Geschichte im Krimi: Beiträge aus den Kulturwissenschaften 9783412333836, 9783412202538

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Geschichte im Krimi: Beiträge aus den Kulturwissenschaften
 9783412333836, 9783412202538

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Geschichte im Krimi

Geschichte im Krimi Beiträge aus den Kulturwissenschaften

Herausgegeben von Barbara Körte und Sylvia Paletschek

© 2009

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Porträt von Gaius, einem Enkel Oktavians, Marmor, Ende 1. Jh. v. Chr./Anf. 1. Jh. n. Chr., in: Musee de Γ Arles antique, Arles 1996, S. 50.

© 2009 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20253-8

Inhalt

Barbara Körte/Sylvia Paletschek Geschichte und Kriminalgeschichte(n): Texte, Kontexte, Zugänge

7

I Kriminalliteratur, (Geschichts-)Wissenschaft und Detektion Friedrich Lenger Detektive und Historiker Detektivgeschichten und Geschichtswissenschaft

31

Frank Zöllner Dan Browns Sakrileg: Hermeneutik zwischen Aby Warburgs Ikonologie und Giovanni Morellis Stilkritik?

43

Matthias Bauer Der unheimliche Fall der Psychoanalyse. Wie Sigmund Freud im historischen Kriminalroman erst als Detektivfigur eingesetzt und dann des >Seelenmords< verdächtigt wird

59

Klaus Peter Müller Fakt und Fiktion im historischen Kriminalroman: Die Neil Bray-Romane von Gillian Linscott und die Fernsehserie Inspector Jericho

77

Silvia Mergenthal Kulturwissenschaftliche Perspektiven in der Beschäftigung mit Kriminalliteratur

95

Irmtrauti Götz von Olenhusen Mord verjährt nicht. Krimis als historische Quelle (1900-1945)

105

II Sozial- und Kulturgeschichte im historischen Krimi Stefanie Lethbridge »An alien yet eerily familiar world« Römerkrimis im angloamerikanischen Raum

131

6

Christoph

Inhalt

Bode

Krimis als Sozialgeschichte einer Metropolis: Die Los Angeles-Romane von Raymond Chandler, James Ellroy und Walter Mosley

151

Walter Göbel Die Negation historischen Fortschritts im afroamerikanischen Kriminalroman oder die Faszination des Absurden

165

III Krimi, Geschichte und (national-)politische Identitätsstiftung Elisabeth Cheaure Russland im Strudel des Verbrechens. Geschichte und nationale Identität in Krimis von B.[oris] Akunin

183

Sandra Schaar »Die Verbindung Militarismus und Kapital wird offenkundig« Zum Geschichtsrekurs in Friedrich Karl Kauls DDR-Kriminalroman Mord im Grunewald (1953)

205

Jochen Petzold Geschichte als Verbrechen: Zur Verknüpfung von history und crime in Romanen Andre Brinks

227

Eva Ulrike Pirker Keine weiße Geschichte: Mike Phillips' Thriller über ein geteiltes und vereintes Europa A Shadow of Myself

241

7 Barbara Körte und Sylvia

Paletschek

Geschichte und Kriminalgeschichte(n): Texte, Kontexte, Zugänge 1

1 G e s c h i c h t e - Kriminalität - Geschichtskrimi Historische Kriminalromane erleben seit dem späten 20. Jahrhundert eine Konjunktur, deren Abklingen bislang nicht abzusehen ist. In Großbritannien und den USA füllen historische Kriminalromane die Regale der Buchhandlungen heute zu Hunderten, was nicht verwundert, weil in diesen Ländern der Kriminalroman generell eine große Tradition hat. Aber auch außerhalb der traditionellen >Mutterländer< des Kriminalromans steigt die Zahl historischer Krimis, von denen einige zu internationalen Bestsellern wurden. Dies gilt besonders für die historischen Krimis des Russen Boris Akunin, aber mittlerweile finden auch deutsche, schwedische oder französische historische Krimis einen internationalen Markt, den Verlage offenbar als äußerst lukrativ empfinden. Die Entwicklung partizipiert also gleich an zwei aktuellen Trends: dem großen und wachsenden Interesse an Kriminalliteratur sowie dem gegenwärtig zu beobachtenden Geschichtsboom. Kriminalität und ihre gesellschaftliche Verhandlung wird auch und gerade in den Kulturwissenschaften erforscht, denn was zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur als kriminell verstanden und verfolgt wird, gibt Auskunft über die Ordnungs- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft.2 Kriminalität ge-

1

Dieser Aufsatzband ist aus einem Symposium hervorgegangen, das im Dezember 2006 in Freiburg stattfand und von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde. Siehe auch den Tagungsbericht von Johanna Kunze und Olaf Schütze U R L : http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1521&sort=datum&order=down&search=Krimi+und+Geschichte (21.02.2008). Für die Hilfe bei der Redaktion dieses Bandes danken wir Nikolaus Reusch und Kerstin Lohr.

2

Siehe hierzu unter anderem MLCHEL FOUCAULT: Überwachen

und Strafen. Die Geburt

des

Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976; JÖRG SCHÖNERT (Hg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung

von Verbrechen

und Strafverfolgung

Deutschland, England, Frankreich 1850-1880.

als Gegenstand

des

Erzählens.

Tübingen 1983; DIRK BLASIUS: Kriminalität und

Geschichtswissenschaft. Perspektiven der neueren Forschung. In Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 615-626; JÖRG SCHÖNERT (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991; PETER BECKER: Kriminelle Identitäten im 19. Jahrhundert. Neuere Entwicklungen in der historischen Kriminalitätsforschung. In Historische Anthropologie 2 (1994), S. 144-157; JOACHIM EIBACH: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kultur-

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Barbara Korte/Sylvia Paletschek

hört zu den »Obsessionen der modernen Gesellschaft«,3 und in der Alltagskultur lässt sich ein verstärktes Interesse an Kriminalität nicht nur in der Medienberichterstattung erkennen, sondern auch an den Krimi- beziehungsweise >Real Crimeeigenen< nationalen oder regionalen Geschichte, sondern auch mit der Vergangenheit anderer Nationen, Regionen und Ethnien bekannt gemacht werden.

2 Historische Kriminalromane: Definitionen und Variationen Man kann zwei Grundarten von historischen Kriminalromanen ausmachen: Bei der ersten findet die Ermittlungshandlung zwar in der Gegenwart statt, die aufzuklärenden Verbrechen haben ihre Wurzeln jedoch in der historischen Vergangenheit, so dass neben der üblichen kriminalistischen auch geschichtliche Aufklärungsarbeit erforderlich ist. Nicht selten sind bei dieser Variante die Detektive auch Angehörige historischer Berufe. 12 Sehr erfolgreich sind etwa Elizabeth Peters' Krimis um die Archäologin Amelia Peabody, die um die Wende zum 20. Jahrhundert in Ägypten gräbt und nebenbei mit Mann und Sohn Verbrechen aufdeckt. 13 In den >Stachelmann-Krimis< von Christian Ditfurth (der Autor ist selbst Historiker) ermittelt ein Geschichtswissenschaftler, der frustriert an einer unvollendeten Habilitationsschrift sitzt, aber die Verbrechen dank seiner historischen Kompetenz aufklären kann. 14 In weitaus größerer Zahl tritt die zweite Variante

11 Ken Gelder betont, dass Wissensvermittlung auch über fiktionale Literatur und hier insbesondere über Krimis stattfindet: »Crime Fiction is often informational and technical - although it is by no means the only genre of popular fiction that relies on the provision of often intensely researched details [...]. The entwining of entertainment and information is a key feature of much popular fiction. Readers can quite literally learn from it.« KEN GELDER: Popular Fiction. The Logics and Practices of a Literary Field. London 2004, S. 62. 12 Vgl. hierzu auch CLAIRE GORRARA: Tracking Down the Past. The Detective as Historian in Texts by Patrick Modiano and Didier Daeninckx. In ANNE MULLEN und EMER O'BEIRNE (Hg.): Crime Scenes. Detective Narratives in European Culture since 1945. Amsterdam 2000, S. 281-90; GLOVANNA JACKSON: The Historian as Detective. Leonardo SciasciaStachelmann-Krimis< vor, im Frühjahr 2009 soll der fünfte erscheinen. Historiker

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Geschichte und Kriminalgeschichte(n)

historischer Krimis auf, bei der Verbrechen und Ermittlungshandlung in der historischen oder zeithistorischen Vergangenheit angesiedelt sind.15 Innerhalb des Genres des historischen Krimis sind zahlreiche Unterarten zu beobachten, je nachdem, in welcher Epoche ein Roman spielt, und je nachdem, welche formalen Muster des Kriminalromans aufgegriffen werden.16 Relevanz für die Geschichtsforschung hat allerdings nicht nur der historische, sondern auch der in seiner Entstehungsgegenwart spielende Krimi, da Kriminalliteratur generell mit dem Anspruch auftritt, die Handlung und deren gesellschaftlichen Kontext möglichst realistisch und mit zahlreichen Details der Alltagswirklichkeit zu entwerfen.17 Der Anspruch auf (Sozial-)Realismus bedingt detaillierte und häufig gut recherchierte Schilderungen alltags-, sozial-, kultur- und geschlechtergeschichtlicher Sachverhalte. Kriminalromane bieten aufgrund ihres Interesses an gesellschaftlicher Ordnung stets Hinweise auf gesellschaftliche Werte und Normen zur Zeit ihrer Entstehung. So sind Detektivromane des Golden Age aus den 1920er und 1930er Jahren (Agatha Christie, Dorothy Sayers) als Indizien für die Mentalität der Zwischenkriegszeit in Großbritannien interpretiert worden;18 Politthriller können als Spiegel der Zeit- und Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts gelesen werden.19 Der Kriminalroman ist also auch als Quelle für Politik-, Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte aufschlussreich.20

als Detektive findet man allerdings keineswegs nur in historischen Krimis. So ermitteln bei Fred Vargas - einer unter Pseudonym schreibenden Autorin, die auch Archäologin und Historikerin ist - bisweilen drei junge Historiker, entweder auf eigene Faust oder als Helfer des Kriminalisten Kehlweiler. FRED VARGAS: Debout les morts. Paris 1995 [Die schöne Diva von Saint-]acques. Berlin 1999]; Un peu plus loin sur la droite. Paris 1996 [Das Orakel von Port Nicolas. Berlin 2001], 15 Vgl. auch die Definition bei JOHN SCAGGS: Crime Fiction. London 2005, S. 125: »The first, and increasingly the most common, type is crime fiction that is set entirely in some particular historical period, but which was not written during that period. [...] The second type of historical crime fiction has a contemporary detective investigating an incident in the more or less remote, rather than very recent past.« 16 Uberblicke über die verschiedenen Formen des Kriminalromans finden sich bei SCAGGS (wie Anm. 15) und MARTIN PRIESTMAN (Hg.): The Cambridge Companion to Crime Fiction. Cambridge 2003. 17 Vgl. DENNIS PORTER: The Pursuit of Crime. Art and Ideology in Detective Fiction. New Haven, 1981, S. 73: »Writers of detective novels are in the realist tradition insofar as they have always tended to anchor crime in a specific location and in certain milieus and social strata.« 18 Zum Beispiel von ERNEST MANDEL: Ein schöner Mord: Sozialgeschichte des

Kriminalromans.

Frankfurt a. M. 1987 [Delightful Murder. Α Social History of the Crime Story. London 1984] und ALISON LIGHT: Forever England. Femininity, Literature and Conservatism between the Wars. London 1991. 19 HANS-PETER SCHWARZ. Phantastische Wirklichkeit. Das 20. Jahrhundert

im Spiegel des Polit-

Thrillers. Stuttgart 2006. 20 Dies lässt sich etwa am Beispiel des schwedischen Krimibooms der letzten Jahrzehnte belegen. Der Mord an Olof Palme wird vielfach in Verbindung mit dem seit Ende der 1980er Jahre einsetzenden schwedischen Krimi- und Thrillerboom gebracht. Der Mord habe die bis dahin unter der Oberfläche bleibenden Probleme der schwedischen Gesellschaft zum Vorschein gebracht und das

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Barbara Korte/Sylvia Paletschek

Historische Kriminalromane verraten über die Mentalität ihrer Entstehungszeit ebenso viel wie Krimis, deren Handlungen in der Gegenwart angesiedelt sind; ihr Rekurs auf den zeitgenössischen Gesellschaftskontext ist jedoch in gewisser Weise doppelt gebrochen, da sie nicht nur eine fiktive Kriminalhandlung entwerfen, sondern diese zudem in eine fiktive Vergangenheit transportieren. Der besondere Reiz der historischen Krimis besteht darin, dass sie ihre Leser mit Verbrechen in Szenarien der Geschichte konfrontieren, deren Details in der Regel ebenso genau - wenn nicht noch genauer - recherchiert sind wie bei Texten, die in der Gegenwart spielen. Die Schilderung historischer Ereignisse und Personen bis zu Einzelheiten des Alltagslebens suggeriert historische >Authentizität< und >Faktentreue< und erweckt den Eindruck, dass man durch die Lektüre nicht nur spannend unterhalten, sondern auch um historisches Wissen bereichert wird. So betont beispielsweise die langjährige Krimi-Rezensentin der New York Times: »If you've ever wondered where 17th-century knights got the servants to run their castle or what elegant Victorian ladies did with last season's wardrobe, a well-turned historical mystery can supply the answers - and toss in a juicy murder or two to boot.« 2 1 Zur Erfolgsformel wurde diese Mischung aus historischem Wissen beziehungsweise historischen Trivia und Mordvergnügen allerdings erst seit den 1980er Jahren und im Kontext des generell gestiegenen Geschichtsinteresses und -bedürfnisses. Zwar hat es historische Kriminalromane auch früher schon gegeben, als erster wirklicher Publikumserfolg wird allgemein jedoch der erste Mittelalterkrimi von Ellis Peters genannt, der 1977 erschien. 22 Streng genommen kam auch dieser Erfolg zeitlich verzögert, denn Peters' Romane um den Mönchsermittler

vor allem im Ausland gehegte Bild vom schwedischen Idyll hinfällig werden lassen. Dies habe zu einem verstärkten Aufgreifen von Gewaltverhältnissen und Gegenwartsproblemen in schwedischen Kriminalromanen geführt, die in den letzten Jahren gerade auch international äußerst erfolgreich wurden. Der Palme-Mord ist auch selbst Gegenstand des zeithistorischen Krimis. Als Beispiel sei der Krimi von LEIF GUSTAV WILLY PERSSON: Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters. München 2005 genannt, der den Mord von 1986 fiktiv verarbeitet und in Schweden mit circa 400.000 verkauften Exemplaren ein großer Erfolg wurde. 21 Marilyn Stasio in ihrer »Crime Column«, New York Times vom 18.09.1988, zitiert nach dem online-Archiv der Zeitung U R L : http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=940DE6DCl 53DF93BA2575AC0A96E948260& sec=&spon=&pagewanted=2 (21.11.2007). 22 Mike Ashley listet im Anhang seines ersten Mammoth Book of Historical "Whodunnits. London 1993 noch eine vergleichsweise überschaubare Zahl relevanter Autorinnen und Autoren auf (S. 514-522). Ein Nachfolgeband, The Mammoth Book of Historical Whodunnits. Brand New Collection. London 2001, stellt dagegen im Vorwort fest: »In the last ten to fifteen years the field of the historical mystery has grown from a small seed to a flourishing forest. It's wonderful to see a new genre establish itself like this in such a relatively short time.« Ashleys Anthologien sind zum Teil auch in deutscher Ubersetzung erschienen: MIKE ASHLEY (Hg.): Von Rittern, Hexen und anderem Gelichter. Bergisch-Gladbach 1996; ders. (Hg.): Räuber, Schurken, Lumpenpack. BergischGladbach 1998.

Geschichte und Kriminalgeschichte(n)

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C a d f a e l 2 3 w u r d e n e r s t z u r M o d e , n a c h d e m U m b e r t o E c o m i t s e i n e m Namen

der

Rose ( 1 9 8 0 ) e i n i n t e r n a t i o n a l e r - u n d m i t d e m P r e s t i g e e i n e s l i t e r a r i s c h a n s p r u c h s v o l l e m W e r k s ausgestatteter - Bestseller g e l u n g e n war.24 D a n a c h v e r k a u f t e n sich a u c h d i e n e u a u f g e l e g t e n Cadfael-Krimis

sehr gut u n d erreichten ein breites Publi-

k u m , w o b e i d e r E r f o l g i n G r o ß b r i t a n n i e n d u r c h d i e A d a p t i o n als F e r n s e h s e r i e ( B B C 1 9 9 2 - 9 6 ) u n d die touristische Vermarktung der Abtei v o n Shrewsbury bez i e h u n g s w e i s e eines T h e m e n p a r k s n o c h verstärkt wurde: T h e best-selling status of the n e w edition created attention for sites featured in the b o o k s . Edith Pargiter, the real name of Ellis Peters, allowed appeals for the support of Shrewsbury A b b e y ' s restoration f u n d to be appended to the back of the b o o k s . T h e tourist board seized the opportunity to market Shropshire, a venture taken over and accelerated b y television money, w h i c h has produced the Shrewsbury Q u e s t , a theme park complete w i t h Brother Cadfael's herbarium and Ellis Peters' study. 2 5

D i e L i s t e d e r G e s c h i c h t s k r i m i s ist l a n g u n d w i r d i m m e r länger, w o b e i d a s G e n r e international v o n britischen u n d amerikanischen A u t o r e n u n d A u t o r i n n e n d o m i n i e r t w i r d . Sie d e c k e n f a s t alle E p o c h e n ab, v o m A l t e n Ä g y p t e n ü b e r d i e g r i e c h i s c h e u n d r ö m i s c h e A n t i k e , d a s M i t t e l a l t e r u n d d i e F r ü h m o d e r n e b i s i n d a s 19. u n d 20. Jahrhundert. O f t sind D e b ü t r o m a n e v o n A u t o r e n so erfolgreich, dass sich g a n z e Serien m i t ihren j e w e i l i g e n F a n g e m e i n d e n aus i h n e n e n t w i c k e l n . E i n i g e Epochen scheinen Autoren und Leser jedoch besonders anzuziehen. Ein besond e r s b e l i e b t e s S z e n a r i o ist d i e r ö m i s c h e A n t i k e ( v o r a l l e m d i e Z e i t d e r s p ä t e n R e publik u n d der frühen Kaiserzeit),26 unter anderem in Serien v o n J o h n M a d d o x

23 Vgl. die Aufsatzsammlung von ANNE K. KALER (Hg.): Cordially Yours, Brother Cadfael. Bowling Green 1998. 24 Die Aufmerksamkeit, die Ecos Romane in der Literaturwissenschaft gefunden haben, dürfte auch mit dem wissenschaftlichen Status des Autors als Semiotiker zusammenhängen. Vgl. u. a. FRANKRUTGER HAUSMANN: Umberto Ecos II nome della rosa - Ein mittelalterlicher Kriminalroman? In MAX KERNER (Hg.): >... eine finstere und fast unglaubliche Geschichtet Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman Der Name der Rose. Darmstadt 1988, S. 21-52; HORST HEINTZE: Der Name eines Bestsellers. Zur Literaturgeschichtlichkeit und aktualisierenden Bedeutung in Umberto Ecos mittelalterlichem Kriminalroman. In Weimarer Beiträge 33 (1987), S. 256-76; ULRICH SCHULZ-BUSCHHAUS: Sam Spade im Reich des Okkulten. Umberto Ecos Ilpendolo diFoucault und der Kriminalroman. In DIETER BORCHMEYER (Hg.): Poetik und Geschichte. Tübingen 1989, S. 486-504. 25

V g l . MICHAEL HAYES: P o p u l a r F i c t i o n . I n CLIVE BLOOM u n d GARY DAY ( H g . ) : Literature

and

Culture in Modern Britain, Bd. 3: 1956-1999. London 2000, S. 76-93, hier S. 85. 26 Vgl. hierzu den Sammelband KAI BRODERSEN (Hg.): Crimina: Die Antike im modernen Kriminalroman, Frankfurt a. Μ 2004. Er enthält neben Beiträgen zur Frage, ob und warum Historiker sich überhaupt mit (Antiken-)Krimis befassen sollten, vor allem Äußerungen von Autoren und Verlagslektoren, Ausführungen zu Gattungen und Traditionen des Antikenkrimis sowie zur Antikenrezeption in Literatur, Comic und Fantasy. Einen Überblick über die Vielzahl der Antikenkrimis bietet in diesem Band JÖRG FONDLING: Perlen vor die Säue oder Einäugige unter Blinden? Was (Alt-)Historiker an historischen Krimis reizt, S. 49-108. Vgl. auch die Dissertation über römische

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Roberts, Lindsey Davies und Steven Saylor oder auch in den Krimi-Serien der deutschen, unter dem Pseudonym Malachy Hyde schreibenden Autorinnen Karola Hagemann und Ilka Stitz.27 Nicht unerwartet fanden die Mittelalter-Erfolge von Eco und Ellis Peters viele Nachahmer, besonders im englischsprachigen Raum (mit Paul C. Doherty, Peter Tremayne, Margaret Frazer oder einer Autorengruppe, die sich als >The Medieval Murderers< bezeichnet).28 Auch in Deutschland erfreut sich der Mittelalter-Krimi, häufig eingebettet in einen regionalhistorischen Kontext, steigender Beliebtheit; national bekannt geworden sind davon etwa Frank Schätzings in Köln spielender Krimi Tod und Teufel oder Derek Meisters Rungholts Ehre, eine im mittelalterlichen Lübeck angesiedelte Mordgeschichte.29 Verglichen mit der Antike und dem Mittelalter scheint die Frühe Neuzeit in Deutschland im historischen Krimi etwas schwächer vertreten zu sein; die Epoche wird aber in anderen Genres des historischen Romans behandelt, und die Hexenverfolgung oder die Geschichte >starker< Frauen sind bevorzugte Themen. Einige der in der Reihe Hansekrimis veröffentlichten Kriminalromane spielen aber auch im 16. und 17. Jahrhundert.30 Für das 18. Jahrhundert sind die in Hamburg angesiedelten historischen Krimis von Petra Oelkers erfolgreich.31 Im angelsächsischen Raum liegt, gemäß der allgemeinen Popularität des 16. Jahrhunderts in der britischen Kultur, eine beachtliche Zahl von Krimis vor, etwa von Josephine Tey, Edward Marston oder Patricia Finney. Zu den klaren Favoriten gehören im anglo-

Krimis von MARKUS SCHRÖDER: Marlowe in Toga ? Krimis über das alte Rom. Der historische Kriminalroman als neues Genre der Trivialliteratur am Beispiel der >SPQRMord im Mittelalterviktorianischen Krimis< war in den 1970er Jahren Peter Lovesey.32 Anne Perry ist weltweit für ihre im 19. Jahrhundert spielenden Krimis bekannt und liefert in kurzen Abständen Nachschub für gleich zwei Reihen um ko-ermittelnde Ehepaare.33 Ahnlich ermittelt ein sich findendes Liebes- beziehungsweise späteres Ehepaar im Frankfurt des späten 19. Jahrhunderts in den Romanen der Kriminalkommissarin und Autorin Nicola Hahn. 34 In den im 19. Jahrhundert situierten Hamburg-Krimis von Boris Meyn werden zentrale Stationen der Stadt- und Urbanisierungsgeschichte beleuchtet.35 In jüngerer Zeit erscheinen im angloamerikanischen Raum vermehrt Krimis auch über die Nazizeit, darunter viele Berlin-Krimis, die der neuen Beliebtheit der deutschen Hauptstadt im Ausland Rechnung tragen.36 Auch in deutschen Krimis werden zunehmend die Zeit der Weimarer Republik und der Nationalsozialismus thematisiert, etwa von Robert Hühner oder Christian von Ditfurth.37 Die Attraktivität zeitgeschichtlicher Settings zeigt sich am Überraschungserfolg des an einen Kriminalfall angelehnten Romans Tannöd von Andrea Maria Schenkel, der die Enge ländlicher Lebensverhältnisse in den 1950er Jahren einfängt.38 Übertragungen des historischen Krimis in Fernsehformate sind in jüngerer Zeit ebenfalls häufiger zu beobachten. Schon in den 1980er Jahren wurden in

32 EBERHARD SPÄTH: Peter Loveseys historische Kriminalromane. Mit Überlegungen zum Verhältnis von Unterhaltungsliteratur und Postmoderne. Anglistik 17 (2006), 165-183. 33 Die Inspector Pitt-Reihe erscheint seit 1979 und hat derzeit 25 Bände; die William Monk-Reihe erscheint seit 1993 und hat inzwischen 15 Bände. Weitere Autoren, die sich auf das viktorianische und edwardianische England beziehen, sind Edward Marston und Frank Tallis. 34 NICOLA HAHN: Die Detektivin. München 1998; Die Farbe von Kristall. München 2002. 35 Siehe zum Beispiel BORIS MEYN: Der blaue Tod. Reinbek 2006; Der eiserne Wal. Reinbek 2002; Der Tote im Fleet. Reinbek 2000 oder Die rote Stadt. Reinbek 2003. 36 Beispiele sind David Downings Zoo Station. New York 2007 und Philip Kerrs Berlin Mw'r-Trilogie. London 1989-1991. 37 Siehe die Inspektor Kajetan-Reihe von ROBERT HÜHNER: Walching. München 1997; Inspektor Kajetan und die Sache Koslowski. München 1998; Die Godin. München 1999; Inspektor Kajetan und die Betrüger. München 2006 sowie Ende der Ermittlungen. München 2007. Von CHRISTIAN VON DLTFURTH liegt die Josef Maria Stachelmann-Serie (vgl. Anm. 14) vor, in der häufig Verbrechen gelöst werden, die in der NS-Vergangenheit wurzeln; er hat auch Thriller verfasst, die der kontrafaktischen Geschichte zuzurechnen sind: Der 21. Juli. München 2003; Das LuxemburgKomplott. München 2005; Der Consul. München 2006. 38 ANDREA MARIA SCHENKEL: Tannöd. Hamburg 2006. Auf die Kontroverse um das Buch und den erhobenen Vorwurf des Plagiats kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.

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Großbritannien erfolgreiche historische Kriminalromane adaptiert, wie etwa Ellis Peters' Cadfael-Reihe, doch zeichnete sich gerade in den letzten Jahren ein gehäuftes Auftreten historischer Fernsehkrimis ab: Die Serie Foyles War (ITV 2002) spielt in den 1940er Jahren; Inspector Jericho (ITV 2005) greift die Nachkriegszeit auf. Beides sind qualitativ aufwändig - und damit teuer - produzierte Serien, die großen Wert auf authentisches Detail legen und eine hohe Resonanz beim Publikum hatten. Spielerischer, aber ebenfalls voll das Zeitkolorit auskostend, ist der Zugang von Life on Mars (BBC 2006-2007), einer auch im deutschen Fernsehen (Kabel 1 2007) ausgestrahlten Krimiserie, in der ein Polizeiermittler des 21. Jahrhunderts als Zeitreisender in die 1970er Jahre zurückversetzt wird. Cold Case, eine erfolgreiche US-Serie (CBS seit 2003, die Serie läuft auch im deutschen Fernsehen), nimmt fiktive, lange Zeit ungeklärte Fälle zum Anlass, die Zuschauer mit Flashbacks in frühere Jahrzehnte zurückzuversetzen und die Milieukontraste zur Gegenwart auszuspielen.

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G e n r e m e r k m a l e d e s historischen Kriminalromans

Historische Kriminalromane können Wissen vermitteln, vor allem sollen sie aber, wie alle populäre Literatur, ihre Leser unterhalten, denn sie müssen auf dem populärkulturellen Markt reüssieren. 39 Historische Krimis bieten Geschichte deshalb in spannender Form an, machen im besten Fall Geschichte >lebendig< und bringen sie dadurch ihren Lesern nahe. 40 Die dargestellten Epochen mögen weit von der Lebenswelt der Leser entfernt oder auch kulturell fremd sein, über alltagsweltliche Details werden aber trotzdem Anknüpfungspunkte für die Leser geschaffen und die Vergangenheit wird so zugänglich gemacht. 41 Uber fiktionale Figuren können die Leser die vergangene Welt >erfahren< und so eine simulierte >Insiderperspektive< auf die Geschichte einnehmen.

39 Zu Merkmalen populärer Literatur siehe insbesondere GELDER (wie Anm. 11), der neben dem U n terhaltungskriterium und genereller Lesernähe auch die Markt- und Genrebezogenheit populärer Literatur betont. 40 Vgl. hier auch den Historiker Robin W. Winks in seinem Vorwort zu RAY BROWNE und LAWRENCE A. KREISER (Hg.): The Detective as Historian. History and Art in Historical Crime Fiction. Bowling Green 2000, S. X: »Historians moved too far away from their origins, as storytellers; now storytellers may bring historians back to those roots, to the benefit of both ways of exploring the past.« 41 Siehe hierzu auch ASHLEY im Vorwort seines Mammoth Book 2001, S. 2 (wie Anm. 22): »In that first volume Ellis Peters said that the secret of the successful historical detective story was the ability to include a human and likeable detective in a background that is as real to today's readers as it was to those w h o lived in those times.«

Geschichte und Kriminalgeschichte(n)

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Da der Kriminalromanper definitionem mit Verbrechen und deren Aufklärung zu tun hat, trifft er in der Erschaffung seiner geschichtlichen Welt eine bestimmte Auswahl von Ereignissen und Figuren, die sich nach den Regeln der Krimikunst gut präsentieren lassen müssen: Meist erzählt ein historischer Krimi nicht - oder nur am Rande - die großen historischen Geschehnisse mit ihren überlieferten Protagonisten, sondern er bietet eine Geschichte aus der Sicht von Außenseitern oder Geschichte >von unteneinfachen< Männer und Frauen. Der historische Krimi hat zudem eine Tendenz, besonders turbulente Episoden der Geschichte zu akzentuieren (wie etwa die Spätzeit der römischen Republik). Geschichtskrimis können im Vergleich zur akademischen Geschichtsschreibung auch eine alternative Version der Geschichte bieten, tabuisierte oder verdrängte Aspekte womöglich früher aufgreifen als die öffentliche Diskussion und die offiziellen Institutionen der Geschichtskultur. Kriminalromane flankieren - wie auch historische Romane - diese Aufarbeitung der Vergangenheit und machen sie breiten Bevölkerungsschichten zugänglich.42 Als typische Genreliteratur tragen Kriminalromane an die Historie in stärkerem Maß als der >normale< historische Roman ihre eigenen gattungsspezifischen Gesetzmäßigkeiten heran. Wie sie Geschichte erzählen, ist durch Konventionen bis zu einem gewissen Grad vorprogrammiert. Es gibt zwar, wie bereits angesprochen, verschiedene Spielarten des Kriminalromans, aber sie alle befolgen bestimmte Strukturmuster, und die Leser tragen diesen entsprechende Erwartungen an die Texte heran.43 So sind viele historische Kriminalromane nach den Konven-

42

Als Beispiele können hier die Pepe Carvalho-Krimis des spanischen Autors Manuel Vasquez Montalbän angeführt werden. Uber die Verbrechen oder den Werdegang der Protagonisten scheinen zentrale Facetten der jüngeren spanischen Geschichte auf, vor allem die Auswirkungen des Franquismus, aber auch die Transformation der spanischen Linken seit 1975, d. h. seit dem Ende der Diktatur Francos. Immer wieder werden, häufig im Hintergrund des Plots, die unzureichende Vergangenheitsbewältigung und deren Auswirkungen auf die spanische Gesellschaft thematisiert. Die Pepe Carvalho-Reihe gehört zur meistgelesenen Kriminalliteratur Spaniens; sie wurde weltweit millionenfach verkauft und in über 20 Sprachen übersetzt. Siehe zum Beispiel MANUEL VASQUEZ MONTALBAN: Carvalho und die tätowierte Leiche. Reinbek 1985 [Tatuaje. Barcelona 1974]; Die Einsamkeit des Managers. Reinbek 1984 [La soledad del manager. Barcelona 1977); Carvalho und der Mord im Zentralkomitee.

Reinbek 1985 [Asesinato en el Comite Central. Barcelona 1981]. In

Spanien ging die Zeit der so genannten transition, d. h. der Ubergangsphase von der Franco-Diktatur zu einer parlamentarischen Demokratie, mit einem pacto del olvido (Schweigepakt) einher. Bürgerkrieg und Nachkriegszeit, aber auch die Verbrechen der Franco-Diktatur waren tabuisiert. Im letzten Jahrzehnt setzte hier allmählich eine Aufarbeitung ein. Vgl. dazu SÖREN BRINKMANN: Die Wiedergewinnung der »historischen Erinnerung« zwischen staatlicher Nichterfüllung und politischer Instrumentalisierung. Ende des Schweigens - Ende der Versöhnung? In WERNER ALTMANN und URSULA VENCES (Hg.): Por Espana y el mundo hispdnico. Festschrift für Walther L. Bernecker. Berlin 2007, S. 175-192. 43 Vgl. GELDER (wie Anm. 11): »It is impossible both to write and to read genre fiction without a sense of that genre's history, without a knowledge of the work of generic predecessors.« (S. 55)

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tionen und mit den Stilmitteln des Golden Age mystery oder der bard-boiled school ä la Raymond Chandler verfasst, und das Erzählen der jeweiligen historischen Sachverhalte muss sich in diese Konventionen einpassen beziehungsweise wird passend gemacht. Ein klassisches clue puzzle nach dem Muster des Golden AgeKrimis etwa verlangt am Schluss eine zumindest oberflächlich perfekte Lösung, einen >dichten< Abschluss, und überführt das durch Verbrechen verursachte Chaos nach der Aufklärung durch den Detektiv wieder in geordnete Gesellschaftsverhältnisse. 44 Ein solches Ende läuft der Prozesshaftigkeit und Komplexität historischer Ereignisse letztlich zuwider, und die conclusio der Erzählung generiert bei Lesern die vergewissernde Vorstellung, dass die Geschichte sich noch (sicher und endgültig) ordnen lässt. Allerdings sind die Unterschiede zu Verfahren der Geschichtswissenschaft nicht so fundamental, wie zunächst angenommen werden könnte, denn auch diese konstruiert über ihre Narrative, Epocheneingrenzungen oder die Festlegung von Sachgebieten Ordnungs- und Deutungssysteme. Ein >Arrangieren< der Geschichte im Erzählen ist also nicht krimi- oder auch nur literaturspezifisch. Sie ist ein grundlegendes Verfahren der modernen Geschichtsschreibung seit dem späten 18. Jahrhundert, für die beispielsweise Hayden White in Metahistory eine Poetik der Geschichtsschreibung ausgearbeitet hat. White zeigt, wie über verschiedene Darstellungsstrategien, d.h. eine narrative Strukturierung und die Verwendung von rhetorischen Figuren (Tropen), der Anschein von Erklärung erzeugt wird. 45 Krimis, die den konventionellen Plotstrukturen des Genres folgen, können sowohl stabilisierende wie destabilisierende Narrative erzeugen. So geht das Schema der hard-boiled school- im Unterschied zur klassischen Tradition des Golden Age-Krimi - von grundsätzlichen und nicht wirklich lösbaren Störungen im gesellschaftlichen Ordnungssystem aus. Es hat entsprechend desillusionierte und zynische Erzählerfiguren, die sich beim Transfer in den historischen Kriminalroman - wie etwa den Rom-Krimis von Maddox Roberts - dazu eignen, ein negatives Geschichtsbild korrupter Gesellschaften zu vermitteln. Der nach diesem Schema gestrickte Krimi bietet also Möglichkeiten, gerade das >Unordentliche< in der Geschichte und Gesellschaftskritik zu betonen.

44

45

G I L L P L A I N : Twentieth-Century Crime Fiction. Gender, Sexuality and the Body. Edinburgh 2001 führt zum Krimi des Golden Age aus: »Crime fiction in general, and detective fiction in particular, is about confronting and taming the monstrous. It is a literature of containment, a narrative that makes safe.« (S. 3) H A Y D E N W H I T E : Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt 1991 [Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Bal-

t i m o r e 1978]; ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion

des historischen timore 1978],

des Faktischen.

Studien

zur

Tropologie

Diskurses. Stuttgart 1991 [Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Bal-

Geschichte und Kriminalgeschichte(n)

19

Die Genrekonventionen des Kriminalromans bedingen nicht selten die Anachronismen, die Historiker gerne an historischen Krimis kritisieren. 46 Anachronismen treten umso häufiger auf, je weiter die geschilderte Epoche gegenüber der Entstehungszeit eines Krimis zurückliegt. Der Kriminalroman und speziell der Detektivroman hat sich im gesellschaftsgeschichtlichen Kontext des 19. Jahrhunderts entwickelt und geht Hand in Hand mit modernen Entwicklungen der Kriminalistik und der Strafverfolgung. 47 Diese Vorstellungen von Kriminalität, Strafen und Verfolgung sind wiederum eingebunden in längerfristige gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie das Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft und die zunehmende Individualisierung, die Urbanisierung und Industrialisierung, die Entwicklung einer großstädtischen Massengesellschaft, die Medien- beziehungsweise Kommunikationsrevolutionen sowie die Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Weltsicht. 48 Bei historischen Kriminalromanen, die in Zeiträumen ab dem 19. Jahrhundert angesiedelt sind, erscheinen die Konventionen des klassischen Detektiv- und anderer Formen des Kriminalromans >passendforensische< Blick des heilkundigen Mönches Cadfael historisch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht korrekt ist. Häufig werden zudem moderne Mentalitäten auf vor- und frühmoderne Figuren projiziert, wie etwa im Fall von Lindsay Davies' römischem Ermittler Falco, der in mancher Hinsicht einem Roman Raymond Chandlers entsprungen zu sein scheint. Auch heute politisch korrekte Vorstellungen in Bezug auf Geschlecht, Klasse oder Ethnie sind in Krimis über frühere Epochen Anachronismen und können ein verzerrtes Geschichtsbild erzeugen, etwa im Fall der >emanzipierten< Patrizierinnen vieler Rom-Krimis oder der sehr selbständigen Frauen vieler Mittelalter-Krimis. Man muss solche Anachronismen nicht per se negativ werten, auch wenn nicht übersehen werden sollte, dass so ein problematisches Geschichtsbild entstehen kann. Anachronismen gehören aber zweifellos zu den Strategien, durch die Lesern Zugänge zur Geschichte erleichtert werden, und sie können auch Teil des metahistorischen und intertextuellen Spiels sein, das in vielen historischen Kriminalromanen gespielt wird. Wie die hier skizzierten Punkte zeigen, treten in historischen Kriminalromanen als Genreliteratur Probleme, die sich bei jeder fiktionalen und nichtfiktionalen

46 Vgl. mehrere Beiträge in BRODERSENs Crimina (wie Anm. 26). 47 Vgl. u. a. JÖRG SCHÖNERT: Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850-1880. Tübingen 1983; HEATHER WORTHINGTON: The Rise of the Detective in Early Nineteenth Century Popular Fiction. Basingstoke 2005. 48 Vgl. die Titel in Anm. 2.

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Geschichtsdarstellung stellen, in extremer F o r m auf. Darstellung von Geschichte bedeutet stets Auswahl, Reduktion und Perspektivierung von einem bestimmten Standpunkt und von der Gegenwart aus, was wiederum bis zur Verfälschung gehen kann. Dies gilt, mehr oder weniger ausgeprägt, für jeden historischen Kriminalroman. Geschichtskrimis können aber darüber hinaus - und dies erklärt sich über die Entstehungsgeschichte und die Konventionen des Genres sowie die häufig behauptete Parallelität von historischem und detektivischem Ermitteln - erkenntnistheoretische Probleme von Geschichtsschreibung thematisieren.

4 Erkenntnistheoretische Implikationen des historischen Kriminalromans Auf Affinitäten zwischen der Arbeit von Historikern und Detektiven wurde seit dem frühen 20. Jahrhundert hingewiesen. 49 Beide Praxen haben Elemente des >Rückwärtsdenkens< und der Detektion gemeinsam und wollen anhand von Fakten, Spuren und Indizien zu einer >wahren< Aussage über die Vergangenheit kommen. Das Verfahren des Rückwärtsdenkens kann auch als >Abduktion< bezeichnet werden. 50 D e r Kriminalroman entstand, als das Lesen von >Spuren< im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht nur in der Kriminalistik, sondern allgemein zu einem zentralen Erkenntnisverfahren in den Natur- und den Geisteswissenschaften wurde. 51 In den Kriminalroman ist das Lesen von Spuren der Vergangenheit als erkenntnisgenerierendes Modell strukturell eingeschrieben. Die Fiktionalität des Krimis streicht die Kreativität und >Poetik< der historischen und kriminalistischen Detektion dabei noch zusätzlich heraus und regt die Leser an, aufgrund der ihnen benannten Indizien selbst zu Spurenlesern zu werden. Der historische Krimi zeigt über die Tätigkeit seiner Ermittler, dass Arbeit an der Geschichte immer auch imaginativ ist: »The interpretative aspect of history, therefore, emphasises the

49 Vgl. u. a. ROBIN GEORGE COLLINGWOOD (Hg.): The Idea of History. New York 1956; ROBIN W. WINKS (Hg.): The Historian as Detective. Essays on Evidence. New York 1969; VOLKER NEUHAUS: Die Archäologie des Mordes. In CHARLOTTE TRÜMPLER: Agatha Christie und der Orient. Krimi-

nalistik und Archäologie. 50

Essen 1999, S. 425^34.

Morelli, Freud and Sherlock Holmes: Clues and Scientific Method. In History Workshop Journal IX, 1 9 8 0 [Indizien. Morelli, Freud und Sherlock Holmes. In JOCHEN VOGT: Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. München 1 9 9 8 , S. 2 7 4 - 2 9 6 ] . Siehe auch THOMAS A. SEBEOK und JEAN UMIKER-SEBEOK; >Sie kennen ja meine Methoden Ein Vergleich von Charles S. Peirce und Sherlock Holmes. In UMBERTO E c o und THOMAS A. SEBEOK (Hg.) Der Zirkel oder im Teichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce. München 1 9 8 5 , S. 2 8 - 8 7 . CARLO GINZBURG:

51 Vgl. hierzu u. a. M I C H A E L B ä H R : The Anatomy of Mystery. Wissenschaftliche und literarische Spurensicherungen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2006, der den Kriminalroman des 19. Jahrhunderts mit einem detektivischen Blick< in den Natur- und Humanwissenschaften in Bezug setzt.

Geschichte und Kriminalgeschichte(n)

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question of how we know history, and in relation to the historical crime novel, this is a significant point.«52 Der Kriminalroman eignet sich daher gut zur Thematisierung epistemologischer und ontologischer Fragen. Nicht zufällig bedient sich postmoderne Literatur, die solche Sachverhalte bevorzugt aufgreift, gerne der narrativen Schemata des Kriminalromans.53 Für den Literaturwissenschaftler Brian McHale ist der klassische Detektivroman das epistemologische Genre par excellence, weil es Versuche des Verstehens darstellt. Seine konventionellen Erzählmuster eignen sich gleichzeitig in hervorragender Weise für ein spielerisches Hinterfragen der Möglichkeit des Verstehens und eine Problematisierung aller Positionen, die glauben, zwischen Fakt und Fiktion, Realität und Imagination unterscheiden zu können.54 Die Rekonstruktionsarbeit des Detektivs wird so zum Paradigma für das Konstruktivistische jeder Weltaneignung, und, im Fall der Geschichte, das Konstruktivistische in jedem Akt der Geschichtsaneignung und -darstellung. In der Regel sind historische Krimis als Unterhaltungsliteratur nicht dezidiert postmodernistisch, sondern vermitteln die angedeutete erkenntnistheoretische Position implizit. Es gibt aber auch Beispiele mit einem ausgeprägteren metahistorischen und intertextuellen Gestus. Dies zeigt sich besonders bei einem Untertyp des historischen Kriminalromans, der reale Figuren der (Kultur-)Geschichte nicht nur als Staffage, sondern zentral als Ermittlerfiguren in der fiktiven Handlung einsetzt: etwa Jane Austen, Oscar Wilde oder Sigmund Freud.55 Historische Realität und Fiktion werden hier bereits auf der Figurenebene vermischt, und noch komplexer wird der Sachverhalt, wenn die Krimis auf Ermittlerfiguren zurückgreifen, die eigentlich fiktiv sind, aber im populären Imaginären ein solches Eigenleben führen, dass man sie als quasi >real< auffasst.56 Ein bekanntes Beispiel hierfür sind Nicholas Meyers Sherlock Holmes-Pastiches, in denen Sherlock Holmes und Watson mit realen Ko-Ermittlern wie Sigmund Freud und George Bernard Shaw

52 53

SCAGGS (wie Anm. 15), S. 124. Siehe etwa A. S. BYATT: Possession. London 1990 und besonders komplex JULIAN BARNES: Arthur and George. London 2005, in dem der Schöpfer von Sherlock Holmes, Sir Arthur Conan Doyle, als Protagonist und Ermittler in einem realen Kriminalfall dargestellt wird. Vgl. auch ULRICH SCHULZ-BUSCHHAUS: Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur. In ULRICH SCHULZ-BUSCHHAUS und KARLHEINZ STIERLE (Hg.): Projekte des Romans nach der Moderne. München 1997, S. 3 3 1 - 3 6 8 .

54 55

BRIAN MCHALE: Constructing Postmodernism. London 2002, S. 147. U m nur einige wenige Beispiele zu nennen: STEPHANIE BARRONS Romanreihe mit Jane Austen als Detektivin (seit 1996), GYLES BRANDRETH: Oscar Wilde and the Candlelight Murders. London 2007; JED RUBENFELD: The Interpretation of Murder. London 2006 (mit Sigmund Freud und C. G. Jung als Protagonisten).

56 Vgl. hier auch SCAGGS (wie Anm. 15): »Brian McHale discusses such interpenetrations of fictional worlds as >the violation [...] of an ontological boundary hartgesottenen< Schule, die die 1950er und 1960er Jahre darstellen. Er zeigt, wie die Konventionen des Genres von afroamerikanischen Autoren wie Chester Himes, James Sallis und Walter Mosley genutzt werden, um die Geschichtserfahrung einer historisch unterdrückten Ethnie zu artikulieren. Detaillierte, naturalistische Schilderungen der sozialen Wirklichkeit stehen im Mittelpunkt, und ein pessimistisches, den Fortschritt negierendes Geschichtsbild, das sich vom linear-progressiven Geschichtsbild des klassischen Detektivromans abhebt, wird entwickelt. Der Geschichtsverlauf erscheint zirkulär, der Rassismus als ahistorische Konstante. Die Aufsätze des dritten Teils verhandeln über historische Kriminalerzählungen nationale und politische Identität. Uber einige der Beiträge - so zu Südafrika, Russland oder der DDR - wird das Wechselverhältnis zwischen dem Genre Kriminalroman und den jeweiligen politischen Systemen sichtbar. Wie sich schon am restriktiven Umgang und der Zensur des Kriminalromans in der Zeit des Nationalsozialismus zeigte, haben Diktaturen und autoritäre Systeme Probleme mit dem subversiven, die bestehende Ordnung in Frage stellenden Potential von Kriminalliteratur. So ist die massenweise Produktion und Lektüre von Krimis in Russland ein relativ neues Phänomen. Elisabeth Cheaure untersucht in ihrem Beitrag Boris Akunin, Russlands meistgelesenen Autor, dessen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erschienene historische Krimis auch in viele Sprachen übersetzt sind. Akunin behandelt in seinen Kriminalromanen zentrale Epochen der russischen Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, insbesondere aber das 19. Jahrhundert. Er reproduziert beziehungsweise variiert dabei spielerisch, auch über zahlreiche intertextuelle Verweise, die seit circa zwei Jahrhunderten einflussreichen Diskurse um die Stellung Russlands zwischen Ost und West und um >russische< Identität. Auch in der DDR war das Krimigenre zunächst als westlich-dekadente Unterhaltung ideologisch suspekt und konnte sich, obwohl bei den Lesern sehr beliebt, nur verzögert entwickeln. Trotzdem finden sich auch hier einige historische Kri-

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Barbara Korte/Sylvia Paletschek

mis, die einen Blick auf die (nichtsozialistische) Vergangenheit werfen. Sandra Schaur betrachtet einen erfolgreichen historischen Krimi des prominenten Juristen und Autors Friedrich Karl Kaul aus den 1950er Jahren, der die Weimarer Republik und den historischen Mord an Walter Rathenau thematisiert. Hier wird einerseits das offizielle DDR-Geschichtsbild ideologisch bedient, andererseits lässt sich der Krimi auch als Dokument seiner spezifischen Entstehungszeit und der DDR-untypischen Biographie seines Autors lesen. Jochen Petzold zeigt für Südafrika, dass es Geschichtskrimis im eingangs beschriebenen Verständnis hier (noch) nicht gibt - trotz eines neuen Systems, das sich in Wahrheitsfindungskommissionen mit seinem früheren Unrechtsregime aktiv auseinandersetzt. In Südafrika konnte sich der Kriminalroman aufgrund der Zensur des Apartheidregimes nicht im gleichen Maß wie in anderen Kontexten entfalten. Trotzdem nutzen auch südafrikanische Autoren wie Andre Brink Narrative der Verbrechensaufdeckung, um historisches Unrecht und seine Folgen in der Gegenwart zu dekuvrieren. Das multiethnische Großbritannien beziehungsweise ein globales Europa stehen im Mittelpunkt des abschließenden Beitrags von Ulrike Pirker, der einen Politthriller des britischen Autors Mike Phillips behandelt. Der Roman thematisiert das geteilte und vereinte Europa aus der historischen Sicht seiner außereuropäischen, schwarzen Einwanderer in Ost und West in den Jahren zwischen 1945 und 1999. Die Handlung spielt in London, Manchester, Moskau, Prag, Hamburg und Berlin und zeigt aus einer transnationalen Perspektive die multiethnische Vernetzung Europas. Er erinnert an die schwarzen Europäer und kann als Beitrag zu einer gegenwärtigen >Neuerfindung< Europas verstanden werden. Angesichts der Fülle historischer Kriminalromane, ihrer verschiedenen Formen, kulturellen Einbettungen und möglichen gesellschaftlichen Funktionalisierungen kann dieser Band nur eine erste Schneise in das Forschungsfeld schlagen. Es zeichnen sich jedoch Bereiche ab, in denen die Forschung zum historischen Kriminalroman beziehungsweise zum Verhältnis von Krimi und Geschichte lohnend vertieft werden kann: So können (historische) Krimis als Quelle für gesellschaftliche Bedürfnissen und Problemlagen sowie für herrschende Geschichtsbilder zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gelesen werden. Die Chancen und Beschränkungen des Genres für die historische Wissensvermittlung, d. h. sein didaktisches Potential, Geschichtsarbeit als Faszinosum und Abenteuer zu vermitteln und so ggf. auch Interesse an Geschichte überhaupt zu wecken, sollten weiter ausgelotet werden. 60 Gleiches gilt für die Möglichkeit, über historische

60

S o werden mittlerweile Antikenkrimis in der Schule im Latein- und Geschichtsunterricht eingesetzt. Siehe auch MYLE DZIAK-MAHLER: Eintauchen ins alte R o m . , S P Q R < - ein Krimi als A u s gangspunkt historischer Untersuchung. In Geschichte

lernen

12, 71 (1999), S. 62-65. K r i m i s

Geschichte und Kriminalgeschichte(n)

27

Krimis die >ErkennbarkeitWahrhaftigkeit< beziehungsweise Konstruiertheit von Geschichte zu thematisieren. Der historische Krimi erweist sich bei näherer Betrachtung nicht nur als ein spannender, sondern auch wissenschaftlich ertragreicher Gegenstand.

werden auch im englischen Geschichts- beziehungsweise Landeskundeunterricht eingesetzt, siehe KATHARINA RENNHAK und ALEXANDRA WEINFURTER: >(Post)colonialism< und >new historicism< mit Sherlock Holmes. Literatur und Geschichte im Leistungskurs Englisch. In Fremdsprachenunterricht 4 (2003), S. 276-281. Die populäre historische Zeitschrift DAMALS nahm in ihrem Heft 09/2002 die Sherlock Holmes-Krimis beziehungsweise historische Kriminalfälle aus dem 19. Jahrhundert zum Ausgangspunkt, um in mehreren Beiträgen die Geschichte des Verbrechens und die Entwicklung der Kriminalistik im viktorianischen England zu thematisieren.

31 Friedrich Lenger

Detektive und Historiker - Detektivgeschichten und Geschichtswissenschaft1 Detektivgeschichten - und damit nur ein Sonderfall der in diesem Band untersuchten Kriminalromane - sollen in der folgenden knappen Skizze aus der Sicht des Historikers, insbesondere des Stadt- und Medienhistorikers, betrachtet werden. Dabei ist die partielle Nähe zwischen Detektiven und Historikern nicht erst von Carlo Ginzburg thematisiert worden. Dennoch fällt sein mehrfach abgedruckter Aufsatz »Morelli, Freud and Sherlock Holmes: Clues and Scientific Method« in mancherlei Hinsicht aus dem Rahmen. Anna Davin, Mitherausgeberin des History Workshop Journals und Übersetzerin von Ginzburgs Beitrag für diese Zeitschrift, hielt es denn auch für angebracht, diesem eine Warnung voranzustellen: This article by an Italian comrade and historian is very different f r o m anything we have included in H i s t o r y Workshop Journal before. It unselfconsciously draws on philosophy, quotes Latin, and ranges across societies and periods in a w a y which is extraordinary - even shocking - to the English reader. 2

Der in der Warnung aufscheinende Spannungsbogen zwischen britischem Positivismus und romanischer Spekulationsfreude kann hier nicht weiter verfolgt werden. Denn wenngleich alle im Titel von Ginzburgs Aufsatz genannten Personen und Themen später noch ihren Auftritt haben werden, wird zunächst ein ganz konventioneller, also historischer Einstieg gewählt. Obwohl es durchaus alternative Vorschläge gibt, gilt »The Murders in the Rue Morgue« von Edgar Allan Poe weithin als erste Detektivgeschichte überhaupt. Die im April 1841 in Graham's Magazine erschienene Geschichte spielt in Paris, einer Stadt, die Poe nie besucht hat, die er aber gleichwohl gut kannte.3 Das ist unter anderem daran zu erkennen, dass er mit dem Straßennamen im Titel auf die

1

2 3

Ursprünglicher Anlass für die Entstehung dieses Textes war eine Feier anlässlich des 60. Geburtstages von Dieter Langewiesche im Januar 2003; für die in diesem Band dokumentierte Freiburger Tagung ist versucht worden, die Spuren dieses unmittelbaren Anlasses zu verwischen, doch steht zu befürchten, dass kundige Detektive und findige Historiker sie dennoch werden finden können. History Workshop Journal IX (1980), S. 5-36. Vgl. K A R L H E I N Z STTIERLE: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt. München 1993, S . 617-621; sehr populär gehalten ist der Überblick von J Ö R G V O N U T H M A N N : Killer Krimis - Kommissare. Kleine Kulturgeschichte des Mordes. München 2006.

32

Friedrich Lenger

morgue anspielte, das örtliche Leichenschauhaus, das, wie Vanessa Schwartz gezeigt hat, keineswegs nur von denen besucht wurde, die Leichen zu identifizieren trachteten, sondern vielmehr die Unterhaltungsfunktionen eines großstädtischen Gruselkabinetts mitzuerfüllen hatte.4 Die morgue wie der Detektivroman selbst verweisen also bereits auf den großstädtischen Kontext des Themas.

I Tatorte des Geschehens sind demzufolge Paris und London als Orte des teilweise fiktiven Geschehens sowie Philadelphia als Entstehungsort sämtlicher im Folgenden herangezogener Erzählungen Edgar Allan Poes. Die Transnationalität der Detektivgeschichte ist dabei ebenso von Beginn ein Kennzeichen der Detektivgeschichte wie ihre Bindung an die Großstadt. Diese Bindung ist eine dreifache und lässt sich mit den Stichworten Großstadtwahrnehmung, säkularisierte Weltdeutung und mediale Vermittlung umreißen. Will man die enge Verbindung zwischen dem Genre der Detektivgeschichte und zentralen Topoi der Großstadtwahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert näher betrachten, empfiehlt sich der Blick auf eine Erzählung Poes, die wenige Monate vor der bereits angesprochenen ersten Detektivgeschichte 1840 erstmals in Burton's Gentleman's Magazine erschien. In The Man of the Crowd sitzt der Erzähler zunächst in einem Londoner Kaffeehaus und liest die Zeitung. Mit dem Hereinbrechen der Dunkelheit wird seine Aufmerksamkeit immer stärker nach draußen gelenkt, wo ihm die wechselnde Schar der Passanten zum Gegenstand sozialer Typenbildung gerät. Nach längerer Krankheit erst wieder auf dem Wege der Genesung und offensichtlich im Fieber bleibt der Ich-Erzähler aber nicht hierbei stehen: The wild effects of the light enchained me to an examination of individual faces; and although the rapidity with which the world of light flitted before the window prevented from casting more than a glance upon each visage, still it seemed that, in my peculiar mental state, I could frequently read, even in that brief interval of a glance, the history of long years.

Im Folgenden nimmt ihn ein einzelnes Gesicht eines alten Mannes derartig gefangen, dass er ihm bis zum nächsten Morgen auf seinen Wegen durch das nächtliche London folgt, nur um resigniert festzustellen: »>This old man,< I said at length, >is the type and the genius of deep crime. He refuses to be alone. He is the

4

Vgl. VANESSA R. SCHWARTZ: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siecle Berkeley 1998.

Paris.

Detektive und Historiker

33

man of the crowd. It will be in vain to follow; for I shall learn no more of him, nor of his deedsentschärfte< Version der Felsgrottenmadonna malte, auf der es ein wenig konventioneller zuging. Diese zweite Version hing heute in der Londoner Nationalgalerie. (S. 155 f.)

Diese Beschreibung verdeutlicht, dass man bei entsprechendem Vorsatz beliebige Dinge in ein Gemälde hineinphantasieren kann. Die Figur ganz rechts tranchiere also einen imaginierten Kopf von seinem Hals, Johannes und Jesus seien vertauscht. Doch künstlerische Freiheiten dieser Art wären zu jener Zeit gar nicht denkbar, geschweige denn umzusetzen gewesen. Die innovative Bildgestalt der Felsgrottenmadonna erklärt sich vielmehr aus innovativen Elementen, die Brown für Häresien hält. Worum geht es in den Bildern? Eine erste Fassung, heute in Paris aufbewahrt, entstand in den Jahren 1483 bis 1484 für die Kapelle der franziskanischen Bruderschaft der Unbefleckten Empfängnis in der Kirche San Francesco Grande zu

Frank Zöllner

4 Leonardo da Vinci, Die Fehgrottenmadonna (Maria mit dem Christuskind, dem Johannesknaben und einem Engel), um 1495-1499 und 1506-1508, Öl auf Pappelholz, 189,5 χ 120 cm, London, National Gallery.

Mailand. 5 Aufgrund von Streitereien um die fällige Bezahlung kam es zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, wobei Leonardo und Ambrogio de Predis, ein ihm assoziierter Künstler, mit der Veräußerung des Bildes an einen solventen Käufer drohten. Dieser Verkauf dürfte bis etwa 1495 erfolgt sein. Danach schuf Leonardo zusammen mit Ambrogio de Predis eine zweite, heute in London befindliche Fassung, die deutlich konventioneller ausgefallen ist als die erste (Abb. 4).6 Leonardo ergänzte nämlich die in der Pariser Fassung fehlenden Heiligenscheine. Zudem machte er den Johannesknaben, links, durch die Beigabe eines Kreuzstabes, seines traditionellen Attributs, kenntlich. D. h. in der zweiten Fassung fand eine Angleichung an die Bildkonvention statt, die nach wie vor eindeutige Attribute bevorzugte. Hinter dieser Anpassung an die traditionelle Bildsprache mag in der Tat der Wunsch der konservativ denkenden Bruderschaft nach einem weniger unkonventionellen Bild gestanden haben. 5 6

Vgl. FRANK ZÖLLNER: Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen. Revidierte Neuauflage. Köln 2007, S. 64-79 und Kat. XI. ZÖLLNER (wie Anm. 5), Kat. XVI.

49

Dan Browns Sakrileg

5 Piero della Francesca,

Madonna della

Misericordia,

um 1460 (?), Tempera auf Holz, 134 χ 91 cm, Sansepolcro, Museo Civico.

Was nun aber ist das Besondere an der Pariser Fassung des Bildes, das Dan Brown dazu veranlasst, dessen innovative Gestaltung zu einem Skandal aufzublasen? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt ein genauer Blick auf das Gesamtarrangement des Gemäldes und dessen Verhältnis zur Bildtradition. Die in der Mitte des Gemäldes, vor einer sich öffnenden Felsspalten platzierte Jungfrau Maria legt in der Art einer Schutzmantelmadonna ihren rechten Arm um den betenden Johannesknaben, der von dem gegenüber sitzenden Jesusknaben den Segen empfängt. Ganz rechts ist der Erzengel Uriel, traditionell der Begleiter von Johannes dem Täufer dargestellt. Der Sinn dieses figürlichen Ensembles ist auch der Leonardoforschung verborgen geblieben, er erschließt sich aber unschwer aus der Auftraggeberschaft des Gemäldes, das von einer franziskanischen Laienbruderschaft in Mailand bestellt wurde. In der franziskanischen Frömmigkeit galt Johannes als Vorläufer und Vorbild des Ordensgründers, des heiligen Franziskus. Im Gemälde fungiert daher der Johannesknabe als Identifikationsfigur der franziskanischen Auftraggeber. Dieser Identifikationsfunktion entspricht unmittelbar die Anordnung des Bildpersonals: In der Gestalt des Johannes empfängt die Bruderschaft den Segen Christi, und in dieser Gestalt findet sie sich unter dem

50

Frank Zöllner

schützenden Arm Mariens wieder. Gleichzeitig betet der Johannesknabe das Christuskind an, was unmittelbar die Verehrung widerspiegelt, die die stiftende Bruderschaft auch dem Erlöser Jesus Christus entgegenbringt. Der Zeigegestus des Erzengels Uriel, rechts im Bild auf der Pariser Fassung, verweist zudem auf den betenden Johannesknaben und damit auf die Bruderschaft, womit der Betrachter in das Gesamtarrangement hineingezogen und gleichzeitig an die Identifikationsfunktion des Johannes erinnert wird. Wir haben es bei Leonardos Bilderfindung also mit der subtilen Abwandlung des traditionellen Typs der Schutzmantelmadonna zu tun, bei der die Jungfrau Maria ihr Gewand ausbreitet, um so die Stifter, beispielsweise eine ganze Fraternität, unter ihren Schutz zu nehmen. Das berühmteste Beispiel für diesen Typus ist die 1445 begonnene Madonna della Misericordia Piero della Francescas in Sansepolcro (Abb. 5). Hier hat sich ein Teil der stiftenden Ordensbrüder unter dem schützenden Mantel der Madonna versammelt. Hingegen platziert Leonardo in seiner Felsgrottenmadonna nur noch Johannes als Identifikationsfigur der Bruderschaft unter einen Zipfel des Mantels und vermeidet so den etwas unrealistisch wirkenden älteren Darstellungsmodus. Er trug damit einem neuen Wirklichkeitsverständnis Rechnung, das die Malerei in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend veränderte. Figuren in Gemälden sind also nicht frei verfügbare Symbole, ihr Sinn erschließt sich vielmehr aus Funktionen, die wiederum aus Bildtradition, Bildkonvention, Werkgenese und Auftraggeberschaft zu rekonstruieren sind. Sonst sieht man eben immer nur das, was man sehen will. Dieser Triumph des Imaginierten über das Sichtbare zeigt sich auch in Dan Browns Deutung des Abendmahls (Abb. 6), eine der Schlüsselszenen des Romans. Die Protagonisten schauen sich Leonardos Gemälde in einem großformatigen Kunstband an und gelangen hierbei zu atemberaubenden Schlussfolgerungen: Vor Sophie lag das berühmteste Fresko aller Zeiten, Das letzte Abendmahl, Leonardos weltbekanntes Wandgemälde im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand. Auf dem stark beschädigten und verfallenen Fresko ist jener Augenblick festgehalten, als Jesus beim letzten Abendmahl seinen zwölf Jüngern verkündet, dass einer aus ihrer Mitte ihn verraten wird. [...] >Sie werden sich noch wundern, welche Abweichungen da Vinci sich hier geleistet hat, ohne dass die Mehrzahl der Gelehrten es zur Kenntnis genommen hat oder zur Kenntnis nehmen wollte. Dieses Fresko ist der Schlüssel zum Gralsgeheimnis. In seinem Letzten Abendmahl hat da Vinci es unverhüllt dargestellt.« (S. 254)

Weiter unten heisst es zu diesem Gralsgeheimnis im Abendmahl·. >Es handelt sich hier um eine historisch verbürgte Tatsache«, sagte Teabing [ein weiterer Symbolforscher], >die Leonardo da Vinci mit Sicherheit bekannt war. Dass Jesus und Maria Magdalena ein Paar waren, schleudert da Vinci dem Betrachter in seinem Abendmahl geradezu ins Gesicht.«

Dan Browns Sakrileg

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β Leonardo da Vinci, Das Abendmahl, um 1495-1497, Tempera auf Putz, 460 χ 880 cm, Mailand, Santa Maria delle Grazie, Nordwand des Refektoriums.

Wieder betrachtete Sophie das Fresko. >Fällt Ihnen auf, dass Jesus und Maria Magdalena komplementär gekleidet sind?< Teabing deutete auf die beiden Gestalten in der Mitte des Freskos. Jesus trug ein rotes Untergewand und einen blauen Mantel, Maria Magdalena ein blaues Untergewand und einen roten U m h a n g . Yin und Yang. Sophie war fasziniert. [ . . . ] Teabing brauchte die Linie gar nicht nachzuzeichnen. Sophie sah auch so die eindeutige V - F o r m im Brennpunkt des Gemäldes. Es war die gleiche Symbolfigur, die Langdon zuvor für den Gral, den Kelch und den weiblichen Schoß aufgezeichnet hatte. [ . . . ] Sophie sah es sofort - >ins Auge springen< wäre sogar noch eine Untertreibung gewesen. Sie sah plötzlich nur noch den Buchstaben, sonst nichts mehr. I m Z e n t r u m des Bildes prangte unübersehbar ein perfekt geformtes großes M. (S. 2 6 4 )

Wenig später entdecken die Protagonisten des Romans eine weitere bedeutsame Geste: »Wieder einmal war Sophie sprachlos. Der Apostel Petrus beugte sich zu Maria Magdalena vor und vollführte mit der Hand eine drohende Geste, als wolle er ihr die Kehle durchschneiden. Die gleiche Drohgebärde, wie Uriel sie auf Leonardos Felsgrottenmadonna zeigt« (S. 269). Fassen wir zusammen: Der sich links im Bild von Christus abwendende Johannes ist also gar nicht Johannes, sondern Maria Magdalena, und der leere Raum zwischen ihr und Christus bilde den Buchstaben »V«, andere Figuren den Buchstaben »M«. Petrus beugt sich drohend zu Maria Magdalena alias Johannes. Ausgangspunkt für Dan Browns abenteuerliche Exegesen sind die Lücken im Gemälde. Auch hier liegt eine innovative Bildgestaltung vor. Sie besteht, verkürzt gesagt, darin, dass der emotionale Ausdruck der Jünger Jesu gesteigert wird und dass diese Jünger in ihrer Aufgewühltheit in Gruppen angeordnet sind und nicht wie in älteren Beispielen eher unbewegt nebeneinander sitzen. Die Steigerung des

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Frank Zöllner

Ausdrucks durch die Ballung der Jünger zu Gruppen, die im Übrigen mit den Einteilungen der Lünetten oberhalb des Gemäldes korrespondiert, führt also zu jenen Freiräumen im Gemälde, die Brown als Buchstaben deutet. Vielleicht noch am ehesten nachvollziehbar ist das vermeintliche »V« zwischen Jesus und Johannes, das wir als Zeichen des von Leonardo verehrten Weiblichen verstehen sollen. Natürlich existieren keine Belege für die Untermauerung dieses hermeneutischen Geniestreichs, weder dafür, dass die nach unten sich verjüngende Lücke zwischen zwei Figuren mehr ist als nur die Lücke zwischen zwei Figuren, noch dafür, dass ein V wirklich Weiblichkeit symbolisiere (folgte man im Übrigen dieser Identifizierung der Lücke mit dem weiblichen Schoß, dann wäre das dahinter sichtbare schlanke Wandsegment als Phallus zu deuten!). Der Exeget hat allerdings richtig erkannt, dass die Lücken des Gemäldes außergewöhnlich sind. Und diese außergewöhnliche Bildgestaltung erklärt sich aus dem außerordentlich gut dokumentierten Bemühen des Künstlers, seine Figuren in einem Zustand emotionaler Ergriffenheit darzustellen.7 Bleibt der vermeintlich weibliche Johannes, den Brown als Darstellung der Maria Magdalena sieht. Zunächst einmal abstrahiert der Autor auch hier von den historischen Gegebenheiten: Die Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war als Auftragskunst in ihrer Gestalt und ihrem Gehalt zum allergrößten Teil durch Konventionen, Traditionen und die Wünsche der Auftraggeber bestimmt. Gelegentlich mögliche künstlerische Freiräume hätten in keinem Fall ausgereicht, in einem traditionellen Bildschema wie dem des Abendmahls unter den Jüngern Jesu eine Maria Magdalena unterzubringen. Doch auch mit seiner Behauptung, die Figur zur Rechten des Erlösers sei eigentlich Maria Magdalena, verweist Brown indirekt auf das erklärungsbedürftige Phänomen eines auf den Betrachter des 20. Jahrhunderts feminin wirkenden Johannes. Eine Erklärung ergibt sich erneut aus der Bildtradition, denn tatsächlich wurde Johannes in fast allen Fällen als ein besonders junger und bartloser, femininer Typ dargestellt. Das gilt mehr noch für den Johannes im Abendmahl Leonardos und findet im Falle dieses Künstlers eine Begründung in seiner Präferenz für bestimmte Typen. Hierzu gehört in erster Linie der engelsgleiche Jüngling, der in den Werken Leonardos häufig auftaucht. Diese Präferenz wiederum mag man als Ausdruck seiner Homosexualität sehen oder einfach nur als eine formale künstlerische Vorliebe, die keinerlei tiefere Bedeutung besitzt. Ich komme nun zu meinem letzten Beispiel. Kein Leonardo ohne Mona Lisa (Abb. 7)1 Auch dieses Gemälde des Künstlers birgt bei Dan Brown eine geheime Botschaft. Die entsprechende Argumentation im Roman lautet folgendermaßen:

7

ZÖLLNER (wie Anm. 5), S. 122-139 und Kat. XVII.

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7 Leonardo da Vinci,

Porträt der Lisa del Giocondo (Mona Lisa), 1503-1506 und später (1510?), Ol auf Pappelholz, 77 χ 53 cm, Paris, Louvre.

Wie Langdon wusste, hatte der Rang der Mona Lisa als das bedeutendste Kunstwerk auf Erden nichts mit ihrem rätselhaften Lächeln zu tun und schon gar nichts mit den zahllosen Bezügen, die viele Kunsthistoriker und Verschwörungstheoretiker in das Gemälde hineininterpretiert hatten. Die Mona Lisa war einfach deshalb berühmt, weil Leonardo da Vinci stets behauptet hatte, sie sei sein bestes Werk. Er hatte das Gemälde auf allen seinen Reisen mit sich geführt. Nach dem G r u n d befragt, pflegte er zu antworten, er brächte es nicht fertig, sich von seiner gelungensten Darstellung weiblicher Schönheit zu trennen. Dessen ungeachtet argwöhnten viele Kunsthistoriker, dass Leonardos Wertschätzung der Mona Lisa nichts mit ihrer künstlerischen Meisterschaft zu tun hatte. Genau genommen war das Gemälde ein überraschend schlichtes Porträt in Sfumato-Technik. Viele meinten, da Vincis Vorliebe f ü r dieses Werk erkläre sich aus einer weitaus tieferen Dimension, nämlich einer geheimen Botschaft, die vom Maler in die Farbschichten hineingearbeitet worden sei. (S. 134) N a t ü r l i c h h a b e n sich e n t g e g e n d e r B e h a u p t u n g in d i e s e m Z i t a t k e i n e Ä u ß e r u n g e n L e o n a r d o s z u d i e s e m Bild e r h a l t e n ; a u t h e n t i s c h e B e m e r k u n g e n v o n K ü n s t l e r n z u i h r e n f e r t i g gestellten W e r k e n a u s dieser Z e i t s i n d o h n e h i n selten, bei L e o n a r d o f e h l e n sie g a n z . U b e r die » g e h e i m e B o t s c h a f t « d e r Mona f i g u r L a n g d o n d a n n w e i t e r aus:

Lisa f ü h r t die R o m a n -

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Frank Zöllner

D a Vinci hat sich hier einen kleinen Scherz für Kenner erlaubt. D a s Männliche und das Weibliche haben traditionsgemäß bestimmte Seiten - links für weiblich und rechts für männlich. Als großer Verehrer des Weiblichen hat L e o n a r d o die Mona Lisa so gemalt, dass sie von links majestätischer erscheint als von rechts. (S. 136)

Zunächst einmal war Leonardo kein großer Verehrer des Weiblichen, sondern eher ein kleiner Misogyn. Und ob Mona Lisa von der einen Seite majestätischer aussieht als von der anderen, vermag ich nicht zu erkennen. Gleichwohl lohnt die Frage nach dem Rechts und Links im Bild, denn sie gibt Aufschluss über eine geschlechtsspezifische Hierarchisierung von Bildräumen und Bildgestalten. Die linke und rechte Seite im Bild waren damals noch durch eine klare Hierarchisierung bestimmt: Die vom Bild aus gesehene rechte Seite - d. h. vom Betrachter aus gesehen die linke - galt heraldisch als die hierarchisch höher stehende. Diese Rangordnung lässt sich bedingt auch auf die Mona Lisa anwenden, denn ihre linke und damit die heraldisch tiefer stehende Seite ist dem Betrachter zugekehrt, was noch den Porträtkonventionen des 15. Jahrhunderts entspricht und an die dem Mann gegenüber untergeordnete Rolle der Frau erinnert, wie sie in der Zeit um 1500 als selbstverständlich definiert war. Daher weisen die meisten Frauenbildnisse des 15. Jahrhunderts ihre linke Seite dem Betrachter zu und die Männerporträts ihre rechte. Hierfür ließen sich Dutzende von Belegen des 15. Jahrhunderts nennen. Für Ausnahmen von dieser Regel der Positionierung von Mann und Frau gibt es in der italienischen Kunst des 15. Jahrhunderts in den meisten Fällen konkrete Ursachen. So erklären sich beispielsweise die Abweichungen von der geschlechtspezifischen Hierarchisierung in Leonardos Bildnissen der Ginevra de* Benci und der Cecilia Gallerani aus dem besonderen Status der beiden dargestellten Frauen. 8 Eruieren wir nun die Facetten des epistemologischen Modells, mit dem Dan Brown operiert und das in gewissem Maße auch Grundlage unseres Denkens und Handelns ist. Ich möchte dies an zwei Beispielen verdeutlichen, der Ikonologie einerseits und der Stilkritik andererseits. Gemäß dem Modell der Ikonologie erkennen und deuten wir Zeichen oder Dinge, die wir für Zeichen halten. So ist Browns Interpretation der Proportionsfigur Vitruvs bzw. der sie umgebenden geometrischen Figuren von Kreis und Quadrat recht genau das, was die berühmteste unter den klassischen kunstgeschichtlichen Methoden, die Ikonologie, macht, wenn sie Kunstwerke ausgehend von ihren Symbolen deutet.9 Dem entsprechend gibt 8

9

FRANK ZÖLLNER: Leonardo da Vinci's Portraits. Ginevra de' Benci, Cecilia Gallerani, La Belle Ferroniere, and Mona Lisa. In SEBASTIAN DUDZIK (Hg.): Rafael i Jego Spadkobiercy. Portret Klasyczny w Sztuce Nowozytnej Europy (= Sztuka i kultura IV). Torün 2003, S. 157-183. Die Debatte um die Ikonologie hat sich mittlerweile weitgehend verselbständig. Ich verweise nur auf die klassischen Texte: ABY WARBURG: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoia zu Ferrara. In ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Kg. v. DIETER WUTTKE. Baden-Baden 1980, S. 173-198 (als Vortrag gehalten 1912, zuerst publiziert 1922); ERWIN PANOFSKY: Sinn und Deutung

in der bildenden

Kunst.

K ö l n 1 9 7 5 , S. 3 6 - 6 7 ( z u e r s t e n g l i s c h

Dan Browns Sakrileg

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es beispielsweise für Leonardos Proportionsfigur eine lange Reihe ikonologischer Deutungen, die diese Figur in der Tradition Aby Warburgs als Symbol missverstehen.10 Als Symbole sieht Brown auch die vermeintlichen Buchstaben »V« und »M« in Leonardos Abendmahl. Zudem versteht er diese Buchstaben als versteckte Zeichen, die erst er und vor ihm keiner entdeckt, geschweige denn gedeutet hatte. Auch das ist eine Parallele zur klassischen Ikonologie, die vorzugsweise bisher unentdeckte und noch nicht interpretierte Symbole zur Inhaltsdeutung heranzieht. Was Brown in seinem Text macht, möchte ich ausgehend von dem etwas altmodischen und umstrittenen Begriff >Gestalt< erläutern: Brown glaubt solche Gestalten, also etwa das »V« im Abendmahl, zu erkennen, um ihnen dann eine besondere Bedeutung zu unterstellen. Ebenso wie beispielsweise Sigmund Freud sieht er eine durch Umrisse oder Farben definierte Form als signifikante Gestalt an, als ein Zeichen, das eine Bedeutung hat und daher einer Deutung harrt. So imaginierte Oskar Pfister in der Nachfolge Sigmund Freuds in dem blauen Obergewand der Anna Selbdritt Leonardos die Kontur eines Raubvogels, aus dessen Gestalt er seine Interpretation der Psyche und der Werke Leonardos ableitete (Abb. 8):11 Dergleichen Vorgehen ist natürlich nicht empirisch nachweisbar, aber noch heute aktuell.12 Gleichwohl, das epistemologische Modell und seine Wurzeln sind eine Betrachtung wert, wie ich abschließend erörtern möchte. Die Strategie, aus Indizien auf einen Vorgang, aus Wirkungen auf eine Ursache, aus dem Einzelnen auf das Ganze zu schließen, berührt methodengeschichtlich nicht nur die Ikonologie, sondern auch ihre feindliche Schwester, die Stilkritik, ja sie bildet sogar ihre Basis. Das mag auf den ersten Blick überraschen, denn die Stilkritik, mit deren Hilfe wir Epochen· und Personalstile erkennen, mit der wir Zuschreibungen und Datierungen vornehmen, ist im Gegensatz zur Ikonologie eine der symbolischen Bedeutung gegenüber indifferente Vorgehensweise. Allerdings gehen ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln auf dieselbe Nutzung der Gestalt zurück. Das ist bekanntlich seit

1939); ders.: Studien zur Ikonologie der Renaissance. Köln 1997, S. 30-61 (zuerst englisch 1962, teilweise schon deutsch 1932 und 1932). Vgl. auch das Nachwort von Andreas Beyer mit weiteren Literaturangaben, ebd., S. 333-336. EKKEHARD KAEMMERLING: Ikonographie und Ikonologie. Theorien - Entwicklung - Probleme (Bildende Kunst als Zeichensystem I). Köln 1979. 10

ZÖLLNER ( w i e A n m . 3), S. 8 - 2 2 .

11 SIGMUND FREUD: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Frankfurt 1975, S. 87-159 (zuerst erschienen im Jahre 1910 im Heft 7 der Schriften zur angewandten Seelenkunde), S. 84-85. Die beste fachliche Einschätzung der Leonardodeutung Freuds ist immer noch die von MEYER SCHAPIRO: Leonardo and Freud. An Art-Historical Study. In Journal of the History of Ideas 17 (1956), S. 147-178; siehe auch die folgende Anmerkung. 12 Vgl. hierzu KLAUS HERDING: Freuds Leonardo. Eine Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Theorien der Gegenwart. München 1998.

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8 Leonardo da Vinci, Anna Selbdritt (Anna und Maria mit Christus), ca. 1502-1513 (?), Öl auf Pappelholz, 168,5 χ 130 cm, Paris, Louvre, mit der Umzeichnung von Oskar Pfisters imaginiertem Geier im Gewand der Anna (Zeichnung Martin Weicker, Leipzig).

den stilkritischen Studien Giovanni Morellis der Fall. Morelli hatte erkannt, dass die Künstler in den kleinen und scheinbar weniger wichtigen Details ihrer Werke den bewussten Gestaltungswillen vernachlässigten und unbewusst Dinge wie Lippen, Nasen, Fingernägel und Ohren immer gleich oder doch sehr ähnlich malten.13 Ausgerüstet mit dieser Hypothese gelang Morelli gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe spektakulärer Neuzuschreibungen, von denen einige bis heute Bestand haben. Tatsächlich funktioniert das >Morellisieren< besonders für die italienische Kunst des 15. Jahrhunderts recht gut. Wie Carlo Ginzburg gezeigt hat, weist das Vorgehen Morellis schlagende Ähnlichkeiten mit den Methoden der Kriminologie auf, genauer gesagt, mit der zeitgleich bei Arthur Conan Doyle beschriebenen Vorgehensweise von Sherlock Holmes. 14

13 GIOVANNI MORELLI (d. i. IVAN LERMOLIEFF): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch. Leipzig 1880; ders.: Italian Masters in German Galleries. A Critical Essay on the Italian Pictures in the Galleries of Munich, Dresden and Berlin. London 1883; ders.: Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien Borghese und Doria Panfili. Leipzig 1890. 14 CARLO GINZBURG: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich seihst. Berlin 1995, S. 7-44. Vgl. hierzu auch MARTIAL GU^DRON: G i o v a n n i M o r e l l i et la p e r c e p t i o n p h y s i o g n o m i q u e . I n ders. ( H g . ) :

Peaux

d'ämes. LZeitgenosse< war, einige Studien über die Eignung des Kokains als Anästhetikum verfasst hat. Meyer schildert, wie Holmes - zunächst gegen seinen Willen - von London nach Wien gelockt und dort von Freud behandelt wird. Der eigentliche Clou des Romans liegt freilich darin, dass der englische Detektiv und der österreichische Gelehrte alsbald in einen Kriminalfall verwickelt werden, in dessen Verlauf Freud von Holmes die Methoden der Indiziensammlung und Hypothesenbildung übernimmt, sich darüber hinaus aber auch - wie historisch verbürgt - der Hypnose bedient, um persönlichen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. So gelingt es ihm schließlich sogar, das Trauma zu entdecken, das Sherlock Holmes verdrängt, indem er sich mit Kokain betäubt. Am deutlichsten zeigt sich Meyers Raffinesse, abgesehen vom sachkundig fundierten Plot, vielleicht daran, dass er die Affinität kriminalistischer und psychoanalytischer Methoden nicht einfach nur behauptet, sondern an gleich zwei Fällen vorführt: der Verbrechensgeschichte, die in Wien spielt, und der Kranken-

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Matthias Bauer

geschichte, die in Holmes' Kindheit zurückführt. Dabei beginnt die Verbrechensgeschichte als medizinisches Problem, während die Psychoanalyse ein Familienverbrechen aufdeckt. »A Study in Hysteria« ist jenes Kapitel überschrieben, in dem Sigmund Freud, der ja gemeinsam mit Joseph Breuer tatsächlich Studien über Hysterie (1895) verfasst hat, seine Geistesverwandtschaft mit dem Detektiv entdeckt, zu dessen berühmtesten Fällen wiederum .Λ Study in Scarlet (1887) gehört. Michael Rohrwasser hat - allerdings ohne auf Meyers Roman einzugehen - ebenfalls auf die Affinität der Methoden von Freud und Holmes hingewiesen, indem er die folgende Stelle aus Α Study in Scarlet zitiert, an der Conan Doyles Protagonist für sich in Anspruch nimmt, die innersten Gefühle eines Menschen durch einen augenblicklichen Ausdruck, das Zucken eines Muskels oder einen einzigen Blick erraten zu können. Betrug sei ein Ding der Unmöglichkeit, meinte er, sofern jemand gut beobachten könne und scharf zu analysieren verstünde. 1

Nicht minder selbstbewusst hat Freud im Bruchstück einer (1905) verkündet:

Hysterie-Analyse

Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken, nicht durch den Zwang der Hypnose, sondern aus dem, was sie sagen und zeigen, ans Licht zu bringen, hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgene Seelische bewußtzumachen, sehr wohl lösbar.2

Die Entlarvung von Betrug und Verrat, Fremd- und Selbsttäuschung anhand unwillkürlicher körperlicher Regungen, die für den Analytiker symptomatische Bedeutung haben, verweist auf das so genannte Indizienparadigma, das Medizin und Kriminalistik verbindet. Ebenfalls dem Indizienparadigma verpflichtet ist der Versuch, die Anzeichen, Spuren und Zeugenaussagen, die ein Detektiv oder Psychoanalytiker zusammenträgt, zu einer in sich schlüssigen Beweiskette zu verdichten. Insofern eine solche Kette einen Text darstellt, kann man das Auf- und Zusammenlesen von Indizien als Konjektur auffassen und sagen, dass nicht nur alle Detektiv- und Kriminalromane, sondern auch die Studien über Hysterie Konjekturgeschichten sind. Schließlich hat Freud selbst bemerkt, dass seine Erzäh-

1 2

Zitiert nach MICHAEL ROHRWASSER: Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler. Gießen 2005, S. 45. SIGMUND FREUD: Bruchstück einer Hysterie-Analyse. Nachwort von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M. 1995 [1905], S. 77.

Der unheimliche Fall der Psychoanalyse

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lungen in diesem Buch »wie Novellen zu lesen sind«.3 Das intermediäre Feld, in dem sich Medizin und Kriminalistik, detective story und case study begegnen, ist somit das Feld der Konjekturalwissenschaft, das sich im 19. Jahrhunderts an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaft, von empirischer und hermeneutischer Forschung bildet. Indem die neue Konjekturalwissenschaft der Psychoanalyse die Methoden der genauen Beobachtung und Faktensammlung, die zum Indizienbeweis führen, mit der Ableitung spezieller Fälle aus generellen Regeln koppelt - zum Beispiel der Regel, dass verdrängte Wünsche und Ängste wiederkehren, oder der Regel, dass der Ödipuskomplex in jeder Familienkonstellation angelegt ist - , verbindet sie Induktion und Deduktion, aber auch Forschung und Literatur. Ihre Theoriebildung rekurriert auf das Anschauungsmodell der antiken Tragödie oder den Familienroman der Neurotiker; gleichzeitig hält ihren Begründer eine merkwürdige Doppelgängerscheu jahrzehntelang davon ab, auf einen Autor wie Arthur Schnitzler zuzugehen, der in Wien nur ein paar Straßen weiter wohnt und das Feld gleichsam von der anderen Seite her, von der Bühnen- und Erzählkunst aus, aufrollt. Nachhaltig beigetragen haben dürfte zu dieser Doppelgängerscheu der Vorwurf, die Psychoanalyse begründe ihre Schlussfolgerungen mit Krankengeschichten, deren Wahrheitsgehalt kein Leser wirklich überprüfen könne. Dabei verwende sie genau jene Rhetorik der Authentifizierung, die man in den Texten von Arthur Conan Doyle oder Bram Stoker finde. Zu diesen Verfahren gehöre unter anderem die fingierte Herausgabe fiktiver Dokumente - etwa der Briefe in Dracula (1897) - , die Meyer und andere imitieren, wenn sie im Rahmen der kointentionalen Inszenierung des literarischen Diskurses vorgeben, Manuskripte von Conan Doyle oder Freud entdeckt zu haben. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Conan Doyle - ähnlich wie sein Vorgänger Edgar Allan Poe - neben detectives stories auch mystery tales, ja sogar Traktate zum Okkultismus verfasst hat. Die Analysemethode der ratiocination, die Auguste Dupin zum Vorbild von Sherlock Holmes gemacht hat, bewährt sich gerade dort, wo das Unheimliche heimlich gemacht werden soll - also an jener Stelle, an der Freud nicht nur in seinem Aufsatz über »Das Unheimliche« (1919), sondern immer dann operiert, wenn er Triebe und Träume, die den Menschen ängstigen, aufzuklären versucht. Vor diesem Hintergrund ist denn auch Nicholas Meyers Verweis auf eine andere berühmte Sherlock Holmes-Geschichte, nämlich The Final Problem (1893) zu sehen. In dieser Erzählung lässt Conan Doyle Watson das allem Anschein nach tödlich verlaufende Duell seines Helden mit dessen Erzrivalen, dem skrupellosen

3

JOSEF BREUER und SIGMUND FREUD: Studien über Hysterie. Einleitung von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M. 2000 [1895], S. 180.

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Professor Moriarty, schildern. Conan Doyle hatte diese Geschichte geschrieben, um sich ein für alle Mal einer Figur zu entledigen, die seinen anderen literarischen Ambitionen im Wege stand, musste sie dann aber auf Druck der Leserschaft in The Return of Sherlock Holmes (1905) wieder auferstehen und weitere Kriminalfälle lösen lassen. Meyer wiederum siedelt die Handlung seines Romans genau in dem Zeitloch an, das in der fiktiven Biographie zwischen Holmes' Untergang und seiner Wiederauferstehung klafft. Die Pointe seiner Interpolation besteht allerdings darin, dass sich der gefürchtete Professor in Meyers Roman als ein harmloser Hauslehrer erweist, der lediglich das Pech hatte, Holmes die schreckliche Nachricht von der Untreue seiner Mutter und ihrer Ermordung durch den gehörnten Vater überbringen zu müssen, woraufhin Moriarty von dem völlig traumatisierten Kind - wie so viele Überbringer schlechter Nachrichten - für das Unheil verantwortlich gemacht und zu jenem Monsterverbrecher stilisiert wird, als der er bei Conan Doyle firmiert. Indem der Oberhalunke von Meyer als das Hirngespinst eines offenbar an Verfolgungswahn leidenden Patienten hingestellt wird, den Dr. Watson an Dr. Freud überwiesen hat, setzt sein Roman jene Prozedur der Konjekturalwissenschaft in Szene, die man als >rückwärtsgewandte Erschließung< bezeichnen könnte. Τ. H. Huxley, ein weiterer Zeitgenosse von Freud und Conan Doyle, hatte diese Prozedur der rückwärtsgewandten Erschließung bereits 1881 in einem Essay, der sich auf Voltaires Zadig, ou La destinee. Historie Orientale (1747) bezieht, »Retrospektive Prophezeiung« genannt und in ihr eine »Funktion der Wissenschaft«, vor allem der Historiographie, gesehen.4 Michael Shepherd wiederum hat über hundert Jahre später daran erinnert, dass Huxleys Erläuterung von Zadigs Methode William Whewells Exposition der Logik in The Philosophy of the Inductive Sciences (1847) wiederholt.5 Man kann also davon ausgehen, dass die konjekturale Ermittlung eines Tathergangs oder einer Krankheitsbildung bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert als ein wissenschaftliches Verfahren diskutiert wurde, für das es mindestens eine literarische Exemplifikation - nämlich Voltaires Zadig - gab. Entscheidend ist nun, dass an dieser Stelle erneut die Dialektik des Un-Heimlichen auftaucht - und zwar nicht auf der thematischen, sondern auf der methodischen Ebene. Jedenfalls hat Freud die Ätiologie seiner hysterischen und neurotischen Patienten, bevor die talking cure erfunden war, in der un-heimlichen Prozedur der Hypnose entwickelt, wie er sie seinerzeit vor allem bei Charcot, dem Direktor der Salpetriere, kennengelernt hatte, als er sich in Paris aufhielt. Un-

4

Zitiert n a c h MICHAEL SHEPHERD: Sherlock b r ü c k 1986, S . 3 1 .

5

Vgl. SHEPHERD (wie A n m . 4), S. 32.

Holmes

und der Fall Sigmund

Freud.

Rheda-Wieden-

Der unheimliche Fall der Psychoanalyse

63

heimlich darf diese Prozedur zum einen genannt werden, weil ihre Ergebnisse dem hypnotisierten Patienten verborgen bleiben; zum anderen aber auch, weil ihre Verwendung insofern auf einen performativen Widerspruch hinausläuft, als der Akt der Aufklärung einen Akt der Manipulation voraussetzt und der Hypnotiseur die Macht, die ihm sein Geheimwissen verschafft, missbrauchen kann. Die Hypnose ist eher eine magische als eine mäeutische Prozedur und liefert, streng genommen, keine empirisch überprüfbaren Indizien. Umso leichter eignet sie sich zu der romanhaften Legendenbildung, die Nicholas Meyer in The Seven-Per-Cent Solution betreibt, wenn er Holmes durch Freud hypnotisieren und psychoanalytisch behandeln lässt, ohne dass dies bei dem Meisterdetektiv Spuren hinterlässt, die mit seiner fiktiven Biographie bei Conan Doyle - die ja auch nur eine Legendenbildung ist - unvereinbar wären. Da Watson und Freud ihren Patienten nicht über die Erkenntnisse informieren, die sie mittels der Hypnose gewonnen haben, liegt der Gewinn allein bei den Lesern, die gemeinsam mit dem Autor eine Indizienkette bilden, die den Begründer der Psychoanalyse als Meisterschüler des englischen Detektivs erscheinen lässt und dessen skurrilen Charakter mit dem Verweis auf ein schreckliches Familiengeheimnis erklärt. Es lohnt sich, jene Stellen in Meyers Roman näher unter die Lupe zu nehmen, an denen Freud von seinem Patienten auf eine Unterlassung aufmerksam gemacht wird, die man über den Kontext von The Seven-Per-Cent Solution hinaus als eine Kritik an der Methodik psychoanalytischer Untersuchungen auffassen kann. Als der Roman-Freud seine Sicht des fiktiven Kriminalfalls zusammenfasst, wird er von Holmes mit der Bemerkung unterbrochen: »You saw [...] but you did not observe. The distinction is an important one and sometimes makes a critical difference. [...] It is a cardinal error to theorize in advance of the facts [...]. Inevitably it biases the judgement.« 6 Meyer paraphrasiert hier eine Stelle aus »A Scandal in Bohemia« (1891), an der Holmes doziert: »It is a capital mistake to theorise before one has data. Insensibly one begins to twist facts to suit theories, instead of theories to suit facts.«7 Die Relevanz dieser Kritik wird unterstrichen, als der Detektiv bei Meyer seine abschließende Würdigung von Freuds Lernerfolgen noch einmal mit der Warnung versieht, sich beim Schlussfolgern nicht über die Tatsachen hinwegzusetzen, die nur durch genaueste Beobachtung zu ermitteln sind: You have succeeded in taking my methods - observation and inference - and applied them to the inside of a subject's head. [ . . . ] ! shouldn't be surprised if your application

6 7

NICHOLAS MEYER: The Seven-Per-Cent Solution. Being a Reprint from the Reminiscences ofJohn H. Watson, M. D. New York 1974, S. 147. ARTHUR CONAN DOYLE: A Scandal in Bohemia. In ders.: The Adventures of Sherlock Holmes. Reading 1994 [1891], S. 3-29, hier S. 7.

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of my methods proves in the long run far more important than the mechanical uses I make of them. But always remember the physical details. N o matter how far into the mind you may travel, they are of supreme importance. 8

Einerseits also hat Freud, Meyers Roman zufolge, die kriminalistische Methode erfolgreich von Holmes' Metier auf das Untersuchungsgebiet der Psychoanalyse übertragen; andererseits scheint er dabei in die Gefahr geraten zu sein, Induktion und Deduktion durch Spekulation zu ersetzen. Zu den Romanen, in denen dieser Verdacht aufgegriffen wird, gehört Doktor Freuds Geheimnis (1995) von Carol de Chellis Hill; die englische Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel Henry James' Midnight Song. Ähnlich wie Nicholas Meyer setzt auch Carol de Chellis Hill mit einer Herausgeberfiktion ein, und wie The Seven-Per-Cent Solution soll ihr Roman ein unter mysteriösen Umständen aufgetauchtes Manuskript sein. Die ersten Sätze dieses apokryphen Werkes lauten: »In Wien, in der Berggasse 19, ertönten drei Schüsse. Über das Muster in dem abgetretenen Perserteppich ergoß sich Blut.«9 Da die Behörden bei ihren Ermittlungen in Freuds Wohn- und Arbeitshaus nur die Spuren des getrockneten Bluts, aber keine Toten entdecken, setzen gewisse Kreise das Gerücht im Umlauf, das Ganze sei »wieder einmal ein perverser Judenmord gewesen« (S. 178). »Der Kaiser hielt standhaft seine Hand über die Juden, aber Karl Lueger, dem Bürgermeister, brachte es Vorteile, das Feuer der Antisemiten, die ihn gewählt hatten, zu schüren« (S. 76). Höchste Zeit also, dass ein Detektiv eingeschaltet wird, der zumindest so geschickt und klug wie Sherlock Holmes in der böhmischen Staatsaffäre agiert. Im Verlauf seiner Ermittlungen findet dieser Detektiv, ein Inspektor der Pariser Polizei, heraus, dass die Blutflecken auf dem Teppich in der Wiener Berggasse 19 von Emma Eckstein stammen - jener Frau, die Freuds Freund Wilhelm Fließ so dilettantisch an der Nase operiert hatte, dass sie an den Folgen der Operation beinahe gestorben wäre. Der Vorwurf, von dem der Roman den Begründer der Psychoanalyse ebenso wenig entlastet wie die historische Forschung, lautet, dass Freud sich an der Vertuschung dieses Kunstfehlers mitschuldig gemacht habe - in erster Linie wohl, um sich selbst nicht die Enttäuschung eingestehen zu müssen, die ihm sein langjähriger Freund bereitet hatte. Carol de Chellis Hill kolportiert also eine unrühmliche Episode aus der Biographie des historischen Freud im Rahmen einer fiktionalen Erzählung, die auf diversen Handlungsebenen spielt. Viel stärker als die Tradition der Detektivgeschichte, in der ihr Kriminalroman steht, interessiert sie dabei die feministisch 8

MEYER (wie A n m . 6), S. 181.

9

CAROL DE CHELLIS HILL: Doktor

Freuds

Geheimnis.

Ü b e r s . MICHAELA GRABINGER. M ü n c h e n

1995, S. 27 [Henry James' Midnight Song. New York 1993]. Alle weiteren Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

Der unheimliche Fall der Psychoanalyse

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inspirierte Kritik an den misogynen Zügen von Freuds Theoriebildung. Die Autorin macht diese Kritik an zwei Aspekten fest: der Revision der Verführungstheorie und den praktischen Konsequenzen, die diese Revision im >Fall Dora< gehabt hat - so wie ihn Freud im Bruchstück einer Hysterie-Analyse schildert: E r [ = Freud] hatte gerade mit einigem Aufwand seine Theorie revidiert. Jetzt glaubte er, daß alle Hysterikerinnen, die er behandelt hatte, eher unter Phantasien als unter der realen Verführung durch ihre Eltern oder andere Angehörige des Haushalts litten. Diese Annahme stellte einen bedeutenden Wendepunkt innerhalb seiner Theorie dar. (S. 323)

Da sich der Inspektor mit Freuds Schriften eingehend auseinandergesetzt hat, erkennt er, als ihn eines Tages eine »nervöse junge Frau« anspricht, sofort, daß es sich um das Mädchen handelte, das Freud in seiner Krankengeschichte als >Dora< bezeichnet hatte. Auf den Inspektor wirkte sie intelligent und aufgeweckt, t r o t z d e m empfand er sie als eher unangenehm: Sie war gleichermaßen eigensinnig wie verletzlich, was, wie er aus Erfahrung wußte, ein eingehendes Verhör schwierig machen würde. D a ß ihre und Freuds Wege sich getrennt hatten, überraschte ihn nicht. (S. 3 5 7 )

Un-heimlich ist die Begegnung mit Dora vor allem, weil Freuds ehemalige Patientin behauptet, das Opfer eines Seelenmordes geworden zu sein, an dem Freud beteiligt gewesen sei. Den Inspektor habe sie aufgesucht, weil sie von den Blutflecken in der Berggasse 19 gehört und sich eingebildet habe: »Ich läge dort tot, und dieser Mensch, ich, der Türen durchschreitet und die Gassen entlanggeht, das wäre ein Geist. Ich glaubte, daß mein wahres Ich tot ist, umgebracht ohne jeden Beweis« (S. 358). Der Inspektor ist gleichermaßen verdutzt wie betroffen und will mehr von Dora wissen, doch »[e]r brachte nicht aus ihr heraus, ob es ihr Vater gewesen war oder ihre Mutter, ein Freund ihres Vaters, Freud oder alle zusammen oder sogar der Zorn des Mädchens selbst oder ihr Gefühl völliger Wertlosigkeit« (ebd.). Da auch die Autorin diese Widersprüche entgegen der Konvention von Detektivgeschichte und Kriminalroman nicht auflöst, wirkt die verstörende Begegnung des Inspektors mit Freuds Patientin wie eine Bekräftigung von Doras Behauptung: »Es ist das perfekte Verbrechen« (S. 359). Ohne an dieser Stelle näher auf die Erzählstränge einzugehen, die mit Henry James und seiner Schwester Alicia zusammenhängen, an der, wie viele Forscher argwöhnen, ebenfalls ein Seelenmord begangen wurde, kann man das rhetorische Kalkül, dem der Roman folgt, in etwa so explizieren: Verdächtige Freud zunächst der Mitwirkung an der Vertuschung des Kunstfehlers eines anderen Arztes. Je deutlicher seine Verstrickung in diesen Fall wird, desto eher werden sich die Leser zumindest im Rahmen des Gedankenexperiments, das der Roman veranstaltet, auf die Hypothese von dem Seelenmord an Dora einlassen. Strukturell bedeutet diese Revision, dass eine historisch verbriefte Krankengeschichte erst in den Plot einer fiktiven detective story involviert und dann als mystery tale, das heißt: als ungelöstes, un-heimliches Rätsel darge-

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stellt wird. Letztlich läuft diese Verfahrensweise auf den Vorwurf hinaus, Freud habe im Fall Dora, in der Affäre Eckstein und bei der Revision seiner Verführungstheorie die Wahrheiten unterdrückt, die seiner Akzeptanz und Karriere als Wissenschaftler im Wege standen. Genau diesen Vorwurf aber hat auch eine Reihe von Gelehrten erhoben, die sich in den letzten Jahren mit Freuds Krankengeschichten kritisch auseinandergesetzt haben.10 Henry James' Midnight Song erschien, wie erwähnt, 1993, die deutsche Ausgabe des Romans zwei Jahre später. Man darf annehmen, dass die Verfasserin Jeffrey M. Massons Revision der Revision von Freuds Verführungstheorie kannte, die 1985 erstmals publiziert worden war. Masson hatte zunächst die Briefe Freuds an Emil Fließ, die von Anna Freud nur in Teilen veröffentlicht worden waren, vollständig editiert. In der Einführung zu seinem Buch The Assault on Truth (deutsch 1995 unter dem Titel: Was hat man dir, du armes Kind getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte) bemerkt Masson: Als ich die Briefe Freuds an Fließ durchsah und den Anmerkungsapparat für den 1. Band vorbereitete, gewann ich den Eindruck, daß Anna Freuds Auslassungen in der gekürzten Erstausgabe einem bestimmten Muster folgten. In den Briefen nach September 1897 - dem Zeitpunkt, an dem Freud seine >Verführungsverführung< herausgenommen. Mehr noch: jeglicher Hinweis auf E m m a Eckstein, eine frühere Patientin von Freud und Fließ, die in einem ganz bestimmten Zusammenhang mit der Verführungstheorie zu sehen ist, war getilgt. Besonders beeindruckend war der Abschnitt eines Briefes v o m D e z e m b e r 1897, der zwei bislang unbekannte Tatsachen ans Licht brachte: E m m a Eckstein hatte selbst Patienten analysiert, vermutlich unter Freuds Supervision - und F r e u d schien erneut der Verführungstheorie Glauben schenken zu wollen. 11

Erstmals öffentlich vorgetragen hatte Freud die ursprüngliche Fassung seiner Verführungstheorie am 21. April 1896 im Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie. Die Kernthese seines Vortrag »Zur Ätiologie der Hysterie« besagte, dass den Erzählungen der Patienten, in ihrer Kindheit verführt und missbraucht worden zu sein, reale Vergewaltigungen zugrunde liegen würden: »Es scheint mir sicher, daß unsere Kinder weit häufiger sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man nach der geringen, von den Eltern hierauf verwendeten Fürsorge erwarten sollte.«12

10 Vgl. FREDERICK C. CREWS (Hg.): Unauthorized Freud. Doubters Confront α Legend. N e w York 1988; sowie HAN ISRAELS: Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge. Übers. GERD BUSSE. Hamburg 1999. 11 JEFFREY M. MASSON: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte. Freiburg 1995, S. 28 f. [The Assault on Truth. N e w York 1984]. 12 SIGMUND FREUD: Zur Ätiologie der Hysterie. In ders.: Schriften zur Krankheitslehre und Psychoanalyse. Einleitung von Clemens Boor. Frankfurt a. M. 1997 [1896], S. 53-84, hier S. 71.

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Krafft-Ebbing, der seinerzeit unter Freuds Zuhörern war, bezeichnete diese Ätiologie als »wissenschaftliches Märchen«. 13 Er gab damit den Tenor der Rezeption vor, die Freud vor die Wahl stellte, entweder wie die Patienten selbst der Konfabulation bezichtigt zu werden oder eine andere Theorie der Hysterie zu entwickeln. In der 1924/25 entstandenen Selbstdarstellung beschreibt Freud die Revision, für die er sich entschied, folgendermaßen: Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine Zeitlang ratlos. [...] Als ich mich gefaßt hatte, z o g ich aus meiner Erfahrung die richtigen Schlüsse, daß die neurotischen S y m p t o m e nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpften, sondern an Wunschphantasien, und daß für die N e u r o s e die psychische Realität mehr bedeutet als die materielle. Ich glaube auch heute nicht, daß ich meinen Patienten jene Verführungsphantasien aufgedrängt, >suggeriert< habe. Ich war da z u m erstenmal mit dem Odipm-Komplex zusammengetroffen, der später eine so überragende Bedeutung erlangen sollte, den ich aber in solch phantastischer Verkleidung noch nicht erkannte. 1 4

Masson bestreitet in seinem Buch keineswegs, dass Freud davon überzeugt war, »nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, als er sich bei seiner Suche nach dem Ursprung seelischer Krankheit vom äußeren Trauma weg zu inneren Phantasien wandte, ohne damit in den Vollbesitz der Wahrheit zu gelangen.« 15 Sein Buch ist aber gleichwohl geeignet, den Verdacht zu bestärken, Freud habe seine Behandlungen (genauso wie die Krankengeschichten, in denen diese Behandlungen nacherzählt werden) im Zweifelsfall eher an den Erfordernissen der Theoriebildung als an der Erfahrungswirklichkeit und Bedürftigkeit der Patienten ausgerichtet. Er hätte damit genau das getan, was ihm in Meyers Roman von Holmes vorgeworfen wird, nämlich »to theorize in advance of the facts.« 16 Sieht man die Theoriebildung aus dem Blickwinkel der Patienten, wird sie vor allem dann zu einem unheimlichen Vorgang, wenn man unterstellt, dass die Verführungen tatsächlich stattgefunden haben, so dass der ersten, leiblichen Vergewaltigung noch eine zweite, geistig-seelische folgte, als man ihnen die Realität ihrer Leiden in der Psychoanalyse auszureden und in eine Wunschphantasie umzuwandeln suchte. Während diese Zusammenhänge bei Carol de Chellis Hill eher angedeutet als ausgesprochen werden und der Plot ihres Romans darauf angelegt ist, die Leser auf die Fährte zu setzen, die von Emma Eckstein zum Fall Dora und von Freuds Revision der Verführungstheorie zu Massons Revision der Revision führt, macht

13 Vgl. MASSON (wie Anm. 11), S. 39. 14 SIGMUND FREUD: Selbstdarstellung. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse. Einleitung von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a. M. 1999, S. 64. 15 Vgl. MASSON (wie Anm. 11), S. 233. 16 MEYER (wie Anm. 6), S. 147.

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Catherine Gildiner in ihrem Roman Seduction (2005; dt. Verführung 2006) kurzen Prozess. Nicht nur stellt sie in diesem Freud-Krimi - so der Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe - Anna Freud als eine Frau dar, die buchstäblich über Leichen gegangen sei, um das selbstgefällige Bild aufrechtzuerhalten, das ihr Vater von sich entworfen hatte. Vielmehr verschärft Gildiner die feministische Kritik an der psychoanalytischen Theoriebildung, indem sie mit Anders Konzak einen Doppelgänger von Jeffrey M. Masson auftreten lässt, der erst ermordet wird, nachdem er weitläufig Gelegenheit erhalten hat, die Verschwörungstheorie auszubreiten, zu der die einschlägige Freud-Kritik in Seduction verdichtet wird. In einem Gespräch, das die Ich-Erzählerin mit ihrem Partner, einem Privat-Detektiv führt, bemerkt dieser im Stil des hard-boiled private eye: Schauen Sie, einer wie Freud weiß, dass er im Rampenlicht sterben wird. Was auch immer er für Leichen im Keller hatte - und ich bin überzeugt, es sind eine ganze Menge - , er hat sie begraben, w o nicht mal Sherlock H o l m e s sie finden könnte. [...] Er hat seine Theorie so formuliert, dass man ihm nie einen Irrtum nachweisen kann. Wenn man sie ihm nicht abkauft, hat er tausend Mittel und Wege, einen abzuservieren: Er sagt einfach, man flüchte sich in seine Abwehrmechanismen oder habe einen unbewussten D r a n g nicht erkannt, oder erzählt einem andere Märchen. Er war brillant darin, seine Spuren zu verwischen. 1 7

In dem Gespräch, das die Ich-Erzählerin mit Anders Konzak kurz vor seiner Ermordung führt, stellt sie ihm (und den bereits entsprechend präparierten Romanlesern) dann die suggestive Frage: »Sie meinen also, der frühe Freud hatte mit seiner Verführungstheorie Recht und sei dann davon abgekommen, als er plötzlich behauptete, die Mädchen hätten sich die Verführung durch den Vater zusammenphantasiert« (S. 86). Natürlich widerspricht Konzak dieser Vermutung nicht. Vielmehr spitzt er die Anklage noch zweimal zu: E s ist eine schöne frauenfeindliche Theorie, denn sie schiebt die ganze Schuld der Frau zu, die langsam in die Hysterie getrieben wird [...]. Seien wir ehrlich, Freuds Patientinnen, die armen Kreaturen, wurden zweimal hintergangen: z u m einen von ihren Vätern durch den Inzest, z u m anderen von ihrem Analytiker, der Vaterfigur Sigmund Freud, der ihnen nicht glauben wollte, als sie ihm offenbarten, was ihnen widerfahren ist. (S. 88-90)

Neben dieser Radikalisierung von Massons Freud-Kritik lanciert der Roman die These, Freud habe seine entscheidenden Ideen allesamt Charles Darwin zu verdanken. Das Ergebnis ihrer Konjektur präsentiert die Ich-Erzählerin mit den Worten: Meiner A u f f a s s u n g [nach] war Ernst Brücke der Schlüssel z u m Problem. Brücke hatte mehrere Jahrzehnte lang als Professor für Physiologie und Z o o l o g i e an der Universität 17 CATHERINE GILDINER: Verführung. Ein Freud-Krimi. Übers. MARGARETE LÄNGSFELD und SABINE MAIER-LÄNGSFELD. Reinbek 2006, S. 75 [Seduction. Toronto 2005]. Alle weiteren Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

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von Wien gelehrt. Als er Dozent in England war, hatte er mit Charles Darwin an zwittrigen Aalen gearbeitet. Im Gegenzug besuchte Darwin Brücke in seinem Labor in Wien. (S. 437) w o Freud - womöglich genau zu diesem Zeitpunkt - ebenfalls Untersuchungen an zwittrigen Aalen unternahm. Frei erfunden ist allerdings der Brief von Darwin an Brücke, den Gildiner >zitiertalle möglichen Sensationen«« (S. 92) zu erwarten wären, wie der Kriminalrat Genath seinen Besucher scharf zurückweist. Wie auch dieser Verweis beziehen sich alle weiteren Seitenangaben zu Mord im Grunewald auf die in Anm. 45 genannte Edition.

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Attentat besteht kein Zweifel mehr, als die im feudalen »Herrenclub 1914« (S. 22) versammelten, Poker spielenden und sich makaber äußernden Mitglieder (Staatssekretär, Botschaftsrat und Baron) 91 den geplanten Anschlag, welcher wiederum einem Geistlichen gebeichtet wurde (S. 23), bestätigen. Das demnach bekannte Vorhaben wird einhellig begrüßt: »>[T]olle Sache, was?Hat doch keiner dem Jud< gesagt, er soll Außenminister werden ... Schließlich kann man sich doch nicht wundern, daß die Leute aufmucksen, wenn man mit den Bolschewiken einen Vertrag abschließe« (ebd.). Ein dem Nachwort zufolge »wahre[r] Täter« - ein »Auftraggeber des Mordes, [ein] Besitzer von Kohle und Stahl, von Grund und Boden« 92 - wird bereits kurz nach Romanbeginn vorgestellt: Der die »>NovembererrungenschaftenKüchenmeister-Werkzeugmaschinen-Gesellschaft« (S. 7), profitiert immens vom inflationären Zustand der Weimarer Republik. Er bezahlt den Täterwagen, übergibt Erwin Kern, einem der Attentäter und früheren Offizier, persönlich die Autoschlüssel und hat allem Anschein nach »>die KisteAlles vorbereitet?< Das breite Gesicht von Küchenmeister spannt sich lauernd« (S. 15). Ubereinstimmung signalisierend, stehen sich beim Abschied die beiden Fraktionen des Anschlags, Finanzierende (»Großgrundbesitzer und Industrie« 93 ) und Ausführende (Militär), gegenüber: »>Jeder von uns erfüllt nur seine Pflicht. Ich und meine Freunde, indem wir euch unterstützen, ihr, indem ihr ...»tiefempfundene[n] WaidmannsheilScherzGottlob haben wir wenigstens noch unseren Pott BierDas einzige Wahre ist wirklich nur der Schnaps, da merkt man wenigstens nichts von all dem Elend«< (S. 102). Äußerungen und Verhalten zeugen bei den meisten Figuren von einem ähnlich schlichten Gemüt. Die Beschwerde der Witwe Maurischat über die sprunghaft ansteigenden Preise, die den Romanauftakt bildet, soll die Inflation demonstrieren und den der Figur anhaftenden Anachronismus: »>Was, ein halbes Pfund Margarine 480 Mark? Sonnabend hat sie doch noch 420 gekostet?!< Die alte Frau mit dem Kapotthütchen, das noch aus längst vergangenen Zeiten stammt, ist ganz entsetzt« (S. 5). Die schwatzhafte Frau Maurischat ist zugleich die Vermieterin von Hermann Fischer, der ihr in seiner abstinenten Lebensweise als »>vornehmer Mensch [...] wie SeideSie haben recht, Frau Maurischat... die sprechen von so'ne Sachen wie Reichstag und Ministeriumrechten< Weg befindet, ist konstitutiver Bestandteil des Romans. Lediglich dem Kriegsinvaliden Adolf Drechsler wird eine >linke< Lösung in den Mund gelegt: >Wenn wir uns Sowjetrußland zum Vorbild nehmen, so lieben wir Deutschland mehr als mancher andere [...]. Was meinst du denn, warum es uns so dreckig geht? Doch nur, weil die Herren, die seit einigen Jahrzehnten unser Volk von einem Unglück ins andere geführt haben, heute schon wieder ihre Fäden spinnen[n]och nich mal 'ne Prothese [...] von der Sozialversicherung bekomm[t]Na, man nich so hitzig ihr beiden!< mischt sich Mutter März ins Gespräch. >Vater! Gib mal Edi Jeld, daß er 'n Krug Bier bei Protzen holt, dat is ja 'ne Hitze zum VerreckenKittyRa-the-nau ...Ra-the-nau ... ![d]as [...] keine Frauenangelegenheiten [...] [sind]«< (S. 108), und Kitty lässt die Polizei ungeniert

Zum Geschichtsrekurs in F. K. Kauls Mord im Grunewald

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wissen, von Politik nichts zu verstehen (S. 123). Wie selbstverständlich definiert sie ihre persönliche >Emanzipation< über das Verfügen von Einkünften, die sie nicht selbst erwirtschaften möchte, weil ihr dieser Weg mühevoll und perspektivlos erscheint: Was soll sie nur tun ... ohne Geld! Wieder arbeiten? ... etwa als Verkäuferin in einem Geschäft... für jeden schmierigen Kunden ein Lächeln ... und immer angstvoll hinhorchen nach den Launen des Chefs ... in einem kleinen möblierten Zimmer wohnen... Ein Schütteln überkommt sie ... nur das nicht! ... U m Gottes willen nur das nicht! (S-112)

Von der Naivität insbesondere der werktätigen Bevölkerung profitiert ungemein der Kriminalrat Genath, der dabei schon einmal zu dem Urteil »primitive[r] Mensch« (S. 240) kommt. Genath96 ist eine blasiert-dekadente Kombination von Detektiv und Polizist, die immer wieder in auffallend kapitalistischer Manier präsentiert wird. Ständiger Begleiter ist seine Zigarre, die »wie eingebettet im linken Mundwinkel [ruht]« (S. 137) und deren Rauch er - je nach Situation und Überlegenheit- »in kurzen Stößen [pafft]« (S. 200) oder »[l]angsam [aus]stößt« (S. 214).97 Seine Leibesfülle wird von jedem seiner Gesprächspartner heimlich konstatiert, und der Ablehnung signalisierende Erzähler begnügt sich häufig mit der Bezeichnung »der dicke Kriminalrat« oder schlichtweg »der Dicke«. Genath atmet schwer (S. 150), »erhebt sich [...] schwerfällig« (S. 239) oder setzt sich »asthmatisch abgebrochen atmend« an seinen Schreibtisch (S. 90); er verlässt sich bei der Arbeit auf sein Gefühl (S. 202) und hat dabei weitgehend freie Hand. Im Vergleich zu seinem Vorgesetzten, dem Regierungsdirektor, dessen »sprudelnde, unruhige Art« (S. 152) er nicht schätzt, weil sie »die Atmosphäre [stört]« (ebd.), erscheint er stoisch und überlegen. Seine einen militärischen Grundton nicht verhehlenden Verhörmethoden haben einen perfiden Anstrich und reichen von einem »Katzeund-Maus-Spiel« (S. 143), bei dem er sein Gegenüber noch einmal »unbefangen [...] vor die Flinte bekommft]« (ebd.), bis zu einem cholerischen Einfordern von Geständnissen: »>Du lügst!! ... Soll ich's dir beweisen??< [...] >Setz dich anständig hin! ... Guck auf! ... Du sollst den Kopf hochnehmen!!! ... in Dreideibels-

96 Kaul hielt sich überwiegend an die Namen der historischen Figuren, nicht aber bei Genath. Vgl. SABROW (wie Anna. 41), S. 89, ebenso MARTIN SABROW: Märtyrer der Republik. Zu den Hintergründen des Mordanschlags vom 24. Juni 1922. In HANS WILDEROTTER (Hg.): Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau. 1867-1922. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York. Buchhandelsausgabe. Berlin [1993], S. 221-236. 97 Parallel dazu könnte die Zeichnung Genaths Bezug auf prominente literarische Detektivfiguren nehmen - schließlich setzte zur Zeit der Weimarer Republik in Großbritannien ein zweites goldenes Zeitalter< der Detektivgeschichte ein, nachdem das erste mit seinem wohl extravagantesten Repräsentanten, Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, noch sehr präsent war.

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namen!Sind Sie etwa auch ein Roter, Sommer ?«< (S. 187) und seiner düsteren Annahme »>Na, was meinen Sie, was passieren würde, wenn die sich entschließen würden - Sozialdemokraten und Kommunisten - überhaupt gemeinsam zu marschieren [...] ?so intensiv hinter den Attentätern her [sei]«< (S. 187), erwidert er barsch: »>Weil's mein Geschäft ist, Verehrter ... oder soll ich Knöppe verkaufen?^ (ebd.). Seine Ambitionslosigkeit, nach der Verhaftung der Täter ihre ^Hintermänner« (S. 251) ausfindig zu machen, überrascht daher nicht. Der Fortbestand der aussichtslosen, zunehmend faschistische Züge annehmende Situation der Weimarer Republik wird durch die Schlussszene des Romans - eine Wiederholung beziehungsweise Fortsetzung der Debatte um den Margarinepreis - einmal mehr illustriert. Der zu Beginn genannte Preis von 480 Mark hat sich zwischenzeitlich auf 1.560 Mark erhöht (S. 251), und die Eskalation - auch im politischen Sinn - scheint nur noch eine Frage der Zeit. Auch der TVDL-Rezensent hebt hervor: »Die Verbindung Militarismus und Kapital wird in diesem Mordfall offenkundig«. 98 Dem Polizeioberleutnant Brandt verhilft Genath nach dessen Meldung über den Standort des Täterwagens zu einer Beförderung - ungeachtet der Verspätung, mit der Brandt die Information Kittys weitergegeben hat: »Davon erwähnt er nichts ... Und wozu auch? Er kennt seine Pappenheimer, - ein monarchistischer Oberleutnant wird ein für die Republik begeisterter Hauptmann sein« (S. 155). In der Tat sieht sich Brandt, »der frühere aktive Leutnant im 6. Grenadierregiment Seiner Majestät, des Königs von Preußen, im Regiment >Kleist von NollendorfSPDMannDas war ja das einzige, wozu man schließlich taugte, nicht wahr?wartet [er] eben oder - besser gesagt [...] bereitet [er] sich auf das Erwartete vor[A]ber haben wir dafür draußen gekämpft [...]? Sind dafür zwei Millionen vor die Hunde gegangen ?Schanddiktatdas größte Verbrechen [...], das man je an einem Volk begangen hatTell< zu lesen. Studienrat Knebel [!] im Deutschunterricht: Erklären Sie mir den Unterschied zwischen Teil und Paricida ... Sie haben sich wieder nicht vorbereitet... setzen Sie sich« (ebd.). Nach seiner Verhaftung mahnt er sich zur Selbstdisziplin mit Aufforderungen wie »Man muß sich zusammennehmen... man mußü« (S. 208) und »Nur Ruhe! Sich nur in der Gewalt behalten!!« (S. 213); gleichzeitig empfindet er es als »schön« (ebd.), »die Stille so auf sich einwirken zu lassen ... nichts zu denken ... nichts zu denken... sich vor keinem zusammennehmen zu müssen« (ebd.). Ernst, der zweifellos von den Mittätern indoktriniert wird, macht es diesen durch seine Charakterunfestigkeit leicht. Er hungert nach Ruhm - »[S]päter wird man ihm zujubeln« (S. 67) - und zeigt Symptome eines Mutterkomplexes: »Auf dem Balkon wird er mit Mama stehen und der Menge, die ihm zujubelt, danken« (ebd.). Geltungssucht und der Wunsch, durch Prominenz die Bestätigung seiner Mutter zu erlangen, korrelieren in seinem tranceähnlichen Zustand; gleichzeitig fürchtet er, durch die Beteiligung an dem Attentat von ihr abgewiesen zu werden: »Mutter ... was wird sie nun sagen, wenn sie erfährt, daß ihr Junge, ihr >GroßerUnd den J u n g e n ... dem N a c h w u c h s und denen, die aus d e m Krieg z u r ü c k g e k o m m e n sind, denen gewöhnen wir die L u s t ab, sich mit der Republik von Ebert und K o n s o r ten abzufinden. D i e werden dadurch zu einem Stoßtrupp für einen Staat, in dem kein K o m m u n i s t mehr frei rumläuft und kein Sozi sich auf einem Ministersessel räkeln kannhineinbeförderte< Polizeioberleutnant Brandt: »Ausgerechnet an ihn tritt es heran, mit dazu beitragen zu sollen, daß die prachtvollen Burschen, die diesen Juden umgelegt haben, gepackt werden können« (S. 123 f.).

4 Fazit - Die Geschichte(n) der Geschichte

Peter Nusser hebt in seiner Abhandlung zum Kriminalroman hervor, dass der traditionelle sozialistische Kriminalroman in puncto Unterhaltsamkeit in ein »unausweichliches Dilemma« gerät102: [D]ie Tatsache, daß der Leser meist den Täter, die Tatmotive, den Hergang der Tat schon kennt, bevor der Detektiv überhaupt in Aktion tritt, wirkt ausgesprochen lähmend. Daß der Leser in den meisten Fällen mehr über den Täter weiß als der Detektiv, ist ganz folgerichtig, wenn ihm die gesellschaftlichen Bedingungen des Verbrechens durchschaubar gemacht werden sollen. 103

Mord im Grunewald dient mehr oder weniger als Beispiel für Nussers Argumentation; das Nachwort des Romans bestätigt das tradierte DDR-Geschichtsbild der Weimarer Republik und gibt dadurch seinen politischen Appellcharakter zu verstehen. Saloppe, im Berliner Dialekt gehaltene Dialoge alternieren mit einem ansonsten auktorialen Erzählstil, der eine sich dahinter verbergende Didaktik erkennbar macht; aufdringliche, ins Plakative reichende Figurentypisierungen und ein im Vergleich mit den historischen Grundlagen sehr reduzierter Plot lassen Spannungsmomente nicht zu. Selbst in der MDL-Rezension wird kritisch angemerkt: »Der Kriminalroman von Friedrich Karl Kaul hinterläßt leider nicht immer den Eindruck verantwortungsvoller Arbeit an der deutschen Sprache. Ganze Partien sind derart schludrig geschrieben, daß man an eine überhastete Terminarbeit denken muß«.104 Dass Genath bei seinen Ermittlungen »>GlückNichts weiter als Glück, mein Lieber. Aber es ist eine alte Wahrheit: Glück gehört zum Geschäft!Glück< haben sie schließlich, als sie im »Riesen« die ahnungslosen und sich im fortgeschrittenen Alkoholstadium befindenden Garagenbesitzer kennen lernen, die - dank gemeinsamer Kriegserinnerungen - bereitwillig einen Platz in Aussicht stellen. Hermann kann über ein Foto, das er in der Gepäckaufbewahrungsstelle deponiert hat, ausfindig gemacht werden; seine Vermieterin wiederum, die Witwe Maurischat, erinnert sich an seinen Kollegen Ernst Techow, der kurz darauf verhaftet wird. Corpora Delicti sind zwei Autokappen. Die historischen Begebenheiten sind zweifelsohne komplexer, und der NDLRezensent mag darauf anspielen, wenn er festhält, der Rathenau-Mord werde »in aufgelockerte[r] Form«105 erzählt. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wollte man Kauls Kriminalroman Mord im Grunewald lediglich als Vehikel politischer Aussagen verstehen mit dem Anspruch, ein antifaschistisches Geschichtsbild zu propagieren und eine ideologische Umerziehung der Bevölkerung zu bewirken. Obgleich diese Faktoren bei der Romankonzeption wichtig gewesen sein mögen und in ihrer Intention bestehen bleiben, verlangt Mord im Grunewald nach einer Deutung aus der Zeit seiner Veröffentlichung heraus. Ebenso ist die Biografie des Autors nicht unerheblich, die in Thematik und Gestaltung mit hineingespielt haben dürfte. Mit Mord im Grunewald liegt eine Kriminalgeschichte vor, die weder mit einer ausschließlich literaturwissenschaftlichen noch mit einer ausschließlich historischen Interpretation ausreichend erfasst wäre. Der Roman ist, um Mittmanns Vorschlag aufzugreifen, vielmehr als »Zeitzeuge«106 zu betrachten. Ihn nach den völlig anderen Kriterien einer westlichen Literaturgesellschaft beurteilen zu wollen, würde unwiederbringlich zu den eingangs genannten »Mißverständnissen«107 führen, wie im Falle des Playboy-Interviews, in dem Kaul mit der Einschätzung einiger westdeutscher Kritiker konfrontiert wurde, seine Kriminalgeschichten wie Mord im Grunewald seien »nicht gerade Spitze«.108 Der Autor war einer der wenigen Schriftsteller, die die Verbindung Kriminalroman und Geschichte - innerhalb einer Gesellschaft, die inzwischen selbst >Geschichte< geworden ist suchten; bei Kaul kommt hinzu, dass er sich unterschiedlichen Epochen widmete und dabei im Ost-West-Vergleich so kontrovers diskutierte Kapitel wie die Weimarer Republik heranzog.109 105 KÖNNER (wie Anm. 47), S. 146. 106 MITTMANN (wie Anm. 2). 107 MITTMANN (wie Anm. 2). 108 KALWA UND RIEHL-HEYSE (wie A n m . 56), S. 81. 109 Mein abschließender und herzlicher Dank gilt Anna Ertel, Günter Gentsch, Annett Hucke, Mirko Kirschkowski, Alexandra Lembert und Tobias Schaur, die mir für diesen Artikel viele nützliche Hinweise gaben.

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Geschichte als Verbrechen: Zur Verknüpfung von history und crime in Romanen Andre Brinks

1 Die besondere Rolle von >Geschichte< in Südafrika Der südafrikanische Autor Andre Brink mutmaßte 1993, dass die >neue< südafrikanische Literatur sich zu einem großen Teil mit der Rekonstruktion von Geschichte beziehungsweise dem Umschreiben der alten historischen Narrative beschäftigen werde. 1 Diese Vermutung gründete auf der besonderen Rolle, die der Geschichtsschreibung innerhalb des Legitimationsdiskurses der weißen Vorherrschaft in Südafrika zugewiesen worden war. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte der Einfluss weißer Siedler im südlichen Afrika kontinuierlich zugenommen, und immer größere Teile des heutigen Südafrikas gerieten zunächst unter holländische, später unter britische Kontrolle. Als die Südafrikanische Union 1910 weitgehende Unabhängigkeit von Großbritannien erhielt, war die politische Vorherrschaft einer weißen Minderheit über die schwarze Bevölkerungsmehrheit bereits fest etabliert, und nach den Parlamentswahlen von 1948 wurde dieser Zustand in einem ausgeklügelten System der >Rassentrennung< und der gezielten Diskriminierung kodifiziert, das als Apartheid traurige Berühmtheit erlangte und erst in den frühen 1990er Jahren abgeschafft wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass die langjährige Politik der Rassentrennung und Diskriminierung sich auch diskursiv manifestierte und dabei die Deutungshoheit über die Geschichte Südafrikas beanspruchte. Es bildete sich ein Kanon von >Geschichtsmythenzivilisatorischen< Leistungen weißer Siedler, die ein vermeintlich menschenleeres Land urbar machten, und spielte den Beitrag schwarzer Südafrikaner am Aufbau des Landes gezielt herunter. 3 So beklagte etwa der schwarze süd-

1

In dem Zeitungsbeitrag »To Re-imagine Our History« schreibt Brink: »much of the new writing may well have to do with a recovery and a rewriting, a reimagination of history«. In The Weekly Mailand Guardian. Review/Books. September 1993, S. 12.

2

Einige dieser politischen Mythen des weißen Herrschaftsanspruchs hat LEONARD THOMPSON überzeugend aufgearbeitet: The Political Mythology of Apartheid. New Haven 1985.

3

Die »offizielle Geschichtsschreibung< tritt beispielsweise in Schulbüchern zu Tage, da diese der staatlichen Kontrolle unterliegen. ELIZABETH DEAN U. a. stellten 1983 in einer Untersuchung südafrikanischer Schulbücher fest, dass diese Geschichte zur Unterstützung der Apartheid ein-

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afrikanische Bürgerrechtler Steve Biko, der 1977 von der Polizei zu Tode gefoltert wurde: »the history of the black man in this country is most disappointing to read. It is presented merely as a long succession of defeats«.4 Einschätzungen wie die Bikos finden sich in den Theorien derpostcolonial studies häufiger. Für Bill Ashcroft beispielsweise ist Geschichte ein herausragendes, wenn nicht das herausragende Instrument zur Unterdrückung der kolonisierten Gesellschaften: »For the emergence of history in European thought is conterminous with the rise of modern colonialism, which in its radical othering and violent annexation of the non-European world, found in history a prominent, if not the prominent instrument for the control of subject peoples«.5 Erst mit der demokratischen Wende ab 1990 wird in Südafrika auch im größeren Umfang eine Umdeutung der eigenen Vergangenheit möglich - ähnlich, wie dies in Kolonien nach dem Ende der Kolonialzeit der Fall war. Tatsächlich hat Brink - mit gewissen Einschränkungen - recht behalten: Geschichte spielt in der (englischsprachigen) Literatur Südafrikas, gerade der 1990er Jahre, eine ausgesprochen große Rolle, wenn sie auch nicht das einzige, alles dominierende Thema ist.6

2 Geschichte in der südafrikanischen (Kriminal-)Literatur Dieses gesteigerte historische Interesse zeigt sich beispielsweise darin, dass Romanfiguren explizit nach historischer Wahrheit suchen, und macht auch die Verbindung von Kriminalliteratur und historischem Roman wahrscheinlich. Schließlich wies der Historiker Robin Collingwood schon Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Parallelen zwischen Detektiv und Historiker hin: »The hero of a detective novel is thinking exactly like a historian when, from indications of the most varied kinds, he constructs an imaginary picture of how a crime was committed, and

setzten: »The general conclusion is that on the whole the view of the past offered by the textbooks is consistent with, and frequently actively supportive of, the continuation of present racial policies. There is little doubt that the history syllabus is designed partly with the intention of cultivating attitudes favourable to the maintenance of the system of racial inequality.« ELIZABETH DEAN, PAUL HARTMANN und MAY KATZEN: History in Black and White. An Analysis of South African School History Textbooks. Paris 1983, S. 102. 4

STEVE BIKO: Black Consciousness and the Quest for a True Humanity. In BASIL MOORE (Hg.): Black Theology. The South African Voice. London 1973, S. 36-47, hier S. 44.

5

BILL ASHCROFT: Against the Tide of Time. Peter Carey's Interpolation into History. In JOHN HAWLEY (Hg.): Writing the Nation. Self and Country in the Post-Colonial Imagination. Amsterdam 1996, S. 194-213, hier S. 194.

6

Für eine umfangreichere Analyse der Bedeutung von Geschichte im zeitgenössischen englischsprachigen Roman Südafrikas siehe JOCHEN PETZOLD: Re-imagining White Identity by Exploring the Past. History in South African Novels of the 1990s. Trier 2002.

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Geschichte als Verbrechen

b y w h o m « . 7 Beide, (literarischer) D e t e k t i v wie Historiker, n u t z e n ( Z e i t - ) Z e u g e n o d e r D o k u m e n t e , u m ein vergangenes Ereignis, eine >lost narratives zu r e k o n s truieren. 8 A n g e s i c h t s d e r B e d e u t u n g v o n >Geschichte< für die zeitgenössische Literatur Südafrikas w ä r e es naheliegend, auch auf d e m Gebiet der Kriminalliteratur einen h i s t o r i c a l turn< zu erwarten. Diese E r w a r t u n g w i r d j e d o c h nicht erfüllt. 9 G r ü n d e für das Fehlen eines bestimmten P h ä n o m e n s anzugeben, ist i m m e r auch spekulativ. E i n G r u n d für das Fehlen >historischer< Kriminalliteratur ist j e d o c h sicher, dass K r i m i n a l l i t e r a t u r in Südafrika insgesamt kein b e s o n d e r s produktives G e n r e darstellt. 1 0 D a s L a n d hat zwei Literaturnobelpreisträger herv o r gebracht, N a d i n e G o r d i m e r u n d J . M . C o e t z e e , aber nur wenig m e h r einschlägige K r i m i - A u t o r e n : J a m e s M c C l u r e ( 1 9 3 9 - 2 0 0 5 ) , Wessel E b e r s o h n (geb. 1940), Gillian Slovo (geb. 1 9 5 2 ) und D e o n M e y e r (geb. 1 9 5 8 ) fallen in diese Kategorie, 1 1 w o b e i S l o v o 1 9 6 4 u n d M c C l u r e 1 9 6 5 n a c h G r o ß b r i t a n n i e n emigrierten u n d ihre K r i m i s daher n u r indirekt der südafrikanischen L i t e r a t u r

7

zuzurechnen

ROBIN COLLINGWOOD: The Idea of History. Revised edition, with lectures 1926-1928, hg. v. JAN VAN DER DUSSEN. O x f o r d 1993 [ 1 9 4 6 ] , S. 2 4 3 . Ä h n l i c h argumentiert auch ROBIN WINKS: » T h e his-

8

torian must collect, interpret, and then explain his evidence by methods which are not greatly different from those techniques employed by the detective, or at least the detective of fiction«.ROBIN WINKS (Hg): Introduction. In The Historian as Detective. Essays on Evidence. New York 1968, S. xiii-xxiv, hier S. xiii. Für die Verbindung zwischen Historiker und Detektiv bei der Aufdeckung verloren gegangener Erzählungen, siehe CLAIRE GORRARA: Tracking down the Past. The Detective as Historian in Texts b y P a t r i c k M o d i a n o and D i d i e r D a e n i n c k x . I n ANNE MULLEN und EMER O ' B E I R N E ( H g . ) :

Crime

Scenes. Detective Narratives in European Culture since 1945. Amsterdam 2000, S. 281-290. Auch DENNIS PORTER nennt die Detektivgeschichte in der Tradition Poes »a genre committed to an act of recovery«, und er führt aus, Detektivgeschichten seien »preoccupied with the closing of the logico-temporal gap that separates the present of the discovery of crime from the past that prepared it«. The Pursuit of Crime. Art and Ideology in Detective Fiction. New Haven 1981, S. 29. 9

Der Titel von MICHAEL GREENs Aufsatz »The Detective as Historian. A Case for Wessel Ebersohn« lässt zunächst anderes vermuten. Die Krimis Ebersohns sind jedoch nicht in der Vergangenheit angesiedelt; Green geht es vielmehr darum, dass die Romane die besondere historische Situation ihrer Entstehungszeit deutlich hervortreten lassen. Zu Ebersohns Store Up the Anger (1980) etwa führt Green aus: »The past informs each moment of the present, contributing cumulatively to its significance as a historical moment.« MICHAEL GREEN: The Detective as Historian. A Case for Wessel Ebersohn. In Current Writing 6, 2 (1994), S. 93-111, hier S. 105. 10 Auch GEOFFREY DAVIS stellt fest: »Detective fiction has rarely been considered a major genre in South African literature«. Siehe seinen Aufsatz »Political Loyalties and the Intricacies of the Criminal M i n d . « I n CHRISTINE MATZKE u n d SUSANNE MÜHLEISEN ( H g . ) : Postcolonial

Postmortems.

Crime Fiction from a Transcultural Perspective. Amsterdam 2006, S. 181-199, hier S. 182. 11 Der Companion to South African English Literature nennt im Eintrag zu »Popular Literature« noch eine Reihe weiterer Autoren, deren Bücher aber eher dem Genre Thriller als dem klassischen K r i m i n a l r o m a n z u z u r e c h n e n sind. DAVID ADLEY, RLDLEY BEETON, MICHAEL CHAPMAN u n d

ERNEST PEREIRA (Hg.): Companion to South African English Literature. Craighall 1986, S. 158.

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sind. 1 2 D a s s Kriminalliteratur im Südafrika der Apartheidzeit eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte, lässt sich auch aus der politischen Situation heraus erklären. Vor allem für die nicht-weiße Bevölkerungsmehrheit musste die Tatsache der täglichen Diskriminierung das größte denkbare Verbrechen darstellen, ein Verbrechen, dass sich jedoch auf die formale >Rechtmäßigkeit< der Apartheidgesetze berufen konnte. D a der klassische Kriminalroman, an dessen E n d e die erfolgreiche Aufklärung des Falles und die Festnahme des Täters steht, eine konservative Grundstruktur hat, die das Rechtssystem nicht grundsätzlich in Frage stellt, 13 bietet er sich für die literarische Auseinandersetzung mit dem Apartheidsystem nicht gerade an. Selbst die Kriminalromane James McClures und Wessel Ebersohns, die das System der Apartheid durchaus kritisch darstellen, wenden sich nicht explizit gegen dieses System - was angesichts der südafrikanischen Zensur vermutlich auch nur um den Preis des Verbots möglich gewesen wäre. Zwar werden bei Ebersohn auch Polizisten als Verbrecher dargestellt und McClures weiß/schwarzes Ermittlerteam Kramer/Zondi thematisiert durch die satirische Darstellung weißer Vorurteile gegen Zondi immer wieder auch die Diskriminierung der Schwarzen, aber dennoch sind die Ermittler als Polizisten eben auch Repräsentanten des Systems, das sie mit ihren Ermittlungserfolgen zumindest indirekt legitimieren. 14 Möglicherweise ist es auch dieser Zwiespalt, der dafür sorgte, dass schwarze Autoren die Gattung der Kriminalliteratur kaum nutzten. Zwar erschienen in den 1950er Jahren in dem von und für Schwarze publizierten Magazin Drum neben der journalistischen Berichterstattung über reale Kriminalität auch die KrimiKurzgeschichten Arthur Maimanes (unter dem Pseudonym Arthur Mogale) mit dem Privatdetektiv Chester Morena als Hauptfigur, doch dienen diese Texte kaum der kritischen Auseinandersetzung mit den realen sozialen Gegebenheiten. In der Analyse Michael C h a p m a n s etwa habe der Autor für das >Problem< der unge-

12 Dies gilt insbesondere für Gillian Slovo, die Südafrika im Alter von 12 Jahren (mit ihren Eltern) verließ und deren Krimis in Großbritannien spielen. Die Kramer/Zondi Romane McClures dagegen entstanden zwar in Großbritannien, spielen aber im Südafrika der 1960er Jahre. 13 Zum Konservativismus des Genres siehe PORTER (wie Anm. 8), S. 115-129. Beispielsweise führt Porter aus: »in representing crime and its punishment [...] detective novels invariably project the image of a given social order and the implied value system that helps sustain it«. Weiter argumentiert er, dass in Detektivgeschichten das Rechtssystem nicht hinterfragt werde: »the law itself is never put on trial« (S. 121 f.). 14 Wohl auch deshalb waren die meisten Romane der beiden Autoren in Südafrika erhältlich. Nur MCCLURES The Sunday Hangman (1977), in dem es u. a. um das südafrikanische Gefängniswesen und die Todesstrafe geht, war von 1977 bis 1995 verboten; EBERSOHNS Divide the Night (1981) wurde kurz nach seinem Erscheinen zunächst verboten, der Bann dann aber bereits im Dezember 1981 wieder aufgehoben. Siehe Datenbank des Internetportals »Beacon for Freedom of Expression«, U R L : http://www.beacanforfreedom.org/ (01.03.2007).

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rechten Gesellschaftsordnung eine eskapistische >Lösung< gefunden: »remove your protagonist form the demands of social dynamics, create a fictitious >Golden Cityhistorisch interessiert< sind und in deren Zentrum ein Verbrechen und dessen Aufklärung stehen. Insbesondere Andre Brink, der seine Karriere als afrikaanser Autor begann, mittlerweile aber bilingual - afrikaans und englisch - arbeitet und in beiden Sprachen publiziert, setzt sich in seinem Werk immer wieder mit der südafrikanischen Vergangenheit auseinander. Zwei seiner Romane aus unterschiedlichen Perioden der jüngeren politischen Geschichte Südafrikas sollen hier besprochen werden. Der erste Roman, Α Chain of Voices (afrikaans Houd-den-bek, dt. Die Nilpferdpeitsche) ist 1982, also während der Apartheid, erschienen, der zweite, Devil's Valley (afr. Duiwelskloof, bisher keine deutsche Ubersetzung) erschien 1998, im >neuen< Südafrika nach den ersten demokratischen Wahlen von 1994.17 Ich werde im folgenden untersuchen, wie Brink Strategien des historischen Romans und des Kriminalromans verknüpft, um sowohl das Konzept Geschichtsschreibung zu hinterfragen als auch Kritik an der jeweils zeitgenössischen politischen Situation Südafrikas zu üben.

15 Siehe MICHAEL CHAPMAN: More than Telling a Story. Drum and its Significance in Black South African Writing. In ders. (Hg): The >Drum< Decade. Stories from the 1950s. Pietermaritzburg 1989, S. 183-232, hier S. 206. Chapman stellt auch fest, viele Geschichten der Zeitschrift Drum »have been seen in fact as politically naive or, at least, disdainful of politics« (S. 208). 16 GREEN (wie Anm. 9), S. 96-97; siehe auch CHAPMAN (wie Anm. 15), S. 206, der die Figur des Detektivs als »trickster-figure« bezeichnet. 17 ANDRFI BRINK: Α Chain of Voices. London 1982; ders.: Devil's Valley. London 1998. Alle weiteren Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgaben.

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Α Chain of Voices hat in den drei Sprachen Afrikaans, Deutsch und Englisch sehr unterschiedliche Titel, die verschiedene Aspekte des Romans in den Vordergrund stellen. Houd-den-bek

ist zunächst der Name einer Farm, auf der ein Groß-

teil der Handlung angesiedelt ist, doch auch die >eigentliche< Bedeutung des Namens, etwa >halt die KlappeNilpferdpeitscheGalant-Rebellion< bekannt wurde. Dabei verwendet Brink einen >Rahmen< historischer Dokumente: am Anfang steht die - leicht veränderte 19 - Anklageschrift Daniel Denyssens, die elf Angeklagten, bis auf einen alles Sklaven oder Khoisan, vorwirft, sich gegen ihre weißen Besitzer beziehungsweise Arbeitgeber verschworen und mehrere von ihnen verwundet oder getötet zu haben. Die Anklageschrift ist kursiv gesetzt und mit dem Zusatz

»(Signed) D. DENYSSEN, Fiscal's Office, Cape of Good Hope, 10 March 1825« versehen, auf die relative >Echtheit< des Textes weist Brink jedoch nicht explizit hin. 20 Es folgen 84 einzelne Abschnitte, manche nur wenige Sätze, andere mehre-

18 PATRICIA VAN DER SPUY, die sich u. a. intensiv mit dem Gender-Aspekt der >Galant-Rebellion< auseinandersetzt, nennt die Nilpferdpeitsche »the necessary means of asserting settler masculine superiority« gegenüber männlichen Sklaven und Farmarbeitern. Dies.: >Making himself masters

Galant's Rebellion Revisited. In South African Historical

Journal

34 (1996), S. 1-28, hier S. 7.

19 Die gesamte Gerichtsverhandlung ist in den Records of the Cape Colony dokumentiert. Geht man davon aus, dass diese Quelle zuverlässig ist und Brink keine anderen Originaldokumente vorgelegen haben, so besteht die auffälligste Veränderung in der Anzahl der Angeklagten: in der tatsächlichen Verhandlung waren es 13, bei Brink sind es 11 Angeklagte, wobei er einen Namen ändert und zwei Khoisan (im Text >Hottentotten< genannt) nicht erwähnt. Weitere Änderungen Brinks dienen offenbar vor allem der besseren Verständlichkeit. So werden in der Liste der Angeklagten jeweils deren Alter und Herkunft angegeben, und auch im eigentlichen Text der Anklageschrift ergänzt Brink gelegentlich Namen oder Funktionen der Figuren. Vgl. GEORGE MCCALL THEAL (Hg. und Kopist): Records of the Cape Colony. Copied for the Cape Government, from the Manuscript Documents in the Public Records Office, London, Bd. X X , Februar bis April 1825. London 1904, S. 188-341, hier S. 188-204. 20 In einem früheren Roman, An Instant in the Wind, war Brink den umgekehrten Weg gegangen. Dort gibt er vor, die (fiktionale) Erzählung beruhe auf einer wahren Begebenheit, doch die angegebenen Dokumente sind samt der vermeintlichen Signaturen der Kapstadter Bibliothek nicht existent. Vgl. ders.: An Instant in the Wind. London 1976, S. 9-15.

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re Seiten lang, in denen die Ereignisse jeweils aus der Perspektive und in den Worten einer am Geschehen beteiligten Person geschildert werden. Diese Abschnitte sind somit gewissermaßen die >Zeugenaussagen< von insgesamt 30 verschiedenen Personen (die Hälfte von ihnen Weiße), wobei die Hauptfiguren mehrfach zu Wort kommen - allen voran der Hauptangeklagte Galant, aber auch sein Jugendfreund und späterer Besitzer Nicolaas und die weiße Frau Hester, die zwischen den beiden steht.21 In diesen Passagen folgt Brink teilweise den Informationen, wie sie den dokumentierten Aussagen der historischen Verhandlung zu entnehmen sind, teils weicht er aber auch deutlich ab - etwa, wenn er Galant und Nicolaas fast gleichaltrig und den Farmer Barend zu Nicolaas' Bruder macht, wohl um den Konflikt zuzuspitzen. 22 Durch diese Kette der 84 Zeugenaussagen wird der Leser in die Rolle eines Richters versetzt, der nach dem Verlesen der Anklageschrift nun die Aussagen der Beweiserhebung zu einer zusammenhängenden Erzählung zusammenfügen muss, um am Ende das Urteil zu sprechen. Die Parallelen zur Arbeit eines Historikers, der aus unterschiedlichen Quellen einen Geschichtstext produziert, sind gleichfalls deutlich. Allerdings ist der Vergleich mit Zeugenaussagen insofern irreführend, als auch die Ermordeten, wie beispielsweise Nicolaas, ihre Aussagen machen. Auch stilistisch halten sich nur einige der Abschnitte an die Textsorte Zeugenaussage, andere lesen sich eher wie Tagebucheinträge oder Selbstgespräche. Zudem passen in vielen Abschnitten weder der theoretische Reflexionsgrad noch das verwendete Vokabular zu den Figuren und deren historischem Kontext. 23 Am Ende des Romans schließt Brink den >faktischen< Rahmen: Das tatsächliche Urteil wird abgedruckt und ist, wie zuvor die Anklageschrift, durch Kursivdruck vom Rest des Textes abgesetzt. Hierbei unterstreicht Brink die politische Bedeutung des Falles, indem er das Schlussplädoyer der Anklage - in der die Gefahr einer Sklavenrevolte als Bedrohung für das gesamte soziale Gemeinwesen dargestellt und die gute Behandlung der Sklaven durch ihre Besitzer behauptet wird - als die Abschlussbemerkung des Gerichts darstellt und den rassistischen

21 Auf Galant entfallen elf Passagen, auf Nicolaas sieben und auf Hester sechs. Die anderen Charaktere kommen zwischen ein- und viermal zu Wort, wobei insgesamt nur neun Figuren in jedem der vier Teile des Romans vertreten sind. Es ergibt sich somit einerseits der Eindruck einer Polyphonie, andererseits werden die Hauptfiguren klar erkennbar und prägen mit ihrer Sicht die Erzählung. 22 Tatsächlich war Willem Nicolaus van der Merwe zehn Jahre älter als der Sklave Galant, und Barend van der Merwe, trotz der Namensgleichheit, kein naher Verwandter Willems; vgl. ROBERT ROSS: Cape of Torments. Slavery and Resistance in South Africa. London 1983, hier S. 106 und S. 111. 23 Ahnlich argumentiert auch Julian Moynahan, der darin Brinks Absicht reflektiert sieht, Sklaverei als soziales und menschliches Phänomen umfassend zu untersuchen: Slaves Who Said No. The New York Times, Books, 13.06.1982. URL: http://www.nytimes.com/books/99/03/21/specials/ brink-chain.html (01.03.2007).

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Ansichten somit größere Legitimität verleiht. Das reale Gericht folgte der extremen Sicht der Anklage jedoch nur zum Teil, insbesondere war es nicht gewillt, das geforderte Exempel im beantragten Umfang zu statuieren: es verhängte nur gegen drei der zwölf angeklagten Schwarzen die Todesstrafe, nicht wie von der Anklage gefordert gegen elf. Der Roman endet also mit dem historischen Urteilsspruch. Allerdings hat der Leser in den >Zeugenaussagen< eine Version der Ereignisse erhalten, die dem Gericht so nicht zur Verfügung stehen konnte (und wie sie auch einem Historiker nicht zugänglich sein kann). Und so ist es wenig verwunderlich, dass der historische Schuldspruch mit dem Leserurteil (vermutlich) nur teilweise übereinstimmt. Dabei ist die Verurteilung Galants am ehesten durch den Leseeindruck gedeckt, da der Mord an Nicolaas auch im Kontext eines legitimen Sklavenaufstands nicht zu rechtfertigen ist. Das Urteil spricht jedoch den weißen Angeklagten Campher vom Vorwurf der Aufwiegelung frei, was im Widerspruch zu dessen fiktiven Aussagen im Roman steht;24 zwei schwarze Angeklagte werden dagegen für eine Tat verurteilt, die sie für den Leser eindeutig nicht begangen haben. Zudem wird in der Urteilsbegründung deutlich, dass dem Gericht viele Zusammenhänge verschlossen bleiben, die die verschiedenen Stimmen des Textes dem Leser offenbaren. In der >chain of voices< werden somit zwar gerade auch die Stimmen hörbar, die in der offiziellen Geschichtsschreibung oder im parteiischen Rechtssystem sonst kein Gehör finden - der Titel der afrikaansen Ausgabe (Houd-den-bek, >halt die KlappeWahrheit< verborgen bleibt. Unschuldige werden verurteilt, Schuldige werden frei gesprochen, und ein >Verbrechen< im Sinne der Apartheidsgesetzgebung, das immer wieder im Zentrum von Brinks Romanen steht, bleibt gänzlich unentdeckt: die sexuelle Beziehung einer weißen Frau (Hester) und eines schwarzen Mannes (Galant). 27 Für Leser, die den historischen >Kern< des Romans als nicht-fiktional erkennen, wird diese gerichtskritische Bedeutung des Romans noch unterstrichen, auch wenn die >Zeugenaussagen< ihren Status als Fiktion nicht verschleiern. Wenn auch nur indirekt, so problematisiert der Roman neben der juristischen Wahrheitsfindung auch das Konzept der Geschichtsschreibung. Denn während das Gericht noch direkt mit Beteiligten und Augenzeugen kommunizieren kann, ist der Historiker meist auf überlieferte Dokumente angewiesen. Im konkreten Fall wären dies die Aufzeichnungen der Gerichtsverhandlung in den Records of the Cape Colony, die vermutlich auch Brink verwendete. Die verschiedenen Stimmen des Romans jedoch bleiben dem Historiker verschlossen, die >chain of voices< reicht nur über den fiktionalen >Umweg< des Romans bis in die Gegenwart. In der offiziellen Geschichtsschreibung während der Apartheid findet der Fall zumeist keine Erwähnung, da ein Sklavenaufstand dem Mythos einer >humanen< Sklaverei mit zufriedenen Sklaven in Südafrika zuwidergelaufen wäre. 28 Einer alternativen

27

Hier greift Brink ein Gerücht auf, das auch in der historischen Gerichtsverhandlung zur Sprache gekommen war, dass nämlich Barends Frau von einem oder mehreren der Rebellen vergewaltigt worden sei. In der Verhandlung wird die betroffene Frau dazu befragt und verneint, dass es zu sexuellen Ubergriffen gekommen ist. Vgl. THEAL (wie Anm. 19), S. 283-284.

28 NLGEL WORDEN U. a. etwa führen aus, »very few books published before 1980 have more than a few paragraphs about slavery«, und in diesen suggeriere die Darstellung, dass »slaves accepted their position in society and were on good terms with their owners«. Dies zeigt sich beispielsweise in

Five Hundred

Years. A History of South Africa - eine »offiziell· sanktionierte Version der Geschichte

- das die südafrikanische Sklaverei insgesamt in einem sehr positiven Licht darstellt: »Slavery at the Cape f...] was not [...] the inhumane institution which it was elsewhere. [...] in general the White inhabitants of the Cape did not treat their sevants with undue harshness«. In dieses Märchen einer >humanen< Sklaverei, die nur >begründete< Gewalt anwendet, passt die Tatsache eines Sklavenaufstandes natürlich nicht, und die Galant-Rebellion findet dementsprechend keine Erwähnung. V g l . NIGEL WORDEN, RUTH VERSFELD, DOROTHY DYER u n d CLAUDIA BICKFORD-SMITH:

The

Chains That Bind Us. A History of Slavery at the Cape. Kenwyn 1 9 9 6 , S. 1 0 und C.F. MULLER (Hg.): Five Hundred

Years. A History of South Africa. 2. Auflage. Pretoria 1975, S. 139.

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Geschichtsschreibung stehen ebenfalls nur die überlieferten Dokumente zur Verfügung, die persönliche Sicht der Beteiligten, die nicht in den Verhandlungsprotokollen enthalten ist, erhält nur in der fiktiven Form des Romans eine Stimme. 29 Dieses grundlegende Problem der Geschichtsschreibung - das Verschwinden >unterdrückter< Stimmen - wird in diesem Roman allerdings nur indirekt, über die besondere Form der narrativen Vermittlung, erkennbar: das Fehlen einer einheitlichen Erzählerfigur wirft die Frage auf, wer in dem Roman eigentlich spricht, beziehungsweise welche Vermittlungsarbeit im Roman geleistet wird. Die scheinbar >ungefilterteunvermittelte< Aneinanderreihung der 84 Ich-Aussagen suggeriert Authentizität, die aber letztlich nicht gegeben sein kann - nicht zuletzt, da Tote nicht mehr sprechen können. Somit wird die Fiktionalität des Romans gerade in der Leerstelle der Erzählerposition hervorgehoben; die scheinbar neutrale Präsentation ohne den subjektiven Blickwinkel des ordnenden Erzählers kann historische >Wahrheit< nur fingieren - wobei die anachronistische Sprache der einzelnen Aussagen diesen >Wahrheitsanspruch< zugleich durchbricht. 30 Während die Dimension des Historikers beziehungsweise der Geschichtsschreibung hier nur indirekt, über das historische setting und die Frage nach der Vermittlungsinstanz, thematisiert wird, spielt beides in Brinks Roman Devil's Valley eine sehr viel zentralere Rolle. Dessen Hauptfigur, Flip Lochner, ist ein mittelmäßiger Journalist, der sich auf Kriminalfälle spezialisiert hat. Vor seiner Zeitungsarbeit hatte Lochner Geschichte studiert - in seiner Person wird die Aufklärung von Verbrechen mit historischen Recherchen und dem Prozess der Geschichtsschreibung daher augenfällig verbunden. Durch eine Zufallsbegegnung wird Lochner an sein abgebrochenes Dissertationsprojekt erinnert, in dem er die Geschichte einer von der Außenwelt abgeschlossenen weißen Siedlung im

29 Nach dem Ende der Apartheid kann Galants Aufstand nun als früher Widerstand gegen die Unterdrückung interpretiert werden und findet somit Eingang in die offizielle Version der Geschichte, so etwa in der vom südafrikanischen Bildungsministerium herausgegebenen Darstellung Every Step of the Way (MICHAEL MORRIS: Every Step of the Way. The Journey to Freedom in South Africa. Cape Town 2004). Das für Schulkinder konzipierte Buch The Chains that Bind Us widmet dem Aufstand sechs (von insgesamt 108) Seiten, wobei auf fünf Seiten Auszüge aus Galants Vernehmungsprotokoll abgedruckt werden. In diesem Buch werden die Schüler auch explizit aufgefordert, den Aufstand imaginativ >nachzuspielentruth< of the historical event possible; also, it is the author's duty to search for such access.« Dies erscheint jedoch insofern problematisch, als der Text die Verwendung historischer Dokumente nicht explizit macht, und diese Tatsache so für viele Leser unklar bleiben dürfte. Dies.: Colonization, Violence, and Narration in White South African Writing. Andre Brink, Breyten Breytenhach, and J.M. Coetzee. Johannesburg 1996, S. 32.

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namensgebenden >Teufelstal< untersuchen wollte. 31 Er lernt den jungen Lukas kennen, der als erster Bewohner des Teufelstals die Dorfgemeinschaft verlassen hat, um zu studieren. Doch Lukas stirbt, bevor er sich mit Lochner unterhalten kann. N u n möchte Lochner die Asche des verunglückten Lukas an dessen Geburtsort in dem isolierten Tal zurückbringen. Schnell erkennt Lochner, dass die verschworene Gemeinschaft der Dorfbewohner dunkle Geheimnisse birgt, und das historisch-journalistische Interesse wandelt sich in ein kriminalistisches. Zu den - vermuteten - Verbrechen der Vergangenheit kommen bald konkrete Verbrechen der Gegenwart. Eine alte Dorfbewohnerin wird ermordet, bevor sie sich mit Lochner unterhalten kann, und auf Lochner selbst wird ein Brandanschlag verübt. Seine Nachforschungen fördern Kinderknochen zutage, deren genaue Herkunft jedoch unklar bleibt. Insgesamt wirkt Lochners Anwesenheit wie ein Katalysator, der die Dorfbewohner zwingt, sich mit verdrängten Aspekten ihrer Identität und ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen. Im Zentrum der vergangenen Verbrechen stehen auch hier letztlich die gewaltsame Landnahme sowie die Unterdrückung der Schwarzen, die gewissermaßen als >Erbsünde< an das Apartheidsystem weitergegeben wurden. Die Dorfbewohner müssen erkennen, dass der identitätsstiftende Mythos des reinen >weißen Blutes< nicht aufrecht zu halten ist: Auch wenn die genauen Umstände ungeklärt bleiben, da es verschieden Versionen der Geschichte gibt, wird doch deutlich, dass die Dorfgemeinschaft auch auf die Mischehe des Gründungsvaters mit einer Khoikhoi zurück geht. Während Lochner so die Bigotterie und Scheinheiligkeit der Dorfbewohner entlarvt, erweist sich die in Gang gesetzte Reaktion innerhalb der Gemeinschaft als nicht mehr kontrollierbar. Brink spiegelt diese gesellschaftliche Entwicklung in der Darstellung eines aufziehenden Unwetters, und am Ende versinkt das Tal im Chaos von Gewittersturm und Feuer. Auf der gemeinsamen Flucht wird Lochners Geliebte Emma erschossen und nur Lochner überlebt, doch eine verifizierbare >Wahrheit< (im kriminologischen oder historischen Sinn) hat er nicht gefunden. In Α Chain of Voices war der Leser in einer privilegierten Position: als indirekter Adressat von Ich-Erzählungen, deren Glaubwürdigkeit nicht prinzipiell in Zweifel gezogen wird, kann er die verschieden Fäden zu einer Geschichte im Sinne der grande ecriture verbinden - auch wenn diese sich nicht mit der >offiziellen< Geschichtsschreibung beziehungsweise dem Urteilsspruch deckt. Auch in Devil's Valley gibt es eine Vielstimmigkeit, deren Synthese zu einer konsistenten Erzählung bleibt Lochner jedoch verwehrt; die einzelnen Geschichten sind so widersprüchlich, dass sie sich nicht zu einem Gesamtbild verbinden lassen. Dies wird auch Lochner bewusst:

31 Dieses Tal und das isolierte Dorf haben im Gamkas Kloof im Gebirgszug Swartberg (Little Karoo) ein reales Vorbild, der R o m a n wird von Brink jedoch in einer »Author's Note« explizit als Fiktion gekennzeichnet.

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A t the time I still thought that perhaps one day I could manage to put all the bits and pieces together and make sense of them. N o w I'm no longer s o sure. N o t because there are so many stories I've not yet heard, but because I suspect that even if I were to k n o w them all there w o u l d still not be a whole, just an endless gliding f r o m one to another. (S. 368)

Das Bild der Geschichten, die endlos ineinander gleiten, erinnert wohl nicht zufällig an Lacans entgleitende Signifikate - »an incessant sliding of the signified under the signifier« - beziehungsweise Derridas Konzept endloser Implikationen und Verweise - »infinite implication, the indefinite referral of signifier to signifier«.32 Die jeweils neueste Version einer Geschichte fungiert als supplement im Sinne Derridas, da sie einerseits zur vorangegangenen Version jeweils etwas hinzufügt, andererseits aber gleichzeitig die alte Version, die sich als endgültig gesehen hatte, ersetzt - und sich selbst als abschließend betrachtet. Dabei kann jede Geschichte die anderen nicht gänzlich ersetzen, und in der Addition entsteht nicht etwa Klarheit, die Mehrdeutigkeit wird vielmehr gesteigert. Eine eindeutige Festlegung ist nicht möglich, da Geschichten - wie die Bedeutung von sprachlichen Zeichen überhaupt - nicht fixierbar sind, sondern sich erst aus den Differenzbeziehungen zu anderen Geschichten und anderen Zeichen ergeben. Brink verwendet hier, wie auch in anderen seiner Romane, philosophische Modelle, die das Konzept einer empirischen, überindividuellen >Wirklichkeit< äußerst kritisch hinterfragen, und knüpft damit bewusst an Traditionslinien der literarischen Postmoderne an.33 Auch diese Skepsis ist für Kriminalliteratur nicht unüblich, und sie ist älter als das Phänomen >PostmoderneThe Murders in the Rue Morguemystery and murder novels< verfolgen nicht nur die Aufklärung von Verbrechen, sie sind gleichzeitig Untersuchungen der ethnischen Konflikte in Großbritannien. Während die Sam Dean-Romane weitgehend in London spielen, bewegt sich der jüngste Thriller, A Shadow of Myself, weit über die Grenzen der Inselnation hinaus: Seine Schauplätze sind Hamburg, Berlin, Prag und Moskau; London erscheint als beschaulicher Rückzugsort, Manchester hingegen als einer der vorübergehenden Knotenpunkte eines internationalen Netzwerks. Die vielfältigen Handlungsstränge entwickeln sich um die Figuren des schwarzen Londoner Dokumentarfilmers Joseph Coker und seines in Ostberlin aufgewachsenen Bruders George Coker. Ohne von der Existenz des Bruders - und gewissermaßen Doppelgängers - zu wissen, wird Joseph von George bei einem internationalen Filmfestival in Prag aufgespürt und unfreiwillig in dessen Probleme verwickelt, die vom Uberlebenskampf in einem Chaos aus Korruption und mafiosen Machenschaften herrühren. Die starke historische Komponente des Romans manifestiert sich in der rätselhaften Figur des Kofi Coker, Josephs und Georges ghanaischem Vater. Dieser lebt seit dem abrupten Ende seiner diplomatischen Ausbildung in Moskau ein zurückgezogenes Leben in London. 6

STUART HALL: M i n i m a l S e l v e s . I n HOUSTON A . BAKER, MANTHIA DIAWARA u n d RUTH H . L I N -

(Hg.): Black British Cultural Studies. Α Reader. Chicago 1996, S. 114-119, hierS. 116. Phillips in einem Interview mit Ciaire Wells aus dem Jahr 1995, zitiert in CLAIRE WELLS: Writing Black. Crime Fiction's Other. In KATHLEEN GREGORY KLEIN (Hg.): Diversity and Detective Fiction. Bowling Green 1999, S. 205-223, hier S. 210. PETER FREESE: The Ethnic Detective. Chester Hirnes, Harry Kemelman, Tony Hillerman. Essen 1992, S. 9. DEBORG

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8

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Eva Ulrike Pirker

A Shadow of Myself ist ein historischer Thriller, in dem aus der Perspektive schwarzer Figuren menschliches Leben und Handeln in den Kontexten des sozialistischen Osteuropa und der neuen Ära nach dem Kalten Krieg imaginiert wird. Zu den Gründen, warum er gerade den (Polit)krimi gewählt hat, um die Bedeutung dieser spezifischen Vergangenheit zu vermitteln, äußert sich Mike Phillips wie folgt: Writing crime fiction [ . . . ] had begun to demonstrate that I had a subject which didn't confine me within the colour of m y skin, but which gave me a platform from which I could exploit m y roots in the experience of being black in Britain, while linking my writing to themes which extended beyond race and location. 9

Phillips steht mit seiner Programmatik nicht allein. Hans-Peter Schwarz sieht eine große Zahl von Politthrillern als litterature engagee: [D]ie Thriller-Schreiber begnügen sich nicht mit der Schilderung des Grauens der modernen Zeitgeschichte. Erstaunlicherweise legen zumindest die bedeutendsten Mitglieder dieser Zunft ein ganz bemerkenswertes politisches Engagement an den Tag. [ . . . ] Es ist erstaunlich, wie penetrant und wie schamlos sie das Medium dieses Genres nutzen, um - bald ganz unverblümt, bald mehr unterschwellig - ihre recht unterschiedlichen politischen Botschaften zu verkünden. [ . . . ] Der Polit-Thriller ist also manches gleichzeitig. E r ist eine Sonderform des Kriminalromans, die in den Korridoren der Geheimdienste und der hohen Politik spielt. E r ist ein mit politischer Thematik befrachteter moderner Abenteuerroman. E r ist aber auch Zeitkritik und litterature engagee. 10

A Shadow of Myself erfüllt all diese Kriterien; das Politische durchdringt den Roman mit Vehemenz: Die Handlung entfaltet sich vor dem Hintergrund der großen Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Suche nach der optimalen Organisation von Gesellschaften, des Scheiterns einiger dieser Experimente und des Erbes (Ruinen wie Goldgruben), das Individuen und Gesellschaften in das neue Jahrtausend tragen.11 Auch die Aura der Geheimdienstkorridore des Kalten Krieges wird erfolgreich evoziert, die Leser erleben die Szenerie dieser vergangenen (heute in ihrer abstrakten Bedrohung beinahe mythisch anmutenden) Welt aus der Perspektive eines unerfahrenen >Lehrlings< der Systeme; sie wohnen Schießereien in Hinterzimmern ebenso bei wie gepflegten Verhandlungen mit den Oligarchen

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STERNBERG (wie A n m . 1), S. 155.

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HANS-PETER SCHWARZ: Phantastische Thrillers.

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A Shadow

Wirklichkeit.

Das 20. Jahrhundert

im Spiegel

des

Polit-

M ü n c h e n 2 0 0 6 , S. 9 - 1 1 . of Myself ist in m a n c h e r H i n s i c h t paradigmatisch für die Literatur, die u m die J a h r t a u -

sendwende und n o c h v o r dem 11. September 2 0 0 1 geschrieben w u r d e . D a s H i s t o r i s c h e erlebte in R o m a n , F i l m und K u n s t gerade in dieser Zeit einen g r o ß e n A u f s c h w u n g , und ein Bedürfnis nach der Klärung großer, epochaler F r a g e n w a r auch im kulturellen Bereich spürbar.

Keine weiße Geschichte

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der neuen Welt. Doch A Shadow of Myself entspricht auch der zweiten Feststellung von Schwarz zum Politthriller: Mit dem Einschreiben schwarzer europäischer Identitäten in die jüngere Geschichte Europas, seiner Trennung und seines neuen Zusammenwachsens, reiht sich Phillips' Roman ein in eine engagierte, kritische Literatur. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, welcher literarischer Mittel sich der Autor zu diesem Zwecke bedient.

A Shadow of Myself: Analyse und Interpretation Zunächst ist auf den ersten Blick festzustellen, dass es sich bei A Shadow

of Myself

um einen Roman in Fragmenten handelt, die ganz nach kriminalistischer Manier zusammengefügt werden müssen, um Sinn zu ergeben. Sechs Teile sind in insgesamt zweiunddreißig Kapitel untergliedert. Die Teile sind mit Orts- und Zeitangaben der Handlungsgegenwart überschrieben (»Hamburg, September 1998«, »Prague, September 1999«, »London, September 1999«, »Prague, September 1999«, London, September 1999«, »Berlin, September 1999«). Bis auf die LondonAbschnitte und den zweiten Prag-Abschnitt, die zeitsynchron stattfinden (hier werden die Stränge geteilt, und die Leser begleiten sowohl Joseph in der britischen Metropole als auch George in Prag), folgen die Teile chronologisch aufeinander. Die einzelnen Kapitel sind jedoch - abgesehen von einigen wenigen aktions- und dialogreichen Brückenkapiteln, die die Handlung vorantreiben - reich an Analepsen, also Rückwendungen in die Vergangenheit, welche die Geschichte der einzelnen Figuren und ihrer jeweiligen Kontexte eindrücklich wiedergeben. Uberhaupt scheint der Schwerpunkt des Romans in einer konsequenten Ausgrabung der Geschichten einzelner Figuren zu liegen mit dem Ziel, die Handlungen dieser Figuren in verschiedenen Situationen erklärbar und transparent zu machen. Die Handlung ist, gemäß den Anforderungen an einen guten Thriller, aktionsgeladen und komplex; die Zahl der Akteure und Charaktere ist nur schwer überschaubar. Kofi, in Ghana aufgewachsen, heuert mit seinem Vater als Schiffsarbeiter an. Er wird nach Manchester verschlagen, wo er 1945 mitten in die Vorbereitungen für den Fünften Panafrikanischen Kongress gerät und als Laufbursche für die Veranstaltungen angestellt wird. 12 Aufgrund der hier entstehenden Beziehungen zu großen Köpfen der afrikanischen Politik wird er nach Selbststudien als Stipendiat nach Moskau geschickt. Dort verliebt er sich in seine Sprachlehrerin, Katya. Als die beiden eine Beziehung eingehen, wird Kofi unter falschem Vorwand aus der UdSSR geschafft und sieht Katya nicht wieder.

12 Diese Zusammenkunft von Politikern und Intellektuellen Afrikas und der black diaspora in Manchester stand im Zeichen der kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen.

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Katya, mit George schwanger und nicht zu einer Abtreibung bereit, wird nach Ostberlin >versetztanderen< Familie. Kofi, der bereits jede Hoffnung auf eine erfüllte Zukunft aufgegeben und sich nach dem Scheitern seiner Ehe mit Josephs Mutter endgültig in die Vergangenheit zurückgezogen hat, indem er an seinen Memoiren schreibt, beschließt nach Berlin zu fliegen. Joseph begleitet ihn und wird zunächst für George gehalten, zusammengeschlagen und, während der Rest der Familie die Zusammenführung feiert, entführt. George und Valentin befreien Joseph, doch das Problem des illegalen Kunstbesitzes bleibt ungelöst. Schlussendlich ist es Kofi, der mittels eines alten Kontakts eine Lösung herbeiführt. Die Komplexität der Handlung ist eine Anforderung des Genres und treibt den hochgespannten Leser von einer Seite zur nächsten. Sie dient hier vor allem aber der raffinierten Verpackung von Phillips' eigentlichem Anliegen, nämlich der Ver-

13 Die Charta 77 bezeichnet eine im Januar 1977 aufgesetzte Petition tschechoslowakischer Bürger, in der die Achtung der Menschenrechte eingefordert wurde. Das Manifest wurde zunächst in der westlichen Presse veröffentlicht; viele der Unterzeichner erfuhren massive Repressionen durch das kommunistische Regime. Dennoch wuchs die Initiative in den 1980er Jahren zur größten Oppositionsbewegung der CSSR an.

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mittlung eines bestimmten Bildes von der Zeit, die der Verbrechenshandlung vorausgeht, aber entscheidend ist für das Verhalten der Figuren auch in diesem Plot. In Angriff genommen wird hier nicht so sehr die Bewältigung von Vergangenheit, sondern ein Schritt, der dieser Bewältigung vorausgeht: Die Exkavierung einer in der europäischen Geschichte weitgehend vergessenen Vergangenheit und Einschreibung dieser Vergangenheit in eine allgemein geläufige Version. A Shadow of Myself erhebt nicht den Anspruch, die Geschichte der Teilung und Vereinigung Europas neu zu schreiben oder umzuschreiben, wohl aber kann man hier die Absicht erkennen, diese jüngere, vermeintlich vertraute Geschichte zu ergänzen, um wenig beachtete Aspekte ebenso wie um wenig beachtete Stimmen und Akteure. 14

Das Enigma Kofi Coker

Von Phillips in besonderer Weise hervorgehoben wird beispielsweise die Figur des Kofi Coker. Zentral wird Kofi nicht allein durch seine Rolle als verbindendes Element und sprichwörtliches Familienoberhaupt; auch erzähltechnisch kommt ihm eine besondere Rolle zu. Er allein darf eine homodiegetische Erzählerposition einnehmen, die sich in seinem in die Handlung eingefügten (beziehungsweise diese unterbrechenden) Lebensbericht manifestiert. Das zentral platzierte Diary of Desire, welches fünf Kapitel im London-Teil des Romans füllt, enthält Kofis Erinnerungen an seine Jugend und endet mit seinem >Rausschmiss< aus der Sowjetunion. Diese für den Krimiplot größtenteils unwichtigen Informationen werden von Phillips ausführlich ausgebreitet. Ziel ist das Entwickeln eines multidimensionalen schwarzen Charakters, der einen ungewöhnlichen Weg geht. Die Funktion des hier eingearbeiteten Buches im Buch ist vielsagend im Hinblick auf die Oppositionen >Erinnerung und Geschichte< sowie >Fakt und Fiktionmediale Vehikel< der Erinnerung, dessen sich Kofi mit dem Diary bedient, verweist außerdem auf das Projekt, welches der Autor Phillips mit A Shadow of Myself realisieren will: In Kofis Memoiren werden auf einer intradiegetischen Ebene ebenfalls solche Aspekte der Geschichte niedergeschrieben und sprichwörtlich fixiert, die in geläufigeren Versionen bislang nicht artikuliert sind. Die Geschichte des Kofi Coker ist von seiner Jugend an verwoben mit großen Kapiteln der Weltgeschichte. Die Bedeutung der panafrikanischen Kongresse für Millionen von Menschen beispielsweise ist in der europäischen Geschichte bis heute unterbeleuchtet, obgleich viele dieser Kongresse in Europa stattfanden.15 Damit kommt die grundsätzliche Frage der Selektivität von Erinnerung auf, nicht nur auf einer individuellen Ebene, sondern vor allem im Bereich des kollektiven Gedächtnisses und der Geschichtsschreibung, die Aleida Assmann als eine Manifestation des Siegergedächtnisses beschreibt.16 In Manchester selbst wird an den Kongress von 1945 vor allem im Rahmen des in Großbritannien alljährlich stattfindenden Black History Month erinnert und ansonsten durch zwei kleine rote Plaketten an der Chorlton Hall, dem Versammlungsgebäude, das für den Kongress genutzt wurde.17 Während die obere, runde Plakette an die Konferenz mit Hinweis auf deren Daten (»15th-21st October 1945«) und Bedeutung (»decisions taken at the conference led to liberation of African countries«) erinnert, nennt die 15 Vorangetrieben durch eine Zusammenkunft (unter der Leitung des Juristen Henry Sylvester Williams aus Trinidad) in London im Jahre 1900 fand der erste offizielle panafrikanische Kongress 1919 in Paris statt, gefolgt von einem Doppelkongress in Paris und Brüssel (1921); die dritte Verhandlungsplattform schloss neben Paris London und Lissabon ein (1923), und die vierte schließlich konnte in den USA in New York stattfinden (1927). Diese ersten Kongresse widmeten sich den colour bars und der Ungleichbehandlung von Schwarzen sowohl in der kolonialisierten Welt als auch in Europa und Nordamerika, wohingegen die folgenden Kongresse von dem Streben der ehemaligen Kolonien nach Unabhängigkeit bestimmt waren. Nach dem Kongress in Manchester, wo man sich unter anderem für den Einsatz von Waffengewalt gegen die Kolonialmächte aussprach, fand die sechste Zusammenkunft zwar erst 1974 statt, dafür aber erstmals auf dem afrikanischen Kontinent in Tansania. 16

ALEIDA ASSMANN u n d U T E FREVERT: Geschichtsversessenheit

gang mit deutschen Vergangenheiten

- Geschichtsvergessenheit.

Vom

Um-

nach 1945. Stuttgart 1999, S. 35-52. Assmann unterscheidet

hier vier Typen des kollektiven Gedächtnisses: Sieger-, Verlierer-, Opfer- und Tätergedächtnis. Innerhalb der Siegergruppe geht Erinnerung in Geschichtsschreibung über und wird institutionalisiert und in vielen Fällen zur Legitimierung bestehender Machtverhältnisse instrumentalisiert. Dass nicht nur die kollektive Erinnerung oder das Teilen von Anschauungen zur Aufnahme in ein Kollektiv führt, sondern auch primordiale Kodierungen (wie Rasse und ethnische Herkunft) eine Rolle spielen können, wird an Kofis Geschichte der Exklusion aus der UdSSR deutlich. Vgl. zu Kodes kollektiver Identitäten BERNHARD GIESEN: Kollektive Identität (Die Intellektuellen und die Nation 2). Frankfurt a. M. 1999. 17 Rote Plaketten erinnern, wie aus dem Internetauftritt der Stadt unter »Manchester History and Heritage« hervorgeht, an Ereignisse von sozialgeschichtlicher Bedeutung. U R L : http://www.manchester2002-uk.com/buildings/blue-plaques.html (10.09.2007).

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untere, rechteckige Plakette Namen einiger bekannter Teilnehmer wie Ras Makonnen, Kwame Nkrumah, Jomo Kenyatta, Amy Garvey, W.E.B. Du Bois und George Padmore. Dezidiert erwähnt wird in Kofis Erinnerungen neben dem intellektuellen Aktivisten Padmore aus Trinidad und dem späteren kenianischen Präsidenten Kenyatta auch der südafrikanische Schriftsteller Peter Abrahams. Als Padmores Begleitung taucht in den Memoiren zudem die berühmte Nancy Cunard auf, Schriftstellerin und Vamp, die der Reederfamilie Cunard aus Liverpool entstammte, welche im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem transatlantischen Sklavenhandel zu großem Reichtum kam.18 Besondere Bedeutung kommt der Figur des späteren ghanaische Präsidenten und Hoffnungsträgers Nkrumah zu, auch Osageyfo genannt, sowie der des Restaurantbesitzers und politischen Strippenziehers Ras Makonnen. Letzterer ist Kofis besonderer Gönner, der ihm zu Bildung und dem Stipendium in Moskau verhilft.

Die schwarze Präsenz in Europa Neben der Parade dieser großen Figuren der panafrikanischen Bewegung gibt A Shadow of Myself jedoch auch zahlreiche kleinere Hinweise auf eine schwarze Präsenz in Europa. Ein Beispiel ist der Abschnitt, in dem Radka Joseph erzählt, wie sie George kennengelernt hat: >At a recital of African poets in Berlin in '89. [...] I don't know why George attended. [...] He is bored by poetry. Of course he says he loves Pushkin, but that is because he's Russian. A special Russian, he says, like Pushkin.< Joseph guessed she was talking about Pushkin's African origins and he nodded in acknowledgement. 19

Einwürfe dieser Art werden nicht weiter ausgearbeitet und haben auch keinerlei Bedeutung für die Handlungsentwicklung. Sie dienen vielmehr dazu, die Leser stutzig zu machen und zu eigenen Nachforschungen anzutreiben. Diese ergeben beim eben genannten Beispiel, dass Puschkin, der für viele nicht nur der bedeutendste russische Dichter, sondern vor allem der Nationaldichter Russlands schlechthin ist, tatsächlich einen äthiopischen Großvater hatte, ein Einschlag, der, wenn man um ihn weiß, auch auf Bildern des Dichters erkennbar ist. Indem Phillips unter allen Aspekten die blackness der Nationalikone hervorhebt, schreibt er eine schwarze Präsenz in die russische Geschichte ein.

18 Nancy Cunards >going native* ist eine der kleinen Ironien der Geschichte, auf die Phillips unauffällig hinweist. 19 MIKE PHILLIPS: A Shadow of Myself. London 2001. S. 92-93. Alle weiteren Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.

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Auch wird mehrfach die Präsenz schwarzer Studierender aus Kuba oder aus den neuen unabhängigen Staaten Afrikas erwähnt. Radka hält George zunächst für einen Ausländer, »a student or teacher from somewhere like Cuba or Mozambique« (S. 87). Forscht man an dieser Stelle weiter, so kommt man auf eine nicht unerhebliche Präsenz von allein 15.000 Mosambikanern, die zwischen 1979 und 1990 pro Jahr als Vertragsarbeiter oder Studenten in die D D R kamen. 1982 wurde in Straßfurt die Schule der Freundschaft gegründet, eine »Kaderschmiede«, in der junge Afrikaner »in der D D R zu hervorragenden Sozialisten ausgebildet werden« sollten und die zunächst Mosambikanern (aufgrund eines Freundschaftsvertrages zwischen der D D R und Mosambik) offen stand, später aber auch Kinder aus Namibia aufnahm.20 Das Ziel dieser Ausbildung, wie auch der Aufnahme von Studierenden und Arbeitern aus den außereuropäischen >Bruderstaaten< war jedoch keinesfalls eine Integration in die DDR-Gesellschaft; schwarze Schüler, Studierende und Arbeiter wurden in eigenen Wohnheimen hermetisch von der weißen DDR-Gesellschaft abgetrennt, und wo dies nicht gelang, kam es gelegentlich zu rassistischen Ubergriffen von Seiten der weißen Bevölkerung. Eine ähnliche Situation schildert Kofi in seinen Memoiren über sein Leben in Moskau: We students lived in a kind of bubble outlined by our colour, our strangeness and our awkwardness with the language. The officials, teachers and other colleagues who were routinely encountered all had a position in the Party and a responsibility for our indoctrination, or for keeping us isolated from everything they considered undesirable a concept which covered a lot of ground. The people of the city, we also discovered, were discouraged from contact with foreigners. (S. 154)

Als Kofi in der ghanaischen Botschaft in Paris erfährt, dass sowohl sein Stipendium als auch sein Visum von den Autoritäten in Moskau ungültig gemacht wurden, fügt der Beamte noch hinzu: »You're not the first [...] to get in trouble over these women. But we expected more discipline from you« (S. 283). Die Erzählung von Kofis Erfahrungen als ausländischer Student im ehemaligen Ostblock ist repräsentativ für Tausende ähnlicher, meist nicht erzählter Geschichten. Festzuhalten ist daher, dass die facettenreiche Geschichte der schwarzen Präsenz im vormals kommunistischen Osteuropa ein Bereich ist, den es nicht nur in der Literatur, sondern vor allem in den Geschichts- und Kulturwissenschaften umfassend aufzuarbeiten gilt.21

20

URSULA TROPER:

Honeckers

Musterschüler.

In

Berliner

Morgenpost,

http://www.morgenpost.de/content/2007/05/20/biz/900693.html 21

20.07.2007,

URL:

(10.09.2007).

Gesellschaftlicher Rassismus w u r d e im so genannten »Ostblock* nicht nur als imageschädigend für das S y s t e m u n t e r den T e p p i c h g e k e h r t , s o n d e r n letztlich gegen die h e h r e n Ideale dieses S y s t e m s v o n institutioneller Seite perpetuiert. A u c h hierzu gibt es bislang k a u m einschlägige Studien. D e n n o c h kann die F o r s c h u n g auf einige allgemeinere Grundlagenarbeiten zurückgreifen: MARIANNE

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Die Ermittlerfigur In A Shadow of Myself geht es, wie in vielen Kriminalromanen unserer Tage, nicht mehr so sehr um das klassische Lösen eines Falles; vielmehr hat sich der Fokus auf das Vermitteln und Verhandeln zwischen Kulturen verlagert, wie Patricia Plummer feststellt. 22 Dies zeigt sich in Phillips' Roman schon in der Suche nach der eigentlichen Ermittlerfigur. Geläufige Konzepte der Detektivfigur müssen erweitert werden, denn hier taucht sie in Gestalt des naiven Dokumentarfilmers Joseph Coker auf. Joseph agiert recht verloren in dem beschriebenen Wirrwarr aus Figuren, Schauplätzen und Handlungen, um zwischendurch benommen festzustellen: »[T]he events which occurred in Prague had been the most important of his life« (S. 166). Der verlorene Joseph ist keine Ausnahme unter den Ermittlerfiguren in der Welt des modernen Thrillers oder Krimis - in der Tat stehen diese kaum noch über den Dingen, und oft werden sie wie Joseph selbst zum Teil des Falles, ist ihr persönlicher Weg mit der Verbrechenshandlung und ihren Akteuren verstrickt. Auch der zu ermittelnde Stoff weicht von klassischen Mustern der Kriminalerzählung ab: Joseph ist auf Identitätssuche und deshalb besonders an der Migrantengeschichte seines Vaters und anderer Afrikaner derselben Generation interessiert. Und anders als das reflexive Erinnerungsmedium, das Kofi mit seinen Memoiren verwendet, wählt Joseph den Dokumentarfilm, ein nach außen gerichtetes, zur Präsentation vor einem Publikum angelegtes Medium, um diese Geschichte darzustellen. Als er seine große Chance bekommt - einen Auftrag für eine Fernsehserie über »outsiders« (S. 60) - ist er jedoch den Spielen des Marktes und dem Quotendruck ausgeliefert und erzählt letztlich eine Geschichte, die zwar bei einem Mainstreampublikum erfolgreich ist, der von den interviewten Migranten erfahrenen Wirklichkeit aber kaum entspricht. 23 Vor allem seinem Vater kommt Joseph dadurch nicht näher - er muss, wie die Leser, die gesamte Roman-

Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR. Münster 1991; EVA-MARIA ELSNER und LOTHAR ELSNER: Zwischen Nationalismus und Internationalismus. Über Auslander und Ausländerpolitik in der DDR. Rostock 1994; HANS-JOACHIM DÖRING und UTA RÜCHEL (Hg.): Freundschaftsbande und Beziehungskisten. Die Afrikapolitik der DDR und der BRD gegenüber Mosambik. Frankfurt a. M. 2005. Informativ ist auch VLJOY BATRA: Studieren bei Freunden? Das Ausländerstudium an den Universitäten der Sowjetzone. Bonn 1962. 22 PATRICIA PLUMMER: (V) Ermittlungen zwischen den Kulturen. Der zeitgenossische KriminalroKRÜGER-POTRATZ:

m a n als post-feministisches u n d post-ethnisches P r o j e k t . In LlESEL HERMES, ANDREA HIRSCHEN

und IRIS MEIßNER (Hg.): Gender und Interkulturalität. Ausgewählte Beiträge der 3. Frauen-/Gender-Forschung in Rheinland-Pfalz. Tübingen 2002, S. 81-90, hier S. 82. 23 Diese fiktive Situation spiegelt Phillips' eigene Erfahrungen als Coautor der TV-Serie Windrush wider. Siehe Phillips in EVA ULRIKE PLRKER: For me, familiarity and strangeness is about right. An Interview with Mike Phillips. Freiburger Dokumentenserver. Freiburg 2007. URL: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/3316 (12.10 2007).

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handlung durchlaufen, um ansatzweise Verständnis aufbringen zu können für den Vater und dessen Geschichte. In diesem Sinne ist es nicht George, der den Vater sucht, sondern Joseph.

Das Doppelgängermotiv George, der ganz andere >Doppelgänger< von Joseph, zeigt kein Bedürfnis, seine Familiengeschichte aufzuarbeiten; er lebt für das Jetzt und ist vollauf damit beschäftigt, mit der Gegenwart zurechtzukommen. Während Joseph krampfhaft versucht, die Vergangenheit seines Vaters zu ergründen, herrscht zwischen George und Katya Anerkennung des gegenseitigen Nichtverstehens: die Distanz zwischen Mutter und Sohn erscheint wie ein Schutzschild vor den Abgünden, die sich bei genauerem Hinsehen auftun könnten, wie eine Passage zu Beginn des Romans zeigt: All he knew of his mother's family was that they had ignored her for decades, as if she was dead. She had explained to him many times how dangerous the situation had been for them all the time when she had to leave Moscow, but he believed in his heart that it might also have been something to do with him, the baby who would grow up to be an African like his father, his colour a sign of the relationship which had marked Katya's fate. [...] Her heart, as she often told George, bled daily for the days of her childhood, and for several years she had longed to return, dissuaded only by her son's opposition. [...] As sometimes happened, he ended the argument by reminding her about his race. >It s bad enough to be a German,< he told her. >I'm not ready yet to go through the same shit in Russia.< She accepted this without question because it was a part of his life about which she knew nothing. (S. 9)

Georges Desinteresse an der Geschichte nicht nur seiner Mutter, sondern generell, erscheint symptomatisch für die Gesellschaft, die ihn umgibt. In der Vergangenheit war er - wie andere Figuren des Romans - selbst beteiligt an dem massiven Bespitzelungsapparat der DDR und dessen Archivierungswahn, so dass es erscheint, als wolle er nach dem Sturz dieses Systems einfach nur vergessen und leben. Georges neue Philosophie des Lebens für den Moment und des schnellen Deals bildet einen starken Kontrast zu Josephs Weg, und vielleicht generell zu einer momentanen, westlichen >GeschichtsversessenheitWilden Westen< geworden, in dem das ursprünglich westliche Modell des Neoliberalismus konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste gelebt wird, wie Valery, ehemaliger Funktionär und einer der neuen Oligarchen, Kofi vorsorglich erklärt: »We're not in some quiet little country like England. This is like the Wild West. If I do what you want there may be some killing. Just understand that.« (S. 357)

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Das Doppelgängermotiv begleitet die Literatur seit ihren Anfängen und hat insbesondere in den Schauerroman (man denke etwa an Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde aus dem Jahre 1886) Eingang gefunden, wo es vor allem dazu dient, Einblick zu geben in die Schattenseiten und Abgründe eines Charakters, seine versteckten Wünsche und Triebe. Allein das Auftreten einer solchen Figur hat aus dieser Tradition heraus den Effekt des Sublimen und Bedrohlichen gewonnen, ein Effekt, aus dem auch der Thriller beträchtliches Kapital schlägt.24 Die Figur des Doppelgängers hat darüber hinaus jedoch eine Vielzahl von Funktionen: Das Erzeugen eines Uberraschungseffekts (in A Shadow of Myself wird beispielsweise die Situation des ersten Zusammentreffens der Brüder in Prag spannungsreich herbeigeführt), die Konstruktion von Verwechslungssituationen (in Phillips' Roman wird in Berlin Joseph anstelle von George zusammengeschlagen), das Herstellen einen Spiegelung, die tieferliegende Wesenszüge und Hintergründe einer Figur (kurz: die Identität dieser Figur) offenlegen kann. Für A Shadow of Myself erfüllt das Doppelgängermotiv zudem die metaphorische Funktion einer gesellschaftlichen und geschichtlichen Spiegelung: Die Doppelgängerfiguren der Brüder verweisen auf Ost und West und die komplexen Geschichten, aus denen die heutigen europäischen Gesellschaften gemeinsam und gegeneinander entstehen. Sie verweisen auf die Tatsache, dass das erste Zusammentreffen und auch eine Wiedervereinigung bei weitem nicht das Ende einer Entwicklung ist, sondern vielmehr der Beginn eines neuen Weges, auf dem es eine Vielzahl alter Hindernisse und Barrieren zu bewältigen gilt. Vor allem gilt es aber zu bedenken, dass Wege immer auch eingebettet sind in Landschaften, von anderen Wegen gekreuzt werden und nicht nur eine Zielrichtung haben, sondern auch einen Ursprung, eine Herkunft. Die Geschichte der Teilung und Vereinigung Europas ist keine rein europäische Geschichte sondern eingebettet in größere Zusammenhänge. Andere Kontexte wie das weltweite Zusammenbrechen der Kolonialherrschaften, das Entstehen neuer souveräner Nationalstaaten und deren Suche nach Modellen und Allianzen, Veränderungen in der weltweiten Verteilung von Rohstoffen und Gütern sowie neue Formen der Migration überlappen diese Geschichte. Die Präsenz schwarzer Individuen und Gruppen in Europa, West wie Ost, ist ein Ergebnis solcher Überlappungen, und die Brüder, die in Phillips' Roman West und Ost repräsentieren, sind signifikanterweise schwarz.

24 SozumBeispielN.LEE WOODS Scifi-Thriller Looking for the Mahdi (1996) oder Jos£ S ARAM AGOs Roman Ο Homem Duplicado (2002).

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Schluss Das Moment des Wilden Westens, das Betreten nichterschlossenen Terrains, ist auf das Vorhaben von Mike Phillips zu übertragen, die europäische Geschichte der Teilung und Wiederzusammenführung aus den spezifischen Blickwinkeln schwarzer Europäer (>Insider< wie >OutsiderErmittlerEntdecker< Phillips aufspürt, sind Geschichten schwarzer Europäer, schwarzer Individuen, solcher, die in Europa leben wollten, solcher, die es nach Europa verschlagen hat oder solcher, die dort geboren wurden. Ihnen ist gemein, dass sie sich zurechtfinden müssen in einem geteilten und durch den Kalten Krieg geprägten Europa, in einem Europa, das nicht von einer traditionalen kollektiven Identität getragen wird, sondern sich vor allem als geographische Einheit versteht, die als Frontland für den Ost-West-Konflikt herhalten musste. Phillips' schwarze Figuren sind nicht die Protagonisten der großen Politik, aber ihre individuelle Entwicklung wird von dieser großen Politik auf ganz entscheidende Weise beeinflusst. Selbst nach dem Ende des Kalten Krieges erleben diese Figuren ein Europa, dessen Einzelteile sich definieren müssen und das trotz der Existenz einer europäischen Idee (die gerade für Migranten und Angehörige ethnischer Minderheiten eher als Identifikationsgröße fungieren kann als nationalistische Modelle) nur langsam zusammenwachsen kann. Phillips' Figuren sind vor allem Mitträger dieser Geschichte und Mitwirkende bei der Erstellung eines umfassenderen Bildes von einer europäischen Geschichte, die zunehmend weniger als >weiße Geschichte< verstanden werden kann. Die narrativen Schemata des politischen Thrillers als Form der Kriminalliteratur, die besonders eng mit dem Kalten Krieg verbunden war, ermöglichen es Phillips, seine Leser auf unterhaltsame Weise auf die Spuren einer schwarzen Geschichte Europas und ihrer Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft zu bringen.

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