, die sich einmal in der Woche in den Räumen der Schulsozialarbeit trifft. Darüber hinaus ist wichtig, dass die Schulsozialarbeit explizit deutlich macht, dass sie für das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ansprechbar und offen ist, vertraulich und parteilich im Sinne des Kindes/Jugendlichen (und nicht der Lehrkräfte) agiert.

Ebene der Gruppenarbeit: Soziales Lernen und Projektarbeit, Aufklärung und Sensibilisierung für geschlechtliche Vielfalt Wie aus den Interviews deutlich wurde, wird geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Schule, wenn überhaupt, zumeist auf freiwilliger Basis und im Kontext des Fachs Soziales Lernen thematisiert, wobei der Fokus häufig nur auf sexueller Vielfalt liegt. Soziales Lernen wird häufig als Kooperation von Lehrkräften und Schulsozialarbeit durchgeführt, daher bietet sich hier eine gute Gelegenheit, das Thema in der Sozialen Gruppenarbeit aufzugreifen und damit der Tabuisierung von Intergeschlechtlichkeit entgegen zu wirken. Die befragten Schulsozialarbeiter*innen berichten jedoch auch, dass die Etablierung des Sozialen Lernens in allen Klassenstufen für sich genommen bereits ein »Kampf« sei und dass das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt häufig zu kurz komme, weil andere Themen und »Probleme« nicht nur viel präsenter sind, sondern auch als dringlicher angesehen werden. Für Prävention bleibe stets zu wenig Zeit.

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Um Kinder und Jugendliche dafür zu sensibilisieren, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, stehen verschiedene Bildungsmaterialien zur Verfügung, die sich bereits an Grundschulen richten, z.B. das Kinderbuch »PS: Es gibt Lieblingseis« (Loda 2018) und das pädagogische Begleitheft von Queerformat (2018, weitere Hinweise am Ende dieses Beitrags). Wie oben bereits angesprochen, sind Lehrkräfte und Schulsozialarbeit häufig überfordert und fühlen sich unsicher mit dem Thema. Hilfreich könnte es hier sein, externe Expert*innen, z.B. von OII Germany oder Queerformat in die Schule einzuladen und selbst Fortbildungen zu besuchen. Auch Projektwochen und Projekttage können genutzt werden, um das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt aufzugreifen; der zentrale Impuls kommt auch hier häufig aus der Schulsozialarbeit. So wurde z.B. an Schule 6 der Projekttag im Rahmen des Bundesprogramms »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« genutzt, um u.a. Workshops zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt durchzuführen und verschiedene Akteur*innen aus der queeren Bildungsarbeit einzuladen. Die Schulleitung hatte dieses Vorhaben zunächst begrüßt, dann aber die Verantwortung an die Schulsozialarbeit abgegeben, als »besorgte Eltern« sich beschwert hatten. Das Lehrpersonal kann jedoch auch (un)bewusst die »Sorge« der Eltern teilen: »Da war dann voll viel Frust da, wie geht man jetzt mit den Eltern um, die dann voll aggro zur Schule kommen werden, und sich beschweren werden, was ihren Kindern da für einen ›Scheiß‹ beigebracht wird. Da wurde dann auch nochmal deutlich, dass nicht nur die Lehrer*innen in Abwehr sind, sondern auch Angst vor den Eltern haben, weil sie halt auch denken, die Eltern haben Recht damit.« (Schulsozialarbeit 6) Die Interviews zeigen, wie wichtig es daher bei solchen Vorhaben ist, dass Schule und Schulsozialarbeit an einem Strang ziehen. Die Hälfte der Befragten wusste jedoch nicht, dass z.B. der Berliner Rahmenlehrplan hierbei eine wichtige Orientierung auch für die Schulleitung bietet: Bereits seit 2001 gibt dieser die Thematisierung verschiedener sexueller Orientierungen fächerübergreifend vor und fordert, dass die Interessen von Jungen und Mädchen und weiteren Geschlechtern berücksichtigt werden sollen.

Intergeschlechtlichkeit und »Dritte Option« im Kontext Schule

Ebene der Schulentwicklung: Aufklärung und Information zum Thema Intergeschlechtlichkeit, Entwicklung eines inter-inklusiven und queerfreundlichen Schulklimas Auch auf institutioneller und organisationsbezogener Ebene spielt Schulsozialarbeit eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt zu fördern. Alle befragten Schulsozialarbeiter*innen bringen sich aktiv und regelmäßig in die Schulentwicklung ein und arbeiten in entsprechenden Gremien der Schule mit und/oder suchen regelmäßig das Gespräch mit der Schulleitung. Dabei sehen sie es als zentrale Aufgabe der Schulsozialarbeit an, dass das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt präsent bleibt, indem sie es auch ohne konkrete ›Anlässe‹ regelmäßig auf die Tagesordnung bringen. Schulsozialarbeit bringt sich hier mit konkreten Vorschlägen, z.B. Themen für Projektwochen, räumliche und bauliche Gestaltung der Schule sowie der Unterrichtsinhalte ein, liefert weiterführende Informationen oder stellt Materialien zum Thema LSBTIQ+ bereit – und leistet damit einen wichtigen Beitrag, um geschlechtliche Vielfalt sichtbar(er) zu machen und insbesondere für die Situation von intergeschlechtlichen Jugendlichen zu sensibilisieren. »Ich habe die Zahl jetzt nicht mehr im Kopf, aber ich hatte sie mal im Kopf, die Zahl der Neugeborenen, an denen Operationen durchgeführt wurden. Ich war da selber mal so schockiert davon, dass ich dann halt durch die Schule gerannt bin und diese Zahl quasi jedem aufgedrückt habe. Und ich hab‹ dann auch versucht, das den Bio-Lehrer*innen zu sagen, hey, benutzt das doch mal, macht doch mal was dazu, geht doch da mal irgendwie mit um, mit den Zahlen. […] Oder das Kinderbuch und die fertigen Unterrichtsbausteine von Queerformat, das stand ja auch im Newsletter von Queerformat, das habe ich dann an die Lehrer*innen weitergegeben.« (Schulsozialarbeit 1) Dabei sehen sich einige der Befragten oftmals in der Rolle der ›Einzelkämpfer*in‹, fühlen sich von der Schulleitung allein gelassen oder müssen gegen Vorbehalte und teils massive Widerstände von schulischer Seite ankämpfen. Andere wiederum berichten, dass ihr Engagement sehr wertgeschätzt wird und sie als zentrale Ansprechpersonen für alle Fragen aus dem Bereich geschlechtliche und sexuelle Vielfalt fungieren. Ihre Expertise ist sowohl von der Schulleitung und Verwaltung als auch von Seiten der Lehrkräfte regelmäßig gefragt, etwa wenn es Unsicherheiten bezüglich der korrekten Anredeformen

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gibt. Schulsozialarbeit greift wie hier aktuelle Anlässe und Verunsicherungen auf und macht Vorschläge für Weiterbildungsangebote: »Also das war dann halt einmal Thema [Hintergrund war eine Irritation im Schulsekretariat beim Umgang mit Anmeldeformularen und korrekter Anrede bei einem nicht-binären Elternteil, s.o.], was ich dann auch genutzt habe, um dahingehend zu arbeiten und alle zu mobilisieren, dass da alle Personen der Schule ja vielleicht auch nochmal eine, wenigstens kurze Fortbildung zu machen. Und ich habe das da dann auch schon mit der gesetzlichen Änderung versucht zu begründen. Und habe extra betont und mich mit eingenommen, dass es ja gut wäre, wenn wir alle dazu ein bisschen mehr wüssten. Also ich habe mich da bewusst mit ins Boot genommen. Also alle, die an diese Schule tätig sind, sollten ja wenigstens dazu ein paar Basics wissen und kennen. Das kam dann aber allerdings nicht sooo gut an, vor allem bei den älteren Kolleg*innen. Also, dass sich offiziell die Schulleitung dem dann angenommen hätte, oder was mobilisiert hätte, nein, dazu kam dann leider nichts.« (Schulsozialarbeit 5) Hitzige Diskussionen in Schulgremien gab es den Befragten zufolge, wenn es um bauliche Maßnahmen geht, z.B. die Einrichtung von All-gender-Toiletten und Umgestaltung von Sportumkleideräumen, die jedoch meist wenig erfolgreich waren, weil der konkrete Handlungsbedarf geleugnet wurde. Dissens gab es an mehreren Schulen auch zum Thema geschlechtergerechte Sprache, insbesondere zur Frage, wie Formulare und Anredeformen so zu gestalten sind, dass nicht nur Männer und Frauen, sondern auch nicht-binäre Personen angesprochen werden, so z.B. bei automatischen Abwesenheitsnotizen in Emails. Die Schulsozialarbeit hat in diesem Fall konkrete good-practiceBeispiele von anderen Schulen und Hochschulen zusammengetragen und der Schulleitung konkrete Vorschläge für geschlechtsneutrale Formulierungen in Dokumenten und Schriftverkehr unterbreitet. An einer anderen Schule war die Schulsozialarbeit aktiv, um die rechtlichen Voraussetzungen, die für eine Namensänderung auf Zeugnissen gegeben sein müssen, zu recherchieren und Erfahrungen von anderen Schulen einzuholen. Auch wenn es um die Klärung von Aufgaben und Funktionen geht, z.B. die Benennung einer »Kontaktperson für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt/Diversity«, wie sie für alle Berliner Schulen vorgesehen ist, kann Schulsozialarbeit auf die Schulentwicklung Einfluss nehmen. So hat die Schulsozialarbeit an einer Schule erfolgreich, durch unermüdliches Nachfragen bei der Schulleitung und ›Werbung‹ bei den Lehrkräften, darauf hinwirken können,

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dass die Stelle der Kontaktperson, nachdem sie lange Zeit vakant war, endlich neu besetzt wurde. Die Kontaktperson stellt auch für die Schulsozialarbeit eine wichtige Kooperations- und Ansprechpartner*in dar und kann, wenn die Zusammenarbeit gut funktioniert, eine wichtige Verbündete in schulischen Entwicklungsprozessen sein, wenn es um das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt geht. Jedoch schildern zwei der Befragten auch erhebliche inhaltliche Differenzen und Konflikte zwischen Schulsozialarbeit und der Kontaktperson-Lehrkraft. Von allen Befragten wird betont, wie wichtig es sei, sich im Schulalltag immer wieder klar gegen Diskriminierung zu positionieren. Dies bedeutet nicht nur einzuschreiten, wenn es zwischen den Schüler*innen zu Diskriminierung kommt, sondern auch mit den Lehrkräften ins Gespräch zu gehen: »Ja, ich glaube, Haltung zeigen ist ganz ganz wichtig. Einschreiten, wenn ich da was sehe, auch bei Lehrern gegenüber. Also das macht dann vielleicht keinen Sinn, direkt zu sagen: Also war gerade doof, wie du dich verhalten hast. Aber wenigstens sagen: Du, ich habe da was gesehen, womit ich ein Problem habe, lass uns mal irgendwann später darüber reden, ich wollte dir das nur sagen. Dann hat man wenigstens in dem Moment ein klares Statement gesetzt: Ich hab’s gesehen. […] Also da bin ich wie ein wandelndes Mahnmal denke ich mal. Also man sagt ja auch, Schmiede das Eisen, solange es heiß ist. Also da spielt der Zeitfaktor auch eine Rolle. Aber ich benenne es trotzdem, ich benenne das schon mal, und suche dann nochmal das Gespräch.« (Schulsozialarbeit 2) Insgesamt gestaltet sich die Kooperation zwischen Schule und Sozialer Arbeit mit Blick auf das Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt an den befragten Schulen höchst unterschiedlich. Neben den angesprochenen Konfliktlinien gibt es auch Beispiele für eine produktive, gemeinsame Antidiskriminierungsarbeit, z.B. an Schule 7: Hier arbeiten Schulleitung, Lehrkräfte und Schulsozialarbeit gemeinsam an der Erstellung eines umfassenden Antidiskriminierungskonzepts für die Schule, in dem auch der Diskriminierungsschutz von LSBTIQ+ einen zentralen Stellenwert einnimmt. In regelmäßigen Treffen werden konkrete Strategien und Maßnahmen diskutiert, wobei auch Eltern und Schüler*innen in die Auseinandersetzung einbezogen werden. Die Initiative zu diesem Konzept ging hier von einer sehr engagierten Lehrkraft aus, die zugleich die »Kontaktperson« an der Schule ist. Schulsozialarbeit kann, so lässt sich zusammenfassen, wenn die Zusammenarbeit mit der Schule gut funktioniert, ganz erheblich zu einer gemeinsa-

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men Praxis geschlechtlicher Vielfalt und einem inter*-inklusiven und queerfreundlichen Schulklima beitragen. Immer wieder wird die wichtige Rolle der Schulleitung betont, die – je nachdem, wie diese (persönlich) zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt steht – Prozesse sehr stark beeinflussen und beschleunigen, oder eben auch blockieren kann. Darüber hinaus gibt es weitere, auch strukturelle Faktoren, die die Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe erschweren.

Strukturelle Probleme zwischen Schule und Sozialer Arbeit und Notwendigkeit verbindlicher Vorgaben zur Förderung geschlechtlicher Vielfalt – »von alleine geht gar nichts« Hintergrund vieler Konflikt- und Reibungspunkte bilden die verschiedenen Kompetenz- und Zuständigkeitsansprüche von Schule im Gegensatz zur Schulsozialarbeit: Die Schule als eine gesellschaftlich unverzichtbare, gewichtige Profession und zudem hierarchisch organisierte Organisation sieht ihren Hauptauftrag traditionell in (formaler) Bildung. Schulsozialarbeit als Teil der Jugendhilfe setzt auf individuelle Förderung und ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung und gestaltet eher informelle Bildung(sanreize) (vgl. Kooperationsverbund Schulsozialarbeit 2015, Speck 2014). Wenn Schulsozialarbeit sich zu sehr in die Belange der formalen Bildung und Schulentwicklung einbringt, wird dies häufig als fachfremde und unzulässige Einmischung und Kritik empfunden. Widerstände und Abwehrhaltungen können die Folge sein: »Ich versuche auch mit der Schulleitung zu besprechen, was das halt auch mit Kindern macht, wenn Teile der Identität nicht rauskommen können und wenn sich ein Kind so nicht gesehen fühlt und so weiter. Die Gespräche habe ich immer mal wieder und hoffe irgendwann kommt das halt auch mal an. Aber irgendwie ist die auch… Ja, resistent. Die checkt schon, dass da auch was dran sein könnte. Aber ich habe den Eindruck, wenn sie sich zu sehr auf das, was ich von ihr will, einlassen würde, würde halt ihr ganzes Selbstbild zusammenfallen.« (Schulsozialarbeit 5) Die Interviews lassen teilweise strukturell bedingte Frust- und Ohnmachtsgefühle erkennen, da die Schule zahlenmäßig, personell und finanziell deutlich besser ausgestattet ist und daher über mehr Macht und Entscheidungsbefugnisse verfügt als die Schulsozialarbeit. Dies zeigt sich auch an einem Konflikt um die Kontaktperson für LSBTIQ+, die selbst durch homo*- und transfeind-

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liche Äußerungen aufgefallen war. Dieses Beispiel macht außerdem deutlich, dass es keine klaren Rahmenvorgaben und »Qualitätsstandards« für die Stelle der Kontaktperson von Seiten des Berliner Senats gibt, die als verbindlich angesehen werden und überprüfbar sein sollten. »Also an der Grundschule ist die Kontaktperson für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt selbst voll homo- und transphob und die Schulleitung hat sie nicht von dieser Stelle zitiert. Es wurden dann z.B. vertrauliche Gespräche geführt, dass die Person von dieser Stelle wegkommt. Aber es gibt halt keine Handlungsbefugnis, das ist halt auch superschräg, was da läuft. Und das war auch für mich da sehr enttäuschend, dass man da gar nichts machen kann. Also auch darüber, dass Lehrer*innen letztendlich doch so viel Macht haben. Also da müsste jetzt erst was ganz Krasses passieren, bis man da eventuell was machen kann. Daher bin ich jetzt mittlerweile doch manchmal für etwas Angeordnetes, Richtlinien, Qualitätsstandards, sowas.« (Schulsozialarbeit 1) Alle befragten Fachkräfte betonten nachdrücklich, dass es rechtliche und verbindliche Vorgaben »von oben« benötige, um wirklich etwas zu verändern und wünschen sich eindeutige und ganz konkrete gesetzliche Aufträge und Richtlinien etwa vom Berliner Senat: »Abwehr ist ja sowieso da, aber ich hätte nie gedacht, dass ich sowas mal sagen würde, aber nach fast fünf Jahren an den Schulen denke ich: Ja, es müsste mehr Vorgaben von oben geben, dass zumindest die Schulsekretär*innen zumindest so Basics an Fortbildungen bekommen. Aber vor allem bei den Schulleitungen und Lehrer*innen müsste eine Sensibilisierung viel stärker noch passieren.« (Schulsozialarbeit 5)   »Also ich fände halt gut, wenn rüberkommt, dass meine Forderung, ich bin halt dafür, dass etwas verordnet wird, dass es eine gesetzliche Regelung gibt, was Schulleitung und Schule machen müssen, auch daherkommt, dass sich da einfach auch Frust aufgebaut hat, dass das daher kommt, dass die Realität einfach so furchtbar ist und ich grundsätzlich eigentlich keine Person bin, die sagt, alles soll angeordnet werden.« (Schulsozialarbeit 6) Schulsozialarbeit fungiert im Idealfall als kritisches Korrektiv, das schulinterne Abläufe aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann, wobei jedoch nicht vergessen werden darf, dass queere Perspektiven auch in der Schulsozialarbeit – wie auch der Sozialen Arbeit im Ganzen – längst nicht überall selbstverständlich und fest verankert sind. Bemängelt wird daher von vielen

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der Interviewten auch, dass es keine feste Verankerung in der Ausbildung und im Studium von Lehrkräften und Sozialarbeiter*innen zu den Themen LSBTIQ+ gibt: »Eigentlich müsste es doch in der Lehrer*innenausbildung oder spätestens im Referendariat einen Input zu den Themen geben. Wahrscheinlich müsste man dann mit Fakten, also mit Zahlen und Statistiken anfangen, um einfach nochmal deutlich zu machen, hey, es ist ja nicht irgendwie ein Randthema, es ist halt nicht unwichtig. Um halt nochmal deutlich zu machen wie wichtig das halt ist. Um mal zu hören, wie viele Menschen sich erst im Erwachsenenalter oder gar nicht outen und wie viele Leute auch die Schulzeit als Qual gesehen haben, weil sie sich nicht mit ihrer kompletten Identität oder der geschlechtlichen Identität, die ihnen bis dahin bewusst war, zeigen konnten.« (Schulsozialarbeit 1)

Fazit und Handlungsempfehlungen Die Ergebnisse zeigen, dass auch die letzte Änderung des Personenstandsgesetzes bislang nicht zu einem grundlegenden Umdenken in Jugendhilfe und Schule geführt und die pädagogischen Bemühungen um Ankerkennung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt nennenswert weiter nach vorne gebracht hat. Obwohl sich aus der neuen gesetzlichen Regelung ein Handlungsauftrag – eigentlich – zwingend ergibt, wird trotzdem vielerorts nichts getan. In allen Interviews wird deutlich, dass die amtliche Anerkennung einer weiteren Option beim Geschlechtseintrag zwar in den Schulen »irgendwie« angekommen ist – aber dennoch als »betrifft uns nicht« eingestuft und damit nicht mit der eigenen Profession und dem pädagogischen Handeln in Verbindung gebracht worden ist. An keiner der befragten Schulen wurde von Seiten der Schulleitung auf die Änderung im Personenstandsrecht und mögliche schulische Konsequenzen hingewiesen, zumeist waren es einzelne engagierte Schulsozialarbeiter*innen oder Lehrkräfte, von denen die Initiative ausging – diese waren jedoch auch schon vor der Gesetzesänderung in dem Bereich aktiv. Die meisten Lehrkräfte und Schulleitungen zeigen sich zwar prinzipiell offen gegenüber dem Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, sehen jedoch keinen Handlungsbedarf, solange es – ihrer Meinung nach – keine inter(oder auch transgeschlechtlichen) Personen an ihrer Schule gibt. Hier zeigt sich eine eklatante Fehleinschätzung, ein Nicht-Wissen oder auch Ignorieren

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der Lebenssituation vieler junger intergeschlechtlicher und trans* Personen. Dass es an einer Schule vermeintlich keine intergeschlechtlichen Schüler*innen (bzw. Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen oder Eltern) gibt, ist weniger ein Indiz dafür, dass es sie tatsächlich nicht gibt, sondern eher dafür, dass das Schulklima wenig Möglichkeiten bietet, Identitäten und Existenzweisen jenseits der heteronormativen Ordnung offen und ohne Angst vor Diskriminierung leben zu können. Aus den Interviews wird jedoch auch ersichtlich, dass der Schulsozialarbeit eine wichtige Rolle zukommt, wenn es darum geht, Perspektivwechsel und Veränderungen anzustoßen – auch wenn dies nicht immer konfliktfrei vonstattengeht. Die Beispiele zeigen sehr schön, welchen konkreten Beitrag die Schulsozialarbeit bei der Erarbeitung einer gemeinsamen schulischen Praxis von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt und dem Abbau von Diskriminierung leisten kann: Sie bietet nicht nur individuelle Hilfe und Unterstützung für intergeschlechtliche (und lsbtq+) Kinder und Jugendliche und ihre Angehörigen, sondern auch für Lehrkräfte und bisweilen sogar Verwaltung und Schulleitung. Sie mischt sich aktiv in das Schulgeschehen ein, indem sie Diskriminierung benennt, dagegen Position bezieht und Strategien zum Abbau von Diskriminierung aufzeigt sowie eigene Projekte initiiert. Der Mitwirkungsspielraum ist dabei von Schule zu Schule unterschiedlich und hängt von verschiedenen persönlichen aber auch strukturellen Faktoren ab, wie z.B. den unterschiedlichen »Berufskulturen«, Organisationsstrukturen und Selbstverständnissen von Schule und Jugendhilfe (vgl. dazu Speck 2014: 115ff., Pötter/Spies 2011: 156). Um intergeschlechtliche (und lsbtiq+) Schüler*innen bestmöglich zu unterstützen, sollte sich Schulsozialarbeit als Teil der Jugendhilfe auf ihre eigenen Prinzipien, Grundwerte und Methoden, resultierend aus den fachlichen und ethischen Standards einer Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession, beziehen und diese in die Schulentwicklung einbringen, z.B. im Sinne des Tripelmandats (Staub-Bernasconi 2019: 83ff.). Wesentlich ist hier ein anderes Bildungsverständnis von Sozialer Arbeit im Gegensatz zur Schule und ein anderes Menschenbild, das auf Ganzheitlichkeit, Ressourcenorientierung, Lebensweltorientierung, die individuelle Stärkung der Persönlichkeit, Freiwilligkeit und Partizipation setzt. »Aus Sicht der Schulsozialarbeit stehen die Kinder und Jugendlichen nicht in erster Linie in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler im Zentrum, sondern in ihren vielen verschiedenen Rollen, ihren Lebenswelten, mit ihren individuellen Ressourcen, Entwicklungsbedarfen und subjektiven Bedürfnissen.« (Spies/Pötter 2011: 51) Schulsozialarbeit agiert

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im Anschluss an Hans Thiersch lebensweltorientiert und tritt anwaltschaftlich für die Interessen der Kinder und Jugendlichen unter Beteiligung dieser ein (vgl. ebd.: 22). Dazu gehört ebenfalls eine kritisch-(selbst-)reflexive Haltung gegenüber gesellschaftlichen und institutionellen Macht- und Herrschaftsstrukturen – was auch die eigene Rolle und das eigene Arbeitsfeld betrifft.

Empfehlungen: Was können Sie als Schulsozialarbeiter*in tun? Als Schulsozialarbeiter*in können Sie: •







• •

Intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche (und transgeschlechtliche, genderqueere, non-binäre, lesbische, bisexuelle und schwule Menschen) immer mitdenken! Sie sitzen in Ihren Klassenzimmern. Auch wenn es sie vermeintlich nicht gibt. Sichtbarkeit schaffen: Die Unsichtbarkeit von Existenzformen, die die heteronormative Ordnung verletzten, bzw. LSBTIQ+ in ihrer Existenz unsichtbar zu machen oder als ›Abweichende‹ darzustellen, stellt eine der bedeutendsten Formen der Diskriminierung von LSBTIQ+ dar (vgl. Palzkill/Pohl/Scheffel 2020: 18). Ansprechbarkeit und Offenheit signalisieren: Dies kann z.B. durch kleine Zeichen wie Aufkleber und Poster im Schulgebäude, an den Türen und in den Räumen der Schulsozialarbeit, oder aber Veranstaltungen und Projekte zum Thema geschlechtliche und sexuelle Vielfalt geschehen. Wissensaneignung: Sich über die Situation intergeschlechtlicher Menschen informieren z.B. über Portale wie www.regenbogenportal.de, www.meingeschlecht.de, www.queerformat.de, https://inter-nrw.de/ (hier finden sich zudem umfangreiche Arbeitsmaterialien und konkrete Tipps für Pädagog*innen) und die Veröffentlichungen von menschenrechtsbasierten Organisationen intergeschlechtlicher Menschen sowie von Selbsthilfeorganisationen, z.B. OII Germany e.V., Intersexuelle Menschen e.V. Intersektional, lebensweltorientiert und menschenrechtsbezogen denken und handeln. Die eigene Sprachpraxis inklusiv gestalten: Kinder und Jugendliche lernen am vorgelebten Beispiel; benutzen Sie etwa Verlaufsformen, also z.B. »Lehrende«, statt »Lehrer«. Oder Lehrer*in, gesprochen »Lehrer[kurze Pause]in«, statt »Lehrer« und »Lehrerin«; das mag Ihnen zunächst merkwürdig vorkommen, aber Sprache befindet sich sowieso in stän-

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diger Veränderung und es gibt keinen Grund sie nicht in eine inklusive Richtung zu verändern.

Was muss auf politischer und struktureller Ebene getan werden? •

• •

• •





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Verbindliche Richtlinien für Schulen schaffen zur Umsetzung der durch das neue Personenstandsgesetz ausgedrückten Anerkennung von intergeschlechtlichen Menschen und non-binären Geschlechtsidentitäten, so dass die bislang gängige binäre Geschlechtertrennung zumindest erweitert wenn nicht aufgehoben wird, z.B. bauliche Maßnahmen an Toiletten und Umkleideräumen, Änderung von Formularen, Anredeformen, Zeugnissen etc. Anpassung bzw. Überarbeitung des SGB VIII (insbesondere § 9 Abs. 3). Einführung einer Ansprechperson für LSBTIQ+ an jeder Schule, nach dem Berliner Modell »Kontaktperson für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt/Diversity«. Zugleich: Verbindliche Qualitätsstandards und Richtlinien für die »Kontaktperson« an Schulen schaffen. Verstetigung und Ausbau der Schulsozialarbeit, so dass an jeder Schule mindestens eine volle Stelle existiert und dauerhaft mit sozialpädagogischen Fachkräften besetzt wird.9 Etablierung einer inter-inklusive Praxis geschlechtlicher und sexueller Vielfalt: Das »I« (in LSBTIQ*) nicht nur mit-nennen, sondern intergeschlechtliche Menschen tatsächlich mit-meinen und entsprechend einbinden (z.B. auch durch neue Begrifflichkeiten wie »Interbewusstsein«, »InterKompetenz«, in Anlehnung an »Regenbogen-Kompetenz«, »Interfeindlichkeit« etc.). Verpflichtende Einbindung von Intergeschlechtlichkeit bzw. LSBTIQ+Themen in die Ausbildung von Lehrkräften und (Schul-)Sozialarbeiter*innen.

Die Ankündigung des Berliner Senats, bis August 2021 jede Berliner Schule mit Schulsozialarbeit, d.h. einer sozialpädagogischen Fachkraft, auszustatten, wurde bislang nicht umgesetzt und ist in fachlicher Hinsicht längst nicht ausreichend. Der Kooperationsverbund Schulsozialarbeit (2015: 24) fordert z.B. als Voraussetzung für eine professionelle Arbeit seit langem, eine Vollzeitstelle Schulsozialarbeit pro 150 Schüler*innen einzurichten.

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Verankerung von Intergeschlechtlichkeit bzw. LSBTIQ+-Themen in den Rahmenlehrplänen aller Bundesländer und verbindliche Konkretisierung der Umsetzung. Abbau von Diskriminierung sowie Förderung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt als Aufgabe für die Schulsozialarbeit kenntlich machen und benennen, z.B. in Stellenausschreibungen, Kampagnen zur Gewinnung neuer Fachkräfte für die Schulsozialarbeit.10 Empowerment von lsbtiq+ Schulpersonal und Schulsozialarbeiter*innen fördern. Denn nicht nur Schüler*innen, auch pädagogische Fachkräfte bringen vielfältige geschlechtliche und sexuelle Hintergründe mit, können von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sein und entscheiden sich deshalb gegen ein Coming-Out im Schulkontext. Aufklärung, Information, Wissensvermittlung ggf. durch verpflichtende Weiterbildung für pädagogische Fachkräfte (Lehrpersonal und Soziale Arbeit). Partizipative, medizinunabhängige, soziologische Begleitforschung zur Umsetzung der zu schaffenden Qualitätsrichtlinien zu LSBTIQ+ an Schulen fördern, mit einem eigenen Schwerpunkt auf intergeschlechtliche und transgeschlechtliche Themen.

Literatur Barth, Elisa/Böttger, Ben/Ghattas, Dan Christan/Schneider, Ina (Hg.) (2013): Inter: Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter, Berlin: NoNo. Bittner, Melanie (2011): Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Eine gleichstellungsorientierte Analyse von im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung, hg. von der GEW, Frankfurt a.M., https://www.ge w.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=25113&token=da9eb1b770b976103-

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Dieses Aufgabenfeld fehlt z.B. in dem neuen Flyer, mit dem der Berliner Senat Fachkräfte für die Schulsozialarbeit im Rahmen des Landesprogramms »Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen« gewinnen will, siehe: https://www.spi-programmage ntur.de/fileadmin/user_upload/Programmagentur/Dokumente/Jugendsozialarbeit_F achkr %C3 %A4ftewerbung.pdf. Sinnvoll wäre es, bei den Zielen und Aufgaben auch einen Punkt: »Förderung von Vielfalt und Abbau von Diskriminierung« explizit mit aufzunehmen.

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1934497b6a9d0c5af5665c7&sdownload=&n=Schulbuchanalyse_web.pdf (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). Bochert, Nadine/Focks, Petra/Nachtigall, Andrea (2018): »Trans*, inter* und genderqueere Jugendliche in Deutschland – partizipativ-empowernde Unterstützungsangebote und ihre Bedeutung für eine menschenrechtsbezogene Soziale Arbeit«, in: Christian Spatscheck/Claudia Steckelberg/DGSA (Hg.), Menschenrechte und Soziale Arbeit, Berlin/Toronto: Budrich, S. 231-243. Bundesverband Trans* (2016): Policy-Paper Gesundheit des Bundesverbandes Trans*. Trans*-Gesundheitsversorgung. Forderungen an die medizinischen Instanzen und an die Politik, Berlin. Feuge, Yan (2020): Intergeschlechtlichkeit in der Grundschule, in: bbz/Berliner Bildungszeitschrift der GEW Berlin, Jg. 72 (87), Mai 2020, S. 1213, https://www.gew-berlin.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/intergeschlechtlichkeit-in-der-grundschule/ (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). Focks, Petra (2014): Lebenswelten von trans*, inter* und genderqueeren Jugendlichen aus Menschenrechtsperspektive. Expert_inneninterviews Berlin/Kanada, http://www.meingeschlecht.de/wissen/ (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). FRA/European Union Agency for Fundamental Rights (2020a): EU-LGBTI II Survey Report »A long way to go for LGBTI equality«, https://fra.euro pa.eu/en/publication/2020/eu-lgbti-survey-results (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). FRA (2020b): LGBTI Survey Data Explorer, https://fra.europa.eu/en/d ata-and-maps/2020/lgbti-survey-data-explorer (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). Fuchs, Wiebke/Ghattas, Dan Christian/Reinert, Deborah/Widmann, Charlotte (2012): Studie zur Lebenssituation von Transsexuellen in NordrheinWestfalen, https://www.lsvd.de/fileadmin/pics/Dokumente/TSG/Studie_ NRW.pdf (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). Ghattas, Dan Christian (2013): Menschenrechte zwischen den Geschlechtern. Vorstudie zur Lebenssituation von Inter*Personen, hg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, https://www.boell.de/sites/default/files/men schenrechte_zwischen_den_geschlechtern_2.pdf (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). Ghattas, Dan Christian (2017): Die Menschenrechte intergeschlechtlicher Menschen schützen – Wie können Sie helfen? https://oiigermany.org

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Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft Elena Barta und Kathrin Schrader

Intro Mit diesem Artikel wollen wir1 Studierende, Hochschullehrende sowie Praktiker_innen der Sozialen Arbeit (Soziale Arbeit) und natürlich auch uns selbst dafür sensibilisieren, diskriminierende Praxen und Interventionen nicht nur zu skandalisieren, sondern die aktuellen Ausschlüsse und Verletzungen von Menschen zu vermeiden.2 Durch ihr Mandat hat Soziale Arbeit viele disziplinierende und kontrollierende Seiten. Soziale Arbeit3 ist in einer Machtposition und trägt deshalb eine große Verantwortung, die daraus abgeleitete Handlungsfähigkeit für ihre Nutzer_innen und auch für sich selbst zu erweitern. Sie muss sich permanent die Frage stellen, wie sie sich positioniert, ob es ihr darum geht, Menschen zu ermächtigen, sofern das im Kapitalismus möglich ist, selbstbestimmt zu agieren und dabei gesellschaftskritisch zu sein oder nur darum, zu disziplinieren und kontrollieren. Dazu müssen Sozialarbeitende immer wieder reflektieren, in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen sie arbeiten und wie sie Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. In unserem Artikel werden wir

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Wer sind wir und aus welcher Perspektive schreiben wir? Elena Barta ist Historiker_in und schreibt aus einer queeren, nicht-binären und migrantischen Perspektive des Dazwischenseins. Kathrin Schrader schreibt aus der Perspektive einer weißen, heterosexuellen cis Frau. Zusammengefunden haben wir uns im Hochschulkontext, wobei wir in jeweils unterschiedlich (de)privilegierten Positionen agieren. Uns einen die Unzufriedenheit, Traurigkeit und Frustration über den gegenwärtigen Umgang mit dem Thema Geschlecht. Beide sind wir motiviert, an einer Veränderung mitzuwirken. Für die kritischen Anmerkungen danken wir Katja von Auer, Phries Künstler und Kirst O’Neill. Siehe dazu auch Melanie Groß in diesem Band.

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die Verbindung von Heteronormativismen mit Klassismen und Bodyismen4 betrachten. Um die Wechselwirkungen deutlich zu machen, werden wir intersektional analysieren. Nur so erreichen wir die analytische Sensibilität, um über die Identität und ihr Verhältnis zur Macht nachzudenken (vgl. Crenshaw 2019, S. 14). Kimberlé Crenshaw (2019) schreibt dazu, dass ein Begriff nur so viel erreichen kann, wie seine Nutzer_innen Macht haben (vgl. ebd.: 15). Was die Positionierung von trans*, inter* und nicht-binären Menschen betrifft, muss immer auch die Frage der Sichtbarkeit diskutiert werden. Mit Sichtbarkeit, bezogen auf unser Thema, meinen wir, wer hat Sprecher_innenpositionen, wer wird wie gehört innerhalb der heteronormativen Matrix. Das heißt, das, was darin nicht passt, ist konstitutiv ausgeschlossen und unsichtbar. Die Benennung von Intersektionalität allein vermag diese Sichtbarkeit nicht herzustellen. Crenshaw postuliert, dass Aktivist_innen und Interessenvertreter_innen ein Bewusstsein für die Dimension der Ungerechtigkeit schaffen müssen (vgl. ebd.: 16). Da Heteronormativismen, Klassismen und Bodyismen in Form von Pathologisierungen im Leben von queeren Personen eine negative Rolle spielen, werden wir deren Auswirkungen zeigen. Die Markierung als ›krank‹, ›irre‹ und ›pervers‹ schränkt nicht nur die Handlungsfähigkeit der einzelnen Individuen ein, sondern ist sicher auch eine Begründung für den starken Fokus von Selbstorganisationen auf staatliche Anerkennung durch die Forderungen nach einer Abschaffung des Transsexuellengesetzes (TSG) und einer Neuregelung des Personenstandsgesetzes (PStG).5 Mit den Gesetzesänderungen von 2013 und 2018 (die weit hinter den Forderungen der Selbstorganisationen lagen) und der Anrufung des Rechtsstaates ist entgegen den Erwartungen kaum ein struktureller Wandel passiert. In Institutionen, wie den Universitäten, beschränken sich die Veränderungsprozesse beispielsweise vor allem auf die Formulierungen in Stellenausschreibungen und sanitäre Anlagen. Eine intersektionale Analyse der mit Geschlechterbinarität verbundenen Herrschaftsverhältnisse und Praxisbeispiele aus marginalisierten Per-

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Wir lehnen uns an Gabriele Winker und Nina Degele an, die darunter »Herrschaftsverhältnisse […] aufgrund körperlicher Merkmale wie Alter, Attraktivität, Generativität und körperliche Verfasstheit« verstehen (Winker/Degele 2009: 51). Oft wird Bodyismus als Überbegriff oder synonym zu Sanismus, Ableismus, Lookismus und Adultimus verwendet. In unserem Artikel fokussieren wir auf Ableismen und meinen hier insbesondere die Abwehr bezüglich ›psychischer Erkrankungen‹ und deren Konstruktion, im weiteren dann Pathologisierung oder Psychiatrisierung genannt. Siehe dazu auch Katrin Niedenthal in diesem Band.

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spektiven verstehen wir daher auch als Ideenwerkstatt und Inspiration für solidarische Praxen innerhalb queerer Bewegungen. Im ersten Abschnitt wollen wir uns kurz zur Intersektionalität positionieren, um dann auf die Vulnerabilität zu rekurrieren und davon ausgehend die Wechselwirkung von Heteronormativismus, Bodyismus und Klassismus anhand von Beispielen zu beschreiben. Es geht uns darum, die Wirkmächtigkeit dieser interdependenten Herrschaftsverhältnisse nicht nur zu analysieren, sondern zu zeigen welche Angriffsmöglichkeiten sich bieten. Enden werden wir mit einer Perspektive, welche die Handlungsfähigkeit in der Sozialen Arbeit und Forschung von Betroffenen erweitern kann.

Intersektionalität Die Intersektionalität reflektiert als Analyse- und Erkenntnisperspektive die Verwobenheit gesellschaftlicher Differenzkategorien sowie die damit verbundenen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Sie geht u.a. auf die Arbeiten der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw in den 1990er Jahren zurück. Sie verdeutlicht in ihren Arbeiten, dass rassistische Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen Frauen häufig nicht von sexistischen zu trennen sind (vgl. Crenshaw 1989). Der Begriff intersectionality hat seine politischen und wissenschaftlichen Wurzeln im Black Feminism und in den Critical Race Studies (vgl. Chebout 2012). Eine wichtige historische Zäsur in der Intersektionalitätsforschung ist die Gründung des Combahee River Collective 1974 in Boston (USA). In ihrer Erklärung »A Black Feminist Statement« (1977) positionierten sich die Autorinnen als schwarze, lesbische und sozialistische Feministinnen und plädierten für die Entwicklung einer »integrated analysis and practice based upon the fact that the major systems of oppression are interlocking« (Combahee River Collective 1982: 13). Folgen wir Crenshaw, dann beschreibt Intersektionalität, wie Strukturen bestimmte Identitäten generieren und diese verwundbar machen.6 Sie beschreibt in unterschiedlichen Vorträgen und Publikationen mit Hilfe der Straßenkreuzungsmetapher, dass Menschen unterschiedlich verletzbar sind und dass es eines »Framing« bedarf, um diese Verletzungen überhaupt sichtbar zu machen. Die Vulnerabilität von trans*, inter* und

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Vgl. https://www. youtube.com/watch?v=ViDtnfQ9FHc (zuletzt abgerufen am 10.10.2020).

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nicht binären Menschen ist allein schon deshalb gegeben, weil sie sich den heteronormativen Zuschreibungen entziehen.

Vulnerabilität Vulnerabilität ist »im Fachjargon im Gebrauch, wird aber auch in wissenschaftlichen Kontexten teilweise mit Verwundbarkeit, Verletzbarkeit oder Verletzlichkeit übersetzt« (Stöhr et al. 2019: 5). Der Gedanke der individuellen Verwundbarkeit, die jeder Mensch in sich trägt, sollte stets mit einem Grundgedanken von Unterstützung verbunden sein, denn wer verwundet ist, »wurde durch ›etwas‹ verletzt; vor allem Demütigungen und Stigmatisierung führen zu Verletzung von Identität und Autonomie« (ebd.: 8). Die Autor_innen sind nicht glücklich über die konsequente Übersetzung von vulnerability als Verletzbarkeit, da der Begriff der Verwundbarkeit viel besser beschreibt, dass jemand schutzlos ist. Jeder Mensch ist verletzbar, aber nur wer die ökonomischen, sozialen oder kulturellen Ressourcen hat, kann sich schützen und weniger verwundbar machen. Wenn wir über besonders vulnerable Personen sprechen, ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass »institutionelle Gegebenheiten im Sinne von Organisationen, Strukturen, Regeln und Normen und spezifische Situationen und Konstellationen enorme Verletzungspotenziale bieten« (ebd.). Judith Butler (2005) bezieht den Vulnerabilitätsbegriff auf ihr Konzept des Subjekts und des Körpers: »Verletzbarkeit gibt es schließlich nicht an sich, sondern immer nur in (sozialen, kulturellen, körperlichen, psychischen etc.) Relationen; Verletzbarkeit wird in ihrer konkreten Ausformung und Ausprägung hergestellt – wobei nicht nur materielle Gegebenheiten, sondern vor allem auch symbolische, sprachliche Praktiken für Verletzungen verantwortlich sind.« (Ebd.: 25) Nach Butler (2001: 24) ermöglicht erst die Verwundbarkeit eines Subjekts seine Ausbeutung, denn durch sie entstehe erst die Gefahr, den Normzustand nicht wieder herstellen zu können und damit weiteren Sanktionen unterworfen zu werden. Butler analysiert mittels des Begriffes hate speech die Verwundungen durch Sprache (vgl. Butler 2006). Hate speech ist eine Form des Sprechens, das gleichzeitig Handlung ist (vgl. Butler 2006: 152). In der Diskussion darüber, wie verletzend hate speech ist, welche Dimension es hat und ob es mit einer körperlichen Verwundung vergleichbar ist, schreibt Butler (2006), es sei

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

notwendig, »[…] daß wir erkennen, wie bestimmte Wörter tatsächlich wirken, wenn sie mit der Absicht gebraucht werden, eine andere Person zu erniedrigen oder sie aus nationalen, ethnischen oder religiösen Gemeinschaften, der sie angehört, auszugrenzen« (ebd.: 258). Das Verletzungspotential liege nicht in den Wörtern selbst, sondern in der wiederholten Anrede, die den Anderen erniedrigt, ausschließt oder entwertet (ebd.: 258ff.). Auf eine solche Weise angesprochen zu werden, bedeute den eigenen Kontext zu verlieren, man wisse nicht mehr, wo man sei (vgl. ebd.: 13). Butler schreibt, man könne durch ein verletzendes Sprechen auf (s)einen Platz verwiesen werden, der möglicherweise gar keiner sei (vgl. ebd.). Laut Butler kann Verwundbarkeit nicht einfach weggewünscht werden, ebenso wenig könne ihr durch ein Verbot bestimmter Wörter Einhalt geboten werden. Gerade durch das Verbot dieser Wörter werde die Verwundung als unabänderlich, als eingefroren im Sinne einer geschichtlichen Szene und als unaussprechlich in Erinnerung bleiben (vgl. ebd.: 261). Butler plädiert vielmehr dafür, stattdessen die Macht der Benennung zurückzuerobern und die Deutungshoheit über die Begriffe wieder zu übernehmen. »Wir sollten schließlich gründlich überdenken, wie wir eine Welt erschaffen können, in der unsere sprachliche Verwundbarkeit ausreichend geschützt ist« (Ebd.). Der Ansatz von Butler ist deshalb produktiv, da er nicht die handlungsunfähige Opferperspektive einnimmt, sondern auf die Möglichkeit der Widersetzung fokussiert: »Wenn man die Kraft des Sprechakts gegen die Kraft der Verletzung setzt, enthält das eine politische Möglichkeit, nämlich daß man sich diese Kraft fehlaneignet und sie dazu aus ihren früheren Kontexten herauslöst.« (Ebd.: 70) Mit Hilfe der intersektionalen Analyse kann dieser Anspruch umgesetzt werden. Handlungsfähigkeit von Individuen wird nicht nur dadurch erweitert, dass sie durch Soziale Arbeit gut beraten und begleiten werden, sondern auch darüber, wie das getan wird, nämlich sie in dem Bewusstsein, dass Sozialarbeitende mit ihrer Machtposition auch über Schicksale entscheiden als handelnde Subjekte zu begreifen. Diese Positionierung ist, um mit Butler zu sprechen, eine Platzanweisung, die viele von uns unhinterfragt annehmen, um intelligibel zu sein. Um eine Diskursverschiebung zu unterstützen, ist es wichtig zu verdeutlichen, dass queere Personen aufgrund heteronormativer Sprechakte besonders vulnerabel sind. Leider verändern sich die Praxen in der Soziale Arbeit, die ja über ihre Mandatierung und ihre Sprecher_innenposition an der Schnittstelle zwischen dem ›aktivierenden Sozialstaat‹ und

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den Betroffenen tätig ist, nur sehr langsam. Die üblichen Begründungen dafür sind, dass die Sprache zu akademisch sei, die politische Korrektheit an der Praxis vorbei ginge, trans*, inter* und nicht-binäre Personen eher die Ausnahme und ja oft auch ›schwierig‹ seien.7 Wir wollen im Folgenden die heteronormativen, klassistischen und bodyistischen Herrschaftsverhältnissen in ihrer Verwobenheit analysieren, die dieser Argumentation zugrunde liegen, um einen Beitrag zu leisten, diesen Prozess zu beschleunigen und damit auch die dabei aktiv eingesetzte Pathologisierung hinterfragen. Die Zuschreibung der Sozialen Arbeit, dass Menschen, die sich heteronormativen Platzierungen entziehen, ›schwierig‹ seien, schließt sich problemlos an alle Pathologisierungsdiskurse an, die immer dann geführt werden, wenn jemand die Pointen der ›großen abendländischen Erzählungen‹ über die ›Vernunft‹, die die ›rationale Ordnung‹ in der Natur erkannt und sie klassifiziert sowie normiert hat, für sich persönlich nicht nachvollziehen möchte. Lio Oppenländer (2015) schreibt über die Erfahrungen von Menschen, die keine biologischen Zuschreibungen akzeptieren und nur deshalb als ›unvernünftig‹ und ›krank‹ stigmatisiert und an die Psychiatrie verwiesen werden. Diese Institution hat eine besondere Funktion bei der Regulierung von Emotionen (ebd.: 31). Dort wird man von außen analysiert: »Mein Fühlen und meine Wahrnehmung wurden eingelesen und eingepasst in verschiedene diagnostische Konzeptualisierungen – eine davon Depression. Das war der Moment, in dem die Pathologisierung – die Herstellung meines Fühlens als ›krankhaft‹ – auf einer sehr konkreten Ebene begann.« (Ebd.: 33f.) Oppenländer hat sich auf die Psychiatrie in der Hoffnung eingelassen, die Verzweiflung zum Ausdruck bringen zu können, aber das Gegenteil passierte. In der berührenden Beschreibung wird deutlich, wie die strukturelle Diskriminierung aufgrund von »Genderismus« und »Genderung«8 zum persönlichen Problem umdefiniert wird. Die Kritik Oppenländers an der Struktur, das 7

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Diese Zuschreibung gilt im Übrigen für alle Nutzer*innen, die therapie- und beratungsresistent, delinquent, systemsprengend, aggressiv etc. sind und sich nicht in die institutionellen Vorgaben einfügen. Weiterführend dazu ist die kritische Kriminologie von u.a. Helge Cremer-Schäfer und Heinz Steinert (1998) sowie Fritz Sack (1972), die sich kritisch mit dem labeling approach und der Etikettierung auseinandersetzen. Genderung meint, laut Oppenländer, ›die dynamische, prozesshafte und unhinterfragbare Re_produktion von Genderzuschreibungen, auf deren Grundlage sich genderistische Diskriminierung vollzieht‹ (Oppenländer 2015: 34, Fn 9).

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»Ver_zweifeln an den heter@genderistischen Selbstverständlichkeiten« (ebd.: 34) wurde zum Symptom erklärt und damit individualisiert. Das Wahrheitsregime der Psychiatrie in seiner epistemischen Gewalt9 macht die Verwundung von Oppenländer durch die Gesellschaft unsichtbar, indem Oppenländer gegen den Willen in die vorhandenen Kategorien eingepasst wird. Somit ist die »Verzweiflung« nicht mehr die Folge gesellschaftlicher Probleme, sondern es findet eine Umdeutung statt: ›Patient_in‹ Oppenländer wird zum Problem und erhält eine Diagnose.

Die Dritte ›Person‹ im Netz von Heteronormativismus, Klassismus und Bodyismus An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, wie die Zuschreibungen ›verrückt‹ oder ›psychisch krank‹ auf Menschen, die sich nicht genderbinär verorten wollen, nicht nur bodyistisch wirken, sondern auch eine unmittelbare klassistische Abwertung nach sich ziehen. Die Betroffenen10 werden pathologisiert und nicht mehr ernst genommen, ihre Berichte werden als unwahr, nicht objektiv und unvernünftig abgestempelt. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen werden enteignet und in den ›objektiven‹ Wissenskanon der Expert_innen aufgenommen. Das intransparente Ineinandergreifen von Bodyismus, Klassismus und Heteronormativismus ist für die Betroffenen besonders perfide, da die Herrschaftsverhältnisse kaum noch zu erkennen sind, so dass Widerstand nicht nur sehr schwer zu adressieren ist, sondern obendrein von der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft nicht verstanden und als weiterer Beleg dafür gesehen wird, dass solche Menschen eben ›schwierig‹ sind und wohl ein individuelles psychisches Problem, beispielsweise eine ›Anpassungsschwierigkeit‹ haben. Andreas Kemper postuliert, dass »Klassismus« als Herrschaftsverhältnis unbekannter sei als Rassismus und Sexismus und dass diese Unsichtbarkeit auch eine Folge des Klassismus selbst sei. »Klassismus ist Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und Kulturimperialismus aufgrund der sozialen

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Wir lehnen uns hier an Maria Liegghio 2013 und Jasna Russo 2015 an. Wir sind unzufrieden mit der Bezeichnung, ›Betroffene‹, denn wer von uns ist nicht betroffen? Obwohl uns die Veranderung klar ist, lehnen wir uns hier an die Autor_innen an.

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Herkunft oder Position.« (Kemper 2015: 6f.) Das Perfide ist, »dass Klassenhierarchien keine theoretischen, am Reißbrett entworfenen Abstrakta sind, sondern in erster Linie erlebte und verkörperte Realität. Und eben diese bleibt von den Privilegierten dieser Hierarchie meist unbemerkt.« (Lang 2018: 50) Diese Hierarchie materialisiert sich im Falle Oppenländers in der Pathologisierung, die eben nicht nur auf heteronormativen, sondern auch auf klassistischen Herrschaftsverhältnissen basiert. Klassismus verstehen wir als ein Wahrheitsregime, das die Machtasymmetrie zwischen Ärzt_innen und Patient_innen als Herrschaft manifestiert. Michel Foucault beschreibt, wie im 19. Jh. »der Arzt« als übermächtig konstruiert wird, seine Macht durch die Privilegien der Sachkenntnis verbürgt und legitimiert werden. »Der Arzt ist kompetent, der Arzt kennt die Krankheiten und die Kranken, er verfügt über ein wissenschaftliches Wissen, das von der gleichen Art ist wie das des Chemikers oder des Biologen. Dieses Wissen berechtigt ihn, einzugreifen und zu entscheiden.« (Foucault 1971: 74) Dieses Wahrheitsregime überschreibt und verdeckt die Erfahrungen und Weisheit (Erklärung dazu weiter unten) von queeren Personen, sobald sie sich an die medizinischen Institutionen wenden. Butler (1997) zufolge verschränken sich Subjekt und Macht in der Materialität des Körpers, in der unkenntlich gewordenen Wirkung von Macht (ebd.: 345). Diese Wirkungen seien die verborgenen Arbeitsweisen der Macht selbst (vgl. ebd.). Das Unsichtbarmachen bzw. die Verhüllung »vollzieht sich durch die Konstituierung und Formierung eines epistemischen Feldes und einer Anzahl von ›Wissenden‹, wenn dieses Feld und diese Subjekte als vordiskursive Gegebenheiten für selbstverständlich gehalten werden, war die verbergende Wirkung der Macht erfolgreich« (ebd.). Foucault untersuchte dazu das Pastorat (vgl. Foucault 1978), als eine »wohltätige Macht« (ebd.: 707), die versucht, über die Beichte bzw. das Geständnis zu erfahren, »was in der Seele, im Herzen, in den verborgensten Tiefen des Einzelnen vorgeht« (ebd.: 712) um mit diesem Wissen das Heil eines jeden (vgl. ebd.: 707ff.) zu gewinnen. Es gibt darin die Anrufung: ›Bekenne dich!‹. Auch in der Psychiatrie existiert dieses Heilsversprechen, das aber nur über die Anerkennung des psychiatrischen Wahrheitsregimes einzulösen ist. Das medizinische Wissen der Psychiatrie wäre gemäß Foucault das Über-

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

Wissen11 der Pastoralmacht. Es speist sich zum einen aus dem dichotomen heteronormativen Genderwissen und zum anderen aus der psychiatrischen Diagnostik. Hier wird auch deutlich, wie eine Enteignung von Wissen durch Expert_innen stattfindet und sich der Anschluss zum Klassismus finden lässt. Das ›anerkannte‹ Expert_innenwissen (Medizin und Wissenschaft) wird akkumuliert und hochbezahlt, währenddessen das Betroffenenwissen durch nicht vorhandene Kapitalien nach dem ›Bekennen‹ ›kostenlos‹ geteilt wird. Auch das Renommee dafür bekommen die Expert_innen.

Beispiele für Gewalt in der Wechselwirkung von Klassismus, Rassismus und Heterosexismus: Das Uneindeutige strafen Studien zu Gewalt gegen trans* Personen zeigen für die USA nicht nur eine immens hohe Erfahrung von trans* Personen mit Übergriffen, sondern auch, dass Betroffene die Gewalt ganz klar auf eine Gesellschaft zurückführen, die Überschreitung von Geschlechtergrenzen bestrafen will oder dies zulässt (vgl. Franzen/Sauer 2010: 58). In der Bestrafung dieser Uneindeutigkeit spielen intersektionale Aspekte eine große Rolle, denn im Kontext der öffentlichen Demütigungen wird homo- und trans*-Feindlichkeit stark miteinander verknüpft. Der Geschlechtsausdruck von queeren Personen wird als Zeichen ihrer Homosexualität interpretiert obwohl diese inter* und/oder trans* und heterosexuell sind. Gleichzeitig erleben lesbische Frauen und schwule Männer körperliche Gewalt, weil ihnen jeweils Unweiblichkeit und Unmännlichkeit unterstellt wird (vgl. Franzen/Sauer 2010: 61). Diese ›Falschadressierung‹ ist eine zusätzliche Verletzung, der die LSBTIQ Personen mit Strategien wie der Selbstverwendung von Beleidigungen begegnen.12 Insgesamt geht es vor allem um die gewaltsame Durchsetzung einer Ordnung, die diejenigen trifft, 11

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Foucault macht das am Beispiel der Sexualität, der Sexualwissenschaften fest: »ein Wissen, das irgendwie überschüssig ist, ein aufgeblähtes Wissen, ein Wissen über die Sexualität, das zugleich intensiv und extensiv ist, und zwar nicht auf der individuellen Ebene, sondern auf der kulturellen und der gesellschaftlichen Ebene in theoretischen oder vereinfachten Formen« (Foucault 1978: 698). Dieser solidarisch-kollektive Umgang ist vor allem einem emanzipatorischen bewegten Teil der Community inhärent. Die Homo- und Transfeindlichkeit der Community drückt sich beispielsweise durch stark betonte cis-Männlichkeit im schwulen Kontext, oder heterosexuelle Bürgerlichkeit im Trans*Kontext aus.

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die sich nicht durch Anpassung und ein hohes soziales Standing (weiß, akademisch, reich, verheiratet und versorgt sowie mit positivem Standing bei Sicherheitsbehörden) davor schützen können. Wohnungslose, Sexarbeiter_innen, Inhaftierte, Arme, Psychiatrisierte, migrantische Jugendliche oder rassifizierte Personen unterschiedlicher Schichten werden hingegen gesellschaftlich als weniger schützenswert betrachtet und sind viel stärker verwundbar. Dies zeigt sich am besten an den Reaktionen von Sicherheitsbehörden, die in der Regel bei öffentlicher Gewalt gegen diese Personen ihnen nicht glauben, ihre Identität prüfen und sie nicht selten zumindest mit Verwaltungsstrafen belegen oder gegen die Betroffenen ermitteln.13 Ihr So-Sein wird als betrügerisch und unwahr gedacht. Gewalttätige Übergriffe und epistemische Gewalt interagieren miteinander, indem ihr Vollzug die Betroffenen noch verwundbarer für die jeweils andere Form der Gewalt macht (vgl. Brazell 2018: 61). Queerfeindliche Täter_innen verspüren den Drang, andere Menschen für ihre Uneindeutigkeit zu bestrafen oder zu disziplinieren. Indem sie dies tun, werden sie selbst innerhalb der heteronormativen Matrix intelligibel. Im Folgenden werden wir die gewaltvollen Akte an drei Beispielen zeigen.

Wohnungslosigkeit: Wo soll dieses Zuhause sein, in dem wir dich willkommen heißen? In vulnerablen Situationen, wie der Abwesenheit eines sicheren Zuhauses, sind die komplizierten juristischen Aushandlungen, die trans*, inter* und nicht-binäre Personen führen müssen, obwohl es das TSG und das PStG gibt, ebenso eine Klassenfrage, wie der Wegfall eines sozialen Umfelds nach einem Coming Out. Über soziale Netzwerke zu verfügen, setzt voraus entsprechende Kapitalien zu haben. Nicht selten sind finanzielle Ressourcen eine wichtige Voraussetzung, um diese pflegen zu können. Eigenen Wohnraum zu haben, ist eine existentielle Voraussetzung, um ein menschwürdiges Leben führen zu können und für besonders vulnerable Personen umso wichtiger. Jeder Mensch hat ein Recht auf angemessenen und sicheren Wohnraum. Der Status ›zwischen‹ juristischen, aber auch gesellschaftlich anerkannten Geschlechtern, kann im Kontext von Wohnraum und Obdach massive 13

Dies lässt sich aktuell am besten am racial profiling der Polizei und der Kriminalisierung der Black Lives Matter Bewegung nachvollziehen. Ähnliche Mechanismen sind für Trans*-Personen dokumentiert (vgl. Franzen/Sauer 2010: 59).

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

Auswirkungen haben. Für trans* Personen ist ein Prozess nach dem TSG zur Anpassung des Vornamens mit Abwertungen und sozialen Ausschlüssen verbunden. Die Organisierung zweier psychiatrischer Gutachten ist nicht nur pathologisierend, sondern durch die Kosten und das komplizierte Verfahren fast nur für gut ausgebildete und vernetzte Personen möglich. Sie haben das notwendige Geld, können es über Netzwerke einbringen oder sind fähig, Prozesskostenhilfe zu beantragen. Jedoch bleiben die Zugänge zu diesen und anderen Formen der staatlichen Hilfe, vielen Betroffenen aus strukturellen Gründen häufig verwehrt. Eine juristische oder legale medizinische Transition ist für die meisten wohnungslosen trans* Personen undenkbar. Außerdem sind Notunterkünfte und Wohnheime oder ihre Sanitäranlagen nach ›Männern‹ und ›Frauen‹ getrennt und die Fachkräfte sind in den seltensten Fällen für die Begleitung von Transitionen ausgebildet oder gar sensibilisiert. Dies kann für trans* Personen eine nie endende Spirale bedeuten, in der das komplizierte TSG-Verfahren unmöglich wird, und es gleichzeitig nötig ist die ›richtigen‹ Papiere zu haben, um Notfallhilfe überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Ein Ausbrechen aus tradierten Geschlechternormen, ein Coming Out als trans*, inter*, genderqueer, nicht-binär etc. kann ein auslösender Faktor für das Wegfallen einer sicheren Unterkunft sein. Personen, die lange Zeit ihres Lebens normativ gelebt haben oder aus vielfältigen Gründen wenig Zugang zu ihrer eigenen Queerness haben, fehlt oft die Verbindung zu queerer Community. Trans*, inter* und nicht-binäre Personen, die sich erst mit ihren Bedürfnissen und ihrem So-Sein beschäftigen, nachdem sie eine heterosexuelle Familie, Kinder und Karriere erreicht haben, geraten oft in Konflikte mit ihrem Umfeld. Die Beziehung zu langjährigen Partner_innen oder Arbeitskolleg_innen können sehr abrupt abbrechen. Sozialer Ausschluss und Gewalt im persönlichem Umfeld speisen sich wie die öffentliche Bestrafung aus einem so genannten double bind zwischen der Zuschreibung individueller psychischer Probleme und betrügerischer Absichten, anders gesagt: queere Personen sind gefangen im Ping Pong zwischen dem Vorwurf, sie würden sich ihr So-Sein nur einbilden und in Wahrheit cis-geschlechtlich sein oder dem Vorwurf, in Wahrheit trans*-geschlechtlich zu sein und das Umfeld über diese ›Perversion‹ getäuscht zu haben. Selten behalten binäre trans* Personen ihre Arbeits- oder Ausbildungsstelle während einer Transition (Franzen/Sauer 2010:35). Sie akzeptieren prekäre Arbeitsverhältnisse, um Ablehnung und Diskriminierung zu entgehen und finden allgemein schwer wieder eine Stelle. In Kombination mit dem

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Verlust des sozialen Umfelds ist die ungewollte Wohnungslosigkeit gerade bei älteren Trans* ein Thema. Trans*, inter* und nicht-binäre Jugendliche und junge Erwachsene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder ihres Geschlechtsausdrucks keinen oder schlechten Kontakt zu ihrem eigentlichen Wohnort haben, sind für die Jugendhilfe fast unsichtbar. Manche verfügen über ein soziales Netzwerk, in dem sie von Couch zu Couch surfen und sind teilweise in queeren Vereinen angebunden. Ihre Wohnungslosigkeit fällt daher weder in Schule und noch in Ausbildung auf (vgl. Ohms 2019: 20). Diejenigen, die von ihren Eltern und Freund_innen ›rausgeschmissen‹ wurden und wohnungslos sind, verheimlichen ihre Queerness aus Angst, neu gewonnene Kontakte mit anderen Wohnungslosen zu verlieren. Das Risiko, ungewollt nicht nur wohnungslos, sondern obdachlos zu werden, wird für Jugendliche höher, wenn sie durch othering als ›anders‹ wahrgenommen werden. Ihnen fehlt zum Beispiel der Zugang zu den Hilfestrukturen aufgrund der ›falschen‹ Staatsbürger_innenschaft, sie haben keine Krankenversicherungen oder ihnen wird die Hormonersatztherapie als medizinische Grundversorgung verweigert. In Deutschland14 gibt es sehr wenig Forschung zu Geschlechtsidentität bzw. Diskriminierung von nicht-geschlechterkonformem Verhalten in Bezug auf Wohnungslosigkeit. Die von Arn Sauer und Jannik Franzen (Franzen/Sauer, 2010) zusammengetragene Forschung aus den USA (NCTE, 2009), UK (Brown/Lim 2008, STA, 2008) und Belgien (Motmans, 2010) stellt deutlich heraus, dass Betroffene Wohnungskündigungen, Umzüge, Wohnungsverweigerungen, Konflikte mit Mitbewohner_innen, Nachbar_innen und Familienmitgliedern sowie Diskriminierungen klar auf ihr trans*-Sein zurückführen können. Das Forschungsdesiderat spiegelt auch die mangelnde Beschäftigung der Soziale Arbeit mit Wohnungslosigkeit und Queerness wider. Trans* Frauen, die in Männerwohnheimen untergebracht werden, trifft dann sowohl die patriarchale Gewalt der Einordnung als auch die zwischenmenschliche in Form von Übergriffen durch andere Klienten. Hinzu kommen die Unfähigkeit und

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Die wenige Forschung, die es gibt ist community-basisiert, also von Beratungsstellen, Selbstvertretungsinstitutionen und zivilgesellschaftliche Akteur_innen organisiert. Besonders sticht das Forschungsprojekt »Wohnungslosigkeit und Geschlecht – Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Risikofaktoren für und in Wohnungsbzw. Obdachlosigkeit« von Constance Ohms in 2019 heraus.

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

der Unwillen vieler Sozialarbeiter_innen, die Situation der Personen einzuschätzen und richtig zu bewerten. Unserer Erfahrung nach zeigt sich hier eben auch, wie kontraproduktiv die Position von Differenzfeminist_innen in der Praxis ist, die trans* Frauen oft unterstellen, dass ihr trans*-Sein nur performativ und nicht echt wäre und damit nicht nur den Diskurs negativ beeinflussen, sondern auch die konkrete Lebenssituation von Menschen verschlechtern.

Migration und Flucht: Wo kommst du her? Wo gehörst du hin? Migration und Flucht sind keine von Wohnungslosigkeit losgelösten Fragen, sondern eng damit verbunden. Viele der in Deutschland auf der Straße lebenden Personen haben keine oder nicht die richtigen Papiere, um staatliche Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Gleichzeitig ist die Strukturierung von Hilfe, wie oben beschrieben, Teil des Problems. Für Migrant_innen und Geflüchtete kommt zur Bestrafung des Uneindeutigen und des Ignorierens von spezifischen Lebenslagen sowie der besonderen Vulnerabilität die massive Abschottungspolitik Europas hinzu, die auch durch die beste Soziale Arbeit nicht auszugleichen wäre. Personen, die auf Grund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität in ihrem Herkunftsland verfolgt wurden, haben theoretisch Recht auf Asyl bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge prüft bei jeder Person durch eine Anhörung den Asylgrund. In den Interviews wird dabei grundsätzlich davon ausgegangen, dass der_die Geflüchtete keine Gründe darlegen kann oder das Amt täuschen möchte. Intergeschlechtlichkeit wird praktisch nie als Fluchtgrund anerkannt (sofern Antragsstellende überhaupt Worte dafür haben), weil keine strafrechtliche Verfolgung von intergeschlechtlichen Personen existiere. Dies wird behauptet, obwohl in den meisten Ländern frühe kosmetische Operationen stattfinden, die als Menschenrechtsverletzungen klassifizierbar sind. In Asylverfahren ist das jedoch irrelevant, da die Verletzung bereits stattgefunden hat und es bei einer Rückkehr — so die Logik des Verfahrens — nicht nochmal passieren würde. Die Rückkehr ins Herkunftsland ist niemals eine Option und doch ist dieser Aspekt ein wichtiger Teil des Asylverfahrens. Obwohl queere Refugees diesen klaren Anerkennungsgrund besitzen, werden ihre Fälle als unglaubwürdig abgelehnt, weil sie zusätzlich zur Irritation durch ihre Queerness auch noch den performativen Anforderungen eines deutschen Blicks unterworfen sind. So wird queeren Personen, die ›unauffällig‹ aussehen manchmal nahegelegt, sie könnten innerhalb des

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Landes migrieren oder sich vor Gewalt durch ein Verheimlichen ihrer Identität schützen. Personen, die Irritationen auslösen, wird hingegen Verkleidung und Täuschung unterstellt. Antragsstellende müssen gleichzeitig das Leid ihrer Verfolgung so darstellen, dass sie möglichst viel Leid erfahren haben, aber nur so viel, dass sie noch in der Lage sind darüber im Detail zu erzählen. Außerdem müssen sie eine als universell dargestellte queere Biografie vorweisen (vgl. Tschalaer 2019) und nicht den Eindruck erwecken, sie wären aus wirtschaftlichen Gründen in Deutschland. Nichtbinarität, Bisexualität, eine heteronormative Lebensphase oder ein fehlendes öffentliches Coming-Out im Herkunftsland werden dabei in der Regel negativ ausgelegt. Dieser Zynismus ist an dieser Stelle so perfide, da es explizit der Grund ist, warum die Antragsteller_innen geflohen sind. Hätten sie es nicht getan, würden sie zum Teil nicht mehr leben oder inhaftiert sein. Das heißt, der Wille zu überleben wird ihnen zum Verhängnis. Das betroffenenkontrollierte Forschungsprojekt SOGICA15 konnte in einer groß angelegten Vergleichsstudie zwischen Deutschland, England und Italien nachweisen, wie sehr Rassismus, Klassismus, Misogynie sowie Homo- und Transfeindlichkeit den Ausgang von Asylverfahren beeinflussen. Wie diese Mechanismen wirken, zeigt der Fall der junger transidenten Dervisa, die 2014 nach dem Rausschmiss aus dem Elternhaus auf der Straße lebte, und nach mehreren Gewalterfahrungen, die trotz Beweisen nicht strafrechtlich verfolgt wurden, von Bosnien nach Deutschland floh. Während ihr trans*-Sein, ihr schwieriger sozialer Status als Romnja, ihre fehlende Ausbildung und ihre Wohnungslosigkeit Bausteine dafür waren, dass sie in Bosnien keinen Schutz durch die Ordnungsbehörden, sondern weitere Abwertung und Diskriminierung erfuhr, waren es genau diese Aspekte, die ihre Aussage fliehen zu müssen, als ›offensichtlich unbegründet‹ markierten.16 Sie versuchte kurz vor der Abschiebung sich das Leben zu nehmen. Die Unterbringung in psychiatrischen Anstalten und die Diagnose von psychischen Krankheiten sind in solchen Fällen doppelt zynisch. Die unmenschlichen Erfahrungen, die Betroffene machen, werden durch eine Psychiatrisierung zum individuellen Problem. Die ›kranke Psyche‹ soll durch

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Sexual Orientation and Gender Identity Claims of Asylum. A European Human Rights Challenge. Online unter: https://www.sogica.org/de/ (zuletzt abgerufen am 10.10.2020). Zur detaillierten Berichterstattung über Dervisas Fall siehe: https://taz.de/Transsexue lle-bekommt-kein-Asyl/!5018461/und https://www.sogica.org/de/life_stories/transsexu elle-soll-ihre-neigung-nicht-offen-zeigen/ (zuletzt abgerufen am 10.10.2020).

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

Medikamente oder Therapien wiederhergestellt werden. Für eine Anerkennung des eigenen Geschlechts vor dem Amtsgericht sind nach dem TSG zwei psychiatrische Gutachten notwendig, die das Leid der Betroffenen, den unumstößlichen Wunsch nach Transition und psychischer Gesundheit – im Sinne der Abwesenheit anderer psychiatrischer Diagnosen – attestieren. Forschung zu mentaler Gesundheit von binären und nicht-binären trans* Personen (vgl. Hyde et al. 2014) kann sowohl die positiven Effekte von sozialer und juristischer Transition und einem akzeptierenden sozialen Umfeld als auch die negativen Effekte von sozialer Abwertung und fehlender Gesundheitsversorgung auf Angststörungen, Depressionen und Suizidalität der Betroffenen nachweisen. Obwohl eine juristische und somatische Transition nachgewiesen ein Baustein in der Gesundheit von Betroffenen ist, verlangt das deutsche TSG-Verfahren die Diagnose als transsexuell und die Abwesenheit anderer diagnostischer Klassifizierungen. Die Selbstbezeichnung der Betroffenen und das Wissen über die eigene Identität verschwindet im Angesicht der ärztlichen Macht (s.o.).

Knast: Strafen, um zu erniedrigen und zu erziehen: Wo bleibt die anständige Gesellschaft?17 Gefängnisse sind Orte, in denen es per Definition um den Entzug von Handlungsmacht und das Strafen von Individuen geht, denen ein Leben in Würde und Freiheit (zeitweise) verwehrt bleibt. Pädagogische und soziale Dienste in Gefängnissen sind Teile dieses Zwangsapparates und können weiter dazu beitragen Individuen zu schwächen und zu brechen. In Europa gibt es so gut wie keine Daten zu Trans*, Inter* oder Queers im Strafvollzug (vgl. Franzen/Sauer, 2010: 59). Nach Lombardi et al. (2002) kommen trans* Personen mit prekärem sozioökonomischem Status häufiger in Kontakt mit Strafverfolgungsbehörden und sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, von dieser Gewalt zu erfahren. Diese Erkenntnis deckt sich mit Einzelfallbeschreibungen und aktivistischen Publikationen wie der Zine-Reihe »Tenacious: Art and Writings by Women in Prison«18 , die Berichte von transgeschlechtlichen Frauen und

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Wir beziehen uns auf Avishai Margalit, die Erniedrigung sei die häufigste Form der Verletzung (vgl. Margalit 2012: 1) und die Strafpraxis sei die Feuerprobe einer anständigen Gesellschaft (vgl. ebd.: 252ff.). Siehe http://resistancebehindbars.org/node/19 (zuletzt abgerufen am 13.09.2020).

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einem trans* Mann in einem Frauengefängnis in den USA publizieren. Anti-Gefängnis-Initiativen beschreiben die »gewalttätige Stimmung, die Gefängnishierarchie, die demonstrativ an den Tag gelegte Abscheu durch homo- oder transfeindliche Mitgefangene und Schließer_innen, die Isolation, Belästigungen und sexualisierte Übergriffe […] trans* Gefangene sind besonders häufig davon betroffen« (Anarchist Black Cross 2018: 14). Personen, deren Geschlechtsidentität und Geschlechtsausdruck nicht der Heteronormativität entspricht, sind in totalen Institutionen (vgl. Goffman 1973) wie Gefängnissen und Psychiatrien einer binären Logik ausgeliefert, die nicht nur existenzbedrohend ist, sondern ihr So-Sein schier unmöglich macht. Dies beginnt bereits bei der Einteilung in Gefängnisse oder Trakte auf Grund von Ausweispapieren. Personen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, dem pathologisierenden TSG-Verfahren nicht unterzogen haben oder aus Ländern migrierten, in denen es solche Verfahren gar nicht gibt und sie staatlich verfolgt wurden, werden ausnahmslos im falschen Trakt untergebracht. Obwohl das PStG seit 2013 das Offenlassen des Geschlechtseintrages und seit 2018 den Personenstand ›divers‹ vorsieht, haben sich Justiz und Strafvollzug noch nicht damit beschäftigt, wie diese Neuregelung umgesetzt werden kann. Innerhalb der Gefängnismauern herrscht außerdem oft lediglich eine Basis-Gesundheitsversorgung. Der eindrückliche Bericht einer trans*Frau in einem österreichischen Gefängnis (vgl. Fuß 2018) zeigt, dass viele Entscheidungen, die Aspekte der Gefangenschaft betreffen (Einzelzelle, Isolation, berufliche Beschäftigung, Zugang zu Hormonen), von Gefängnisleitungen im Zusammenspiel mit Wachteams und sozialen Diensten gefällt werden. Dazu gehören auch die trans*spezifischen Gesundheitsversorgungen, wie Hormonersatztherapien. Dabei ist – ähnlich wie bei der Anhörung vor dem BAMF – eine eindeutige Performance ebenso hilfreich wie Netzwerke und/oder selbstorganisierte Strukturen sowie ökonomische Kapitalien. Der Zugang zu Netzwerken, aber vor allem die Selbstorganisierung der Gefangenen, sind in totalen Institutionen praktisch unmöglich. Die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es also, Verbindungen im Sinne von Netzwerken herzustellen, die Rechte von besonders vulnerablen Personen zu stärken und gewalttätige Übergriffe und Diskriminierung zu verhindern, indem beispielsweise Personal für die Einhaltung von Menschenrechten sensibilisiert wird. Dies würde zwar nicht den grundlegend erniedrigenden und strafenden Charakter von Gefängnissen aufheben, die Position und individuelle Erfahrung für trans*, inter* und nicht-binäre Personen aber deutlich ändern.

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

Perspektiven: Handlungsfähigkeit durch die Einschreibung in die Wissensproduktion in Forschung und Handlungspraxen der Sozialen Arbeit Durch die Beispiele konnten wir zeigen, wie sich Klassismus, Rassismus und Heterosexismus verschränken, wenn die Verletzungen von queeren Personen institutionell verstärkt werden und obendrein ihre Vulnerabilität unsichtbar gemacht wird. Im Weiteren möchten wir intersektionale Ideen des Gegenhandelns auf zwei Ebenen vorschlagen. Zum einen auf der Ebene der Wissensproduktion in der Forschung und zum anderen auf der Ebene der Praxis Soziale Arbeit. Um zu zeigen, warum die Erfahrung von Betroffenen wichtig ist, jedoch leider immer noch vernachlässigt wird, gehen wir kurz auf Patricia Hill Collins ein. Sie ist nicht nur eine wichtige intersektionale Denkerin, sondern auch eine Vertreterin der feministischen Standpunkttheorie (vgl. Graneß et.al. 2019: 105). In ihrem Buch »Black Feminist Thought« (1991) rekonstruiert Collins die Geschichte des kritischen Denkens von Frauen der afrikanischen Diaspora in den USA (vgl. ebd.: 106). Ihre alternative Epistemologie ist ein sehr inspirierendes Konzept für die Forschungspraxis, aber auch für die Soziale Arbeit. Wir möchten hier nur einen Ausschnitt rezipieren, der den Unterschied zwischen »Wissen« und »Weisheit« deutlich macht, und zeigt, dass die afrikanisch-amerikanischen Denktraditionen zwischen diesen beiden Qualitäten differenzieren (vgl. ebd.: 110). Danach sei Wissen etwas, worüber weiße Bildungsbürger_innen verfügten. Dies sei häufig Buch- und institutionalisiertes Wissen. Weisheit hingegen sei unmittelbare Erfahrung, die befähigt zu interpretieren und daraus Schlüsse zu ziehen. In alternativen Epistemologien bringe die Kategorie der konkreten Erfahrung nicht nur Wissen hervor, sondern validiere dieses auch. »So würden Expert_innen, die über keine konkrete lebensweltliche Erfahrung dessen, worüber sie forschen und sprechen, verfügen, in afrikanischamerikanischen Gemeinschaften als nicht bzw. weniger glaubwürdig erachtet.« (Ebd.: 110) Dieser Ansatz muss kritisch reflektiert werden, um ihn dann in die Forschungs- und Handlungspraxen der Soziale Arbeit einzubauen. Wir plädieren an dieser Stelle dafür, dass die Expert_innen, z.B. aus der Sozialen Arbeit, die »Weisheit« sichtbar machen und in die hegemoniale Wissensproduktion einschreiben. Dabei ist es wichtig das Diktum der abendlän-

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dischen, eurozentristischen Wahrheitsregime zu durchbrechen. Hier können wir u.a. von den Wissensproduktionen Schwarzer Feminist_innen, betroffenenkontrollierter bzw. -orientierter Ansätzen in der Forschung und Soziale Arbeit lernen.

Der betroffenenkontrollierte Ansatz in der Forschung Die Anregung, diesen Forschungsansatz aufzugreifen, ist auf die Studie »Stellung nehmen. Obdachlosigkeit und Psychiatrie aus den Perspektiven der Betroffenen« von Jasna Russo und Thomas Fink (2003) zurückzuführen. Die Autor_innen beziehen sich auf Ansätze aus England (vgl. ebd.: 4), die das traditionelle Wissenschaftsverständnis und die Vorstellung von ›objektiver Sozialwissenschaft‹ hinterfragen und unter dem Label user-led und survivors research firmieren. In Deutschland werden solche Forschungsprojekte u.a. von Jasna Russo (2003) durchgeführt. Dem Erfahrungswissen von Betroffenen wird der gleiche Rang wie dem akademischen oder dem ›professionellen‹ Wissen eingeräumt. »Genau in dieser Nähe zwischen den eigenen Erfahrungen und dem Forschungsthema liegt die Stärke und nicht die Schwäche unseres Wissens« wird Peter Beresford zitiert (Deiters/Russo 2005: 19). Dafür werden Methoden entwickelt, um das Wissen der Betroffenen in die Praxis der psychosozialen Angebote einfließen zu lassen. Diese Erweiterung der üblichen Praxis muss jedoch ausdrücklich von beiden Seiten gewollt sein. Die Beteiligung von Betroffenen kann nur in einem Prozess entstehen, in dem sich alle Beteiligten als Lernende verstehen, um sich gegenseitig mit Respekt und Offenheit begegnen zu können (vgl. ebd.: 7). Forschung ist einer der wichtigsten Wege, um Wissen zu erlangen. Ein Ansatz, um die Betroffenen an der Forschung zu beteiligen ist die betroffenenkontrollierte Forschung (vgl. Faulkner 2004, Turner/Beresford 2005, Sweeney et al. 2009, Russo 2012). »Sie vermeidet die Interpretation und legt großen Wert auf einen direkten Praxisbezug. Mit diesem Forschungsansatz tragen die Betroffenen selber zur Produktion des Wissens bei und beeinflussen dadurch die Entstehung einer anderen Wissenschaft, die näher an ihre Realitäten heranreicht.« (Deiters/Russo 2005: 19) Russo und Fink beziehen sich auf Alison Faulkner und Vicky Nicholls19 , dass eine betroffenenkontrollierte Forschung die Menschen als Expert_innen ihrer 19

Siehe www.critpsynet.freeuk.com/Faulkner.htm (zuletzt abgerufen am 10.10.2020).

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

eigenen Erfahrung betrachtet und ihre je individuelle Bedeutung respektiert sowie ernst nimmt (Russo/Fink 2003: 5).

Der betroffenenorientierte Ansatz in der Soziale Arbeit In einigen Selbsthilfeprojekten der 1970er und 1980er Jahren wurden diese Ansätze bereits praktiziert, allerdings fanden sie zu dieser Zeit nur wenig Beachtung. Ungefähr aus dieser Zeit stammen die drei Berliner Projekte ›Wildwasser – Frauenselbsthilfe‹, ›Weglaufhaus Villa Stöckle‹ und ›Tauwetter‹. Sie sind aus den Frauen-, Antipsychiatrie- und Selbsthilfebewegungen entstanden (vgl. Hävernick/Schlingmann 2006: 6). In diesen Selbsthilfeprojekten entwickelte sich der Gedanke, dass »die Arbeit von Betroffenen nicht primär als Problem, sondern als Qualitätsmerkmal verstanden« (ebd.: 6) werden sollte. Alle drei Projekte sind auf Gewaltbetroffene als Zielgruppe ausgerichtet und verstehen die Gewalttaten als eine Reproduktion von Machtstrukturen. Sie bezeichnen Gewalt nicht als »persönliches Stigma, sondern als erlebtes Unrecht« (ebd.: 7). Krisen werden nicht als individuelles Defizit angesehen, sondern als »Überforderung der eigenen Bewältigungsstrategien und des sozialen Umfeldes« (ebd.). Jeder Mensch kann in seinem Leben einmal von Krisen betroffen sein. Diese werden aber nicht nur von individuellen, sondern auch von gesellschaftlichen und sozialen Faktoren determiniert. Darum darf auch ein von der Norm(-konstruktion) abweichendes Verhalten nicht als krankhaft abgetan, sondern muss als Krisenbewältigungsversuch gesehen werden (vgl. ebd.: 7f.). Betroffene sollten über sich selbst sprechen und es sei nicht zulässig, dass über sie gesprochen würde. Erst dadurch könnten sie sich selbst wieder als handelndes Subjekt verstehen. Außerdem ist der Austausch zwischen den Betroffenen wichtig, um sich zu solidarisieren und gegenseitig zu unterstützen (vgl. ebd.: 8). Die existierenden Hierarchien sollten nicht noch verstärkt werden, sondern möglichst geringgehalten und sichtbar gemacht werden, sodass Nutzer_innen sie aktiv beeinflussen können. Erst wenn sich die multiplen und intersektionalen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Betroffenen als produktives Wissen in die Forschung eingeschrieben haben, können sie auch die Praxen in der Soziale Arbeit nachhaltig verändern.

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Ausblick: Intersektionalität als soziale Praxis Die im vorigen Kapitel beschriebenen Perspektiven können nur mit einer klaren antidiskriminierenden Haltung funktionieren, die nicht nur selbst-reflektiv und sensibel mit Differenz und sozialer Ungerechtigkeit arbeitet, sondern ihr Handeln als Baustein zur Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen sieht und ›das Normale‹ stets nach seinen Verwebungen mit Macht und Herrschaft befragt. Das ist allerdings nicht nur auf die Forschung und Soziale Arbeit zu beziehen, sondern betrifft uns alle, sich der eigenen sozialen Positionierung bewusst zu werden und Differenzen, unterschiedliche Erfahrungen und Unterschiede, die da sind, anzuerkennen. Intersektional zu sein bedeutet auch exklusive Räume zuzulassen, in den Menschen sich austauschen können, z.B. trans* und inter* Personen, obdachlose und psychiatrieerfahrene Frauen*, Sexarbeiter_innen etc. Widersprüche und Ambivalenzen müssen ausgehalten und immer wieder bearbeitet werden, gegen eine Spaltungspolitik und weg von toxischen Debatten über ein Statusranking von Vulnerabilitäten. Wir möchten mit einem Zitat von Angela Davis enden, sie führt aus unserer Sicht wichtige intersektionale Aspekte an: Betroffenen nicht nur zuzuhören, sondern von ihnen zu lernen, um die epistemische Gewalt der Privilegierung zu durchbrechen, die Vulnerabilitäten verstärkt. »we support the trans Community precisely because this community has taught us how to challenge that which is totally accepted as normal. And I don’t think we would be where we are today – encouraging ever larger numbers of people to think within an abolitionist frame – had not the trans community taught us that it is possible to effectively challenge that which is considered the very foundation of our sense of normalcy. So if it is possible to challenge the gender binary, then we can certainly, effectively, resist prisons, and jails and police.«20

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Siehe http://libcom.org/library/dr-angela-davis-role-trans-non-binary-communities-fig ht-feminist-abolition-she-advocates (zuletzt abgerufen am 10.10.2020).

Die Dritte Option: Uneindeutigkeit im Fadenkreuz von Macht und Herrschaft

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Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit Heinz-Jürgen Voß

Angefacht durch aktivistisches Streiten, ist Intergeschlechtlichkeit gesellschaftlich Thema geworden. Dabei konnten schon erste konkrete Veränderungen erreicht werden – wie eine Dritte Option im Personenstand. Andere stehen hingegen noch aus – das gilt insbesondere für das Verbot geschlechtszuweisender und -vereindeutigender Eingriffe bei intergeschlechtlichen Minderjährigen. Immerhin sorgt die gesellschaftliche Debatte für Überlegungen, das theoretische und das Handlungswissen in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit in verschiedenen Disziplinen zu erweitern und zu aktualisieren. Für die Soziale Arbeit soll in diesem Beitrag eine Bestandsaufnahme erfolgen und werden Empfehlungen für die Weiterentwicklung getroffen. Dabei wird auch vorgeschlagen, die Personen, die aufgrund der gesellschaftlichen und medizinischen Zurichtungen nicht (mehr) streiten wollen oder können, angemessen im Blick zu behalten.

Aktivismus als Ausgangspunkt von Veränderung Als im Jahr 2010 meine gleichermaßen in der Biologie und Soziologie verortete Dissertation Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologischmedizinischer Perspektive erschien, entfachte sie noch weitreichende Debatten. In solch prozesshafter Weise war biologisches Geschlecht zuvor nicht ausformuliert worden. Wissenschaftlich wurde die Arbeit quer durch die geistesund naturwissenschaftlichen Disziplinen wohlwollend aufgenommen, populär löste sie breite Diskussionen, Interesse, aber auch Gegenwehr aus. Heute lässt sich sagen, dass sich die Perspektive, biologisches Geschlecht prozesshaft und individuell zu denken, gesellschaftlich durchgesetzt hat. Inzwischen

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sind biologisch viele Geschlechter denkbar und lassen die Versuche nach, wahrnehmbare Vielfalt in binäre Schubladen zu pressen. Aber auch diese Betrachtungen wurden erst durch die Inter*-Bewegung angeregt. So erinnere ich mich an zwei Veranstaltungen zum Film Das verordnete Geschlecht (2001, D, R: Bertram Rotermund), zu denen wir – das war die AG queer bei der PDS Sachsen, in der ich mich damals engagierte, unter anderem in Kooperation mit trans.id (Transgender-Gruppe im Gerede e.V. Dresden) und SchLaU (Schwule und Lesben an der TU Dresden) – im Oktober 2002 den Regisseur Bertram Rotermund nach Dresden und im Mai 2003 die intergeschlechtliche Aktivistin, Kirchenmusikerin und Protagonistin im Film Elisabeth Müller nach Leipzig eingeladen hatten. Das verordnete Geschlecht richtet den Blick auf die medizinische Gewalt gegen intergeschlechtliche Menschen, zentral geht es um Michel Reiters Klage für einen dritten Geschlechtseintrag, die damals noch vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte. Schon dieser Film schilderte öffentlichkeitswirksam die Situation intergeschlechtlicher Menschen und hat dazu beigetragen, dass gesellschaftliche Diskussionen entfacht wurden, und dass auch ich vieles über die Wirkmächtigkeit von Zweigeschlechtlichkeit verstehen konnte. Heute ist die gesellschaftliche Diskussion weiter: Durch fortwährenden Aktivismus Intergeschlechtlicher, der zu einer breiten gesellschaftlichen Skandalisierung der bisherigen – und noch anhaltenden – medizinischen Behandlungspraxis ihnen gegenüber geführt hat, ist ein gesellschaftlicher Hintergrund entstanden, sodass die neuerliche Klage für einen – anerkennenden – dritten Geschlechtseintrag erfolgreich sein konnte. Und doch brauchte es auch hier engagierte Einzelpersonen, die sich in der Kampagne Dritte Option zusammenschlossen, die sich der gerichtlichen Entscheidung und der interessierten – und auch zuweilen übergriffigen – Öffentlichkeit ausgesetzt haben. Die Kampagne Dritte Option traf nun auf ein Bundesverfassungsgericht, dass auf den langjährigen gesellschaftlichen Debatten und wissenschaftlichen Studien aufbauen konnte und für einen dritten Geschlechtseintrag (wahlweise die Abschaffung der staatlichen Geschlechtseintragung insgesamt) urteilte. Stetiger Aktivismus kann zu Veränderungen führen. Dabei sollten alle gewürdigt werden, die in der ersten Reihe stritten und weiterhin streiten – vor allem auch diejenigen, die sich früh auf den Weg machten und massive individuelle Belastungen in Kauf genommen haben. Die Klage von Michel Reiter, die im Film Das verordnete Geschlecht dokumentiert ist, und der Film selbst haben für die aktuellen Entwicklungen den Weg bereitet.

Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit

Heike Bödeker, die sich nach Feldforschungsaufenthalten in Kanada von 1994 bis 1999 in der BRD und den USA wissenschaftlich und aktivistisch für das früh aufkeimende Intersex Movement engagierte, soll hier mit ihrer Einschätzung aus dem Jahr 2016 zu Wort kommen: »Als ich Ende August 2014 eine Einladung erhielt, etwas über Intersexualität zu [einem] Sammelband beizutragen, der sich mit ›geschlechtlicher, sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung‹ befassen sollte, fühlte ich mich einerseits sehr geehrt, umso mehr da ich seit immerhin Sommer bis Herbst 2000 über Intersexualität nicht mehr gearbeitet hatte […]. Andererseits war meine eigene persönliche wie aktivistische Erfahrung mit Intersexualität in leider nicht zu geringen Teilen sogar äußerst negativ. Von Selbstbestimmtheit (und, für mich wesentlich: Würde), was Geschlecht und Sexualität anginge, aber auch weiteren persönlichen Bereichen, hätte ich zumindest nach meinen eigenen Maßstäben, die nämlich ein sehr hohes Maß an Autonomie voraussetzten, im Zusammenhang mit Intersexualität erst gar nicht zu sprechen gewagt. Ich hätte dies durchaus leicht mit dem Sarkasmus abwehren können wollen, dass für Intersexe das ohnehin schon oft genug missbrauchte […] Freud’sche Diktum ›Anatomie ist [das] Schicksal‹ […] in einem ganz besonderen Maße gälte. Zumindest hätte das für diejenigen Intersexen zu gelten, denen als Kindern und Jugendlichen quälerische chirurgische und endokrinologische Behandlungen und terroristische erzieherische Dressurakte als alternativlos aufgeherrscht wurden, ohne auch nur einen allergeringsten Ansatz eines Mitspracherechtes in Belangen eingeräumt zu bekommen, die doch sonst als die allerintimsten gelten sollen, oder die mit Drohungen eingeschüchtert oder vermittels gezielter Falschinformationen manipuliert wurden, um sie gefügig, compliant zu machen. Es ist allerdings zu betonen, dass derlei rüde Umgangsformen sich mitnichten nur Mediziner zu Schulden kommen lassen, sondern auch Eltern, Geschwister und weitere Umfelder […].« (Bödeker 2016: 117ff. Belege ausgelassen)

Aktivismus in der Sozialen Arbeit ernst nehmen Sozialwissenschaften und ganz besonders die praktisch orientierten Disziplinen Sozialpädagogik und Soziale Arbeit sehen sich, gerade wenn es sich um menschenrechtebasierte Ansätze wie den der Menschenrechtebasierten Sozialen Arbeit handelt, herausgefordert, die eigene Wissenschaftlichkeit und Profes-

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sionalität herauszustellen. Das geschieht zuweilen dadurch, dass man sich von Aktivismus abzugrenzen sucht – entweder direkt inhaltlich oder indirekt durch eine ausschließende Sprache, wie sie auch Arbeiten prägen kann, die eigentlich auf eine breite Öffentlichkeit zielen. Wissenschaftlichkeit und Professionalität stellen gewiss Anforderungen: Es geht gerade um empirische Absicherung, theoriegeleitete Analyse, Abwägen, Reflexion und Kontextualisierung. Und auf diese Weise können wissenschaftliche Disziplinen auch Ansätze, die sich bewegungsbasiert entwickelt haben, durch weitere Fundierung unterstützen. Hinderlich wäre hingegen eine Abgrenzung gegen Aktivismus und Bewegung, da sie äußerst innovativ sind – und akademische Reflexion gerade im sozialwissenschaftlichen Kontext notwendigerweise erst stattfinden kann, wenn die Entwicklungen schon vorangeschritten sind. Nah an Aktivismus und Bewegung dran zu sein kann die Wege verkürzen, bis Analyse und Reflexion stattfinden können. Derzeit am augenscheinlichsten ist das in Bezug auf Intersektionalität: Während der akademische Betrieb in Deutschland noch zaghaft die Tuchfühlung zur verschränkten Sicht auf Herrschaftsverhältnisse sucht – unter Intersektionalität werden insbesondere Rassismus, Geschlechterund Klassenverhältnis verwoben gedacht –, kann die Schwarze deutsche Frauenbewegung schon als intersektional gelten, noch bevor es den Begriff Intersektionalität überhaupt gab und sich – ebenso aus der Praxis – das Konzept Intersektionalität zur Analyse von Unterdrückungsverhältnissen etablierte. Hier war und ist der wissenschaftliche Betrieb in der Bundesrepublik langsam und entkernt mitunter das Konzept Intersektionalität so sehr, dass es für die praktische Arbeit unbrauchbar wird. (Vgl. Sweetapple/Wolter/Voß 2020) Diese Lücke zwischen Aktivismus und akademischer Aufnahme ist für Intersektionalität mittlerweile thematisiert. Für Intergeschlechtlichkeit lässt sich Vergleichbares festhalten: Aus der Not und Gewalterfahrung heraus haben sich hier Menschen zusammengeschlossen, lautstarke Demonstrationen organisiert, Stellungnahmen für bundesweite und internationale Gremien verfasst, juristische Klagen geführt – und eine Öffentlichkeit erreicht, um die traumatisierenden medizinischen Eingriffe gegen intergeschlechtliche Minderjährige zu problematisieren. Wissenschaftler*innen waren hier schon früh mit dabei – etwa wenn wir an die Arbeiten von Anne Fausto-Sterling (1993) und Suzanne J. Kessler (1990) denken, die wegweisend für den USamerikanischen Inter*-Aktivismus waren (vgl. Karkazis 2008) –, aber das ganze wissenschaftliche Bereiche wie die Soziale Arbeit sich öffnen und

Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit

Inter* in der Analyse und Reflexion berücksichtigen, das begann erst spät – und ist bis heute nur in Ansätzen verwirklicht. Gleichzeitig sind die Bedarfe für das Handlungsfeld Soziale Arbeit längst da – bevor wir dazu kommen, soll noch ein weiterer analytischer Hinweis vorangestellt werden.

Queere Scham Geschichte wird oftmals als Erfolgsgeschichte betrieben. Auch wenn noch viel zu tun ist, damit die geschlechtszuweisenden und -vereindeutigenden medizinischen Eingriffe gegen intergeschlechtliche Minderjährige in Deutschland tatsächlich unterbunden werden, so lädt der Einsatz für eine juristische dritte Geschlechtsoption doch dazu ein, eine Erfolgsgeschichte zu erzählen. Es würden alle Ereignisse aneinandergereiht werden, die näher auf das Ergebnis zuführten. Die gescheiterten Versuche, die Menschen, die nicht mehr streiten konnten und können, weil sie durch das medizinische System oder die Gesellschaft so beschädigt wurden, drohen aus dem Blick und in Vergessenheit zu geraten. Yener Bayramoğlu (2018) lädt in seinem Band Queere (Un-)Sichtbarkeiten in Anlehnung an den englischsprachigen Diskussionsstand auch für die deutschen und die türkischen queeren Debatten dazu ein, neben den ›positiven‹ Seiten auch wahrzunehmen, dass die Betrachtung queerer Geschichte bedeutet, eine »Geschichte voller trauriger Momente« (ebd.,14) zu sehen. Auch »solche traurigen Momente [sind] so prägend, sogar konstitutiv für viele queere Identifikationen« (ebd.) – und auch wenn es wichtig sei, die »glücklichen Momente [und…] Stolz als schöpferische[] Kräfte[]« (ebd.) zu untersuchen, so gelte es zugleich, die »Momente der Scham als prägend für die Identifikationsprozesse in den Blick zu rücken« (ebd.). Mit Scham sind nach Bayramoğlu Verletzlichkeiten verbunden, die konstitutiv für Identifikation und Geschichte sind. Denken wir an Intergeschlechtlichkeit, das Streiten Einzelner und von Selbstorganisationen, so ist konstitutiv, dass durch die gefahrvollen und komplikationsbehafteten geschlechtszuweisenden und -vereindeutigenden medizinischen Eingriffe Menschen so geschädigt wurden, »dass sie nicht in der Lage sind, einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen, oder sie sind infolge der Eingriffe schwer behindert« (Deutscher Ethikrat 2012: 165). Das seit der Nazi-Zeit technisch und theoretisch entwickelte Behandlungsprogramm gegen intergeschlechtliche Minderjährige, das ab den 1950er Jahren – dann ausgehend von Baltimore (USA) – zur Routinebehandlung

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wurde, dürfte durch direkte medizinische Komplikationen und durch zu vermutende hohe Suizidversuchs- und Suizidraten unter den behandelten Menschen viele Opfer gefordert haben (vgl. etwa Zwischengeschlecht 2011, Zwischengeschlecht 2013a, 2013b, Voß 2014). Die Überlebenden – der Begriff ist in dieser Deutlichkeit erforderlich –, die dies konnten, haben angefangen zu streiten, damit das medizinische Behandlungsprogramm verboten wird. Dabei war es einer der wichtigen Ansatzpunkte, die staatliche Geschlechtseintragung als gewaltvoll und nicht die gesellschaftliche Realität abbildend zu thematisieren, da sich behandelnde Mediziner*innen in Deutschland gern auf eine Position zurückzogen, dass die klare, binäre Geschlechtszurichtung ja staatlich gefordert werde (vgl. schon Reiter 2000). Die Kämpfe werden dann sichtbar, wenn man auch die Opfer der Gesellschaft und der Unterdrückung sieht, die nicht mehr am Erfolg teilhaben können. Gleichzeitig wird durch einen solchen Blick sichtbar, dass es sich bei dem dritten Geschlechtseintrag lediglich um einen Teilerfolg handelt, während die medizinischen Normierungspraxen gegen intergeschlechtliche Minderjährige anhalten.

Die Thematisierung von Intergeschlechtlichkeit und der Dritten Option in der Sozialen Arbeit Sehen wir auf die Soziale Arbeit, so sind im Hinblick auf die Verankerung von Intergeschlechtlichkeit und die Dritte Option die Ebenen (a) Ausbildung, (b) Fort- und Weiterbildung und (c) Soziale Arbeit als Handlungsfeld zu bedenken. Auf allen Ebenen zeigen sich noch erhebliche Defizite. Die inhaltliche und strukturelle Berücksichtigung von Intergeschlechtlichkeit und Dritter Option stehen noch aus bzw. sind, positiv ausgedrückt, in der Entwicklungsund Etablierungsphase. Im Rahmen des an der Hochschule Merseburg angesiedelten Projekts CuFoTI, das sich mit der curricularen Verankerung der Themenfelder Intergeschlechtlichkeit und Transgender in den Curricula verschiedener Studienund Ausbildungsgänge befasst (vgl. Ratz et al. 2020), haben wir1 die inhaltliche Verankerung von Intergeschlechtlichkeit im Studium der Sozialen Arbeit analysiert. Dabei untersuchten wir, wie stark Intergeschlechtlichkeit im 1

Mitarbeiter*innen im Projekt: Levke Ratz und Tina Bauer; Projektleitung: Prof. Dr. Maika Böhm und Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß (alle Hochschule Merseburg).

Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit

Handlungsfeld und im Studium der Sozialen Arbeit verankert ist, und wir formulierten aus, über welche Kenntnisse zu Intergeschlechtlichkeit Fachkräfte in der Sozialen Arbeit verfügen sollten. Konkret heißt es im Schlussbericht des Projekts (vgl. Ratz et al. 2020).

Anforderungen an Fachkräfte der Sozialen Arbeit Sozialarbeiter*innen unterstützen und beraten Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen dabei, ihre Rechte wahrzunehmen. In der Sozialen Arbeit ist ein Fokus auf verschiedene Risikogruppen oder marginalisierte Personengruppen gängig, zum Beispiel Drogennutzer*innen oder Menschen im Strafvollzug. Um klient*innenzentriert arbeiten zu können, ist Wissen über die Lebensrealität der Klient*innen sowie um gesellschaftliche Vorurteile und Barrieren notwendig. Dies gilt auch in Bezug auf inter* Personen. Sozialarbeiter*innen sollten demnach in ihrer Ausbildung sowohl Wissen über die rechtlichen Grundlagen und gesellschaftlichen Debatten in Bezug auf Inter* als auch Wissen über spezifische Ressourcen und Herausforderungen von inter* Personen erlangen, um inter* Klient*innen angemessen begleiten zu können. Darüber hinaus sollten sie einen Überblick über die regionalen communitybasierten Beratungs- und Unterstützungsangebote für inter* Personen sowie deren Angehörige haben.

Verankerung von Intergeschlechtlichkeit im Handlungsfeld Soziale Arbeit Nach einer Pilotstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) werden die vorhandenen Beratungsstrukturen von 96 % der Befragten als unzureichend eingeschätzt (vgl. BMFSFJ 2016a: 6). Abgefragt wurden auch die dringendsten Beratungsthemen, wobei folgende genannt wurden: • • • • • •

Umgang mit Intergeschlechtlichkeit im sozialen Umfeld, Anerkennung der körpergeschlechtlichen Entwicklung, Aufklärung über Risiken und Grenzen medizinischer Maßnahmen, Sprechen über Intergeschlechtlichkeit in der Familie, Hilfe bei Entscheidungen über medizinische Maßnahmen, Möglichkeiten zum offenen Leben zwischen den Geschlechtern (vgl. ebd.: 17).

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Rund 96 % der Befragten finden, dass umfassende Beratungen relevant sind, um informierte und überlegte Entscheidungen treffen zu können (vgl. ebd.: 19). Verbesserungsbedarf wird aus der Pilotstudie vor allem hinsichtlich der Enttabuisierung von Inter*, der Erhöhung der Qualität und Erhöhung der Quantität der Beratungsangebote abgeleitet (vgl. ebd.: 34-37). Es gibt nur wenige Beratungsstellen, die explizit Inter* als Thema benennen (z.B. Queer Leben Berlin, Intersexuelle Menschen e.V., TriQ e.V., dgti e.V.). Mehrmals jährlich finden Selbsthilfe-Wochenendtreffen für inter* Personen statt, auf denen auch psychische Themen adressiert werden. Die Grundannahme von community-basierter Beratung ist, dass ein*e Berater*in, der*die Erfahrungsexpert*in im Bereich Inter* ist, durch die Verbindung mit einer Beratungsausbildung zu einer qualifizierten Fachperson wird. Differenziert werden sollte zwischen community-basierten Angeboten, die als Selbsthilfe funktionieren (z.B. moderierte inter* Gruppen, Selbsthilfegruppen), und qualifizierter community-basierter Beratung. In der wissenschaftlichen Begleitforschung der Trans*- und Inter*- Beratungsstelle Queer Leben in Berlin wurden dabei fünf zentrale Kategorien deutlich, die die community-basierte Beratungsstelle auszeichnet: »Fachliche Kompetenz, Empathie, Beratungsbeziehung, Ermutigung/Vorbildfunktion und Empowerment/politische Ebene« (Schwulenberatung Berlin 2017: 46). Selbstverständlich können inter* Personen vielfältige Beratungsanliegen haben, in denen der Fokus nicht auf Geschlechtlichkeit liegt. Für gelungene Beratungssettings sind die Haltung der beratenden Person sowie ihr Wissen um Inter* Lebensrealitäten elementar. Die Vulnerabilität von inter* Personen in Bezug auf Diskriminierungen in einer zweigeschlechtlich geprägten Gesellschaft sollte anerkannt werden, ohne Personen auf diesen Umstand zu reduzieren (vgl. Hechler 2016: 174). Aus diesem Grund eignet sich Peer-Beratung insbesondere für ein Beratungssetting, das Stigmatisierungen vermeidet und das Geschlecht der ratsuchenden Person als eines von vielen Merkmalen sieht (vgl. Schwulenberatung Berlin 2017: 49-52). (Vgl. auch Ratz et al. 2020)

Verankerung von Intergeschlechtlichkeit im Studium der Sozialen Arbeit Intergeschlechtlichkeit taucht bei Analyse der Vorlesungs- und Modulverzeichnisse im Studium der Sozialen Arbeit eher als Randthema auf. Neben anderen Themen wird Intergeschlechtlichkeit in Seminaren zu geschlechtlicher (und sexueller) Vielfalt thematisiert. Auch solche unspezifisch auf geschlechtliche (und sexuelle) Vielfalt orientierten Seminare sind aber bis-

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lang noch nicht an allen Hochschulen mit Studiengängen der Sozialen Arbeit etabliert. Für Fort- und Weiterbildungen liegen keine aktuellen Erkenntnisse vor – es ist aber auch hier von einer größeren Leerstelle auszugehen. (Vgl. auch Ratz et al. 2020)

Ableitungen und Handlungsempfehlungen Intergeschlechtlichkeit sollte integraler Bestandteil im Studium der Sozialen Arbeit werden. Dabei gilt es zunächst, den Spezifika von Intergeschlechtlichkeit ganz explizit Rechnung zu tragen. Das kann durch eigenständige Seminare zu Intergeschlechtlichkeit gelingen. In einem zweiten Entwicklungsschritt könnte Intergeschlechtlichkeit als grundlegendes ›Querschnittsthema‹ in Lehrveranstaltungen der Sozialen Arbeit integriert werden. Im Studium sollten rechtliche Grundlagen und gesellschaftliche Debatten (auch in geschichtlicher und aktivistischer Dimension, Stichwort: Queere Scham) in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit vermittelt werden; darüber hinaus sind medizinische und psychologische Kenntnisse relevant, um intergeschlechtlichen Klient*innen adäquat begegnen zu können (unter anderem im Hinblick auf ihre Ressourcen und Herausforderungen); auch sollten (regionale) community-basierte Beratungs- und Unterstützungsangebote Thema sein. Bedeutsam ist für Intergeschlechtlichkeit – wie auch für andere Zielgruppen der Sozialen Arbeit – Selbstreflexion der beratenden und unterstützenden Fachkräfte. Erst auf Basis der Reflexion eigener geschlechtlicher Sozialisation und der Kenntnis von weiteren Möglichkeiten von Sozialisation kann eine klient*innen-zentrierte Beratung und Unterstützung gelingen. Wichtig ist es, dass auch intergeschlechtliche Menschen als heterogene Zielgruppe wahrgenommen werden (auch intersektionale Bezüge zu Lebensrealitäten sind erforderlich); ratsuchende Personen sollten von Fachkräften der Sozialen Arbeit nicht vordergründig auf ein Thema festgeschrieben werden – auch eine intergeschlechtliche Person kann wegen ganz anderer – nicht-geschlechtlicher – Belange Beratung und Unterstützung suchen. Um den Kenntnisstand zu Intergeschlechtlichkeit bei bereits tätigen Fachkräften der Sozialen Arbeit erweitern zu können, sind praxisnahe Fortund Weiterbildungen erforderlich, die explizit auf Intergeschlechtlichkeit fokussieren. Auch diese sollten – in komprimierter Form – den Inhalten Rechnung tragen, die in den vorangegangenen Punkten für das Studium formuliert sind.

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In Bezug auf das Handlungsfeld Sozialer Arbeit sollte jede Beratungseinrichtung zumindest Verweiskompetenz im Hinblick auf spezifische geschlechtliche Fragestellungen zu Intergeschlechtlichkeit erlangen: Ratsuchende Personen sollten professionell an spezialisierte, interdisziplinäre Beratungseinrichtungen für Intergeschlechtliche verwiesen werden können. Spezifische Beratungsstellen, die auf (geschlechtliche) Belange intergeschlechtlicher Menschen spezialisiert sind, sind bislang noch rar – je Bundesland sollte, so noch nicht existent, zumindest eine interdisziplinäre Beratungsstelle entstehen, deren Aufgabenspektrum auch – aber nicht nur – im Themenspektrum der Sozialen Arbeit liegt. (Vgl. auch Tillmanns 2015, Tillmanns 2016, TransInterQueer 2016)

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Intergeschlechtlichkeit und Dritte Option als Querschnittsaufgabe der Sozialen Arbeit

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Die Dritte Option und ihre Relevanz in Jugendarbeit und Jugendkulturforschung Anne Rimbach

Der vorliegende Beitrag thematisiert die Bedeutung der Dritten Option für die Jugendarbeit als Handlungsfeld der Profession Sozialer Arbeit. Hierfür werden intersektionale und queere Perspektiven erörtert, um die Notwendigkeit ebendieser für Jugendarbeit und Jugendkulturforschung zu begründen. Es wird ein Blick auf sozialpädagogische Fachkräfte in der Jugendarbeit geworfen und Erkenntnisse aus Queer Theory und Intersektionalität dargelegt. Anschließend liegt der Fokus auf intersektionaler, queerer Forschung in der Sozialen Arbeit, um diese abschließend in der Jugendkulturforschung am Beispiel der Hardcore-Szene zu thematisieren. Insbesondere in der Jugend spielen Themen wie Geschlecht und sexuelle Orientierung eine große Rolle. Jugendliche stehen vor der Aufgabe der Identitätsentwicklung und sind mit vielfältigen gesellschaftlichen Anforderungen konfrontiert – insbesondere mit normativen Vorstellungen von Geschlecht, welche zudem in Wechselwirkung mit anderen Differenzkategorien stehen und zu Diskriminierungserfahrungen führen können. Jugendliche, die nicht der zweigeschlechtlich und heterosexuell verfassten Gesellschaft entsprechen, stehen vielen Herausforderungen gegenüber. Sie erleben häufig Abwertungen und Gewalt in ihrem Umfeld und leben mit Ängsten und Sorgen, von denen heterosexuelle, endogeschlechtliche Jugendliche, die sich binär männlich oder weiblich verorten, nicht betroffen sind (vgl. Groß 2020 i.E. sowie Nachtigall/Ghattas in diesem Band). Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Lebensweisen und Selbstdefinitionen von sich als schwul, lesbisch, trans*, inter*, nichtbinären, genderfluiden usw. Jugendlichen oftmals sprachlich unter dem Begriff ›queer‹ zusammengefasst sind, sich in ihren Erfahrungen und Bedarfen unterscheiden und nicht gleichgesetzt werden dürfen (vgl. ebd.), da dies zur Unsichtbarmachung führen würde und nur schwer Ermöglichungsräume für spezifische Unterstützungsbedarfe geschaffen werden können.

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Anne Rimbach

Fachkräfte in der Jugendarbeit Jugendarbeit hat eine besondere Bedeutung für jugendliches Aufwachsen, da sie Jugendlichen Räume bietet, in welchen sie weniger reglementiert und kontrolliert sind, als es an anderen Orten der Fall ist (vgl. Baacke 2007 sowie Prasse in diesem Band). Hier finden Jugendliche einerseits »offene Gelegenheitsstrukturen und Räume für jugendkulturelle Gesellungsformen […] zum anderen [treffen sie auf] Beziehungsangebote von Erwachsenen, die anders sind als die Erwachsenen, welche Jugendlichen in den gesellschaftlichen Machtpositionen und Chancenverteilungsapparaten begegnen […]« (Müller 2013: 243). Scherr formuliert in seinem Ansatz zur subjektorientierten Jugendarbeit, die auf einem emanzipatorischen, kritischen Bildungsbegriff beruht, dass die »Kernaufgabe von Jugendarbeit als eigenständiges Arbeitsfeld der Sozialarbeit und Sozialpädagogik nicht darin gesehen werden kann, auf unangepasste, ärgerliche und irritierende Verhaltensweisen Jugendlicher in der Absicht zu reagieren, diese zu sozial unauffälligen, angepassten Gesellschaftsmitgliedern zu erziehen, die geltende Gesetze beachten und ihre Lebensführung an den Leitnormen der Arbeits- und Konsumgesellschaft orientieren.« (Scherr 2005: 206) Anspruch der subjektorientierten Jugendarbeit ist es, die »Stärkung autonomer Urteils-, Entscheidungs-, Handlungsfähigkeit in Auseinandersetzung mit inneren Blockaden und äußeren Einschränkungen, mit verinnerlichten Ohnmachtserfahrungen und Inkompetenzzuschreibungen, mit Konformitätserwartungen, vorgefundenen Identitätsschablonen, gesellschaftlichen Zwängen, den Glücksversprechungen der Konsumgesellschaft« (ebd.) zu ermöglichen. Da Soziale Arbeit nie gänzlich von Prozessen der Differenzierung, Normalisierung und Normierung zu trennen ist (vgl. Böhnisch/Schröer/Thiersch 2005), besteht die Gefahr, aus einer hegemonialen Perspektive »an der Herstellung und Bestätigung von vorherrschenden Normalitätsvorstellungen, Differenzordnungen und Grenzziehungen« (Riegel 2012: 49) mitzuwirken, was eine Reproduktion und Legitimation von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zur Folge hätte (vgl. Plößer 2010). Daraus ergibt sich für Fachkräfte insbesondere in der Jugendarbeit eine notwendige kritische Auseinandersetzung mit Fragen nach Anpassung und Normierung durch Soziale Arbeit und auch eine Reflexion der eigenen Wert- und Normvorstellungen der Sozialarbeiter*innen. Eigene Ausschließungen und Ausgrenzungen gilt es durch Selbstreflexivität aufzuspüren (vgl. Groß 2014). Micus-Loos (2013) weist auf die Bedeutsamkeit der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession hin, »Diskurse, Normen

Die Dritte Option und ihre Relevanz in Jugendarbeit und Jugendkulturforschung

und Ideale, zu denen sich Subjekte in Beziehung setzen, an denen sie sich zu orientieren haben, zu erweitern und zu verschieben« (ebd.: 189). Dies bedeutet, als Fachkraft »nicht nur systemimmanent zu agieren, sondern im Sinne des Tripel-Mandats an den Schnittstellen von Institutionen und Gesellschaft zu wirken, die Menschenrechte als Handlungsorientierung im Blick zu behalten, sich im Sinne des politischen Mandats einzumischen, die Beteiligung an Machtprozessen zu reflektieren und Begrenzungsmacht für mehr soziale Gerechtigkeit einzusetzen und Behinderungsmacht zu verhindern suchen« (ebd.; vgl. dazu auch Staub-Bernasconi 2005). Insbesondere vor dem Hintergrund einer reflexiven Professionalität (vgl. von Spiegel 2011) ist es erforderlich, gendersensible theoretische Zugänge zur Sozialen Arbeit zu berücksichtigen (vgl. Schrader 2014), um z.B. als Fachkraft die eigenen Normalitätsvorstellungen und Denkmuster u.a. in Bezug auf Geschlechterrollen zu reflektieren, damit eine Reproduktion eben dieser verhindert werden kann.

Zur Notwendigkeit einer intersektionalen, queeren Perspektive Hilfreich für das Erkennen und Verändern der Prozesse von ungleichheitsgenerierenden Strukturen und Mechanismen ist eine intersektionale Perspektive. Diese kann fruchtbar gemacht werden für die »reflektierende Betrachtung und Weiterentwicklung von Disziplin und Profession Sozialer Arbeit sowie als Analyse- und Reflexionsinstrument für sozialpädagogische Forschung und Praxis« (Riegel 2012: 47). So können nicht nur normierte und normierende Denkmuster der Fachkräfte reflektiert werden, sondern auch Ausgrenzungsprozesse unter Adressat*innen wahrgenommen werden, welche es aufzugreifen gilt, um einen möglichst diskriminierungsfreien Raum für alle Jugendlichen zu schaffen. Insbesondere queere Jugendliche sind mit Herausforderungen konfrontiert, die in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit berücksichtigt werden müssen (vgl. Groß 2020 i.E.). Queere Bildungsarbeit muss ein Querschnittsthema in der Sozialen Arbeit sein, will diese ihrer Bestimmung als Menschenrechtsprofession gerecht werden (vgl. Staub-Bernasconi 2005).

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Erkenntnisse aus Queer Theory und Intersektionalität Wissen um Queer Theory und Intersektionalität bildet wesentliche theoretische Fundamente, um Geschlechterthematiken aufzugreifen und auch eigene Normalitätsanforderungen wahrzunehmen sowie zu reflektieren. Dieses Wissen ist unabdingbar in der sozialpädagogischen Arbeit selbst, insbesondere aber auch dafür, gesellschaftliche Strukturen und damit einhergehende, wechselwirkende Benachteiligungen aufzudecken. Durch queere Betrachtungsweisen sollen »Normalitäten sowie daran geknüpfte Mechanismen und Prozesse gesellschaftlicher Normierungen und Ausschlussmechanismen sichtbar« (Degele 2008: 12) gemacht und kritisiert werden. Ziel der Queer Theory ist es, die »etablierte gesellschaftliche Ordnung als zweigeschlechtlich und heterosexuell organisierte Zwangsveranstaltung [mit wissenschaftlichen Mitteln] auf den Kopf [zu] stellen […]« (ebd.: 41). Somit wird es möglich, gesellschaftliche Normalisierungen und Zwänge, die nicht ausschließlich auf Geschlecht rekurrieren, sichtbar zu machen und die damit einhergehenden Ausgrenzungsmechanismen aufzuspüren. Ein zentrales Thema der Queer Theory ist die Kritik der Heteronormativität, mit der die Naturalisierung und Privilegierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit herausgefordert wird. Dekonstruiert wird nicht nur die auf Alltagswissen basierende Annahme, es gäbe zwei gegensätzliche Geschlechter und diese seien sexuell aufeinander bezogen. Vielmehr wird untersucht, auf welche Art und Weise »Heterosexualität in die soziale Textur unserer Gesellschaft, in Geschlechterkonzeptionen und in kulturelle Vorstellungen von Körper, Familie, Individualität, Nation, in die Trennung von privat/öffentlich eingewoben ist, ohne selbst als soziale Textur bzw. als produktive Matrix von Geschlechterverhältnissen, Körper, Familie, Nation sichtbar zu sein« (Hark 2009: 318). Mit dem Begriff der Heteronormativität eng verbunden sind einige Werke von Butler; so auch »Das Unbehagen der Geschlechter« (im Original: Gendertrouble 1991), in dem sie sich mit Fragen nach der Natürlichkeit von Geschlecht und Begehren auseinandersetzt. Grundlegende Erkenntnis ist, dass Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität Ergebnisse sozialer Prozesse sind, welche sich gewaltförmig, disziplinierend und ausschließend konstituieren. Butler zufolge ist vor der Annahme eines Geschlechts die Repräsentation eines Individuums nicht möglich, was bedeutet, dass diese eine Voraussetzung der Subjektwerdung darstellt. Geschlecht entsteht nach Butler durch Anrufung, die sich direkt bei der Geburt vollzieht, indem der

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Mensch als binär männlich oder weiblich eingeordnet wird (vgl. Butler 1997: 145). Der Status eines anerkannten geschlechtlichen Subjekts wird erst mit der Annahme einer der beiden Zuschreibungen möglich und gestattet dem Menschen ein Entkommen »aus der Region des gleichgültigen, fragwürdigen oder unmöglichen Seins […]« (ebd.: 173). Um die Wirkmächtigkeit der performativen Anrufungen festschreiben zu können, bedarf es einer ständigen Wiederholung; eine einmalige Zitation der gesellschaftlichen Norm reicht nicht aus (vgl. Butler 1997: 32ff.). Die Regulation dieses Prozesses der Materialisierung vollzieht sich über die heterosexuelle Matrix, die Butler auch als »Matrix der Intelligibilität« bezeichnet (Butler 1991: 39). Gregor macht auf Intergeschlechtlichkeit als soziale Konstruktion aufmerksam, die es in einer »inter*sensiblen Sozialen Arbeit« (Gregor in diesem Band) durch Reflexion und in methodischen, konzeptionellen Überlegungen aufzugreifen gilt. Des Weiteren weist Gregor auf die Verwobenheiten von Intergeschlechtlichkeit mit rassifizierenden Kolonialisierungspraktiken hin. Intergeschlechtliche BIPoC (Black, Indigenous und People of Color) machen andere Diskriminierungserfahrungen als weiße intergeschlechtliche Personen (vgl. ausführlich ebd., siehe dazu auch Fütty 2019). Es wird ersichtlich, dass Verwobenheiten von Diskriminierungen aufgrund von Sexualität und Geschlecht mit auf anderen Kategorien basierenden Diskriminierungen wechselwirken und zu komplexen Diskriminierungserfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen führen. Dies gilt es in sozialpädagogischer Theorie und Praxis grundlegend einzubeziehen. Die Grundlagen und Erkenntnisse bezüglich sexueller Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten müssen in die Debatten um Intersektionalität eingebunden werden, um sie für eine intersektionale Mehrebenenanalyse fruchtbar zu machen. Ihren Ursprung hat Intersektionalität im Aktivismus Schwarzer Feminist*innen in den USA und wurde als Begriff von Kimberlé Crenshaw entfaltet. Intersektionalität ist »der Höhepunkt von Jahrzehnten der Selbstorganisation Schwarzer Frauen gegen die eigene Marginalisierung und für allgemeine Befreiung, von Anna Julia Cooper über Frances Beal, das Combahee River Collective und Audre Lorde bis zur National Welfare Rights Organization« (El-Tayeb 2019: 37). Für die Integration einer intersektionalen Perspektive in die sozialpädagogische Praxis eignet sich der Mehrebenenansatz von Winker und Degele (2009). Sie konstatieren drei Ebenen: 1. Soziale Strukturen, 2. Symbolische Repräsentationen, 3. Identitätskonstruktionen. Auf der Ebene der sozialen Strukturen benennen sie vier Herrschaftsverhältnisse: Bodyismen (hierzu zählen beispielsweise Schönheits-, Gesundheits-

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und Körpernormen), (Hetero-)Sexismen, Rassismen und Klassismen. Soziale Strukturen werden gesellschaftlich durch Institutionen und Gesetze widergespiegelt. Die Ebene der Symbolischen Repräsentationen beschreibt gesellschaftliche Anforderungen, Werte und Normen. Bilder, die uns täglich in den Sozialen Medien begegnen, uns sagen, was als ›normal‹ gilt. Die dritte Ebene ist die der Identitätskonstruktionen, in denen Selbstdefinitionen und das eigene Selbstbild eine Rolle spielen. Wie Menschen sich als queer, inter*, trans*, lesbisch usw. identifizieren, muss stets im Zusammenhang mit den beschränkenden oder ermöglichenden Strukturen und Repräsentationen sowie ihren Wechselwirkungen betrachtet werden. Des Weiteren handelt es sich beim Intersektionalen Mehrebenenansatz nach Winker und Degele um eine Methodologie, Methode und Auswertungsmethode, die in der qualitativen Sozialforschung Anwendung findet. »Intersektionale Sozialforschung mit der Intersektionalen Mehrebenenanalyse bedeutet zusammengefasst, auf der Grundlage eines feministisch-materialistischen Gesellschaftsverständnisses subjektorientiert zu forschen. Der Intersektionale Mehrebenenansatz interessiert sich in der empirischen Anwendung dafür, wie gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus durch soziale Praxen reproduziert und dabei gestaltet werden und wie Subjekte in ihren sozialen Praxen Formen des Widerstandes gegen miteinander verschränkte Formen rassistischer, heteronormativer, klassistischer und bodyistischer Ausbeutung, Ausgrenzung und Diskriminierung entwickeln.« (Ganz/Hausotter 2020: 46) Der Intersektionalen Mehrebenenanalyse liegt ein kritisch-transformatives Verständnis intersektionaler Sozialforschung zugrunde, mit dem Anliegen, einen Beitrag zur Kritik und Überwindung von Herrschaftsverhältnissen und sozialer Ungleichheit zu leisten (vgl. ebd.: 120). Die Intersektionale Mehrebenenanalyse knüpft dabei an die »theoriegeschichtliche Verbindung zwischen Wissenschaft und den politischen Kämpfen von mehrfach marginalisierten Menschen für soziale Gerechtigkeit und politische Teilhabe an« (ebd.). Die vorgestellten Ansätze zu Queer Theory und Intersektionalität ermöglichen es, eine intersektionale, queere Perspektive in Praxis und Forschung Sozialer Arbeit einzunehmen und so auch einen Beitrag zu leisten, spezifische Bedarfe von trans*- und inter* Personen zu formulieren und Ermöglichungsräume – insbesondere in der Jugendarbeit – zu schaffen.

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Intersektionale, queere Forschung in der Sozialen Arbeit Die intersektionale Mehrebenenanalyse findet vermehrt Anwendung in der Sozialen Arbeit und intersektionale Perspektiven erhalten Eingang in Forschung und Praxis.1 So machen Carstensen, Micus-Loos, Overdiek und Schrader (2018) auf die Intersektionale Mehrebenenanalyse in der Sozialen Arbeit Autonomer Frauenhäuser aufmerksam und plädieren für das konsequente Zusammendenken der Analyse wirkmächtiger Diskurse und struktureller Ungleichheiten mit den Aus- und Wechselwirkungen der Identitätskonstruktionen, um »ressourcenorientierte Handlungsansätze und Perspektiven zur Verbesserung der Situation von gewaltbetroffenen Frauen mit und ohne Psychiatrieerfahrung im Frauenhaus umzusetzen« (ebd.: 152). Schrader (2013) wendet die Intersektionale Mehrebenenalayse an, um Widersetzung und Handlungsfähigkeit Drogengebrauchender Sexarbeiterinnen herauszuarbeiten und Strategien der Selbstermächtigung zu entwickeln, die durch Stigmata und punitive Strukturen sowie damit einhergehender Rechtlosigkeit geprägt sind. Sie weist insbesondere in Bezug auf marginalisierte Gruppen in unserer kapitalistisch verfassten Gesellschaft auf die Notwendigkeit hin, dass sich Soziale Arbeit »im Sinne ihrer Klient_innen in menschenverachtende Politik einmischen muss« (Schrader 2014: 70f.). Groß (2010) zeigt mittels intersektionaler Mehrebenenanalyse auf, welchen Einfluss symbolische Repräsentationen in Form von Bildern über Jugend auf jugendliche Identitätskonstruktion haben (ebd.: 34) und verdeutlicht die Notwendigkeit der Dechiffrierung ebendieser Selbstkonstruktionen sowie das In Beziehung setzen zu symbolischen Repräsentationen und sozialen Strukturen (vgl. ebd.).2

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Die folgenden Ausführungen sind unvollständig, es gibt weitere Arbeiten, die sich mit intersektionalen Perspektiven in der Sozialen Arbeit beschäftigen und intersektional forschen. Dies würde jedoch den Rahmen des Beitrags sprengen. »Für die Soziale Arbeit ist es notwendig, jugendliche Selbstkonstruktionen zu dechiffrieren und in Beziehung mit sozialen Strukturen und symbolischen Repräsentationsweisen zu setzen, um sozialpolitisch formulierten Kontrollaufträgen konkrete Unterstützungsbedarfe entgegen setzen zu können.« (Groß 2010: 34)

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Intersektionale, queere Jugendkulturforschung am Beispiel der Hardcore-Szene Festzustellen ist, dass es keine einzige Studie zu inter*- und trans* Personen im Bereich der Jugendkulturforschung gibt. Zwar existieren Studien, die die Lebenssituationen von queeren Jugendlichen in den Blick nehmen, jedoch findet sich dort wenig zu den Anliegen und Herausforderungen intergeschlechtlicher Jugendlicher (vgl. Nachtigall/Ghattas in diesem Band). Inter*, trans*, genderfluide und nichtbinäre Anliegen bleiben in der Jugendkulturforschung jedoch gänzlich unsichtbar. »[D]ie Herstellung von irgendwie von klassischen Geschlechterrollen wird schon lange auf irgend ne Art und Weise kritisiert, aber so richtig kritisch reflektiert und zwar auch in der Szene intern und zwar gesamtgesellschaftlich das is n neues Phänomen.« (Interview 5, Zeile 304) Diese Aussage aus einem für mein Promotionsvorhaben3 geführten Interview zeigt eine szeneinterne Auseinandersetzung mit tradierten Geschlechterstereotypen und zugleich wird eine Veränderung auch im mehrheitsgesellschaftlichen Kontext wahrgenommen, dahingehend, dass diese Stereotype wesentlich kritischer verhandelt und reflektiert werden als zuvor. Dies spiegelt sich auch auf struktureller Ebene in der Gesetzgebung durch die Einführung der sogenannten »Ehe für alle« 2017 sowie die Möglichkeit des Geschlechtseintrages als »divers« 2018. Doch was ist Hardcore und wieso werden ausgerechnet in dieser Szene Geschlechterverhältnisse wissenschaftlich untersucht? Was macht diese Jugendszene so interessant auch aus der Perspektive geschlechtlicher Vielfalt? Zunächst ist anzumerken, dass dem Beitrag der Szenebegriff nach Hitzler und Niederbacher (2010) zugrunde liegt. Szenen basieren auf einer Interessenfokussierung, auf einem spezifischen Thema, welches durch eine eigene Sprache, bestimmte Umgangsformen, Rituale und Treffpunkte inszeniert wird und sich dadurch manifestiert (vgl. ebd.: 16ff.). Sie gelten als zentrale 3

Mein Promotionsprojekt »Queere Identitäten in der jugendkulturell geprägten Hardcore-Szene« (Arbeitstitel) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel wird von Prof.‹in Dr. Christiane Micus-Loos betreut. Mein Erkenntnisinteresse gilt dabei u.a. der Frage: »Welche Rolle spielen geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen in der Hardcore-Szene?«, welcher ich durch leitfadengestützte Interviews sowie Gruppendiskussionen nachgehe und mittels Intersektionaler Mehrebenenanalyse nach Winker und Degele (2009) auswerte.

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Instanzen der Sozialisation und Identitätsbildung, da durch die Szenezugehörigkeit die eigene Realität im Wechselspiel mit den Szenen und der Gesellschaft entworfen wird. Auf diese Weise können ambivalente Anforderungen der Gesellschaft in die eigene Lebensbiographie – insbesondere in der Jugendphase – sinnhaft eingebunden werden. Eine eindeutige Definition von Hardcore gibt es nicht (vgl. Calmbach 2007; Taler 2012; Büsser 2013). Hardcore ist – musikalisch und inhaltlich eng verbunden mit der Punk-Szene – durch einen Transformationsprozess entstanden, dessen Anfänge im Punk der 1970er Jahre liegen (vgl. Büsser 2013, Ableitinger 2004). Es handelt sich beim Hardcore um eine männlich dominierte, musikzentrierte, relativ kleine Szene, die sich antikapitalistisch, antisexistisch und antirassistisch konstituiert und auch Geschlechterrollen kritischer verhandelt als es in der Mehrheitsgesellschaft der Fall ist (vgl. Büsser 2013). Szenetypisch sind ein unangepasstes Auftreten und die Ablehnung mehrheitsgesellschaftlicher Werte und Normen. Bestimmte Werthaltungen, die in unterschiedlicher Ausprägung gelebt oder auch abgelehnt werden, schaffen Zugehörigkeit. Diese »ethischen Universalismen« sind DIY (Do It Yourself), PMA4 (Positive Mental Attitude), Straight Edge5 und Vegetarismus/Veganismus (vgl. Lorig/Vogelgesang 2011: 377). Jugendkulturforschung war lange Zeit vor allem Jungenforschung, was bereits in ihren Anfängen durch McRobbie kritisiert wurde (vgl. McRobbie/Garber 1979) die somit Zugehörigkeit sowie Partizipation weiblicher Jugendlicher in den Fokus der Forschung rückte (vgl. Schrader/Pfaff 2013). Gegenwärtige Arbeiten setzen insbesondere an Geschlechterkonstruktionen an (vgl. Groß/Wehr 2018). Sind wissenschaftliche Arbeiten zu Hardcore rar, so finden die Erfahrungen von Menschen, die eine nicht heterosexuelle cis-Männlichkeit leben innerhalb der Szene noch weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Das bedeutet, Inter*, Trans*, nichtbinäre, genderfluide Menschen sowie Menschen, die eine von der Heteronorm abweichende Sexualität leben – wie Bisexualität, Asexualität, Pansexualität, Homosexualität – finden keine Beachtung in der Forschung. Ein Großteil der Forschung im Hardcore bezieht sich auf Männlichkeitskonstruktionen sowie auf die Straight Edge-Bewegung und verbleibt auf einer zweigeschlechtlichen Ebene

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PMA meint eine positive Grundhaltung einhergehend mit verantwortungsvollem Handeln. Straight Edge beinhaltet die Ablehnung des Konsums jeglicher Drogen und kann als Gegenbewegung zur No-Future-Einstellung im Punk verstanden werden.

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(vgl. Schulze 2015, Lorig 2014, Mulder 2010). Eine intersektionale Analyse in Verbindung mit Visual Culture-Elementen, Gruppengesprächen und dem Kodierparadigma der Grounded Theory leisten Groß und Wehr (2014, 2018) im Rahmen des JuBri-Forschungsverbunds mittels szenetypischer Artefakte wie Fanzines. Materiale Objekte betrachten sie dabei als symbolische Repräsentationen und Identifizierungsangebote, die in sozialstrukturelle Verhältnisse eingebettet sind und diese reproduzieren, irritieren und transformieren können. Parodie, Irritation und Aneignung erweisen sich als Mittel, die bruchlose Reproduktion tradierter Geschlechterrollen zu stören. Insbesondere Techniken der Bricolage6 in Fanzines, Flyern und Postern stellen handlungsstrategisch ein wirkmächtiges Spiel mit Symbolen dar und können dadurch zu Bedeutungsverschiebungen führen. Allerdings sind auch Formen der Reproduktion mehrheitsgesellschaftlicher Geschlechterstereotype sichtbar (vgl. Groß/Wehr 2018). Anliegen von Trans*- und/oder Inter*innerhalb der Szene haben bisher keine wissenschaftliche Beachtung gefunden; teilweise sind Hinweise auf Wünsche und Erfahrungen von Trans*- und/oder Inter* in Fanzines7 zu finden.8 Die im Beitrag angeführten Sequenzen aus meinem empirischen Material9 dienen der Verdeutlichung einer Kritik an Zweigeschlechtlichkeit. Es ist zu betonen, dass das Material bisher nicht abschließend analysiert wurde, jedoch schon jetzt Hinweise auf geschlechtliche Veruneindeutigung deutlich werden: »Also das heißt, was heißt das jetzt eine Frau zu sein was ist Frau überhaupt, gibt es da, gibt es eine Eigentlichkeit und was ist natürlich und was ist weiblich. Will ich das sein oder will ich das nicht oder bin ich was anderes oder wenn ich was anderes bin heißt das dann das ich nicht weiblich bin, all diese Fragen ähm die ich lange weg geschoben hab weil es für mich, es gab halt kein, es gab keine Antworten und dann hat es weh getan drüber nachzudenken und auch das ist was das der Punk halt für mich kann ähm und was der mir quasi gemacht hat, war halt ein Angebot von hier guck ma so kannste,

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Bricolage meint die Aneignung und Neuzusammensetzung von Bruchstücken aus verschiedenen Zusammenhängen zu etwas völlig Neuem (vgl. Baacke 2007: 218f.). Fanzines sind Fan-Magazine und werden von Szenegänger*innen für Szenegänger*innen nach DIY-Praxis selbst hergestellt. Vgl. XCLUSIVX Fanzine Collective 2016; vgl. XGrrrlXZine 2014. S. Fußnote 3.

Die Dritte Option und ihre Relevanz in Jugendarbeit und Jugendkulturforschung

so kannste das sagen, wenn de willst oder so kannste denken, hier kannste dich mal ausprobieren und es gibt andere Leute, denen geht’s genauso.« (Interview 5, Zeile 285) Ebenfalls ersichtlich wird, welche Bedeutung die Punk-Szene, die mit der Harcore-Szene teilweise verbunden ist, für die interviewte Person hat. In der Szene hat sie einen Raum gefunden, in dem sich mit Geschlechterstereotypen verbunden mit Ausgrenzungsprozessen und Alternativen zu starren Geschlechterrollen sowie sprachlichen Veränderungsmöglichkeiten auseinandergesetzt wird.

Fazit Durch die Thematisierung queerer Identitäten und der vielfältigen Verwobenheiten von Ausgrenzungen in Forschung und Wissenschaft, kann sich szeneintern und auch im öffentlichen Diskurs sowie für die konkrete Praxis der Jugendarbeit etwas ändern. »Nur so lassen sich die innerhalb der Szenen existierenden Grenzziehungen beschreiben, um anschließend die Möglichkeit zu geben, Ausschlussmechanismen zu reflektieren und zu verhindern, dass Frauen und queere Geschlechtsidentitäten ganz aus der Forschung ausgeblendet werden« (Sülzle/Wehr 2018: 256). Die sogenannte »Dritte Option« ermöglicht eine Bewegung Richtung Veränderung auf struktureller Ebene und es ist notwendig, Anliegen von trans*und inter* Personen sowie allen Menschen, die sich nicht zweigeschlechtlich und/oder heterosexuell verorten, in der Jugendarbeit zu berücksichtigen (vgl. Groß 2020 i.E.). Die Sichtbarmachung von diskriminierenden Verhältnissen und ihren Wechselwirkungen ist dafür wesentlich; Differenzkategorien sowie Identität, Symbolische Repräsentation und Struktur wechselwirken (vgl. Winker/Degele 2009). Dafür müssen intersektionale und queere Forschung auch die Lebenswelten von Inter* und Trans*stärker in den Blick nehmen, um zum einen die geschlechtliche Vielfalt auch in Jugendkulturen zu analysieren und in ihrer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen zu verstehen und um zum anderen Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit und insbesondere die Jugendarbeit ziehen zu können.

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Die Relevanz queerer Jugendzentren für trans* und inter* Jugendliche und junge Erwachsene am Beispiel NRW Moritz Prasse

Nordrhein-Westfalen ist auf den ersten Blick für junge Queers, die sich mit anderen austauschen und vernetzen möchten, Beratungen oder Beziehungen suchen, ein Paradies. In keinem anderen Flächenland gibt es eine so hohe Verbreitung von LSBTI-Jugendtreffs und -Zentren. Ende der 1990er Jahre mit dem anyway in Köln gestartet, listet die Fachstelle Queere Jugend NRW mittlerweile über 20 Treffs, Zentren und Jugendgruppen.1 Der Großteil davon konnte sich in den vergangenen zehn Jahren professionalisieren und von dem ausschließlich ehrenamtlichen Betrieb zur Anstellung von Fachkräften wechseln. Damit konnten die Angebote verstetigt, qualitativ weiterentwickelt und so auch der fachlichen Diskussion außerhalb der queeren Communities zugeführt werden. Zudem unterstützt die Fachstelle Queere Jugend NRW die ehrenamtlich geführten queeren Jugendgruppen mit Fortbildungen und Beratungen, um auch an den Stellen, die nicht durch pädagogisches Fachpersonal besetzt sind, ein hohes Maß an Fachlichkeit zu gewährleisten. In dem vorliegenden Text wird die Relevanz, die queere Jugendtreffs und -zentren für trans*- und intergeschlechtliche Jugendliche mittlerweile einnehmen, dargestellt. Dabei wird zunächst kurz der Prozess der Öffnung von schwul-lesbischen Jugendtreffs für trans* und inter* Jugendliche skizziert und anschließend die Bedeutung der Orte für die eigene Identitätsfindung – bestenfalls als Ergänzung zu psychotherapeutischen Angeboten – erläutert.

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Queere Jugend NRW: https://queere-jugend-nrw.de/, (zuletzt abgerufen am 15.06.2020).

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Öffnung und Professionalisierung für trans* Jugendliche Viele der Orte haben als Treffs für junge Schwule und Lesben begonnen und sich im Laufe der Zeit für bisexuelle und trans* Jugendliche geöffnet, bzw. die Realität ihrer Besucher*innen auch in die Treffbeschreibung aufgenommen, indem sie sich in LSBT-, LSBTI, LSBT*IQ oder auch einfach nur in Queerer Jugendtreff umbenannt haben. Nur wenige Jugendtreffs richten ihr Angebot auch sprachlich explizit an inter* Jugendliche, darunter beispielsweise das Track Münster. Inwiefern es spezielle Angebote für trans* Jugendliche gibt, hängt unter anderem von der allgemeinen Struktur des Jugendtreffs ab. Etliche Jugendtreffs haben geschlechtsspezifische Angebote und eigene Mädchenbzw. Jungenöffnungstage. Diese Treffs arbeiten meist auch mit Trans*Öffnungstagen. Konzeptionell anders aufgestellte Jugendtreffs, die keine geschlechtsspezifischen Öffnungszeiten haben, bieten diese in der Regel auch nicht exklusiv für trans* Jugendliche an. Gemein ist den separaten Angeboten für trans* Jugendliche, dass sie nicht von den Fachkräften initiiert wurden, sondern auf Wunsch oder durch direkte Selbstorganisation der Adressat*innen entstanden sind. Gerade in der Phase der Transition ist vielen der Schutzraum im Schutzraum und der direkte, explizite Austausch mit anderen trans* Menschen besonders wichtig. Die Gestaltung des Beratungsangebots für trans* Jugendliche variiert von Stadt zu Stadt ebenfalls. Kleinere Treffs bieten teilweise gar keine explizite Beratung für ihre Adressat*innen an, sondern erwähnen lediglich, dass diese sich bei Problemen an die Mitarbeiter*innen wenden können.2 Andere haben ihr professionelles Beratungsangebot als festen Baustein im Konzept verankert, greifen für die Beratung von trans* Jugendlichen aber vor allem auf Ehrenamtliche zurück, die keine sozialpädagogische Ausbildung haben (vgl. Prasse 2019: 24). Der konzeptionelle Anspruch eine Peer-to-Peer-Beratung anzubieten, trifft an dieser Stelle auf die Problematik nur wenige Fachkräfte zu finden, die trans* sind. Die Verbreitung der Trans*-Beratung durch pädagogische Fachkräfte steigt aber stetig und deutlich schneller als in der Beratung von inter* Jugendlichen. Zumindest in den großen Städten, in denen die Jugendzentren ausreichend Mittel von Stadt und Land zur Verfügung gestellt bekommen, um hauptamtliche Mitarbeiter*innen zu finanzieren, finden sich 2

Vgl. z.B. Knutschfleck Aachen: https://www.knutschfleck-online.de/p/faq.html, (zuletzt abgerufen am 24.08.2020).

Die Relevanz queerer Jugendzentren

in der Regel auch Angestellte für die Trans*-Beratung, aber nicht für die Inter*-Beratung.3

Wenig Präsenz von inter* Jugendlichen Während queere Jugendzentren sich in den vergangenen Jahren verstärkt und erfolgreich darum bemühen in verschiedenen Hinsichten inklusiver zu werden, gelingt es meist nicht, die Anzahl von (geouteten) inter* Jugendlichen zu erhöhen – obwohl das Thema Intergeschlechtlichkeit durch das Verfahren der Kampagnengruppe »Dritte Option« und dem daraus entstandenen Gesetzgebungsverfahren in den queeren Communities und auch in den großen Medien erhöhte Aufmerksamkeit erfahren hat. Unter Sozialpädagog*innen, die in queeren Jugendzentren tätig sind, kursieren zwar einzelne Hypothesen darüber, weshalb nach wie vor relativ wenige inter* Jugendliche offen in Erscheinung treten, die jedoch bisher nicht eingehender untersucht wurden. Ein möglicher Grund dafür ist die Differenz zwischen medizinischer Diagnostik und identitärer Selbstpositionierung. Grundsätzlich ist die Liste der unterschiedlichen Diagnosen, die als Intergeschlechtlichkeit zählen, lang. Michaela Katzer (2016) listet allein 40 verschiedene Diagnosen und schreibt selbst davon, dass die Aufzählung unvollständig sei (vgl. ebd.: 88ff.). Die daraus resultierenden Lebenswege sind schon allein aufgrund der unterschiedlichen medizinischen Reaktionen um ein Vielfaches vielfältiger als im Bereich der Transgeschlechtlichkeit. Viele Menschen, »deren geschlechtliches Erscheinungsbild von Geburt an, hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen, der Hormonproduktion und der Körperform nicht nur männlich oder nur weiblich ausgeprägt ist, sondern scheinbar eine Mischung darstellt« (Intersexuelle Menschen e.V.4 ), wissen nichts von ihrer Intergeschlechtlichkeit, oder erleben sich selbst nicht als inter*. Etliche Diagnosen, die Interessensverbände zur Intergeschlechtlichkeit zählen, werden von Mediziner*innen nicht als solche erfasst, sondern lediglich als Erkrankungen, die zu

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Vgl. z.B. anyway Köln: www.anyway-koeln.de/team/, PULS Düsseldorf: https://sljd.d e/angebote-gruppen/trans/, Track Münster: http://track-ms.de/Ueber-Uns/Das-Team/, GAP Bonn: http://gap-in-bonn.de/trans/, Together Mülheim: https://together-virtuell. de/fuer-trans/trans-beratung/ (alle zuletzt abgerufen am 24.08.2020). Intersexuelle Menschen e.V.: https://www.im-ev.de/intersexualitaet/ (zuletzt abgerufen am 02.08.2020).

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Abweichungen von männlichen oder weiblichen Normen führen und als solche behandelt und »korrigiert« werden können. Prominentes Beispiel ist dabei AGS/CAH, eine Störung der Nebennierenfunktion, bei der Mediziner*innen in der Regel nicht von Intergeschlechtlichkeit sprechen, Interessensverbände sie aber aufführen (vgl. ebd.). In der Gesamtgesellschaft, wie auch in den queeren Jugendzentren, befinden sich daher Menschen, die sich aufgrund körperlicher Merkmale als Inter* bezeichnen könnten, aber aus genannten oder anderen Gründen selbst keine intergeschlechtliche Identität bilden und daher keine Notwendigkeit sehen, dies offen zu legen. Jugendliche, die keine Selbstpositionierung als inter* vornehmen, nutzen queere Jugendzentren daher vermutlich vor allem, weil sie lesbisch, bi-/pansexuell, schwul, trans* und/oder nicht-binär o.ä. sind. Es scheint für selbst-bewusste Zusammenschlüsse von intergeschlechtlichen Jugendlichen in queeren Jugendzentren entweder gerade keinen Bedarf zu geben, oder in den Jugendzentren fehlt es an Offenheit und Raum, eventuell auch schlicht an der richtigen Ansprache für ein solches Angebot. Da sich einige Inter*-Interessensverbände von queeren Communitys distanzieren, sind queere Jugendzentren möglicherweise auch nicht der passende Ort für intergeschlechtliche Jugendliche, um sich zu finden und auszutauschen. Finden intergeschlechtliche Jugendliche ihren Weg in queere Jugendzentren, treffen sie sehr selten auf pädagogische Fachkräfte, die sie in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit beraten können und/oder die selbst (offen) inter* sind. Im Bereich der Auseinandersetzung, Fortbildung und auch Ausbildung von pädagogischen Fachkräften hinsichtlich der Lebensrealitäten und Beratungsbedarfe von inter* Jugendlichen besteht hier noch viel Nachholbedarf, noch mehr als im Hinblick auf trans* Jugendliche.

Dritte Option und Nicht-Binarität in Queeren Jugendzentren Der Stand der sozialpädagogischen Wissenschaft und etablierten Praxis bildet die vielfältigen Lebensrealitäten queerer Jugendlicher nicht ab (siehe dazu Groß sowie Nachtigall/Ghattas in diesem Band). Insbesondere im Bereich ausdifferenzierter Geschlechtsidentitäten jenseits von männlich und weiblich fehlt es weiter weitestgehend an Forschung zu den Bedarfen und an Handreichungen zur praktischen Arbeit. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die

Die Relevanz queerer Jugendzentren

Queerformat, eine Fachstelle für queere Bildung aus Berlin dar.5 Es liegt daher an den einzelnen Mitarbeiter*innen in den queeren Jugendzentren, durch gute Vernetzung innerhalb der queeren Communitys informiert zu bleiben. Die Komplexität von Geschlechtlichkeit, die Schwierigkeiten der Identitätsfindung und die Auseinandersetzungen mit der Umwelt, die nicht-binäre Jugendliche durchleben, erfahren die Fachkräfte in der täglichen Arbeit mit ihnen. Die empathische und parteiliche Unterstützung bei der Identitätsfindung und dem Coming-out kann durch gutes Zuhören und Lernen gelingen, selbst wenn die Fachkräfte selbst im binären Geschlechtersystem verortet sind. Die Rechtsunsicherheit durch die völlig unzureichenden Änderungen im Personenstandsgesetz von Ende 2018 hat aber zunächst zu größeren Problemen in der Beratung von trans* und inter* Jugendlichen insgesamt geführt, insbesondere bezüglich der Frage, für wen der Eintrag »divers« oder die Streichung des Geschlechtseintrags in Frage kommt. Aber auch über welchen Weg die Streichung erfolgen kann bzw. muss – sprich über einen einfachen Antrag beim Standesamt nach § 45b Personenstandsgesetz (PStG) oder über das Transsexuellengesetz (TSG) und damit über das Gericht, für welches psychiatrische Gutachten erbracht werden müssen (vgl. dazu Niedenthal in diesem Band). Das Jugendzentrum Track in Münster hat beispielsweise sein Einzugsgebiet im gesamten Münsterland, zu dem mehrere Landkreise gehören. In der Beratung von trans* Jugendlichen kam es in den letzten Jahren zu der absurden Situation, sehr genau hinschauen zu müssen, wo der*die Jugendliche geboren wurde und welches Standesamt zuständig ist. Trans* Jugendliche aus Münster selbst konnten ihren Vornamen und ihren Personenstand nicht über das Standesamt ändern lassen und mussten den Weg über das Verfahren nach dem TSG und das Amtsgericht in Dortmund gehen. Anderen Standesämtern im Umkreis reichte das vorgeschriebene Attest von Ärzt*innen, welches bescheinigt, dass »eine Variante der Geschlechtsentwicklung« vorliegt, sodass die Antragsteller*innen sich viel Geld, Zeit und das Gutachtenprozedere sparen konnten. Diese Rechtsunsicherheit und Ungleichbehandlung aufgrund des Geburtsortes ist nicht nur für die Jugendlichen schwer erklärbar, es ist auch für Sozialpädagog*innen schwer, die Rechtslage überhaupt vollständig zu erfassen und die Jugendlichen bei den sich stellenden Fragen angemessen unterstützen und beraten zu können. Die Ersetzung des völlig

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https://www.queerformat.de/ (zuletzt abgerufen am 29.09.2020).

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veralteten Transsexuellengesetzes durch ein längst überfälliges Gesetz, welches die Selbstbestimmung des Einzelnen fördert und vor Diskriminierung schützt, wäre nicht nur für pädagogische Fachkräfte eine Erleichterung in der Beratung und Begleitung, sondern würde auch den binären und nichtbinären trans* Jugendlichen einiges an Stress, Leid und Verzögerung ersparen.

Wichtiger Ort für Identitätsfindungen Insbesondere für queere Jugendliche kann die eigene Identitätsfindung eine stark krisenbelastete Zeit sein. Gerade für trans* Menschen geht dem äußeren Coming-out meist eine monatelange bis jahrelange eigene Identitätsfindung voraus, nicht selten gepaart mit phasenweiser Ablehnung der eigenen Person und Selbstverleugnung (vgl. Plöderl 2016: 145). Trans* Menschen sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer von Mobbing sowie physischer und/oder sexualisierter Gewalt zu werden und haben schlechtere Chancen sowohl am Arbeits- als auch am Wohnungsmarkt. Das gesellschaftliche Klima, auf das trans* Jugendliche stoßen, ist bei allen Verbesserungen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer noch nicht darauf ausgerichtet, sie zu unterstützen und zu fördern. Zudem erfahren viele trans* Jugendliche immer noch Ablehnung oder das Lächerlichmachen der eigenen Geschlechtsidentität innerhalb der Familie. Für einen alarmierend hohen Anteil von trans* Jugendlichen – insbesondere nicht-binären trans* Jugendlichen – sind die Reaktionen auf ihre Existenz weiterhin so negativ, dass sie suizidal werden. Bis zu 40 Prozent aller trans* Jugendlichen haben vor ihrer Transition mindestens einen Suizidversuch unternommen (vgl. Grant et al. 2011: 2). Die meisten aktuellen Studien ergeben, dass die Suizidalität von trans* Personen nach medizinischen geschlechtsangleichenden Maßnahmen deutlich abnimmt, die psychische Gesundheit steigt und sich jener der Allgemeinbevölkerung angleicht (vgl. Plöderl 2016: 142). Um zu diesem Ziel zu kommen, benötigen viele trans* Jugendliche Jahre und vor allem eine gute Begleitung, in der queere Jugendzentren eine wichtige Rolle spielen können. Nutzer*innen beschreiben die Jugendzentren als Orte, an denen sie zur Ruhe kommen und ihren Energiespeicher auffüllen können. Sie müssen sich dort weder verstecken noch Angst vor Ablehnungen aufgrund ihrer Identität haben. Zugleich stoßen sie auf viel Wissen, nicht nur unter den Fachkräften, sondern auch unter den anderen Jugendlichen.

Die Relevanz queerer Jugendzentren

Sie dürfen also einfach so sein, wie sie sind, ohne sich ständig erklären und rechtfertigen zu müssen. Es steht ihnen frei, sich in ihrer Identität und ihrer Performance auszuprobieren, damit zu spielen und auch zu wechseln – ohne sich beweisen zu müssen oder Gefahr zu laufen, nicht mehr ernst genommen zu werden, wenn sie z.B. als trans* Junge auch weiblich konnotierte Verhaltensweisen und Ausdrucksformen ausleben, da alle queeren Jugendzentren die Idee verfolgen, einen Schutzraum für queere Jugendliche zu schaffen (vgl. Prasse 2019: 36). Wenn sie doch auf Ablehnung, Diskriminierung und Ausschluss stoßen, weil Nutzer*innen irritiert sind, stehen ihnen im Regelfall sensibilisierte Mitarbeiter*innen zur Seite, welche den Großteil der Aufklärungsarbeit übernehmen können. Gleichzeitig treffen queere Jugendliche in den Treffs häufig zum ersten Mal auf andere queere Jugendliche. Festzustellen, dass man nicht allein auf der Welt ist und sich mit anderen austauschen zu können, die durch ähnliche Erfahrungen ein tiefes Grundverständnis füreinander haben, ist ein wichtiger Prozess für trans* Jugendliche, um ihre Identität und ihren Weg zu finden. Selbstverständlich gelingt die Umsetzung eines safer spaces nicht an allen Orten gleich gut, was unter anderem auch durch mangelnde Qualitätsstandards für die Queere Jugendarbeit begründet ist.

Die Sorge vor falschen Entscheidungen Wie bereits beschrieben sind queere Jugendzentren Orte, an denen sich Jugendliche in ihrer Genderperformance meist angstfrei ausprobieren können, sowie verschiedene Namen und Pronomen testen können. Queere Jugendzentren sind damit die Orte, an denen der vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen geforderte »Alltagstest«6 tatsächlich möglich ist. Denn in den Jugendzentren können Jugendliche sich schminken, in der Regel ohne Angst haben zu müssen angefeindet oder angegriffen zu werden, sie können Toiletten nutzen, die sie für sich am passendsten finden und sie können phasenweise verschiedene Namen und Pronomen testen und herausfinden, wie sich diese für sie anfühlen. Sie haben die Zeit und den Raum sich auszuprobieren und Dinge auch wieder zurück zu nehmen, wenn sie feststellen, dass es doch 6

Vgl. die Anleitung zur Begutachtung und Behandlung von trans* Menschen vom MDS: https://www.mds-ev.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgru ndlagen_GKV/07_RL_Transsex_2009.pdf, S. 10 (zuletzt abgerufen am 24.08.2020).

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nicht das Richtige für sie ist, ohne belächelt zu werden. Aufgrund der pädagogischen Begleitung der Gruppe und der Möglichkeit der fachlich versierten Einzelberatung gehen die Angebote von Jugendzentren weit über das Leistbare von Selbsthilfegruppen hinaus. Gerade in Trans*-Selbsthilfegruppen entsteht schnell ein Effekt, der mit »Trans*-Normativität« beschrieben wird, also ein Normalisierungs- und Konformitätsdruck auf Jugendliche dahingehend, wie der »richtige« Trans*-Weg angeblich aussieht und welchen Weg der*die Jugendliche gehen sollte (vgl. Prasse 2019: 31). In den Jugendzentren steht den Jugendlichen Fachpersonal zur Seite, welches einen Blick für diese gruppendynamischen Probleme hat, in Gruppengeschehen eingreift, wenn der Druck offensichtlich geäußert wird, und mit Jugendlichen Einzelgespräche führen kann, um ihnen dabei zu helfen herauszufinden, was sie selbst für sich wollen. Zudem stehen Mitarbeiter*innen queerer Jugendtreffs auch im Austausch über neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext von Transund Intergeschlechtlichkeit und beraten sich gegenseitig. Intergeschlechtlichkeit, aber insbesondere Transgeschlechtlichkeit haben als Themen in den vergangenen Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen, was die deutliche Zunahme an Trans*-Coming-outs unter Jugendlichen teilweise erklären könnte. Grundsätzlich ist diese Entwicklung positiv zu bewerten, da sie zeigt, dass trans* Personen heute viel früher Worte für ihr Empfinden an die Hand bekommen und ihren Weg gehen können. Eine kleine, aber deutlich wahrnehmbare Gruppe um Alexander Korte, Oberarzt in der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München, steht dieser Entwicklung sehr skeptisch gegenüber und warnt vor einem so genannten »medialen Hype um das Thema [Trans*]«7 . Sie befürchten insbesondere, dass junge Mädchen aufgrund krisenhaften Erlebens der Pubertät den Weg der Transition wählen, obwohl sie eigentlich gar nicht trans* seien. Die gesellschaftliche Liberalisierung und vor allem die Gabe von Hormonblockern zur Unterdrückung der körpereigenen Pubertät befeuerten diesen Prozess und gefährdeten somit cis Jugendliche, die vorübergehend ein Coming-out als trans* als Ausweg aus anderen Problemen suchten.8 Problematisch an dieser Position der Münchner Arbeitsgruppe ist, dass sie zwar den guten Ansatz verfolgen, cis Jugendliche vor

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https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Wir-erleben-einen-regelrechtenHype;art310,200632 (zuletzt abgerufen am 01.10.2020). Vgl. z.B. https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/fb-19-02-2 020-korte.pdf (zuletzt abgerufen am 01.10.2020).

Die Relevanz queerer Jugendzentren

falschen, irreversiblen Entscheidungen schützen zu wollen, gleichzeitig aber trans* Jugendlichen – welche den Großteil der transitionierenden Jugendlichen ausmachen – massive Steine in den Weg legen, wenn sie ihnen die medizinisch notwendige Unterstützung vorenthalten. Sie verlangen als Beweis des Trans*seins letztendlich, dass Jugendliche an ihrer körpereigenen Pubertät und an den unter dieser gemachten sexuellen Erfahrungen scheitern müssen. Damit verhindern sie unnötiges Leid nicht, sondern verursachen zusätzliches. In der Auseinandersetzung um die Sorge, dass Jugendliche, die nicht trans* sind, transitionierende medizinische Maßnahmen durchführen, können queere Jugendzentren und pädagogische Angebote ein wichtigerer und hilfreicherer Baustein sein als medizinische Restriktionen. Queere Jugendzentren sind damit nicht nur eine ideale Ergänzung zur medizinischen und psychiatrischen/psychotherapeutischen Begleitung von trans* Jugendlichen, sie sind auch mittelfristig die Stellen, die Jugendlichen dabei helfen herauszufinden, was ihre Bedarfe gegenüber der Medizin sind und sie bei deren Umsetzung unterstützen.

Ausblick Queere Jugendzentren sind Schnittstellen, an denen Jugendliche sich ihrer geschlechtlichen Identität bewusst werden können, mit ihrer Performance spielen können und in denen sie sich in Ruhe mit der Frage beschäftigen können, ob medizinische Transitionsmaßnahmen gewünscht und notwendig sind. Sie werden dabei meist von Sozialpädagog*innen begleitet, die bei Bedarf an therapeutische Begleitungen weiterverweisen. Um die Schnittstellenfunktion qualitativ hochwertig anbieten zu können, benötigt es einerseits mehr wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Inter- und Transgeschlechtlichkeit in der Sozialen Arbeit und andererseits den Einbezug der Sozialpädagogik in die bisher von der Medizin dominierte Fachwelt, die sich mit Inter- und Transgeschlechtlichkeit auseinandersetzt. Inter- und Transgeschlechtlichkeit sind keine Themen, die primär oder gar ausschließlich medizinisch und psychiatrisch diskutiert gehören. Spätestens seitdem die Zahlen der Coming-outs bei Jugendlichen steigen, gehört die Sozialpädagogik mit an den Tisch und in die Auseinandersetzung. Außerdem gehört geschlechtliche Diversität zwingend in die Ausbildung von Sozialarbeiter*innen. Sie alle werden früher oder später auf Adressat*innen treffen, die nicht in das binäre Geschlechtersystem passen. Es darf zukünftig

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keine Glückssache mehr sein, ob diese auf Fachkräfte stoßen, die sich mit dem Thema auskennen bzw. bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen, sondern dies muss eine Selbstverständlichkeit werden.

Literatur Grant, Jaime M./Mottet, Lisa A./Tanis, Justin/Harrison, Jack/Herman, Jody L./Keisling, Mara (2011): Injustice at Every Turn: A Report of the National Transgender Discrimination Survey, Washington: National Center for Transgender Equality and National Gay and Lesbian Task Force. Katzer, Michaela (2016): »Ärztliche Erfahrungen und Empfehlungen hinsichtlich Transsexualismus und Intersexualität«, in: Michaela Katzer/HeinzJürgen Voß (Hg.), Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Praxisorientierte Zugänge, Psychosozial: Gießen, S. 85-116. Plöderl, Martin (2016): »LSBTI und psychische Gesundheit: Fakten und Erklärungsmodelle«, in: Psychotherapie-Wissenschaft 2016-2, S. 140-151. Prasse, Moritz (2019): Selbstverletzendes Verhalten und suizidale Krisen. Alltägliche Herausforderungen in der Arbeit mit trans* Jugendlichen (nicht nur) in LSBTI-Jugendtreffs, Köln: Schwules Netzwerk NRW e.V.

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung für Fachkräfte in Erziehungs- und Bildungsprozessen Melanie Groß und Andreas Hechler

Für die Soziale Arbeit und insbesondere die Tradition der Sozialpädagogik sind Erziehung und Bildung gleichsam Grundbegriffe wie mit Institutionen verbundene Aufgabenbereiche, denen die Bildung des Subjektes und dessen Einpassung in Gesellschaft und gesellschaftliche Normen zugrunde liegen (vgl. Brezinka 1993, Durkheim 2012 [1922], Weiß 2014). Dabei geht es immer auch um die Ermöglichung von kritischen und eigensinnigen Aneignungen von Gesellschaft und Hervorbringung der eigenen Subjektivität, will Erziehung und Bildung nicht zur rein autoritären und affirmativen Anpassung von Subjekten geraten (vgl. von Borst 2009, Bernhard 2018). Geschlecht, in Anlehnung an Butler (1991) und Foucault (1998 [1977]) verstanden als durch MachtWissen-Komplexe hervorgebrachte soziale Konstruktion und Gegenstand von lebenslangen Bildungs- und Sozialisationsprozessen, kann als eine zentrale Kategorie von Erziehung und Bildung verstanden werden. Als erfolgreich geltende vergeschlechtlichte Subjektivierungsprozesse sind eine Voraussetzung für die Sicherung eines Subjektstatus und die damit verbundene Teilhabe an Gesellschaft. Sie sind u.a. auch das Ergebnis von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die in Familien, Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendhilfe, Schule und Hochschule stattfinden. Der institutionalisierte Bildungs- und Erziehungsbereich ist wesentlich an der Formung von Geschlechterverständnissen beteiligt und wirkt (bislang) an der Unsichtbarkeit intergeschlechtlicher Personen systematisch mit, da die Subjektivierungsprozesse nach wie vor eng mit der Zweigeschlechterordnung verwoben sind. Es gibt in der Pädagogik und in der Sozialen Arbeit nach wie vor kaum Fachliteratur und Bildungsmaterial zum Thema Intergeschlechtlichkeit (vgl. Enzendorfer/Haller 2020: 262, Hechler 2015: 63ff.). Dieses Thema wird, wenn überhaupt, als ›Spezial-‹, ›Rand-‹ und/oder ›Minderheitenthema‹ angesehen, obwohl intergeschlechtliche Menschen selbst-

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verständlich, aber unerkannt als Adressat*innen, als Eltern und als Fachkräfte Teil der sozialen Wirklichkeit sind. Das dominante Wissensfeld, in dem Intergeschlechtlichkeit verhandelt wird, ist nach wie vor die Medizin (vgl. dazu den Beitrag von Krämer/Sabisch in diesem Band). Aber auch Mediziner*innen und andere Berufsgruppen, die mit Intergeschlechtlichkeit zu tun haben (Jurist*innen, Politiker*innen, Pflegepersonal usw.), durchlaufen Erziehungs- und Bildungsprozesse in Bildungsinstitutionen, die die Zweigeschlechterordnung zumeist fraglos herstellen und reproduzieren. Ihren Subjektivierungsprozessen liegen zweigeschlechtliche und heteronormative Geschlechterbilder zugrunde, die meist unhinterfragt in der eigenen Profession reproduziert werden. Auch (insbesondere bei nicht-intergeschlechtlichen) Fachkräften der Sozialen Arbeit sind die eigenen Subjektivierungsprozesse und die damit verbundenen Verwerfungen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse zumeist nicht reflexiv verfügbar, sondern sie müssen sich diese durch Prozesse der Wissensaneignung sowie der Selbstreflexion und den damit verbundenen eigenen Bildungsprozessen erst verfügbar machen. Mit Heinrichs verstehen wir Bildung dabei wie folgt: »Bildung wird nie die Befreiung des Subjekts vollziehen. Dieses ›Versprechen von Bildung‹ ist und wird uneingelöst bleiben. Das Versprechen von Bildung kann und soll aber aufrechterhalten werden in dem Sinne, daß es im Sprechen mit, an und für den Anderen darum geht, den Identifizierungszwang zu akzeptieren, die Verkennung der eigenen Identität wie auch die Verkennung des Anderen zu verstehen und im Dennoch-Sprechen Verantwortung für die mögliche Entfaltung von Differenz zu übernehmen. Bildung ist immer ausschließende Konstruktion. Konstruktionen sind regelgeleitet, aber nicht determiniert. Weil sie aufrechterhalten werden müssen, können sie sich verändern. Performative Praxis impliziert die Möglichkeit das Nichtverwirklichte, das Andere zu denken und zu werden.« (Heinrichs 2001: 231) In dem vorliegenden Text zeigen wir, welche Aspekte einer geschlechtersensiblen Selbstreflexion von Fachkräften notwendig sind, um den Bedarfen intergeschlechtlicher Menschen in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen gerechter werden zu können. Daran anschließend zeigen wir, welche Wissensbestände für die Inter*-sensible Arbeit notwendig in das Repertoire der Fachkräfte aufgenommen werden müssen. Im letzten großen Abschnitt formulie-

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung in Erziehungs- und Bildungsprozessen

ren wir Eckpunkte1 für die sozialpädagogische Arbeit mit Inter*. Ziel der hier vorgelegten Perspektive ist die Herstellung angst- und diskriminierungsfreier Räume sowie die Unterstützung von Handlungsfähigkeit der Adressat*innen.

Selbstreflexion Soll ein Bildungsprozess zum Thema Intergeschlechtlichkeit ermöglicht werden, sind die primäre Zielgruppe zunächst die Lehrenden/Pädagog*innen selbst. Es geht darum, sich von vertrauten Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten zu lösen, den Blick umzukehren von anderen (den Adressat*innen/Schüler*innen/Teilnehmenden/dem behandelten Thema/Inter*, …) auf sich selbst, autobiografisch zu arbeiten und sich selbstreflexiv das eigene geschlechtliche Gewordensein und die daran gekoppelten Vorstellungen von Geschlecht zu vergegenwärtigen. Hierbei geht es mitnichten nur um eine rein kognitive Auseinandersetzung, sondern auch um emotional-psychische Lern- und Veränderungsprozesse. Bleibt dieser notwendige Schritt aus, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Fachkräfte sich ihre je eigenen Themen mit Geschlecht nicht reflexiv verfügbar machen, sondern im erlernten Muster der Zweigeschlechtlichkeit verharren und darüber hinaus in externalisierender und projizierender Weise an Inter* verhandeln. So scheint es nach wie vor so zu sein, dass die Vielfalt menschlicher Körper, Existenz- und Verhaltensweisen, die im Zweigeschlechtersystem nicht aufgehen (können), bei vielen cis- und endogeschlechtlichen Männern und Frauen als bedrohlich für die eigene geschlechtliche Identität wahrgenommen werden und in der Folge mit Ablehnung, Abwertung sowie verdeckter bis offener Aggression verbunden sind. Dies zeigen die hohen Werte der Diskriminierungswiderfahrnisse2 von LSBTIQ* aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Performanz in quantitativen Untersuchungen (vgl. dazu ausführlich Nachtigall/Ghattas in diesem Band) 1

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Weitere Eckpunkte und Handlungsempfehlungen finden Sie in den Beiträgen von Andreas Hechler 2020 auf der Webseite https://inter-nrw.de/ (zuletzt abgerufen am 24.10.2020). Erfahrungen haben etwas mit den Kontinuitäten des Lebens zu tun und sind mit positiven Assoziationen konnotiert. Der Begriff der »Widerfahrnis« baut semantisch auf dem Begriff der »Erfahrung« auf, benennt durch das »wider« hingegen deutlich, dass es sich um diskontinuierliche Ereignisse handelt, die sich gegen Personen richten und für sie negativ und schädigend sind (ausführlicher hierzu Hechler 2017).

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sowie die Diskriminierungs- und Tabuisierungswiderfahrnisse von Inter*, die in den raren qualitativen Untersuchungen zum Thema vorliegen (vgl. Lang 2006, Gregor 2015). Der Hintergrund hierfür liegt häufig darin begründet, dass die meisten Menschen – wenn auch in der Regel unbewusst – sehr viel Zeit und Energie im Laufe ihrer Sozialisation investiert haben, um den vorherrschenden Geschlechternormen entsprechen zu können und dies mit nicht betrauerten Verwerfungen einhergeht. Die entstehende Melancholie durch das Verworfene im eigenen Selbst (Butler 1991: 93ff.) zeigt die verborgene Trauer um die eigenen Zurichtungs- und Wunschvernichtungsprozesse: »Je strikter und stabiler Geschlechter-Affinität (gender affinity) ist, um so ungelöster ist der ursprüngliche Verlust; rigide Grenzen der Geschlechtsidentität verschleiern unweigerlich den Verlust einer ursprünglichen Liebe, die nicht anerkannt und gerade nicht gelöst ist.« (Butler 1991: 101) In solchen Fällen geschieht es häufig, dass sich projektiv an ›Anderen‹ Aggressionen und Ablehnungen entladen. Aufgrund des eigenen Verwobenseins mit Zweigeschlechtlichkeit ist es sinnvoll, sich bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit Begleitung durch Fachkräfte zu suchen, die diese Auseinandersetzung schon länger führen. Aus bildungstheoretischer Perspektive formuliert Bernhard (2018): »Je stärker Sozialisation im Sinne einer Introjektion herrschaftlicher Anforderungen bestimmend bis in das Innere des Individuums hineinwirkt, umso intensiver muss eine Theorie der Bildung die im Inneren des Menschen aufgebauten Selbstbegrenzungen aufspüren und als Inhalte der Bildung bestimmen.« (Ebd.: 145) Wir gehen davon aus, dass erst die Hinterfragung der eigenen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten es ermöglicht, intergeschlechtlichen Menschen nicht mehr in der Weise zu begegnen, dass diese durch den eigenen zweigeschlechtlichen Blick diszipliniert und als abweichend konstruiert werden. Erst wenn ein solcher selbstreflexiver Bildungsprozess stattfindet, sind die Fachkräfte in der Lage, einen unterstützenden Kontakt mit intergeschlechtlichen Menschen herzustellen und andere Menschen (die eigenen Zielgruppen) in dieser Auseinandersetzung zu begleiten. Solche Prozesse sind unabschließbar und lebenslang – auch als Fachkraft bleibt man lernend und es ist sinnvoll, dies im eigenen Professionsverständnis zu verankern.

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung in Erziehungs- und Bildungsprozessen

Aneignung von Wissensbeständen Neben der Selbstreflexion und in Wechselbeziehung mit Selbstreflexion ist die Überarbeitung der eigenen Wissensbestände der Fachkräfte in der Sozialen Arbeit erforderlich, um dem Anspruch nach Professionalität gerecht werden zu können. Das Wissen über Grundlagen der Geschlechterforschung sowie der Forschung zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit gehört zu den zentralen Grundlagen im Bereich des empirischen und theoretischen Wissens, die Grundlage für Professionalität in der Sozialen Arbeit sind (vgl. von Spiegel 2008). Darüber hinaus muss dieses Wissen um die Kategorie Geschlecht verknüpft werden mit Erkenntnissen aus der Sozialisationsforschung sowie mit der Auseinandersetzung mit Erziehungs- und Bildungstheorien. Als Quellen der Wissensaneignung kann und muss sich jedoch nicht nur auf Fachliteratur beschränkt werden, die qualitative und quantitative Daten bereits verarbeitet hat, sondern insbesondere biografische Erzählungen, Reflexionen und Theoretisierungen von Inter* über ihre Erfahrungen sind elementar für eigene Lernprozesse. Derartige Quellen finden sich in Form von Texten, biografischen Berichten, Dokumentationen, Clips und anderen Medienbeiträgen (vgl. Hechler 2012), die dann in einen breiteren theoretischen und empirischen Kontext eingeordnet werden können. Dabei gilt es zu bedenken, dass intergeschlechtliche Menschen und ihre Erfahrungen sehr unterschiedlich sein können. Es gibt nicht die eine Inter*Erfahrung. Die Repräsentation einer Inter*-Person kann zwar eine Tendenz abbilden, ist aber nicht stellvertretend für andere. Wie Inter* ihre Intergeschlechtlichkeit (er)leben ist genauso divers wie Endos* ihre Endogeschlechtlichkeit (er)leben. Die Unterschiede können individuell-persönlich oder auch gruppenbezogen sein, abhängig von anderen Dimensionen der Ungleichheit wie sexueller Orientierung, race, Behinderung, Klasse und dergleichen mehr. Es ist wichtig, die Intersektionalität, Vieldimensionalität und Unterschiedlichkeit von Lebenssituationen sowie mehrdimensionale Formen der Diskriminierung wie Privilegierung wahrzunehmen: Eine Schwarze Inter*-Person wird sehr wahrscheinlich andere Erfahrungen machen als eine weiße, und eine lesbisch lebende intergeschlechtliche Frau in einer Großstadt andere als eine als Inter* lebende intergeschlechtliche Person auf dem Land, die auf Männer steht. Konkret gehen wir davon aus, dass Fachkräfte sich u.a. damit auseinandersetzen sollten,

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in welcher Weise Gesellschaft mit Intergeschlechtlichkeit umgeht, dass Normierung von Äußerlichkeiten Hand in Hand mit der Stigmatisierung von Differenz geht, dass sich Intergeschlechtlichkeit pränatal, direkt nach der Geburt, in der Pubertät, nach der Pubertät oder auch postmortal zeigen kann, dass das Präventionsnarrativ der Medizin, das der Legitimation von geschlechtsverändernden Operationen dient, Inter* auf menschenrechtsmissachtende Weise verletzt und zu lebenslangen psychischen und physischen Problemen führen kann (vgl. OII Europe 2015), dass die zentrale Forderung von Organisationen für die Rechte intergeschlechtlicher Menschen das Verbot von irreversiblen ärztlichen Eingriffen ist, die die Veränderung der angeborenen geschlechtlichen Merkmale oder der Fortpflanzungsfunktion des Kindes zur Folge haben, dass die große Mehrheit intergeschlechtlicher Menschen, die ohne geschlechtsverändernde Eingriffe aufwuchs, gesund ist, Kinder, Jugendliche und Erwachsene auch dann noch intergeschlechtlich sind, wenn es geschlechtsverändernde (›normalisierende‹) Eingriffe durch die Medizin gegeben hat, dass Tabuisierung von Inter* Scham und Selbsthass produzieren können, dass es auch um die Sichtbarkeit und Anerkennung geht, die sich in Sprache widerspiegelt und eine offene Haltung zu Vielfalt sich auch in einer Sprache der Vielfalt zeigt.

Sozialpädagogisches Arbeiten mit Inter* Haltung zeigen Neben den genannten Grundvoraussetzungen der Selbstreflexion und der Aneignung von Wissensbeständen sind Fachkräfte in sozialpädagogischen Settings im Idealfall im Sinne einer advokatorischen Grundhaltung Verbündete an der Seite ihrer Adressat*innen. Zentrale Botschaft und innere Haltung sollten sein: »Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst«.3 Die Definitionsmacht darüber, wer eine Person ist und wer sie*er sein möchte, verbleibt ohne Einschränkungen in den Händen von Kindern, Ju3

Vgl. dazu das Interview der taz mit Sigrid Grajek unter https://vimeo.com/223421626 (zuletzt abgerufen am 11.11.2020)

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung in Erziehungs- und Bildungsprozessen

gendlichen und Erwachsenen selbst. Es ist ganz prinzipiell bei allen Menschen darauf zu achten, dass diese sich ihr Geschlecht selbst wählen dürfen, und zwar jederzeit, und auch immer wieder neu. Weder die Eltern(teile) noch Mediziner*innen noch Jurist*innen sollten das Geschlecht eines Kindes definieren und festlegen. Die eigentlichen Expert*innen sind die jeweiligen Menschen selbst und die Entscheidungsmacht über ihr Leben muss erhalten oder ihnen zurückgegeben werden. Dieser Aspekt ist auch im Sinne der Adressat*innen gegenüber Eltern, Lehrenden oder anderen Fachkräften der Sozialen Arbeit zu vertreten. Diese Haltung ist auch gegenüber solchen Institutionen anzuraten, in denen nach wie vor allzu oft genau beobachtet wird, ob die Geschlechtsentwicklung bei (Inter*-)Kindern ›normal‹ verläuft, d.h. ob diese sich traditionell ›männlich‹ oder ›weiblich‹ verhalten, spielen, anziehen und reden. Die disziplinierende Sorge, ein Kind könnte sich geschlechts-untypisch verhalten, erzeugt einen Erziehungs- und Anpassungsdruck, der auf Kinder wie Erziehende gleichermaßen wirkt. Kindern und Jugendlichen die Definitionsmacht darüber, wer sie sind und wer sie sein wollen, zurückzugeben, verschafft nicht nur Inter*-Kindern und -Jugendlichen eine wichtige Entlastung, sondern allen Kindern und auch dem gesamten Umfeld (Eltern, Ärzt*innen, Peers, …). Vielen Inter* ist ein Übermaß an Pathologisierung, medizinischer und sozialer Gewalt wie auch Leugnung und Bagatellisierung dieser Gewalt widerfahren – zum Teil mit tiefgreifenden Folgen (Traumatisierung, Entfremdung, innerfamiliäre Tabuisierung, Verunsicherung, Einsamkeit etc.) (vgl. dazu u.a. auch Enzendorfer in diesem Band, Woweries 2015). Im Kern geht es daher um Empathie und Verständnis für das Widerfahrene und die Schaffung nicht-pathologisierender Räume, in denen zentrale Werte wie Selbstakzeptanz, Überwindung der Isolation durch Austausch mit anderen in ähnlichen Situationen (Peer-Ansatz) und Wahrhaftigkeit (im Gegensatz zur Tabuisierung, Falschinformationen und dem Schweigen) gelebt werden können (vgl. TransInterQueer e.V. 2014).

Schutz bieten und Position beziehen Aus der Begleitforschung zu LSBTIQ+-Aufklärungsprojekten ist bekannt, dass diskriminierende Einstellungen von Kindern und Jugendlichen abnehmen, je deutlicher pädagogische Fachkräfte Position gegen Diskriminierung beziehen (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2017).

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In Fällen von Übergriffen ist von pädagogisch Tätigen Schutz zu gewährleisten. Dies erstreckt sich nicht nur auf Beleidigungen, Angriffe, Bullying, Mobbing und dergleichen, sondern auch auf nicht im Einverständnis mit dem Kind/Jugendlichen erfolgenden medizinischen Eingriffen und Verletzungen der Intimsphäre – hier sollten Kinder und Jugendliche darin empowertwerden, Ärzt*innenbesuche ablehnen zu können und bei der Suche nach Alternativen unterstützt werden. Kommt es zu einem Coming-Out des*r Adressat*in gegenüber der Fachkraft, muss diese sich bewusst machen, dass sie als Vertrauensperson ausgewählt wurde und dass damit auch eine hohe Verantwortung einhergeht. Es darf auf gar keinen Fall (!) zu ungewollten Outings kommen, sondern der Wunsch des Kindes oder des Jugendlichen nach Privatsphäre muss auch in Bezug auf Geschlecht unbedingt gewahrt werden, gerade auch mit dem Wissen um die hohe Vulnerabilität von Inter* in unserer Gesellschaft. Wenn sich eine intergeschlechtliche Person einer Fachkraft gegenüber öffnet, sollte diese, sofern dies gewünscht ist, Unterstützungswünsche und -möglichkeiten besprechen. Dabei sollten Selbstbestimmungswünsche sehr ernst genommen werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sehr vielen Inter* Selbstbestimmung häufig in extremer Weise verunmöglicht wurde. Sollte eine Inter*-Person Lust haben, etwas zu ihrem Körper, OPs, Sexleben und dergleichen mehr zu erzählen, wird sie das tun – danach direkt zu fragen ist nicht okay! Vielmehr müssen sich Fachkräfte die Frage stellen, warum sie in genau diesem Fall so ein besonderes Interesse an intimen Details haben. Okay und wichtig ist hingegen, darüber aufzuklären, dass derartige Fragen oft übergriffig sind. In geeigneten Situationen im Alltag der Institution und im Umgang mit allen Adressat*innen kann über Geschlecht gesprochen und zugleich darüber aufgeklärt werden, was Inter* sind: Menschen, die in bestimmten Aspekten von einer zweigeschlechtlichen Körpernorm abweichen. Dies hat den wichtigen Effekt, dass das Schweigegebot und die Geheimhaltung durchbrochen werden und sich ein diskursiver Raum öffnen kann, in dem auch Inter* sich zeigen können, wenn sie es möchten. Im besten Fall findet eine Entlastung durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen statt, indem vermittelt werden kann, dass nicht etwa Inter* ein ›Problem‹ sind, sondern dass es diese Gesellschaft selbst ist, die an der Vielfalt menschlicher Körper und Geschlechter scheitert.

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung in Erziehungs- und Bildungsprozessen

Empowerment und Sensibilisierung Pädagogisch Tätige, die selbst nicht intergeschlechtlich sind, sollten darauf hinarbeiten, dass intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche, für die sie eine Verantwortung haben, Kontakt zu anderen intergeschlechtlichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bekommen. Inter*-Peergroups, -Pat*innen, -Unterstützungs- und -Selbstorganisationen sollten ausfindig gemacht und Treffen ermöglicht werden. Von sehr vielen Inter* wird das Kennenlernen von anderen Inter* als enorm wichtiger, stärkender und hilfreicher Selbstermächtigungsprozess beschrieben. Eine besondere Bedeutung für Vernetzung haben in dieser Hinsicht auch Online-Communities. Derartige Kontakte und Selbstorganisierungen können nicht nur dazu beitragen, dass intergeschlechtliche Menschen enorm empowert werden, sondern auch dazu, dass sie sich überhaupt erst voll und ganz als Inter* begreifen (lernen). Neben solchen pädagogischen Kontakten zu einzelnen Adressat*innen, die in der Einzelfallhilfe, aber auch in der Jugendhilfe Alltag sind, spielt sich Soziale Arbeit immer auch in Gruppenkontexten ab, wie in der außerschulischen Bildungsarbeit, im Jugendzentrum oder der stationären Jugendhilfe. Hierbei gilt es immer zu beachten, dass auch dann, wenn keine geouteten Inter*-Personen anwesend sind – das dürfte die Regel sein – das nicht automatisch heißt, dass keine intergeschlechtlichen Menschen anwesend sind. Auf einer Haltungsebene sollte grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sowohl inter- als auch endogeschlechtliche Menschen Teil von sozialpädagogischen Settings sind. Endogeschlechtliche Kinder und Jugendliche benötigen zumeist Sensibilisierung für das Thema Intergeschlechtlichkeit und eine Erweiterung ihres Wissens. Intergeschlechtliche Kinder und Jugendliche hingegen sind in aller Regel sensibilisiert – für sie können Empowerment-Angebote eine wichtige Ressource sein. Die beiden Perspektiven Sensibilisierung und Empowerment können gut zusammenpassen – es kann sich aber auch um ein Spannungsfeld handeln, das widersprüchlich und pädagogisch nicht einfach zu handhaben ist. In bestimmten Situationen kann es beispielsweise sinnvoll sein, gemischte Gruppen in inter- und endogeschlechtliche Teilgruppen zu trennen, sofern es geoutete Inter* gibt. Das komplexe Spannungsfeld aus Unsichtbarkeitsdynamiken, Empowerment und Sensibilisierung wird in der Handreichung »Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt – Zwischen Sensibilisierung und Empowerment« (Debus/Laumann 2018) umfassend erörtert.

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Ein weiterer Aspekt von Empowerment ist auch, Inter*-Kinder und -Jugendliche und deren Verhalten nicht immer wieder auf die Intergeschlechtlichkeit zurück zu führen, sondern sie in ihrer ganzen Persönlichkeit wahrzunehmen: Als Kind ihrer Eltern, als Schüler*in, als Freund*in, als Sportler*in, als Tänzer*in, als Technikbegeisterte oder als Kreative u.v.a.m.

Rauszoomen: Geschlechternormen betreffen alle Schlussendlich sollte der Fokus auf Inter* wieder weggenommen und der gesellschaftliche Umgang mit Intergeschlechtlichkeit in einen größeren Kontext gestellt werden. Intergeschlechtlichkeit ist lediglich ein Aspekt geschlechtlicher Vielfalt. So können in Kontexten der Sozialen Arbeit beispielsweise geschlechtliche und sexuelle Normen thematisiert werden, die alle Menschen betreffen, ohne dabei Unterschiedlichkeiten auszublenden. Schönheitsideale, Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen mit ihren impliziten und expliziten Erwartungen an Heterosexualität und dergleichen bedeuten für alle Menschen Zwang zu einer stereotypen Geschlechtspräsentation und ein vorprogrammiertes sich Reiben und Scheitern an den rigiden Normen der Zweigeschlechterwelt – auch die Körper und Genitalien von Menschen, die nicht als intergeschlechtlich klassifiziert werden, sind sehr unterschiedlich. Von daher bedeutet die kritische Beschäftigung mit Intergeschlechtlichkeit sowie eine Entlastung von Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen auch eine Entlastung für Endos* und macht ihre Leben entspannter und individuell lebenswerter. Wenn Einrichtungen geschlechterreflektiert denken und handeln – von der Toilettenarchitektur über die Programm- und Innengestaltung bis hin zum eingestellten Personal und der benutzten Sprache, profitieren alle Kinder und Jugendlichen davon. Einrichtungen der Kinderund Jugendhilfe sind dementsprechend als Orte der Vielfalt zu begreifen, die dort sichtbar werden kann. Sichtbarkeit, Anerkennung und Akzeptanz von geschlechtlicher und auch sexueller Vielfalt gehören in die Leitprinzipien der Institutionen Sozialer Arbeit und müssen in ihnen auch gelebt und gestaltet werden (vgl. Groß 2020 i.E.). Geschlechtliche Vielfalt umfasst nicht nur Trans* oder Inter*, sondern auch, wenn es ›nur‹ um Männer und Frauen geht – diese sind auch Teil geschlechtlicher Vielfalt.

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung in Erziehungs- und Bildungsprozessen

Fazit Die Einführung der sogenannten ›Dritten Option‹ zeigt einmal mehr, wie notwendig die Auseinandersetzung mit der Norm der Zweigeschlechtlichkeit ist und wie wenig sie bislang in der Sozialen Arbeit grundlegend in Frage gestellt wird. Die – häufig nicht intendierte – Tabuisierung und Ausblendung von intergeschlechtlichen Existenzweisen zur Aufrechterhaltung einer zweigeschlechtlichen gesellschaftlichen Norm ist eine Verletzung von Menschenrechten und eine Verletzung des Kindeswohls, die in professionellen Kontexten nicht passieren sollte. Insbesondere bei Fragen zu Geschlecht zeigt sich die Persistenz von Machtverhältnissen, wenn die Subjekte bis ins Innerste mit ihnen verwoben sind, sie durch sie hervorgebracht sind und diese gleichsam mit hervorbringen. In dieser Verschränkung liegt notwendigerweise ein Scheitern, wie es in Bildungsprozessen grundsätzlich angelegt ist. Dennoch ist es die Aufgabe und der Anspruch der Profession und der Fachkräfte der Sozialen Arbeit, uns die Verhältnisse, die uns prägen und die wir prägen, grundlegend reflexiv verfügbar zu machen. Dazu gehört das permanente Aneignen von Wissen, und die Hinterfragung des eigenen So-geworden-Seins, die Offenheit für Andere und deren Perspektive sowie die Unterstützung aller Adressat*innen dabei, ein gutes Leben zu führen. Die Räume, die Soziale Arbeit bietet, müssen diskriminierungsfrei sein und allen Menschen Entfaltung ermöglichen. Die benannten Eckpunkte dafür, diesem Ziel ein wenig näher zu kommen, sind keine abschließende To-Do-Liste, sondern sollen anregen und inspirieren, um solche Räume zu ermöglichen.

Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017): LSBTIQ*-Lehrkräfte in Deutschland. Diskriminierungserfahrungen und Umgang mit der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität im Schulalltag, Berlin. Bernhard, Armin (2018): »Bildung«, in Armin Bernhard/Lutz Rothermel/Manuel Rühle (Hg.), Handbuch Kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft (Neuausgabe), Weinheim/Basel: Beltz Juventa, S. 132-148. Brezinka, Wolfgang (1993): Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft. Beiträge zur praktischen Pädagogik (3. Aufl.), München: Reinhold, 70-99.

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Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Debus, Katharina/Laumann, Vivien (Hg.) (2018): Pädagogik geschlechtlicher, amouröser und sexueller Vielfalt. Zwischen Sensibilisierung und Empowerment, Berlin: Dissens – Institut für Bildung und Forschung. Durkheim, Émile (2012): »Erziehung, ihre Natur und ihre Rolle« (Nachdruck der Erstveröffentlichung von 1922). In: Ullrich Bauer/Uwe H. Bittlingmayer/Albert Scherr (Hg), Handbuch Erziehungs- und Bildungssoziologie, Wiesbaden: Springer VS, 69-83. Enzendorfer, Martina/Haller, Paul (2020): »Intersex and Education: What Can Schools and Queer School Projects Learn from Current Discourses on Intersex in Austria?«, in: Dennis A. Francis/Jón Ingvar Kjaran/Jukka Lehtonen (Hg.), Queer Social Movements and Outreach Work in Schools. A Global Perspective, Cham: Springer Nature, S. 261-284. Foucault, Michel (1998 [1977]): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I (10. Aufl.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gregor, Joris A. (2015): Constructing intersex: Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie, Bielefeld: transcript (veröffentlicht unter Anja Gregor). Groß, Melanie (2020 i.E.): »Queer in der Offenen Jugendarbeit«, in: Ulrich Deinet/Benedikt Sturzenhecker/Larissa von Schwanenflügel/Moritz Schwerthelm (Hg.), Handbuch Offene Kinder- und Jugendarbeit (5. Ern. u. erw. Aufl.), Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen). Hechler, Andreas (2012): »Intergeschlechtlichkeit als Thema geschlechterreflektierender Pädagogik«, in: Dissens e.V. et al. (Hg.), Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung, Berlin: Eigendruck, S. 125-135. Hechler, Andreas (2016): »›Was ist es denn?’ Intergeschlechtlichkeit in Bildung, Pädagogik und Sozialer Arbeit«, in: Michaela Katzer/Heinz-Jürgen Voß (Hg.), Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Praxisorientierte Zugänge, Gießen: Psychosozial, S. 161-185. Hechler, Andreas (2017): »Aus der Bahn geworfen«, in: blog feministische studien vom 16.08.2017, https://blog.feministische-studien.de/2017/08/ausder-bahn-geworfen/ (zuletzt abgerufen am 04.10.2020). Heinrichs, Gesa (2001): Bildung, Identität, Geschlecht, Königstein (Taunus): Ulrike Helmer. Lang, Claudia (2006): Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern. Frankfurt/New York: Campus.

Intergeschlechtlichkeit als Herausforderung in Erziehungs- und Bildungsprozessen

OII Europe (2015): Human Rights and Intersex People. Issue Paper. Council of Europe. TransInterQueer e.V. (2014): Antidiskriminierungsarbeit & Empowerment für Inter*. https://www.transinterqueer.org/projekte/interprojekt/ (zuletzt abgerufen am 25.06.2020). Von Spiegel, Hiltrud (2008): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit, München: Ernst Reinhard. Weiß, Edgar (2014): Zur Einführung in das pädagogische Denken. Kirchvers: Peter Götzelmann. Woweries, Jörg (2015): »Wer ist krank? Wer entscheidet es?«, in: Erik Schneider/Christel Baltes-Löhr (Hg.), Normierte Kinder. Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz (2. Aufl.), Bielefeld: transcript, S. 105-123.

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Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt – Anerkennung und komplexe Netzwerkarbeit Daniel Lembke-Peters

Vor etwas mehr als 50 Jahren hat mit den Stonewall-Aufständen in der New Yorker Bar Stonewall Inn die LSBTIQ*-Bewegung einen unerwarteten Aufschwung erlebt, der sich bis heute fortsetzt und in den letzten Jahren wichtige Erfolge in der Arbeit gegen die Diskriminierung von lsbtiq* Personen erreichen konnte. Der Personenstand ›divers‹ und die Möglichkeit, den Eintrag offen zu lassen, sind entsprechende wichtige Schritte in Richtung der rechtlichen und auch gesellschaftlichen Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt. In der LSBTIQ*-Bewegung geht es, wie bei sozialen Bewegungen generell, um die Artikulation von Forderungen nach außen und um ein Gemeinschaftsgefühl nach innen (vgl. Roth 2011: 786f.). Hier finden Kommunikationsprozesse sowie Kooperationen statt und es werden Netzwerke gebildet. Diese lassen sich in der Arbeit der Bewegung ausmachen, da sich Akteur*innen in regionalen und landesweiten Netzwerken zusammenfinden, welche als solche nach außen auftreten. Diese Netzwerke haben oft Möglichkeiten zur Partizipation bei den landesweiten Aktionsplänen. Darüber hinaus gehört zu ihrer Aufgabe sowohl die Arbeit mit LSBTIQ*-Aktiven als auch die Kooperation mit weiteren Akteur*innen aus Gesellschaft, Politik, Verbänden und Initiativen, um die Anliegen von LSBTIQ*-Gruppen und Personen voranzubringen. Diese Zielrichtungen des Handelns von Akteur*innen von LSBTIQ*Netzwerken, nach innen und außen zu wirken, stehen wie die LSBTIQ*Bewegung als Ganzes unter dem Eindruck von Entwicklungen in der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und den Diskursen zur geschlechtlichen Vielfalt und damit auch der Entwicklungen beim Personenstand. Hierbei spielen die Heterogenität der Bewegung, die Kompetenzen in ihren Arbeitsfeldern sowie ihre Netzwerke eine bedeutende Rolle. Dieser Beitrag

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setzt bei der LSBTIQ*-Bewegung an und stellt Fragen nach der Bedeutung der sogenannten dritten Option auch für die LSBTIQ*-Netzwerkarbeit. Dabei geht dieser Beitrag auf die Zugehörigkeiten zur LSBTIQ*-Bewegung und auf Verständnisse von Antidiskriminierungsarbeit ein. Zudem stellt sich die Frage, wie sich einem Verständnis vom kompetenten Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt angenähert werden kann. Den Abschluss stellt die Frage, wie LSBTIQ*-Netzwerkarbeit und Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt in Beziehung gesetzt werden können.

Die Heterogenität der LSBTIQ*-Bewegung Gesellschaftliche Veränderungen sind mit den Stimmen verbunden, die für ihre Anliegen eintreten – sei es für umweltpolitische Themen, für die Anliegen von People of Color (PoC), für die Gleichstellung von Frauen usw. Diese sozialen Bewegungen »sind kollektive Aktivitäten von einer gewissen Dauer, die auf eine mehr oder weniger tiefgreifende Veränderung der Gesellschaft oder deren Verhinderung abzielen und sich dabei überwiegend nicht institutionalisierter politischer Formen bedienen« (Roth 2011: 786). Hierbei legt die alltägliche Verwendung des Bewegungsbegriffs im Singular die Vermutung nahe, dass es sich um eine Einheit handelt, die klar umrissen ist, mit eindeutigen und von allen Akteur*innen gemeinsam vertretenen Positionierungen. Dass eine solche Einheit – bei aller Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion im Alltag – stark verkürzt ist, erschließt sich aus den vielfältigen Personengruppen, die mit dem Akronym der LSBTIQ*-Bewegung bezeichnet werden. Hier artikulieren sich Menschen, deren Begehren auf das gleiche Geschlecht, auf mehrere Geschlechter oder auch auf kein Geschlecht gerichtet ist. Ebenfalls umfasst diese Bewegung Menschen, deren geschlechtliche Identität nicht oder nicht vollständig mit dem Geschlecht übereinstimmt, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, oder die sich nicht geschlechtlich definieren. Es geht auch um die Menschen, deren Körper nicht den Normen von Mann bzw. Frau entsprechen. Diese Dimensionen von lsbtiq* Lebenswirklichkeiten können sich auf individueller Ebene überschneiden. Und sie können mit weiteren sozialen Merkmalen intersektional zusammenkommen, die ebenfalls Risiken darstellen, Diskriminierung zu erleben, wie etwa aufgrund von (zugeschriebenen) Migrationserfahrungen, Klasse, kultureller Zugehörigkeit, Alter etc. (vgl. z.B. Degele/Winker 2007). Die Erfahrungen von lsbtiq* Menschen sind daher entsprechend äußerst heterogen.

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

Hervorzuheben ist beim Blick auf die Bewegung, dass es in den letzten Jahrzehnten in der Gesetzgebung und Rechtsprechung einige positive Entwicklungen gegeben hat: Wie die sogenannte ›Ehe für alle‹ zählen hierzu die rechtlichen Möglichkeiten des Personenstands ›divers‹ und des offenen Eintrags. Mit dem Nachweis einer ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ durch ein ärztliches Attest kann dieser Personenstand inklusive rückwirkender Namensänderung stattfinden. Innerhalb der Rechtsauslegung gibt es Differenzen darüber, ob auch Menschen, deren ›Variante der Geschlechtsentwicklung‹ nicht dem Inter*-Spektrum zuzurechnen ist, auch hiervon Gebrauch machen können, wie endogeschlechtliche, trans* und nicht-binäre Personen. Für Regelungen zu sorgen, welche die geschlechtliche Selbstbestimmung wahren, ist nach wie vor ein Thema der LSBTIQ*-Bewegung, neben vielen weiteren, wie etwa Gleichberechtigung in der Elternschaft lesbischer Mütter und Trans*-Elternschaft, Antidiskriminierung in den (Hoch-)Schulen und/oder in der Arbeitswelt. Wird von der LSBTIQ*-Bewegung gesprochen, dann stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit. Diese ist nicht so eindeutig, wie der erste Blick vermuten lässt. Gudrun Perko (2005) zeigt für die LSBTIQ*-Bewegung in Deutschland unterschiedliche Varianten auf, die sie zum einen als »(feministisch)-lesbisch-schwul-queere Variante« (ebd.: 17) bezeichnet. In dieser ist klar definiert, wer dazu gehört. Eine solche positiv aufgezählte Gruppe hat deutlich »eine Gefahr des Ausschlusses« (ebd.: 18). So werden »Strukturen von Ausgrenzung als auch Mechanismen der Reproduktion dieser Strukturen durch die Bestimmung von Dazugehörigkeiten bzw. NichtDazugehörigkeiten über spezifische Kategorien« (ebd.) aufgebaut. Auch »lesbisch-schwul-bi-transgender-queere Varianten« (ebd.: 19) arbeiten mit kollektivistischen Erzählungen, in denen Zugangsschranken immanent und umkämpft sind. Offener als diese Abgrenzungsnarrative hingegen sind solche Ansätze der Bewegung, die sich »plural-queer« (ebd.) verstehen. Der Begriff queer richtet sich so gegen die endo-cis-heteronormativen Strukturen innerhalb der Gesellschaft und ist dann »ein politisch-strategischer Überbegriff für alle Menschen […], die der gesellschaftlich-herrschenden Norm nicht entsprechen oder nicht entsprechen wollen« (ebd.). Der Einbezug von inter*, trans* und nicht-binären Personen in die Bewegung bedeutet Räume (gedankliche und institutionelle) zu öffnen und ein Denken und Handeln jenseits der Zweigeschlechtlichkeit zuzulassen. Denn bei einer »Eingliederung von Intersex in das LGBTQ-Spektrum [ist] noch nicht garantiert, dass

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die besonderen Probleme Intersexueller auch thematisiert und die Räume sowie Ressourcen« (Kromminga 2005: 114) geschaffen werden. Diese Bedenken sind für die Arbeit in LSBTIQ*-Netzwerken und für LSBTIQ*-Bewegung selber relevant. Im landesweiten Netzwerk in SchleswigHolstein gibt es Kontakte zu inter* Aktivist*innen und entsprechende Förderungen von Projekten zu inter* Themen aus dem Landesaktionsplan Echte Vielfalt wurden umgesetzt (vgl. Schweizer/Rosen 2020: 244). Dennoch zeigt sich hier, dass die Themen zur geschlechtlichen Vielfalt meist durch endogeschlechtliche Personen eingebracht werden, die auch trans* und nichtbinär sein können. Die entsprechenden Weiterentwicklungen der Netzwerke und der LSBTIQ*-Bewegung zur Öffnung gegenüber inter* Personen stellen daher eine stetige Entwicklungsaufgabe dar. Neben der Vielfalt von Personengruppen innerhalb der LSBTIQ*Bewegung werden unterschiedliche Haltungen zu und Praktiken in der Antidiskriminierungsarbeit wirksam. Bei Mai-Anh Boger lassen sich mit Rückgriff auf unterschiedliche soziale Bewegungen und ihre Arbeit gegen Diskriminierung im »Begehren« diskriminierter Personen drei Kristallisationspunkte finden, die ein Trilemma bilden und bezeichnet werden als: a) Normalisierung, b) Empowerment und c) Dekonstruktion (vgl. Boger 2019a: 36).

Abbildung 1: Ontologien der Andersheit* im Trilemma

Quelle: Boger 2019a: 39.

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

Normalisierung meint hierbei »eine politische Strategie der Eingliederung in etablierte politische Systeme, […] Stiftungen, Verbände und Vertretungen« (Boger 2019b: 60). Empowerment hingegen steht dafür, »dass eine unterdrückte Gruppe pluralistisch zu sprechen beginnt, um sich gegen ein Unrecht zu erheben« (ebd.: 39) und hierbei »mit essentialistischen Adressierungen« (ebd.) arbeitet, also wesentliche Unterschiede der »Anderen*-Gruppe und den jeweiligen Normalen*« (ebd.) verdeutlicht. Dekonstruktion demgegenüber meint »das Verschieben von Bildern und sprachlichen Bezeichnungspraxen sowie die Kunst des Lesens/Zuhörens« (ebd.: 76), was auch das Lesen und Einordnen von Menschen in Kategorien einschließt. Entscheidend für das Verständnis dieses Ansatzes ist, dass von diesen Kristallisationspunkten »nur immer zwei gleichzeitig wahr sein können« (Boger 2019a: 36). Das Begehren und das entsprechende aktivistische Handeln können mit diesem Dreieck eingeordnet werden, ohne dass es ein objektiv zu benennendes Richtig oder Falsch gibt. Auch ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich einzelne Personen zu einem Thema (z.B. bei Beziehungsformen) eher in Richtung Normalisierung positionieren und gleichzeitig in einer Arbeitsgruppe organisieren, die binäre Normvorstellungen bei einem weiteren Anliegen (z.B. hinsichtlich binärer Geschlechternormen) dekonstruieren will. Weiter finden sich bei Boger die Eigenschaften von Antidiskriminierungsarbeit, die sich an den Verbindungslinien der drei Kristallisationspunkte Empowerment, Normalisierung und Dekonstruktion ausmachen lassen. Auf der Verbindungslinie Normalisierung – Empowerment finden sich solche Ansätze, die »das Recht der Anderen* auf Teilhabe an einer Normalität« fordern. Die entsprechenden Strategien gegen Diskriminierung zeichnen sich aus durch die Verwendung von »vergleichsweise starren Kategorisierungen der Anderen* oder sie treiben sich selber ad absurdum und verfehlen ihr Ziel« (Boger 2019b: 83). Ein Beispiel kann das Bestreben sein, dass neben cisgeschlechtlichen Männern und Frauen auch trans* Personen in Gremien vertreten sind. Auch kann es in queeren und feministischen Kontexten Debatten geben, wer sich denn als Frau, als Schwuler etc. zählen könne. Die Haltungen hierzu können vom Recht der Selbstbezeichnung über das Primat körperlicher, sexueller etc. Merkmale reichen. Solche sich ausschließende Positionen können bis zur Ausgrenzung von trans*, inter* und nicht-binären Personen aus den entsprechenden Communities und Angeboten führen. Die Ansätze gegen Diskriminierung auf der Linie Empowerment – Dekonstruktion haben gemein, dass sie sich einer »Normalisierung« verweigern und Antidiskriminierung sich als »Einschlüsse in (subkulturelle) Räume der

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Anderen*« (Boger 2019a: 43) zeigen kann. So lassen sich die Schutzräume der LSBTIQ*-Communities hier einordnen: Hier kann diese Andersheit gelebt und erprobt werden. Und es geht auch darum, »Worte zu finden, wie einem selbst diese Andersheit* erscheint« (Boger 2019b: 132). Ein Beispiel kann eine Gruppe von nicht-binären Menschen sein, in der es darum geht, unter sich zu sein und Gemeinsamkeiten erfahrbar zu machen. Auf der Verbindungslinie Normalisierung – Dekonstruktion finden sich bei Boger die Ansätze mit dem »Begehren, nicht als anders wahrgenommen zu werden, sondern einfach selbstverständlicher Teil einer neuen Normalität zu sein […] [,] ein Teil des Universalen« (ebd: 104). Wird beim Empowerment von einem kollektiven Wir gesprochen, geht es bei Aktivismen auf der Linie Normalisierung – Dekonstruktion um »das Individuum im Zentrum« (ebd.), das nicht Normalität einfordert, sondern betont, »dass man doch schon längst da ist und bereits teilhat.« (ebd., Herv. i.O.) Wenn alle doch nur Menschen sind, dann wird es schwer, Diskriminierungserfahrungen einer Gruppe konkret zu benennen. Es bleibt dann nur der Hinweis auf die allgemeinen Menschenrechte jenseits aller gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit. Ansätze auf dieser Linie sind daher durchaus »stärker utopisch« (ebd.), da es hier zwar gelingt »alle essentialistischen Adressierungen zu unterlassen, doch fallen dadurch auch Herrschaftsverhältnisse in den Raum des Unsagbaren« (ebd.: 131). Sowohl die Veränderungen in den Verständnissen von Zugehörigkeiten zur LSBTIQ*-Bewegung als auch die Heterogenität der Ansätze zur Antidiskriminierungsarbeit in der LSBTIQ*-Bewegung zeigen, dass es ein steter Anspruch an die Akteur*innen der Bewegung ist, ein hohes Maß an Offenheit für Themen, Anliegen, Begriffe etc. zu zeigen. Das schließt auch die Menschen ein, die mit und innerhalb der Bewegung und ihren Orten, wie etwa Beratungsstellen und Jugendtreffs, arbeiten (vgl. auch Prasse in diesem Band). An dieser Stelle wird der Anspruch eines kompetenten Umgangs mit geschlechtlicher Vielfalt virulent.

Kompetenz und Anerkennung für geschlechtliche Vielfalt und die dritte Option Politisches, sozialarbeiterisches, (sozial-)pädagogisches und vergleichbares Handeln kann als Arbeit im Sinne von Menschenrechtsarbeit verstanden werden. Daher stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten, die Akteur*innen

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

innerhalb der Bewegung generell oder z.B. professionell in Berufszweigen zur Verfügung stehen. Selbstredend kann eine Bewegung das Repertoire demokratischen Handelns nutzen, welches sich in Demonstrationen, Engagement in Parteien und Verbänden, Bildpraktiken usw. manifestiert, die auch stark in die Mehrheitsgesellschaft einwirken. Auch die Beziehungen innerhalb von Netzwerken zählen hierzu. Innerhalb der LSBTIQ*-Bewegung gibt es empowernde Arbeitsfelder wie Beratung, Jugendarbeit und Selbsthilfe. Diese wirken eher nach innen und haben die Menschen im Fokus, die sich dem LSBTIQ*-Spektrum zuordnen und Unterstützungsbedarf benötigen. Hier zeigt sich ein Bereich Sozialer Arbeit, der als Teil »der Zivilgesellschaft, Teil der staatlichen Organe und Teil kirchlicher Einrichtungen« (StaubBernasconi 2019: 370) zur »Einhaltung der Menschenrechte als auch zur Kritik von und professioneller Hilfe bei Menschenrechtsverletzung« (ebd.) verpflichtet ist. Mit dem Konzept der Regenbogenkompetenz hat Ulrike Schmauch (2020) Vorschläge zur Systematisierung für die lsbtiq*sensible Soziale Arbeit erarbeitet, die u.a. auf die Herausforderungen für die LSBTIQ*-Netzwerkarbeit übertragbar sind. Die lsbtiq*sensible Soziale Arbeit meint die »Fähigkeit einer sozialen Fachkraft mit dem Thema der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität professionell, vorurteilsbewusst und möglichst diskriminierungsfrei umzugehen« (ebd. 308). Sie benennt hierbei Sach-, Sozial-, Selbst- und Methodenkompetenz (vgl. auch Groß/Hechler in diesem Band). Schmauch betont zudem, dass diese Kompetenzen nur in einem Zusammenspiel aus »Individuum und […] institutionellem Rahmen« (ebd.: 310) zusammen eine Wirksamkeit erfahren ließen. Die Chance in diesem Konzept liegt darin, dass durch die ausdifferenzierten Kompetenzebenen die Anforderungen für einen angemessenen Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt erfasst werden können, die nicht allein die Soziale Arbeit betreffen: Zur Sachebene gehört das Wissen um geschlechtliche Vielfalt1 sowie von Erfahrungen von trans*, inter* und nicht-binären Menschen. Für Schleswig-Holstein hat die Umfrage Echte Vielfalt (MSGJFS 2019a) mit ca. 600 Teilnehmer*innen ergeben, dass trans* und inter* Menschen öfter von Diskriminierung (66 %) berichteten als etwa schwule Männer (44 %) (vgl.

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Hierzu gibt es mittlerweile eine Vielzahl an Publikationen, die für Interessierte einführend Begriffe aus dem LSBTIQ*-Spektrum erklären, wie zum Beispiel die Fibel Echte Vielfalt, das LSBTIQ-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung und das Lexikon der Initiative 100 % Mensch.

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ebd.: 21). Auch wenn die Ergebnisse nicht repräsentativ sind, zeigen sie, in welchen Kontexten Diskriminierungserfahrungen in Schleswig-Holstein erlebt wurden. Trans* und inter* Personen hatten zu 22 % erlebte Gewalterfahrung angegeben – lesbische Personen 21 %, pansexuell/queere Personen 21 %, bisexuelle Personen 19 %, schwule Personen 19 % (vgl. ebd.: 41). Entsprechend hoch ist die Notwendigkeit, dass auch auf Landesebene entsprechende Maßnahmen gegen Diskriminierung ergriffen werden, die auf geschlechtliche Vielfalt fokussieren (vgl. ebd.: 64). Auf der Ebene der Sozialkompetenz geht es in der Arbeit mit trans*, inter* und nicht-binären Menschen um die »Kommunikation und Kooperationsfähigkeit im Bereich von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt« (Schmauch 2020: 309). Das umfasst auch in der Kommunikation die Wahrung der Selbstbestimmung. Diese ist ein hohes Gut, welches viel zu oft verletzt wird, wenn etwa Menschen unangemessen nach dem Genitalstatus gefragt, nicht der geschlechtlichen Selbstbestimmung entsprechend angesprochen oder ohne Einwilligung geschlechtszuweisende Operationen an Kindern vorgenommen werden (vgl. Krämer/Sabisch in diesem Band). Zur Sozialkompetenz gehört auch die Verwendung einer angemessenen Sprache. Das betrifft auch die Frage nach den Personalpronomen (er*sie, xier, they, nin etc.), mit denen sich nicht-binäre Menschen identifizieren können (vgl. QNN 2020: 18). Diese Neopronomen zeigen, dass Sprache sich weiterentwickelt und gleichzeitig (noch) nicht für alle Identitätsmöglichkeiten Begriffe vorhanden sind. So gibt es für binäre Menschen die Bezeichnungen ›Mann‹ bzw. ›Frau‹. »Doch was ist das Substantiv zu ›divers‹? Hier versagt die Sprache und ein passender Name zur Selbstbeschreibung, ein Identitätsbegriff fehlt.« (Schweizer/Rosen 2020: 249, Herv.i.O.) Sprachliche Entwicklungen rufen oft Abwehr oder Solidarität hervor, auch bei Engagierten innerhalb der LSBTIQ*-Bewegung. Für eine professionelle Haltung ist auf der Ebene der Selbstkompetenz die entsprechende »Reflexion eigener Gefühle, Werte, Vorurteile« (Schmauch 2020: 310f.) zentral, um offen der Vielfalt von Menschen gegenüber treten zu können. Für die Arbeit mit geschlechtlich vielfältigen Menschen wird zudem die Reflexion der eigenen Geschlechtlichkeit als Voraussetzung z.B. der Berater*innen betont (vgl. Sauer/Nieder 2019: 91). Bei der Methodenkompetenz geht es um »Handlungsfähigkeit und Verfahrenswissen im Bereich sexueller und geschlechtlicher Identitäten« (Schmauch 2020: 310). Das betrifft auch die Angebote, die in der Bewegung stattfinden, um die Anliegen von trans*, inter* und nicht-binären Menschen

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

zu stärken, wie etwa Workshops oder die Arbeit in Selbsthilfegruppen. Ein wichtiges Setting in diesem Sinne ist zudem die Beratung. Diese lässt sich verkürzt beschreiben als ein »kommunikatives Geschehen, bei dem Fragen, Irritationen und Probleme der einen […] Seite geklärt und einer Lösung zugeführt werden, ohne deren Entscheidungsautonomie zu verletzen« (Großmaß 2011: 94). Auch für geschlechtliche Vielfalt bedeutet dies, dass Berater*innen sich kompetent und auf Augenhöhe ihrer Gegenüber bewegen und die zu Beratenden als Expert*innen in ihrer eigenen Sache ansehen sollten. Die Anliegen von inter* Menschen und die Beratungen zu Anliegen rund um das Thema Geschlecht sind stark mit medizinischen Fragen verknüpft, denn »in Deutschland leben und leiden mehrere zehntausend intergeschlechtlich geborene Menschen an den Auswirkungen und Ergebnissen der Medizin« (Veith 2018: 44), was einem positiven Erleben des eigenen Körpers gegenübersteht. Dementsprechend braucht Beratung »Zeit, Vertrauen, Authentizität und Empathie« (Tillmanns 2015: 86) und das Wissen, dass Berater*innen es »oft mit Personengruppen zu tun haben, die unter Umständen schwer traumatisiert sind« (ebd.). Denn statt von einem gesunden Kind zu sprechen, werden medizinische Begriffe und Behandlungen wirksam, die nachhaltig die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Stattdessen braucht es ein positives Sprechen über inter* Kinder und ihre Körper. Entsprechend bedeutend ist auch die Beratung der Eltern von inter* Kindern (vgl. Schweizer/Rosen 2020: 246f. sowie Rosen in diesem Band). Hier zeigt sich, wie wichtig es für eine kompetente Auseinandersetzung mit geschlechtlicher Vielfalt ist, die interdisziplinären Verschränkungen zu berücksichtigen. Statt einer fremdbestimmenden pathologisierenden Grundhaltung gibt es sowohl aus inter*, trans* und nicht-binärer Perspektive die Forderung nach einem »informed consent« (Sauer/Nieder 2019: 86), also um den Prozess der »partizipativen Entscheidungsfindung zwischen Patienten_in und medizinischem Fachpersonal«(ebd.). Die S3-Behandlungsrichtlinien2 für trans* Personen zeigen hier entsprechende »Paradigmenwechsel in der trans Gesundheitsversorgung« (ebd.: 88), die mit »Trans-Expertise begleitet« (ebd.) wurden. Sie zeichnen sich durch »Abwendung von fixen gegengeschlechtlich diagnostischen Kriterien« (ebd.) sowie den »Verzicht auf den einjährigen All-

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»Die Leitlinie verfolgt das Ziel, die ›Standards zur Begutachtung und Behandlung von ›Transsexuellen‹ aus dem Jahr 1997 an die gegenwärtigen Bedingungen und Forschungsergebnisse anzupassen und sie für eine adäquate Versorgung in Deutschland nutzbar zu machen.« (Nieder/Strauß 2018: 2)

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tagstest und die Anerkennung von diversen (nicht-binären) transgeschlechtlichen Identitäten« (ebd.) aus – auch wenn diese noch nicht flächendeckend angewendet werden (vgl. ebd.). Diese Veränderungen sind nur mit starkem Engagement und Einbezug der entsprechenden Menschen möglich, die Erfahrungen im Leben als trans*, inter* bzw. nicht-binäre Menschen haben. Es geht hierbei um Verbesserungen der Lebenssituationen durch Veränderungen im Recht und in Richtlinien und in Sprachpraktiken um Diskriminierungsabbau und darum, Leben jenseits eines bloßen Existierens zu ermöglichen. Hierbei werden die Anliegen eines mehr oder weniger scharf umrissenen ›Wir‹ artikuliert. Auf der Linie Empowerment – Dekonstruktion bei Boger findet sich dieser Einsatz dann wieder, wenn Menschen sich in selbstgeschaffenen Räumen organisieren. Wenn die Teilhabe an Institutionen ermöglicht wird bzw. ermöglicht werden soll, um etwa in Gremien und Parlamenten vertreten zu sein, dann lassen sich diese Strategien auf der Linie Empowerment-Normalisierung einordnen. So können Sichtbarkeit und Teilhabe als Ausdruck von Anerkennung vorangebracht werden. Für die Anerkennung von LSBTIQ*-Anliegen betont Perko (2005) die Notwendigkeit einer »ethische[n] Haltung« (ebd.: 61) mit dem zentralen »Interesse am Anderen als Motivation des eigenen (moralischen) Handelns und reziproken Behandelns von Subjekten« (ebd., Herv.i.O.). Dieses Interesse betrifft alltägliche Beziehungen in Familien und Freund*innenschaften. Darüber hinaus wird diese Reziprozität von menschlichen Beziehungen auch dort relevant, wo Menschen sich in Vereinen und an Arbeitsplätzen engagieren und Austausch zwischen Organisationen wie Vereinen, Verbänden usw. stattfindet. Diese Beziehungsgefüge werden in den Geistes- und Sozialwissenschaften mit dem Begriff des Netzwerks beschrieben, welche auch in der Arbeit der LSBTIQ*-Bewegung bedeutsam sind.

Netzwerkarbeit der LSBTIQ*-Bewegung, Anerkennung und Kompetenz für geschlechtliche Vielfalt Der Netzwerkbegriff geht über einzelne private Beziehungen hinaus und umfasst auch die Verbindungen »einer Vielzahl von Akteuren (Personen, Gruppen, Organisationen) […], die ein erfolgreiches, gemeinsames Handeln zur Erreichung eines Ziels anstreben« (Quilling u.a. 2013: 10). Es geht in einem solchen Netzwerk um Austausch von Wissen und darum, dieses »in einen neuen übergreifenden Kontext unterschiedlicher Problemwahrnehmungen und In-

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

teressen einzubringen und über Sektorengrenzen hinweg neue Lösungsansätze zu entwickeln« (Brocke 2003: 14). Demnach streben Akteur*innen innerhalb der Netzwerke nach Bearbeitungen von Anlässen und Erreichen von Zielen. Die Anliegen von Personen zu stärken, die weder (ausschließlich) Mann noch (ausschließlich) Frau sind, ist etwa ein entsprechendes Ziel. Gelingt es Akteur*innen etwa von Trans*- und Inter*-Verbänden in die Netzwerke zu gelangen, in denen z.B. Leitlinien und sprachliche Regeln einer Kommune entwickelt werden, können sie dort entsprechendes Erfahrungswissen einbringen und Prozesse in ihrem Sinne mitgestalten. Solche Netzwerke (wie etwa Fachgremien, Arbeitsgruppen) lassen sich beschreiben als »institutionelle Beziehungen in thematischen Handlungsfeldern« (Quillung et al. 2013: 14f). Hier zeigen sich Strategien der Antidiskriminierungsarbeit auf der Linie Normalisierung – Empowerment. Auch innerhalb der LSBTIQ*-Bewegung gibt es solche Netzwerke, z.B. in Form von Netzwerken der Jugendarbeit zwischen den Jugendverbänden im Bundesverband lambda und im Verein Queere Bildung, in dem sich peer-to-peer LSBTIQ*-Aufklärungsprojekte organisieren, austauschen, zusammenarbeiten und damit vernetzen. Auch die landesweiten Netzwerke der LSBTIQ*-Bewegung zählen hierzu. Mit dem Rückgriff auf die Anerkennungstheorie von Axel Honneth lässt sich zeigen, was die Chancen solcher Netzwerke sind. Anerkennung zeigt sich nach Honneth in den zwischenmenschlichen Sphären der Rechte von Menschen, in der gezeigten Solidarität und in Liebe/Freundschaft (vgl. Honneth 2018[1992]: 211). Unsere Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen als Subjekte »im Besitz spezifischer Rechte« (Schütte-Bäumner 2012: 181f.) sind. Es sind mit dem § 45b Personenstandsgesetz neue Möglichkeiten für den Geschlechtseintrag geschaffen und daher ein wichtiger Schritt in Richtung rechtlicher und gesellschaftlicher Anerkennung umgesetzt worden. Eine solche rechtliche Anerkennung ist nach Honneth notwendig, damit nicht die »Erduldung rechtlicher Unterprivilegierung zu einem lähmenden Gefühl« (Honneth 2018[1992]: 195) führt. Neben juristischer Verfahren beim Bundesverfassungsgericht brauchte und braucht es Einbindungen von trans*, inter* und nicht-binären Menschen in Netzwerke, wie etwa in politische Arbeitsgruppen der Parteien oder in die Netzwerke der LSBTIQ*-Bewegung. Durch eine solche Einbindung kann es innerhalb der Netzwerke und auch in den Fachöffentlichkeiten (von Politik, Sozialer Arbeit, (Sozial-)Pädagogik, medizinischen Fachgremien usw.) für die eingebundenen Personen möglich werden, »auf die vernachlässigte Bedeutung der von ihnen kollektiv repräsentierten Eigenschaften und Fähigkeiten aufmerk-

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sam zu machen« (ebd.: 206) und damit »das Ansehen ihrer Mitglieder zu steigern« (ebd.: 206). Hieraus kann sich eine »soziale Wertschätzung« (ebd.) ergeben, die Honneth als Solidarität bezeichnet. Für die gesellschaftliche Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt ist das ein wichtiger Aspekt, um Sichtbarkeit und den Abbau von Diskriminierung voranzubringen. Für professionelles politisches, sozialarbeiterisches und (sozial-)pädagogisches Handeln, das Anerkennung ermöglichen will, stellen Netzwerke wichtige Handlungsfelder dar, da Akteur*innen aus unterschiedlichen Kontexten Beziehungen eingehen, um kompetente Hilfsstrukturen zu ermöglichen. Voraussetzungen sind hierbei das »Wissen über Organisationsabläufe, Zuständigkeiten und Handlungsabläufe der anderen Kooperationspartner und ein regelmäßiger Austauschmodus« (Gahleitner/Hohmfeld 2019: 570), damit »Kooperationsnetzwerke« (ebd.: 582) geschaffen werden können. Netzwerkarbeit ist als Handlungsweise in den professionellen psychosozialen und/oder sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Arbeitsfeldern, wie bspw. der Jugendarbeit, der Selbsthilfearbeit, im Arbeitsfeld für lsbtiq* Geflüchtete usw. weit verbreitet. Hierdurch ergeben sich Möglichkeiten, durch Kontakte und gegenseitiges Interesse die Arbeit der Netzwerkpartner*innen kompetenter für geschlechtliche Vielfalt aufzustellen, sei es durch Öffnung für die entsprechenden Personengruppen oder durch Verweise. Der Einbezug unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in ein Netzwerk bewirkt, dass deren Akteur*innen im Austausch stehen und auch Wissen und Zugänge austauschen, was auch als »Tauschprinzip« (Aderhold 2004: 25) aufgefasst wird. Ein solches Netzwerk kann Kompetenzerwerb und Anerkennung in Form von Solidarität und Teilhabe bezogen auf geschlechtliche Vielfalt voranbringen. Das nötige Fach- und Erfahrungswissen zur Kompetenzermöglichung kann durch Einbezug der Expertise aus der LSBTIQ*-Bewegung erreicht werden, z.B. durch entsprechende Aus- und Weiterbildung. Auch die Mitarbeit in regionalen und überregionalen Netzwerken der LSBTIQ*-Bewegung kann hierzu zählen, da hier Vereine, Verbände, Gruppen und Einzelaktivist*innen zusammenfinden. Der Ansatz der Sozialen Netzwerkarbeit ermöglicht für die Soziale Arbeit das Potential, mit Klient*innen und Ratsuchenden der Frage nachzugehen, »ob und wieviel professionelle Hilfe durch informelle soziale Netzwerke ersetzt oder ergänzt werden« kann (Zwicker-Pelzer 2004: 2), wenn es etwa um zwischenmenschliche Beziehungen geht. Das Ziel ist dann empowernde informelle Netzwerke zu nutzen, wie Freund*innenschaften oder Kontakte über Freizeitaktivitäten. Hier werden die kulturellen Angebote, Freizeit-

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

gruppen und Jugendangebote sowie die Beratungen bedeutsam, die innerhalb der Bewegung in den LSBTIQ*-Zentren existieren. Dort werden Beziehungen wirksam, in denen Menschen Anerkennung erfahren können, auch mit ihrer geschlechtlichen Identität und individuellen Geschichte. Hier wird der dritte Aspekt innerhalb der Anerkennungstheorie von Honneth wirksam, den er mit Liebe bezeichnet. Hier geht es um »affektive Zuwendungen, die eine emotionale Bindung der Subjekte erst ermöglichen« (Honneth 2018[1992]: 181) und sich zeigen können in »erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen« (ebd.: 153). Viele Angebote der LSBTIQ*-Bewegung werden entsprechend wirksam, wenn hier Menschen Verständnis und Beziehungen finden, wie etwa in den Selbsthilfegruppen, in der Beratung usw. Wenn diese Räume und Angebote kompetent für geschlechtliche Vielfalt aufgestellt sein sollen, dann bieten Vernetzungen die Chance, Kompetenzen zu steigern. Die LSBTIQ*-Bewegung hat sich bezogen auf die Personengruppen im Hinblick auf die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ausdifferenziert. Auch für die Netzwerkarbeit bedeutet dies, offen zu sein für weitere Personengruppen, die in einer Gesellschaft der Norm der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität nicht entsprechen. Denn eine Gesellschaft mit »einer naturalisierten Zwangsheterosexualität erfordert und reguliert die Geschlechtsidentität als binäre Beziehung, in der sich der männliche Term vom weiblichen Term unterscheidet« (Butler 1991: 46). Wenn Menschen jenseits dieser Norm leben und begehren, dann gibt es Personengruppen, die innerhalb der Gesellschaft für sich in Anspruch nehmen, sich für ihre Rechte artikulieren zu können und dabei auch gehört zu werden, auch wenn sie Ablehnungen erfahren können. Diese Möglichkeit haben in der Gesellschaft nicht alle. Denn wir haben Begriffe und damit Vorstellungen davon, wie Menschen leben, auch wenn diese Zerrbilder und mit Vorurteilen belastet sein mögen. Aber jenseits der sprachlichen Möglichkeiten, für die wir Worte haben, gibt es vielfältige Varianten des Menschseins, die wir nicht bezeichnen. Hier bildet sich ein Innen und Außen, welches in poststrukturalistischer Perspektive zentral ist. Subjekte werden durch diese Ausschlüsse gebildet. Dieses »konstitutive Außen« nennt Butler »das Verworfene [the abject]« als eben »jene ›nicht lebbaren‹ und ›unbewohnbaren‹ Zonen des sozialen Lebens« (Butler 2019[1997]: 23, Herv.i.O.). Es gibt in unserer Gesellschaft folglich Menschen, deren Begehren nach Anerkennung in die Zonen des Verworfenen verwiesen ist und (noch) nicht wahrgenommen wird – auch weil die Begriffe (noch) nicht verbreitet sind und die Anliegen nicht registriert werden. Wenn Lebenswirklichkeiten

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nicht bezeichnet werden können, weil die Worte nicht vorhanden sind und die Menschen nicht gehört werden, dann kommt ein solches Agieren von Menschen in einem quasi resonanzleeren Raum einem »Kampf um einen Kampf um Anerkennung« (Liebsch 2012: 311) gleich. Innerhalb der Bewegung, in ihren Räumen und Angeboten finden die bisher nicht wahrgenommenen Personengruppen erstmalig Möglichkeiten, benannt und bekannt zu sein. Durch die Integration in Netzwerke kann diese Bekanntheit gesteigert werden, indem Kontakte hergestellt werden, Multiplikationsformate (Workshops, Reden) kompetent mit geschlechtlicher Vielfalt umgehen und bisher nicht wahrgenommene Menschen die Möglichkeit zur Artikulation und gesellschaftlicher Anerkennung erhalten. Diese Ausdifferenzierungen können Spannungen hervorrufen, sowohl innerhalb der LSBTIQ*-Bewegung als auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Das bedeutet zusätzlich zur steigenden Ausdifferenzierung bei geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, dass es zu hohen Anforderungen kommen kann und wird, diese Anliegen durch ehrenamtliche und hauptamtliche Arbeit auch außerhalb der LSBTIQ*-Bewegung zu vertreten und kompetente Netzwerkarbeit umzusetzen. Eine gesellschaftliche Entwicklung gegen Diskriminierung braucht entsprechend hauptamtliche Begleitung, wenn die Arbeit durch das Ehrenamt nicht ausreicht. Diese hauptamtlichen Stellen konnten in den letzten Jahren innerhalb der LSBTIQ*-Bewegung ausgebaut werden. Viele hiervon sind mit Fachkräften aus Sozialer Arbeit, (Sozial-)Pädagogik, Sozialwissenschaften usw. besetzt worden. Hierunter befinden sich auch Stellen für die Netzwerkarbeit, wie z.B. in der Fachstelle der Landesarbeitsgemeinschaft Queeres Sachsen, der Geschäftsstelle Echte Vielfalt usw. Auch das ist eine Anerkennung der Komplexität und Ausdifferenzierung der Arbeit der LSBTIQ*-Bewegung.

Ausblick Netzwerke gestalten sich als eine Handlungsebene für LSBTIQ*-Akteur*innen sowohl innerhalb der Bewegung als auch außerhalb. Die Netzwerkarbeit als Handlungsweise hat die Chance, die Anliegen rund um geschlechtliche Vielfalt durch neue Beziehungen und Kooperationen zu stärken. Das wiederum kann den Erwerb von Kompetenzen voranbringen. Diese Arbeit ist anspruchsvoll und kann die zeitliche Möglichkeit der wertvollen Arbeit von Ehrenamtlichen übersteigen. Innerhalb der Bewegung werden neue

Die LSBTIQ*-Bewegung und geschlechtliche Vielfalt

Erzählungen von Identität auf der Linie Dekonstruktion und Empowerment ermöglicht und auf der Linie Empowerment und Normalisierung vorangebracht. Die hierfür notwendigen Kompetenzen für eine angemessene Arbeit in Fragen von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt braucht dauerhafte Finanzierungsmöglichkeiten, wie z.B. für Sozialarbeiter*innen in der Beratung und in der Gestaltung von LSBTIQ*-Netzwerken. Für die Aktiven in der LSBTIQ*-Bewegung braucht es stabile und verlässliche Netzwerke für die kompetente Weiterbildung, um kompetent Entwicklungen aufnehmen zu können. Die Themen der LSBTIQ*-Bewegung sind breit und entsprechen zum einen der in sich schon ausdifferenzierten Mehrheitsgesellschaft, da lsbtiq* Personen jung, alt, krank, arm, reich, mit Migrationserfahrung, be_hindert usw. sein können. Die LSBTIQ*-Bewegung zeigt, dass sie aus den Handlungen besteht, mit denen und durch die sich neue, bisher noch nicht bezeichnete Identitäten Räume für Empowerment und Dekonstruktion suchen, während weitere nach Normalisierung streben. Dass hierbei Spannungen entstehen können, liegt nahe und fordert Solidarität und einen kompetenten Umgang miteinander. Die Entwicklung ist ein offener Prozess, das Politische ist nicht abgeschlossen. Sprich, es bleibt offen, welche Anliegen innerhalb der Bewegung etwa in zehn Jahren hinzukommen werden. Mit ihr werden für die Arbeit in den Bereichen, die geschlechtliche Vielfalt berühren, Kompetenzen zu entwickeln und in die entsprechenden Netzwerke einzubringen sein. An den LSBTIQ*-Anliegen wird jeden Tag ersichtlich, wie die Machtstrukturen in der Gesellschaft wirken und welchen Druck Benachteiligte spüren. Netzwerke als Expertisen- und Expert*innenpool der Bewegung haben die Möglichkeit, die Anliegen zu geschlechtlicher Vielfalt und von trans*, inter* und nicht-binären Personen nach Außen zielgerichtet zu vermitteln. Die Arbeit gegen Diskriminierung braucht kompetente und professionelle Akteur*innen, Netzwerke und Netzwerkarbeit.

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Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher Ursula Rosen

Die Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher lassen sich nicht pauschal beschreiben. Sie sind abhängig von der individuellen Besonderheit des intergeschlechtlichen Kindes, von der Familienkonstellation, vom Vorwissen der Eltern über die Thematik Intergeschlechtlichkeit, vom Eingebundensein in einen Familien- und Freundeskreis, von der Persönlichkeit der Eltern, ihrem Umgang mit neuen, vielleicht schwierigen Situationen und vielem mehr. Zudem ist der Zeitpunkt, an dem die Intergeschlechtlichkeit des Kindes erkannt und den Eltern mitgeteilt wird, von entscheidender Bedeutung. Die Situation von Eltern, die erst dann von der Besonderheit ihres Kindes erfahren, wenn sie – vielleicht schon Jahre – ihr Kind als Mädchen oder Junge angesehen haben, stellt diese vor ganz andere Herausforderungen als Eltern, die im Anschluss an die Geburt ihres Kindes von der Intergeschlechtlichkeit erfahren. Der Versuch, die Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher auf nur wenigen Seiten umfassend zu beschreiben, ist daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dennoch kann die Verfasserin aufgrund eigener sehr persönlicher Erfahrungen, aufgrund vieler Gespräche mit Eltern im Kontext der Selbsthilfe und der Beratungstätigkeit und aufgrund von veröffentlichten Zitaten einige Aspekte beleuchten, die vielleicht zu einem besseren Verständnis für die Situation von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher beitragen können. Um den Text inhaltlich zu gliedern, werden insgesamt vier Phasen in der Entwicklung eines Kindes näher betrachtet, die im Zusammenhang mit der Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes für die Eltern eine besondere Bedeutung haben. Hier wird als erstes die Pränatale Phase beleuchtet, in der sich die Eltern auf die Geburt ihres Kindes einstellen und in der die Möglichkeit der Intergeschlechtlichkeit heute immer noch viel zu wenig mitgedacht wird. Als zweite

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wesentliche Phase wird die Peri- und Postnatale Phase rund um die Geburt des Kindes einschließlich der ersten Wochen im häuslichen und familiären Umfeld beleuchtet, in der oft schon die Weichen für den Umgang mit diesem Thema gestellt werden. Als dritte Phase wird die Zeit näher betrachtet, in der das Kind aus dem engeren familiären Umfeld in größere soziale Gruppen eingegliedert wird. Dazu gehören die Kindergartenzeit und die ersten Schuljahre. In dieser Phase werden die Fragen, wie über Geschlecht gesprochen werden soll und wie die Identitätsfindung des Kindes sinnvoll begleitet werden kann, in der Beziehung zum intergeschlechtlichen Kind einen größeren Raum einnehmen. Als vierte Phase soll die Zeit der Pubertät näher betrachtet werden, die für viele Familien eine besondere Herausforderung darstellt, viele Fragen aufwirft und durch besondere Bedarfe der Eltern im Umgang mit ihrem jugendlichen Kind geprägt sein kann.

Die Pränatale Phase Auch heute noch ist den meisten werdenden Eltern nicht klar, dass ihr Kind intergeschlechtlich sein könnte. Gerade die Schwangerschaft ist von der Binarität unserer Geschlechtersicht geprägt. Geschlecht scheint sogar in dieser Zeit eine zentrale Stellung hinsichtlich der Geburtsvorbereitungen zu spielen. Ein Blick in verschiedenste Foren für Schwangere zeigt, dass die Frage ›ob es ein Junge oder ein Mädchen wird‹, eine der wichtigsten Fragen während der Zeit der Schwangerschaft zu sein scheint. Bereits in der Schwangerenberatung könnte eine differenziertere Sicht der Fachkräfte auf Geschlecht Überforderungsmomente der Eltern nach der Geburt vermeiden. Das Wissen um die Vielfalt von Geschlecht bietet werdenden Eltern die Chance, sich bereits vor der Geburt mit vielen Fragen auseinanderzusetzen, die die Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes unweigerlich mit sich bringt: Die Frage eines sinnvollen Namens, des Geschlechtseintrags, eines Zentrums, bei dem man kompetente Ansprechpartner*innen für medizinische Fragen findet, Adressen von Selbsthilfegruppen, genderneutrales Spielzeug und vieles mehr. Eine solche Vorbereitung auf die Möglichkeit der Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes kann den ›Schock‹ vermeiden, den viele Eltern als erste Reaktion auf die Mitteilung des medizinischen Personals beschreiben, wenn diese Informationen wertschätzend und nicht pathologisierend erfolgen und den werdenden Eltern Perspektiven aufgezeigt werden. Eine Aufklärung, die

Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher

Intergeschlechtlichkeit als ›Krankheit‹ oder als ›Störung‹ vermittelt, kann allerdings im Zusammenhang mit heute möglichen pränatalen Diagnosemöglichkeiten die Spätabtreibungsrate intergeschlechtlicher Föten erhöhen.1 Hier liegt eine große Verantwortung beim medizinischen Personal.

Die Peri- und Postnatale Phase In dieser Phase erfolgt die Verarbeitung der besonderen Situation durch die Eltern und die Verabschiedung von mehr oder weniger festen Vorstellungen über ihr Kind. Die Eltern müssen sich mit der eigenen Sicht auf Geschlecht auseinandersetzen, die nun völlig neu entwickelt werden muss. Sie müssen praktische Entscheidungen treffen bezüglich Personenstand oder Namensgebung ihres Kindes. Viele Eltern beschreiben die Zeit nach der Mitteilung der Intergeschlechtlichkeit als ›Schock‹, wobei man sehr genau hinschauen muss, bevor man entscheiden kann, worauf dieser Schock sich eigentlich bezieht. Aus einer Analyse von Greta Schabram (2017) geht hervor, dass der Schock weitgehend strukturell bedingt ist und durch eine veränderte gesellschaftliche Sichtweise auf Intergeschlechtlichkeit vermieden oder zumindest stark reduziert werden könnte. »Also dass das passieren könnte, dass man ein Kind bekommt und nicht weiß, welches Geschlecht das Kind hat, das war völlig unvorstellbar […] das war nicht ein Schock über das Kind, sondern es war einfach ein Schock über diese neue Situation, die uns völlig unvorbereitet getroffen hat« (Schabram 2017: 19) Während sich Eltern eines gesunden Jungen oder Mädchen einfach über die Geburt freuen und nun als stolze Eltern mit ihrem Baby nach Hause gehen und es der Familie und dem Freundeskreis zeigen können, befinden sich Eltern eines gesunden intergeschlechtlichen Kindes in einer Stresssituation. »[Es] stand ja plötzlich alles in Frage. Auch der Name des Kindes. Und was das jetzt bedeutet und was macht man jetzt und wem sagt man Bescheid.« (Schabram 2017: 20) Wenn zu diesen ohnehin großen Belastungen noch unsensibles Verhalten von medizinischem Personal kommt, wenn Eltern durch pathologisierende

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Vgl. dazu z.B. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/im-raster-der-z weigeschlechtlichkeit-die-gefaehrlichen-intersex-gentests/11853150.html (zuletzt abgerufen am 02.09.2020) oder https://www.profamilia.de/fileadmin/dateien/fachpersonal/familienplanungsrundbrief/profamilia-medizin_2-2019.pdf (zuletzt abgerufen am 02.09.2020).

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Begriffe wie ›Störung‹ oder ›Fehlbildung‹ das Gefühl vermittelt wird, ihr Kind sei ›nicht normal‹, kann dies die Bindung der Eltern zum Kind nachhaltig stören und langfristig Beratungsbedarfe verursachen, die nicht aus der Tatsache der Intergeschlechtlichkeit, sondern aus dem Umgang mit den Eltern resultieren. Verschärft wird diese Problematik, wenn an einem gesunden Kind nur aufgrund der Intergeschlechtlichkeit medizinische Untersuchungen vorgenommen werden sollen, und es dafür vielleicht sogar in ein weiter entferntes Klinikum verlegt und dadurch von den Eltern getrennt wird. Auch die (teilweise immer noch übliche) Empfehlung des medizinischen Personals, möglichst niemandem von der Intergeschlechtlichkeit zu erzählen, macht diese zu einem Tabu und ist somit für Eltern eine weitere Belastung und einer positiven Verarbeitung der Situation durch die Familie nicht dienlich. »…[I]ch hätte dieses [von ärztlicher Seite empfohlene] Schweigegebot nie einhalten können. […] Selbst wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es nie gekonnt. Ich war darauf angewiesen, mit anderen darüber reden zu können.« (Schabram 2017: 21) Zusätzlich zu den allgemeinen Themen, über die sich Eltern eines Neugeborenen austauschen, kommen bei Eltern von intergeschlechtlichen Kindern viele, z.T. existenzielle, Fragen auf, über die ein Austausch mit Familienmitgliedern, Freund*innen oder auch psychologisch geschulten Fachkräften notwendig ist. Diese Fragen können im einfachsten Fall mit sachlichen Informationen beantwortet werden, die die Eltern bereits in der Geburtsklinik erhalten sollten. Dazu gehören eine Liste mit Unisex-Namen und ein Ausdruck aus dem Personenstandsgesetz mit einigen Erklärungen zum Procedere der Eintragung des Kindes. Schwieriger zu beantwortende Fragen sind alle medizinischen Fragen zum Themenkomplex Intergeschlechtlichkeit, die entweder vom medizinischen Personal als notwendige Informationen angesehen oder von den Eltern – z.B. nach Internetrecherche – angesprochen werden. Hier ist es sinnvoll, den Eltern zunächst nur die Informationen zu geben, die zu dem Zeitpunkt notwendig sind und erfasst werden können oder von ihnen erfragt werden. In den medizinischen Leitlinien »Varianten der Geschlechtsentwicklung« heißt es in Empfehlung 26: »Die Aufklärung über die Diagnose ist ein Prozess. Deshalb sollen mehrere Gespräche erfolgen, bis die Eltern […] die Gesamtsituation erfasst haben. Vorher sollen keine therapeutischen Entscheidungen getroffen werden.« (Deutsche Gesellschaft für Urologie 2016: 15) Bei einem gesunden intergeschlechtlichen Kind, bei dem kurz nach der Geburt keinerlei medizinische Interventionen notwendig sind, wird ein Zu-

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viel an medizinischer Information eher verunsichernd wirken. Sehr hilfreich kann für Eltern, die ein intergeschlechtliches Kind bekommen haben und sich nun unzählige Fragen stellen, die das Kind und dessen nähere und fernere Zukunft betreffen, eine qualifizierte Peer-to-Peer-Beratung durch andere Eltern sein. Diese haben die erste Phase bereits hinter sich gelassen und die Erfahrung gemacht, dass viele der Ängste und Unsicherheiten, die auch sie kurz nach der Geburt ihres Kindes hatten, inzwischen einer Gelassenheit gewichen sind und der Erkenntnis, dass ihr Kind eine völlig normale Entwicklung nimmt. Der Kontakt zu anderen Eltern ist wichtig, da er die Gewissheit vermittelt, dass man nicht allein ist, dass auch andere Menschen in einer ähnlichen Situation sind oder waren. Das Gespräch mit Elterngruppen kann therapeutische Wirkung haben, da durch den Austausch über belastende Erfahrungen diese verarbeitet werden können. »Mein erstes Treffen mit anderen Eltern kurz nach der Geburt meines Kindes werde ich nie vergessen. Das war so befreiend! Auf einmal war da jemand, der hat mich verstanden. Ohne viele Worte. Nur durch einen Blick, ein tiefes Luftholen, eine Träne.« (Intersexuelle Menschen 2017: 27) Aber auch die Möglichkeit, Gespräche mit einer psychologisch geschulten Person zu führen, sollte Eltern angeboten werden. Für viele Eltern ist die perinatale Phase ihres Inter*Kindes mit zahlreichen belastenden, im Extremfall sogar traumatischen, Erfahrungen verknüpft. Dies können neben den bereits angesprochenen pathologisierenden Begriffen aus dem medizinischen Kontext auch unbedarfte Äußerungen aus dem Umfeld sein, wie z.B. »Solche Kinder hat man früher auf dem Jahrmarkt gezeigt.«2 Oder: »Wat isn ditte? Klingt ja wie aus nem Zirkus.« (Morgen 2013: 24) Zu den unsensiblen und verletzenden Äußerungen aus dem sozialen Umfeld und den pathologisierende Aussagen des medizinischen Fachpersonals kommen häufig noch versteckte oder sogar offene Schuldzuweisungen wie z.B. die offenbar weit verbreiteten Fragen nach den ›Ursachen‹ oder ›ob man das nicht hätte verhindern können‹.3 Wenn man nun alle Äußerungen zusammennimmt, mit denen sich Eltern eines Inter*Kindes kurz nach der Geburt konfrontiert sehen – den verstörenden medizinischen Zuschreibungen, den unsensiblen und verletzenden Reaktionen des näheren und weiteren persönlichen Umfeldes und den versteckten Schuldzuweisungen, dann wird verständlich, warum viele Eltern von Inter*Kindern – oft besonders die Mütter – nicht von Beginn an stolz auf ihr Kind sind, sondern Schuld- oder Schamgefühle entwickeln, 2 3

Persönliche Erfahrungen der Autorin. S.o.

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da ihnen vermittelt wird, ein Kind bekommen zu haben, das schwerwiegende ›Mängel‹ hat. Dazu kommt oft die Unsicherheit, ob Entscheidungen, die getroffen wurden, sich später als richtig erweisen oder ob das Kind später Vorwürfe gegen seine Eltern erheben wird, weil es mit Entscheidungen über medizinische Interventionen, aber auch über die Frage, welche Außenstehenden eingeweiht wurden, nicht einverstanden ist. Über die Frage, wie man ein Inter*Kind in einer Gesellschaft, die immer noch starre Geschlechtsstereotype aufweist, sinnvoll erziehen kann, besteht enorme Unsicherheit. Die Notwendigkeit, Eltern von Inter*Kindern ein Beratungsangebot zu machen, wird auch in den medizinischen Leitlinien ausführlich begründet. »Aufgabe der psychologischen Beratung ist es weiterhin, die Eltern in der Annahme ihres Kindes zu unterstützen. […] Gegenstand der psychologischen Beratung und Aufklärung sind des Weiteren Ängste der Eltern die weitere Entwicklung und die Zukunft ihres Kindes betreffend.« (Deutsche Gesellschaft für Urologie 2016: 16) Hier stellt sich allerdings die Frage, inwieweit das vorhandene Angebot an psychosozialer Beratung überhaupt schon auf das Thema Intergeschlechtlichkeit eingestellt ist: »Psychosoziale Beratung für Inters* steht vor der Herausforderung, einerseits geeignete Strukturen zu implementieren, die spezifisch auf die Bedürfnisse intergeschlechtlicher Menschen zugeschnitten sind, andererseits der Thematik insgesamt gerecht zu werden und diese in einen größeren Kontext einzubetten.« (Tillmanns 2015: 80f) Die Berichte von Eltern intergeschlechtlicher Kinder lassen vermuten, dass es auch hier wieder strukturelle Probleme sind, die einer optimalen Versorgung der Eltern mit psychosozialer Beratung entgegenstehen, da inter*spezifisch geschulte Berater*innen meist nur schwer im näheren Umfeld zu finden sind.4 Wenn eine alleinerziehende berufstätige Mutter regelmäßig insgesamt fünf Stunden An- und Abreisezeit zu ihrem Psychologen aufwenden muss, da es keine Therapeut*innen in ihrer Wohnumgebung gibt,5 die sich das Thema zutrauen, erhöht dies den Stress, den die Therapie eigentlich abbauen sollte.6 Hier muss dringend durch Aus- und Weiterbildungsangebote für niedergelassene Therapeut*innen und Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen Abhilfe geschaffen werden.7

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Erkenntnisse der Autorin aus der Selbsthilfearbeit. Persönliche Erfahrungen der Autorin. Persönliche Erfahrungen der Autorin. Hinweise darauf, welche Themen in einer Weiterbildung behandelt werden sollten, finden sich in »Curriculum zur qualifizierten Beratung von intergeschlechtlichen Men-

Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher

Es lässt sich feststellen, dass in unserer heutigen Gesellschaft das Verständnis von Geschlecht immer noch weitgehend von einer dichotomen Sicht geprägt ist und erst sehr langsam einer Anerkennung der natürlich angelegten Geschlechtervielfalt weicht. Daraus resultiert für Eltern intergeschlechtlicher Kinder eine Vielzahl von Belastungen und Aufgaben: Sie müssen sich diese Akzeptanz der geschlechtlichen Vielfalt innerhalb kürzester Zeit aneignen, diese neue Sichtweise innerhalb des Familien- und Freundeskreises vermitteln, oft auch verteidigen. Sie müssen Entscheidungen über Namen, Personenstand und Pronomen treffen und sich Sachwissen über Intergeschlechtlichkeit aneignen, da sie häufig auch medizinische Entscheidungen treffen sollen, die weitreichende Konsequenzen für ihr Kind haben (können). Sie müssen alle Ängste und Unsicherheiten bezüglich der Entwicklung ihres Kindes, oft ohne die Möglichkeit einer professionellen Hilfe durch Berater*innen, verarbeiten. Und vor allem müssen sie innerhalb ihrer Familie eine Idee darüber entstehen lassen, wie man ein intergeschlechtliches Kind in unserer immer noch binär denkenden Gesellschaft so erzieht, dass es sich durch seine Familie angenommen fühlt, beziehungsfähig wird und eine stabile individuelle Geschlechtsidentität entwickeln kann. In den ersten Lebensjahren des Kindes wird die Frage, wie darüber mit dem intergeschlechtlichen Kind gesprochen werden kann, nur eine untergeordnete Rolle spielen. Entscheidender wird diese Frage im Kindergartenalter, wenn Geschlecht auch unter Kindern thematisiert wird und die Erziehung in größerem Umfang fremden Personen anvertraut werden muss.

Kindergartenzeit und die ersten Schuljahre Spätestens, wenn die Betreuung des Kinds in einer Einrichtung (Kita oder Kindergarten) bevorsteht, sollten Eltern intergeschlechtlicher Kinder die Frage, wer wie viele Informationen über die geschlechtliche Einzigartigkeit ihres Kindes bekommen soll, durchdacht und gemeinschaftlich entschieden haben. »Im Moment wird [Kind] in der Kita eingewöhnt und ich habe es den Erzieherinnen noch nicht erzählt […] und wir sind uns da auch nicht so ganz einig. [Ehemann] möchte es eigentlich nicht erzählen…« (Schabram 2017: 22). Diese Entscheidungsfindung ist für viele Eltern sehr belastend, da schen und deren Familien«, das unter www.im-ev.de (zuletzt abgerufen am 11.07.2020) kostenlos heruntergeladen werden kann.

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sie die Entscheidung darüber darstellt, ob sie selbst die Kontrolle über dieses Wissen behalten wollen oder das »Risiko« eingehen, dass fremde Menschen, denen sie das als sehr intim empfundene Wissen über ihr Kind mitteilen, dieses auch an andere Personen weitergeben. Dazu kommt oft eine starke Unsicherheit bezüglich der Frage, ob ihr Kind später mit der Entscheidung der Eltern einverstanden sein wird. »So schildert ein befragter Elternteil den Zwiespalt zwischen dem eigenen Wunsch, anderen Eltern von der Intergeschlechtlichkeit des Kindes zu erzählen, und der Wahrung von Privatsphäre und Entscheidungshoheit des Kindes«. (Schabram 2017: 22) Eltern, die zu diesem Zeitpunkt bereits zu der Erkenntnis gelangt sind, dass nur ein offener und weitgehend gelassener Umgang mit dieser Thematik langfristig dem Kind helfen kann, sehen sich dennoch häufig in der Situation, dass sie die Erzieher*innen in der Kita oder dem Kindergarten über das Thema informieren müssen, die darüber nichts wissen oder bei ihrer Recherche auf überholte Darstellungen gestoßen sind. In diesem Zusammenhang werden sie vielleicht erneut mit den pathologisierenden medizinischen Begriffen konfrontiert, deren Verarbeitung sie als abgeschlossen annahmen. Eltern, die sich in einem offenen Familien- und Freundeskreis gut aufgehoben fühlen, werden diese Belastungen sicher besser meistern können also solche, die auch im Familienkreis die Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes weitgehend verschwiegen haben. Zusätzlich stellt sich Eltern nun immer stärker die Frage, wann und wie sie ihrem Kind Informationen über seine geschlechtliche Besonderheit in kindgerechter Sprache vermitteln können. Wenn es Eltern gelingt, die geschlechtliche Einzigartigkeit ihres Kindes als etwas Besonderes zu betrachten, das – wie alle anderen Besonderheiten eines Kindes, wie z.B. eine besondere Freude an Tanz und Musik – zum Wesen ihres Kindes gehört, dann muss diese Besonderheit nicht verschwiegen oder als besondere Bürde betrachtet werden, vor der man das Kind möglichst lange schützen möchte. Im Gegenteil: Die Eltern können ihrem Kind das Wissen darüber, dass es »Puzzlesteine vom Mädchen und vom Jungen hat« schon früh vermitteln, z.B. auch durch geeignete Kinderbücher, wie z.B. »Lila. Oder was ist Intersexualität?« (Schmidchen/Krawinkel 2009), »Jill ist anders« (Rosen 2016) oder »PS.Es gibt Lieblingseis« (Loda: 2018) Und wenn es ihnen gelingt, dieses Wissen als Chance für ihr Kind anzusehen, seinen Platz in unserer (noch) binären Gesellschaft mit sehr vielen geschlechtsstereotypen und damit einengenden Vorgaben selbst zu definieren, dann kann dies sogar als Vorteil empfunden werden. »Manchmal wünsche ich mir, jemand anders zu sein… Aber dann will ich doch sein, wie ich sein will…wie ich bin. Weil, von meiner Art gibt’s nicht

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so viele auf der Welt.« (Intersexuelle Menschen e.V. 2017: 30) Kinder, die ihre Intergeschlechtlichkeit als etwas, das selbstverständlich zu ihnen gehört, betrachten, werden diese Sichtweise auch in der Kita oder dem Kindergarten den anderen Kindern gegenüber vertreten. Hier ist es eine Aufgabe für die Erzieher*innen, das Kind dabei zu unterstützen. »Interessanterweise berichten die meisten Eltern, die selbst ein trans- oder intergeschlechtliches Kind haben, dass die anderen Kinder zunächst nicht ›das Problem‹ sind. Vor allem im Kindesalter akzeptieren die meisten Kinder ein Kind, das ›anders‹ ist. Somit wird auch die besondere Rolle von Erzieher*innen deutlich, da sie die Möglichkeit haben, die Kinder in einem geschützten Rahmen mit Fragen zum Thema Geschlechtlichkeit vertraut zu machen – und somit möglicherweise spätere Ausgrenzerfahrungen zu verhindern!« (Becker-Hebly 2020: 42f) »Diese Vermittlung von Vielfalt als etwas Positives, Bereicherndes kann sowohl im Familienumfeld, als auch in der Kita unterstützt werden. Zusätzlich gibt es Fortbildungsangebote und Medienlisten bzw. -koffer für Kita-Fachkräfte, die in ihrer Einrichtung »die Förderung der Kinder in ihrer Identitätsentwicklung und Selbstbestimmung, die Vermittlung von Werten und Normen und die Auseinandersetzung mit Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens« (Bildungsinitiative QUEERFORMAT 2018: 120) als zentrale Aufgabe ansehen. Wichtig ist dabei eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Eltern mit den Erzieher*innen, auf die auch Stephanie Nordt und Thomas Kugler in ihrem Artikel über frühkindliche Inklusionspädagogik hinweisen: »Für die pädagogische Praxis ergibt sich daraus eine Notwendigkeit, das Thema Intergeschlechtlichkeit im Team und mit den Kindern und Eltern sachlich korrekt zu thematisieren und dadurch zu enttabuisieren.« (Nordt/Kugler 2020: 116) Auch für den Übergang von der Kita zur Grundschule sehen sich viele Eltern von intergeschlechtlichen Kindern (wieder einmal) in der Aufgabe, den Pädagog*innen der aufnehmenden Schule einerseits Grundwissen über Intergeschlechtlichkeit zu vermitteln, andererseits wichtige individuelle Informationen über ihr Kind zu geben, die notwendig sind, um die Gefahr von Konflikten oder sogar Ausgrenzungen von vornherein zu verringern. In der Schule erweitert sich das Lebensumfeld ihres Kindes. Eltern haben viel weniger Möglichkeiten, die Toleranz und Akzeptanz der Lehrkräfte, aber auch der anderen Elternhäuser, einzuschätzen. In dieser Zeit ist es wichtig, dass die Eltern sehr sensibel auf Äußerungen oder Stimmungen ihres Kindes achten. Hilfreich sind in dieser Phase einerseits ein guter Kontakt zum*zur Klassenleh-

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rer*in oder ausgewählten Fachlehrer*innen8 ihres Kindes, andererseits auch zu Eltern von befreundeten Mitschüler*innen. Es ist ein schwieriger Balanceakt zwischen einem grundlegenden Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes, sich in einem sich erweiternden Lebensumfeld selbst zu behaupten und Konflikte selbstständig lösen zu können und dem Schutzbedürfnis, das bei Eltern von Inter*Kindern oft stark ausgeprägt ist. Das in der Schule vermittelte ›Fachwissen‹ über Geschlecht vertritt auch heute noch vorwiegend ein strikt binäres Geschlechterbild und greift auf Schulbücher zurück, in denen die körperliche Besonderheit ihres Kindes nicht vorkommt. »…[U]nd meine Tochter dann lernen musste, so sieht ein Junge aus und so sieht ein Mädchen aus, also sich wahrscheinlich immer gefragt hat, wieso komme ich da nicht vor?« (Schabram 2017: 37) Daher sehen sich Eltern – im günstigsten Falle zusammen mit ihrem Kind – oft in der Rolle von Fortbildner*innen für Lehrkräfte. Wenn dies von beiden Seiten im Sinne einer Zusammenarbeit verstanden wird, so kann diese Situation nicht nur für die Lehrkräfte und die Eltern des Inter*Kindes, sondern auch für ihr Kind und dessen Schulkamerad*innen positive Impulse geben. Es gibt Beispiele von Grundschulkindern, die in ihrer Schule Vorträge über geschlechtliche Vielfalt gehalten oder sogar einen Film über Intergeschlechtlichkeit gedreht haben.9 Wenn es gelungen ist, dem intergeschlechtlichen Kind bis zum Ende der Grundschulzeit so viel Halt und Unterstützung, aber auch Freiräume zu geben, dass es zu einem selbstbewussten Menschen mit einem stabilen Freundeskreis heranwachsen konnte, so sind gute Voraussetzungen geschaffen für die Phase, die von vielen Eltern von intergeschlechtlichen Kindern als schwierigste Phase beschrieben wird – für sie, ihre Familie und vor allem ihr Kind.10

Die Pubertät An dieser Stelle darf nicht verschwiegen werden, dass viele intergeschlechtliche Menschen bis zur Pubertät als ›Mädchen‹ oder ›Jungen‹ aufwachsen und erst im Pubertätsalter – z.B. durch eine spontane Vermännlichung eines als Mädchen sozialisierten Kindes – erkannt wird, dass sie intergeschlechtlich 8

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Das betrifft alle Fachlehrer*innen, die das Kind möglicherweise fast unbekleidet sehen und körperliche Merkmale der Intergeschlechtlichkeit wahrnehmen könnten, aber auch Fachlehrer*innen, zu denen das Kind eine vertrauensvolle Beziehung hat. Diese Beispiele sind der Autorin persönlich bekannt. Erfahrungen der Autorin aus der Selbsthilfe.

Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher

sind. Die Bedarfe von Eltern in einer solchen Situation unterscheiden sich wesentlich von denen der Eltern, die bereits kurz nach der Geburt von der Intergeschlechtlichkeit ihres Kindes erfahren haben. Die Erkenntnis, dass ihr Kind eben nicht das Mädchen oder der Junge ist, als das oder der sie es mehrere Jahre angesehen haben, ist sicherlich zunächst eine starke Verunsicherung. Gerade in dieser Situation können sich Eltern kaum Zeit geben, sich mit ihren eigenen Empfindungen auseinanderzusetzen, da sie nun besonders gefordert sind, ihr Kind in dieser (zumeist) schwierigen Situation zu unterstützen. Hier kann der Kontakt zu Gruppen der Elternselbsthilfe sehr entlastend wirken, da nicht nur die Eltern andere Familien kennenlernen, die in einer ähnlichen Situation sind oder waren, sondern auch das intergeschlechtliche Kind so die Möglichkeit hat, andere Inter*Kinder und Inter*Jugendliche kennenzulernen und sich in dieser Gruppe als »normal« zu empfinden. Wie wichtig das ist, zeigen Erfahrungen von erwachsenen Inter*Menschen, die erst spät zur Selbsthilfe fanden. »Es gab keine Vorbilder, die mir vermittelten: Ich bin normal. Wenn man keine Vorbilder hat, niemanden, an dem man sich ausrichten kann, ist man innerlich absolut zerrissen.« (Karmann 2018: 10) Oder: »Irgendwann hab ich mich mit einer Freundin in eine Trans*Inter-Gruppe getraut. In der Gruppe sind alle ziemlich jung. Das ist das, was ich mir gewünscht hätte, als ich so alt war. Ich war so alleine als Jugendliche, das war alles Wüste.« (Karmann 2018: 36) Generell gilt für Eltern intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher ab der Pubertätszeit, dass sie den Spagat zwischen dem in dieser Entwicklungsphase so wichtigen Loslassen ihres Kindes und dem Wunsch, ihr Kind vor seelischen Verletzungen zu beschützen, hinbekommen. Dieser Spagat gelingt am besten, wenn in den Jahren vor dem Einsetzen der Pubertät ein Vertrauensverhältnis zwischen den Eltern und ihrem Kind entstanden ist. Wenn ihr Kind weiß, dass es mit allen Fragen und Problemen mit seinen Eltern sprechen kann aber nicht muss, wenn es weiß, dass seine Eltern ihm zutrauen, auch schwierige Situationen allein zu meistern, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide Seiten (Eltern und Kind/Jugendliche*r) diese schwierige Zeit gut überstehen, hoch. Eltern, die wissen und akzeptieren, dass ihr Kind nun seine persönlichen Belange eher mit seiner Peer-Group als mit den Eltern bespricht, empfinden dies nicht als Zurückweisung, sondern als Zeichen für eine wachsende Selbstständigkeit ihres Kindes, für die sie in den Jahren vorher einen guten Grundstein gelegt haben. Der gemeinsame elterliche Austausch in Selbsthilfegruppen kann in dieser Phase dabei helfen, das eigene Schutzbedürfnis hintan zu stellen und die gegenseitige Rückversicherung erleichtert es, das Kind in die zunehmende Autonomie zu entlassen.

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Eltern, die sich bereits seit Jahren darüber bewusst sind, dass Inter*Jugendliche in der Pubertätszeit manchmal einen Geschlechtsrollenwechsel vollziehen oder über das Procedere eines Personenstandswechsels bereits nachgedacht haben, können mit einer solchen Thematik umgehen. Und wenn sich in dieser für alle Beteiligten schwierigen Phase herausstellen sollte, dass das Kind/die*der Jugendliche professionelle Hilfe braucht, so sollte ein wohnortnahe jugendtherapeutisches Angebot zur Verfügung stehen, das auf die besondere Situation von Inter*Jugendlichen eingestellt ist.

Fazit Die Bedarfe von Eltern intergeschlechtlicher Kinder sind immer individuell und beruhen auf der Einzigartigkeit des intergeschlechtlichen Kindes, dem individuellen Charakter seiner Eltern und der spezifischen Familienkonstellation. Verallgemeinernde Aussagen sind daher nicht möglich. Dennoch lassen sich einige Voraussetzungen dafür nennen, dass sich in näherer Zukunft die Bedarfe von Eltern von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen nur unwesentlich von denen anderer Eltern unterscheiden: Eltern, denen die geschlechtliche Einzigartigkeit ihres Kindes auf einfühlsame, wertschätzende Weise mitgeteilt wird, haben eine gute Voraussetzung dafür, ihr Kind von Anfang an so anzunehmen wie es ist. Wenn diese Bedingung erfüllt ist, brauchen Eltern Zeit, ihr eigenes Geschlechterbild zu hinterfragen und ggf. zu erweitern und müssen dafür Beratungsangebote bekommen. Sie brauchen sachliche Informationen, z.B. über das Personenstandsgesetz, aber auch über mögliche körperliche Entwicklungen ihres Kindes, um auch ihr Umfeld informieren zu können. Sie brauchen den Mut und die Zuversicht, dass es ihnen gelingen kann, ihr intergeschlechtliches Kind in eine Gesellschaft hineinwachsen zu lassen, die diese Besonderheit nicht kennt, aber zumindest in Teilen offen genug ist, um sie zu akzeptieren. Und sie brauchen die Gewissheit, dass ihr Kind alle Voraussetzungen dafür mitbringt, einen Freundeskreis und »Lebensmenschen« (vgl. Karmann 2018: 46) zu finden, wenn es gelingt, dieses Kind zu einem selbstbewussten und beziehungsfähigen Menschen zu erziehen. Dieses Ziel wird umso leichter erreichbar sein, je mehr sich die Gesellschaft der Tatsache bewusst wird, dass es eine Vielfalt von Geschlecht gibt und diese auch in Bildungseinrichtungen selbstverständlich thematisiert wird.

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Literatur Becker-Hebly, Inga (2020): Transgender und Intergeschlechtlichkeit bei KitaKindern, Berlin: Cornelsen. Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) e.V./Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) e.V./Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e.V. (2016): S2k-Leitlinie 174/001 Varianten der Geschlechtsentwicklung Version 1.0. AWMF, https://www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/174-001l_S2k_Geschlechtsentwicklung -Varianten_2016-08_01.pdf (zuletzt abgerufen am 10.10.2020). Intersexuelle Menschen e.V. (Hg) (2017): Wenn das Erscheinungsbild Ihres Kindes in kein Geschlecht zu passen scheint… Eine Broschüre für Eltern von Eltern (2. Aufl.), Hamburg. Karmann, Katrin (2018): I*D. Über die Konstruktion des Weiblichen*/Männlichen*. Fotoband zu einer Ausstellung, http://www.katrin-karmann.de (zuletzt abgerufen am 11.07.2020). Loda, Luzie (2018): PS. Es gibt Lieblingseis, Hamburg: Marta Press. Morgen, Clara (2013): Mein intersexuelles Kind. Weiblich männlich fließend, Berlin: Transit. Nordt, Stephanie/Kugler, Thomas (2020): »Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt im Kontext frühkindlicher Inklusionspädagogik«, in: Stefan Timmermanns/Maika Böhm (Hg.), Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Weinheim: Beltz Juventa, S. 110-121. Rosen, Ursula (2019): Jill ist anders. Ein Kinderbuch zur Intergeschlechtlichkeit (2. Aufl.), Lingen: Salmo. Schabram, Greta (2017): Analyse. »Kein Geschlecht bin ich ja nun auch nicht.« Sichtweisen intergeschlechtlicher Menschen und ihrer Eltern zur Neuregelung des Geschlechtseintrags, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Schmidchen, Gerda/Krawinkel, Ivonne (2009): Lila oder was ist Intersexualität? Hamburg: Intersexuelle Menschen e.V. Sozialpädagogisches Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und Bildungsinitiative QUEERFORMAT (Hg.) (2018): Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben. Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Themen frühkindlicher Inklusionspädagogik. Handreichungen für pädagogische Fachkräfte der Kindestagesbetreuung, Berlin. Tillmanns, Manuela (2015): Intergeschlechtlichkeit. Impulse für die Beratung, Gießen: Psychosozial.

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Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hg.) (2020): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis, Weinheim: Beltz Juventa.

Autor*innen

Elena Barta ist Historiker*in und zuständig für die LSBTIQ-Arbeit einer deutschen Kommune, hat einen Lehrauftrag in der Sozialen Arbeit und ist in der politischen Bildung tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Diversität (insbesondere die Verschränkung von Sexualität, Gender, Abilität, Klasse und Migration), strukturelle Veränderungsprozesse, sowie die Vermittlung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Kämpfe. Kontakt: [email protected]. Mart Enzendorfer ist Bildungswissenschaftler*in, forscht und lehrt an der Universität Wien und ist Gründungsmitglied der Plattform Intersex Österreich. Dan Christian Ghattas, Dr. phil., ist promovierter Mediävist und setzt sich seit 2009 für die Menschenrechte von intergeschlechtlichen Menschen in Europa ein. Er war einer der Initiatoren des 1. Internationalen Intersex-Forums (2011), ist Mitverfasser der Deklaration von Malta (2013) und Gründungsmitglied sowie heute Executive Director der Nichtregierungsorganisation Organisation Intersex International e.V. (OII Europe) mit Sitz in Berlin. 2012/2013 erstellte er die weltweit erste empirische (Vor-)Studie über die Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen »Menschenrechte zwischen den Geschlechtern«. 2013 war er Mitherausgeber des Buchs »Inter. Erfahrungen intergeschlechtlicher Menschen in der Welt der zwei Geschlechter«. 2016 verfasste er das ILGA-Europe/OII Europe Toolkit für Verbündete »Standing up for intersex human rights – How can you help?« und im Jahr 2019 das ILGA-Europe/OII Europe Toolkit für Gesetzgeber_innen und politische Entscheidungsträger_innen »Protecting intersex people in Europe. A toolkit for law and policy makers. With digital appendix and checklist«. Dan Christian Ghattas ist seit 2019 Mitglied des Fachbeirats Gemeinschafts-

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aufgabe Teilhabe, Geschlechterdemokratie und Antidiskriminierung der Heinrich-Böll-Stiftung. Joris Atte Gregor, Dr. phil., ist wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in am Institut für Soziologie der FSU Jena (Allgemeine und theoretische Soziologie) und promovierte 2015 mit einer Biographieforschung mit intergeschlechtlichen Menschen. U.a. Mitglied des Fachbeirates des Projektes InTraHealth (FH Dortmund), des Rates der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Soziologie und Teil des Vorstands der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung. Aktuelle Forschungsschwerpunkte neben der sozialwissenschaftlichen Intergeschlechtlichkeitsforschung und Überlegungen zu einer kritischen verkörperten Sexualsoziologie sind u.a. neomaterialistische Körpersoziologie und Identitätstheorie, Method(ologi)en interpretative Sozialforschung sowie queer_feministische Theorie und Gesellschaftstheorie. Melanie Groß, Dr. phil., ist Professorin an der Fachhochschule Kiel im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Sie ist Pädagogin und Soziologin und arbeitet schwerpunktmäßig mit queeren und intersektionalen Perspektiven im Bereich der geschlechtertheoretischen Jugend(kultur)forschung und Jugendarbeit. Ehrenamtlich ist sie tätig als Verbandsrätin des Paritätischen Wohlfahrtverbands Schleswig-Holstein, Vorstand des Landesverbands Frauenberatung Schleswig-Holstein (LFSH) und Mitgründerin und Vorstand von ZEBRA – Zentrum für Betroffene Rechter Angriffe Schleswig-Holstein. Andreas Hechler ist Bildungsreferent und Softwareentwickler in Berlin. Er ist assoziiertes Mitglied bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung und im Beirat der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM / OII Germany) wie auch des Sounding Board Inter* der FUMA Fachstelle Gender & Diversität NRW. Forschungsschwerpunkte sind u.a. Geschlechterverhältnisse und Neonazismus(prävention), Intergeschlechtlichkeit, geschlechterreflektierte Pädagogik, Männlichkeit, sexualisierte Gewalt, Digitalisierung, algorithmische Diskriminierung und der Themenkomplex NS-»Euthanasie«, Familienbiografien, Ableismus und Erinnerungspolitik. Mehr unter: https://andreashechler .com. Anike Krämer ist Sozialwissenschaftlerin und promovierte an der Ruhr-Uni Bochum zum Alltagserleben von Eltern intergeschlechtlicher Kinder. Sie ist verantwortlich für die Seite https://inter-nrw.de und ist derzeit Dozentin an

Autor*innen

einem Bildungszentrum für Erziehung und Soziales. Ihre Schwerpunkte sind neben dem Thema Intergeschlechtlichkeit, qualitative Methoden, Wissenssoziologie, Medizinsoziologie und Geschlechterforschung. Daniel Lembke-Peters leitet die Arbeit der Geschäftsstelle Echte Vielfalt, der landesweiten LSBTIQ*-Netzwerkstelle in Schleswig-Holstein in Trägerschaft von HAKI e.V. mit Sitz in Kiel. Arbeitsschwerpunkte: LSBTIQ*Netzwerkarbeit inklusive Gremien- und Lobbyarbeit, Prozessmoderation, Multiplikation und Beratung. Systemischer Berater (in Ausbildung). Abgeschlossenes Studium in Kunst(-Pädagogik), Wirtschaft/Politik sowie Pädagogik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und Muthesius Kunsthochschule Kiel. [email protected]. Andrea Nachtigall, Dr. phil., Dipl.-Päd., Professur für Theorie und Praxis Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkte Jugend- und Schulsozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Queere und intersektionale Jugendarbeit und Jugendforschung, Soziale Arbeit im Kontext Schule, Feminismen und Soziale Arbeit, Social Media und Soziale Ungleichheiten. Katrin Niedenthal arbeitet als Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht in eigener Kanzlei in Bielefeld. Sie hat das Dritte Options-Verfahren als Verfahrensbevollmächtigte von Vanja von Anfang an begleitet und gemeinsam im Team mit weiteren Jurist*innen die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde erarbeitet und vertreten. Sie ist außerdem an der im Juni 2020 erhobenen Verfassungsbeschwerde beteiligt, die sich gegen eine Entscheidung des BGH richtet, mit der einer Person, die sich weder als weiblich noch als männlich identifiziert, verweigert wurde, den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister nach den Vorschriften des Personenstandsgesetzes streichen zu lassen. Moritz Prasse ist seit 2013 Teil der »Kampagnengruppe Dritte Option« und hat als deren Pressesprecher das Verfahren um einen dritten Geschlechtseintrag begleitet. Außerdem arbeitet er als Sozialpädagoge sowohl im LSBTIJugendzentrum Track in Münster als auch in der dort angegliederten Beratungsstelle für lsbti Jugendliche, deren Angehörige und Rat suchende Institutionen.

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Anne Rimbach (Pronomen: sie) ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Pädagogik an der CAU Kiel und promoviert zum Thema »Queere Identitäten in der jugendkulturell geprägten Hardcore-Szene«. Sie ist stellvertretende Diversitätsbeauftrage der Philosophischen Fakultät. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugendarbeit, Jugendszenen, soziale Ungleichheit und Intersektionalität. Ursula Rosen war bis zum Januar 2018 als Lehrerin für die Fächer Biologie sowie Werte und Normen an einem niedersächsischen Gymnasium tätig. Sie arbeitet seit 2007 ehrenamtlich im Verein Intersexuelle Menschen e.V. und ist heute Mitglied des Vorstands, Bildungsbeauftragte und qualifizierte Peerberaterin für Eltern intergeschlechtlicher Kinder. Freiberuflich ist sie als Referentin für Vielfaltspädagogik tätig und entwickelt pädagogisches Material zu diesem Thema. Kontakt: http://www.kinderbuch-intersexualitaet.de. Katja Sabisch ist Professorin für Gender Studies an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Sie ist Sprecherin des Marie Jahoda Centers for International Gender Studies (MaJaC) und forscht zu Wissens-, Geschlechter- und Körpersoziologie. Kathrin Schrader ist Professorin für »Menschen in prekären Lebenslagen« an der Frankfurt University of Applied Sciences. Ihre Forschungs- und Interessensgebiete sind u.a. Intersektionalität, Poststrukturalismus, Gouvernementalitätsstudien, Subjektwissenschaft, Kritische Psychologie, betroffenenkontrollierte Ansätze, feministische Ökonomiekritik und geschlechtsbezogene Gewalt. Sie hat langjährige Erfahrungen in der Sozialen Arbeit im Frauenhaus, in der Psychiatrie, in der Drogenarbeit und im Handlungsfeld Prostitution. Sie ist ehrenamtlicher Vorstand von ragazza e.V., einer Einrichtung in Hamburg für drogengebrauchende Sexarbeiter_innen. Vanja ist die Person, die den Antrag auf eine Dritte Option beim Geschlechtseintrag gestellt hat und gemeinsam mit der Kampagnengruppe das Verfahren erfolgreich durch alle Instanzen geführt hat. Vanja ist das Pseudonym, das bei Veröffentlichungen und gegenüber der Presse zum Schutz der Privatsphäre benutzt wird. Ansonsten geht Vanja gerne in Parks spazieren und isst am liebsten Pizza.

Autor*innen

Heinz-Jürgen Voß, Dr. phil., Dipl. Biol., ist Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg. Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Prävention von sexualisierter Gewalt, Förderung geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung, Queer Theory und Kapitalismuskritik sowie Fragestellungen zu Intersektionalität. Zuletzt veröffentlicht: Intersektionalität: Von der Antidiskriminierung zur befreiten Gesellschaft? (2020, gem. mit Christopher Sweetapple und Salih Alexander Wolter). Kontakt: www.heinzjuergenvoss.de, E-Mail: [email protected].

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Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause

Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3

Julia Heisig, Ivana Scharf, Heide Schönfeld

Kunstlabore: Für mehr Kunst in Schulen! Ein Ratgeber zur Qualität künstlerischer Arbeit in Schulen Februar 2020, 216 S., französische Broschur, durchgängig vierfarbig 27,99 € (DE), 978-3-8376-4985-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4985-1

Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Pädagogik Robert Wunsch

Pädagogik der Bildungslandschaften Ein Arbeitsbuch Januar 2020, 210 S., kart., Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 29,99 € (DE), 978-3-8376-5119-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5119-9

Jasmin Donlic, Elisabeth Jaksche-Hoffman, Hans Karl Peterlini (Hg.)

Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven 2019, 312 S., kart., Dispersionsbindung, 11 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4312-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4312-5

Sybille Wiescholek

Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung Vermittlungschancen zwischen Handarbeit und Technisierung 2019, 258 S., kart., Dispersionsbindung, 53 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4687-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4687-4

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