Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart: Band 2 Allgemeine Unterrichtslehre [Reprint 2019 ed.] 9783111497303, 9783111131115

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Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart: Band 2 Allgemeine Unterrichtslehre [Reprint 2019 ed.]
 9783111497303, 9783111131115

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
ERSTER TEIL. Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit
I. Entwicklung und Bildung
II. Bildungsmöglichkeiten
ZWEITER TEIL. Die Organisation des Bildungswesens
I. Die Führung zum Beruf durch Auslese
II. Die organische Gliederung des Bildungswesens
DRITTER TEIL. Die Bildungsgehalte (Methodik)
Vorbemerkung zur Sonderung von Methodik und Didaktik
I. Wesen und Bildungswert des wissenschaftlichen Unterrichts
II. Wesen und Bildungswert der Kunst
III. Wesen und Bildungswert der Werktätigkeit
VIERTER TEIL. Der Leistungsunterricht (Didaktik)
I. Ordnung und Freiheit
II. Fremd- und selbstgerichtetes Lernen (Reaktivität und Spontaneität)
III. Beispiele aus der besonderen Unterrichtslehre
Anhang. Die Schichtung der geistigen Sinnrichtungen
Sachverzeichnis

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OTTO / ALLGEMEINE UNTERRICHTSLEHRE

ALLGEMEINE

UNTERRICHTSLEHRE VON

ERNST OTTO

BERLIN

WALTER

DE

1933

LEIPZIG

GRUYTER

& CO.

VORMALS G . J . GÖSCHEN*SCHE VEÜLAGSHANDLUNQ J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG / GEORG REIMER • KARL J.TROBNER • VEIT & COMP.

Archiv-Nr.

342433.

Druck von Walter de Oruyter & Co., Berlin W 10

Vorwort Die Allgemeine Unterrichtslehre versucht, die Grundfragen alles Lernens und Bildens von neuem zu stellen und zu prüfen, in schlichter, sachlicher Sprache und ohne den Kult des schöpferischen Kindes. Das Buch gibt demnach kein bequemes Allheilmittel zum fertigen Gebrauch, auch keine Notstandspädagogik einer erwerbs- und berufslosen Zeit. Es soll vielmehr das Vereinzelte aus der G e s a m t s c h a u e i n e s G a n z e n gesehen, aus den Ideen und den sich ewig erneuernden Geisteskräften des Menschen, insbesondere des d e u t s c h e n M e n s c h e n verstanden und unter umfassenden Gesichtspunkten zur Besinnung erhoben werden. Die Problematik der »Schule«, der »Bildung«, des »Lernens«, um die alle Erörterung kreist, ist wieder lebendig zu machen; Schlagworte wie Einheitsschule, Gruppen- sowie Gesamtunterricht, Arbeitsschule sowie Schülerfrage, Querverbindung und Konzentration als Idee persönlicher Geschlossenheit und überpersönlicher Bindung, Kulturkunde und Schriftdeutung, Kunsterziehung und Werkunterricht sind auf ihren pädagogischen Sinn und auf ihre praktische Durchführung hin zu untersuchen. Dabei ist unendlich schwer zu trennen, was der Idee und den dauernden Vorgegebenheiten nach sein soll, und was den sich stetig wandelnden besonderen Gegebenheiten nach sein kann. Da der Prozeß planmäßiger Bildung nur als Ergänzung der natürlichen Entwicklung eingreift, wird auf das Faktum biologischer Reifung zurückgegangen und der biologische Ansatz des ersten Teiles sogleich der anthropologischen Blickrichtung eingeordnet. Bei der heutigen Verworrenheit pädagogischer Grundbegriffe ist das besondere Augenmerk der t h e o r e t i s c h e n D u r c h l e u c h t u n g dieser Ideen und der sie beherrschenden Spannungen zugewandt: Entwicklung und Bildung, Erziehung und Unterricht, Methodik und Didaktik, formale Bildung und Übung, Erkennen und Verstehen, Spiel und Arbeit, Reaktivität und Spontaneität als Grundprinzipien aller Unterrichts-Führung, Bewegung und Richtung, Gestalt und Form, Ordnung und Freiheit bzw. Zwang und Willkür, Sittlichkeit und Religiosität — alles dies gilt es, aus seinen spannungsreichen Lebensbezügen, theoretisch aus dem Schichtungsgefüge

VI

Vorwort

der sich durchlagernden Kultursphären zu erfassen, wie es im Anhang aufgezeigt ist. Die beigefügten Anmerkungen dienen dazu, Gesagtes zu stützen sowie zur Weiterarbeit anzuregen. Wenn schon keine Vollständigkeit der pädagogischen Literatur möglich ist, auch nicht einmal erstrebt wurde, so mußte noch vieles einer notwendigen Kürzung des Manuskripts zum Opfer fallen. Prag, im März 1 9 3 3 .

E. Otto

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort

V ERSTER TEIL Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

I. Entwicklung und Bildung A. Die phylogenetische und die «Mitogenetische Entwicklung B. Bedingungen und Richtkräfte C. Bildung als Prozeß und Aufgabe

i i 10 21

II. Bildungsmöglichkeiten A. Theorie der Bildungsmöglichkeiten B. Die möglichen Arten des Bildungsvorgangs 1. Die Abänderung der äußeren Lebensbedingungen 27. — 2. Die Einübung durch Fremd- und Selbstgewöhnung 30. — 3. Die Übung der psychischen Funktionen (und die formale Schulung) 32. — 4. Die Ausrichtung der geistigen Richtkräfte 41. — C. Die Grenzen der Bildsamkeit

24 25 27

50

ZWEITER TEIL Die Organisation des Bildungswesens I. Die Führung zum Beruf durch Auslese A. Theoretische und praktische Schulen B. Intelligenz und Geschicklichkeit C. Intelligenzprüfung, Beobachtungsbogen und freie Beschreibung D. Berufswahl

52 52 55 62 68

II. Die organische Gliederung des Bildungswesens A. Schule und Gesellschaft; Kirche und Staat B. Grundsätze der Schulorganisation

73 73 83

DRITTER TEIL Die Bildungsgehalte (Methodik) Vorbemerkung zur Sonderung von Methodik und Didaktik

101

I. Wesen und Bildungswert des wissenschaftlichen Unterrichts 108 A. Das »Lernen«. Das Problem der Werte; Erkennen und Verstehen 108 B. Möglichkeiten wissenschaftlicher Betrachtungsweisen 131 1. Entwicklungswissenschaften und Geschichte 138. — 2. Uberindividuelle und individuelle Strukturwissenschaften (Kulturkunde) 150. — 3. Die literarische Sinndeutung 155. — 4. Sprachkunde und Sprechkunde 163. — 5. Die Geographie 179. — 6. Mathematik und Physik 184. — 7. Philosophie in der Schule 194. —

VIII

Inhaltsverzeichnis Seite

II. W e s e n und B i l d u n g s w e r t der K u n s t

198

A . Das Wesen der Kunst 198 B. Der bildende Wert der Kunst 203 1. Die Wirkungsmöglichkeiten des Kunstwerks und die »Form« 204. — 2. Die Grundformen persönlicher Selbstdarstellung 206. — 3. Bildung durch Kunst 209.— III. W e s e n und B i l d u n g s w e r t der W e r k t ä t i g k e i t

214

A . Spiel und Arbeit B. Der Arbeitsprozeß C. Der Bildungswert des praktischen Schaffens

216 218 222

VIERTER TEIL Der Leistungsunterricht

(Didaktik)

I. O r d n u n g und F r e i h e i t

229

II. F r e m d - und selbstgerichtetes L e r n e n ( R e a k t i v i t ä t und S p o n t a n e i t ä t ) . . . A. Das fremdgerichtete Lernen (Reaktivität) B. Das selbstgerichtete Lernen (Spontaneität)

233 238 248

III. B e i s p i e l e aus d e r b e s o n d e r e n U n t e r r i c h t s l e h r e

266

A. B. C. D. E.

Spracherlernung Der mathematische Unterricht (Naturwissenschaften und Geographie) Das werktätige Schaffen Deutsch als Konzentrationsfach Religiöse Bildung

Anhang.

Die Schichtung der geistigen Sinnrichtungen

Sachverzeichnis

266 . . . . 271 281 288 305 316 317

ERSTER

TEIL

Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit I. Entwicklung und Bildung

Bildung ist eine höchst umstrittene Idee. Zu allen Zeiten haben die verschiedenen Völker sehr verschieden darüber gedacht. Wer die Geschichte unseres eigenen Bildungswesens, den Wandel der Bildungsideale im Laufe der Zeiten überblickt, steht betroffen vor der Mannigfaltigkeit verschiedener Auffassungen von dem, was Mensch und Menschentum bedeutet haben, bedeuten sollten. Die Aufgabe dieses Abschnittes wird es daher sein, erst einmal den Umriß dieser Idee aufzuweisen, der sich dann, im Verlaufe des vorliegenden Werkes, mehr und mehr mit dem Inhalt, den besonderen Geltungsforderungen des deutschen Menschen erfüllen wird. Wir nehmen »Bildung« als die übergeordnete Idee; sie umfaßt sowohl Unterricht wie Erziehung. Diese beiden Gebiete liegen aber nicht auf einer Ebene, wie weiter unten noch eingehend zu zeigen ist. Die Aufgabe einer Allgemeinen Unterrichtslehre ist zu untersuchen, wie sich der Unterricht in den Rahmen der Erziehung und weiterhin der Bildung einfügt, d. h. wie der gebildete Mensch im erziehenden Unterricht systematisch geführt wird bzw. sich selbst gestaltet und formt. Da jeglicher Unterricht als ziel- und planvoller Akt an die unsystematische »Entwicklung« anknüpft, sie ausgestaltet und vollendet, so gehen wir in den folgenden Darlegungen von der biologischen Tatsache der Entwicklung aus und versuchen zunächst einmal, die Besonderheit aller natürlichen Reifung in den Grundzügen zu erfassen. Wir betrachten (A) die phylogenetische Entwicklung des Organischen sowie die ontogenetische Entwicklung des Menschen und machen uns sodann klar (B), wie die verschiedenen äußeren und inneren Faktoren dabei ineinandergreifen, um schließlich (C) die Möglichkeit ihrer systematischen Beeinflussung zu erwägen. Auf diese Weise gewinnen wir einen Einblick in die wesentlichen Grundlagen des Bildungsprozesses. A . D i e p h y l o g e n e t i s c h e und die o n t o g e n e t i s c h e E n t w i c k l u n g . Die Ausgliederung des Organischen in der p h y l o g e n e t i s c h e n Entwicklung bringt eine unendliche Fülle der Typen und individuellen GeO t t o , Unterrichtslehre.

1

2

Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

staltungen hervor. Auf dem Wege der Einzeller zu den Mehrzellern erfahren die biologischen Funktionen der Selbsterhaltung (Nahrungsaufnahme, Atmung usw.) und der Fremdgestaltung (Fortpflanzung) in wechselseitiger Abhängigkeit untereinander sowie mit der Ausgestaltung des sensumotorischen Reaktionsbogens eine sich immer mehr verzweigende Mannigfaltigkeit in der Einheit des Organismusganzen. So vollzieht sich die Entwicklung des Individuums in seinen vegetativ-biologischen Notwendigkeiten, fernerhin, animalisch betrachtet, in seinen Wechselwirkungen mit der organischen Mitwelt (Subjekt G), in Wechselwirkungen mit anderen Subjekten (S . Da die Erbanlage künftiger Geschlechter durch Bildung unserer Mitwelt nicht verändert werden kann, so hat es Unterricht und Erziehung unmittelbar immer nur mit dem einen heranwachsenden Geschlechte zu tun (J. Cohn, Befreien und Binden). —

Von der Übung zu unterscheiden ist die Mitübung als die Reizwirkung auf verwandte, aber nicht unmittelbar geübte Funktionen. W. Stern spricht in diesem Sinne von »Ausstrahlung« oder »ausstrahlender Bildsamkeit«. Die Frage, ob Mitübung überhaupt möglich ist, scheint auf das engste verflochten mit der andern Frage, worauf die Übung überhaupt beruht. Wird durch Übung das Physiologische selbst verfeinert, besser ausgedrückt: wird das Physische an sich vervollkommnet oder das Psychische am Physiologischen, d. h. die seelische Fähigkeit des »Arbeitens« ? Nach den vorstehenden Ausführungen wird man zu folgender Entscheidung gedrängt: das Physiologische, soweit es physisch ist, kann natürlich nicht als Ganzes ausgerichtet werden wohl aber die Richtung, d. h. das Seelische am Körperlichen, die Fähigkeit der Anpassung, der Sammlung auf die Arbeit, vor allem aber auch das Geübtsein im Strukturieren eines Stoffes. Der Mensch lernt, wie wir gesehen haben, die Verworrenheit komplexer Anschauungen allmählich feiner und genauer »auszugliedern«. Dies gilt vom Vorgang der Wahrnehmung, des Reproduzierens und des Denkens in gleicher Weise. Auch O. Tumlirz betont, wie schon G. E. Müller in seiner Kritik gegenüber Ebert und Meumann, die Bedeutung des seelischen F a k t o r s für die Bildsamkeit der Funktionen (S. 143 ff.). Nach ihm hängt z. B. der Erwerb richtiger Anschauungen ab von der Beobachtungsfähigkeit und der Einordnungsfähigkeit. Es sei nicht zu bezweifeln, daß sich der Wille zu gewissenhaftem Beobachten »auch erziehen läßt, und zwar um so früher, je begabter und willenskräftiger der Jugendliche ist«. Von größter Bedeutung sei aber das I n t e r e s s e , besonders für die Einordnungsfähigkeit. Der Übungsfortschritt beruhe schließlich immer auf dem Willen zum »Fortschritt«. Damit hängt auch zusammen, daß sich z. B. die Bildsamkeit 1 Richard Goldschmidt, Die Lehre von der Vererbung, Berlin 1927, S. 215 f.; BaurFischer-Lenz, Grundriß d. menschl. Erblichkeitslehre II, München 1923, S. 341 f. 1 W. James, Psychologie, Leipzig 1920, betont sehr stark die »physiologische Qualität« des Gedächtnisses, die »wir niemals hoffen können zu verändern«.

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Formale Schulung

des Gedächtnisses wie des Denkens mit der seelischen Reifung steigert. Daher findet die Bildungsfähigkeit auch nach Thorndike nicht mit dem 25. Jahre ein Ende, sondern setzt sich bis zum 50. Jahre und länger fort. Da die sekundären, d. h. erst mit der Pubertät hervortretenden Anlagen, der planmäßigen Beeinflussung zugänglich sind, so kann man wohl mit Tumlirz sagen, sie besitzen einen höheren Grad der Bildsamkeit oder besser, sie gewähren größere Möglichkeiten der Bildbarkeit. Mit dieser Erklärung und Rechtfertigung der Übung wird auch die Möglichkeit und die Reichweite der M i t Ü b u n g ins rechte Licht gerückt. Auf ihr beruht zum guten Teil der so viel erörterte Gedanke einer »formalen Bildung«.

Wenn man die Übung und Mitübung als »Bildung« bezeichnet,

so ist jedoch hervorzuheben, daß es sich hier nur um einen niederen, wenn auch höchst wichtigen Grad der Menschengestaltung handelt.

Durch

Übung und Mitübung werden die Funktionen wohl geschult, aber nicht »gebildet« oder »geformt« im Sinne des klassischen Altertums oder des gottgerichteten Mittelalters, Fichtes, Schillers oder Humboldts, sondern nur psychophysische

Funktionen ausgegliedert (i. w. Sinne), aus einer

wirren Komplexität.

Die englisch-amerikanische Ausdrucksweise »formal

discipline« oder Dörpfelds

»formale

Schulung« ist

Ich werde also im folgenden statt von

daher

vorzuziehen.

»formaler Bildung« besser von

einer »allgemeinen Schulung« der Funktionen, von »allgemein funktionaler Schulung« oder »formaler Schulung« sprechen.

Ich füge den Ausdruck

»allgemein« oder »formal« hinzu, weil es sich beim Üben nicht um Schulung zu einem besonderen Zweck, namentlich auch nicht um die Einübung eines besonderen Wissens oder Könnens zwecks Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Person in einem Beruf handelt: Gedanke der »Nützlichkeit«. Diese letztere Art der Schulung (Einübung) kann man daher »besondere« oder »materiale« nennen. Die Bedeutung der »formalen Bildung« hat sich im Laufe der Zeit sehr verschoben und ist auch recht verschieden gewertet worden. Das ist in einer Prager Dissertation von A. Goldschmied dargelegt worden. Der Name selbst (»formaleBildung«) taucht zum ersten Male bei Fr. A. Wolf auf, wie E. Lehmensick nachgewiesen hat. An den alten Sprachen sollten »Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Verstand und die übrigen Seelenvermögen« »geübt und gestärkt« werden. Während man im Laufe der Zeit die allgemeine Schulung der theoretischen und dazu in jüngster Zeit auch der praktisch-motorischen Funktionen zum besonderen Gegenstand des Bildungsvorgangs gemacht hat, scheint jetzt ein Wandel, namentlich in den Vereinigten Staaten eingetreten zu sein. E. L. Thorndike ist seit längerer Zeit experimentell der Frage nachgegangen, wieweit die Beeinflussung irgendeiner Funktion leistungssteigernd auf andere Funktionen wirkt. Er gesteht ohne weiteres zu, daß die besondere Veränderung einer Einzelfunktion auch eine gewisse Allgemeinwirkung ausübt, fügt aber hinzu, daß dies nicht notwendig der Fall sein muß. Die Frage geht ihm also weniger auf die Tatsache der Mitübung als auf den U m f a n g dieser Art der Leistungssteigerung. Er stellt den Grundsatz auf, daß »eine Veränderung in der einen Funktion eine ebensolche in irgendeiner anderen nur insoweit bewirkt, als die beiden Funktionen gleiche Elemente in sich enthalten«. Das hieße die Mitübung auf die Übung beschränken. Aber Thorndike rechnet zu diesen »identischen Ele-

38

Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

menten« auch die Vervollkommnung der Arbeitstechnik (Identität des Verfahrens), fernerhin empirische Beziehungen von Anzahl, Länge, Farbe, schließlich aber auch die Beherrschung und Sammlung der Aufmerksamkeit (Hemmungen auBersachlicher Impulse). Das geht schon über die bloße Übung auf Grund der Identität des Stoffes weit hinaus. Andererseits •wendet sich aber Thorndike doch gegen Männer wie R. N. Roark, C. L . Morgan, J . Payne, E . H. Babbit, C. Thomas, J . H. Morris, die den Gedanken des formal discipline gestützt haben. Seine Ausführungen über Übung und Entstehung von Gewöhnungen sowie sein Begriff der »Identität des Stoffes« zeigen aber, daß er Übung und Einübung (Assoziation) nicht scharf unterscheidet. Steigerung der Schnelligkeit und der Unterscheidungsfähigkeit liegen auf verschiedenen Ebenen. Aus diesen Darlegungen geht bereits hervor, daß man sicherlich die Idee der formalen Schulung nicht überspannen darf und daß sie außerdem ganz Verschiedenes umfaßt, was z. T. in das Gebiet der Übung, z. T. in das der Mitübung, aber auch der (stofflichen) Einübung fällt. Wohl treffender deutet W . B. Pillsbury die experimentellen Untersuchungen aus (James, Meumann, Dearborn, Reed, Winch; Sleight, Wang, Judd usw.). E r kommt zu dem Ergebnis: »No training of a general memory«; er unterscheidet »learning by rote and learning ideas« und betont: »What can be done is to train the child to use the best methods of learning in his regulär work« (S. 296).

Dazu ist negativ zu sagen, daß man wohl schwerlich von der Leistungssteigerung einer Funktion eine »gleich große Steigerung in einer anderen Funktion« erwartet. Die physiologischen Grundlagen, soweit sie überhaupt übbar sind (z. B. Gedächtnis), werden sich naturgemäß auch weithin der psychischen Mitübung entziehen. Ebenso ist auch das rein Geistige nicht übbar; es kann nur ausgerichtet werden. Daß die Erhöhung des seelischen Stärkegrads nicht möglich ist (vgl. oben S. 19), hat Thorndike wohl gesehen. Positiv umfaßt die formale Schulung folgende »Bildungs«-Möglichkeiten : a) Eine Einübung von Bewußtseinsbestimmtheiten, d. h. die Aneignung eines positiven Wissens, das auch anderen Gebieten zugute kommt. So spricht man, im allerweitesten Sinne, von der »formalen Bildung« durch die Erlernung des Lateinischen im Hinblick auf die spätere Aneignung anderer verwandter Sprachen. Auch die formale Bildung des Zusammenzählens und Malnehmens, nämlich einer gewissen »Fertigkeit, mit Zahlen umzugehen«, beruht zum guten Teil auf Einübung, auf Gleichheit des Stoffes. Überall wird hier die Verfügung über einen bestimmten Wissensstoff den Erwerb verwandter Vorstellungskomplexe erleichtern. Daraus folgt, daß in diesem, wie auch wohl im nachstehenden Falle, gar keine formale, sondern eine materiale Schulung vorliegt. b) Alle Einübung im Sinne des beobachtenden Merkens, des assoziierenden Lernens und der denkenden Verknüpfung (E. Meumann) klingt allmählich ab, hinterläßt aber einen Rückstand, eine Disposition. E s bleibt z. B. ein allgemeiner Überblick in einem Wissenschaftsgebiet zurück, auch wenn man alle Einzeltatsachen vergessen hat. W. Stern (Die menschliche Persönlichkeit) spricht in diesem Sinne von »Einverleibung«. E s

Formale Schulung

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kann sich das Wissen einer Sache, z. B. die Lösung einer mathematischen Aufgabe, das kategoriale System einer Sprache zu einem Wissen »um« die Sache verflüchtigen; die Bekanntheit kann den Charakter bloßer »Bewußtheit« im Sinne N.Achs annehmen, d.h.eines »unanschaulichen und unmittelbar gegebenen Wissens«. c) Von keiner Seite wird die Möglichkeit bestritten, der willkürlichen Aufmerksamkeit Herr zu werden. Diese Anspannung und Intentionalität der seelischen Energie braucht aber keinen wesentlichen Einschlag von Interesse, d. h. von geistiger Sehnsucht zu haben, sondern kann gewohnheitsmäßig oder auch auf fremden Antrieb hin erfolgen. Mit der Übung der einzelnen Funktionen (z. B. des Denkens: intellektuelle Aufmerksamkeit!) wird die Aufmerksamkeit mehr und mehr beherrscht, die Anpassung, d. h. die Arbeitsbereitschaft geübt, die Konzentrationsbzw. Distributionsfähigkeit und damit die Widerstandsfähigkeit gegen ablenkende Störungen erhöht; Hemmungen und unnütze Körperbewegungen können durch Selbstbeherrschung unterdrückt und auch das Müdigkeitsgefühl in der Straffung einer dauerhaften (stabilen) Spannkraft zurückgedrängt werden. Diese allgemeine Übung fördert nicht nur die theoretische und praktische Arbeit, sondern auch das gesellschaftliche Handeln des sittlichen Menschen. Damit mündet der Unterricht als »erziehender Unterricht« in das Werk der Erziehung ein. S. das Schema des Anhangs! d) Einen noch anderen Charakter trägt die allgemein formale Schulung der Funktionen, wenn sie, ohne ein (stoffliches) Wissen hinterlassen zu haben, zu einer unbewußt geübten Arbeitstechnik führt. Die Bekanntheitsqualität hat dann die Richtung »nach vorwärts«. Diese leitet den Menschen auf das Ziel hin, sei es z. B. theoretisch die objektiv tastend-vorfühlende Haltung des Theoretikers, die Griffsicherheit des Handwerkers, weiterhin auch das Fingerspitzengefühl des handelnden Politikers. Es ist eine Haltung, die von den rein technischen Kunstgriffen angefangen bis zu dem Blick für das Rechte und Normgemäße hinübergleitet, eine Einstellung, die aus dem feineren Geübtsein schon auf die geistige Einstellung als Richtung hinweist. e) Die allgemeine Übung kann sich dem Geistigen in anderer Weise noch mehr nähern. Experimentelle Untersuchungen und die Erfahrungen des Alltags haben uns gelehrt, daß eine lustbetonte Arbeit in ausgeglichener Stimmung am besten vonstatten geht. Die Freude am Tun kann sich bei steigendem Erfolg und damit bei erhöhtem Selbstvertrauen auch auf Arbeitsweisen ausdehnen und auf Gegenstände übertragen, die ursprünglich nicht im besonderen Interessenkreise einer Person gelegen waren. So kann das Interesse von einer Beschäftigung zu einer andern über-

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Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

gleiten. Ein abstoßendes oder gleichgültiges Tun kann lustvoll eingebettet werden, indem es in den Dienst eines höheren Wunschbildes gestellt wird. Es kann z. B. auch das Interesse für die Aneignung von Vokabeln oder von mathematischen Formeln dadurch erregt werden, daß dieses Wissen die Ausübung eines begehrten Berufes erst ermöglicht oder auch erfolgreicher gestaltet. Auf diese Weise wird mit steigender Reife, mit der Eroberung neuen Wissens und Könnens ein Gebiet nach dem anderen, der geistigen Richtung jedes Menschen gemäß, dem weiteren Ausbau zugänglich gemacht. Haben wir früher (unter c) verschiedene Deutungen der Aufmerksamkeit (intellektualistische, voluntaristische) anklingen lassen, so könnte man die Ausbreitung und Ausstrahlung des Interesses im Strom des Bewußtseins vom Standpunkt einer emotionalen Aufmerksamkeitstheorie begreifen. Sind doch die (höheren) Gefühle des Werterlebens von den »Interessen« des geistigen Menschen nicht zu trennen. Alle diese allgemeinen Schulungsmöglichkeiten, soweit sie mit der Tatsache der Aufmerksamkeit verknüpft sind, beruhen schließlich auf der Richtungseigenart der Aufmerksamkeit als der allgemeinen geistigen Grundfunktion und ihrem Verhältnis zu den einzelnen Sonderfunktionen, die man wegen ihrer Doppelstellung zum Physischen einerseits und zum Geistig-Lebendigen andererseits auch als psychophysische Funktionen bezeichnen kann. Was die Mitübung im Rahmen der »formalen Schulung« betrifft, so darf man nicht übersehen, daß das Leben keine künstlichen Trennungen vornimmt, wie sie im Experiment möglich sind. Wo wird denn in der Wirklichkeit eine einzelne Funktion für sich geübt, losgelöst von einer anderen ? Sind nicht sehr viele oder gar alle Funktionen bei jedem theoretischen oder praktischen Tun, schließlich auch beim Handeln des sittlichen Menschen mehr oder weniger in Tätigkeit gesetzt I Auch wird man sich von dem Glauben frei machen müssen, »gewisse Gegenstände seien an sich geistesbildend, und so mit einer fast magischen Kraft ausgestattet, die Denkfähigkeit zu üben« (Dewey). Denn es kommt weniger auf die Beschaffenheit des Gegenstandes als auf die Art an, mit der die »formale Schulung« betrieben wird. — Thorndikes Urteil ist daher nur teilweise richtig. Er ist auch in seiner eigenen Heimat auf scharfen Widerspruch gestoßen (so z. B. C. H. Judd, Psychology of Secondary Education). Abschließend können wir sagen, die allgemeine (formale) Schulung wird immer ein höchst wichtiges Stück der theoretischen und praktischen Unterweisung sein; allerdings ist sie nicht das Endziel, da sie selbst nicht »Bildung« im eigentlichen Sinne, nicht Formung der Geisteskräfte ist. Ähnlich Bergson, auch Klages. Wenn wir auf der einen Seite gerade die Bedeutung des mechanisierenden Einübens unterstrichen haben, so sei mit allem Nachdruck betont, daß alles Lernen immer die flüssigen Sinn-

Die Ausrichtung der geistigen Richtkräfte

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beziehungen des Gegenstandes bewahren und die Anwendung in immer wieder neuartigen und lebensvollen Zusammenhängen vollziehen muß, um einer verödenden Sinnentleerung des Stoffes vorzubeugen (Kroh). Dieser Gefahr arbeitet der »Leistungsunterricht« (s. u.) grundsätzlich entgegen. 4. Die A u s r i c h t u n g der geistigen R i c h t k r ä f t e . Wir wenden uns nunmehr dem Prozeß der B i l d u n g im eigentlichsten Sinne zu. Bildung zielt, wie wir gesehen haben, immer auf Selbstbildung ab, und zwar aus den spontanen Akten der Icheinheit; Bildung ist also nicht die bloße »Abänderung« äußerer Bedingungen, auch nicht »Einübimg« von Funktionserlebnissen durch Selbstgewöhnung oder gar durch Zwang, schließlich auch nicht funktionale »Übung«. Bildung geht eben auf das Geistige, auf die A u s r i c h t u n g der seelischen Dynamik, dem Normerlebnis echter Geltungsforderungen gemäß. Dieses Geistige kommt bei den erwähnten Arbeiten Kraepelins und Meumanns nicht zu seinem Recht. Beide Forscher beschränken sich im wesentlichen auf die Erörterung der Übung (Übungsfestigkeit, Mitübung, Anpassungsfähigkeit) der psychophysischen Funktionen und auf die Regelung und Beherrschung der den Funktionen zugewandten Energie (Aufmerksamkeit, Ermüdung bzw. Erholung, Widerstands* und Gewöhnungsfähigkeit). Daher auch die Feststellungen über die Korrelationen zwischen Ermüdung, Ablenkbarkeit, Anregbarkeit, Erholung usw. Wenn E . Meumann schließlich auch von den »Neigungen« und »Gefühlsreaktioneh« handelt, so stößt er damit schon in das Gebiet der geistigen Richtkräfte vor. Es entsteht die Frage, wie diese Kräfte »gebildet« werden, nämlich aufweiche Weise sie »ausgerichtet« werden können. Es ist bereits oben (S. 19) bemerkt worden, daß der direkte Nachweis einer Intensitätssteigerung des inneren Willens infolge der Übung zurzeit nicht als erbracht gelten kann; das »spezifisch-Willentliche« ist uns danach nicht in verschiedenen Intensitätsgraden aufzeigbar. Wenn das Psychophysische teils durch Einübung mechanisiert und assoziiert, teils durch Übung aufgelockert und geschärft werden kann, so ist das Geistige an sich nicht zu »üben«, wenn wir auch die Entschlußfähigkeit und die Willenshandlung bis zu einem gewissen Grade zu üben bzw. einzuüben vermögen. Das Geistige als die Norm und Richtung läßt sich nur »ausrichten«, welcher Sinn ja auch Ausdrucksweisen wie »Recht« und »richtig« zugrunde liegt. Worin besteht nun das Ausrichten der geistigen Lebenskräfte? In der Allgemeinen Erziehungslehre (Zusammenfassung) sind folgende Arten geistigen Versagens unterschieden worden: 1. die (ungesellschaftliche) Einstellung der verneinenden Gesinnungen1; 2. die (außergesell1 Hans Ehrenberg, Unheil und Heil im öffentlichen Leben, Gütersloh 1928, nennt als Sünden des Öffentlichen Lebens den Geiz des Bauern, den Neid des Arbeiters und die Ungesunde Streberei des Bürgers.

42

Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

schaftliche) Einstellung des reinen, nämlich einseitigen Theoretikers oder Praktikers; 3. die (vorgesellschaftlich-biologische) Einstellung des unbeherrschten Triebmenschen und 4. die (ungemeinschaftliche) Einstellung des unvollkommenen Strebens, soweit wir Menschen nämlich wohl das Gute wollen, dieser Idee aber nie zu genügen vermögen. Dies sind die überhaupt möglichen Arten des »Bösen«. Sie sind, bis auf den ersten Fall, keine Negationen des Guten, sondern ein Fehl-Gerichtetsein auf das Echte, das Normgemäße. Es fragt sich, ob und in welchem Grade der systematische Bildungsprozeß diese Unvollkommenheiten »auszurichten«, d. h. zu bilden vermag. Sind die verneinenden Gesinnungen des Hasses, als vorübergehende Stimmungen oder als Habitus, überhaupt als normal zu bezeichnen und sind sie in die bejahenden Bestrebungen der Macht und der Liebe umzubiegen ? Vermag man den einseitigen, dem gesellschaftlichen Leben abgewandten Theoretiker und Praktiker dem sittlichreligiösen Leben wiederzugewinnen ? Kann der ziel- und planvoll geleitete Bildungsprozeß zur Regelung und Beherrschung des ungezügelten bzw. irregeleiteten Trieblebens führen? Die Überlegung, daß das Geistige bis ins Triebmäßige hinabreicht, dem Instinkt Zweck und Richtung verleiht, berechtigt zu gewissen Hoffnungen auch demjenigen gegenüber, der glaubt, erst die kritische Frage stellen zu müssen: Wie ist eine Erziehung des Trieblebens »möglich«? Sicherlich kann damit gerechnet werden, vorhandene »Interessen« auszubauen, erstarrte Strebungen aufzulockern, unentwickelte Regungen zu pflegen, bzw. sie nicht verkümmern zu lassen (Idee der Differenzierung). Vermag schließlich der Prozeß wohlgeleiteter Fremdund Selbstbildung die ursprüngliche Einheit des Menschentums in der sich selbstdarstellenden und leistungsfähigen Persönlichkeit wiederzuerneuern (Idee der Integrierung)? Ich sehe folgende drei, miteinander verkettete Möglichkeiten, die geistigen Kräfte anzuregen und auszurichten. a) Schon bei Erörterung der »Abrichtimg« (Dressur) war der Gedanke unterstrichen worden, daß alles Lernen zurückgreifen muß auf die natürlichen K r ä f t e unseres Seelenlebens. Wo diese, in allem Triebleben keimhaft vorhandene Geistigkeit fehlt, sind alle Bemühungen bildnerischen Tuns vergeblich. Der Akt der Bildung muß also immer an dieses aktive Drängen und Streben der Seele anknüpfen. Wo der Unterricht, die Entwicklung überstürzend, mit verfrühten Maßnahmen einsetzt, wird man Gefahr laufen, das Beste im Menschen, das »Fünklein« nach Meister Eckhart, d. h. die emporbrechenden Geltungsforderungen zu ertöten. Wo immer das geistige Sehnen verschüttet ist, wird demnach alles Bemühen des Bildners darauf gerichtet sein müssen, das erstarrte und erstickte Eigenleben aufzulockern. Wenn die Reformfreudigkeit der Nach-

Die Ausrichtung der geistigen Richtkräfte

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kriegszeit einen kostbaren Kern birgt, so ist es das Verständnis für die irrationalen Kräfte des Erlebens. Ich sehe im Erleben sicherlich nicht das A und O alles Bildens, aber es wird doch immer der Ausgangspunkt alles Erkennens und Verstehens, alles Schaffens und Handelns, aller gläubigen Hingabe an das Unendliche sein. Erst wo die junge Pflanze eigenen Sinnens und Trachtens gehegt und gepflegt ist, kann eine planvolle Führung einsetzen. In mehreren Aufsätzen bzw. Schriften Hennann Hesses (Blick ins Chaos, Demian) -wird die Bedeutung der naturhaften Seelenkräfte gewürdigt, das Bereitsein auf mögliche Einstellungen, die eine rätselhafte Zukunft von unserer Jugend fordern könnte. Es ist auch interessant, mehr psychologisch als politisch die verschiedenen Grundhaltungen zu betrachten, aus denen künstlerische Gestaltungen des Kriegserlebens gewachsen und uns nahe gebracht sind. Ernst Jünger hat uns in seinem »Kampf als inneres Erlebnis« gezeigt, wie die geheimnisvollen Naturgewalten ursprünglicher Entwicklungsstufen tief in der Seele des Kulturmenschen schlafen und im Kampfe ums Dasein, durch die Not entfesselt, hervorbrechen, sich trotzig gegen Maschine und Technik aufbäumen und sich dem Untergang entgegenstemmen. Im Unterricht wird der verständnisvolle Lehrer daher geduldig warten auf den fruchtbaren Augenblick (die Platzbestimmtheit) in der Eigenentwicklung des Kindes und des Jugendlichen. Dann heißt es aber zugreifen und dem Augenblick Dauer verleihen. Wenn beispielsweise das Märchenalter oder die Wertumstellung der Reifezeit ungenutzt verklungen ist, so bringt keine Macht die hier gegebene Möglichkeit jemals wieder zurück. Wie die Empfänglichkeit der eidetischen Anlage durch einen anregenden Unterricht erhalten und fruchtbar gemacht werden kann, haben E. R. Jaensch, H. Freiling und O. Kroh herausgestellt.

b) Wenn das Gerichtetsein das Wesen des Lebendigen, des Geistigen ausmacht, so wird es nicht genügen, die Kräfte im Erlebnis frei zu machen, sondern sie auch durch gute Gewohnheit auszurichten, also auf ein wertvolles Ziel hin. Auf dem Gebiete der Erziehung kommt somit alles darauf an, schon der Kindheit Ideale vor Augen zu stellen, möglichst anschaulich, möglichst gefühlsbetont, und zwar solche Ideale, die ein unverrückbares Ziel bedeuten in den Stürmen des Lebens. Diese Forderung betont auch J. Lindworsky (Der Wille). Es ist weiterhin die dauernde Hingabe des ganzen Menschen an das höchste sittlich-religiöse Ziel nicht nur durch Vergegenwärtigung alltäglicher und geschichtlicher Beispiele wach zu halten, sondern auch im entschlossenen Handeln einzuüben: Grundsatz der verantwortungsvollen Leistung. »Accumulate all the possible circumstances which shall reinforce the right motives, put yourself assiduously in conditions that encourage the new way; make engagements incompatible with the old; take a public pledge, if the case allows; in short, envelope your resolution with every aid you know.«1 Auf diese Weise wird man auch dem übermächtigen Triebleben am 1

W. James, Talks, S. 68. — Ich verweise auch auf die Bestrebungen (und Morality Codes) der Chaiacter Education Institution, Washington.

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Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

besten dadurch entgegenwirken, daß man andere Kräfte überwertig macht und das Leben als Tier überbaut durch ein Leben im Reiche der Werte. Die psychoanalytische Forschung hat unser Verständnis dafür geweckt, daß an der Vielspältigkeit und Zerrissenheit der Seele sowohl Leib wie Körper erkranken müssen. Lindworsky macht in seiner »Willensschule« darauf aufmerksam, daß unsere geistige Gesundheit ein Nebeneinander mehrerer Wertkomplexe nicht verträgt. Daher müssen die verschiedenen Lebensideale in einer höchsten Spitze verbunden sein. Nur so erlangen wir die Stoßkraft beständigen und nachdrücklichen Handelns. Entsprechend hat N. Ach in experimentellen Untersuchungen dargelegt, daß die Ausführung einer Handlung um so sicherer erfolgt, je eindeutiger die Determination zugespitzt ist. »Es ist demnach für die praktische Betätigung günstig, sich nicht im allgemeinen etwas vorzunehmen, sondern dem Vorsatz einen konkreten, speziellen Inhalt zu geben.« Auf der andern Seite verhindert eine Vielzahl der Ziele ein entschlossenes Handeln. Es kommt dann zu Hemmungen, was G. E . Müllers Arbeiten auch im Experiment aufgezeigt haben (Typus des »Gefesselten«),

Daraus ergibt sich für die Gestaltung des Bildungswesens zunächst die Forderung eines nach der Wahl der Bildungsgüter einheitlich strukturierten Schulsystems, das im ganzen Aufbau wie in den einzelnen Typen die Einheit der Bildungsidee widerspiegelt. Entsprechendes gilt für die Gesamtheit von Persönlichkeiten, denen die Jugend anvertraut wird, für Familie und Schule, Volk und Menschheit. Wo Wille und Gegenwille aufeinanderprallen, kann keine Festigkeit der Lebensführung erzielt, kein Entschluß zu tatkräftigem Handeln gefaßt, keine Handlungsweise ruhig und bestimmt durchgeführt werden. c) Es besteht schließlich die Möglichkeit, die Beweggründe unseres Handelns im Gesinnungsunterricht, an dem Leben der geschichtlichen Vergangenheit oder dem Treiben der Gegenwart durch planvolle Unterweisung zu läutern. Das nenne ich Klärung des Wertbewußtseins. F. X . Eggersdorfer spricht in seiner »Jugendbildung« vom »geläuterten Wollen«, das letzter Ausdruck des Ich ist, aus dem Innersten der Seele kommt und Tiefe der Bildung verlangt. Wie wir Sinn und Richtung unserer theoretischen Geltungsforderung, unsere wissenschaftliche und künstlerische Wertsehnsucht an den Gegenständen der Kultur, den Bildimgsgütern aufzuhellen vermögen, so kann auch unsere sittlichreligiöse Haltung an dem Tun und Lassen geschichtlicher oder gegenwärtiger Persönlichkeiten zur Besinnung erhoben werden. An Vorbild und Beispiel anderer Menschen »lernen« wir, reinigen unsern Wahrheitsund Wahrhaftigkeitssinn, unsere eigene Art des Schaffens, unser sittliches Tun. Auch das bewußte »Wissen« (Lebenserfahrungen, Sprüche, Zitate usw.) wird die Gründe unseres sittlichen Handelns in gewissem Umfang neu beleben und stützen können. So vermögen wir Einsicht zu gewinnen in eigene Mängel und Hemmungen, in bewüßte und unbewußte Unklarheiten unseres Tuns, in die Schwächen unserer Anlage. Durch Selbstprüfimg erlangen wir Verständnis für die Schattenseiten eines zu langen

Die Ausrichtung der geistigen Richtkräfte

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Wählens und Zauderns oder auch eines allzu raschen Handelns. Voraussetzung ist das ernste Wollen (Kritik, Tagebuch!) der zwar oft versagenden, aber doch das Gute bejahenden Menschen. Wieviel diese kritische Einsicht auch an den negativen Gesinnungen, an Trotz und Verbitterung, zu ändern vermag, wird im allgemeinen schwer zu sagen sein. Demnach tritt die bewußte »Klärung« des theoretisch-praktischen, des sittlich-religiösen »Werturteils« (»Geschmacks«) an die Stelle der »Übung« von Funktionen. Die Irrationalität des Geistigen wird durchleuchtet mit dem Lichte verstandesklarer Besinnung. Die Frage, was das Wesen des L e r n e n s sei, wird den Pädagogen immer von neuem beschäftigen. Gleich zu Anfang des nach ihm benannten Dialogs stellt Menon an Sokrates die entscheidende Frage: »Kannst du mir sagen, Sokrates, ob die Tugend (arete) etwas Lehrbares ist ? Oder ist sie nichts Lehrbares, sondern etwas Übbares (askétón) ? Oder ist sie weder Sache der Übung noch des Lernens, sondern ist sie dem Menschen von der Natur oder sonst auf eine Weise mitgegeben ?« Das ist der große Fragenkomplex des Üb'ens, der Bildsamkeit, des Lernens, der uns bisher beschäftigt hat. Sokrates antwortet, daß der Mensch nichts anderes lernen kann als eben eine Erkenntnis (¿písteme), die schon in ihm liegt, die sich aber nur dem Suchenden enthüllt. Lernen ist also nicht bloßes »Einüben« von Bewußtseinserlebnissen (vgl. Staat 536 f.), Drill (didáskein) oder Schulung nach der Art der Sophisten. Vielmehr bedarf es zunächst des göttlichen Funkens des Verzückten (manía)', der bloße Verstandesmensch, der Grübler (deinos, Phaidros) entbehrt des geistigen Schwungs. Aber andererseits ist auch die geniale Intuition des »vom Gotte beseelten« Staatsmannes (Menon) für sich allein gefährlich«. Ebensowenig genügt auch das vorwissenschaftliche Meinen (doxa), das der Besinnung (phrottesis), der geläuterten Einsicht e n t b e h r t D i e s e erreicht man nicht mehr durch »Übung«, sondern man findet im gemeinsamen »Suchen« das »Ziel«; im W e c h s e l g e s p r ä c h , in Rede und Gegenrede, in Frage und Antwort »klärt« man die Meinungen. Bindet doch der Daimon Eros alle Menschen und die geordnete Welt im Logos zusammen. »Diese Liebe (Sehnsucht) ist allen Menschen gemeinsam«, wie Diotima den Sokrates gelehrt hat (Symposion). Sie führt die Menschen daher zum Kosmos der eigenen Persönlichkeit wie des geordneten Staatswesens (paidéia\). Ist doch Tugend und Tüchtigkeit (arete) selbst Ordnung, Angemessenheit, Klarheit und Nachdruck sinnvollen Handelns. Goethe hat diese »Summe aller Weisheit« in den Wanderjahren (II, 10) so zusammengefaßt: »Denken und Tun, Tun und Denken«. Beruht die Erziehung als Gewohnheit zum guten Teil auf dem vorbildlichen Beispiel des suggestiv wirkenden Führers, so ergänzt die Desuggestion des klärenden Unterrichts dieses Werk zum Ganzen der Bildung. Die Idee eines geklärten sittlichen Bewußtseins, der »hellen Sehnsucht«, statt der Verschwommenheit ungeläuterten Strebens, ist seit Piaton immer wieder von Philosophen vertreten worden. U m nur einige von ihnen herauszugreifen, weise ich auf Ignatius von Loyola, der durch die klare und geordnete Systematik eigener Reflexionen (Exerzitien) auf die Entfaltung eines einheitlich-geschlossenen Lebensideals als Grundhaltung eines zielbewußten Handelns hingewirkt hat. Leibniz fordert in der Vorrede 1 Nicht Fürst Myschkin, der naive Idiot und gütige Mensch, wirkt das Gute und beglückt die Menschen; auch nicht der junge Parsival, der »reine Tor«, sondern erst der durch Mitleid Wissende handelt und spricht das erlösende Wort. 1 Phronesis ist also ursprünglich das sittliche Vernunftvermögen, die Einheit theoretischer Erkenntnis und praktischer Vernunft. Über den späteren Bedeutungswandel siehe W . Jaeger, Aristoteles, Berlin 1923, S. 84 f. u. 249 s .

46

Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

zu seiner Theodicee, daß wir »das Feuer mit dem Lichte der Erkenntnis durchglühen, und die Vollkommenheiten des Verstandes müssen denjenigen des Willens erst ihre Vervollkommnung geben«. Man hat allerdings oft von dem Rationalismus Hegels gesprochen; in Wirklichkeit darf man auch hier nur von einem sich immer mehr klärenden Irrationalismus sprechen. Unterscheidet doch Hegel den wirklichen Geist, die »sich selbst wissende wirkliche Idee« von der logischen Idee, die in der Wissenschaftslehre der Logik entwickelt wird. Auch Kant fordert vom guten Willen, daß er weniger »gelehrt« als »aufgeklärt« sei. In neuerer Zeit hat Natorp in seiner Sozialpädagogik die Klärung des Willens in drei verschiedenen Stufen aufgewiesen. Es muß sich also klare Urteilsfähigkeit mit dem natürlichen Instinkt wie mit der Glut des Herzens verbinden. Es muß, im ringenden Zusammenstoß des gelebten Lebens der Wertwidrigkeiten, der Affekt zum Wissen geklärt, oder mit Spinoza, die Erkenntnis zum Affekt geworden sein, um den Erfolg sittlichen Handelns zu sichern. »Klärung« ist somit das Gegenteil eines angekränkelten Intellektualismus, nämlich Gesundheit des Leibes und der Seele, der angemessene Ausgleich von instinktivem Gefühl, nüchternem Verstand und dem Schwünge des Geistes Es scheint die Frage nicht unberechtigt zu sein, ob die Schule wohl ihre Pflicht erfüllt hat im Kampfe gegen blinde Gläubigkeit und vorschnelle Ablehnung. Wird der Unterricht doch auch darauf hinausgehen müssen, die Atmosphäre des Mißtrauens zwischen Menschen und Völkern zu entgiften, uns von Vor-Urteilen zu befreien wie von sinnlosen Konventionen. Demokratie im besten Sinne ist dann nicht bloß Befreiung von Vorrechten der Geburt und des Standes, sondern sollte vielmehr sein die Befreiung von Vorurteilen durch das Recht auf Bildung. Man würde aber einem gefährlichen Rationalismus verfallen, wenn man

sich von der Klärung unseres Gewissens alles verspräche.

Man

bedenke zunächst, daß Gemeinschaft irrational ist und durch verstandesmäßige Regelung demgemäß stets ernstlich gefährdet wird. ist

unser

»Individualismus«,

unsere

Selbstsucht

und

Andererseits

Leidenschaften,

meistens stärker als die Kraft der in uns lebendigen Richtungsforderungen. Gegen den rücksichtslosen Familien- oder Berufsstolz, den Dünkel konfessioneller oder parteilicher Unduldsamkeit, den nationalistischen Staatsegoismus

oder

den verschwommenen

Menschheitsdusel

ist

verzweifelt

schlecht anzugehen mit den Mitteln der Desuggestion bzw. Desillusion. A m erfolgreichsten scheint die »Aufklärung« da zu sein, wo Menschen wohl das Rechte und Echte wollen, aber aus Unkenntnis versagen.

Hier

liegen die größten Möglichkeiten des Bildens, d. h. des Klärens und Ausrichtens geistiger Kräfte. Damit kommen wir zu einem Abschluß in der von uns vorgenommenen Unterscheidung von freier E n t w i c k l u n g Bildung.

(Reifung) und systematischer

K . Koffka stellt Reifen und Lernen gegenüber.

Er versteht

unter »Lernen« eine »Veränderung der Leistungsfähigkeit, die sich auf ganz bestimmten, individuell gearteten Leistungen aufbaut«.

Dies Lernen

1 Das ist der gesunde Kern der späterhin sich selbst untreu werdenden Aufklärung. Vgl. dazu Th. Hobbes, »Lehre vom Bürger«, Grundzüge der Philosophie, Ausgabe Meiner, 1918, S. 65.

Die Ausrichtung der geistigen Richtkräfte

47

ist für das Individuum »in seiner Erbanlage nicht festgelegt«. Darin liegt sehr viel Wahres — falls man Lernen im eigentlichsten Sinne versteht. So behauptet z. B. Fichte (System der Sittenlehre von 1798), »daß nur die I n t e l l i g e n z als frei gedacht werden könne, und daß sie bloß dadurch, daß sie sich als Intelligenz faßt, frei werde; denn nur dadurch bringe sie ihr Sein unter etwas, das höher ist, als alles Sein, unter den Begriff«. »Leben ist das Vermögen, sich selbst innerlich zu bestimmen, und zufolge dieser Selbstbestimmung G r u n d zu sein, absolut schöpferischer eines Seins außer sich.« (Sittenlehre von 1812). Das bedeutet nichts anderes, als daß der Mensch die Hemmungen der inneren Anlage (Funktionen) und die Wertwidrigkeiten des eigenen Geistes zu überwinden vermag durch zielvolle Klärung seiner geistigen Richtkräfte. Mithin vollendet damit der reifende Mensch im Akt der Selbstbildung den Prozeß seiner natürlichen Entwicklung. Das heißt, daß auf der höchsten Stufe der Reifung nunmehr planlose Entwicklung und systematische Selbstbildung, Freiheit und Ordnung ineinander münden. Schon bei Gelegenheit der Einübung mit Hilfe denkender Verknüpfung war angedeutet worden, daß in diesem Falle der »Schüler« die Rolle des leitenden »Lehrers« mitübernimmt, daß also hier Schüler und Lehrer, natürliche Reifung und Unterricht zusammenfallen, das Ziel aller Bildung! Dann erst bewahrheitet sich die platonische Idee, daß der Vernunftmensch freiwillig nicht wissentlich falsch handeln könne. Jeder Bildungsakt wird also an die autonomen Kräfte der rhythmisch-selbstgesetzlichen Entwicklungslinie jeglicher Individualität anknüpfen und diese Linie durch Fremdbildung emporführen zum autonomen Akt der völligen Eigenbildung. Das Problem der Willensfreiheit, besser: Freiheit des gewollten Handelns nimmt dann folgende Wendung. 1. Soweit die Freiheit des Handelns unterbunden ist durch die Natur des Menschen (wir können nicht fliegen) oder durch physischen, psychophysischen, moralischen Zwang (Fesseln, Krankheit, Schweigepflicht), sind wir fremdbestimmt. Von einer »Bildungsmöglichkeit« kann hier keine Rede sein. 2. Was die Freiheit des W i l l e n s betrifft, so untersteht die Bewegung des psychischen Geschehens der mechanischen Kausalität (vgl. oben S. 15 und 17f.). Hier herrscht strenge Determiniertheit; der Verlauf des mechanischen Geschehens ist auch hier keiner »Bildung« zugänglich. 3. Der gereifte und abgeklärte Mensch hat dennoch das Bewußtsein der Freiheit, nämlich zu wählen, wie er will E r vermag nicht nur den 1

Nach N. Ach ist die Entstehung des Bewußtseins der Willensfreiheit demgemäß für die Psychologen das besondere Problem. Siehe den Bericht über den 10. Kongreß für experimentelle Psychologie.

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Entwicklang, Bildung und Bildungsmöglichkeit

Ablauf seiner Funktionen, seines Trieb- und Werterlebens nachdenkend zu betrachten, er kann auch seine wertende Stellungnahme messen an den Normen des Gültigen. Ihm ist es überdies gegeben, die Möglichkeiten seiner Wertwahl abzutasten und sein Werterleben durch »Unterricht« noch zu erweitern, allerdings in den Grenzen seiner Wertempfänglichkeit I . Wenn sich auch der Vorstellungsmechanismus in seinem Ablauf unserer Beherrschung entzieht, so können wir unsere Aufmerksamkeit dennoch willkürlich auf wertvolle Motive »richten«. Wir können daher auch, falls ein Gefühl oder eine Vorstellung perseverierend das Bewußtsein bestimmt, unsere Aufmerksamkeit anderen Vorstellungen oder Betätigungen zuwenden. Das heißt Ablösung des Vernunftmenschen von den Trieb- wie von den Reiz-Bestimmtheiten, also Zurückdrängung der animalischen wie der äußeren B e d i n g u n g e n zugunsten geistiger R i c h t k r ä f t e . Dies alles ist allerdings an bestimmte Grenzen gebunden, da wir nicht bloß »Richtimg« sind, sondern das Geistige immer dem Stoff verhaftet bleibt. Aber selbst unsere mutmaßliche Freiheit ist bestimmt und zwar ausgerichtet im Sinne unseres Charakters. Wir könnten wohl anders wollen, wir wollen aber nicht! Es bleibt also bei Leibnizens Wort (Theodicee): Beim Menschen, wie auch sonst überall, ist alles im voraus bestimmt; seine Seele ist »une espèce d'automate spirituel«. Und dennoch wird der Gedanke der Willensfreiheit und der Bildungsmöglichkeit dadurch gerettet, daß allerdings die einzelne Handlung im voraus feststeht, daß es uns aber aufgegeben ist, unsern Charakter täglich und stündlich unserer Idee gemäß auszurichten. Also nicht Freiheit des einzelnen Tuns, sondern Freiheit einer umfassenden und geordneten Lebensgestaltung. Solche Freiheit des Wollens und Handelns ist eine aufgegebene Idee: die normgemäße Ausgerichtetheit eines geklärten Bewußtseins. Am Schlüsse dieses Abschnitts betrachten wir das funktionale Üben und Einüben im Rahmen ihres geistigen Zusammenhangs. Entwicklung war uns zunächst funktionale Ausgliederung, Differenzierung und Integrierung. Sowohl die Verfeinerung der Organe wie ihre assoziative Verknüpfung ist von ihrem Gebrauche abhängig. Gebrauch der Funktionen unterstützt die Entwicklung, Nichtgebrauch führt zur Verkümmerung. Thorndike spricht in dieser Hinsicht vom »Gesetz des Gebrauchs«2. Der größere oder geringere Erfolg des Übens und Einübens hängt ab von der Intensitätsspannung der Aufmerksamkeit, von ihrer Stärke, Dauer und besonderen Verwendung. Alle diese Betätigungen können vorwiegend reaktiv erfolgen, gewohnheitsmäßig oder auf fremde Leitung hin, also mit 1

Vgl. J. Lindworsky, Theoretische Psychologie, Leipzig 1932, S. 81.

» Vgl. außer Thorndike und Meumann noch O. Bobertag S. 181 fl; B . Kern, S. 4 4 ; M. Weise S. 74 fl.

Die Ausrichtung der geistigen Richtkräfte

49

einem Minimum eigenen Gerichtetseins. E s besteht demnach die Tatsache: der E r f o l g r e a k t i v e n L e r n e n s h ä n g t a b v o n dem R i c h t u n g s g r a d e der A u f m e r k s a m k e i t . Daraus folgt das Unterrichtsprinzip: Alle reaktiven Betätigungen sind mit höchster Sammlung der Aufmerksamkeit zu betreiben. Das nennen wir »Intensität«. Vgl. S. 19. Der Mensch ist aber kein bloßer Verband von Funktionen, sondern spontanes Trieb- und Vernunftwesen. Damit fügt sich die Ausgliederung der geistigen Ausrichtung ein: der Mensch gliedert sich nicht nur aus, sondern w i l l sich ausgliedern, d. h. er ist spontan auf Ausgliederung gerichtet. Infolgedessen wird der E r f o l g alles s p o n t a n e n L e r n e n s l u s t v o l l erlebt. Daraus folgt das andere Unterrichtsprinzip: alles Tun ist möglichst spontan zu betreiben, damit die Freude eigenen Wirkens geweckt wird. Im Falle des reaktiven Tuns höchster Intensität wird der Erfolg unterstützt durch die vitale Lust bloßen Funktionierens (Funktionslust). Im Falle des spontanen Tuns wird der Erfolg verstärkt durch die Freude am Gelingen. Dies Gelingen regt zu immer neuem Fleiß an: Gelingen ermutigt, Mißlingen entmutigt. Der Erfolg hat also nicht nur eine funktionale Wirkung, die Förderung der Übung und Einübung, sondern vor allem auch eine geistige: alles Gelingen spornt zu immer neuem Tun an l . Darauf beruht auch der bildende Einfluß aller spontanen Tätigkeit auf die Formung der Persönlichkeit und die Entstehung der Gemeinschaft. Hiermit sind die Grundlagen der Didaktik in den Elementen aufgewiesen (s. d. 4. Teil!). Aus den dargelegten Prinzipien ergeben sich zwei weitere Grundsätze: Ist eine Tätigkeit nicht selbst lustbetont, so wird sie in einen lustbetonten Rahmen einzubetten sein. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch Belohnung und Strafe zu betrachten — nicht als Selbstzweck. Ist eine »Sättigung« eingetreten 2 , d. h. widerstrebt man dem reaktiven bzw. spontanen Tun, so ist die Tätigkeit abzuändern, in eine andere Handlungsganzheit lustbetont einzulagern oder zu wechseln — oder es ist eine Pause der Erholung einzuschieben. L i t e r a t u r : N. Ach, Über die 'Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1905; ders. Über den Willen, Leipzig 1910. — Annelies Argelander, Übungsfähigkeit und Anfangsleistung (Beiträge zur Psychologie der Übung), Ztschr. f. angew. Fsychol. Bd. 19 (1921) 5. 1 ff. — O. Bobertag, Psychologie des Lernens, Handb. d. Pädagogik, her. v. Nohl-Pallat, 2. Bd. — K . Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930. — Herrn. Ebbinghaus, Abriß der Psychologie, 9. Aufl., Leipzig 1932. — E . Gellhorn, Übungsfähigkeit und Übungsfestigkeit bei geistiger Arbeit, Leipzig 1920, Beiheft 23 zur Ztschr. f. angew. Psychologie. — A. Goldschmied, Der Mensch u. das Werk, das Formale u. Materiale i. Bildungswesen, Dissert. Prag. — E . R. Jaensch, Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt und ihre 1 Thorndike sieht nur die f u n k t i o n a l e Seite (Gesetz des Erfolges) und in dieser Einseitigkeit auch nur die Verstärkung a s s o z i a t i v e r Einübung durch lustbetonten Erfolg. 3 A. Karsten, Psychische Sättigung, Psychol. Forschung 10 (1928), Heft 2—4. Otto, Unterrichtslehre. 4

50

Entwicklung, Bildung und Bildungsmöglichkeit

Struktur im Jugendalter, Leipzig 1927 (1923). — W . James, Psychologie, Leipzig 1920, übers, v. Marie Dürr; Talks to Teachers on Psychology, New Y o r k 1925. — G. K a f k a , Tierpsychologie, Handbuch der vergleichenden Psychologie I, 1, München 1922. — B. Kern, Wirkungsformen der Übung, Münster 1930. — K . Koffka, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung, Osterwieck 1925. — O. Kroh, Psychologie der Oberstufe, Langensalza 1932. — O. Külpe, Göttingische Gelehrte Anzeigen 169 (1907), S. 599 ff. — E. Lehmensick, Die Theorie der formalen Bildung, Göttinger Studien zur Pädagogik, herausg. v. H. Nohl, H e f t 6, Langensalza 1926. — J. Lindworsky, Der Wille, Leipzig 1923; Der Wille, seine Erscheinung und seine Beherrschung, Leipzig 1923. — M. Luserke, Schule am Meer, Bremen 1925. — O. Meßmer, Die neueren experimentellen Untersuchungen des Willensaktes und ihre Bedeutung für die Pädagogik, Ztschr. f . pädag. Psych. X I I I (1912), S. 85 ff. — C. L . Morgan, Instinkt und Gewohnheit, übers, v. M. Semon, Leipzig u. Berlin 1909. — R. Pauli, Untersuchungen zur Methode des fortlaufenden Addierens, Beiheft 29 d. Ztschr. f. angew. Psychologie. — W . Peters, Einführung in die Pädagogik auf psychologischer Grundlage, Leipzig 1916. — W. B. Pillsbury, Education as the Psychologist Sees it, New Y o r k 1927. — A . Ruelius, Arbeitsversuche an Hilfsschulen, Jenaer Beiträge 11, Langensalza 1929. — O . Selz, Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs (I. Teil), Stuttgart 1913; Zur Psychologie des produktiven Denkens und des Irrtums (II. Teil), Bonn 1922. — H. Schriever, Untersuchungen über den Einfluß der Wiederholung und Übung auf Testleistungen, Archiv f. d. ges. Psychol., X L I X . Bd. (1924), S. 283 ff. — Ed. Thorndike, Psychologie der Erziehung, Jena 1922, übers, v. O. Bobertag. — E . L. Thorndike and R . S. Woodworth, The Influence of Improvement in One Mental Function upon the Efficiency of other Functions, Psych. Rev. V I I I (1908), S. 2x7 ff. — O. Tumlirz, Einführung in die Jugendkunde II, Leipzig 1927. — C. Weiß, Pädagogische Soziologie, Leipzig 1929. — M. Weise, Pädagogische Übung, Dresden 1932. — F . Zeugner, Das Problem der Gewöhnung in der Érziehung, Göttinger Studien Nr. 12, Langensalza 1929.

C.

Die

Grenzen

der

Bildsamkeit.

W i r h a b e n den Grundsatz vertreten, d a ß nur das Geistige b i l d s a m ist, also nicht das Physische a n sich, u n d weiterhin das P s y c h o p h y s i s c h e nur, insofern es e b e n eine Durchdringung des Physischen m i t d e m darstellt.

Geistigen

Daraus folgt:

1. D e r

Leib,

physiologisch

betrachtet,

aber v o n der Seele her zu beeinflussen. Leibeserziehung geordnet.

u n d Wehrsport

ist

in das G a n z e

V g l . dazu meine Allgemeine

nicht

»bildsam«,

wohl

D a m i t wird jede Körperpflege, des Bildungswesens

ein-

Erziehungslehre.

2. R e f l e x e sind G a t t u n g s b e s t i m m t h e i t e n ; als solche sind sie feste u n d eindeutige Zuordnungen zwischen auslösendem R e i z u n d A n t w o r t .

Ihre

Z w e c k m ä ß i g k e i t liegt in der g a t t u n g s g e m ä ß e n A n l a g e , nicht in der persönlichen R e a k t i o n des S u b j e k t s auf die R e i z e der Situation. flussung

Eine

Beein-

der R e f l e x e als solche ist daher unmöglich.

3. E s liegt i m Wesen der angeborenen u n d ihren Z w e c k e n angemessenen Instinkte, A r t sind.

Spontanhandlungen

unbewußter

Insofern entziehen sie sich der b e w u ß t e n Ü b u n g .

daß

sie

Reaktionen

bzw.

W o h l aber

ist die individuelle Beeinflussung tierischer Instinkthandlungen

möglich

m i t H i l f e der E r f a h r u n g u n d der G e w ö h n u n g ; das ist in unendlich vielen Experimenten

(learning b y trial a n d error) nachgewiesen worden.

Die

51

Die Grenzen der Bildsamkeit

»Breite«, innerhalb welcher die Instinkte abgeändert werden können, ist bei allen Organismen verschieden. Das Lernen geht so vor sich, daß ein Gesamterlebnis angleichend auf die späteren Gesamterlebnisse einwirkt und auf diese Weise neue Komplexqualitäten geschaffen werden (H. Volkelt), auf Grund derer nun die Handlungsweise erfolgt. 4. Unter der Erziehung der menschlichen T r i e b e verstehen wir ihre Regelung, d. h. ihre »Einordnung« in höhere Wertkomplexe, um ihre naturgemäße (adäquate) Befriedigung im Rahmen des Kulturlebens zu ermöglichen. Was man in diesem Falle bilden kann, sind also nicht die Triebe selbst, sondern das Wertverhalten im Hinblick auf das Triebleben. 5. Auf dem Gebiete der F u n k t i o n e n müssen wir zunächst unterscheiden zwischen den physiologischen Grundlagen und der mehr seelischen Komponente. Die sensorischen Organe, z. B. das Auge ist in physiologischer Hinsicht wenig »bildbar«, wohl aber die »höhere« Schicht des psychophysischen Funktionsapparats. Die Schulung geschieht durch Einübung und Übung bzw. Mitübung der Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Denkfähigkeit. Die an Tieren vorgenommenen Versuche bestätigen, daß sie durch E i n ü b e n wohl lernen können. Es fragt sich aber, wie weit Tiere durch Ü b u n g auch ihre sensorischen Funktionen zu vervollkommnen vermögen, z. B. die Fähigkeit, das Umfeld zu strukturieren, oder ob das Tier auf die »Gunst der Umstände« angewiesen ist. 6. Die Grenzen menschlicher Bildsamkeit liegen da, wo der Wille, die geistige Sehnsucht fehlt. Daß sich theoretische Menschen nicht künstlich züchten lassen, hat W. Hartnacke eindeutig nachgewiesenz. Daher werden Kinder und Primitive immer der Führung bedürfen. Schließlich sind wir aber allesamt dem Bösen insofern verhaftet, als uns der Geist nie »rein« geformt hat. Wo dazu die Einheit der Persönlichkeit aufgespalten ist, kann kein sinnvolles Handeln aus einem höchsten Wertkomplex erfolgen. Aber auch da, wo die Funktionen, namentlich das Gedächtnis und das Denken nicht einübbar bzw. übbar sind (»Geisteskranke«) und wo sich das geistige Wesen des Vernunftmenschen der verstandesmäßigen Klärung entzieht, kann sich kein volles Menschentum entfalten. Die Formung der Persönlichkeit ist daher Menschen versagt, die an erworbenem bzw. angeborenem Schwachsinn (Idiotie, Imbezillität, Debilität) leiden, deren Denkfähigkeit eingeschränkt ist. Allen psychopathischen Konstitutionen aber kann in gewissen Grenzen geholfen werden, wenn zielbewußte Führer und gütige Menschen ihnen die Hand reichen. ' W . Hartnacke, Naturgrenzen geistiger Bildung, Leipzig 1930.



ZWEITER TEIL

Die Organisation des Bildungswesens I. Die Führung zum Beruf durch Auslese In Zeiten ursprünglicher Vergesellschaftung vollzieht sich auch die Unterweisung der Jugend in den schlichtesten und natürlichsten Formen. Überlieferung und persönliche Erfahrung weisen Ziel und Wege. Mit steigender Kultur vermag jedoch die Familie den Forderungen theoretischer Unterweisung nicht mehr zu genügen. Daher tritt überall der »gelehrte« Unterricht schon früh neben die Familienerziehung; er legt zugleich den Grundstock für weitere Studien, den Forderungen des praktischen Lebens gemäß (Recht, Medizin, Theologie usw.). J e mehr sich jedoch das Wirtschaftsleben verzweigt, das »Volk« erwacht und weitschauende Persönlichkeiten seine Bedürfnisse oder die Leistungsmöglichkeiten eines arbeitsamen Bürgerstandes erfassen, entfaltet sich auch die Schule des dritten und vierten Standes, vornehmlich als praktische Schule des werktätigen Volkes. Natürliches Wachstum aus ursprünglichen Kräften, künstliche Regelung aus ruhiger Überlegung oder aus dem Sturm und Drang aufgewühlter Zeiten schaffen im Laufe der Jahrhunderte ein ungeheuer weitverzweigtes System, das nun, wesentlich verschieden nach Land und Leuten, als eine geschichtliche Tatsache von unermeßlicher Bedeutung vor uns steht. A. Theoretische und praktische

Schulen.

Aufgabe der pädagogischen Theorie ist es, den Aufbau des Bildungssystems, das Verhältnis der neuen Großmacht »Schule« zum Leben und seinen sozialen Urgebilden, zu Familie und Volk (Staat) zur Besinnung zu erheben, auf seine empirischen Grundgesetzlichkeiten hin zu untersuchen und zu Normen möglicher Unterrichtsgestaltung vorzustoßen. Gehen wir von der im ersten Teil erörterten Tatsache aus, daß sich die Entwicklung bzw. Bildung aller Lebewesen in Wirkung und Gegenwirkung mit der Umwelt vollzieht, so sprechen wir in der menschlichen Gesellschaft von »Erziehung«, insofern ein Mensch mit anderen Menschen in Wechselwirkung steht; von »Unterricht« aber, insofern sich der Mensch an den Gegenständen seines Lebenskreises entfaltet, sich »differenziert «und »integriert«. Diese Ausgliederung eines Subjekts am Gegenstand (S G) steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Jegliche Bildung, insofern

Theoretische und praktische Schulen

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sie auf Unterricht beruht, greift demnach auf diese Beziehung von Menschen auf »Gegenstände der Kultur« zurück, die wir dann als Bildungsgüter bezeichnen. Man sei sich also klar über diese schlichte und doch so grundlegende Tatsache, daß aller Unterricht als System dann nichts anderes besagt als die ziel- und planvolle Gestaltung von Beziehungen der Menschen zu ihrer sachlichen Umwelt, die wir »Gegenwelt« genannt haben. Damit werden die verschiedenen Beziehungs-Kategorien zwischen Subjekt und Gegenstand, auf denen ja die möglichen Bildungsarten beruhen, zu grundlegender Bedeutung für die Organisation des Bildungswesens. Da den wesensverschiedenen Grundhaltungen des Menschen zur Sachwelt der Objekte auch die Grundtypen des Bildungssystems entsprechen müssen, haben wir zwecks Begründung der Unterrichtsorganisation auf die typischen Verhaltungsweisen des leistungsfähigen Menschen zur Gegenwelt zurückzugreifen. Wie der Mensch nicht ein bloßes Bündel von Vermögen, sondern eine leibseelische Ganzheit darstellt, die in einem geistigen Kern gegründet ist, so kann sich auch kein Bildungssystem aus einem Sammelsurium beliebiger Bildungsgüter aufbauen. Das gesamte Bildungswesen bis herab zu dieser oder jener »Schule« ist vielmehr eine Einheit gesetzmäßig zugeordneter Bildungsgüter, bezogen auf einen geistigen Kern (vgl. oben S. 9 f.). Als Wesensgestalten sind alle Schultypen ideelle Konstruktionen, die an die empirische Anlage menschlicher Typen anknüpfen und auf einen normativen Spitzenbau hinzielen. Alle Arten von Bildungseinrichtungen sind also auf die »Bestimmung« des einzelnen Menschen »hingeordnet«, d. h. auf die besondere Idee der werdenden Persönlichkeit in der werdenden Gemeinschaft. Die unaufhebbare Spannung zwischen Wirklichkeit und Idee, zwischen Sein und Sollen, Gesellschaft und Gemeinschaft, Individuum und Persönlichkeit bringt es mit sich, daß wir im Hinblick auf die Welt der Tatsachen auch mancherlei »Zwischenlösungen« des Augenblicks vorsehen müssen. Das Schicksal alles menschlichen Sinnens und Wirkens! Wie weiter unten zu zeigen ist, gibt es zwei wesenhaft verschiedene Beziehungen zwischen Subjekt und Gegenstand, das theoretische und das praktische Verhalten x. Unter dem Theoretischen verstehen wir die Sehnsucht nach Wahrheit, unter dem Praktischen das Verlangen nach möglichst vollkommener Werkleistung unter höchster Energieersparnis. Denn immer ist das Geistige eine Sehnsucht, ein Streben und Verlangen, ein Interesse, der Eros. Wir werden demgemäß in einem vorläufigen Ansatz die t h e o r e t i s c h e Schule und die p r a k t i s c h e Schule als die 1 Vgl. dazu das Schlußkapitel meiner Allgemeinen Erziehungslehre (Die ewigen Bewegungen des gesellschaftlichen Lebens) sowie das Schema im Anhang dieses Buches.

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Die Organisation des Bildungswesens

beiden Grundtypen aller Bildungsorganisationen annehmen müssen, den Grundhaltungen des auf Sachleistung gestellten Menschen gemäß. Welches ist nun der geistige Kern der beiden Grundformen von Schulen ? Sind die theoretischen Schulen in erster Linie solche des Wahrheitsstrebens, die praktischen solche der Energieersparnis? Eine kurze Überlegung wird diese Frage schnell lösen. Wer besucht die theoretischen, wer die praktischen Schulen? In Deutschland treten zurzeit die meisten Abiturienten der theoretischen Schulen (der »höheren« Schulen!) unmittelbar ins öffentliche Leben. Die theoretischen Schulen dienen dadurch unmittelbar dem »praktischen Leben«. Sie führen jedoch auch auf die Hohen Schulen und erfüllen damit eine zweite Funktion. Aber auch alle Studierenden, die künftigen Bildner, Theologen, Juristen, Mediziner, Ingenieure, Architekten, Zahnärzte, Landwirte, Kaufleute usw., wollen nicht in erster Linie die Theorie fördern. Der künftige Bildner will (oder soll) nicht vor allem ein Forscher werden, sondern ein tüchtiger Erzieher und Lehrer; der Theologe nicht ein Schriftgelehrter, sondern ein Führer zu Gott; der Mediziner will dem kranken Menschen helfen, der Jurist die Sphären menschlicher Machtansprüche abgrenzen helfen, im einzelnen Falle auch Streitigkeiten vorbeugen oder dem Rechtsbedrängten zur Seite stehen. Der reinen Theorie widmen sich nur die Dozenten der verschiedenen Hochschulen — oder sollten es wenigstens der Idee nach tun. Alle andern stehen nicht im außergesellschaftlichen Verhältnis der Theorie (S G), sondern, nach ihrer theoretischen Vorbildung auf Schule und Universität, im Dienste der Gesellschaft. Ihr geistiges Sehnen geht mithin zuguterletzt nicht auf Wahrheit schlechthin, sondern auf Einsicht und Können im Dienste der S i t t l i c h k e i t . Das theoretische Interesse, die Liebe zur Wissenschaft mag allerdings auf den Hohen Schulen und schon auf der theoretischen Schule, zeitweise ganz in den Vordergrund treten. So erklären sich mancherlei Spannungen und Gegensätzlichkeiten der Studienzeit und des späteren Lebens. Vom Hochschullehrer und besonderen Spezialisten abgesehen, wollen demnach alle Berufe, auch die sogenannten »höheren« Berufe nicht der Theorie um der Theorie willen, sondern dem Menschen und der menschlichen Gemeinschaft dienen. Sie fordern, um den an sie gestellten Forderungen genügen zu können, nicht den gelehrten, sondern den intelligenten Menschen, der sich seiner Verantwortung bewußt ist. Die theoretischen Schulen haben mithin die Aufgabe, den intelligenten Menschen zu bilden. Entsprechendes gilt für die praktischen (Volks-) Schulen. Ihre Jugend, der künftige Arbeiter, Handwerker, Angestellte, Bauer usw. sind nicht wesentlich bewegt von dem Drange nach Energieersparnis, sondern sie

Intelligenz und Geschicklichkeit

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wollen einmal im Beruf praktische Arbeit leisten und so ihre Aufgabe erfüllen. Dazu bedürfen sie der Geschicklichkeit. Die praktische Schule bildet also den geschickten Menschen der Verantwortlichkeit. Alle Schulen, die theoretischen sowohl wie die praktischen, sind also in erster Linie Schulen der Sittlichkeit. Ihr wesenhafter Kern ist mithin die Erziehung sowie der Unterricht im Dienste der Erziehung: erziehlicher Unterricht. Wenn wir dennoch die Bezeichnung »theoretische« bzw. »praktische« Schulen beibehalten und nicht Schulen der Intelligenz bzw. der Geschicklichkeit sagen, so geschieht es aus dem Grunde, weil ja das Vorhandensein einer gewissen Sehnsucht nach Erforschung der Wahrheit bzw. nach Ersparnis der Energie, also ein geistiges Verhältnis zum spezifischen Gegenstand des Bildungsvorgangs ganz und gar nicht geleugnet, vielmehr als Grundlage geradezu gefordert wird. Ist doch der theoretische wie der praktische Mensch eine untrennbare Einheit, die Struktur nicht eine bloße Summe von »Vermögen«, sondern die gegliederte Ganzheit geistigen Wesens, einer bestimmten Lebenssituation zugeordnet.

Es erheben sich dann die Fragen: Was bedeutet Intelligenz, was heißt Geschicklichkeit ? Welche Möglichkeiten gibt es, um den intelligenten bzw. praktischen Menschen als solchen zu erkennen, um ihn der angemessenen Schulform und damit dem geeigneten Beruf zuzuführen ? B. Intelligenz und Geschicklichkeit. Was bedeutet zunächst Intelligenz? Die bisherigen Auffassungen und Ansichten über Intelligenz weichen vielfach voneinander ab. Es fragt sich zunächst, ob Intelligenz eine einheitliche Disposition ist. Aber auch schon diese Fragestellung ist an sich unklar. Denn einerseits ist der Ausdruck »Zentralfaktor« in der älteren und neueren Psychologie in verschiedenem Sinne gebraucht worden (vgl. z. B. Krueger und Spearman, Selz, Giese). Andererseits wird wohl kein moderner Psychologe den bloßen Aggregatcharakter der Intelligenz rechtfertigen und somit das menschliche Seelenleben in eine Reihe völlig unabhängiger Akte und Funktionen auflösen wollen. Somit kann es sich nur darum handeln, ob man die Intelligenz auf einen e i n h e i t l i c h e n Faktor zurückführen will, beispielsweise allein auf die Aufmerksamkeit mit Binet (und W. Wundt) oder auf die Kombinationsfähigkeit mit Ebbinghaus. Lehnt man diesen Standpunkt ab, so kann man wohl von einem general ability (Spearman) oder einem »Gesamtniveau der Persönlichkeit« (W. Stem) reden und unter Intelligenz einen Komplex wesenhaft zugeordneter Funktionen verstehen«. Welches ist nun diese Ganzheit der g l i e d h a f t z u g e o r d n e t e n F u n k t i o n e n , auf denen die Intelligenz beruht ? Nach Wundt ist sie eine Kombination von Verstandesfähigkeit und Phantasie. Meumann bezeichnet den »denkenden und urteilenden Menschen« als intelligent, insofern er sich »durch Originalität und Produktivität« des Denkens auszeichnet. 1

Es ist interessant, zu beobachten, wie bei Meumann, infolge seiner Verknüpfung der Intelligenz mit der höheren Begabung, die verschiedenen Gesichtspunkte ineinanderfließen: die »einheitliche Gestaltung des ganzen intellektuellen Seelenlebens«, die »einzige zentrale Fähigkeit«, die eine »Ungleichheit e i n z e l n e r Leistungen zuläßt«, und die Zurückführung der Intelligenz auf mehrere Faktoren des Seelenlebens wie Denkfähigkeit, Phantasie, emotionale und formale Eigenschaften des Seelenlebens.

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Die Organisation des Bildungswesens

auch durch »Scharfsinn und Tiefsinn« sowie durch »Selbständigkeit des Urteils«. Th. Ziehen versteht unter Intelligenz einmal die »Ideation«, d. h. die Bildung abgeleiteter Vorstellungen aus den unmittelbaren Erinnerungsbildern, also die analytischen, komparativen und synthetischen Funktionen; sodann die »Kombination«, d . h . die neuen Vorstellungsverknüpfungen der Denkvorgänge. Die Phantasie, abgesehen von Gefühlsmomenten, und die Spekulation gehören auch zur Intelligenz. W. Stern hat sich jahrzehntelang um die Begriffsbestimmung der Intelligenz bemüht. In früherer Zeit legte er auf folgende Merkmale besonderes Gewicht: Intelligenz ist allgemeine und formale Leistungsfähigkeit; sie vermag, ohne gerade schöpferisch zu sein, sich neuen Aufgabestellungen des Lebens anzupassen. Später hat Stern die Intelligenz folgendermaßen formuliert: »Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit, sich unter zweckmäßiger Verfügung über Denkmittel auf neue Forderungen einzustellen.« Einen ähnlichen Standpunkt hat auch Ed. Claparède vertreten: die Intelligenz ist »la capacité de résoudre par la pensée des problèmes nouveaux«.

War die Intelligenz von W. Stern schon früher als nicht »ganz von innen quellend« gekennzeichnet worden, war auch die Intelligenz als Fähigkeit zu Neuanpassungen abgegrenzt worden gegen die »Intellektualität« als die Neigung hierzu, so wird nunmehr der Gesichtspunkt, daß der Intelligente über sein Denken als Mittel für bestimmte Lebensaufgaben »verfügen kann«, stärker betont. Intelligenz ist also nicht die quellende Lust und »Neigung« zum Denken, sondern nur die Fähigkeit dazu, also nicht ein geistiger Akt der Sehnsucht, wie schon die Psychiatrie gesehen hatte, sondern die bloße logische Funktion des Denkens, wodurch der Intelligente in den Stand gesetzt wird, neuen Forderungen des Lebens zu genügen. Und in der Tat, es gibt intelligente Menschen, die namenlos träge sind, alles an sich herankommen bzw. von sich abgleiten lassen und sich erst unter dem Druck der Verhältnisse zur Tätigkeit zwingen lassen. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Intelligenz immer reaktiv ist; sie kann vielmehr auch spontan sein, also nicht bloße Funktion, sondern dem Interesse eines geistigen Menschen entspringen. Dann geht die Intelligenz, in W. Sterns Ausdrucksweise gesprochen, in die »Intellektualität« über. Es leuchtet ein, daß dem denkenden Menschen eine gewisse Schärfe der Beobachtungsgabe (vgl. lat. intellego) und ein zuverlässiges Gedächtnis sehr zustatten kommen werden, bisweilen unentbehrlich sein mögen. Wir werden also von der Intelligenz nicht die Gabe der Beobachtung und der Erinnerung trennen wollen. So bestätigt sich die Annahme, daß die Intelligenz einen Komplex wesenhaft zugeordneter theoretischer Funktionen darstellt. Dabei bleibt der Begriff der Intelligenz immerhin noch recht unbestimmt. Neuere Tierversuche, namentlich diejenigen W. Köhlers, haben dies Problem wesentlich geklärt. Wolfgang Köhler stellt die Frage, ob Menschenaffen »in irgendeinem Grade verständig und einsichtig zu handeln vermögen, wenn die Umstände intelligentes Verhalten erfordern«. Wenn sich nun Schimpansen mittels aneinandergefügter Bambusrohre, die sich plötzlich wie »zufällig« ineinanderschieben, oder mittels aufeinandergetürmter Kisten einer Frucht bemächtigen; wenn nach anfänglich planlosem Versuchen eine Pause gemacht wird und

Intelligenz und Geschicklichkeit

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die Lösung der Aufgabe dann plötzlich in einem Zuge richtig gefunden wird, auch auf Umwegen, da der direkte Weg zum Ziel nicht gangbar ist; wenn von nun an die Lösung der Aufgabe sofort gelingt; wenn die Entdeckungen weiter ausgebaut und von anderen Afien nachgeahmt werden, so glaubt W . Köhler, den Menschenaffen ein »einsichtiges Verhalten v o n der Art des beim Menschen bekannten« nicht absprechen zu dürfen. Die Grenze seines Könnens liege da, wo »die Feldstruktur zu viel von seiner optischen Fassungskraft« verlange. J. Lindworsky hat gegen diese Deutung der Versuche Einspruch erhoben und auf die Möglichkeit bloßer Instinkthandlungen hingewiesen, die den früheren Umweltbedingungen des freien Schimpansen angepaßt sind. Andere Leistungen erklärt er aus den »Übergangsempfindungen« (z. B . des Auges beim Übergang von hell zu dunkel) oder als Zufallslösungen. K a r l Bühler glaubt, daß die Affen wohl »Einfälle« haben, d. h. »uneinsichtige Leistungen des Assoziationsmechanismus«, daß sie aber nicht »einsichtige« Erfindungen machen. Sie vermögen sich etwa in die Endsituation der Zielerreichung einzufühlen, die »Sachbezüge« zu bemerken und dann plötzlich, nicht durch Versuche, einer neuen Anforderung ein- für allemal gerecht zu werden. Die eigentliche Leistung beruht also auf der Ausnutzung eines echten Einfalls. K . Koffka setzt dieser »Vorstellungs-Theorie« die »Struktur-Theorie« entgegen und knüpft damit an Köhlers Auffassung an. Auch R . M. Yerkes und B . Learned nehmen eine gewisse Einsicht (insight) des Schimpansen an. Ebenso vertritt O. Selz im Zusammenhange der determinierten Komplexergänzung die Ansicht, daß das Umschauhalten nach geläufigen oder zufällig geeigneten Mitteln auf einsichtige Vorgänge der Mittelündung hinweist. H. Pleßner hat dagegen im Anschluß an H. Volkelts Experimente ergänzend dargelegt, daß für die Sphäre der zentralistisch organisierten Tiere wohl eine dinglich geordnete Anschauung vorhanden ist, in welcher der Wahrnehmungsrahmen durch die Situation der gegebenen Feldstruktur, der Wahrnehmungsinhalt durch die im Feld gegebenen Elemente gebildet wird. Der einzelne Gegenstand ist also auf dieser Stufe auch für das Tier da, steht ihm aber noch nicht als eine Sache für sich, als echtes loslösbares Ding gegenüber. Einzelnes u n d Allgemeines kennt erst der Mensch (vgL dazu oben S. 2f.). Mit diesem Unvermögen des Zergliederns, Sonderns und Abziehens ist auch dem Schimpansen, trotz seiner verhältnismäßig hochentwickelten Anlage zur Strukturierung des Umfeldes, eine tiefere Einsicht in Sachzusammenhänge versperrt und überdies die Möglichkeit der Mittelwahl von den Zufälligkeiten der Umwelt abhängig gemacht. Dazu übersehe man nicht, daß alle Leistungen der Menschenaffen nicht im Dienste der Wahrheitserkenntnis noch des Schaffens im Sinne von Kulturleistungen stehen, m i t h i n keinen geistigen Sinn haben, sondern der Befriedigung biologischer Triebe dienen. Alle Verhaltungsweisen der Schimpansen fallen also weder in die Sphäre der Theorie noch in die der Praxis, sind vielmehr Arten des Handelns zu einem biologischen Zweck. E . Scheringers Experimente und deren psychologische Zergliederungen haben eindeutig dargetan, daß alle Aufgaben des Handelns, d. h. zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, sowohl intuitiv (»das richtige Ergebnis ist plötzlich da«) als auch mittels verstandesmäßiger Einsicht in die Komplexbeziehungen gelöst werden können. Die Afien sind der logischen Zergliederung, des Vergleichens und Überlegens nicht fähig und erreichen ihr Ziel auf Grund einer (blitzartigen) Intuition. E s liegen also hier gar keine eigentlichen Leistungen der beziehenden Intelligenz als einer theoretischen Funktion vor, sondern Möglichkeiten intuitiven Handelns in einer gegebenen Sachlage (Wegen der Unterscheidung der rein theoretischen Sphäre und derjenigen des Handelns siehe die Skizze des Anhangs). S o wichtig die Gabe der Intuition sein mag, die Schule, namentlich die theoretische Schule, wird unzweifelhaft auf die Übung der begrifflich-logischen Denkfunktionen nicht verzichten dürfen. Köhlers Versuche bedeuten also, daß die Schimpansen in gewissen Grenzen imstande sind, sich in neuen Situationen intuitiv zurechtzufinden. Unter Intelligenz im eigentlichen

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Sinne möchte ich aber in Anlehnung an Lindworsky, Bühler und Pleßner nur dann sprechen, wenn die logisch-begriffliche Einsicht in die Sachbezüge eines Ganzen vorhanden ist. Das erfordert nicht nur die Gabe der Intuition, sondern auch gegebenenfalls die Fähigkeit logischen Zergliederns, Vergleichens und Zusammenfassens. Nennen wir doch auch nur denjenigen Theoretiker intelligent, der die an ihn gestellte Aufgabe aus einer klaren Überschau und Einsicht in die vorliegenden Zusammenhänge löst, nicht mit Hilfe eines bloßen glücklichen Einfalls; man könnte dies eher genial nennen. An und für sich kann die Intelligenz, die ja selber noch nicht der geistige Akt der Theorie ist, trotz ihrer engeren Beziehungen zur Theorie, nicht nur in den Dienst des Wahrheitssuchens gestellt werden, sondern kann auch weiterhin dem Verlangen nach Energieersparnis beim Schaffen und Handeln nutzbar gemacht werden. Man tut also zunächst gut, diesen doppelseitigen Charakter der Intelligenz klar vor Augen zu haben. Wir werden sehen, daß dies für die normative Gestaltung der Bildungsorganisation von nicht unerheblicher Bedentung ist.

Schließlich sind Theorie und Praxis, als außergesellschaftliche Vorgänge, nur Isolationen des wirklichen Lebens. Um der Theorie und Praxis in der Fülle des gesellschaftlichen Lebens gerecht werden zu können, muß der intelligente Mensch auch über eine gewisse Breite und Leistungsfähigkeit seines Wissens und Könnens verfügen. Mit Recht wird daher in den verschiedenen Bestimmungen der Intelligenz auf die (richtig verstandene) »Anpassungsfähigkeit« an neue »Aufgaben des Lebens« Gewicht gelegt, d. h. in neuartigen Sachlagen »sich zu helfen wissen« (O. Lipmann, W. Stern). Dieser Gesichtspunkt ist insofern von Wichtigkeit, als er das Verfahren rechtfertigt, das Kind, dessen Denkfähigkeit zu abstrakten Überlegungen ja noch nicht entwickelt ist, nicht mit Hilfe abstrakt-analytischer Tests, sondern konkret-synthetischer Tests zu prüfen. Wir sehen daher in neuerer Zeit allenthalben, besonders auch in Amerika, einen Übergang vom rein abstrakten Verfahren zu lebensnahen Leistungsprüfungen theoretischer Art und zu Tests praktischen Handelns (s. darüber weiter unten). Fassen wir die Bestimmungen der Intelligenz zusammen, so ist zunächst einschränkend zu sagen, daß Intelligenz als theoretische Funktion (des Zergliederns, Abziehens, Sonderns, Verknüpfens und der Komplexergänzung) nicht mit geistigen Akten gepaart sein muß, mithin bloß den Denkverlauf meint, also nicht den geistigen Akt der Sehnsucht, forschen zu wollen. Positiv ausgedrückt, ist Intelligenz eine psychophysische Funktion, die ihren Träger befähigt, auch wesentlich neuartigen Forderungen der Theorie wie der Praxis, vor allem auch des gesellschaftlichen Handelns zu genügen und zwar aus einer geklärten Einsicht in sachliche (oder persönliche) Zusammenhänge. Wir fragen nunmehr, welche Gesichtspunkte dann zu beachten sind, wenn es gilt, »intelligente« Menschen für die ihnen angemessenen Schulen bzw. Berufe auszuwählen. Es werden folgende Merkmale zu beachten sein:

Intelligenz und Geschicklichkeit

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1. Es ist in erster Linie der f u n k t i o n a l e Ablauf des D e n k v o r g a n g s zu prüfen, also nicht ob jemand forschen w i l l , sondern ob er denken kann. 2. Darüber sind die anderen Funktionen theoretischen Verhaltens nicht zu vernachlässigen: B e o b a c h t u n g s g a b e und G e d ä c h t n i s leistungen. 3. Es kommt nicht darauf an, ob eine gewisse technische Gewandtheit des Denkens in ausgefahrenen Bahnen vorhanden ist, sondern ob das Denken auch wesentlich neuen Anforderungen zu genügen vermag. Das setzt einen gewissen Grad von Phantasie voraus. Gelegenheit zu neuen Leistungen geben! Zusatzpunkte für mehrere und für besonders gute (»seltene«) Leistungen! 4. Die Lösung der Aufgabe darf nicht aus blindem Instinkt erfolgen, sondern aus der geklärten E i n s i c h t in die Sach- bzw. strukturellen Sinnzusammenhänge eines Ganzen. 5. Die Fähigkeit des Denkens darf sich nicht bloß einseitig auf begrenzte Teilgebiete erstrecken, sondern muß eine gewisse B r e i t e und A l l g e m e i n h e i t besitzen und so nicht bloß der Lösung abstrakter Aufgaben, sondern auch der Bewältigung lebensnaher und zweckspezifischer Forderungen gewachsen sein. Anpassung des Tests an die konkrete Situation des P r ü f l i n g s ! Von diesen qualitativen Bestimmungen sind solche des Arbeitstempos bzw. des rascheren oder langsameren Einstellungswechsels wohl zu unterscheiden.

Derartige Fähigkeiten der

»Anpassungsfähigkeit« und der technischen Umstellungstüchtigkeit liegen auf einem andern Gebiete (vgl. dazu die Untersuchungen M. Zilligs).

Th. Ziehen unterscheidet zwei T y p e n :

»die raschen, aber bei schwereren Aufgaben versagenden und die langsamen, aber auch schwereren Aufgaben gewachsenen Köpfe«.

Die p r a k t i s c h e n S c h u l e n dienen entsprechend nicht der Heranbildung von »Erfindern«, deren ganzes Sehnen auf das Werk der Energieersparnis gerichtet ist, sondern in erster Linie der Wesensgestaltung ges c h i c k t e r Menschen. Ihr ursprünglicher Ausdruck ist nicht das Wort, sondern das Werk ihrer Hände. Die G e s c h i c k l i c h k e i t betrifft die Fähigkeit der m o t o r i s c h e n F u n k t i o n e n , ihre Ausbildung und Zuordnung für das Schaffen am Werk; dazu Materialgefühl und feinere Sinnesempfindungen sowie die Zusammenarbeit von Hand und Sinnen, von Hand und Auge wie von Hand und Ohr, von Hand, Fuß und Auge usw. Es empfiehlt sich, die grundlegenden Ausführungen über das Wesen des praktischen Menschen und sein ganz eigenartiges Lebensgefühl, das wir Theoretiker immer durch die Brille der Theorie zu sehen pflegen, erst da zu behandeln, wo der Begriff der »Arbeit« geklärt wird (3. Teil). Wir heben vorläufig nur hervor, daß man zwecks Feststellung der geschickten Schüler und ihrer Zuteilung zur praktischen Schule darauf zu achten haben wird, daß eine gewisse motorische Anlage

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Die Organisation des Bildungswesens

vorhanden ist, die die Möglichkeit zu höherer Entfaltung bietet. Es kommt also nicht darauf an, daß der praktische Schüler über eine gewisse Technik auf einem besonderen Gebiete verfügt, sondern darauf, daß auch hier eine allgemeine Befähigung zu motorischen Leistungen vorhanden ist, wie sie das praktische Leben fordert. Die Sonderung von Typen nach der vorwiegend theoretischen bzw. praktischen Veranlagung betrifft wesenhafte Unterschiede, nicht aber solche des Grades. In der reichen Literatur über Beanlagung und Intelligenzforschung mischt sich in diese Art der Unterscheidung immer und immer wieder die einer höheren bzw. niederen Anlage, so daß Intelligenz als eine »höhere Begabung« erscheint. Da nimmt es nicht wunder, wenn auch auf pädagogischem Gebiete von einer »höheren« Schule schlechthin gesprochen wird, wenn sie zu einer Schule der Begabten, weiterhin zur Schule der Gebildeten und schließlich, mit einer Wendung ins Sittliche, zu einer Schule der Besseren (Aristopädie!) wird: der »höhere Schüler«. Auf der andern Seite erscheint die praktische Schule als die Schule des »Volkes«, der Unbegabten, der Ungebildeten: die Armenschule. Sicherlich nicht allgemein so, aber wie oft schwingt eine derartige stärkere oder leichtere Färbung gefühlsmäßig mit! Hier liegen die weitreichendsten Probleme sozialpädagogischer Natur. Solange solche Verhältnisse des Wertens unter Deutschen herrschen, kann man schwerlich beanspruchen, »ein Volk« zu sein.

Daraus folgt, daß wir auf theoretischen wie auf praktischen Schulen sowohl höher begabte wie weniger veranlagte Schüler haben werden. Es wäre mithin grundsätzlich falsch, die praktisch höher begabten Schüler dadurch fördern zu wollen, daß man sie auf die theoretische (als die »höhere«) Schule schickt. Sie könnten da vielleicht scheitern, was die Praxis wohl zu bestätigen weiß. Außerdem wäre es verfehlt, das praktische Leben der höheren Begabungen berauben zu wollen; es bedarf auch seinerseits der geeigneten Führer. Entsprechendes gilt von den schwächer begabten Schülern t h e o r e t i s c h e r Art. Man »schiebt« sie nicht »ab« auf die Volksschulen, sondern wird sie nach Möglichkeit auf der ihrer Wesensart angemessenen Schule zu bilden trachten. Damit ist einmal gegen eine f a l s c h e Differenzierung des Bildungswesens Stellung genommen, sodann aber auch gegen eine zu w e i t getriebene äußere Gliederung, wodurch man weder dem einzelnen Schüler noch der werdenden Schulgemeinschaft einen Dienst erweisen würde.

Das Problem liegt aber noch tiefer. Wenn wir in der künstlichen Absonderung des außergesellschaftlichen Lebens (S -«• G) die beiden Pole des theoretischen und des praktischen Menschen als Spannungspaare unterschieden haben und entsprechend die theoretische und die praktische Schtde, so sind in der Wirklichkeit des Lebens stets theoretisches und praktisches Verhalten untrennbar verbunden. Denn alles Leben drängt auf Ausgleich der Spannungen. Gibt es doch schwerlich eine theoretische Besinnung ohne praktisches Gestalten, und jede praktische Werkleistung ist an theoretische Überlegungen gebunden. Je mehr in unserem Wirt-

Intelligenz und Geschicklichkeit

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schaftsieben der Handwerker hinter dem Industriearbeiter zurücktritt, je mehr es dem Arbeiter obliegt, Maschinen zu bedienen und zu überwachen statt mit dem Handwerkszeug zu schaffen, um so mehr bedarf er des raschen Überblicks neben dem sicheren Zugriff der Hände. In diesem Sinne kann man von »adaptiver Geschicklichkeit« (W. Stern) sprechen als einer »höheren Form« der Geschicklichkeit oder richtiger als einer Mischform von Ges c h i c k l i c h k e i t und Intelligenz. Auch auf dem Gebiete der Berufsberatung werden demgemäß beispielsweise die Bewerber für qualifiziertes Metallgewerbe nicht nur auf besondere Arbeitseigenschaften der Hand und Sinnestüchtigkeit des Auges beobachtet, sondern auch auf Schulkenntnisse (Rechnen) und auf die »technisch-konstruktiven Seiten der Intelligenz«. So kommt es, daB Volksschüler für die handwerksmäßig-technischen Berufe z. T. mit denselben Tests geprüft werden, die Moede-Piorkowski für die Auswahl der Berliner »Begabtenschulen« (1) verwendet h a t . 1 Die theoretische wie die praktische Schule sind daher nicht als einseitige Konstruktionen auszubauen, sondern als lebenswirkliche Gebilde, die nach ihrer einheitlichen Wesensgestaltung demgemäß einerseits dem mehr theoretisch gerichteten, andererseits dem m e h r praktisch veranlagten Menschen die Verwirklichung seiner Wesensidee ermöglichen sollen. Eine scharfe Scheidung gibt es nichtt Es wäre zu umständlich, von einer mehr-theoretischen bzw. mehr-praktischen Schule oder dgl. zu sprechen. Die theoretische Schule ist auch nicht die Statte eines einseitigen Intellektualismus, die praktische Schule nicht Trägerin eines öden Utilitarismus. Das hieße den Sinn der hier vertretenen Gliederung völlig verkennen. Dann sind noch folgende Fragen zu lösen: wir werden auch mit Schülern zu tun haben, die im besten F a l l höchste Intelligenz mit größter Geschicklichkeit verbinden, und umgekehrt, im ungünstigsten Fall, niedrige I n telligenz mit geringer Geschicklichkeit. Welches Schulsystem soll ihnen gerecht werden? Sollte für theoretisch-praktische Mischbegabungen, ohne besonders stark ausgeprägte, begrifflich-abstrakte Denkfähigkeit — und Neigung! — ein besonderer theoretisch-praktischer Schultypus zu schaffen sein! 1 . Die hier liegenden Spannungen werden sich jedoch dadurch abmindern, daß der einseitige Ansatz des geschickten Praktikers weiter unten (2. Abschnitt, S. 8 4 f f . ) nach der Seite des w i r t s c h a f t e n d e n und h a n d e l n d e n Menschen hin zu erweitern ist. Schließlich entsteht das Problem, ob ein Übertritt von den praktischen Berufs-, Werk- und Fachschulen zur theoretischen Hochschule möglich ist. Haben wir es doch objektiv betrachtet mit wesenhaft verschiedenen Systemen zu tun. L i t e r a t u r : K. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930. — Ed. Clapartde, La Psychologie de l'Intelligence, Scientia X X I I (1917), S. 3530. — K. Koffka, Die 1

W. Stern, Zur Theorie der Intelligenz, Zeitschr. f. Pädagog. Psychol. 29 (1928), S. 7; R. Liebenberg, Berufsberatung, Leipzig 1925, S. 50; E. Stern, Die Fesstellung der psychischen Berufseignung und die Schule, Leipzig 1927, S. 142. 1 Ihrem Wesen nach ist Intelligenz immer »gnostisch«, also das gnostische Element innerhalb der »adaptiven Geschicklichkeit« mithin wesenhaft unterschieden von der Geschicklichkeit und Lebenstüchtigkeit des Handelns. Wie ja auch W. Stern bemerkt, daß es »hochintelligente Gelehrte« gibt, die in den »Realitäten des Lebens kindlich hilflos sind« (W. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen, Leipzig 1920, S. 24).

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Die Organisation des Bildungswesens

Grundlagen der psychischen Entwicklung, Osterwieck (Harz) 1925. — W. Köhler, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, Abhandig. d. Preuß. Ak. der Wiss. 1921. — J. Lindworsky, Stimmen der Zeit, 95 (1918), S. 386 fi., u. 97 (191*9), S. 65 ff.; Intelligenz und Intelligenzmängel, Ber. ü. d. Zweiten Kongreß f. Heilpädagogik, Berlin 1925. — E. Meumann, Intelligenz und Wille, Leipzig 1920; Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen II, Leipzig 1920. — O. Lipmann, Über Begriff und Erforschung der »natürlichen« Intelligenz, Ztschr. f. angew. Psych. 13 (19x8), S. 192 f. — W. Peters, Das Intelligenzproblem und die Intelligenzforschung, Ztschr. f. Psych. 89 (1922), S. 1 ff. — H. Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin u. Leipzig 1928. — Er. Scheringer, Experimentelle Untersuchungen über die anschaulich-motorische Kombination (praktische Intelligenz), Langensalza 1928. — C. Spearman, The Nature of Intelligence and the Principles of Cognition, The Macmillon Company 1923. — B. Hart and C. Spearman, General Ability, Its Existence and Nature, Brit. Journ. of Psych. V (1912). — W. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen, Leipzig 1920; Bericht über den X. Kongreß f. exper. Psych, in Bonn, Jena 1928, u. Ztschr. f. päd. Psych. 29 (1928), S. iff.; Die menschliche Persönlichkeit, Leipzig 1923. — H. Volkelt, Über die Vorstellungen der Tiere, Leipzig u. Berlin 1914. — W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie III 6, Leipzig 1911. — R. M. Yerkes und B. Learned, Chimpanzee intelligence and its vocal expressions, Baltimore 1925. — M. Zillig, Experimentelle Untersuchungen über Umstellbarkeit. Die Übung der Umstellbarkeit, Ztschr. f. Psych. 97 (1925), S. 1 ff.; 100 (1926), S. i8ff. — Th. Ziehen, Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung, Langensalza 1929. C.

Die

Intelligenzprüfung, Beobachtungsbogen Beschreibung.

und

freie

Wir stellen nunmehr die Frage nach den Mitteln, die es uns ermöglichen, die wesenhaft theoretischen bzw. praktischen Veranlagungen zu erkennen. Diese können einmal durch das »Leben« und auch durch die methodischdidaktische Unterrichtsführung der Schule festgestellt werden.

Neben

diesem immanenten Vorgang der Selbstauslese und Berufsführung können sich

experimentelle

Testprüfungen

mittels

Stichproben

vorteilhaft

erweisen. Die Erfahrung hat bewiesen, daß sich die Wahl der angemessenen Schule leichter durchführen läßt, wenn man nicht die praktischen, sondern die mehr theoretisch veranlagten Schüler im Experiment zu erfassen sucht. Ich muß davon absehen, den sehr lehrreichen Entwicklungsgang der Intelligenzforschung darzulegen, die Fragestellung der Psychiater und die Wendung von der Art der Veranlagung zur Höhe der Begabung; die Vervollkommnung der A l t e r n a t i v t e s t s (Antwort; Ja — Nein; richtig — falsch usw.) bei Decroly und Degand,. AI. Descoeudres, Terman, C. Burt und E. B. Huey, in Deutschland seitens H. Hetzer und K. Wolf, Ch. Bühler (Kleinkindertests) und O. Bobertag; die Schwierigkeit der Sonderung von konkreter Umwelt, Intelligenzanlage und Intelligenzleistung; die Übergänge zum q u a n t i t a t i v e n System (Yerkes-Foster); Aufstellung von relativen und allgemeinen Rangordnungen und Standardtests für Schultypen, Klassen und Fächer (Amerika: z. B. Ruch-Stoddard, Wood), ihre Arten (Fähigkeiten bzw. Schulwissen; letzteres stärker betont in Amerika, auch bei Bobertag-Hylla), ihre Berechnung (Bewertung) und (graphische) Darstellung (National Intelligence Tests, Otis, Kelley, Yule). Was die Zahl der zu bietenden Tests betrifft, so ist die angemessene Mitte zu finden zwischen zwei Extremen: ein einziger Komplextest, der wohl der sinnvollen Lebensganzheit entspräche, aber schwer zu bewerten ist (s. z. B. Päd.-Psychologische Arbeiten XIII), bzw. eine Menge von Einzeltests für die gesonderten Funktionen, wodurch aber die gegliederte

Die Intelligenzprüfung

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Einheit der wirklichen Intelligenz zerstört wird (sinnlose Silben!) «. Der »Wille« selbst, d . h. das theoretische bzw. sittliche Gerichtetsein wird schwerlich im Experiment erfaßt werden 1 — und soll es auch nicht. Vgl. oben S. 58 f.

Für die praktische Durchführung der experimentellen Intelligenzprüfungen könnte man folgenden Rahmen festlegen. Da die Intelligenz in erster Linie auf dem funktionalen Denken beruht, sodann auf Fähigkeiten des Gedächtnisses und des Beobachtens, so sollte sich die Testserie zunächst zusammensetzen aus drei bis vier Gruppen, die das einsichtige Denken und Verstehen prüfen 3, z. B. mittels der] Analogie-, Lücken-, Ordnungs- oder auch Kritiktests, auch eingekleideter Rechenaufgaben, Aufsätze; weiterhin aus einer Testgruppe, die die (sprachliche) Merkfähigkeit an sinnvollen Wörtern oder Sätzen feststellt (kritische Stellungnahme) und schließlich an einer Gruppe, die die Veranlagung der Beobachtung untersucht, vielleicht an realen Objekten, Bildern und geometrischen Figuren 4. Der Umfang jeder Gruppe und seine Bewertung im Verhältnis zu den anderen Gruppen hängt von den besonderen Zwecken der Untersuchung ab. Was die Anordnung der Einzelaufgaben betrifft, so empfiehlt es sich, mit einigen wenigen leichteren zu beginnen, dann aber leichtere und schwerere durcheinanderzumischen. Alle diese Tests können in der Zeit von 2—2V» Stunden, einschließlich einer Pause, gelöst werden. Während der B e a r b e i t u n g der Tests ist dafür Sorge zu tragen, daß die Prüflinge die Aufgaben ruhig, ehrlich und ungestört in der angegebenen Reihenfolge vornehmen und ihre Zeit gut ausnutzen (Zeitmarken I). Nicht zu vergessen ist ein Protokollführer, der die Ordnung verzeichnet, in der die Prüflinge sitzen, und alles aufschreibt, was ihm an der Arbeitsweise der Schüler auffällt. Er hat auch die Zeiten zu vermerken, in der die ersten Arbeiten abgegeben werden. Nach meinen praktischen Erfahrungen mit Intelligenzprüfungen sollte man den quantitativen Grundsatz nicht überspannen, sondern den Prüflingen Zeit lassen, die Aufgaben in Muße zu lösen. Von großer Bedeutung ist die angemessene Unterweisung der Prüflinge (auch der Eltern!). Da eine möglichst gleichmäßige »Instruktion« aller Schüler die Voraussetzung einer gerechten Beurteilung ihrer Leistungen ist, kommt eigentlich nur eine Gruppenprüfung in Betracht. Sie ist die bequemste und schnellste Form und läßt auch zu, daß die Prüflinge Fragen stellen, bevor sie die Arbeit beginnen. Die Prüflinge müssen also die Aufgabe unbedingt verstanden haben und wissen, worauf es ankommt. Wird z. B. die Aufgabe gestellt, aus drei Worten einen Satz zu bilden (Masselon-Test): Schnee — spielen — Schlitten (Goddard), 1

Vgl. die Kritiken J. Wittmanns und W. Voß'. Darüber vgl. Hjalmar Sander, Die experimentelle Gesinnungsprüfung. Ihre Aufgaben und Methodik, Ztschr. f. angew. Psychol. 17 (1920), S. 59 ff.; A. Fischer, Moralpsychologische Untersuchungsmethoden, Ztschr. f. Pädag. Psychol. 29 (1928), S. 273 ff. u. 321 ff.; Th. Ziehen, S. 61 ff. Ich verweise außerdem auf die Bemühungen um eine zuverlässige Charakteranalyse mit Hilfe der Graphologie. 3 So z. B. Moede-Piorkowski, W. Stern und Stern-Wiegmann, Peter-Stern, Päd.-Psych. Arbeiten IX usw. 4 Z. B. Päd.-psych. Arbeiten XII (Winkler), X I I I ; Hamburger Arbeiten, Beiheft 34 (H. Klüver). 1

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Die Organisation des Bildungswesens

so sollte man die Schüler wissen lassen, ob die Reihenfolge der Wörter und die Wortart (Schnee — »es schneit«) verändert werden darf, ob möglichst ein einfacher Satz gebildet werden soll oder auch ein längeres Satzgefüge zulässig ist, ob noch andere Haupt- bzw. Tätigkeitswörter vorkommen dürfen, ob mehrere selbständige Lösungen erwünscht sind, ob eine phantasievolle Ausschmückung bei einer der Aufgaben gewünscht ist — ein Schüler machte z. B. ein Gedicht — usw. Derartiges kann an den Lösungen des Musterbeispiels kurz und knapp erläutert werden. Man lasse die Schüler auch nicht darüber in Zweifel, daß sie ausstreichen und verbessern dürfen, daß Schreibung und Rechtschreibung — für die Unterklassen 1 — nicht entscheidend sind, falls sie überhaupt schon schreiben können. (Vgl. Päd. Psych. Arbeiten XII, R. Scharfe.)

Der Kernpunkt der experimentell-psychologischen Intelligenzprüfungen scheint mir in der Auswertung der Lösungen zu liegen, also in der qualitativ-psychologischen Analyse. Die angemessene Beurteilung der Arbeiten (W. Peters: »Das Ursachenbild«) ist unendlich schwer. Der Beurteiler muß den Wissensbestand der Schüler genau kennen, vor allem das Pensum der Klasse, um herauszufinden, was eigene Produktion, was bloße Reproduktion ist und welche determinierenden Tendenzen diesen und jenen Prüfling geleitet haben. Der Beurteiler muß sprachliche Unvollkommenheiten durchschauen und Unklarheiten im Sinne des Schülers ergänzen. Daher werden Rückfragen an den betreffenden Prüfling und an seine Lehrer nicht zu umgehen sein. Immer wird der Maßstab und die Beurteilung der einzelnen Lösungen von der typischen Entwicklungsstufe, von den ganz besonderen Lebensumständen und der Individualität jedes einzelnen Prüflings abhängen (verfrühte oder verspätete Entwicklung!). Oftmals wird eine Einzelleistung, ob töricht oder auch als (verfehltes!) Ergebnis einer tieferen Besinnimg, nur aus dem Gefüge der Gesamtleistung zu beurteilen sein. In zweifelhaften Fällen ist von der Bewertung eines Tests ganz abzusehen und ein anderer Ausgleich zu finden. Damit stelle ich mich auf den Standpunkt, der dem quantitativen Prinzip der Amerikaner entgegengesetzt ist und das Schwergewicht des ganzen Prüfungsverfahrens auf die qualitativ-einsichtige Deutung von Stellungnahmen ganzheitlich-gerichteter Menschen legt. Die Wegrichtung der weiteren Fortbildung der experimentellen Schülerauslese scheint mir somit nicht in einer Verfeinerung der Technik, sondern in einer gründlichen psychologischen Ausbildung unserer Lehrerschaft aller Schulen zu liegen. Denn diese Prüfungen kann schließlich nur der Bildner selbst leisten, wobei er sich der Hilfe und Beratung der Psychologen vom Fach weitgehend bedienen sollte. Die vorstehenden Ausführungen zeigten immer wieder, welche Grenzen einer starren Durchführung von Intelligenzprüfungen gesteckt sind. Wie sich in der Berufsberatung (s. u. Berufswahl) die Berufsführung immer mehr zur Beobachtung des »Ausdrucks« und der »Leistung« wandelt und sich die Berufsfindung auf Selbstauslese und Erprobung gründet,

Beobachtungsbogen und freie

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Beschreibung

so auch in der Schule. Die späteren Ausführungen über die freie Organ i s a t i o n des Bildungswesens werden zeigen, daß schließlich nicht Tests über Schul- und Berufswahl entscheiden, sondern die durch ein reich gegliedertes Bildungswesen ermöglichte Leistung und Bewährung. — Die Auswahl intelligenter Schüler kann nachdrücklich unterstützt werden durch angemessene C h a r a k t e r i s t i k e n , d. h. durch den B e o b a c h t u n g s b o g e n oder durch eine freie B e s c h r e i b u n g . Ich versuche, die Wesensart beider Charakterisierungsmöglichkeiten zu beschreiben und ihre Vorzüge gegeneinander abzuwägen. Als besonders tauglich haben sich erwiesen die Beobachtungen von Stern-Baade-Lipmann, A. Lasurski, H. Rebhuhn, E. Hylla, M. Muchow, S. Engelmann, J. Schlag. 1. D a s Schema der B e o b a c h t u n g s b o g e n kann außer den amtlichen A n g a b e n über Kamen,

G e b u r t usw. folgende Gesichtspunkte

A . H e r k u n f t und

umfassen:

Umwelt:

a) A b s t a m m u n g : erbliche Belastung usw. b) Äußere Verhältnisse: W o h n u n g

(Schlafzimmer, Arbeitsmöglichkeiten,

Schulweg).

c) Mitwelt: Geschwister, Verwandte in der Häuslichkeit, Verkehr. B . D i e P e r s ö n l i c h k e i t und i h r

Verhalten:

a) Spontan-geistige bzw. reaktive T ä t i g k e i t in theoretischer

(wissenschaftlich-künst-

lerischer) b z w . praktischer (werktätiger) Hinsicht beim Spiel bzw. bei der Arbeit in Schule und H a u s ; besondere Interessen in Schule und Haus. —

Beobachtungs- und Auffassungs-

gabe, Gedächtnis, Denken und Phantasie. b) Gesellschaftliches Verhalten zu Lehrern, Mitschülern, in der Familie (Eltern, V e r wandten, Geschwistern), zu Hausbewohnern und Fremden (auf der Straße 1); auch zu Tieren und Pflanzen. c) Körperbeschaffenheit, Fehler und Krankheiten, Lebensrhythmus (Schlaf, Arbeitseinteilung,

S t i m m u n g und Temperament),

pflege, Kleidung) und Behandlungsart

Selbstdarstellung

(Haltung,

Sprache,

Körper-

(Suggestibilität).

d) Religiöse H a l t u n g .

2. Die freie B e s c h r e i b u n g . Wir haben den menschlichen Typus gekennzeichnet als leibseelische Sinneinheit wesensgemäß zugeordneter Merkmale, bezogen auf einen geistigen Kern. Jeder Typus kann zudem, wenn man nicht eine künstliche Sonderung vornehmen will, nur gedacht werden in Beziehung und Wechselwirkung mit seiner Umwelt. Die typische Charakteristik einer Individualität wird daher ihren geistigen Kernpunkt, ihre besondere Wertgerichtetheit, zum Ausgangspunkt nehmen. In der Tat werden durch eine mechanische Ausfüllung des Fragebogens alle entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen Milieu und Umwelt einerseits und Subjekt andererseits zerrissen. Es werden zudem die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Leib und Seele, dem Physiologischen und Seelischen und dem eigentlich Geistigen zerstört, so daß von der persönlichen Ganzheit des Konstitutionstypus nur ein mosaikartiges Gebilde übrigbleibt. Alle Eigenschaften liegen dann auf einer Ebene ohne das Gepräge eines eigenartigen Reliefs. O t t o , Untemchtslehrc.

5

66

Die Organisation des Bildungswesens

Demnach scheint mir die Überbrückung der Gegensätze darin zu liegen, daß dem gut vorgebildeten Schulmanne wohl ein Beobachtungsbogen an die Hand gegeben werden kann, aber nur, um ihm die möglichen Gesichtspunkte sinnvoller Beobachtung vor Augen zu halten. Jeder Klassenleiter der Grundschule und der nächsten Klassen möge also gehalten sein, am Ende jedes Jahres eine kurze freie C h a r a k t e r i s t i k zu entwerfen. Aufbewahrung und Weitergabe derselben ist Vertrauenssache des amtlichen Verkehrs. Sie sichern die Beständigkeit der Erziehungs- und Unterrichtsmaßnahmen, der Schulwahl (theoretische, praktische, Sonderschule), der Berufswahl und gelegentlich hygienischer Vorkehrungen (Waldschule, Ferienaufenthalt, Speisungen usw.). Beim Abgang von der Schule werden alle diese Beschreibungen gegebenenfalls (für die nächste Schule, Berufsberatung und spätere Auskünfte) von dem letzten Klassenleiter zusammengefaßt und der Klassenkonferenz vorgelegt, zu der nach Möglichkeit auch die früheren Klassenleiter heranzuziehen sind. Ob und inwiefern auch die üblichen »Zeugnisse« durch Charakteristiken zu ergänzen sind, wird später zu erörtern sein. Es wird sich im wesentlichen darum handeln, aus der gemeinsamen Schule, der Grundschule, diejenigen Schüler auszuwählen, die auf Grund ihrer besonderen Veranlagung der t h e o r e t i s c h e n Schule zuzuführen sind. Das setzt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der beteiligten Lehrerschaft voraus, falls überhaupt von einer organisch gegliederten Einheitsschule oder einem geschlossenen Bildungssystem gesprochen werden kann. Die Grundschule (bzw. »Volksschule«) schlägt im Einverständnis mit den Eltern die theoretisch »reifen« Schüler vor. Die »zweifelhaften« werden mit einem Fragezeichen versehen. Die »unzweifelhaft reifen« werden als solche gekennzeichnet, werden nicht mehr schulmäßig geprüft und haben gegebenenfalls Anspruch auf geldliche Unterstützung. Auch die für die theoretische Schule nicht reif erklärten Schüler können sich zur Prüfung melden, um allen jegliche Möglichkeit offen zu halten und Irrtümer möglichst auszuschließen. Die A u f n a h m e p r ü f u n g erstreckt sich auf: 1. Die I n t e l l i g e n z p r ü f u n g .

Die Aufgaben werden von der theo-

retischen Schule gestellt, dort bearbeitet, durchgesehen und in Anwesenheit von Vertretern der Zubringeschule endgültig beurteilt. 2. Die s c h u l m ä ß i g e Prüfung umfaßt eine schriftliche Prüfung im Deutschen (Diktat z. T. in deutscher, z. T . in lateinischer Schrift) und im Rechnen sowie eine mündliche Prüfung aus beiden Gebieten, dazu gelegentliche Fragen aus diesem oder jenem anderen Gebiet (Gesamtunterricht!).

E s wird nur Grundsätzliches gefragt, weniger bloßes Wissen als

vielmehr freie Verfügung darüber.

Der Ausschuß besteht, um die Stetig-

keit zu wahren, aus einem erfahrenen Deutsch- und einem Rechenlehrer der aufnehmenden Schule, die die Prüfung abnehmen.

Die

Klassen-

leiter und Leiter der Zubringeschulen haben das Recht, der Prüfung ihrer Schüler beizuwohnen, um Irrtümern vorzubeugen. Die Entscheidung fällen nach Durchsicht aller Arbeiten die beiden prüfenden Fachlehrer unter dem Vorsitz des Direktors, und zwar auf Grund der schulmäßigen Prüfung, der freien Charakteristik und einer Übersicht über alle früheren Zeugnisse jedes Schülers.

In zweifelhaften

Fällen wird in die Arbeiten der Intelligenzprüfung Einsicht genommen. Vgl. das Verfahren H. Lämmermanns wie O. Dörings.

67

Die Aufnahmeprüfung

3. Die endgültige A u f n a h m e kann erst nach einem halben Jahre der B e w ä h r u n g erfolgen.

Denn schließlich sind »Besuche« eines Aus-

schusses in den Zubringeklassen, so Gutes sie an sich leisten können, desgleichen 8—I4tägiger Unterricht in einer »Probeklasse« (»Übergangsklasse«), doch etwas Künstliches, ganz abgesehen von Störungen im übrigen Betriebe des Schullebens. Praktisch kann sich die Auslese der Grundschüler für eine theoretische Schule mit zwei Anfangsklassen nach meinen eigenen Erfahrungen folgendermaßen abspielen. Es sind ungefähr 80 Schüler aufzunehmen. Es empfiehlt sich, mit der Intelligenzprüfung zu beginnen und sie an einem Vormittag vorzunehmen. Am Nachmittag desselben Tages können die beiden schriftlichen Arbeiten (Deutsch und Rechnen), die je ungefähr eine halbe Stunde dauern, angefertigt, nach einer Pause kann in die mündliche Prüfung, zunächst der Auswärtigen, eingetreten werden. Wenn die Fachlehrer des Deutschen und Rechnens Hand in Hand arbeiten, alle Papiere vorher sorgsam geordnet und auch bereits eingesehen haben, die Pausen und die für sie freie Zeit zur Korrektur der schriftlichen Arbeiten zweckmäßig ausnutzen und während der mündlichen Prüfung das ganze Aktenmaterial, Personalbogen (Alterl Krankheiten!), Zeugnisübersichten, Charakteristiken, schriftliche Arbeiten, schnell zum Vergleich heranziehen können, so wird die Prüfung am nächsten Tage vollendet sein. Es empfiehlt sich, diese ungemein wichtige Angelegenheit immer denselben Lehrern anzuvertrauen, die den Unterricht in den Unterklassen gründlich kennen, gelegentlich in die Arbeit der Grundschule eingesehen und somit im Laufe der Zeit eine große Erfahrung und einen Blick für die zu prüfende Jugend gewonnen haben. Sie müssen für diese verantwortungsvolle und anstrengende Arbeit anderweitig entschädigt werden, zumal sie auch die Hauptarbeit bei der Vornahme und Durchsicht der experimentell-psychologischen Prüfung zu tragen haben. Ihnen gehen dabei andere Mitglieder des Kollegiums, vornehmlich die Referendare und Assessoren, soweit sie mit der Anstalt in Beziehung stehen, zur Hand. Dadurch wird das Interesse und die Zusammenarbeit des Kollegiums, namentlich des künftigen Nachwuchses, angeregt und aufrecht erhalten. Die ganze Prüfung ist dann in drei, spätestens vier Tagen erledigt. So fügt sich die Intelligenzprüfung organisch in den Rahmen der Schule ein. Im Grunde genommen ist sie, hart ausgedrückt, nur ein notwendiges Übel. Je mehr sich die Organisation unseres Bildungswesens und die Unterrichtsmethoden verfeinern, um so mehr wird auch die Grundschule im psychologischen Prozeß reaktiv-spontaner Selbstauslese die verschiedenen Arten der Begabung klarer herausstellen und somit die psychologische Sonderprüfung als immer weniger notwendig erweisen. — L i t e r a t u r : O. Bobertag, Kurze Anleitung zur Ausführung der Intelligenzprüfung nach Binet und Simon, unmittelbar von Dr. Bobertag zu beziehen. Besonders hingewiesen sei auch auf die Erörterungen über den Intelligenzquotienten. — Bobertag-Hylla, Begabungsprüfung für den Übergang von der Grundschule zu weiterführenden Schulen, Langensalza 1925 (3. Aufl.). Es sind Testhefte für verschiedene Zwecke vorgesehen, für die Aufnahme in 9jähr. Schulen, Aufbauschulen, Abendgymnasien usw. — H. Bogen, Zur Praxis u. Organisation der psychologischen Schülerbeobachtung im Dienste der Berufsberatung, Ztschr. f. päd. Psychol. 21 (1920), S. 264 fi. — H. v. Bracken, Persönlichkeitserfassung auf Grund von Persönlichkeitsbeschreibungen, Jenaer Beiträge zur Jugend- u. Erziehungspsychologie, Langensalza 1 (1925). — Ch. Bühler-H. Hetzer, Kleinkindertests, Leipzig 1932. — C. Burt, Mental and scholastic tests, London £922. — O. Döring, Schülerauslese und psychische Berufsberatung an Lübecker Schulen, Lübeck 1924; Praxis der Schülerauslese, Wien u. Leipzig 1930. — Haggerty-Terman-Thomdike-Whipple-Yerkes, National Intelligence Tests, New York 1920, 1921, 1923 f. — H. Hetzer u. K . Wolf, Zeitschrift für b*

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Die Organisation des Bildungswesens

Psychologie 107 (1928), S. 62 fi. — E . Hylla, Testprüfungen der Intelligenz, BraunschweigBerlin-Hamburg 1927. — T. L . Kelley, Statistical Method, The Macmillon Company 1923. — O. Kroh, Über die intellektuelle Entwicklung der reifenden Jugend, Ztschr. f. pädag. Psychol. 1928 (29), S. 10 fi. — H. Lämmermann, Das Mannheimer kombinierte Verfahren der Begabtenauslese, Beiheft zur Ztschr. f. angew. Psychol. 40, Leipzig 1927. — W. Lietzmann, Über die Beurteilung der Leistungen in der Schule, Leipzig 1927; Von der amerikanischen Testbewegung, Ztschr. f. päd. Psych. 32 (1931), Nr. 1 1 . — E. Meumann, Vorlesungen I I (1920). — Moede-Piorkowski-Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die experimentellen Methoden der Schülerauswahl, Langensalza 1918 u. 1919. — A. S. Otis, Self-Administering Tests of Mental Ability, Yonkers-Chicago 1922, 192?. — Pädagogisch-Psychologische Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins, Bd. I X (Leipzig 1921), Bd. X (1920), Bd. X I (1921). Bd. X I I (1922) u. Bd. X I I I (1924). — R . Peter und W. Stern, Die Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg, Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschnng Nr. 1 , Beiheft z. Ztschr. f. angew. Psychol., Leipzig 1919 und 1922. — Richtlinien des Instituts des Leipziger Lehrervereins für das Gutachten über Volksschüler beim Übergange von der Volksschule zur höheren Schule. — RuchStoddard, Tests and measurements in high school instruction, Yonkers-Chicago 1927. — W. Stern, Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen (1928). — Stern-Wiegmann, Methodensammlung zur Intelligenzprüfung von Kindern und Jugendlichen, Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. 3, Leipzig 1926. Vgl. Nr. 2 (1923) u. 6 (1925). — Thorndike, Intelligence Test for High School Graduates (and College Freshman), Bureau of Educational Research, Teachers College, New York. — W. Voss, Die Beurteilung der Testleistungen, Berlin-Wilmersdorf 1922. — G. M. Whipple, Manual of Mental and Physical Tests I u. II, Baltimore 1924 u. 1921. — Joh. Wittmann, Der Aufbau der seelischkörperlichen Funktionen und die Erkennung der Begabung mit Hilfe des Prüfungsexperiments, Kieler Arbeiten zur Begabungsforschung Nr. 1, Berlin-Wilmersdorf 1922. — B . D. Wood, Measurement in Higher Education, New York 1923. — R. M. Yerkes, Psychological Examining in the United States Army, Memoirs of the National Academy of Science, herausg. v. R . M. Yerkes, Vol. X V (1921) Washington. — Yerkes-Foster, A Point Scale for Measuring Mental Ability, Baltimore 1923 (Revision). — G. Udny Yule, An Introduction to the Theory of Statistics, London 1922. — Th. Ziehen, Über das Wesen der Beanlagung und ihre methodische Erforschung, Langensalza 1929.

D. Berufswahl. Die Frage der Berufsberatung, der schon Comenius in seinem »Labyrinth der Welt« so umfassend und gründlich nachgegangen war, ist mit der Industrialisierung und Arbeitsteilung des Wirtschaftslebens, mit der Freizügigkeit der Berufswahl und den erhöhten Ansprüchen an die Berufsausbildung eines der ernstesten Probleme unserer Notlage geworden. Denn Beruf und Mensch, Fremddienst und Selbstdarstellung bilden eine Einheit, lassen sich nicht trennen und stellen wechselseitig eigene Forderungen aneinander. So ergeben sich die verschiedensten Wechselbezogenheiten zwischen Mensch, Schulbildung und Beruf, normgesetzliche Abhängigkeiten mit einer Art prästabilierter Harmonie, die durch ein übersteigertes Berechtigungswesen und die Bedrängnis der Zeit so häufig verzerrt wird. Daher ist die Zuordnung von Mensch und berufstätigem Leben, die Feststellung der »Eignung«, die Führung zum Beruf eins der verwickeltesten Probleme. Im Hinblick auf eine bestmögliche Veranlagung und höchste Leistungsfähigkeit difierentieller Typen lassen sich dann wohl ideale Berufsbilder aufstellen, die neben der Darstellung realer Durchschnittsverhältnisse ihre Berechtigung haben. Alle diese Berufsskizzen bleiben aber ideelle

Berufswahl

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Gebilde, da es ja die Wirklichkeit immer nur mit dem individuellen Ich zu tun hat. Und dieses Ich, dieses große Rätsel, soll nun in der Berufsberatung, seiner »Anlage« gemäß, in diese Fülle von sachlichen Beziehungen und persönlichen Wechselwirkungen angemessen hineingestellt werden I Wenn gesagt wird, daß die persönliche Anlage und die Forderungen des Berufs in Einklang zu bringen sind, so haben wir bereits festgestellt (S. n fi.), daß »Anlage« kein so einfacher und eindeutiger Begriff ist. Soll der Beruf der geistigen Sehnsucht des Menschen entsprechen, d. h. seinen Interessen oder seinen Fähigkeiten ? Denn beide, meist in starker Korrelation der Person, können in bezug auf den Gegenstand auseinanderfallen. Wer kann schließlich die einzelne Individualität (im Hinblick auf einen bestimmten Beruf!) auskennen, die Art und das Tempo ihrer späteren Entwicklung und auf der andern Seite die Gestaltung der Berufsfordernngen in Gegenwart und Zukunft, also nicht nur die augenblickliche Wirtschaftslage von Angebot und Nachfraget Schwierigkeiten ohne Ende und von einer ungeheuren Schwere schicksalhafter Verflochtenheit 1 Und wie sollen diese Fragen gelöst werden, wenn der Jugendliche selbst nicht von der Sehnsucht innerer Berufung geleitet wird, sondern äußeren Regungen folgt, der Sucht nach Gewinn und Lebensgenuß — oder dem Zwange der »Konjunktur«!

Die Schule kann sich nicht beschränken auf die Verteilung der Merkblätter, auf Ausfüllung der vom Berufsamt übersandten Fragebogen, auf den Nachweis von Beratungsmöglichkeiten. Die Schule muß vielmehr selbst die vornehmlichste Stätte der Berufsberatung sein. Der Unterricht in der Geschichte, Erdkunde, Naturkunde, im Rechnen usw. bietet reiche Gelegenheit zu berufskundlichen Unterweisungen; in der theoretischen Schule kommen dazu die Möglichkeiten des fremdsprachlichen Unterrichts (fremdes Geistes- und Wirtschaftsleben). Besuch von Werkstätten und Ausstellungen, belehrende Vorträge für Schüler und Eltern sind persönlicher als gedruckte »Berufsführer«, die schließlich auch Gutes leisten können. Überall muß die sittliche Pflicht des Vernunftmenschen gegen sich selbst wie die Verantwortung gegen die Gesellschaft, das Ethos der Arbeit und des Arbeiters als Kern der Berufswahl herausgestellt werden. Vernunft verpflichtet. In solchem wirklichkeitsnahen und lebendurchpulsten Unterricht des Kopfes, des Herzens und der Hand bietet sich dem Lehrer und Erzieher, wie auch dem Schularzt, andauernd Gelegenheit, die Schüler systematisch zu beobachten und beratend in ihre Berufswahl einzugreifen, Stellung zu ihren Berufswünschen zu nehmen, soweit sie selbst diese oder jene Berufsanforderungen kennen. In diesem Rahmen gewinnt auch die oben erwähnte freie Charakteristik erhöhte Bedeutung. Die Hauptsache bleibt aber doch, die Jugend im wirklichen Arbeitsunterricht auf sich selbst hinzuführen, sich selbst zu erkennen, die eigene Begabung und die Schwächen. Die organisch »gegliederte« Schule wird diesen Verlauf der Selbstauslese erst ermöglichen. Gibt man den Schülern (und Eltern) des letzten Schuljahres einen Fragebogen in die Hand, aber nicht zum Ausfüllen, sondern als Unterlage und Anhalt für eine Nieder-

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Die Organisation des Bildungswesens

schrift über die eigenen Berufswünsche und Zukunftspläne, so haben wir hier wieder eine Lösung, die dem oben behandelten Ausgleich von Beobachtungsbogen oder freier Charakteristik entspricht. Weder der Fragebogen noch der freie Aufsatz können uns sagen, zu welchem Beruf der junge Mensch innerlich und der äußeren Lage der Dinge nach berufen ist (E. Stern), wohl kann aber der Aufsatz, gestützt auf einen Fragebogen, dem ringenden Menschenkinde, Knaben wie Mädchen, helfen, über sich selbst ins reine zu kommen. Die experimentelle Eignungsprüfung hat im letzten Jahrzehnt eine ungeahnte Ausdehnung angenommen. Amtliche und private Betriebe größeren Stiles unterwerfen in eigenen »Laboratorien« die Berufsanwärter der »psychotechnischen« Prüfung, um sich bei dem großen Angebot die Tüchtigsten auszusuchen, mehr noch, um Ungeeignete dem Betriebe fernzuhalten, auch im Hinblick auf die ernsten Folgen von Unglücksfällen. Wir haben oben den Standpunkt vertreten, daß nicht die quantitative Auswertung von Experimenten über die Schülerauswahl entscheiden sollte, sondern die qualitative Ausdeutung möglichst wirklichkeitsnaher und spontaner Leistungen. So tritt denn auch auf dem Gebiet der Berufsauslese an die Stelle des reinen Experiments mehr und mehr die Arbeitsprobe, d.h. das Beratungsgespräch und die systematische Beobachtung des Berufsanwärters bei der Einzel- oder Gruppenarbeit, auch bei Betriebsbesichtigungen (F. Giese). Die Arbeit geschieht demnach »an neutralem Stoff«, setzt also keine angelernten Fertigkeiten voraus, soll mithin Fähigkeits- und nicht Kenntnisprüfung sein. Die Arbeit geht sodann »in geregelter Form« vor sich, ersetzt also die willkürliche und zufällige Wahrnehmung durch gewissenhafte und systematische Beobachtung (Protokoll!). Die Arbeit ist weiterhin »werktätig«, also kein künstlich-isoliertes Tun, sondern soll ein sinnvolles Schaffen sein, um die Geschicklichkeit am situationsstiftenden, komplexen Versuch (Drahtbiegen, Packen) zu erweisen. Damit unterscheidet sich die Arbeitsprobe von lebensfernen, unechten Experimenten, zumal wenn sie an Massen von Prüflingen seitens ungeschulter Prüfungsleiter vorgenommen wird. Schließlich soll die Arbeitsprobe auch die Möglichkeit gewähren, nicht bloß die Fähigkeiten, sondern auch die geistigen Qualitäten des Charakters einzusehen. Das ist sicherlich ein Fortschritt, aber trotz alledem ist die Arbeitsprobe doch nur Probe und nicht wirkliche, produktive Leistung zu Nutz und Frommen der Mitmenschen. Man ist daher gerade in neuerer Zeit über die Arbeitsprobe hinausgeschritten und hat sie auch hier durch die Bewährungsfrist ersetzt. In dieser Probezeit wird nun nicht bloß

Berufswahl

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geprüft, sondern es wird verantwortliche Arbeit geleistet. Was die gelegentlichen Führungen durch Fabriken und Berufsämter, was bloße Berichte, Vorträge und Lichtbilder über die einzelnen Berufe dem jungen Anwärter nicht klar machen können, was Tests und Arbeitsproben nicht zu erweisen vermögen, das vollbringt eine richtig angelegte Bewährungsfrist unter der A n l e i t u n g und Aufsicht eines erfahrenen Fachmannes. Hier kann es sich zeigen, ob der werktätige Mensch ein inneres Verhältnis zu seinem Beruf hat, ob er vor allem an seiner Stelle Arbeitsfreude zeigt, denn, nach H. de Man, ist der Drang zur Arbeitsfreude von vornherein der natürliche Zustand des normalen Menschen. Es wiederholt sich hier dieselbe Entwicklung, auf die wir auch bei der Auswahl der Schüler für die theoretische Schule hingedrängt haben: nicht das zahlenmäßige Experiment wird über die Berufstüchtigkeit entscheiden, sondern schließlich doch die wirkliche »Leistung« während der Bewährungszeit, sinnvoll beobachtet und qualitativ gedeutet von dem einsichtigen Führer zum Beruf. Dennoch wird das analytische Experiment immer seine Bedeutung behalten, wo innerhalb eines gewissen Berufskreises eine besondere funktionale Veranlagung bzw. Begabung festzustellen oder erstmals eine rohe Auslese unter der Masse zu treffen ist, die negative Auslese durch Feststellung berufsausschließender Merkmale, z. B . der Schweißhand für Uhrmacher (vgl. besonders R . Liebenberg). Die Berufsberatung steht und fällt mit der Persönlichkeit des B e r u f s b e r a t e r s , dem zielbewußten und wohlwollenden Kenner der Menschen und der Wirtschaft. Gewandt in Wort und Schrift (Besprechungen, Vorträge, Radio, aufklärende Aufsätze, Briefwechsel), muß er auch die Hand zu brauchen gelernt haben, selbst einen praktischen Beruf kennen und am besten auch ausgeübt haben. (Gutes Material bei H. Kautz S. 160). Das erste Auftreten des Jugendlichen und des Erwachsenen, ihre Haltung, Sprache (Schrift!), Physiognomie, Kleidung müssen ihm sagen, mit wem er es zu tun hat, und können ihm einen Einblick in die Gesamtverfassung des Stellungsuchenden geben (diagnostische Synthese). Soll der Berufsberater doch die Unentschiedenen, die zu sich selbst kein Vertrauen haben, aufrichten und anfeuern, die aus der Bahn Geworfenen auf den rechten Weg bringen, die Erwerbsbeschädigten, seien sie nun körperlich oder seelisch behindert, an die rechte Stelle setzen, schließlich diejenigen, die keinen Beruf, sondern bloß Erwerb suchen, den gelernten Berufen zuführen. Der Berufsberater muß daher so viel Selbstbeherrschung besitzen, ganz zurückzutreten, die Eltern und vor allem den Berufsuchenden erst mal selbst sprechen und seine Wünsche vortragen zu lassen. Der Faktor »Neigung« ist allerdings keine zuverlässige und keine feste Größe. Aber wer kann sagen, ob nicht ein starker Drang schließlich auch über mangelhafte Fähigkeiten zu triumphieren vermag 1 Sodann muß der Berufsberater mitten im Wirtschaftsleben stehen; er muß wissen, welche Eigenschaften für einen bestimmten Beruf unbedingt erforderlich, wünschenswert, unerwünscht, ersetzbar sind (M. Ulrich, O. Lipmann). Zu diesem Zweck muß er den persönlichen Umgang mit allen Berufsschichten pflegen, nicht nur ein möglichst umfassendes berufskundliches Material (Abbildungen, Handwerkszeug, Zeitschriften) sammeln und verarbeiten, um über Art und Kosten der Ausbildung und Fortbildung, die Aufstiegsmöglichkeiten und soziale Stellung innerhalb der verschiedenen Berufe Auskunft geben zu können, sondern auch mit den Berufsorganisationen der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer in ständiger Fühlung bleiben.

72

Die Organisation des Bildungswesens

Dazu kommt der Verkehr mit der Jugend, nicht nur der »Volks«-, sondern auch der »höheren« Schulen, die um so mehr in den Rahmen der Berufsberatung hineingezogen werden, je mehr ihr Charakter als Gelehrtenschule und als Vorbereitung für die Universität verloren geht. E s ist hier nicht

der Ort, die Organisation des gesamten

Berufs-

beratungs- und Stellenvermittlungswesens darzulegen, v o m obersten Reichsa m t bis zu den Landes- und örtlichen Berufsämtern.

E s sei nur betont,

daß

Einrichtungen

die

organische

Durchgliederung

der

amtlichen

die

Mitarbeit aller Volksschichten, der Männer und Frauen, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer wie auch aller Wohlfahrtseinrichtungen einbeziehen muß. Die

Berufsberatung

umfaßt

nicht

nur

die

Berufe, sondern ebenso die der Akademiker.

wesentlich

praktischen

A u c h über ihre

Eignung

werden zuguterletzt nicht experimentelle Testprüfungen, sondern Selbstprüfung und Bewährung entscheiden müssen.

Die A u s w a h l der Philo-

logen scheint mir besonders schwierig zu sein: sie sollen sowohl Erzieher wie Lehrer sein, und zwar auf gelehrter Grundlage. schließen vielerlei Spannungen in sich. Auslese

gehandhabt

werden; nicht

Diese Forderungen

U m so gewissenhafter sollte ihre

nur in den wissenschaftlichen

und

künstlerisch-technischen Prüfungen, sondern vor allem im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Jugend. es dazu viel zu spät.

In der Zeit der praktischen Ausbildung ist

D e r numerus clausus ist eine zu weitmaschige E i n -

richtung, um Unberufene am Durchschlüpfen zu hindern, besonders in Zeiten die

der Nachfrage.

Es

darf daher auch während der

Beziehung z u m späteren

Beruf bzw. zur

Studienzeit

Jugend nicht ganz fehlen.

Nach meinen Erfahrungen hat es sich bewährt, die sich freiwillig meldenden Studierenden zuerst in einer gemeinsamen Einführung auf die Hauptgesichtspunkte der Beobachtung hinzuweisen, sie darauf in kleineren Gruppen ausgewählten Lehrern verschiedener Schulen zuzuweisen, und zwar unter Berücksichtigung ihrer besonderen Studienfächer, sodann einzelne Gruppen gelegentlich einer gemeinsamen Hospitation in Gegenwart des ausbildenden Lehrers zu einer Besprechung zusammenzufassen und am Schlüsse, nach ungefähr 10 Stunden, mit allen Gruppen einzelne Beobachtungen und Stellungnahmen zu sichten. Neben dem Zuhören ist eine a k t i v e B e t e i l i g u n g der Studierenden am Erziehungswerk der Schulen, am Turnen, an Spielen und Ausflügen, sehr wünschenswert. So wird auch hier die Möglichkeit von self-analysis und Selbstauswahl, der Selbstführung zum Beruf gegeben, die immer die Grundlage jeglicher Berufsauslese bleiben wird. L i t e r a t u r : Fr. Baumgarten, Die Berufseignungsprüfungen, München-Berlin 1928; reiche Literaturangaben. — Friedrich-Voigt, Berufswünsche und Zukunftspläne der Jugend an höheren Schulen, Breslau 1928. — Fr. Giese, Handbuch psychotechnischer Eignungsprüfungen, Halle 1925. — Fr. Giese u. Cl. Cordemann, Psychologische Beobachtungstechnik bei Arbeitsproben, Halle (Saale) 1931, Deutsche Psychologie VII, 3. — H. Kautz, Industrie formt Menschen, Einsiedeln 1929. — R. Liebenberg, Berufsberatung. Methode und Technik. Leipzig 1925 (umfassende Literatur). — O . Lipmann, Psychologie der Berufe, Kafkas Handbuch der vergleichenden Psychologie II, München 1922. — Der Mensch und die Rationalisierung I, Fragen der Arbeits- und Berufsauslese, der Berufsausbildung und Bestgestaltung der Arbeit, her. v. Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit, Berlin N W 6, Luisenstr. 58/59, Jena 1931. Umfassende Literaturangaben S. 348 ff.; ungeheures Material. — R. v. d. Mühlen, Menschenauslese für Industrie, Handwerk und Bildungswesen, Barmen-Elberfeld 1927. —

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H. Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1920. — Die berufskundlichen Schriften der Hauptstelle der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin. — Die Schule im Dienst der Berufserziehung und Berufsberatung, her. v. d. ReichsarbeitsVerwaltung und dem Zentralinstitut für Erziehung u. Unterricht, Berlin 1927 (umfassende Literatur). — F. E. O. Schultze, Erfahrungen mit pädagogischem Anschauungsunterricht, Die Erziehung 7 (1932), Heft 6. — E. Stern, Die Feststellung der psychischen Berufseignung und die Schule. Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung, Nr. 4, Leipzig 1927. — W. Weigel, Vom Wertereich der Jugendlichen, Leipzig-München 1926, Päd. Monographien, Bd. X X I V .

II. Die organische Gliederung des Bildungswesens

A. S c h u l e u n d G e s e l l s c h a f t . Die ziel- und planvolle Organisation eines geschlossenen Bildungssystems erstreckt sich nach den obigen Ausführungen (S. 27 f.) zunächst auf die Abänderungen der ä u ß e r e n Lebensbedingungen, nämlich der »Außenwelt« wie des »Milieus« (Lage der Schule usw.); der eigentliche Unterricht ist dazu eine Theorie der U m w e l t b e d i n g u n g e n , der natürlichen Reifung und zielvollen Führung des Menschen, seiner Ausgliederung und Ausrichtung an den planmäßig gewählten Bildungsgütern. Die Problematik dieser i n n e r e n Schulorganisation ist voll der Spannungen Zuvörderst in der Z i e l s e t z u n g innerhalb der verschiedenen G e s e l l s c h a f t s kreise. In der Allgemeinen Erziehungslehre war das Bildungsziel begründet worden: die leistungsfähige und gütige Persönlichkeit im Dienste der Gemeinschaft (vgl. oben S. 24). Also Gemeinschaftsdienst und Persönlichkeitskultur. Die unklare Idee der enzyklopädischen »Allgemeinbildung«, der enkykliös paid6ia, die seit den Zeiten der Sophisten bis auf den heutigen Tag zur nützlichen »Schulung« des leistungsfähigen Menschen hinschielt und dennoch immer wieder der einseitigen Berufsschulung gegenübergestellt wird, ist wesentlich Differenzierung und Spezialisierung, mithin Zwang, insofern sich objektive Berufsstrukturen und subjektive Anlagen schwerlich decken, wie bereits Ed. Spranger gegen G. Kerschensteiners Axiom des Bildungsprozesses bemerkt hat. Die Bezeichnung »Allgemeinbildung« müßte also, im guten Sinne, die Persönlichkeitsbildung in sich schließen, nämlich auch individuelle Integrierung sein, persönliche Formung. Wenn auch die berufliche Leistung der personalen Kultur dienen kann, so bleibt die Spannung zwischen Persönlichkeits- und Berufsansprüchen, zwischen Selbst-Sein und Gemeinschaftsleistung doch immer bestehen, sowohl im Leben wie in der Schule, für den besinnlichen Lehrer in jeder Stunde! 1

Über die mehr technische Frage, die Dauer und Zahl der Lektionen am Vor- und

Nachmittage auf den verschiedenen Altersstufen, den Rhythmus des Tages, der Woche und der Jahreszeiten siehe E. Meumann, Vorlesungen III, sowie M. Offner, Die geistige Ermüdung, Berlin 1928, S. 102 ff.

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In welchem Sinne man auch von Humanismus oder Humanität gesprochen haben mag, immer steht hinter diesen Ideen die Sehnsucht nach G a n z h e i t der geformten Persönlichkeit oder auch der Gemeinschaft: die persönliche Ausgeglichenheit und Selbstdarstellung des diesseitigen Menschentums oder das überpersönliche Verbundensein einer Elite bzw. die Verbrüderung der sich verstehenden Menschheit. Beides, persönliche und überpersönliche Darstellung der Ganzheit hat in dem Begriff der »Repräsentation« einen kennzeichnenden Ausdruck gefunden. Auch wenn sich die moderne Versuchsschule gegen die alte »Lernschule« und ihren Wissensbetrieb auflehnt, so liegt, bei manchen Äußerlichkeiten und Widersprüchen, wie sie schon in Pestalozzis Bemühen aufeinanderprallen, darin doch ein tieferer Sinn, ein humanistischer Zug gegenüber dem Vielerlei aufgedrängten Lernstoffes und dem demokratisch-realistischen Gesichtspunkt übersteigerter Nützlichkeit.

Dazu treten die ewigen Spannungen zwischen den verschiedenen Vergesellschaftungen und ihren Zielen, zwischen Volk und Staat, Familie und den einzelnen Kirchen. Die Schule steht mitten drinnen, kann also nicht autonom sein. Während Volkstum im ewigen Prozeß ziel- und planloser Kulturentwicklung immer wieder neu geboren wird, ist Schule einerseits in gleicher Weise auch natürlicher Kulturvorgang, der Quellpunkt aller ihrer Kraft, überdies aber zugleich normativer Kulturwille auf das Echte hin; andererseits jedoch auch »Organisation« und als solche in die Sphäre des Ordnungsstaates verstrickt. In dieser Dreidimensionalität liegt der Ansatzpunkt aller Spannungen von Schule und Staat. Die Schule muß der Ursprünglichkeit des Volkstums verwurzelt bleiben und dazu zielbewußt über das bloß Empirische emporstreben: daher auch unbedingt freie Forschung der Hohen Schulen, freies Wachstum der Bildimgsstätten, freies Aufstreben aller sich regenden Kräfte — möglichst wenige Erlasse und Verfügungen (bzw. Schreibarbeiten, Listen) bis hin zu den Möglichkeiten der Privatschulen. Im Nationalitätenstaat, wie für nationale Minderheiten, kann auf kulturelle Autonomie ebensowenig verzichtet werden. Aber auf der andern Seite doch Regelung der inneren Organisation durch den für die Ordnung und den Schutz der Kultur verantwortlichen Staat 1 : Einheit in der Mannigfaltigkeit des organisch gegliederten Bildungswesens, der »Richtlinien« und Prüfungen, der Ausbildung der Lehrerschaft, auch Schutz der Lehrer, Eltern und Schüler in Streitfällen — die Staatsschule. Die Erfüllung ihrer kulturellen Aufgaben erfordert die Einrichtung eines Reichskulturrats nach dem Beispiel der freien Selbstverwaltungskörper des nordischen, schweizerischen oder angelsächsischen Bildungswesens, bestehend aus Praktikern aller Art und Richtung, Vertretern der Staatsbehörden, der Hohen Schulen, der Religionsgesellschaften, der Bildungsvereine, der Elternschaft, schließlich auch der Gemeinden, denn auch die G e m e i n d e n machen ihr besonderes Mitbestimmungsrecht geltend. Der gesunde Grundsatz, alle sich Über den Staat als »Macht« und über Recht als »erklärte Gesellschaftsregelung im Sinn eines echten Machtverhältnisses« siehe meine Allgemeine Erziehungslehre S. 8o ff. 1

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bietenden Kräfte und geldlichen Mittel in den Dienst der Schule zu stellen, führt zur Möglichkeit, den Gemeinden die Pflege der ä u ß e r e n Organisation anzuvertrauen. Aber wo Pflichten, da auch Rechte, also zuvörderst ein Mitbestimmungsrecht der Gemeinden bei der Anstellung ihrer Lehrer.

Im Rahmen des Urgebildes »Volk« und seiner Gliedfunktion »Schule« erhebt auch das Urgebilde Familie seine Ansprüche, die in ihrer Verschiedenartigkeit und in weltanschaulicher Beurteilung schwer zu übersehen sind. Die Eltern wollen und können einerseits nicht alle am Geschäfte des Unterrichts teilnehmen (das böse Kapitel »Nachhilfeunterricht«!), möchten andererseits vom Werke der Erziehung nicht ganz ausgeschlossen sein. Daher sind auch hier alle verfügbaren Kräfte der Häuslichkeit dem Bildungsprozeß soweit wie möglich nutzbar zu machen: alle Familienangehörigen als Erzieher; zur Ergänzung des Unterrichts: der Vater als Theoretiker (gelegentliche Vorträge, Beteiligung an der Schulzeitschrift), als Praktiker, Wirtschaftler oder Politiker; die Mutter als Hausfrau, namentlich in Mädchenschulen. Die »Gemeinschaftsschulen« haben mit der engen Verbindung von Schule und Häuslichkeit einen vielversprechenden Anfang gemacht. Das bloße Zuhören-Dürfen (Überwachen!) ist eine höchst fragliche Angelegenheit; auch die Erfahrungen, die man in den Vereinigten Staaten mit dieser Erlaubnis gemacht hat, ermutigen nicht. Aktives Mittun — auch eine Querverbindung! — ist weit einflußreicher als eine nur redende Staffage der so oft mißbrauchten Elternbeiräte. Wie wenig die Schule auf die Komponente »Familie« verzichten kann, zeigt auch das Bemühen der großen Internate um Einbeziehung familialer Formen und ihrer Sinngehalte.

Wie die Familie so ist auch das Volk ein Urgebilde, eine Gesinnungsgemeinschaft und wie alle Gemeinschaft, der Idee nach, irrational und ungeregelt; als freien Zusammenschluß kann man das Volk »Bund« und »bündisch« nennen. In den auf gemeinsamem Boden natur- und kulturhaft gewachsenen Stammesbund wird man hineingeboren. Volkhafte Bünde sind überstaatlich. Nation hat dagegen immer einen Einschlag von Bewußtheit, insofern zur Nation alle gehören, die sich aus tiefsten Überzeugungen zur Schicksalsgemeinschaft einer geschichtlich gewordenen Kultur »bekennen«. Nation ist dem Deutschen daher nicht reiner Begriff und Inbegriff aller Staatsbürger im Sinne des romanisch-englischen nation, sondern eine dem Volke aufgegebene Idee, also auf »gemeinsamem Zukunftsglauben« beruhend (Ed. Spranger). Es gibt kein anderes Kennzeichen als das Bekenntnis zu diesem Glauben; auch die Sprache versagt als Einheitsprinzip. Durch Heirat können Stammesfremde in ein anderes Volkstum aufgehen, sich »eindeutschen«. Nationale Minderheiten haben, im Falle eines größeren Siedlungsgebietes, das Anrecht auf Selbstverwaltung; vorausgesetzt ist ein loyales Bekenntnis zum Staat. Der Staat ist Regelung und Zweckverband, also Nationalverband

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Die Organisation des Bildungswesens

(»Gesellschaft«), aber nicht Volksbund (Gemeinschaft); er ist in geschichtlicher Auseinandersetzung geworden oder konstituiert sich auf Grund der Selbstbestimmung der Nation bzw. der Nationen. Seinem Wesen nach ist der Staat also immer Organisation (Regierung und Verwaltung) auf der Grundlage eines Schutz und Ordnung schaffenden Rechtes. »Volkhafte« Verbände, z. B. die Deutsche Studentenschaft, können überstaatlich sein; »nationale« Zweckverbände, z. B. die Schutzverbände des Grenz- und Auslanddeutschtums, umfassen ihrerseits alle Bekenner einer gemeinsamen Kultur im Rahmen der verschiedenen Staaten. Jeder Staat muß den übergreifenden Verbänden wissenschaftlicher, künstlerischer, religiös-sittlicher Art Freiheit gewähren, ebenso den wirtschaftlichen und politischen, soweit sie nicht gegen seine Lebensinteressen verstoßen. Wesentlich religiöse Bünde (z. B. Quickborn) können überstaatlich sein und werden als überweltliche Gemeinschaften (»Bewegungen«) von den Staaten geduldet bzw. gefördert; religiöse Gesellschaften, z. B. die Gesellschaft Jesu, sind als straffere Organisationen auch vom Staat zugelassen, wenn sie nicht weltliche Politik treiben, also unter die vorstehende Kategorie fallen. Aus diesen Grundsätzen ergeben sich die weitreichendsten Folgerungen für die Organisation und das Verhalten überstaatlicher Verbände (Gesellschaften) bzw. Bünde (Gemeinschaften), namentlich in Grenzlanden und bei nationalen Minderheiten. Dem Spannungspaare Persönlichkeit und Gemeinschaft gemäß treten zwei politisch-weltanschauliche Grundauffassungen vom Wesen des S t a a t e s und der S t a a t s s c h u l e auseinander, die man das aristokratische und das demokratische Prinzip nennen kann 1 . Als sozialpolitische Haltungen laufen sie seit Stoa und Epikur bzw. Piaton, auch schon früher, nebeneinander her, sich auch verschiedenartig durchkreuzend, z. B. in der katholischen Kirche. Als Richtpunkte der Lebensführung bzw. pädagogischer Zielsetzungen haben sie zu der künstlichen Gegenüberstellung einer Individual- und einer Sozialpädagogik geführt. Sie bedeuten aber keine Gegensätze, sondern vielmehr Pole eines dialektischen Spannungspaares. Hatten doch schon die Philanthropisten, Kant und seine Schüler als Ideal aufgestellt: die Erziehung zum Menschen und Bürger zugleich. Die moderne Soziologie hat diese soziale Verschränkung (Th. Litt) als unwiderleglich erwiesen. Die a r i s t o k r a t i s c h e Grundhaltung ist die persönliche Selbstdarstellung allseitiger Harmonie, allerdings als Pflicht und Verantwortungs1

Man vergleiche diese grundsätzliche Sonderung mit den von W . Sulzbach, Vierkandts

Handwörterbuch der Soziologie,

1931,

S. 428 ff., vorgeschlagenen bzw. erwähnten

Prin-

zipien. In der inhaltlichen Erfüllung der Z i e l s e t z u n g aller Parteien vermengen sich stets sowohl weltanschauliche Hintergründe wie Interessen

(Machtstreben).

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dienst an der Gesamtheit. Sie setzt Selbstachtung und Selbstbeherrschung, Ehrgefühl und Wahrhaftigkeit voraus, die freiwillige Unterwerfung unter die traditionale Ordnung (Autorität), unter althergebrachtes Recht und geheiligte Konventionen x. Wer herrschen will, muß gelernt haben, selbst zu entsagen und zu verzichten, namentlich auf alle gefühlsmäßige Romantik der Hingabe, auf den Genuß der Allerwelts-Freundschaft, zugunsten der Familie, des Volkes, der angestammten Staatsform. Wahrung des Bewährten, statt eiligen Vorwärtsdrängens! Nicht die unpersönliche Wahlliste, sondern die Achtung vor der verantwortlichen Persönlichkeit! Das Ziel der Menschheitsentwicklung ist nicht die Masse des profanum vulgus, vielmehr die Höchststeigerung und klassisch-geistige Ausformung des einzelnen in der hierarchisch gestuften Gruppe. Der Übermensch Nietzsches! Die Mannestugend der Tapferkeit, die Kraft und Festigkeit der unreflektierten Lebensführung schöpft der aristokratische Mensch aus seiner Verbundenheit mit Grund und Boden, darüber hinaus aus seinem Glauben an einen transzendenten Gott, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden *. Die demokratische Grundhaltung ist nicht vornehme Repräsentation der Person, sondern die sachliche Berufsleistung in Handel und Gewerbe, aus Pflichterfüllung gegen die Gesellschaft. Das Ethos der vorwärts drängenden Tüchtigkeit strömt aus dem subjektiven Glauben an den Menschen, an seine Güte und an die natürliche Kraft seines Verstandes, sowie an einen immanenten Gott. Das Vertrauen auf ein Naturrecht, an die Rechtsidee (»richtiges Recht«) treibt ihn vorwärts, verbrüdert ihn der ganzen Menschheit. Also nicht Abstand, sondern schließlich Hingabe der Person an alle Mitstrebenden, die solidarisch Mitarbeitenden. Nicht Gelassenheit und Muße zwecks geschlossener Persönlichkeitsformung, sondern rastlose Tätigkeit und Herausarbeitung der differenzierten, leistungsfähigen »Gestalt«. (S. 23f.) Statt persönlicher Kultur die Zivilisation rationaler Technik. Nicht Politik vor Wirtschaft, sondern Wirtschaft vor Politik. Nicht Selbstzucht, sondern F r e i h e i t und Gleichheit im Vertrauen auf das eigene Können und Wissen. Nicht Gefolgschaft, sondern Vertrag: Regierung durch Regelung, Aussprache und Abstimmung auf zahlenmäßiger Grundlage. Nicht Monarchie noch Oligarchie, sondern Demokratie und öffentliche Meinung. Nicht Herrschaft, sondern freie 1 Das alles hat Goethe, wenn auch recht einseitig, so doch mit größter Klarheit gesehen und ausgesprochen. Ich verweise besonders auf Wilhelm Meisters Lehrjahre V , 3 ; V , 1 6 (Serlo), IV, 2; III, 2. Auch J . Galsworthy hat über dieses Thema sehr treffende Bemerkungen gemacht und entsprechende Menschentypen gezeichnet, besonders in The Patrician. * Vgl. dazu auch W . H. Riehls »Naturgeschichte des Volkes*, besonders Band 2, Stuttgart und Berlin 1907. — Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Hamburg 1 9 3 1 .

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Selbstbestimmung (Genossenschaft). Nicht Vorrechte weniger, sondern gleiche Chancen für den Aufstieg aller. Nicht zurückhaltende Würde, sondern Nachgeben der subjektiven Neigungen zum frohen Lebensgenuß (»Glückseligkeit«), Pflege der Freundschaft, Vertraulichkeit oder gar »Gemütlichkeit«. Soweit die beiden polaren Grundhaltungen in idealtypischer Ausprägung. Als Beispiel der a r i s t o k r a t i s c h e n Lebenshaltung verweise ich auf das Ideal, das Graf Chesterfield (f 1773) in den Briefen an seinen natürlichen und seinen Patensohn, an Freunde und Standesgenossen entwirft: Sorge für Familie und Staat, Standesbewußtsein des durchgebildeten nationalen Diplomaten und übernationalen Staatsmannes, die religiöse Gesinnung, wiederholte Würdigung des art of pleasing (gentleness of manners; self-control).

Die demokratische Grundhaltung verzweigt sich in ihrer historischen Auswirkung nach zwei Polen. Die Idee der Sachleistung und Tüchtigkeit führt zu einem national fundierten Individualismus; die Idee der sozialen Gesellschaftsordnung zu einem Kommunismus oder Kollektivismus internationalen Gepräges. Dort liberales Bürgertum, durch Finanz und Industrie auch zum Internationalismus gedrängt, hier soziales Proletariat. Dazwischen die verschiedenen Richtungen der Angestellten, Beamten, Bauern, Handwerker, vom liberalen Konservativismus bis zur staatsbejahenden, verbürgerlichten Arbeiterschaft (Sozialdemokratie). Das liberale B ü r g e r t u m vertritt den fortschrittlichen Grundsatz: freie Bahn dem Tüchtigen! Das erwachende Selbstbewußtsein des erwerbenden Volkes, das Interesse weltlicher Regenten an möglichst leistungsfähigen und damit steuerkräftigen Untertanen, schließlich die christliche Lehre von der Gleichheit jeglichen Menschentums begünstigten den Aufstieg des frommen, fleißigen, nützlichen Industrie-Menschen im Zeitalter der Aufklärung. Industrieschulen verschiedener Art, Universitäten und Hochschulen wie auch Sozietäten traten in ihren Dienst (K. Iven). Die geistig-wirtschaftliche Oberschicht des Bürgertums nimmt die Wendung zum konservativen Flügel, teilweise in ihm aufgehend. Dagegen vertreten die liberalen Schichten das demokratische Prinzip der Freiheit, nicht das der Gleichheit noch das der Brüderlichkeit: Freiheit des Denkens, Schaffens, Handelns und Glaubens in einem Staat, der wohl Pflichten, aber keine Rechte hat. Das Wirtschaftsleben des Unternehmertums wird beherrscht von den Grundsätzen der Auslese (Berechtigungswesen), vom Studium des Arbeitsvorgangs, der Arbeitsmenschen: wissenschaftliche Betriebsführung 1 Der Gegenpol der liberalen Schichten innerhalb der demokratischen Weltanschauung, der konsequente M a r x i s m u s , verficht die beiden anderen Ideale der großen französischen Revolution, also nicht Freiheit, sondern Gleichheit, statt Brüderlichkeit: Solidarität. Ohne Anteil am Kapital oder am Boden, oft heimatlos, ohne Sicherung der Existenz, ohne Tradition und Lebensform, ohne Geistigkeit des Berufs und ohne Möglichkeit des Aufstiegs ist der ökonomische Mensch, bisher kein Volksglied, auf die schaffende Hand und die Überwachung der Maschine verpflichtet. Auch der Landarbeiter scheint diesem Schicksal mehr und mehr zu verfallen und gleichfalls zum »Industrievolk« zu werden infolge der Rationalisierung der Bodenkultur, der Arbeitsart und -mittel sowie des Absatzes. Aus diesen Nöten der Seele des städtischen und ländlichen Arbeiters folgt die Gefühlslage des Ausgeschlossenseins, der Inferiorität, der Negation: die Folgen einer verhetzenden Doktrin! Nicht sinnerfüllte Dienstidee, sondern steter »Verdienstgedanke« (Fr. Dessauer) — nach dem Vorbild der liberalen Bourgeoisie. Nicht Evolution, sondern Klassenkampf, Generalstreik und

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Zersetzung. Religion ist »Privatsache«. Die Familie wird überflüssig, Staat und gegliederte Gesellschaftsordnung werden als unsittlich abgelehnt. Das Ziel des in den Fabrikzentren massierten Proletariers ist die klassenlose Gesellschaft der Menschheit, die Kollektivität des öffentlichen Eigentums und der Masse. Vom Kommunismus (und Syndikalismus) zu scheiden ist der Bolschewismus russischer Prägung. Soweit sich die bisherige Entwicklung übersehen läßt, ist in der Weiterentwicklung des Leninismus zum Stalinismus die große Masse entpersönlicht und auf das niedrigste Lebensniveau dauernden Hungern? hinabgedrückt; politische Gleichheit droht zur kulturellen Gleichgültigkeit zu werden. Die Freiheitsidee des liberalen Sozialismus ist dem Despotismus eines absolutistischen Sozialismus gewichen; der Mensch wird zum Mittel der Ökonomie des überstürzt-fortschrittlichen Liberalismus; »Wirtschaft« ist Lebensprinzip und Glaubensbekenntnis (Coudenhove-Kalergi). Die SJaatswirtschaft und das Staatsevangelium der Arbeit erstarken im Schutze des Militarismus. So hebt sich das demokratische Prinzip selbst auf.

Diesen Grundhaltungen gesellschaftlich-politischen Lebens entsprechen, der Idee nach, die Ziele und Wege der verschiedenen Bildungswege. Der a r i s t o k r a t i s c h e n Lebensanschauung eignet ursprünglich die Hofmeistererziehung bzw. die Familienschule. Da Nützlichkeitserwägungen praktischen Erwerbs ausscheiden, empfiehlt sich besonders die humanistische (neuhuxnanistischè) Bildung der menschlichen Totalität (Fr. Niethammer). Freie Bindung an überpersönliche Normen: der erzogene, weniger der linterrichtete Mensch. Die alte Volkshochschule hat in diesem Rahmen keine Stelle. Die Persönlichkeitskultur des Aristokraten vollendet sich in der großen Gesellschaft. Die d e m o k r a t i s c h - b ü r g e r l i c h e Bildung steht unter dem aufklärerischen Wahlspruch: Savoir pour prévoir. Wissen ist Macht. Nach Ratichius und Comenius: alles alle zu lehren. Die einseitige Betonung naturwissenschaftlicher Studien der Oberrealschule kommt den Zielen des »industriösen Menschen « am weitesten entgegen ; didaktisch die »Arbeitsschule«. Ebenso bringt die Volkshochschule (einschließlich der Büchereien) alles, was dem Aufstieg (Einheitsschule!) und dem wirtschaftlichen Vorwärtskommen des tüchtigen und brauchbaren Bürgers dient. Die d e m o k r a t i s c h - m a r x i s t i s c h e Bildung will weniger den Intellekt, vielmehr das praktische Können und Wollen pflegen, daneben auch das Organisieren der Massen. Als Grundlagen werden immer wieder Naturwissenschaften sowie Wirtschafts- und Gesellschaftskunde gefordert. Nicht: Wissen, sondern Können ist Macht. Nicht Aufstieg des einzelnen, sondern Hebung der Massen durch kooperative Arbeit. Die Einheitsschule als Gleichheitsschule! Daher die besondere Sorge für das Kind (Bewegimg der »Kinderfreunde«), für Volks- und Berufsschulen, auch für Abendgymnasien, für Volksbühne und Volksbüchereien. Der Wesenstyp der öffentlichen »weltlichen« und unentgeltlichen Bildungseinrichtungen

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Die Organisation des Bildungswesens

ist die Produktionsschule in ihren vielerlei Ausprägungen, aber doch immer auf der Grundlage der physischen Arbeit, bis zur Bindung an Fabriken und Bauernwirtschaften. Der Grundgedanke der Polytechnisierung und Proletarisierung ergreift schließlich auch die Hochschulen als Zweckinstitute. Die beiden Grundhaltungen gesellschaftlich-geregelten Zusammenlebens, die aristokratische wie die demokratische sind, wie bereits bemerkt, nicht Gegensätze, sondern vielmehr Spannungen polarer Art, die allezeit auf Ausgleich drängen. Dieser Prozeß der Integration kann vorbereitet werden durch das Werk der K i r c h e auf dem Gebiete seelsorgerischer Volksbildung (Innere Mission, Dorfkirchenbewegung, Vereine, Volksbildungsausschüsse, Heime usw.), sodann durch die freien und neutralen Bildungsbestrebungen (nach Grundtvigs Vorbild einer nationalbäuerlichen, dabei auch christlichen Volksbildung): städtische und Heimvolkshochschulen x. Wenn man jetzt, im Gegensatz zur älteren individualistisch-intellektuellen Wissensübermittelung einer gnädigen Fürsorge, den Menschen in seiner Umwelt, in allen seinen Lebensbezügen, beruflichen Erfahrungen und Bindungen erfassen und aufrütteln will, wenn bewegte Männer, einander suchend, in Heimen begegnen (Hohenrodter Bund), so sind doch diese Bestrebungen bzw. kleinen Zellenbildungen nicht bedeutsam genug, Volkbildung als Bildung zum Volk zu verwirklichen. Es scheint somit, daß die Unsinnigkeiten des öffentlichen Lebens nur durch soziale Politik und nationalpolitische Erziehung überwunden werden können, d. h. durch verantwortungsvolle Führung, durch freiwillige Ein- und Unterordnung im Sinne rechtverstandener Autorität aller Schichten des Volkes 3 . Das neue Erziehungs- und Arbeitsethos volkhafter Verbundenheit in den Siedlungen und Arbeitslagern weist bereits auf den einzig möglichen Ausweg hin (s. d. 3. Teil). Ist nämlich der Staat weder Besitz des einzelnen als absolutistischer Staat noch liberal-konstitutionelles Mittel individualistischer Interessenbefriedigung, sondern überpersönliche Verwirklichung der allgemein 1

Außer den deutschen Bestrebungen, von Tews bis Erdberg, Picht, Rosenstock, Heller u. Flitner, Bäuerle, Weitsch u. Angermann u. Klatt, besonders auch die rege Wirksamkeit der World Association for Adult Education, London; vgl. die sehr gut orientierten Educational Yearbooks of the International Institute of Teachers College, Columbia University, New York 1928 ff. > »Erst wenn im Gegensatz zu einer peripheren Form des pädagogischen Ansatzes eine zentrale Entzündung stattfindet, d. h. die pädagogische Problematik ohne alle Umschweife im Wesen des kapitalistischen Geistes selbst verwurzelt wird und aus dem vollen Widerspruch hierzu unmittelbar aufspringt, eröffnet sich die Möglichkeit der Begründung einer eigenen autonomen Industriepädagogik«. H. Kautz, Industrie formt Menschen, Einsiedeln 1929, S. 70; vgl. L . Weismantel, S. 19 ff., 1 2 1 ; J . Dewey, S. 170 f.

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empfundenen Verantwortlichkeit, mithin nicht bloße Hülle, sondern organisatorisch gegliederte Sinngestalt eines einheitlichen Sinngehalts, dann ist der Staat nicht die bloße Summe widerstreitender Parteien, sondern die Ganzheit aller in ihm aufgehenden Staatsbürger, ein übergeordneter Ausgleich von aristokratischer Selbstdarstellung und demokratischer Tüchtigkeit, von Persönlichkeit und Sachlichkeit, von Ordnung und Freiheit, der metaphysisch-normativen Pflichtauffassung germanischen Ordnungssinnes und des begrifüich-subjektivistischen Denkens westlicher Völker. Bemerkt doch jeder feinere Kenner der großen Demokratie des Westens, daß in Amerika die Muße, nach vollbrachter A r b e i t n i c h t Vorrecht der theoretisch »Gebildeten« ist, sondern aller S t ä n d e d i e Pflege der sich einordnenden Persönlichkeit wird zur selbstverständlichen Pflicht. Sollte doch auch Demokratie (bzw. ethischer Liberalismus) nichts anders sein als Führertum des tüchtigen Menschen im geordneten Staatswesen, verantwortliche Erziehung des Volkes durch das Volk! 3. Aber nicht bloß ein Führertum der kalten »Gerechtigkeit«, denn das ist nie echte Gemeinschaft, sondern ein Führertum des gegenseitigen Vertrauens, der B r ü d e r l i c h k e i t in Leistung und Güte, wie ich es in der Allgemeinen Erziehungslehre versucht habe herauszustellen. Allerdings bot uns die Wirklichkeit nur ein sinnloses Durcheinander von Führenden, die nicht führten, und Parlamentariern, die verantwortungslos dazwischenredeten. Der Idee nach hat aber der Freiherr vom Stein versucht, die Reform Preußens im aristo-demokratischen Geiste durchzuführen. 1

Auf der Weltkonferenz über Erwachsenenbildung zu Cambridge (1929) trat der Wesensunterschied zwischen deutscher und angloamerikanischer Auffassung klar zutage. Das Bestreben, den Beruf durch Bildung zu erhöhen auf Grund einer versittlichten Auffassung der Arbeit als Pflicht und Dienst einerseits, Freizeit und Muße als Ergänzung verantwortlicher Arbeit andererseits schließen sich, in dieser Fassung, nicht aus. » Vgl. auch J. Dewey, S. 3Q8 ff. In den englischen Schriften über Erwachsenenbildung wird immer die Idee der Menschenwürde, der Lebenskunst und dergl. betont. (Vgl. dazu L. Pierards Artikel in dem International Handbook 1930). Arbeit und Persönlichkeitskultur — in Deutschland schier zwei unverträgliche Begriffe! In dem Prospect der Educational Settlements Association, wo das Wort »leisure« eine große Rolle spielt, wird die Frage aufgeworfen: »How am I to relate my personal claims, interests, functions to those of the family, the neighbourhood, the city, the State ? Nay, more, how am I to harmonise conflicting elements within myself? By what means may I develop a balanced personality, responsive to the whole world of men and things at every point?« 3 Wie auch im deutschen Bildungsideal seit Herder und Humboldt das demokratische Element der Ausbildung vorgegebener Anlagen zusammenfließt mit dem ästhetisch-aristokratischen Prinzip einer »Bildung als zum Bilde machen«. H. Weil, Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930. Vgl. auch G. Bäumer, Grundlagen demokratischer Politik, Karlsruhe 1928, S. 9 ff.; Landauer-Honegger-Bonn, Internationaler Faschismus, Karlsruhe 1928, S. 140 ff. O t t o , Unterricht sichre. ß

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Die Organisation des Bildungswesens Nach E . v. Beckerath wird im Stato Corporativo Italiens diese Idee der Aristo-Demo-

kratie (von G. Gentile) eindeutig formuliert als democrazia accentrata (Mussolini: accentuata) ed autoritaria.

Aber wenn sich auch der Faschismus kennzeichnenderweise auf die mittlere

Linie des Ausgleichs stützt und seine Anhänger, im vertikalen Aufbau, nicht nur aus der Mitte des geistig regen Mittelstandes nimmt, sondern aus allen Volksschichten, dem PlanKapitalismus und der gewerklich organisierten Arbeiterschaft, so ist doch hier der Ausgleich von Außerparteilichkeit und individueller Initiative, gläubig-heroischer Hingabe und Interessenwirtschaft, von Ordnung und Freiheit noch eine zu verwirklichende Idee.

Schließlich die immanente Dialektik von K i r c h e und Schule! Das Ewige und das Zeitliche, das Absolute und das Relative werden immer in wechselseitiger Spannung liegen x . Wie aus der im Anhang gegebenen Übersicht über das Strukturgefüge der geistigen Welt hervorgeht, ist das Religiöse das Allumfassende und das alles Begründende unseres diesseitigjenseitigen Daseins. Es kann infolgedessen nur religiöse Schulen geben, die von der Gottessehnsucht durchdrungen sind, die sittlichen Werte also auch religiös fundieren, während die bloße Betonung von Dogmen verschiedener Kirchen sich schließlich gegen Sittlichkeit und selbst gegen die Kirchen auswirken könnte. Weltliche Schulen sind künstliche Abstraktionen unseres arbeitsteiligen Zeitalters, wie überall so auch hier dem Atomismus eines aufklärerischen Liberalismus entstammend, mit edlen Kennzeichen rationalen Fortschritts und der freien Konkurrenz. Diese Tatsachen können an der Normativität der allumfassenden religiösen Idee nichts ändern. Die grundlegende Ordnung der Welt ist jedoch nicht zu verwechseln mit folgenden wesentlich anderen Sachverhalten. Erstens ist Theologie als dogmatische oder kritische Wissenschaft nicht ganzheitliches Gottgerichtetsein, als T h e o r i e nur ein Glied dieses weltlichen Lebens, nicht mehr das Ganze. Es gibt zudem nicht eine Kirche, sondern deren viele, möge eine jede sich auch für die einzig rechtgläubige ausgeben. Die Kirche als göttliche »Institution« ist übernational und mithin überstaatlich. Konfessionelle Schulen sind desgleichen übernational, ihr geistiges Zentrum ist das religiöse Bekenntnis: erst Religion, dann Volk bzw. Staat. Staatsschulen sind dagegen national, ihr geistiger Beziehungspunkt ist die Volkskultur, ohne Religion nur ein Torso. Als Organisationen stehen mithin Staat und Kirche im Staate selbst nicht nebengeordnet, sondern die Kirche ist dem Staate gliedhaft eingeordnet. Der Kulturstaat der sich selbst bestimmenden Nation (oder Nationen) hat die Pflicht, alle kulturellen Wertrichtungen, also auch die Gottgerichtetheit aller zu schützen, d. h. das Werk der Kirchen zu fördern, solange sie nicht gegen ihn arbeiten, sondern für die Kultur der Seele. Daher Freiheit der konfessionellen 1

H. Kautz, Ein System der katholischen Religionspädagogik, Kevelaer 1926, S. 314 ff.;

O . Eberhard, Welterziehungsbewegung, Furche-Verlag, 1930; W . Weitling, Gerechtigkeit, her. v . E . Barmkol, Kiel 1929.

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Grundsätze der Schulorganisation

Überzeugungen und ihrer Pflege in der religiösen deutschen Nationalschule, die somit nur Simultanschule sein kann. In konfessionell entschiedenen Gebieten wird sie ganz natürlich zur Konfessionsschule hinneigen. Wie das Beispiel Frankfurts (Main) zeigt, hat die Simultanschule die (weltliche) Sammelschule überflüssig gemacht. — Zweitens ist Organisation immer Veräußerlichung; daher, als Gegenwirkung, das stete Ringen aller Religions-»Gesellschaften« um Verinnerlichung des Glaubens, um den Geist der »Gemeinschaft«. Drittens, je mehr die kirchliche Institution gesellschaftlich-charitative Einrichtung oder auch politisches Instrument der Macht wird, sich auch nur in weltlich-politische Fragen einläßt, verfällt sie dem Diesseitigen, steht nicht mehr »darüber«, ist nicht mehr das All, sondern wiederum nur noch ein Glied. L i t e r a t u r : £ . v. Beckerath, Fascismus, H. Vierkandts Handwörterb. d. Soziologie, Stuttgart 1 9 3 1 ; Wesen und Werden des fascistiscben Staates, Berlin 1927. — Th. Brauer, Produktionsfaktor Arbeit, Erwägungen zur modernen Arbeitslehre, Jena 1925. — G. Briefs, Das gewerbliche Proletariat, Grundriß der Sozialökonomik I X , 1 (1926). — R. N. CoudenhoveKalergi, Stalin & Co., Leipzig-Wien 1 9 3 1 . — J . Dewey, Demokratie und Erziehung, deutsch v. E . Hylla, Breslau 1930. — N. Fr. S. Grundtvig, Die Volkshochschule I u. II, Jena 1927. — R. Guardini, Vom Sinn der Kirche, Mainz 1923. — H. Heller, Europa und der Fascismus, Berlin u. Leipzig 2. Aufl. 1 9 3 1 . — K . Iven, Die Industriepädagogik des 18. Jahrhunderts, Göttinger Studien, her. v. H. Nohl, Heft 1 5 , Langensalza, Berlin-Leipzig 1929. — Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 6 (1930), Heft 4 (Delekat), 5 (Schröteler), 6 (Deiters). — E . Krieck, Nationalpolitische Erziehung, Leipzig 1932. — R. Meister, Humanismus und Kanonproblem, Wien u. Leipzig 1 9 3 1 . — O. Neuloh, Arbeiterbildung im neuen Deutschland, Leipzig 1930. — Deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung I, I I , Stuttgart 1927, 1930. — O . Spann, Der wahre Staat, 1923. — Ed. Spranger, Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung, Leipzig 1929; Volk — Staat — Erziehung, Leipzig 1932. — E . Stem, Jahrbuch der Erziehungswissenschaft und Jugendkunde (Kaehler, Boelitz, Baumgartner, u. a.) Berlin 1927. — Der Staat, Eine Schulungswoche der Deutschen Studentenschaft, o. J . — L . Weismantel, Die Schule der Lebensalter, Augsburg 1928. — Die rote Wirtschaft, her. v. G. Dobbert, KönigsbergBerlin 1932.

B. Grundsätze der Schulorganisation. Es hat sich im ersten Teil ergeben, daß Entwicklung gleichbedeutend ist mit organischer Ausgliederung, d. h. mit steigender Differenzierung bei größtmöglicher Integrierung (ganzheitlicher Gerichtetheit). Die normgemäß-systematische Organisation des Bildungswesens wird sich demgemäß aus einem gemeinsamen Stamm nach oben hin immer weiter verzweigen und ausrichten: Differenzierung sobald und soweit wie nötig, Integrierung soweit wie irgend möglich. Daraus folgt: Auf der mehr praktischen Seite ist eine einheitliche Ausgliederung der »Hauptschule«, der Berufs- wie Fachschule durchzuführen mit dem Blick auf die technischen Fakultäten. Auf der mehr theoretischen Seite ist das »höhere« Schulwesen ent6*

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Die Organisation des Bildungswesens

sprechend zu vereinheitlichen (mit ihrem Anschluß an die Hohen Schulen); der Siegeszug der Reformanstalten wird daher nicht aufzuhalten sein. Beide Zweige dürfen als Glieder eines einheitlichen Ganzen niemals auseinanderfallen und wahren die organische Gliedhaftigkeit auch nach oben hin im g e m e i n s a m e n Ü b e r b a u der Volks- und Erwachsenenbildung. Der vorläufige Ansatz eines mehr theoretischen bzw. praktischen Schultypus beruht auf entscheidenden Unterschieden der V e r a n l a g u n g s R i c h t u n g . In diesem Rahmen sind innerhalb beider Typen die sekundären Veranlagungen, die Stärke der Aufnahmefähigkeit, Arbeitstempo wie Arbeitsrhythmus (Eymer-Keffert) zu berücksichtigen. Die Sonderung der Haupttypen nach der »Höhe der Begabung« war aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen abgelehnt worden. Nach den Untersuchungen H. Lämmermanns 1 ist die »Schulbegabung« keine »eindimensionale Größe«! Er stellt sodann fest: Eine direkte und präzise Antwort auf die Frage, welches die fundamentaleren Begabungsunterschiede seien, die graduellen Abstufungen in der Allgemeinbegabung oder die qualitativen Unterschiede der Begabungsrichtung, geben jedoch die bisherigen Untersuchungen nicht. Burts Vorschläge einer Neuklassifikation der Fachgruppen kommt dagegen meinen Forderungen sehr nahe. Was die Sonderung der Wesenstypen betrifft, so wird noch zwischen theoretischanalysierender und anschaulicher Intelligenz zu scheiden sein. Sodann müssen wir unsern ersten Ansatz nunmehr wesentlich ergänzen. Theoretisches und praktisches Tun sind ihrem Wesen nach außergesellschaftliche Tätigkeiten (s. die Skizze des Anhangs). Die Sachleistungen des Arbeiters oder Handwerkers am fließenden Band oder in der Werkstatt, ebenso die Forschung des Gelehrten ragen allenthalben in die gesellschaftliche Welt hinein. Und damit ist der Übergang aufgewiesen. So > H. Lämmermann, Ztsch. f. päd. Psych. 32 (1931), S. 385; Bericht über d. X I I . Kongreß d. D. G. f. Psychol., S. 376.

C. Burt, Die Verteilung der Schulfähigkeiten, Langen-

salza 1927. H. Lammermann spricht von einem Zentralfaktor »allgemeiner Schulbegabung«, deren Hauptkomponente die sprachlich-logische Intelligenz ist. festgestellt worden, daß

alle

Auf dieser Grundlage war

Schulfächer während der Grundschulzeit beziehungsreicher

werden. Vgl. dazu J. Söst, Wesen und Bedeutung der Schulzeugnisse und ihre pädagogische und psychologische Auswertung, Paderborn 1926, S. 58 ff. D a ß sich auf theoretischen Schulen eine ganz »beträchtliche positive

Korrelation« zwischen nicht verwandten Fächern, z. B .

zwischen Fremdsprachen und Mathematik ergaben, leuchtet ohne weiteres ein, da diese Gebiete einen höheren Grad der Intelligenz erfordern.

G. Groth, Beziehungen zwischen

intellektueller und künstlerisch-technischer Begabung, Ztschr. f. päd. Psychol. 33 (1932), S. 221 hat gefunden, »daß die Begabungen in den theoretischen Fachgruppen untereinander eine viel größere Korrelation aufweisen als die Begabungen in einem theoretischen Fach und einem künstlerisch-praktischen, und daß bei den künstlerisch-technischen Fächern nur die Begabungen in Zeichnen und Werktätigkeit in hoher Korrelation stehen«.

Grundsätze der Schulorganisation

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gibt es denn auch wesentlich gesellschaftliche Berufe des Handelns, z. B. den Politiker oder den Wirtschaftsmenschen, wie ja dem Werkmeister und dem Vorarbeiter bereits die Führung von Menschen obliegt, nicht bloß die schaffende Arbeit. Alles Handeln setzt ganz besondere Fertigkeiten voraus, teils mehr die praktische Fähigkeit des raschen Zugriffs, teils mehr theoretische Kenntnisse, wie z. B. die Beherrschung fremder Sprachen. Die Menschen des Handelns werden also sowohl von den theoretischen Gymnasien ( = höheren Schulen) wie von den praktischen Schulen herkommen, mehr über eine anschauliche Intelligenz oder mehr über eine praktisch-ökonomische Geschicklichkeit verfügen, was man »praktische Intelligenz« nennen könnte. Sie bedürfen aber alle des Menschenverständnisses und des feineren Fingerspitzengefühls für schwierige Situationen, der größeren Übersicht und des schnellen Zugreifen-Könnens. Die wesentlichen Eigenschaften des handelnden Menschen begründen demnach keinen neuen Schultypus. Eine stattliche Reihe experimenteller Untersuchungen hat gerade das Problem geklärt, das wir als die Domäne des »Handelns« bezeichnet haben. E s kommen besonders in Betracht die Legtafel-, Koffer-, Zahlensuch-, Rangier- und Kommissionsproben, die von Forschern wie A. Grünbaum, A. Brunswig, R. H. Sylvester, Dearborn-Anderson-Christiansen, G. C. Link, K . Böge, W. Blumenfeld, W. Poppelreuter, E . Sachsenberg, F. Giese, K . Heydt eingehend untersucht wurden. Schon die Fülle dieser Arbeiten läßt die Bedeutung des Problems an sich erkennen. Erika Scheringer hat dazu die Permutationsprobe und die Findigkeitsprobe für geometrische Relationen gefügt und sehr treffende psychologische Analysen der einzelnen Proben gegeben. Uns interessiert an diesen Untersuchungen, daß sie wohl vorwiegend die t h e o r e t i s c h e Funktion der Auffassung, des Wiedererkennens und des Gedächtnisses prüfen, daneben aber auch das ökonomische Moment des S c h a f f e n s sowie den komplexen Prozeß des intelligenten und schnellen H a n d e l n s . F. v. Rohden hat daher mit Recht, in Fortbildung einer Definition W. Sterns, unter praktischer Intelligenz gerade das »Handeln« verstanden (S. 366). Laufen doch alle Proben, mehr oder weniger, auf die Untersuchung der »Findigkeit« für Relationskomplexe hinaus. Dazu gehört »Anstelligkeit« (Blumenfeld) oder ein »praktischer Überblick«, d. h. es muß bei Einzelhandlung das Gesamtziel (die »Gesamtstruktur des Feldes«, die »Gesamt-gestalt«) im Auge behalten werden. Wenn also hier allerdings nicht die eigentliche Handlung als Wechselwirkung der Menschen erforscht wird, so sind jedoch die theoretischen und praktischen Voraussetzungen alles H a n d e l n s in Betracht gezogen. Was die Bezeichnungen der Eigenschaften betrifft, die in den erwähnten psychologischen Untersuchungen geprüft sind, so hat man von »praktischer« oder von »natürlicher Intelligenz« gesprochen, auch von »anschaulich-motorischer Kombination«. E . Scheringer glaubt, ebenso wie O. Lipmann, daß die Anschaulichkeit der Aufgabe dabei nicht das Wesentliche sei. Auch das Auftreten von Bewegungen bzw. Bewegungsvorstellungen scheint »kein ausreichendes Merkmal zu sein, um einen prinzipiellen Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Intelligenz zu begründen«. Praktische Intelligenz geht eben weder auf das rein theoretische Forschen noch auf das rein praktisch-ökonomische Schaffen, sondern auf das umsichtige und schnelle H a n d e l n im politisch-wirtschaftlichen Leben. E . Scheringers Versuche und ihre Deutung beweisen, daß die Lösung der Aufgabe »plötzlich da« sein kann, also auch unbewußt erfolgen kann, in der Regel allerdings mehr oder weniger bewußt, d. h.

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Die Organisation des Bildungswesens

unter verstandesmäßigen Erwägungen erfolgt. Der Umstand jedoch, daß das Ergebnis auch unbewußt gefunden werden kann, macht es einsichtig, daß wir es bei den vorliegenden Versuchen grundsätzlich nicht mit den rein logischen Prozessen wissenschaftlicher Analyse, Komparation und Kombination zu tun haben. Der handelnde (wie der praktische) Mensch kann seine Aufgabe i n t u i t i v erfassen und lösen! Vgl. S. 57 f. Allen Aufgaben ist aber der Zug gemein, daß ihre Lösung darin besteht, unter verschiedenen Möglichkeiten angemessenen Handelns zweckvoll zu w ä h l e n 1 . Insofern ist die Konkretheit der ganzheitlichen Aufgabe, die unformulierte Art des Denkens und die distributive Aufmerksamkeit (K. Böge) wesentlich für diese Art des Verhaltens. Amerikanische bzw. englische Forscher sprechen sehr kennzeichnend von »adaptation to the environment«, von »purposive behavior« oder auch von »selective and eligible propensity«. L i t e r a t u r : O. Boelitz, Der Aufbau des preußischen Bildungswesens nach der Staatsumwälzung, Leipzig 1924. — Educational Yearbook of the International Institute of Teachers College Columbia University, New York 1928, 1929, 1930. — W. Hellpach, Die Wesensgestalt der deutschen Schule, Leipzig 1926. — G. Kerschensteiner, Theorie der Bildung, Leipzig 1928. — H. Lämmermann, Über d. Verhältnis von Allgemein- u. Sonderbegabung, X I I . Kongreß-Bericht d. Dtsch. Ges. f. Psych., Jena 1932, S. 374 ff. — E. Löffler, Das öffentliche Bildungswesen in Deutschland, Berlin 1931. — Nohl-Pallat, Handbuch IV (S. Hessen), Langensalza 1929. — Fr. v. Rohden, Über Wesen und Untersuchung der praktischen Intelligenz, Archiv f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Berlin 70 (1924). — Er. Scheringer, Experimentelle Untersuchungen über die anschaulich-motorische Kombination (praktische Intelligenz), Langensalza 1928. 1 . Das Problem der organisatorischen Differenzierung besteht nicht für die Zeit der Kindheit. Krippe und Krabbelstube sowie vor allem der K i n d e r g a r t e n sind Stätten der leib-seelischen Pflege sowie des A u s gleichs ungünstiger Umweltbedingungen. Das ist ihr besonderer Sinn. Auch die G r u n d s c h u l e bedarf, abgesehen von den stärker gehemmten Schülern, keiner Differenzierung». W i r d das K i n d mit dem 4. Lebensjahr bildungsreif (O. K r o h : »schulreif«), d. h. der systematischen Führung zugänglich, so kann um das 6. Lebensjahr (in unsern Breiten), neben der Weiterführung von Pflege und Gewöhnung durch Ordnung, der »Unterricht« in der konkreten Situation der Heimatschule beginnen, fußend auf der willkürlich-intellektuellen Hinwendung zur gegenständlichen Umwelt in dem kindlichen Realismus dieser Periode. Die eigentliche »Gradabstufimg«, die bereits im ersten Schuljahre offenbar wird, tritt nach H . Lämmermann immerhin zurück hinter »qualitativen Richtungsunterschieden«, die bei 1 Es werden also Tests folgender Art in Betracht kommen, die ich den bereits herangezogenen National Intelligence Tests entlehne: Logical selection, z. B. teil what the thing always has: crowd (closeness-danger-dust-excitement-number); Symbol-Digit: Make under each drawing the number you find under that drawing in the key. Das Wesentliche ist, daß derartige Aufgaben der wählenden Stellungnahme und des Sich-zurecht-Findens in r a s c h e r Überschau zu lösen sind, nicht auf Grund der Reflexion unter Vernachlässigung des ökonomischen Moments der Zeit; sonst erfaßt man nicht den umsichtigen Menschen des Handelns, sondern den reinen Theoretiker. J Die Organisation des Hilfsschulwesens soll im Hinblick auf den Umfang des Buches an anderer Stelle veröffentlicht werden.

Hauptschule und Gymnasium

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Knaben stärker ausgeprägt sind. Sie machen eine Differenzierung in der äußeren Organisation noch nicht notwendig. Mit dem Beginn der Pubertät setzt jedoch eine »zunehmende Herausmodellierung der Sonderfähigkeiten« ein. Auch nach O. Kroh (Psychologie des Grundschulkindes) ist der Wandel derart, daß »das Bild des Kindes vom n . Lebensjahr ab wesentlich verändert scheint«. Damit ist die Zeit des Grundschulalters im allgemeinen umrissen. Was die Dauer anbelangt, so befürworten folgende pädagogische bzw. sozialpolitische Gründe eine möglichst lange Ausdehnung der Grundschulzeit: Rücksichten auf die natürliche Reifung des Kindes; Erhaltung der Klassen- und damit zugleich der Volksgemeinschaft wie auch der Familiengemeinschaft, statt des Notbehelfs zweifelhafter Pensionen; Ermöglichung einer allmählichen Schul- und Berufswahl. Auf der andern Seite sollte man die Grundschule nicht mechanisch ausweiten für a l l e Schüler im Hinblick auf die Möglichkeit einer verfehlten Schulwahl in e i n z e l n e n Fällen; auch nicht auf Kosten von Kindern, die mit drei Jahren bereits reif sind, sich dann aber in der Grundschule langweilen, andere stören oder selbst geschädigt werden. Hier brechen Spannungen auf zwischen den Vorkämpfern der kollektiven Freiheit bzw. Gleichheit und den Nichtreformern der individuellen Freiheit bzw. der Autorität, was bei ehrgeizigen Eltern, im Konkurrenzkampf der Fronarbeit, leicht in Verfrühung ausarten kann. Daher keine starre Regelung; eine Durchschnittsdauer von 4 Jahren, wenn möglich oder nötig 3 bzw. 5 Jahre als Ausnahmen; Vorkehrungen für einen späteren Übertritt bzw. für einen Wechsel innerhalb des ganzen Systems, Förderklassen und Aufbauschulen. Das Beispiel anderer Länder — man kann jedoch beim Vergleichen nicht vorsichtig genug seinl — zeigt zudem, daß die verlängerte Grundschule immer wieder auf eine (innere) Differenzierung hindrängt. Auch P. Petersen fordert einen fremdsprachlichen Vorkurs innerhalb der 6- bis 7-jährigen allgemeinen Volksschule. L i t e r a t u r : Ch. Bühler, Kindheit und Jugend, Leipzig 1931. — Eckhardt-Konetzky, Grundschularbeit, Langensalza 1928. — A. Fischer, Der Geist der Grundschulerziehung, Pädagogisches Zentralblatt 6 (1926), Heft 4. — O. Kroh, Die Psychologie des Grundschulkindes in ihrer Beziehung zur kindlichen Gesamtentwicklung, Langensalza 1930. — PetersenWolff, Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule, Weimar 1925.

2. H a u p t s c h u l e und G y m n a s i u m . Die Problematik einer verlängerten Grundschule gleitet hinüber zur Frage, ob und wieweit die praktische Hauptschule (Oberschule), als Fortsetzung der vierjährigen Grundschule, und die theoretischen Gymnasien einander angeglichen werden sollen. Die Notwendigkeiten eines reichen Kultur- und Wirtschaftslebens drängen zur spezifischen Differenzierung wesensverschiedener Grandtypen von der ersten Klasse an. Die Forderung der Volksgemeinschaft sowie einer angemessenen Schulwahl, sicherer Berufsauslese und somit eines freien Schulwechsels führen zur Integrierung, d. h. zur An-Gleichung der Grundtypen. Im letzteren Falle opfert man das Gros der Schüler dem Wohle einiger weniger. Das schwächliche Kompromiß eines gleichmachenden Intellektualismus zerstört beide Typen: weder der eine noch der andere kann seine besondere Eigenart entfalten im Dienste eines organisch gegliederten Kulturvolkes.

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Die Organisation des Bildungswesens

In dieser Hinsicht ist die Wiener Reform außerordentlich lehrreich. Die Einrichtung der »Allgemeinen Mittelschule« neben der »Deutschen Mittelschule« führte zur Einigung des Mittelschulgesetzes vom 2. August 1927, wonach neben der (theoretischen) »Untermittelschule« eine (praktische) Hauptschule besteht, die in einem Klassenzuge die Möglichkeit fremdsprachlichen Unterrichts gewährt und zwar von der 2. Klasse an, also ebenso wie die Untermittelschule. Das Ergebnis ist, daß auf der Untermittelschule die Fähigkeit des Sprachenlernen-Könnens nicht ausgenützt wird; das kann in den höheren Klassen der (8-jährigen) Mittelschule unmöglich nachgeholt werden, ohne daß andere Gebiete darunter leiden; diese Bedenken gelten noch mehr für die von W. Paulsen entworfenen Pläne. Andererseits wird die Besonderheit der Hauptschule erdrückt unter dem anspruchsvollen Sprachunterricht (5, 4, 4 Wochenstunden)«, der auf einer praktischen Schule grundsätzlich nur in der Randstellung zu betreiben wäre. Dieser äußeren Differenzierung bei innerer Gleichartigkeit ist immerhin eine gemeinsame Mittelstufe mit innerer Differenzierung (vom 3. Schuljahre abt) vorzuziehen, in Anlehnung an die Vorschläge des sächsischen wie des preußischen Lehrervereins: umfassende Systeme größerer Art würden dann ganz natürlich auch zur äußeren Difierenzierung treiben!

3. Die H a u p t s c h u l e und ihre Quergliederung. Das zur Zeit vielumstrittene Ziel der Hauptschule ( = Oberklassen der Volksschule) ist persönliche Bildung des praktischen deutschen Menschen in seiner Verantwortung gegen Familie, Volk und Staat. Der ländliche Arbeiter wie vor allem der kundige Führer der Maschine und »Steuermann des Mechanismus« (C. Arnhold) bedürfen der Wendigkeit, des Education for a changing Civilisation in einer Wirtschaft, die mehr und mehr nach vielseitigen Facharbeitern verlangt. Die in den Kreisen des Handwerks, Gewerbes und der Industrie sowie seitens der Lehrerschaft selbst erhobenen, berechtigten und unberechtigten Klagen finden darin ihren Grund, daß in Deutschland wie in Österreich (J. Stur) nicht die Hälfte der Volksschüler die ausgegliederte Schule durchlaufen und mit einer abgebrochenen Bildung ins praktische Leben gehen. So auch sonst in Europa und in den Vereinigten Staaten (nach Stanley Hall). Die Vereinzelung des Mannheimer Systems, seine vorübergehende Erprobung bzw. Abänderung (in Altona wie auch in den Vereinigten Staaten), schließlich auch die Zuflucht zu Abschluß-Klassen oder -Abteilungen zeigen immer deutlicher, daß das Problem »Hauptschule« auf diese Weise nicht zu bewältigen ist. Es geht eben grundsätzlich nicht mit den Mitteln quantitativer Art und Abstu1

»Wird die Hauptschule nur in einem Klassenzuge geführt, so ist nach dem Lehrplan für den ersten Klassenzug [mit Fremdsprache] vorzugehen...« V. Fadrus, Die Schulreform in Österreich, II, Wien 1928. Sehr lehrreich sind die Erfahrungen, die auf der Deutschen Mittelschule mit dem noch späteren Beginn der ersten Fremdsprache (in der 3. Klasse) gemacht sind. Siehe dazu V. Belohoubek, Die ersten zehn Jahre der österreichischen Bundeserziehungsanstalten, Wien u. Leipzig 1931, S. 44 ff. — R . Meister, Probleme der Schulgestaltung in Österreich, Internationale Ztschr. f. Erziehungswissenschaft I (1931), S. 106 f. Auch K . Furtmüllers Kritik des »Grazer Typus«, Schulreform V I (1927), S. 14 ff. — Weitere Literatur ist hinter dem nächsten Abschnitt angegeben.

Die Hauptschule und ihre Quergliederung

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fungen der Intelligenzhöhe: die Hauptschule ist kein Abklatsch der höheren Schule! Man mache daher auf allen praktischen Schulen die p r a k t i s c h e A r b e i t zum A u s g a n g s p u n k t aller Schulung und alles bildnerischen Tuns; im werktätigen Schaffen wird das Leben verstanden und das eigene Sein geformt. Das bedeutet also keine banausenhafte Beschränkung auf das rein Nützliche, sondern das Einleben in das deutsche Kulturgut von der heimatlichen Umwelt des praktischen Lebens aus und das um so mehr, als in der übersteigerten Arbeitsschule formaler »Selbsttätigkeit« der I n h a l t der Bildung zu verarmen droht. Die Mannigfaltigkeit der subjektiven Arbeitstypen wie auch die sich täglich steigernde Differenzierung der objektiven Berufsforderungen verlangten nach weitgegliederten Schultypen zwecks Selbstauswahl auf Grund der Bewährung. Ich erörtere diese Frage zuerst einmal ganz allgemein, also auch ganz besonders im Hinblick auf die oberen Klassen der Hauptschule (8., 9., io. Schuljahr!) wie auch auf die theoretischen Schulen (die Gymnasien). Die Differenzierung der einzelnen Schulsysteme kann durch Einführung gehobener, in sich geschlossener Abteilungen mit eigenem Lehrplan geschehen oder auch mittels des Systems von Wahlfächern (Kursen), ergänzt durch freie Arbeitsgemeinschaften, schließlich durch Zusatzunterricht für kleinere Schulen als Notbehelf. Diese Auflockerung berührt im allgemeinen den »Kern« nicht, also weder die allen Schulen gemeinsamen »Stammfächer« (Religion, Deutsch, Geschichte, Geographie, Musik usw.) noch die »charakteristischen Fächer« (z. B. Werkunterricht, Latein-Griechisch), in denen sich gerade die Grundtypen voneinander unterscheiden. Dienen die Wahlfächer mehr der Vorbereitung auf den späteren Beruf, (z. B. Latein für »Realschüler«), so können die freien Arbeitsgemeinschaften (Werkunterricht, Musik, Literatur, Politik, Philosophie) den Prozeß der Persönlichkeitsbildung fördern in Stunden der Reifung und Besinnung. So kommt es, daß der Gegenstand der Arbeitsgemeinschaften bald ein lehrplanmäßiges Fach vertieft, bald Neuland bedeutet und so zum Zentrum des gesamten Bildungsaktes werden kann. Beide, Wahlfächer wie Arbeitsgemeinschaften, kommen i n d i v i d u e l l e n Wünschen bzw. Veranlagungen entgegen und nehmen im organisatorischen Aufbau jedes Typus nur eine Randstellung ein. Ihre Einrichtung setzt auf allen, theoretischen wie praktischen Schulen die Beschränkung auf einen M i n i m a l p l a n notwendig voraus. Denn mit dem Zwange starrer Typen löst man auch hier das Problem: Freiheit — Ordnung schlechterdings nicht. Jede sinnvolle Reform, die sich nicht mit Halbheiten begnügt, kommt aber um diese Entscheidung nicht herum — auch wenn sie nun gar mit erhöhten Kosten verbunden ist, in dieser Zeit ungeheuerlichster Not!

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Das System der g e h o b e n e n A b t e i l u n g e n innerhalb der Hauptschule, in Charlottenburg, Frankfurt (Main), Leipzig, Wien, Bremen, Altona und anderen Städten mit Erfolg erprobt, ist im großen Maßstäbe von Stadtschulrat Dr. Hartnacke in Dresden durchgeführt worden. Von dem Grundsatze ausgehend, daß die »höheren« Intelligenzen sowohl sprachlich wie in den anderen theoretischen Fächern im allgemeinen Tüchtiges leisten werden, wird in den gehobenen Abteilungen der Hauptschule Englisch als Fremdsprache geboten. Das andere System der W a h l f ä c h e r (Kern und Kurse) ist von S. Schwarz in Lübeck einheitlich durchorganisiert worden, so daß ein Übertritt vom höheren Schulzug bis hinauf zur U I I I einschließlich ermöglicht wird, und zwar auf Grund der »verschiedenartigen Begabung« mittels Kurse in einer ersten, dann in einer zweiten Fremdsprache sowie in Mathematik. Die gehobenen Abteilungen wie die freien Kurse, die eine besondere Mittelschule^überfiüssig machen, setzen allerdings eine größere Schülerzahl voraus. Und eine Zusammenfassung der Geschlechter ist gerade in den Entwicklungsjahren der Pubertät am wenigsten zu empfehlen. Beide kommen aber der individuellen Eigenart der Schüler weit entgegen und dienen damit dem persönlichen Eigensein sowie der Selbstauslese durch Erprobung für die Wahl der angemessenen Schule und so auch des späteren Berufs. Dazu bieten freie Kurse noch eine größere Möglichkeit, sich dem Fassungsvermögen des einzelnen Schülers anzupassen, ebenso seiner individuellen Entwicklungskurve und seinem besonderen Lebensrhythmus. Die hier bestehende Wahlfreiheit wirkt sich auch in der Aufrückungsmöglichkeit höchst vorteilhaft aus: ein Schüler kann, bei angemessener Organisation, in den Kernfächern versetzt werden, aber in diesem oder jenem Kursus zurückbleiben oder umgekehrt. Überdies können schwächere Schüler durch Sonderkurse (Hilfskurse) in einzelnen Fächern noch gemeinsam gefördert werden. Schließlich sichern gehobene Züge sowohl wie Kurse die Einheitlichkeit der Arbeit und damit die Fruchtbarkeit gleichmäßigen Fortschritts. Wenn sich in den Stammfächern (Deutsch, Geographie etc.) oft verschiedenartige Veranlagungen zusammenfinden, so wiegt das nicht allzuschwer, da ja hier der Fortschritt in der Aneignung eines festen Wissens weniger entscheidend ist als die allgemeine Reife. Wohl sehe ich aber eine größere Gefahr darin, wenn die Auflockerung der Hauptschule zu sehr in den Dienst des Sprachunterrichts gestellt wird und der eigentliche Charakter der Hauptschule darunter leiden muß. Das wäre wiederum der Zwang der Gleichheits-Schule, nicht die Freiheit wesensgemäßer Ausgliederung. Uber alle diese Fragen der organischen Differenzierung vergesse man nicht, daß ein großer Teil aller Volksschulen einstufig ist, z. B . in Preußen über 42 v. H. im Jahre 1927. Ermöglicht jegliche Auflockerung eine Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit im Hinblick auf den angemessenen Beruf, so liegt im Jena-Plan P. Petersens ein stärkerer Akzent auf dem Erzieherischen. Petersen ersetzt die starren Klassenverbände durch Gruppen, in denen verschiedene Begabungen wie Jahrgänge und auch beide Geschlechter, mit gewissen Einschränkungen für die Pubertätszeit, beisammengehalten werden. Die beste Gliederung von 8 Jahrgängen erscheint ihm die Drittelung mit Überschneidungen im 3. und im 6. Schuljahre. Innerhalb jeder Gruppe bilden sich frei zusammentretende Untergruppen auf Grund von Arbeitsinteressen und Freundschaften. Ich glaube, daß dieser Ausgleich von Erziehung und Unterricht in der Pflege der Gruppen auch für die verschiedenen Züge, für Kern und Kurse der gegliederten Hauptschule außerordentlich fruchtbar gemacht werden könnte. L i t e r a t u r : L. Battista, Die Hauptschule, Wien und Leipzig 1928. — Bundesgesetzblatt f. d. Republik Österreich vom 12. VI. 28. — Karl Eckhardt, Die innere Umbildung der Landschule, Langensalza o. J . — AI. Fischer, Umriß einer Philosophie des deutschen Erziehungsgedankens, Die Erziehung 8 (1932), Heft 1 ff. — Handbuch für Mittelschulen, her. v. Fr. Kircher, Langensalza 1926. — W. Hartnacke, Naturgrenzen geistiger Bildung, Leipzig

Die Hauptschule und ihre Längsgliedenmg

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1930. — E. Hylla, Die Schule der Demokratie, Langensalza 1929. — H. Klüver, Über Begabungsdifferenzierung im ersten Schuljahr, Hamburger Arbeiten zur Begabungsforschung V I , Leipzig 1925. — Lübeckische Blätter 71 (1929) Nr. 4 1 1 . 5 (Aufsätze von S. Schwarz und E. Edert). — Die Mittelschule, im Auftrage des Zentralinstituts her. v. E. Buhtz, Leipzig 1926. — W. Paulsen, Das deutsche Schul- und Bildungsprogramm, Osterwieck 1930. — P. Petersen, Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule, Langensalza 1932; Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung, Weimar 1930. — Die Produktionsschule, als Nothaus und Neubau, her. v. P. Oestreich, Berlin 1924. — S. Schwarz, Die bewegliche Einheitsschule Lübecks, Die Volksschule 25 (1930), Heft 22; 28 (1932), Heft 2. — R. Seyfert, Allgemeine praktische Bildungslehre, München 1930. — Stoffe und Beispiele (Dresdner Lehrerverein) Dresden 1928. — Jos. Stur, Mittelschule und Bürgerschule, Wien u. Leipzig 1927. — Die Volksschule auf dem Lande, i. Auftr. d. Zentralinst. f. Erz. u. Unt. her. v. M. Wolff, Breslau 1925. —

4. Die H a u p t s c h u l e und ihre L ä n g s g l i e d e r u n g (die Berufsschule). Ist der Sinn der Wirtschaft nicht mehr die Freiheit bzw. Willkür des Gegeneinander, sondern die Pflicht des Miteinander — wie uns die neue Arbeitsgesinnung der Arbeitslager zeigt —, nicht atomisierende Konkurrenz, sondern geordnete Zusammenarbeit in der Erzeugung und Verteilung der Güter, so muß auch das praktische Bildungswesen, einschließlich der Jugendpflege und Erwachsenenbildung, eine organisch gegliederte Einheit sein im Rahmen unseres sittlich-religiösen Kulturlebens. Daraus folgt erstens, daß man den Jugendlichen unmöglich in einer Entwicklungsphase der Umstellung und der eigentlichen intellektuellen und sittlichen Reifung aus Familie und Schule entlassen kann, sofern er noch unentschieden ist oder keine Beschäftigung gefunden hat (G. Kerschensteiner). Positiv gesprochen, es empfiehlt sich ein freiwilliges 9. oder auch 10. Schuljahr für alle die, welche mehr theoretisch gerichtet oder auch Menschen des Handelns sind (siehe o. S. 84 ff.). Schon von der 8. Klasse an wird die Hauptschule den besonderen B e r u f s n e i g u n g e n mehr und mehr entgegenkommen: mathematisch-naturkundliche, kulturkundliche und künstlerisch-technische Gabeln bzw. pflichtwahlfreie Fächer (Werkunterricht, Buchführung usw.) und zwar alles dies auf einer einheitlichen betriebswirtschaftlichen, arbeitsund gemeinschaftskundlichen Grundlage; also auch Gelegenheit zur praktischen Erlernung einer Fremdsprache. Gegebenenfalls Personalunion mit den Berufsschulen und ihren Mitteln 1 Zweitens. Auch für den Berufsschüler dient die Phase der Reifung nicht nur der Lehre, dem Unterricht und der staatsbürgerlichen Erziehung; sie ist vielmehr eine Zeit der Schonung (Leibesübungen!) und der sittlichen Besinnung. Die »Werkschulen« betonen daher mit Recht die Erziehimg zur Charakterbildung, zur Kameradschaftlichkeit und Volksverbundenheit, auch zur Werkgesinnung (vgl. die Kritik Fr. Frickes!). Ist in der heutigen Zeit das Problem »Beruf« sehr stark in Frage gestellt, so wird die Idee der Berufsschule mit in den Strudel hineingerissen. Beruflich sollten die

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drei Jahre daher weniger einer fabrikmäßigen Spezialisierung vorgreifen als erst einmal in die allgemeinen Grundlagen aller mehr praktischen Berufsleistungen einführen (Fr. Giese). Ruhiges Hineinwachsen der Jugendlichen in Handwerk und Fabrik, die Sehnsucht im Herzen, dereinst auch mal ein ganzer Mann, ein Meister der Arbeit zu werden! Drittens müssen alle Glieder einer zeitgemäßen Berufsführung gefügehaft ineinandergreifen: die großen Gruppen der gewerblich-industriellen, kaufmännischen, land- und hauswirtschaftlichen, dazu die sozialen und Beamten-Berufe, auch die der Angelernten und Ungelernten; sei es von der 8. Klasse über die ländliche Fortbildungs- oder städtische Berufsschule oder auch die ganztägige Fachschule zur mittleren und höheren Fachschule — und damit zur mittleren Reife —, schließlich zu einer der FachHochschulen; sei es von der io-jährigen Hauptschule zur (höheren) Fachschule und nach ausreichender Praxis zur Hochschule. Demnach sollten auch dem tüchtigen Menschen alle Möglichkeiten geboten werden, zum Lehrer an Berufs- und Fachschulen über die berufspädagogischen Akademien und die Hochschulen aufzusteigen. Vor allem wäre das bunte Durcheinander des Berufsschulwesens endlich einmal einheitlich zu organisieren. Grundsätzlich erfolgt jeglicher Aufstieg durch E r p r o b u n g , d. h. durch Bewährung in der Praxis und in den Schlußprüfungen, nicht durch Aufnahmeprüfungen nach privaten Vorbereitungen. Solche Erschwerungen und Abwertungen auf Grund quantitativ-intellektueller Begabungshöhen würden die Intellektualisierung unseres gesamten Berufs- und damit des ganzen Kulturlebens zur Folge haben. Also verwische man nun einmal bestehende Unterschiede zwischen abstrakt-theoretischem Forschen und anschaulich- bzw. praktisch-theoretischem Leisten im Wirtschaftsleben nicht! Hier liegen auch die Reibungen und Schwierigkeiten jeglichen Übergangs von den mehr praktischen zu den wesentlich theoretischen Hohen Schulen. Literatur: Beruf, Mensch, Schule; Tagungsbuch der Entsch. Schulreformer, her. v. P. Oestreich u. E. Viehweg, Frankfurt (Main) 1929. — Fr. Feld, Sinn und Aufgabe der Berufserziehung, Erfurt 1929. — Fr. Fricke, Sie suchen die Seele! Berlin 1927. — Fr. Giese, Bildungsideale im Maschinenzeitalter, Halle (Saale) 1931. — Handbuch für das Berufs- und Fachschulwesen (A. Kühne), Leipzig 1929. — Hylla-Konetzky. Die Oberstufe der Volksschule, Langensalza 1932. — G. Kerschensteiner, Theorie der Bildungsorganisation, LeipzigBerlin 1933. — G. Kohlbach, Die Stellung der Volksschule im preußischen Bildungswesen, Leipzig 1931. — Das neunte Schuljahr, Gutachten, her. v. d. Gesell, f. Soziale Reform, Jena 1929. — G. Oldenburg, Handbuch für das ländliche Fortbildungsschulwesen in PreuBen, Berlin 1926. — O. Schulz, Volksschule und Berufsschule, Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 58 (1929), Nr. 44 ff. — F. Schürholz, Grundlagen e iner Wirtschaftspädagogik, Erfurt 1928. —

5. Das theoretische Schulwesen: die Gymnasien. Auch die Organisation der Gymnasien hat den angemessenen Ausgleich zu finden zwischen

Die Gymnasien

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dem Zwang fester Bildungspläne allgemeiner Art und der Gewährung individueller Freiheit, zwischen einem Maximum einheitlich zugeordneter Bildungsgüter, der Pflichtfächer, und einem Maximum personal bestimmter Wahlfächer. Damit ist zugleich die Forderung auf eine möglichst weitgehende Vereinheitlichung geschlossener Organisationstypen erhoben. Zwecks näherer Begründung der sich daraus ergebenden nachstehenden Folgerungen verweise ich auf meinen Aufsatz »Zur Schulreform«, Die Erziehung 7 (1931), Heft 2. E s gibt so etwas wie eine innere Logik der Schulorganisation, abhängig von der besonderen Kultur und Zivilisation eines Landes sowie von seiner Größe und Lage im kulturellen Weltverkehr der Völker. Man vergleiche z. B. die Vereinigten Staaten, deren Kultur auf einer Weltsprache beruht; die Tschechoslowakei, durch die slawische Sprache vom abendländischen Kulturkreis geschieden, aber ihm doch durch alte Kulturbeziehungen verbunden (räumliche Nähe!); schließlich Japan mit seiner uralten Kultur (Ostasiens) und den Ansprüchen moderner Zivilisation!

Die Besonderheit der deutschen Gymnasien ist verpflichtet dem geschichtlichen Gewordensein deutscher Kultur und den Gegenwartsaufgaben der Nation. Daher nimmt die persönliche und die Berufsbildung des deutschen Menschen von zwei Polen her ihren Ausgang, von der Antike und dem »modernen Europäismus« (H. Richert). Die Organisation des theoretischen Bildungswesens differenziert sich somit, um die Integrität des einzelnen wahren zu können, in die beiden extremen Schultypen des altsprachlichen Gymnasiums mit Latein und Griechisch einerseits und des neusprachlichen Gymnasiums andererseits mit Französisch und Englisch als charakteristischen Fächern. Zwischen beiden steht als Mischtypus das altneusprachliche Gymnasium mit Latein und Französisch (Englisch), die geschichtliche Entwicklung des Altertums zur Moderne umfassend. In jedem Falle beruht der Humanismus aller drei Typen, um W. Jaegers Wort sinngemäß zu weiten, auf einer einzigartigen Bildungswirkung an einem einzigartigen Bildungsgut. Kein Gymnasium kann zudem auf die gründliche formale und materiale Schulung an der Mathematik und den Naturwissenschaften verzichten. Wie alle anderen Bildungsstätten ruhen auch alle deutschen Gymnasien grundsätzlich auf christlicher und deutscher Grundlage. E s bleibt also kein Raum für die »Deutsche Oberschule«, auch nicht für die (fiktive) Oberrealschule mit zwei Fremdsprachen, also auch eine Stätte humanistischer Bildung! Daß sich alle Geistesbildung an den historischen Gütern der Kultur vollzieht — auch Mathematik und Naturwissenschaften haben eine Geschichte — ist bereits von Jakob Grimm und W. v. Humboldt, Süvern und Niethammer, von Herbart und seiner Schule bis auf Paulsen und Spranger dargetan worden Die Auf1

Siehe Ad. Krüpers Bekenntnis, Der Bildungsgedanke der Oberrealschule, Ztschr. f. d. ges. deutsche Real- und Reformschulwesen 5 (1930), Heft 4, 5 ; außerdem seinen Vortrag

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Die Organisation des Bildungswesens

bauschule, verbunden mit einem Schulheim, als Fortsetzung der siebenbzw. sechsjährigen praktischen Schule und als Sammelbecken des flachen Landes ist eine soziale Notwendigkeit. Ihr gedrängter Lehrplan schließt eine ruhige und allmähliche Reifimg aus, eignet sich daher nur für Hochbegabte, auch als letzter Notbehelf der Großstadt. Sie ist kein eigener »Schultyp«, ebensowenig die organisatorische Zusammenlegung der Oberklassen von Gymnasien im Hinblick auf Schülerzahl, Ausbau von Bibliotheken und Laboratorien, z. B. die Wilhelm-Meister-Schule in Frankfurt (Main). Das oben befürwortete System der Kern und Wahlkurse, angeregt von Münch, Matthias und Paulsen, in die Praxis umgesetzt von Lietz (Deutsche Landerziehungsheime) und Geheeb (Odenwaldschule), Prinzhorn (Hannover), weiterhin in Thüringen und Sachsen, in großem Maßstabe im Ausland, z. B. in den Vereinigten Staaten, kann sich besonders fruchtbar erweisen für alle gymnasialen Typen, auch unter Zuhilfenahme der Gabelung; das beweist das Beispiel der Oberrealschule zum Dom in Lübeck (Schwarz), der Kantschule in Berlin-Karlshorst (Bolle), der Kreuzschule in Dresden (Helck) und ganz besonders des Grunewald-Gymnasiums (Vilmar). Die freie Auflockerung der starren Systeme setzt aber ein Mindestmaß von P f l i c h t f ä c h e r n voraus. Nur so kann einzig und allein der traditionalen Überbürdung unserer Jugend im Trott der immer wieder »notwendigen« Fächer wirksam gesteuert und ausreichende Muße gewährt werden für selbständige Leistungen, auch auf den naturwissenschaftlichen wie den ethisch-künstlerischen Gebieten. Daraus ergeben sich zwei praktische Folgerungen, deren Erfüllung zugleich der quantitativen Oberflächlichkeit unseres Schulbetriebes und damit dem Zwang ewigen HerumReformierens ein Ende bereiten würde: einmal die grundsätzliche Beschränkung auf zwei verbindliche Fremdsprachen, und zwar in der bereits angegebenen Weise; die Erlernung aller übrigen Sprachen wird der Wahlfreiheit überlassen. Sodann setzt die zweite verbindliche Fremdsprache ganz allgemein bereits in der dritten Klasse ein (IV), wie dies auch S. Schwarz und die Neusprachliche Gesellschaft zu Frankfurt (Main) vorgeschlagen haben. So wird die Fähigkeit imitativer Spracherlernung (s. d. 3. Hauptteil) verhältnismäßig noch am besten ausgenützt, da nach O. Kroh und Ch. Bühler der Höhepunkt mechanischer Gedächtnisleistung im 12. Lebensjahre liegt. Auf Reform-Anstalten ist Französisch die erste Fremdsprache im Hinblick auf die umfassende Formenlehre der franzöauf der Breslauer Tagung des Allg. D. Neuphilologenverbandes, Bericht 1931, S. 35 ff. (Aussprächet) u. den Abdruck in den Neueren Sprachen 1930, S. 353 ff.; Wilmanns-Schmidt, Der Bildungsgedanke der Oberrealschule I, Leipzig u. Berlin 1930, S. xi, wenden sich gegen jede äußerliche Überbrückung geistes- bzw. naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen.

Die Gymnasien

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sischen Sprache und die Schwierigkeit der englischen Syntax für jüngere Schüler. Das Englische kann dann in den höheren Klassen um so mehr mit Stunden bedacht werden; in O l l i setzen die freien Arbeitskurse ein, auch solche der wahlfreien Sprachen, auf der Oberstufe die Gabelungen nach verwandten Typen hin (in der Art der sächsischen Pläne) sowie die nun wirklich freien Arbeitsgemeinschaften. Dies alles nunmehr ohne weitere Schwierigkeiten! Auf diese Weise würde auch die Idee der Reformgymnasien und damit der Bestand des klassischen Gymnasiums schlechthin gestützt werden. Neben dem g r u n d s t ä n d i g e n G y m n a s i u m mit abgezweigtem Realgymnasium steht dann der zweite Typus der R e f o r m schule : Altsprachl. Gym. Altneusprachl. Gymn. Neusprachl. Gymn. V I u. V

Franz.

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Lat.-Franz. •«—• Lat.-Frz. bzw. Engl.-Frz.

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Lat.-Engl.

Franz. >• Engl.-Franz. Engl.-Franz.

Aus diesem Organisationsplan ergibt sich auch, daß die weniger veranlagten Schüler und die Menschen des Handelns mit einer nunmehr abgerundeten Bildung nach dem 6. Schuljahr (Uli) ins wirtschaftliche Leben übertreten können. Dazu strengste Sichtung, aber doch nach einem geordneten Plane, der sowohl der Differenzierung unseres Berufslebens wie dem gesteigerten Bildungsbedürfnis entgegenkommt. Die von Ed. Spranger (»Erziehung« 5, Heft 9) und Th. Litt (ebd. Heft 1 0 — 1 1 ) vorgeschlagenen Maßnahmen, der Einbau einer Art amerikanischer Colleges in die Universität bzw. die Differenzierung der gymnasialen Oberstufe nach dem Grade der Begabungshöhe, drängen auch dahin, die Oberstufe aller Arten von Gymnasien freier auszubauen, teils nach der beruflichen Seite hin, also auch in der Richtung auf das Studium, teils nach der Seite »synoptischer Kulturbetrachtung«, und zwar auf kleineren Schulen durch Arbeitsgemeinschaften, auf größeren überdies durch Gabelung, so daß sich neben dem gemeinsamen Kern der national-kulturellen Stammfächer folgende Typen ausgliedern: ein philologisch-historischer, ein mathematisch-naturwissenschaftlicher, ein technisch-wirtschaftlicher, ein Typ im Sinne der Frauen-Oberschule und ein allgemein-kultureller Typ, der auch der Überleitung zu den Akademien (s. u.) fruchtbar gemacht werden könnte. Auf Grund der hierdurch gewährten Möglichkeiten besonderer »Bewährung« und »Selbstauslese« kann dann die spezialisierte Zulassung zu den Hohen Schulen erteilt werden. Auch hier sind dann noch weitere Möglichkeiten der Bewährung zu geben für die durch Zeugnisse nicht »Abgestempelten« und »Berechtigten«! Soll dann die Reifeprüfung beibehalten werden und auf welcher Stufe ? Die Vorverlegung der Reifeprüfung

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Die Organisation des Bildungswesens

würde die Auswüchse des Berechtigungswesens beschneiden und die ruhige Arbeit der beiden letzten Klassen sichern. L i t e r a t u r : F . Behrend, Bildung und Kulturgemeinschaft, Leipzig 1922. — O . Benda, Die Lebensformen der höheren Schule, Deutscher Verlag für Jugend und Volk 1926. — J . Mayer, Das höhere Unterrichtswesen in Bäyem, München 1928. — Zur Neuordnung des höheren Schulwesens in Sachsen, Denkschrift des Ministeriums für Volksbildung. — F . Ortmann, Die Notlage des fremdsprachlichen Unterrichts auf der Oberstufe der realgymnasialen Anstalten, Ztschr. f. d. ges. deutsche Real- u. Reformschulwesen 4 (1929), Heft 5/6. — M. Paul, Die deutsche Oberschule und Aufbauschule in Sachsen, Neupädagogischer Verlag Annaberg i. Erzg. 28. — H. Richert, Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens, 1. u. 2. Band, Berlin 1 9 3 1 ; Die preußische Schulreform in d. Bildungskämpfen d. Gegenwart, Monatsschrift f. höhere Schulen 1932, S. 1 ff.

6. Die Mädchenschule. Die grundsätzliche Angleichung des Mädchenschulwesens an die Gymnasien ist dem Wesen der Frau und ihren besonderen Aufgaben in Familie und öffentlichem Beruf keineswegs gerecht geworden. Angelegenheit der Frau ist im allgemeinen weder die analysierende Forschung noch das Schaffen als reine Sachleistung, auch nicht das Führen im Streit der Parteien. Ihre Domäne ist die sich opfernde Güte, nicht der Kampfboden der Parlamente oder noch schlimmer der Frauen-Kammern, wohl aber Frauenbünde, Verwaltung und Regierung, Einfluß durch das Instrument des aktiven Wahlrechts. Theoretisch, wissenschaftlich bzw. künstlerisch, ist die Frau wesenhaft ein Mensch des Hinnehmens, des persönlichen Verstehens und phantasievollen Zusammenschauens; handelnd bemüht sie sich wohl auch im Erwerben, aber mehr noch im Zusammen-Halten. Ihr Dasein ist die gesehene und gelebte Lebenswirklichkeit (Henriette Schrader-Breymann, Magd. v. Tiling) aus einer metaphysisch-religiösen Erdnähe, aus der »Berührung mit dem Urgrund überall«, um Helene Langes Wort aufzunehmen. Alle sachlichen Beziehungen müssen daher in der Zeit persönlicher Bildung und beruflicher Schulung eine Wendung ins Persönliche nehmen, in ein Schaffen für eine Person. Frauenhaftes Sinnen und Wirken ist demgemäß immer persönliche Verwirklichung, zunächst ein SichBilden und Aus-sich-Herausleben in der Persönlichkeitswerdung, sodann bildnerisches Tun und mütterliche Pflege, Für-Sorge und Wohl-Fahrt. Alle Theorie der Volksschule, des Lyzeums und der Frauenschule, der Berufsschulen, Haushaltungsschulen und Seminare, der (höheren) Fachschulen und sozialpädagogischen Veranstaltungen, Säuglingspflege und Menschenführung, Kochunterricht und Nadelarbeit, ist daher immer mit dem Einzelmenschen und seinem Schicksal zu verknüpfen, mit dem konkreten Hilfswerk der heim- und volksgestaltenden Ökonomie in Hausund Volkswirtschaft. Hier liegt das Ethos aller Frauenbildung. Das gilt ebenso für die Wohlfahrtsschulen, was auch in der Entwicklung des

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Die Hohen Schulen

»Sozialpädagogischen Kursus für Studentinnen« in Berlin zum Ausdruck kam. Wird man daher der wirklich theoretisch gerichteten Frau, der späteren wissenschaftlichen Lehrerin, der Medizinerin, der Theologin bzw. Pfarrvikarin einerseits die streng wissenschaftliche Vorbereitung im verzweigten System der Lyzeen und ihrem Ausbau sichern, so ermöglicht die FrauenOberschule eine höhere Persönlichkeits- und allgemein-berufliche Vorbildung. Bei Beschränkung auf eine Pflicht-Fremdsprache könnte man an eine Verzweigung von UI an denken: eine technisch-künstlerische und eine sozial-pädagogische Gabel, welch letztere zugleich die Vorbereitung für Wohlfahrtsschulen zu übernehmen hätte. Manche Schwierigkeiten der gegliederten Organisation lassen sich in kleineren Städten bei gutem Willen durch Anlehnung an theoretische und praktische Schulen (Haushaltungseinrichtungen der verschiedenen Berufsschulen) wohl beheben. L i t e r a t u r : G. Bäumer, Die Frau im deutschen Staat, Berlin 1932. — E . Blauert, Die Sammlung der »Frauenbriefe« und »Frauen im Beruf«, Hirts Deutsche Sammlung. — Elis. Blochmann, Die Frauenoberschule, Die Erziehung 3 (1928), Heft g. — Ch. Dietrich, Zur Gestaltung der Wohlfahrtsschulen, Die Erziehung 5 (1930), Heft 12. — Frauenschulen, her. v. Zentralinst. f. Erziehung u. Unt. zu Berlin, Leipzig 1929. — Urs. Graf, Das Problem der weiblichen Bildung, Göttinger Studien zur Pädagogik, 2. Heft. — H. Link, Der Einfluß des Mannes auf die Mädchenbildung, Leipzig 1925. — Deutsche Mädchenbildung, Ztschr. f. d. ges. höhere Mädchenschulwesen, Leipzig-Berlin 3 (1927), Heft 5 u. 10. — Annemarie Neumann, Die Entwicklung der sozialistischen Frauenbewegung, Schmollers Jahrbuch 45 (1921). — A I . Salomon, Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927. — Henriette SchraderBreymann, Kleine pädagogische Texte (Beltz), Heft 5. — W . Stölten, Die Aufgabe der Frauenoberschule, Die Erziehung 4 (1928), Heft 3. — Kongreßbericht: Frauenbildung u. Kultur, Die Neue Erziehung 12 (1930).

7. Die Hohen Schulen. Das Prinzip der Emanzipation, einer falsch verstandenen Freiheit, hat im Laufe der letzten Jahrhunderte zu einer Isolierung der Universitäten geführt, letztlich selbst seitens der Gymnasien. Ich habe daher geglaubt, die Differenzierung der Gymnasien durch eine Differenzierung der »Berechtigungen« ergänzen zu müssen. Damit würde zugleich die Buntscheckigkeit der Hörer innerhalb desselben Studiengebietes gemildert werden. Über die Versachlichung der Universität hinaus, über die Wendung der universitas magistrorum et scholarium zur universitas litterarum, einem unpersönlichen Massenbetrieb, hat man neuerdings einer Aufspaltung ihrer verschiedenen Funktionen das Wort geredet (Honigsheim, Scheler, Tillich). Damit wäre der Auflösungsprozeß der Universitäten — und ihrer Jünger besiegelt, das Studium selbst nur noch eine sachlich-fachliche Angelegenheit, losgelöst vom innerlichsten Prozeß persönlichen Werdens und Wachsens. Eine vernünftige und aufbauende — nicht zerstörende — Planwirtschaft fordert dagegen die Neustrukturierung der Universitäten, eine Neu-Ordnung statt der vermeintlichen O t t o , Unterrichtslehre.

7

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Die Organisation des Bildungswesens

Voraussetzungslosigkeit und Freiheit von allen Bindungen. Auch die Vorschläge v. Seiles, Dyroffs, Popps und Holldacks bewegen sich in dieser Richtung Während die Forschungsinstitute der reinen F o r s c h u n g gewidmet sind (z. B. das Kaiser-Wilhelm-Institut), die philologisch-historische sowie die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät außer der reinen Forschung noch der L e h r e dienen, desgleichen die juristische und die medizinische Fakultät, sind alle anderen Hochschulen, neben Forschung und Lehre, noch stärker auf A n w e n d u n g der Theorie gerichtet. Akademien (pädagogische, für Leibeserziehung, der Wohlfahrt) haben aber einen komplexen Gegenstand (Pädagogik, Psychologie, Fertigkeiten des Unterrichtens, des Erziehens, der Pflege usw.) und bilden Menschen auf beruflicher Grundlage1. Ähnlich E. Spranger. Die neuen H o h e n S c h u l e n werden daher nicht mehr wie bisher ein künstliches Nebeneinander sein nach demselben historischen Schema, sondern vielmehr gliedhafte Ganzheiten spezifischer Struktur je nach den landschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, z. B. bald eine philologische und eine naturwissenschaftliche Fakultät, überdies medizinische Fakultäten, dazu technisch-wirtschaftliche Fakultäten und eine Akademie; bald eine philologisch-historische Fakultät mit einer juristischen, theologischen, künstlerischen, wirtschaftlichen Fakultät, usw. Diese typisch verschiedenen, sinnvollen Einheiten der neuen universitas, die nicht unter finanziellen Gesichtspunkten zu schaffen sind, werden aber in jedem Falle eine fachwissenschaftlich-umfassende und zugleich durchgeistigte Bildung gewährleisten und so das entleerte humanistische Ideal mit dem Gehalt des neuen sozialen Menschen nationaler Verantwortlichkeit und persönlicher Gepflegtheit erfüllen. Diese Gesinnungsgemeinschaft muß allen Hohen Schulen ihr eigenes Gepräge geben. Die einführenden historischen und systematischen Vorlesungen und vor allem die größere Fülle abgestufter Arbeitsgemeinschaften (Übungen) werden der ursprünglichen Einheit von strenger Wissenschaftlichkeit und vertieftem Berufsethos gerecht werden. Das Ziel ist ein Minimum unbedingt zuverlässigen Tatsachenwissens, jedoch ein Maximum gründlichen Verständnisses und sicheren Könnens. 1

S. meinen Vortrag vor der D . Studentenschaft in Eisenach, Die Erziehung 6 (1930) 2.

» Die künftige Lehrerschaft wird im Rahmen dieser Hohen Schulen gemeinsam mit den anderen Studierenden der Pädagogik in die allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre, in die Problemgeschichte des Bildungswesens und seine philosophischen Grundlagen, schließlich in die Psychologie und die Religionswissenschaft eingeführt.

Die theoretisch-berufliche

Schulung erfolgt im übrigen auf der Akademie, die praktische Ausbildung auf der Akademieschule sowie anderen Anstalten und heilpädagogischen Einrichtungen. — scheidung

dieser Akademien

von

den Akademien

Zwecks Unter-

der Wissenschaften könnte

ersteren auch eine andere Bezeichnung gewählt werden.

für die

Die Erwachsenenbildung

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L i t e r a t u r : In d e r »Erziehung« 6, 2 ist auch die Literatur gegeben, dazu: A. Flexner, Universities, American, English, German; Oxford University Press 1930. — Frankfurter Zeitung, Aufsätze der Sonntagsbeilage »Für Hochschule und Jugend« 1931 u. 1932. — H. Konen, Universitätsverfassung — Universitätsbildung — Universitätsreform, Bonn 1930. — R . Meister, Neuere Stimmen zur Hochschulreform, Minerva 6 (1930), Heft 11/12. — R. Plank, Die Technische Hochschule als geistige Einheit, Rektoratsrede, Karlsruhe 1930. — J . Popp, Die Technik als Kulturproblem, München 1929.

8. Die E r w a c h s e n e n b i l d u n g . Die obigen Ausführungen über Schule und Gesellschaft (S. 80 f.), die naturgemäß immer wieder in das Problem »Volksbildung«einmündeten, haben erwiesen, daß die Bemühungen um Volkbildung fruchtlos bleiben, wenn die politische Hochspannung nicht zugleich im Sinne eines aristo-demokratischen Ausgleichs »aufgehoben« wird. Was soll überdies die »freie« und »neutrale« Volksbildung den Menschen der Verzweiflung, des Hungerns und Frierens, ohne Heim, ohne Arbeit, ohne Beruf! So wird die wirtschaftliche Neuordnung selbst zum Kernproblem der Erwachsenen- und der nationalen Volksbildung. Die neue Planung des deutschen »Sozialismus«, die nicht vom Privatkapital und der Maschine, sondern vom wirtschaftenden Menschen ausgeht, wird mithin den rechten Ausgleich finden müssen zwischen Willkür und Zwang seitens des Staates, des Unternehmers wie des Arbeiters; also auch hier der Ausgleich von Freiheit und Ordnung. War die Volksbildung der individualistisch-kapitalistischen Zeit wesentlich eine Art Nachhilfeunterricht für das Fortkommen im Beruf, so wird sich die verbreitende und die gestaltende Erwachsenenbildung nunmehr wandeln müssen zur »formenden« Volksbildung national verbundener und persönlich geschlossener Menschen, d. h. Volk- und Erwachsenenbildung. Sie wird getragen sein nicht nur von den »niederen« Volksschichten, vom schlichten und aufstrebenden Bürgertum oder den Parteien, sondern vom ganzen Volk schlechthin, einschließlich der sogenannten guten Gesellschaft, unter stärkster Beteiligung der Hohen Schulen, und so das Wissen der Zeit (Scheler) weiten und vertiefen zum »Erlösungswissen« im umfassendsten Sinne. Nur in dieser Gemeinschaft kann sich Volk »bilden«. Wie wir immer wieder den entscheidenden Einfluß des verantwortlichen Menschenführers gewürdigt haben vor aller organisatorischen Technik, z. B. anläßlich der Intelligenzprüfungen und der Berufsberatung, so hängt auch alle Volk-Bildung ab von dem nationalen und wahrhaftigen, dem volksverbundenen und überparteilichen Volksbildner, der die Sprache des Volkes spricht und Verständnis hat für die mannigfaltigen Strukturen der verschiedenen Landschaften, Gesellschaftsschichten, Altersklassen und ihre besonderen Interessen. Auch hier werden weniger »Vorlesungen« und Einzelvorträge angebracht sein (aber steigende Bedeutung des Rundfunks !), vielmehr die Einrichtungen von Arbeitsgemeinschaften, in denen 7*

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Die Organisation des Bildungswesens

die weltanschauliche Besinnung und Klärung brennender Tagesfragen erfolgt, meist im Anschluß an den Beruf oder sozialpolitische Betätigungen, aber immer aus eigenen Kräften und als Erhöhung eines menschenwürdigen Daseins 1 Außer der bereits oben (S. 80) erwähnten Literatur nenne ich noch A. Lampa, Kritisches zur Volksbildung, Berlin 1927, Volk u. Geist, Heft 9; R . Lochner, Entfaltung der Gemeinschaft, Frankfurt (Hain) 1930; H. de Man, Zur Psychologie des Sozialismus, Jena 1927; C. Mennicke, Sozialismus als Bewegung und Aufgabe, Leipzig 1926; P. Steinmetz, Die deutsche Volkshochschulbewegung, Karlsruhe 1929; O. Tumlirz, Grundlinien einer Volksbildungslehre, Leipzig 1922; R . Woldt, Die Lebenswelt des Industriearbeiters, Leipzig 1926.

DRITTER TEIL

Die Bildungsgehalte (Methodik) Vorbemerkung zur Sonderung von Methodik und Didaktik In diesem dritten Teile wird die »Methodik« des Unterrichts zur Frage erhoben. Da man die grundlegenden Termini »Methodik« und »Didaktik« nicht scharf unterschied und sie bald in diesem, bald in jenem Sinne verwandte, so herrscht seit langem eine heillose Verwirrung in ihrem Gebrauch. Sie erklärt sich daraus, daß man alle »Wege« theoretischer Besinnung, in Erziehung und Unterricht, »Methode« nennen kann. Diese Allgemeinheit der Bezeichnung würde aber die feineren Unterschiede verwischen. Man neigte infolgedessen dazu, z. T. mehr gefühlsmäßig, die Schulmethodik von der wissenschaftlichen Forschungsmethode zu sondern, und nannte die erstere »Didaktik«, um die Verschiedenheit der Gegenstände auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen und um die Wendimg zur (pädagogischen) »Lehre « zu kennzeichnen. Dann verblieb aber der eigentlichen Unterrichtsführung, der Didaktik i. e. S., keine besondere Bezeichnung, und der Begriffsbereich der Didaktik wäre stark erweitert worden I . Schließlich hielt man sich auch in den Grenzen angemessener Begriffsbestimmung, wie ich sie im folgenden vertrete, wenn z. B. im sprachlichen Unterricht grundsätzlich von einer »direkten« bzw. »indirekten Methode« gesprochen wurde. Was ist dann unter Methodik (bzw. Didaktik) zu verstehen? Die wissenschaftliche Forschung wie auch das pädagogische Verfahren gehen auf Ordnung und Einheit ihres Gegenstandes bzw. des zu bildenden Subjekts. Diese Forderung liegt in der »synthetischen Einheit« unseres Bewußtseins begründet (vgl. oben S. 5, 8, 23 f.). In pädagogischer Hinsicht hat man statt der alten Idee des ordo auch Konzentration gesagt, 1 Vgl. z; B. O. Willmanns Auffassung der Didaktik als Bildungslehre und ihre Abgrenzung von der Unterrichtslehre. Ihren verschiedenen Ausgangspunkten nach scheint E . Weniger die Didaktik, W . Flitner die Methode als den übergeordneten Begriff anzusehen; Handbuch der Pädagogik, herausg. v. H. Nohl u. L . Pallat, Band III. Vgl. schließlich dazu die Artikel »Didaktik« und »Methodik« von H. Schwartz im Pädagogischen Lexikon I u. I I I : »Über das Verhältnis von Methodik und Didaktik herrscht eine gewisse Unklarheit...«, III, Sp. 659. Im Lexikon der Pädagogik der Gegenwart II, herausg. von J . Spieler, betont O. Opahle, daß die logische Seite der »Unterrichtsgestaltung« bisher »im Dunkeln« blieb (Sp. 1 1 5 1 ff.) und daß die Unterrichtstheorie hinsichtlich der Struktur der Unterrichtsfächer noch große Aufgaben hat (Sp. 378).

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

welcher Gedanke seit Ratichius und Comenius, seit Lattmann, Ziller und Dörpfeld in den mannigfaltigsten Bedeutungen schillert x. Ich möchte drei Arten der Konzentration unterscheiden: 1. Die s t o f f l i c h e Konzentration der Querverbindungen. Sie ist zum Teil ein organisatorisches Prinzip, insofern durch äußere Einrichtungen (s. den 2. Teil), durch einheitliche Lehrmittel oder durch Personalunion die ursprüngliche Einheit des wirklichen Lebens gegenüber jeder Fächerung wiederhergestellt wird *. 2. Die wissenschaftliche, künstlerische und werktätige Konzentration gegenständlicher Art. Sie ist Sache der Methodik und steht also im Mittelpunkt dieses Teiles. 3. Die m e t a p h y s i s c h e Konzentration der s u b j e k t i v e n Lebenseinheit, sei es in der Wissenschaft, in der Kunst oder im Akt des Schaffens und Leistens durch die d i d a k t i s c h e Anlage der Unterrichtsführung, ganz besonders im Deutschen oder in Stunden religiöser Hingabe (s. den 4. Teil). Alle metaphysische Formung setzt eine mußevolle Versenkung in den Gegenstand voraus; daraus folgt, was nur zu oft übersehen wird, daß auch das allmähliche und ruhige Ausreifen in wissenschaftlicher Geistesarbeit, also über die bloß funktionale Verstandestätigkeit hinaus, nicht aber die Erledigung des »Pensums« in Eilmärschen, den zentralen Ansatzpunkt einheitlich-metaphysischer Persönlichkeitswerdung bilden kann. Die Geltung w i s s e n s c h a f t l i c h e r F o r s c h u n g s m e t h o d e n beruht auf der »objektiven Einheit« eines geschlossenen Systems, was gerade von neukantianischer Seite besonders scharf betont wurde. In Anlehnung an die wissenschaftliche Begriffsprägimg werden wir daher auch auf pädagogischem Gebiete von »Methodik« sprechen, insofern die systematische Einheit des O b j e k t s , d.h. des Bildungsgutes zur Behandlung steht. 1

J . Lattmann, Über die Frage derConcentration in den allgemeinen Schalen, namentlich im Gymnasium, Göttingen, 1860, S. 85 fi., unterscheidet die Concentration des Lehrstoffes, der Lehrkraft und der Lernkraft. Das Lehrer-Kollegium (die »Lehrkraft«) ist jedoch nur ein Korrelat der Schülerschaft. Die Concentration des »Lehrstoffes« ist wesentlich Aufgabe der Methodik, insofern sie »die in dem Unterrichtsstoffe liegende Bildungskraft zu vollständiger Wirkung« bringt, wie Lattmann (S. 137) mit Recht sagt. Dagegen ist schließlich die Concentration der »Lernkraft« des Schülers wesentlich Aufgabe der Didaktik (Lattmann: »aktive Concentration«). * Vgl. z.B. Maria Montessori, Das Kind in der Familie und andere Vorträge, Wien (Selbstverlag der Montessorischule) o. J . , S. 67: »Und von nun an war es meine Arbeit, experimentell Gegenstände zu suchen, die die Konzentration ermöglichen, weiters das Milieu sorgfältig zu studieren, um die Bedingungen zu finden, die für die Konzentration günstig sind.« — Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens I, her. v. H. Richert, Berlin (Weidmann) 1927, S. 96 s .

Methodik und Didaktik

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Wir sprechen dagegen von »Didaktik«, insofern die Einheit des zu bildenden S u b j e k t s in den Vordergrund rückt. Methodik ist daher ein wesentlich gegenständliches (objektives), Didaktik ein persönliches (subjektives) Unterrichtsprinzip. Wir sagen »wesentlich-gegenständlich«; denn die Methodik, insofern sie nicht die reine Wissenschaft betrifft, sondern die Schulmethodik, kann die pädagogischen Maßnahmen niemals unabhängig vom lernenden Menschen entwerfen, sondern immer nur im Hinblick auf die mit ihm gegebenen Voraussetzungen, also in Rücksicht auf seine Anlage, auf den Prozeß seiner Entwicklung und auf das Ganze des umfassenden Bildungssystems 1 . Da Subjekt und gegenständliches Bildungsgut mithin unter keinen Umständen gesondert werden können, werden wir sagen: im Falle der Methodik liegt der Hauptton auf dem Bildungsgut, in didaktischer Hinsicht liegt das Schwergewicht auf dem zu bildenden Menschen. Die Methodik betrachtet vornehmlich das gegenständliche »Was«, die Didaktik das persönliche »Wie« der Unterrichtsführung 1 . Das Problem des sogenannten »Arbeitsunterrichts«, des arbeitenden Subjekts, ist somit eine didaktische Angelegenheit. Davon ist im 4. Teil zu handeln. 1 Ganz so wie es Pestalozzi, auf sein methodisches Bemühen zurückschauend, in der Vorrede zum »Schwanengesang« zusammenfaßt: er hat gesucht, »die Mittel« des Volksunterrichts . . . »dem Gange, den die Natur in der Entfaltung und Ausbildung der Kräfte der Menschennatur selbst geht, näher zu bringen . . . « * Der Unterschied wird klar, wenn man vergleicht Herrn. Hahn, Physikalischer Arbeitsunterricht, Handb. f. höh. Schulen, her. v. Jahnke-Behrend (wesentlich d i d a k t i s c h ) und derselbe Verfasser, Handb. f. physikalische Schülerübungen (wesentlich m e t h o d i s c h ) . Außerdem Martin Herberg, Biologischer Arbeitsunterricht, Handb. f. höhere Schulen (wesentlich d i d a k t i s c h ) und W. Schoenichen, Methodik und Technik des naturgeschichtlichen Unterrichts, Handb. des naturwissenschaftlichen u. mathematischen Unterrichts, her. v. J . Norrenberg (zu Anfang mehr d i d a k t i s c h , zum Schluß mehr m e t h o d i s c h ) ; vgl. die Erörterungen über das »methodische« Verfahren und die »Systematik« in K . Scheid, Methodik des chemischen Unterrichts, Norrenbergs Handbuch, S. 1 1 f. (1927) sowie in R. Winderlich, Chemie, Handb. d. Unterrichts an höh. Schulen, her. v. Roller-Weinstock-Zühlke, S. 33 fi. (1928). Rein methodisch ist Brand-Deutschbein, Einführung in die philosophischen Grundlagen der Mathematik. — Auf sprachlichem Gebiete haben die Altphilologen besonders das Methodische gepflegt, z. B . E . Bruhn; höchst kennzeichnend dafür ist die Gliederung seines Buches: das Übersetzen, die Interpretation, die Auswahl des lateinischen bzw. griechischen Lesestoffes, die Behandlung der lat. bzw. der griech. Grammatik. Ich selbst habe in meiner »Methodik und Didaktik des neusprachl. Unterrichts« im Gegensatz zu meinen Vorgängern (Münch, Glauning etc.) die »Methodik« an die Spitze gestellt, um anzudeuten, daß die einzelwissenschaftliche Forschung in der pädagogischen Wendung die Grundlage bzw. den Ausgangspunkt des Unterrichtsverfahrens (der »Didaktik«) abgeben müsse. Seitdem hat sich mit dem Erscheinen der Handbücher des »Arbeitsunterrichts« der Schwerpunkt nach der Seite des Didaktischen hin verschoben, auch auf altphilologischer Seite (M. Krüger). Ähnliche Betrachtungen ließen sich auf den andern Unterrichtsgebieten durchführen. Paul Fickers »Didaktik der Neuen Schule«, Osterwieck-Leipzig 1930, enthält sowohl Didaktisches wie Methodisches.

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

Den Wandel, der sich in der methodisch-didaktischen Interessenrichtung während der letzten Jahrhunderte vollzogen hat, kann man leicht an einigen charakteristischen Pädagogen aufweisen. K o m e n s k y ist wesentlich Methodiker in seinen allgemein wissenschaftlichen und sprachlichen Werken; in der »Didaktik« gibt er die psychologischen Grundlagen des methodischen Unterrichts (Anlehnung an die »Natur«!). P e s t a l o z z i ist auch zunächst Methodiker; das zeigt sich in seinem Begriff der Ordnung, der Anschauung und ihrer pädagogischen Verwendung, statt des Katechisierens und Sokratisierens, in dem Rückgang seiner »Kunst« auf die »ewigen« Elemente, in der schon vor ihm erhobenen Forderung des lückenlosen Fortschritts. Daneben pflegt er jedoch auch die Didaktik. Allerdings nicht die »Spontaneität« des Unterrichts, wenn er auch betont, daß der Mensch lernen solle, sich selbst zu helfen; sein didaktisches Verfahren ist vielmehr reaktiv und zwar außerordentlich nachdrücklich in der Steigerung der Aufmerksamkeit: Beschäftigung aller Schüler, aller Sinne mit allen Mitteln der Didaktik (Chorsprechen, Schiefertafel etc.). Schon vor ihm hatte der große Sozialpolitiker Rousseau Recht und Freiheit des Kindes verteidigt, dazu bereits die S p o n t a n e i t ä t eigenen Suchens und Findens gefordert, da er nicht Zivilisation, sondern persönliche Kultur begehrte. Aber diese Hinweise greifen bereits in die Einzelheiten des 4. Hauptteils ein! Das H e r b a r t s c h e System hält dagegen wieder die Hauptlinie der m e t h o d i s c h e n Seite mit Berücksichtigung der seelischen Entwicklung ein. Die Interessen der Erfahrung und des Umgangs gehn auf wissenschaftliche Forschungsmethoden zurück, seine »allgemeine Pädagogik nach den Altern« zeigt, wie die Jugend mit steigender Reife diese Aufgaben zu bewältigen vermag; daneben viel Erzieherisches. Die Lehrweisen (Klarheit — Assoziation — System — Methode) sowie der »Gang des Unterrichts« (bloß darstellender — analytischer — synthetischer Unterricht) sind methodisch gerichtet, doch enthalten sie didaktische Einschläge, z. B . wie die 4. Lehrweise (»Methode«) in dem »Umriß« begründet wird (§67: »selbsttätig«!), ganz anders aber in der Darlegung seiner Allgemeinen PädagogikI K e r s c h e n s t e i n e r pflegt, unter D e w e y s Einfluß, bald die Methodik (z. B . Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts), bald die Didaktik (Arbeitsschule!). G a u d i g und S c h e i b n e r bauen die Didaktik systematisch aus. Diese entschiedene Wendung zum Didaktischen ist darauf zurückzuführen, daß sich die Anregungen Fröbels (und Montessoris) auf das schulpflichtige Alter auswirken ( B e r t h o l d O t t o und die »Reformer«) und daß die Forderungen des Lebens und Erlebens (Lebensphilosophie, Expressionismus) sowie der »Gegenwärtigkeit« (Wirklichkeitsnähe) ihre Ansprüche geltend machen: die A m e r i k a n e r , D e c r o l y , F e r r i è r e etc.

Überblicken wir die besondere Lage der pädagogischen Gegenwart, so hat sich mit dem »Jahrhundert des Kindes« und allen seinen Reformen und Versuchen der didaktische Gesichtspunkt immer mehr hervorgedrängt. Man will jetzt grundsätzlich vom Subjekt ausgehen, nie vom Stoffe. Aber schon kündet sich ein Umschwung an. Theodor Litt z. B., dessen Bestrebungen vielfach verkannt wurden, hat wiederholt die Notwendigkeit einer »methodischen Schulung des Denkens« sowie die Objektivität strenger Wissenschaftlichkeit als die Idee der wissenschaftlichen Schule in Erinnerung g e b r a c h t O . Wichmann, den vorwiegend methodische Fragen 1 Ich verweise beispielsweise auf die Aufsätze in »Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik«, Leipzig u. Berlin 1931, und auf seinen Artikel in der Erziehung 4 (1928), S. 27fr.: Von der »Gleichwertigkeit« der nicht wissenschaftlichen Oberschulen. — Siehe auch die »Leitsätze« der Universität Tübingen, Stuttgart 1926, S. 3.

Methodik

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beschäftigen, vertritt im Gegensatz zum »subjektivistischen« Standpunkt Kerschensteiners die Gegenständlichkeit und Eigengesetzlichkeit des Faches x. Wenn man aber in letzter Zeit über die didaktischen Interessen die Methodik vernachlässigt hat, so darf man sich andererseits auch nicht der entgegengesetzten Einseitigkeit verschreiben. Also das eine und das andere im Ausgleich subjektiv-didaktischer und objektiv-methodischer Forderungen! Das Wesen der Schul-Methodik möchte ich zunächst versuchen an einigen wenigen Beispielen einsichtig zu machen. Die Brechung des Lichtes oder die gleichmäßig beschleunigte Bewegung als Naturgeschehen sind an sich noch keine Bildungsgüter, auch nicht das geschichtliche Leben der kulturellen Vergangenheit, soweit es als unklares Erlebnis in der einzelnen Seele nachwirkt. Erst durch die methodische Arbeit des Forschers entsteht das Ganze der Naturwissenschaft als ein geschlossenes System von Zeichen, ebenso der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Auch auf dem Gebiete der Kunst ist die vorgefundene Natur (bzw. Kultur) nicht schon an sich ein Kunstwerk, sondern wird erst im geistigen Akt des beschauenden Künstlers einheitlich geformt, als Symbol gedeutet und dann erst im Prozeß des Schaffens festgelegt. Diese wissenschaftlich-künstlerischen Schöpfungen sind wohl bereits Kulturgüter, aber noch nicht Bildungsgüter. Die Leistungen der wissenschaftlich-methodischen Forschving sind also wohl notwendige Voraussetzungen der Schulmethodik, decken sich aber mit ihr keineswegs. Desgleichen auf dem Gebiete des Praktischen. Technisch-wirtschaftliche Errungenschaften sind wohl ein Teil der Kultur, aber noch nicht »Bildungsgut «. »Kulturgegenstand « bedeutet demnach ganz allgemein ein natürliches Beziehungsverhältnis: Kultur-Sein und dazu auch Kultur-Erlebnis zu wecken vermögen »für« jemanden. Kulturgegenstand wie kulturtragendes und -begehrendes Subjekt gehören daher als Korrelation zur Ganzheit der kulturellen Beziehungen und Wechselwirkungen. Kultur ist ewiges Werden, steter Fluß des Gerichtetseins. Das Kulturgut wird erst zum »Bildungsgut«, sobald dieser natürliche Prozeß zum besonderen Zweck des SichBildens methodisch geregelt wird auf das Echte hin (Schleiermacher); daher der wissenschaftlich-rationale Charakter aller Methodik. Diese methodische »Auseinandersetzung« des Subjekts am Objekt wird dadurch ermöglicht, daß ein Gegenstand von bestimmter theoretischer bzw. praktischer Struktur in einen objektiv- und normativ-geistigen Zusammenhang eingehüllt ist, in dem sich das »lernende« Subjekt auf den Gegenstand bezieht (Pestalozzis Idee der »Anschauung« und der »Methode«). Danach « O. Wichmann, Eigengesetz und bildender Wert der Lehrfächer, Halle (Saale) 1930; Die Möglichkeit einer allgemeinen Didaktik, Berlin 1931 — trotz des Titels, worüber S. i 4 f . daselbst zu vergleichen ist.

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

wird neben der angemessenen Auswahl der Kulturgüter (auch als Grundlage der Schulorganisation!) gerade ihre schulmäßige Verarbeitung zum Kernproblem der Methodik. Denn der wissenschaftliche Bildungsprozeß kann sich nur an der angemessenen Sinnfindung und Sinndeutung echter Wissenschaft vollziehen; desgleichen der künstlerische Bildungsakt nur am echten, geformten Kunstwerk, das teils unmittelbar, teils im geklärten Bewußtsein erlebt und geschaut wird und so zur Formung des Beschauers hinleitet; ebenso der praktische Bildungsprozeß nur im echten technischen Akte bloß reproduktiven Nachschaffens bzw. produktiven Neugestaltens eines ökonomischen Werkes. Wir werden uns daher der in jüngerer Zeit so stark vernachlässigten Methodik der verschiedenen Unterrichtsgebiete besonders annehmen müssen. In theoretischer Hinsicht hat die Schulmethodik demnach vom wissenschaftlichen System der verschiedenen »Fächer« auszugehen. Wo dieses System noch nicht zu genügender Klärung gefördert war, hat sich die Schulmethodik daher verpflichtet gefühlt, die rein theoretischen Einsichten zu v e r t i e f e n D e n n Mängel der wissenschaftlichen Forschung haben sich immer verhängnisvoll in pädagogischer Hinsicht ausgewirkt: Unklarheiten, eine Fülle von »Ausnahmen« zu unvollständigen »Regeln« usw. Diese systematische Ergänzung der wissenschaftlichen Forschung ist aber nicht das eigentliche Arbeitsgebiet pädagogischer Methodologie. Sie geht vielmehr darauf aus, die Ergebnisse der Wissenschaft (bzw. Technik) vom pädagogischen Standpunkt zu prüfen und zu sichten, also: Erstens die angemessene A u s w a h l unter den bereitliegenden »Stoffen« zu treffen und zwar im Hinblick auf die Höhe ihres Bildungswertes; dabei ist immer die Vollständigkeit des Systems zu wahren. Unter »Vollständigkeit« ist aber nicht zu verstehen die Summe aller nur möglichen Tatsachen, sondern vielmehr die Einheit wertvoller Bildungsgüter, die in ihrer besonderen Struktur und Systematik als ein Ganzes eingesehen werden können und so »Bildung« erst möglich machen; in der Mathematik z. B. der gesamte Aufbau unbedingt nötiger Lehrsätze in ihrem inneren Zusammenhang; in den Sprachen: welche Hauptregeln, welche unerläßlichen »Ausnahmen«? Welche Schriftsteller? In der Musik: Verhältnis von Vokal- und Instrumentalmusik usw. Diese Forderung schließt für jedes Fach ein unerläßliches Mindestmaß von Arbeitszeit ein, damit der Stoff nicht bloß zu Berufszwecken »gelernt« wird, sondern auch seine persönlichkeitsbildenden Kräfte entfalten kann 1

Vgl. z. B. in meiner »Methodik und Didaktik« die wissenschaftliche Begründang des Konjunktivs im Französischen. 1 Vgl. dazu P. Reichwaldt, Voruntersuchung über die Auswahl der Unterrichtsstoffe, Zeitschrift f. päd. Psychologie X X V I I I (1927), S. 278 ff. u. 346 ff.

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Z w e i t e n s die schulmethodische F a s s u n g bzw. s p r a c h l i c h e P r ä gung des Bildungsgutes, die mit der wissenschaftlichen nicht zusammenzufallen braucht. Wohl sind, besonders auf tieferen Stufen, Zugeständnisse an die Fassungskraft der Jugend zu machen, nie ist aber etwas Falsches zuzulassen. Beispiel: der Gebrauch von Fachausdrücken, Fassung von Lehrsätzen, Regeln usw. D r i t t e n s der methodische G a n g des Unterrichts, der als OrdnungsFaktor von der didaktischen Unterrichtsführung (im sogenannten »Arbeitsunterricht«) wohl zu unterscheiden ist. Bedeutet doch Methode nichts anderes Eds Weg-Richtung! E s fragt sich unter diesem Gesichtspunkt, z. B. in der Mathematik welcher Beweis verständlich und somit heranzuziehen ist, wie ein naturwissenschaftlicher Versuch systematisch anzulegen, wie die Ausdeutung bzw. Herübersetzung eines fremdsprachlichen Textes sachlich vorzunehmen ist, usw. V i e r t e n s die A n w e n d u n g der Theorie auf die Praxis, z. B. die Chemie des täglichen Lebens, physikalisch-chemische Erkenntnisse und ihre Verwendung in Technik und Wirtschaft; Geschichte und staatsbürgerliches Leben, usw. Alle diese methodischen Fragen können nur vom gegebenen Falle aus entschieden werden, je nach dem Bildungsgut, dem allgemeinen Schultypus (Volksschule, Fortbildungsschule, Gymnasium), der betreffenden Klassenstufe, den besonderen Lebensbedingungen und Aufgaben der Anstalt. Die Auswahl und methodische Behandlung des Bildungsgutes hängt überdies im einzelnen ab von dem Alter, d. h. der Reife der Schüler den besonderen Interessen (Knaben — Mädchen), der verfügbaren Zeit, z. B. für das Lateinische, ob es als Grundsprache auf dem altsprachlichen Gymnasium, als Zweckfach auf einem neusprachlichen Gymnasium (»Oberrealschule«) oder auf dem altneusprachlichen Gymnasium von O I I I (U II) an betrieben wird; im letzteren Falle wäre gediegenes Sprachverständnis zu fordern, die kulturellen und politischen Auswirkungen Roms zu verfolgen und danach die entsprechende Auswahl der geschichtlichen und dichterischen Lektüre zu treffen. In einer allgemeinen Unterrichtslehre sind statt dieser Einzelheiten die Grundzüge der Schulmethodik herauszustellen, der allgemeinen Methodik wie der besonderen Methodik der Einzelfächer, d. h. vor allem die im Wissenschaftscharakter ihres besonderen Bildungsgutes begründeten B e t r a c h t u n g s w e i s e n und ihre spezielle Problematik. So wird im zweiten Grundsatz der Meraner Beschlüsse von 1905 mit Recht gefordert: »Die 1

Dafür ist höchst kennzeichnend E. Wenigere Grundlagen des Geschichtsunterrichts, Leipzig-Berlin 1926. — Auch S. Engelmanns Methodik des deutschen Unterrichts bewegt sich in dieser Richtung.

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Physik als Unterrichtsgegenstand ist so zu betreiben, daß sie als Vorbild für die Art, wie überhaupt im Bereiche der Erfahrungswissenschaft Erkenntnis gewonnen wird, dienen kann« (Fr. Poske). Damit ist grundsätzlich das Wesen einer theoretischen Schule getroffen, sofern der Mensch überhaupt durch Wissenschaft methodisch geschult und gebildet werden kann. I. Wesen und Bildungswert des wissenschaftlichen Unterrichts A. Das »Lernen«. Ich glaube, daß uns das Verfahren des größten Erziehers in diesem Bemühen wesentlich fördern kann. Denn auch Sokrates' Bestreben geht auf Menschenbildung, auf Versittlichung des Menschen und zwar durch begriffliche Klärung in »hinführenden Reden« (epaktiköi logoi). Dies sokratische Verfahren tritt am klarsten in den frühplatonischen Dialogen hervor. Im »Laches« will Sokrates klarstellen, was denn eigentlich Tapferkeit »ist« (im Sinne des Teilhabens an einer Idee). Sokrates greift daher in seinem Gespräch mit dem Feldherrn Laches zurück auf das vorwissenschaftliche und unklare Erlebnis »Tapferkeit«Er stellt die verschiedenen Arten der Tapferkeit heraus; so wird der Begriff der Tapferkeit von vulgären Auffassungen gereinigt, vom einzelnen Vorstellungsgehalt gelöst und das, was Tapferkeit ist, erst einmal in seiner Besonderung gesehen. Sokrates lehrt also seine Schüler zunächst das Abrücken des Gegenstandes aus der bloßen Erlebnissphäre, wo Ich und Bewußtseinsbestimmtheit, Subjekt und Objekt noch eine Einheit bilden: (S O) wird aufgespalten zu S ->• O. Damit wird die gegenständliche Bewußtseinsbestimmtheit zum »Gegen-Stand«. Als solcher weckt er das Erstaunen und die theoretische Sehnsucht nach Erfassung im Begriff. Hier liegt die Geburtsstunde der Begriffsbildung als theoretischer Leistung. Bestimmen wir das Wissen als ein Seinsverhältnis von (erkenntnistheoretischem) Subjekt und Objekt, so richtet sich beim normgemäßen (»richtigen«) Urteilen weder das Denken einseitig nach dem Gegenstand noch der Gegenstand einseitig nach dem Denken — wie sich entsprechend die Sonne nicht um unsere Erde dreht, auch nicht die Erde um die Sonne, sondern wie sie sich beide umeinander im Ausgleich der Kräfte bewegen und weiterhin im Ausgleich der Kräfte eines noch umfassenderen Systems. Es ist also weder die heteronome noch die autonome Betrachtungsweise umfassend, sondern eine Auffassung, in der die Norm-Gesetzlichkeiten des erkennend verstehenden Subjekts und die Gegebenheiten i E. Matthes, a. a. O. S. 4 fl. Vgl. auch R. Meisters klärenden Aufsatz über Thema und Ergebnis des Dialogs Laches, Wiener Studien 1920/21.

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des Objekts, die sich erst in bezug auf ein Subjekt entfalten, zum »Ausgleich « gebracht werden und zwar auf Grund einer ursprünglichen Wesenseinheit bzw. vorgegebenen Ganzheit (s. oben S. 23L). Das Objekt selbst wird immer das große Unbekannte bleiben, nur die Relationsbestimmtheiten zwischen Subjekt und Objekt innerhalb unseres nun einmal gegebenen »Funktionskreises« sind Gegenstand der Forschung (Relationismus)I. Windelband sagt also mit Recht: »Wir mußten bei unserm Ergebnis darauf verzichten, daß der Inhalt unsrer Vorstellungen eine Verwandtschaft oder Identität mit irgend etwas außer der Subjektivität Objektivem besitze: Nur die Beziehung der Subjektivität auf ein Unbekanntes vermochten wir zu retten, vermöge deren die Seele die ihr innewohnenden Kräfte und Funktionen der Vorstellungsbildung in einer nicht durch sie selbst, sondern durch eben diese Beziehung bestimmten Weise entfaltet. . Damit ist dem »Relativismus« keinesfalls Tür und Tor geöffnet 3, sondern Wesen und Sinn des Relationismus ist es ja gerade, wie bereits des öftern betont ist, die nun einmal gegebenen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt in ihrer Normgemäßheit einzusehen. Diese dynamische Auffassung des Normativen als unendlicher Aufgabe entspricht eher der Kantischen Idee als die starre Setzung eines Objektiven bzw. Absoluten. Der Mensch kann wohl über sich selbst nachdenken wie über seine, ihm zugeordnete »Wirkwelt«, aber er kann aus seiner Perspektive niemals hinaus, ohne das Nicht-Absolute zu verabsolutieren und das Absolute zu relativieren. Erkenntnis entsteht vielmehr im normativ-gesetzmäßigen Sich-Ausrichten subjektiv-persönlichen Seelentums an objektiv-gegenständlichen Gregebenheiten (S-+O). J e mehr das einzelne Ich in seiner Individualität zurücktritt hinter den allgemeinen, überpersönlichen Geltungsforderungen des »theoretischen Subjekts«, um so normgemäßer wird der Akt des »Ausgleichs« sein. Dann denkt nicht mehr dieses oder jenes 1 W. Dilthey, Gesammelte Schriften V I I I (1931), S. 27: »Alles, was der Mensch an der Welt zu erblicken vermag, ist immer der Bezug seiner Lebendigkeit zu ihren Eigenschaften, welche er nicht zu ändern vermag. Durch das unabänderliche Grundgesetz seiner Lage ist er an diese Relationen gebunden. Was er als diese Welt anschaut, träumt oder denkt, ist immer diese Relation, nichts anderes. Seine Welt ist ebensowenig ein Produkt seiner Lebendigkeit, als sie ein objektiver Tatbestand ist. Das eine ist so wenig anzunehmen möglich als das andere.« Vgl. S. 1 7 : »Denn Welt als eine selbständige Größe ist eine bloße Abstraktion. Objekt ist nur in bezug auf das Subjekt, als dessen Korrelat.« 3 Windelband, Über die Gewißheit der Erkenntnis, Leipzig 1873, S. 93. — Ich weise darauf hin, daß für russische Philosophen, wie Iw. Kirejewskij, Wl. Solowjew, N. Losskij und S. Frank die kritische Frage sinnlos ist, wie sich das Bewußtsein der Außenwelt bemächtige; es stehe vielmehr fest, daß von der Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem gegenständlichen Sein auszugehen sei, insofern wir selbst »innerhalb des Seins sind«. Vgl. auch R. Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik, München 1927, S. 70!. 3 Vgl. N. Hartmann, S. 127.

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Ich, sondern die Seele ist der »logische Ort«, in dem »es« denkt, d. h. in dem sich der vorgegebene Ausgleich von Subjekt und Objekt normgemäß vollzieht. Dieses Aufeinander-Angewiesensein von Mensch und Umwelt ist nun vom pädagogischen Gesichtspunkt von weittragender Bedeutung. Es macht den Bildungsprozeß eines Subjekts in seiner Bezogenheit auf die Gegenstände der Natur wie der Kultur erst möglich und begründet somit die Methodik des theoretischen (und praktischen) Unterrichts. Im Hinblick auf die späteren Erörterungen über das S c h a f f e n füge ich gleich hier hinzu, daß auch für die ökonomische Sphäre nicht einseitig auszugehen ist von einem für sich seienden, auf Kraftersparnis gerichteten Subjekt, sondern von der Beziehung eines praktischen Subjekts auf die Gegebenheiten eines »Widerstands«1. Die Idee der »Bündigkeit« besteht gerade darin, daß der vorgegebene Ausgleich von Gestaltungswille und von Material im Werk »geschaffen« wird. Denn auch hier liegt die Norm in dem angemessenen Zusammenspiel zweier Komponenten, des Subjekts in der Richtung auf das Objekt. In meiner Allgemeinen Erziehungslehre habe ich versucht zu zeigen, wie sich derselbe Grundsatz auswirkt in dem Zusammenschwingen spannungsreicher Gesellschaftsverhältnisse und wie er zu dem allgemeinen, übergeschichtlichen und sinnbezogenen Erziehungsziel der leistungsfähigen und gütigen Persönlichkeit hinführt. Vom letzten Ausgleich des Diesseits und Jenseits handelt das Schlußkapitel des vorliegenden Buches. Vgl. auch den im Anhang gegebenen Entwurf der Spannungsverhältnisse a. Das große Problem des Lernens, das bereits im ersten Teile (S. 24) angeschnitten wurde, ist die p s y c h o l o g i s c h - g e n e t i s c h e Frage: Wie kommt das theoretische Subjekt zur Bewältigung der Welt, d. h. wie kommt das angemessene Beziehungsverhältnis eines Subjekts auf ein Objekt überhaupt zustande? Die ältere Jugendpsychologie scheint dies Problem kaum gesehen zu haben. Es tritt bei W . Stern und dann in den psychologischen »Wissen«, d. h. das Erkennen und Verstehen hat es mit dem S o s e i n des »Gegenstandes« zu tun, der unserem Bewußtsein als ens intentionale gegeben (aufgegeben) ist. Ganz anders das Schaffen. Es geht nicht auf die essentia, sondern auf die existentia. Es gestaltet den Gegenstand, oder besser: den »Widerstand«, d. h. das D a s e i n eines ens reale, das immer außerhalb der bloßen Wissensbezogenheit steht. Vgl. M. Scheler, Die Formen des Wissens und die Bildung, Bonn 1925, S. 30 f.; N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Berlin 1931, Philosophische Vorträge der Kant-Gesellschaft Nr. 32. 1

Die verschiedenen Theorien und das Tatsachenmaterial der Psychoanalyse zeigen, welche Störungen erfolgen können, wenn sich der Ausgleich in dem asozialen Fürsichsein der Psychopathen nicht normgemäß vollzieht. Aug. Homburger, Bericht über die 4. Sachverständigen-Konferenz zu Hamburg 1928, Berlin 1929, versteht daher unter »Norm« die Gesamtheit derjenigen Fähigkeiten, welche »dem Individuum gestatten, seine Angelegenheiten selbständig zu besorgen«. Ich möchte sagen: normal ist, wer sich aus seiner besonderen ganzheitlichen Struktur »ausrichten«, nämlich den Ausgleich finden will und kann, in sich und mit der Welt. 1

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Arbeiten der Wiener Schule immer klarer hervor«. Ob wir nun das spielende oder das sprechende Kind betrachten, sein Verhältnis zu Gegenständen oder zu Menschen, so bemerken wir, daß sich ganz allmählich die Brücke vom Kinde zur Gegen- und Mitwelt schlägt. Das Subjekt ist zunächst selbstgenügsam, in sich geschlossen, passiv oder ablehnend allen äußeren Reizen gegenüber und nur der Gewöhnung als seiner besonderen Art des Lernens zugänglich. Das Bedeutsame ist nun, daß die Bezüge zur Welt der Personen und Sachen anfangs s u b j e k t i v - w i l l k ü r l i c h vom Subjekt »gesetzt« werden unter Vergewaltigung der normgemäß-gesetzlichen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt (Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge). Auf diese Weise wird die Verbindung vom Subjekt zum Objekt zunächst einmal angebahnt. Das Kind will zum Erwachsenen, der Erwachsene zum Kinde, wie es Pestalozzi ganz besonders in seiner Lenzburger Rede seherisch verkündet hat. So wird aus der sozialen Wechselwirkung die sachliche Beziehung außergesellschaftlichen Schaffens und Entdeckens gefunden. Dabei spielt die Entwicklung der Sprache aus den Gegebenheiten der sprechenden Mitwelt eine bedeutsame Rolle, indem das Kind auf Grund des Gehörten (Cl. und W. Stern, C. Stumpf) auch seine eigene Sprache erst willkürlich nach Lautbildung und Bedeutungszuordnung »setzt« und erst allmählich in der Sprachgemeinschaft der Erwachsenen »zurechtschiebt«. Ebenso werden im Laufe der Jahre alle willkürlichen Beziehungssetzungen allmählich dem Selbstverhalten der objektiven Welt, in ihrer Bezogenheit auf das erkennende Subjekt, gerecht. Dieses Ringen nach einem angemessenen und daher l u s t v o l l erlebten A u s g l e i c h zwischen den Forderungen des Subjekts, seinen geistig-funktionalen Anlagen, und den Bestimmtheiten des Objekts nimmt das ganze Leben in Anspruch, und nicht jeder findet einmal seine individuelle »Ausgeglichenheit« innerhalb des gattungsgemäßen Ausgleichs subjektiv- und objektiv-bestimmter Gesetzlichkeiten. In diesem Bemühen des S i c h - a u s r i c h t e n - W o l l e n s liegt das eigentliche Problem des Lernens, aller Bildung, aller Formung 2.

Wir haben (S. 9) unterschieden zwischen dem eigentlichen Lernen (funktionaler Differenzierung und Integrierung) und dem Lernen im weiteren Sinne (geistiger Ausrichtung der ganzheitlichen Persönlichkeit). Dies umfassende Lernen setzt folgende Fähigkeiten des Organischen voraus, die wir nunmehr s y s t e m a t i s c h betrachten: 1. Die R e a k t i o n s f ä h i g k e i t des Organischen3. Sie besteht zunächst in dem motorischen Ausdruck auf einen inneren oder äußeren Reiz. Die primitivste Stufe ist der Reflex. Man kann hier kaum von einem Lernen sprechen, da die Entladung in einer starr vorgezeichneten Weise erfolgt. 1 Siehe besonders Ch. Bühler, Kindheit und Jugend, Leipzig 1931. Vgl. dazu das Kapitel über das Phantasieleben und Phantasieschafien in Ed. Sprangers Psychologie des Jugendalters. » Hat das Bewußtsein eine besondere Struktur, so muß das Ergebnis des Ausgleichs zwischen diesem »Denken« und der besonderen Wirklichkeit, individuell und differentiell, immer wieder ein anderes sein. E. Cassirer zeigt in seinem Werk über »Das mythische Denken«, daß das Bewußtsein verschiedene Strukturen aufweisen kann. Das mythische Bewußtsein kann infolge seines anderen Charakters Anspruch erheben auf einen eigenen (difierentiellen) Geltungscharakter, auf einen bestimmten Wahrheitsgehalt seiner Aussagen, der nicht subjektiv-psychologisch, sondern »objektiv« aufzufassen ist. Diese Untersuchungen hat Er. Unger ergänzt in seinem Werke: Wirklichkeit, Mythos, Erkenntnis; München u. Berlin 1930. 1 O. Bobertag, a. a. 0 . S. 176 ff.

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Die mechanische Kausalität des Anorganischen, die feste Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf Grund der chemischen Dynamik ist hier noch das Bestimmende. Die Reaktion erfolgt dennoch nicht rein mechanisch auf eine Situation hin (amerikanischer Ansatz!), sondern auf das E r l e b n i s der Situation. Vgl. oben S. 13. Nicht der Reiz führt die Reaktion herbei, sondern das Subjekt gibt der Energie des Chemismus die (vorgezeichnete) Richtung auf Grund des Reizes als bloßer »Bedingung«. 2. Die Fähigkeit a u s w ä h l e n d e r Reaktionen1. Sie verrät einen Einschlag von Zielgerichtetheit (Spontaneität i. w. S.), die eben das »Leben« des Organischen durch die Angemessenheit des Verhaltens begründet. Diese Verarbeitung des Reizes in der »Richtung« auf L e b e n s e r h a l t u n g bzw. L e b e n s s t e i g e r u n g des Individuums und der Gattung läßt die teleologische Wendung klar hervortreten. Das primitive Verhalten der Organismen scheint bereits das Prinzip einer ersten unterscheidenden (d. h. theoretischen) Welteinsicht wie auch einer (praktischen) Ökonomie des Geschehens zu offenbaren! Unter den verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten findet in einem gewissen Umfang eine Auswahl geeigneter sowie Ausschaltung ungeeigneter bzw. überflüssiger Reaktionen statt auf Grund des l u s t v o l l erlebten Erfolgs der Handlung (vgl. oben S. 48 f.). Die angemessene Auswahl der Reaktion setzt ein »Gedächtnis« voraus. Die Reaktion erfolgt nicht mehr als Reflex, sondern als Instinkthaltung. Wir verstehen darunter ein zweckmäßiges, unbewußt-emotionales, durch Erfahrung abänderungsfähiges Verhalten auf Grund angelegter Dispositionen. Instinkte haben je nach der Gattung der Tiere eine bestimmte Reaktionsbreite. So bringen z. B. die Hühner die plastische Anlage zum Picken mit; sie lernen also das Picken angemessener Nahrung nach dem Aussehen und dem Geschmack der Objekte. »Lernen« heißt also dann: nicht bloß reflexartig reagieren, sondern handeln den b i o l o g i s c h - v i t a l e n Bedürfnissen gemäß. Analoges gilt für die auswählende Reaktion des Kulturmenschen. Beispielsweise entstehen auch im Falle der geordneten produktiven Geistestätigkeit (nach O. Selz) die neuen psychischen Verhaltungsweisen auf Grund der bereits ausgebildeten »zweckmäßigen« d. h. Leben fördernden Operationen. 3. Die Fähigkeit der »Verknüpfung« (s. oben S. 30 ff.). Die (lustvoll erlebte) Verknüpfung von Reizeindrücken (Wahrnehmungen, Vorstellungen) unter sich sowie mit Reaktionen (Motorik des Schaffens und Handelns) nennen wir »Assoziation«. Mit Hilfe der Assoziation werden Eindruck und Ausdruck eindeutig zugeordnet. Die Festigkeit der Asso1

Wir sehen hier und im folgenden von individuellen und difierentiellen Unterschieden ab und verweisen auf die psychopathologische und die Typenforschung (Kretschmer, Klages, Jaspers, Jaensch, Kroh, Pfahler usw.).

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Das Lernen

ziation hängt ab von der Lustbetontheit und Gespanntheit der Aufmerksamkeit, sowie von der Dauer bzw. der Häufigkeit und der angemessenen Verteilung der Erlebnisse Als besonders wichtig wird jetzt in steigendem Maße die Entstehung angemessener »Komplexe« anerkannt (O. Selz). Wo immer es sich um die Einprägung einheitlicher Gestalten des Mitoder Nacheinander handelt, eines Gedichtes, eines Musikwerkes, einer Zeichnung, geschichtlicher Zusammenhänge, von Landschaften, mathematischer Beweise usw., wird die beziehliche Verarbeitung des Stoffes, die Erfassung der Struktur, der charakteristischen Glieder und schließlich des Kernes von ausschlaggebender Bedeutung. Das gilt nicht nur für die subjektive Einprägung, sondern auch für die Auswahl zusammengehöriger Stoffe, ihre Gruppierung und Anordnung im Ganzen (»Konzentration«). »Lernen« heißt im Falle des Assoziierens: »Einüben« von Bestimmtheiten des Bewußtseins und von Bewegungen zwecks sicheren, getreuen und schnellen Ablaufs 2 . Die Richtung der »Reproduktion« geht innerhalb eines Komplexes vom Einzelinhalt zum Gesamtbewußtsein (Poppelreuter, Lindworsky, Selz) oder auch absteigend vom Gesamtkomplex zum Einzelinhalt (Lindworsky, Selz), vielleicht auch von Komplex zu Komplex bzw. von Einzelinhalt zu Einzelinhalt. Es fragt sich, inwiefern das Wirksamwerden der Assoziation eine »Tätigkeitsbereitschaft« erfordert oder ob die Möglichkeit rein »automatischer« Reproduktion besteht 3. Darauf ist im 4. Teil (Reaktivität-Spontaneität) zurückzugreifen. E. L. Thorndike, a. a. O. S. 63 fi., führt als Gesetze des Lernens an: das Gesetz des Gebrauchs, d. h. der assoziativen Einübung, und das Gesetz des Erfolgs durch die damit verbundene Lust; er betont dem ersten Gesetze gegenüber die besondere Bedeutsamkeit des Interesses. Daraus ergeben sich zwei allgemeingültige Regeln des Unterrichts: »1. Man bringe zusammen, was zusammen vorkommen soll, und halte voneinander getrennt, was nicht zusammen vorkommen soll. 2. Man belohne erwünschte Assoziationen und lasse unerwünschte Assoziationen Unlust bewirken.« Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 4 8 ! » K. Lewin, Das Problem der Willensmessung und das Grundgesetz der Assoziation II, Psychologische Forschung I I (1922), S. 131, führt als Wirkungserscheinungen der Einübung an: »Das Ausfallen von Umwegen, die Verschiebung in der Aufeinanderfolge der Teilprozesse und das Ausfallen von Nebenprozessen, insbesondere die Herabminderung von Bewußtsemsvorgängen.« 3 Vgl. F. Scola, Untersuchungen zur Frage der automatischen Reproduktion, Arch. f. d. ges. Psychol. 75 (1930), S. 33 f. — J . Sigmar, Arch. f. d. ges. Psych. 52 (1925) und ebenso K. Lewin, Psychologische Forschung I, I I (1922) zweifeln die Richtigkeit des Assoziationsgesetzes an und machen die Reproduktion vom Eingreifen eines aktiv-determinierenden Faktors abhängig. Wenn daneben auch andere Auffassungen vertreten werden, z. B. J . Lindworsky und seine Schule, wird das Eingreifen der psychischen Aktivität doch niemals geleugnet. Die Frage ist nur, welches der Wirkbereich dieser Aktivität sei: ob sich der Einfluß der psychischen Energie darauf beschränkt, nur das Reproduktionsmotiv ins Bewußtsein zu heben, und ob der weitere Ablauf des Bewußtseins, die assoziative Ergänzung des Komplexes, dann rein »automatisch« verlaufen kann. Da Bewußtsein an sich Gerichtet1

O i t o , Unterrichtslehre.

g

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

Alles Einüben ist nicht ein isoliertes Assoziieren des Neuen, sondern eine Verschmelzung neuer Bewußtseinsbestimmtheiten in einer bereits vorgefundenen Struktur. Das nennt man »Apperzeption«. Befreit man diesen Begriff aus der Enge, in der Herbart und W. Wundt ihn gebraucht haben, so können wir mit A. Messer sagen, daß die Apperzeption nicht nur auf die Verschmelzung von Vorstellungen einzuschränken ist, sondern alle Arten seelischer Vorgänge betrifft und Einheit wie Ordnung in unser seelisches Geschehen bringt. Demgemäß ist es geboten, neue Vorstellungen und Gedanken möglichst vielseitig mit dem alten Wissen zu verschmelzen und namentlich die Wiederholungen so einzurichten, daß immer wieder neue Beziehungen zwischen den Dingen aufleuchten. Auf diese Weise wird man am besten verhindern, daß der Wissensbestand erstarre und als unbewegliche Masse den denkenden Menschen eher behindere als fördere. Das Neue ist also nicht bloß zu verknüpfen, sondern zunächst einmal in seiner Besonderheit zu unterscheiden und scharf zu erfassen. Zeichnen und Werktätigkeit können dem gewissenhaften Beobachten, dem beziehenden Betrachten und dazu dem genauen Benennen gute Dienste leisten, zumal das Kind dazu neigt, flüchtig zu betrachten und das Alte und Bekannte dem Neuen und Unbekannten unterzuschieben. Vom Lehrer ist zu erwarten, daß er den konkreten und abstrakten Gedankenkreis des Kindes sowie seine sprachlichen Unvollkommenheiten in den verschiedenen Lebensaltern wohl kenne, damit er nicht über die Köpfe seiner Schüler unverstanden hinwegrede. 4. Die Fähigkeit der A u s g l i e d e r u n g der Funktionen umfaßt die lustvolle »Artikulation« (W. Dilthey), d. h. die Schulung und Verfeinerung von Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Denkkomplexen auf Grund einer ererbten Anlage mittels der Übung (s. dazu S. 32 ff.). Durch Übung wird die Entfaltung der sensumotorischen Funktionen ermöglicht; umgekehrt führt Nicht-Gebrauch zu ihrer Herabminderung. »Lernen« heißt unter diesem Gesichtspunkt: Ausgliederung der theoretisch-intellektuellen (bzw. praktisch-motorischen) Funktionen. Wenn als Ergänzung der bloßen E n t w i c k l u n g eine Erhöhung der Reizauffassung und der Reproduktion (Lernfähigkeit und Treue des Behaltens) durch s y s t e m a t i s c h e Übung (Mitübung) ermöglicht wird (Meumann, Thorndike), so ist dieser Fortsein bedeutet, scheint die Dynamik dieses Geschehens, also die »Bewegung« (auf Grund des Chemismus I) auch eines minimalen Einschlags von »Richtung« nicht entbehren zu können, der die bereitliegenden Bedingungen, die Assoziationen bzw. die K e t t e der Umgebung (als Wahrnehmung) aktiviert.

E s scheint ferner, daß der Bewußtseinsstrom unterbewußt, in

ausgefahrenen Geleisen mit einem Mindestmaß von Aufmerksamkeit verlaufen kann.

Dem

Grundsatz der Ökonomie folgend, wird er daher in Zuständen der Ermüdung oder im labilen Jugendalter besonders leicht aus der Spannung determinierten Gerichtetseins abirren können.

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Das Lernen

schritt wohl zum guten Teil auf die höhere Beherrschung der willkürlichen Aufmerksamkeit bzw. des (lustbetonten) Interesses zu setzen (s. u.). Psychologen wie Theodor Lipps haben klar gesehen, daß es neben einer Tendenz (einem »Gesetz«) der seelischen Angleichung (Assoziation) auch eine Haltung der Seele zur Besonderung (Ausgliederung) gibt, nämlich einen Hang der Vorstellungen, ihre eigentümliche Besonderheit auf Kosten aller anderen zu behaupten 1 . Offenbart sich in der ersteren Tendenz die Eigenart der Seele zur K r a f t e r s p a r n i s (Praxis!), so erkennen wir in der letzteren die Veranlagung der Seele zum erkennenden Sondern und Scheiden (Wissenschaft!). So können wir auch beim Assoziieren und beim Ausgliedern der Funktionen, wie unter Punkt 2, die grundlegenden Richtungen unserer Geistigkeit verfolgen! Vgl. die Skizze des Anhangs. Wie G. Kafka im Anschluß an die Theorien des Behaviorismus gezeigt hat, werden Reize nur wirksam, soweit ein »Bedürfnis« oder ein »Interesse« für sie besteht. So bemerkt z. B. im Bedürfnisfalle des Saugens der Säugling überhaupt nur »saugbare« Objekte, d.h. nur Gegenstände, die dem Zwecke des Saugens dienen. Diese »Zweckspezifität« wird aber erst dann zur »Erfolgsspezifität«, wenn die Bedürfnisbefriedigung durch das Saugen an dem bemerkten Objekt tatsächlich eintritt. Dann erst »lernt« das hungrige Kind, zwischen (spezifisch) Saugbarem und nicht (spezifisch) Saugbarem zu unterscheiden. Jede Wahrnehmung wird demnach nicht bloß passiv entgegengenommen, sondern die Ausgliederung der Funktionen durch Reaktion auf die Aufforderung der Außenwelt ist schließlich nichts anderes als eine eigene S t e l l u n g n a h m e des Befehlsempfängers (vgl. oben S. 57). Der Befehl führt daher im allgemeinen zu Fehlhandlungen, bis durch ein reizunspezifisches Ausprobieren von sonst erfolgspezifischen Handlungen die richtige Lösung als Ausleseprodukt getroffen wird: Thorndikes law of effect. »Lernen« heißt in diesem Fall »durch spontane Aktivität eine erfolgspezifische Tätigkeit einem spezifischen Reiz zuordnen«. Im Vergleich zu den Tieren wird der Mensch verhältnismäßig arm an fertigen Instinkten geboren. Das bedeutet einen Nachteil, insofern er sehr viel und sehr lange »lernen« muß. Diese Armut schließt aber andererseits den Vorteil erhöhter Abwandlungsfähigkeit bewußter Reaktionsmöglichkeiten in sich durch zentrale Verarbeitung der Eindrücke und Regelung der Veräußerungen (einschließlich des Sprechens).

5. Die A u s r i c h t u n g der geistigen Akte. Wie bereits erwähnt, reicht der Einschlag geistigen Ausgerichtetseins bis in die tiefsten Schichten des Organischen. So kommt es, daß alle (zweckmäßigen) Reaktionen und Funktionsbetätigungen, wie auch die Instinkte, mehr oder weniger selbst1

Die Ausführungen Thorndikes über das (assoziative) Lernen scheinen demnach sehr einseitig, auch konstruiert zu sein, was er (2. Aufl., Anhang 8) selbst zu fühlen scheint.

8*

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

gerichtet sind, also von innen gesteuerte »Aktionen« bedeuten. Die Ausrichtung des Organischen und zwar wesentlich des Vernunftmenschen erfolgt durch natürliche Reifung der Wertempfänglichkeit und allmähliche Klärung des Wertbewußtseins, wobei die Unterordnung des Trieblebens unter die Vernunft des Kulturmenschen als unerläßliche Aufgabe erscheint. »Lernen« heißt in dieser Hinsicht: natürliche Ausrichtung der seelischen Dynamik auf das Echte, Ausstrukturierung als Differenzierung und Integrierung der Persönlichkeit, also geistige Bildung, nicht bloß funktionale Schulung (vgl. oben S. 41 f.). Das Lernen umfaßt folgende Arten: 1. Die Einübung durch Z w a n g : Dressur. Das Lernen ist in diesem Falle kein Selbst-Gerichtet-Sein, denn das Ziel des Geschehens wird nicht eingesehen und als solches gewollt. Der mögliche Lustbetrag, der zur Einübung erfolgreicher, zur Abschwächung erfolgloser Reaktionen führt, fließt nicht aus der (gefühlsmäßigen) Erfassimg der sachlich-angemessenen Reaktionen, sondern aus der vorteilhaften Anpassung an die Absichten des Abrichters. Die Freiheit (Spontaneität) des Lernens besteht wesentlich in dem negativen Nicht-Widerstreben, in dem gewohnheitsmäßigen SichFügen in eine unverstandene Lage: das heißt »Gewöhnung«. Wir machen die Tiere (oder unvernünftige Kinder und Menschen!) unseren Zielen »gefügig«. Sie selbst erleben den Vorgang vorwiegend als funktionale E i n ü b u n g eines vital vorteilhaften und insofern lustbetonten Verhaltens. Das ist dem Wesen nach Schulung, aber keine formende Bildung! Ebenso die folgende Art. 2. Das Lernen durch r e a k t i v e N a c h a h m u n g oder A n l e i t u n g . Wenn auch in diesem Fall ein gewisses »Interesse« als bewegende Kraft vorhanden ist, so wird die Richtung des Handelns doch von außen her beeinflußt. Dabei bestehen mehrere Möglichkeiten des Anreizes: das Subjekt, Mensch oder Tier, ahmt die Lösung der Aufgabe nach zwecks Triebbefriedigung oder zwecks geistigen Neuerwerbs, auch aus Funktionslust. In den Fällen der Nachahmung wird die vitale bzw. kulturelle Richtung des imitativen Tuns an der erfolgreichen Verknüpfung von Mittel und Zweck ursprünglich als rein a n s c h a u l i c h e Repräsentation künftigen Verhaltens an der wahrgenommenen Situation erfaßt, also auch ohne klare Überlegung. Die Anleitung setzt dagegen die Einsicht des verständigen Menschen voraus. 3. Das Lernen durch f r e i e s S e l b s t f i n d e n . Der lustbetonte Erfolg kann entweder durch Zufall (Probieren: learning by trial and error) gefunden werden oder durch Einsicht in die Umstände auf Grund einer gewissen Intelligenz. In beiden Fällen ist dem Subjekt die Freiheit der Selbstbestimmung gegeben. Dann kann die S e l b s t n a c h a h m u n g ein-

Das Problem der Werte

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setzen. D a den Tieren die analysierende Intelligenz abgeht, so ist ihr Lernen, die Anpassung an neue Situationen, der Erfolg eines glücklichen Zufalls; aber auch Menschen eignen sich in dieser unbewußten Weise einen höchst bedeutenden Bestand ihres Wissens und Könnens an. Das Ziel der Tiere ist im Vergleich zu ihnen nicht geistige Ausrichtung, sondern vitale Triebbefriedigung. Vgl. oben S. 30 ff. und 42 fi. Aus allen diesen Darlegungen folgt: 1. Alle Lebewesen, einschließlich des Menschen, lernen durch Fremdoder Selbst-Gewöhnung bzw. Nachahmung, durch Anleitung oder freies Selbstfinden. 2. Das menschliche Lernen kann nicht auf die zufällige Auslese lustbetont-erfolgreicher Reaktionen beschränkt werden, wie auch nicht auf Dressur und Nachahmung. Der Mensch darf es nicht den Zufällen des Lebens überlassen, in welchen Zeitspannen das Lernen einer Leistung bewältigt wird und ob sich überhaupt günstige Bedingungen finden, unter denen die Vervollkommnung seiner individuellen Anlagen ermöglicht wird. Er lernt nicht nur »auf diese primitive Weise« (O. Bobertag) unsystematischen Versuchens, sondern vor allem durch systematische Anleitung und durch Selbstbesinnung, d. h. nicht nur im Laufe der natürlichen R e i f u n g ( E n t w i c k l u n g ) , sondern auch durch ziel- und planvolle Fremdund Selbstbildung. Betonen wir auf der einen Seite die Notwendigkeit, die unbewußt-ursprüngliche und gesunde Natürlichkeit der Jugend möglichst zu schonen und zu erhalten, so erheben sich auf der andern Seite die Forderungen rational-systematischer Belehrung. Die letztere Möglichkeit schließt allerdings die Gefahr der Verfrühung in sich, verbürgt aber eine gewisse Ökonomie der Kräfte, bewahrt vor Abwegen und sichert die höchste Vervollkommnung und Verwirklichung einer individuellen Idee der menschlichen Persönlichkeit. So wird die gefühlsmäßig erfolgende Reaktion lustvoll-erfolgreichen Handelns allmählich ersetzt durch die möglichst selbständige Haltung einsichtig-wertender Stellungnahme. Wir glauben daher, immer wieder auf die Wesensunterschiede zufälliger Reifung einerseits und systematischer Bildung andererseits hinweisen zu müssen. Im Hinblick auf das Lernen sind abschließend noch zwei Fragenkomplexe zu klären: einmal das P r o b l e m der W e r t e , ihre Zahl, ihr Wesen und ihre »Rangordnung«, sodann das V e r h ä l t n i s v o n E r k e n n e n und Verstehen. Zunächst das W e r t p r o b l e m . Seit alters her unterscheidet man die drei Wertklassen des Guten, Schönen und Wahren; das Mittelalter fügt das Heilige hinzu. Schon Aristoteles kennt das praktische Schaffen, das Poietische, allerdings in künstlerischem Gewände; in der Scholastik (z. B. Thomas) und besonders in neuerer Zeit (Natorp, Spranger) wird Sinn und

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

Eigengesetzlichkeit dieses Wertgebietes immer schärfer herausgearbeitet. Bereits Ed. Spranger hat gesehen, daß das Gute (das Sittliche) nicht als eine Lebensform n e b e n den anderen Lebensformen aufzufassen ist, daß es zudem einen komplexen Charakter trägt. Es wird weiter unten (Abschnitt II: Kirnst) darzulegen sein, daß das Ästhetische keine autonome Wertsphäre ist, sondern daß Kunst und Wissenschaft zusammengenommen den Wertbezirk der »Theorie« konstituieren. Die besondere Eigenart der Werte und ihrer Objektivierungen besteht in ihrem Aufgabe- und Geltungscharakter. Werte existieren nicht, sondern sie gelten d. h. sie stellen dem Menschen überindividuelle Sollensforderungen, die subjektiv im Korrelat eines gefühlsbetonten Willens erlebt werden: emotions und sentiments. Wir bestimmen somit den Wert (subjektiv) als das (erlebte) R i c h t z i e l des g e f ü h l s b e t o n t e n W i l l e n s mit dem C h a r a k t e r ü b e r i n d i v i d u e l l e r G e l t u n g . Objektiv hat alles geistig Gerichtete Wert. Die Werte selbst sind keine »Wesenheiten«, die in einem besonderen Reiche »für sich« bestehen, unabhängig von der Existenz und der Organisation der Gattung Mensch. Sie sind entweder, als W e r t s p h ä r e n (Wertarten, Wertbezirke, Wertklassen), ideale und ideelle Grundrichtungen, also die möglichen Relationen zwischen dem Subjekt und dem »Aufgegebenen«; oder, als objektivierte Wertgegenstände, die Kulturgüter unseres Geisteslebens; oder, als subjektivierte W e r t v e r w i r k l i c h u n g e n , die Kulturmenschen (Vernunftmenschen); oder komplexe Gebilde dieser Objektivierungen und Subjektivierungen, z. B. das überindividuelle Gebiet der Wissenschaft mit ihren Sach- und Persönlichkeitswerten. Der normative (nicht »objektive«) Sinn der »reinen«, d. h. übergeschichtlichen Wertrelationen von Subjekt und Objekt ist verschieden je nach der Wertsphäre. Das Prinzip der theoretischen Sphäre ist das der Wahrheit (auf wissenschaftlichem Gebiete) bzw. der Lebensweisheit (auf künstlerischem Gebiete); Prinzip der praktischen Sphäre ist das der Ökonomie, d. h. der Energieersparnis. Von den Prinzipien des gesellschaftlichen Lebens, Macht und Liebe, ist in der Allgemeinen Erziehungslehre gehandelt. Das Prinzip der religiösen Sphäre ist uns auf immer verschlossen. S. unten: religiöse Bildung. Dem überindividuellen Sollens- und Aufforderungscharakter der Wertrelationen entspricht auf Seiten des individuellen Subjekts das Normerlebnis der Sinn-Richtungen. Wir nennen es Sehnsucht, Streben, i Von diesem normativen Gelten der Werte ist zu unterscheiden einmal das Gelten von Einzelerkenntnissen, z. B. des Pythagoräischen Lehrsatzes, sodann das Gelten im Sinne einer Konvention, z. B. des »Geldes«. Vgl. dazu H. Kickert, Die Grenzen, S. 532 ff.; B. Bauch, Die Idee, Leipzig 1926, S. 112, und außerdem a.a.O. S. 47 fi.

Das Problem der Werte

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Verlangen, Interesse, (zielgerichteten) Willen, Idee. Früher sagte man auch Geschmack, Gefallen, Wohlgefallen und dgl. Die Wirkung der geistigen Wertsehnsucht prägt sich aus in der Gestalt bzw. in der Form von Menschen und Sachen. Das Ungeistige ist ungestaltet, nichtseiend als äußerster Grenzfall. Das ist weiter unten im einzelnen darzulegen (Kunst, Religion). Mit der Feststellung verschiedener Schichten des Sinnes erhebt sich die alte Frage nach einer R a n g o r d n u n g der Werte. Geht man aus von dem Urphänomen der Bewußtseinsspaltung in Subjekt und Objekt (S — O), ferner von der Tatsache, daß es im Wesen des Bewußtseins liegt, intentional auf ein Objekt bezogen zu sein, so gibt es drei fundamental verschiedene Arten von Relationen: 1. Die »Beziehung« eines Subjekts auf einen (sachlichen) Gegenstand: S->-G. 2. Die »Wechselwirkung« von Subjekten: S S. 3. Die Wechselbeziehung des Absoluten zum diesseitigen Subjekt: A-*S.

Es ist also der Unterschied von wertendem Subjekt und gewertetem Gegenstand von weittragendster Bedeutung; weiterhin die Tatsache, daß sich das Subjekt zum Absoluten anders verhält als gegenüber den Objekten dieser Welt. In den beiden ersteren Fällen kann das Subjekt spontan tätig sein, im letzteren Falle ergreift das Absolute den Menschen und weckt seinen Willen zur Tat. Mithin wird gerade die Art und der Sinn der R e l a t i o n zum besonderen Gegenstand der kulturphilosophischen Betrachtungsweise. Auch H. Rickerts drei Alternativen: Sachen-Personen, asozial-sozial, Kontemplation-Aktivität t , die sich in verschiedener Weise durchschneiden, führen grundsätzlich auf die drei erwähnten Arten möglicher Stellungnahmen zurück *. Jede dieser drei Relationen ist ein Spannungsgefüge zweier Polaritäten: die »Beziehung« von Subjekt und (sachlichem) Gegenstand umfaßt die Spannungen des theoretischen und praktischen Verhaltens; die »Wechselwirkung« von Subjekten schließt die Spannungen von Macht und Liebe ein; die »Wechselbeziehung« des Menschen zum Absoluten ist die Spannung von Diesseits und Jenseits. Das ganze Leben ist ja ein dialektischer Prozeß der Differenzierung und Integrierung, des ewigen Sich-Aufspaltens und des Ringens um »Ausgleich«, wie aus den Ausführungen des ersten 1 H. Rickert, System, S. 353 ff.; Logos I V (1913), 8 . 3 0 4 0 . > Vgl. meinen Aufsatz über die Struktur der geistigen Welt, Kantstudien 34 (1929), S. 132 ff., und damit K. Jaspers' drei Arten von »Einstellungen«, a. a. O. S. 52 ff.; außerdem Ed. Spranger, Lebensformen, S. 40 ff., 64 ff. (Unterscheidung individueller und gesellschaftlicher Geistesakte); ferner Logos X I I (1923), S. 194 (Kritische Bemerkungen zu Rickerts System). —

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

Teiles (und S. io8ff.) hervorgeht Damit erweist sich die Reihung der Werte in einer (linearen) Rang-Ordnung als unmöglich, wie schon N. Hartmann bemerkt hat x . Es geht vielmehr darum, das strukturelle Spannungsgefüge möglicher Wertrichtungen in seiner apriorischen Ganzheit und wechselseitigen Bezogenheit einzusehen. Ich habe es im Anhang dieses Buches schematisch aufgezeigt. Es bleibt nur noch übrig, die inneren Zusammenhänge und ihre Schichtung nach der Lebensferne und Seinsganzheit näher zu begründen. Wie in der Allgemeinen Erziehungslehre dargelegt ist, hat die Liebe nichts mit Leistungen der Macht zu tun. Alle Leistung beruht vielmehr auf theoretischem Wissen oder praktischem Können, die beide nur außerAber auch der rein gesellschaftlich, d. h. künstliche Sonderungen sind diesseitige Mensch des Sinnens und Schaffens, des Leistens und der gütigen Hingabe ist nur eine künstliche Trennung. Erst in der Zusammenfassimg des diesseits wirkenden und zugleich jenseits gerichteten Menschen wird die ganze Lebenswirklichkeit erfaßt. In dem Kampf dieser Spannungen liegt des Menschen Leid und Glück, Triumph und Tragik beschlossen! Anknüpfend an die Methode Fichtes und Hegels, daß die These und Antithese in der überbrückenden Synthese »aufgehoben« werden, können wir nach unserm Ansatz sagen: die Polarität des einseitig theoretischen und praktischen Menschen als künstliche Absonderung wird in der höheren Schicht der gesellschaftlichen Ganzheit aufgehoben, wie schließlich die Polarität Macht- und Liebesmensch in dem Einklang der diesseitigen und jenseitigen Welt ihre höchste Vollendung findet 3. Wir sehen also die Lösung der kulturphilosophischen Problematik weniger in dem Dreischritt Hegels oder dem Viertakt Schleiermachers, sondern in der Tatsache einer spannungshaltigen Verschränkung verschiedener Lebensschichten, die selbst wieder Spannungsgefüge bedeuten. Dieser Grundgedanke durchzieht dies ganze Buch. Das Streben nach Ausgleich der Spannungen ist von alters her mit dem bedeutsamen Worte O r d n u n g , auch mit »Harmonie« oder »Ruhe« (Pestalozzi) bezeichnet worden, in den verschiedensten Auffassungen von den Pythagoräern und Heraklit an, von Flaton und Aristoteles wie von ihren Schülern., über das Mittelalter (Augustinus), von Pascal (ordre du 1 N. Hartmann, a. a. O. S. 260, 303. Eine »Ableitung« der Rangordnung kann es auf keine Weise geben (S. 260). »Das Wertreich ist inhaltlich eine zusammenhängende Mannigfaltigkeit von Materien, und vielleicht gar in allen seinen Dimensionen ein lückenloses Kontinuum.« 1 Diesen Gedanken hat auch Fichte in seinen Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten herausgearbeitet. 3 Die Dialektik des Denkens vertreten in jüngerer Zeit in verschiedenen Abwandlungen auch Jonas Cohn und Th. Litt, H. Nohl und E. Spranger, R. Guardini wie auch W. SchulzeSoelde u. a. Pädagogen. Vgl. dazu Er. Hoffmann, Das dialektische Denken in der Pädagogik, Göttinger Studien, Heft 11.

Das Problem der Weite

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coeur) und Spinoza bis auf K a n t und unsere Tage (H. Driesch, B . Russell). Ordnung (Ausrichtung) ist aber nicht nur das normative Prinzip der Wissenschaftslehre, der Logik (Hönigswald: Denken = »in seiner 'Ordnungshaftigkeit' geordnet«), sondern, im metaphysischen Sinne Piatons, des Weltganzen, also auch der Wertgebiete. Dementsprechend unterscheidet Thomas von Aquino (Kommentar zur nikomachischen Ethik) vier Ordnungen: der Naturdinge, der Begriffe, der Willenshandlungen und des Schaffens. Es gibt also auch eine Ordnung der Sitten-wie der Wirtschaftslehre; ebenso eine Ordnung der Pädagogik: »Das allgemeine Wohl setzt die bestmögliche Ordnung in jeder Lebenssphäre geradezu voraus« (H. Pichler, Logik der Gemeinschaft). Alle Pädagogik geht auf »Ordnung« des Subjekts an sich, innerlich und äußerlich, und innerhalb der Gemeinschaft. Ohne Einsicht in den zentralen Begriff der Ordnung bleibt z. B. Comenius' Werk unverständlich, die Idee seiner Pansophie (Enzyklopädie) als Zusammenfassung methodisch geordneten Wissens (cf. Did. Magna X I X ) und seine Spracherlernung als Zuordnung von Sache (Anschauung), Wort und Begriff. Schließlich ist nach Leibniz (Vorrede der Theodicee) Gott »die Ordnung selbst«.

Mit diesem Aufweis der Ordnung, des Ausgleichs, in der Differenzierung und Integrierung ist das Faktum der Entwicklung bestimmt, zugleich die Forderung der Bildung als Ergänzung der natürlichen Entwicklung aufgegeben Es geht aus der Skizze des Anhangs hervor, daß sich der »Unterricht« gründet auf die theoretischen und praktischen Beziehungen des Subjekts zu einem sachlichen Gegenstand (S G); daß »Erziehung« als Wechselwirkung von Menschen (S- nhd. au, ouge > Auge, was als künstliche Isolation immerhin eine gewisse Berechtigung hat. Darüber darf man aber nicht vergessen, daß alles mit allem Geschehen verkettet ist. Demgemäß muß die Strukturforschung der Koexistenz die einseitige Betrachtungsweise der Sukzession umfassend ergänzen. Danach sind folgende einzelne wissenschaftliche Betrachtungsweisen zu unterscheiden: I. Unter dem Gesichtspunkt der Sukzession: 1. die e v o l u t i o n a l e Forschung. Sie trägt teleologischen Charakter 2 und sucht die E n t w i c k l u n g e n des Naturlebens sowie die geistigen Ausrichtungen des Kulturlebens zu »er1

Das angefügte Beispiel ist aber falsch: die Entstehung eines Frosches aus der Eizelle und Kaulquappe ist ein geschichtlicher Entwicklungsvorgang, außenbezüglich an bestimmte historische Bedingungen und Richtkräfte gebunden. Diese Verwechslung begegnet immer wieder und hat die exakte Scheidung von Entwicklung und Vorgang hintangehalten. So ist die Entstehung des Huhns im E i — trotz der Häufigkeit seiner »Wiederholung«, von der noch zu handeln ist — ein Entwicklungsprozeß. Denn es gibt neben der phylogenetischen Entwicklung (»Geschichte«) auch eine ontogenetische; man sollte also wohl, wenn man dem Individuum keine »Geschichte« zuzugestehen geneigt ist, statt Geschichts-, besser Entwicklungswissenschaften sagen, um Verwechslungen zu vermeiden. Hier irrte bereits K. E . v . Baer (Studien aus dem Gebiete der Naturwissenschaften) und beeinflußte so H. Rickerts Auffassung. * Vgl. z. B. H. Rickerts Ausführungen über die rationalistische Teleologie, Die Grenzen S. 261. Auch Sigwart, Logik I I (1904), S. 597 fi.; weiter unten (670 f.) werden Entwicklungsgesetze und Kausalgesetze geschieden. — Siehe dazu Kants Analytik der teleologischen Urteilskraft, zweiter Teil der Kritik der Urteilskraft, § 62 ff.

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

klären« durch Aufweisung der T r i e b - bzw. R i c h t k r ä f t e , die auf Grund bestimmter B e d i n g u n g e n den Wandel herbeigeführt haben (s. oben S. 1 3 ff.). Die Bezeichnung »Bedingungen« hat schon W. Wundt (Logik I) gebraucht. W. Stern sondert »Rüstungs«- und »Richtungsdispositionen«; O. Kroh (Psychologie) spricht ganz allgemein von »Richtkräften«. Die Formel für die notwendigen Abhängigkeitsbeziehungen evolutionaler Art ist nicht: wenn a, so b, sondern: wenn Richtkraft (Trieb) a unter der Bedingung b, so c. 2. Die aktionale Forschung umfaßt zwei wesenhaft verschiedene Betrachtungsweisen, die finale und die kausale. Die finale Betrachtungsweise hat alle Arten gerichteter T ä t i g k e i t e n des organischen Lebens zum Gegenstand: das animalisch-biologische Tun wie auch das wissenschaftliche Forschen, das praktische Schaffen, das sittlich-religiöse Handeln (und das Sprechen) des Vernunftmenschen. Die finale Forschung sucht alle angegebenen Arten von Tätigkeiten durch Aufweisung der (instinktiven) Triebkräfte bzw. der Gründe (Motive) und ihrer Folgen zu »begründen«. Die einer bestimmten Tätigkeit zugrunde liegende Situation nennen wir »Voraussetzung«. Die Triebe sowie die als Motive erlebten Geltungsforderungen normativer Werte wirken mehr oder weniger bewußt; man hat hier von »Wirkursachen« gesprochen. In biologischer Hinsicht kann man die Deutung der Instinkte nicht vorsichtig genug in Angriff nehmenebenso die Motive von Menschen, die in der Regel unendlich komplexer Natur sind». 1 »Exakte« Biologen, die eine finale Forschungsart ablehnen, kommen auch im Falle der Tätigkeiten zur Leugnung wirkender Kräfte. Sicherlich ist es zu begrüßen, genaue Analyse an die Stelle voreiliger Behauptungen zu setzen, aber nicht, vorhandene Tatsachen fortzuanalysieren. So führt Max Hartmann, Biologie und Philosophie, Berlin 1925, S. 21 aus: »Die mit Nektar beladenen, von einer neuen Trachtquelle kommenden Bienen führen im Stock sog. Werbetänze auf, durch die sie ihre Stockgenossen in Erregung bringen. Die Stockgenossen werden nun nicht etwa, wie man früher geglaubt hat, von den Ankömmlingen zu der neuen Trachtquelle hingeführt — sie schwärmen vielmehr, erregt durch die Werbetänze, nach allen Seiten aus und suchen allerorten im weiten Umkreis.« E s bleibt nach dieser Darstellung der seelische Vorgang ungeklärt, infolgedessen die Bienen durch den Werbetanz erregt werden und allerorten suchen! Der Anblick des Tanzes würde sie kalt lassen, wenn nicht innere Kräfte diesem Erlebnis des Tanzes entgegenkämen! (Vgl. auch den 4. Teil: Arbeitsunterricht: »Nachahmung«). 1

Ich muß verzichten auf die weitere Erörterung der Frage, inwiefern in der unbelebten Natur neben den bloßen »Bewegungen« auch noch gerichtete »Entwicklungen« bzw. »Tätigkeiten« aufzuweisen sind (Entropie; Kristallisation) und sich »treibende Kräfte« auf-

Die evolutionale und die aktionale Forschung

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Die k a u s a l - m e c h a n i s t i s c h e Betrachtungsweise hat die Abhängigkeiten der »Ursache und Folge« auf dem Gebiete der anorganischen Natur zum Gegenstand. Da hier keine geistig-gerichteten Tätigkeiten vorliegen, sondern bloße »Bewegungen« (Vorgänge), so könnte man im Anschluß an E. Machs Bezeichnung: »funktionale Abhängigkeit« auch von einer funktionalen Betrachtungsweise sprechen. Die Herausarbeitung »funktionaler Abhängigkeiten« oder, kürzer gesprochen, von »Abhängigkeiten« ist für die neuere Mathematik und Naturwissenschaft eine grundlegende Aufgabe geworden. Somit wird man es, streng wissenschaftlich, auch in der Mechanik unterlassen, von einer »Kraft« (causa) als wirkender Ursache zu sprechen, sondern statt dessen die Gesetzlichkeiten der Abhängigkeit festzustellen suchen. Wenn ich von »Gesetzlichkeiten« spreche, statt von »Gesetzen«, so will ich damit, nach Art der normativen Gesetzlichkeiten, die Möglichkeiten von Abänderungen andeuten. II. Unter dem Gesichtspunkt der Koexistenz sind zweierlei Betrachtungsweisen möglich, die dynamische und die statische. Wir können hier von »Strukturen« (»Typen«, »Lebensformen«, auch »Gestalten«) sprechen. Im besonderen haben wir demgemäß dynamische und statische Strukturwissenschaften zu unterscheiden. Die d y n a m i s c h e n S t r u k t u r e n des Natur- wie des Kulturlebens beruhen auf dem Zusammenwirken von Tätigkeiten und Entwicklungen. Es ist die Eigenart des g e s c h i c h t l i c h e n Lebens, daß beide Faktoren untrennbar ineinandergreifen. Die Entwicklung beruht auf den Tätigkeiten der theoretisch-motorischen Funktionen und der geistigen Akte; auf der andern Seite setzen alle Tätigkeiten einen bestimmten Entwicklungszustand der Individuen und Völker voraus. Die bekannten Auseinandersetzungen zwischen E. Bernheim und Ed. Meyer haben die Notwendigkeit einer Zusammenfassung finaler und teleologischer Betrachtimgsweisen auf dem Gebiet der »Geschichte« einsichtig gemacht. Die »Geschichte« als Wissenschaft legt daher, als Ergänzung der einseitigen entzeigen lassen (Wahlverwandtschaft in der Chemie). Das ist eins der Kernprobleme des ersten Teiles. Abgesehen von der spekulativen Philosophie finden sich Hinweise bei Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung: Ergänzungen zum zweiten Buch), Lotze (Mikrokosmos), Sigwart (Logik II), Paulsen (Einleitung in die Philosophie), B . Weiß (Gesetze des Geschehens, Arch. f. system. Philosophie I X , 1903, S. 58 ff., 226 S., 491 ff.).

Die Bildungsgehalte (Methodik)

wicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise, sowohl Längs- wie Querschnitte durch die umfassende Ganzheit des wirklichen Lebens. Zur Geschichte gehören demnach sowohl wissenschaftlich-künstlerische, wirtschaftlich-politische und religiöse »Handlungen« (z. B. Entdeckungen, Erfindungen, Kriege etc.) wie auch Entwicklungserscheinungen (z. B. der Kunst oder der Sitte, von Individuen wie von Gruppen). So gibt denn Bernheim abschließend in der 5. und 6. Auflage seines »Lehrbuchs« die Definition: »Die Geschichtswissenschaft ist die Wissenschaft, welche die zeitlich und räumlich bestimmten Tatsachen der Entwicklung (!) der Menschen in ihren (singulären wie typischen und kollektiven) Betätigungen (!) als soziale Wesen im Zusammenhang psycho-physischer Kausalität erforscht und darstellt.« Der Begriff der »psychophysischen Kausalität« (s.u.) kommt allerdings hier nicht zur Klärung. Wie aus dem Vorstehenden bereits hervorgeht, gibt es neben den ü b e r i n d i v i d u e l l e n Strukturen, z. B. von Völkern und Kulturgebieten, auch i n d i v i d u e l l e , z . B . von geschichtlichen Persönlichkeiten. Wir haben unter »Typus« verstanden die gliedhafte Einheit psychophysischer Zuordnungen, bezogen auf einen dynamisch-geistigen Kern. Wenn daher z. B. bestimmte Zahnformeln für bestimmte Gruppen von Säugetieren kennzeichnend sind, so begnügen wir uns nicht mit dieser äußerlichen Feststellung, sondern sind geneigt, diese Abhängigkeiten der Koexistenz auf vitale Kräfte des Organismus einheitlich zu beziehen. Einsichtiger sind diese Zusammenhänge, wenn wir in der »Kulturkunde« die Struktur bestimmter Epochen auf einen geistigen Kern (»Lebensgefühl«) zurückführen. Vor Dilthey haben schon Fr. A. Wolf und Herder die Dichtung der Völker, Fichte das Gebilde des Staates, Savigny die Gestaltung der Rechtsgebräuche, Schleiermacher die Formen der Religion, W. v. Humboldt und J. Grimm die Struktur der Sprache als Erzeugnis innerer Kräfte des Volksbewußtseins (des »Volksgeistes«) erfaßt. In neuerer Zeit ist selbst die besondere Struktur wissenschaftlicher Theorienbildung auf volkhaft verschiedene Kräfte zurückgeführt worden (W. Wundt, Bergson, dagegen aber Benrubi). Die s t a t i s c h e n Strukturen, wobei »statisch« nicht im physikalischen Sinne gemeint ist. Die Mathematik als formalideelle Wissenschaft hat es nicht mit dynamischen Richtkräften irgendwelcher Art zu tun. Es ist vielmehr unten ausführlich

Ändere Einteilungsprinzipien

137

zu zeigen, inwiefern die Herausarbeitung funktionaler Abhängigkeiten der Koexistenz für sie in Betracht kommt. Um auf andere Einteilungsprinzipien mit wenigen Worten einzugehen, so ist zu sagen, daß es keine praktischen und keine angewandten Wissenschaften gibt, sondern nur eine Theorie der Praxis und eine Anwendung der Theorie. Auch die Scheidung von Tatsachenund Gesetzeswissenschaften (Stumpf) ist nicht aufrechtzuerhalten, da die einzelne Tatsache immer nur an der Eingangspforte der Wissenschaft steht. Die Ausdrucksweisen: experimentelle und ebenso vergleichende Wissenschaften beziehen sich nur auf allgemeine Arbeitsweisen. Wenn A. D. Xénopol in seiner Geschichtstheorie die sciences des faits de répétition den faits de succession (faits coexistants) gegenüberstellt, so ist dem entgegenzuhalten, daß Wiederholungsmöglichkeiten kein Kennzeichen für den Wissenschaftscharakter abgeben. Denn nicht nur physikalisch-chemische Vorgänge können sich — übrigens in Wirklichkeit nie exakt in derselben Weise — beliebig oft wiederholen, sondern auch Entwicklungserscheinungen, falls dieselben (oder ähnliche) geschichtlichen Bedingungen und Richtkräfte wieder auftreten. Ich verweise auf die Entdeckung afrikanischer Lautentwicklungen, die den indogermanisch-germanischen Lautverschiebungen sehr nahekommen. — Anknüpfend an die oben (S. 122 f.) herausgestellten »Grundhaltungen« des Verstehens bzw. des Erkennens ist hier hervorzuheben, daß die spezifisch evolutionalen und finalen Betrachtungsweisen der geisteswissenschaftlich-ideenhaften Haltung entsprechen, die kausal-mechanische der physikalisch-begrifflichen . Wir stellen also den Geschichtswissenschaften nicht einfach die Naturwissenschaften gegenüber. Wenn man Natur- und Geisteswissenschaften sondern zu müssen glaubte, so ist schon öfters daran erinnert worden, daß zwischen der (unbelebten) Natur und dem Organischen keine starre Grenze aufzufinden ist. Vgl. E. Rothacker, a. a. O. S. 4 ff. Ist die psychophysische Erscheinung der Phonetik eine Geistes- oder eine Naturwissenschaft ? Daß die Geographie weder in die Geistes- noch in die Naturwissenschaft falle, ist öfters bemerkt worden Wohin gehört die Psychologie ? Immer wieder wird man demgemäß zu einer größeren Mannigfaltigkeit der Standpunkte gedrängt ». Dennoch kann es praktische Bedeutung haben, Physik, Chemie und Biologie als »Naturwissenschaften« von den „Geisteswissenschaften" abzuheben (E. Becher) und schließlich alle Wissenschaften als die Produkte des Kulturmenschen unter dem Ausdruck »Kulturwissenschaften« zusammenzufassen. Auch in der B i o l o g i e hat man immer wieder um eine systematische Einteilung gerungen (vgl. z. B. S. Tschuloks »System der Biologie« 3. Aber die Fülle der Gebiete wird schon in Schleidens System übersichtlich gruppiert: Physiologie und Morphologie. Häckel gebraucht dafür die Bezeichnungen Dynamik und Statik, Cossmann »Vorgänge« und »Beschaffenheit (Struktur)« ! Entsprechend behandelt Hertwig in seinfer Allgemeinen Biologie 1. die Betätigungsweise der Zelle und 2. die Zelle im Verband mit anderen Zellen. Man sieht, daß die Ordnung immer wieder hinauskommt erstens auf die Erforschung a k t i o n a l s u k z e s s i v e r A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s s e (Physiologie, Dynamik etc., auch Biophysik: Tschulok), zweitens m o r p h o l o g i s c h s t r u k t u r e l l e r A b h ä n g i g k e i t e n (Klassifikation). Letztere umfassen einmal s t r u k t u r e l l e A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s s e d e r Mitteilungen der Preußischen Hauptstelle f. d. naturw. Unterricht, Heft 2, Beiträge zum erdkundlichen Unterricht, 1. St. 1919: A. Philippson, S. 25. 1 Vgl. Ed. Sprangers vier Arten des Verstehens, Ber. d. V I I I . Internationalen Kongresses für Psychologie (Proceedings and Papers), Groningen I927i S. 149 f. 3 Kennzeichnend ist K . v. Goebels Ausspruch: »Morphologisch ist das, was sich physiologisch noch nicht verstehen läßt«. Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie, Biologisches Zentralblatt 1905, S. 8z. 1

138

Die Bildungsgehalte (Methodik)

K o e x i s t e n z , sodann im besonderen e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t l i c h gewordene Formen (Genetik, Chronologie etc.). Dieser Gliederung entsprechen auch H. Drieschs drei Typen unseres Wissens vom Gegebenen als »allgemeine Ordnung« der Ereignisse: i . die nomothetische (Aufstellung von Naturgesetzen), 2. die systematische Seite der Naturwissenschaft (Typen der Spezifikation: Form) und 3. die Geschichte (Entwicklungen) So nähert sich H. Driesch auf einem andern Wege der oben begründeten Einteilung. Ähnliche Einteilungsprinzipien klingen auch bei D. Mahnke an, der (auf Husserlscher Grundlage) die mathematisch-funktionalen Beziehungen des Kausalzusammenhangs und das morphologische Entwicklungssystem des teleologischen Zusammenhangs unterscheidet, Koexistenz und Sukzession trennt und auch die kausale Ordnung in den umfassenderen teleologischen Weltzusammenhang »einordnet« (a. a. O. S. 80 fi.). Auf diese und andere Einteilungen (Dilthey, Frischeisen-Köhler und Rothacker; Leisegang und Wechssler) ist weiter unten (literarische Sinndeutung) zurückzukommen.

Die methodische Durchführung des wissenschaftlichen Unterrichts wie die Anlage der Lehrpläne wird sich auf eine normgemäße Einteilung der Wissenschaften gründen müssen. Ist doch durch wissenschaftliche Vertiefung allein das Vielerlei des Unterrichtsstoffes sinnvoll zu ordnen und die Oberflächlichkeit bloßen Wortwissens zu überwinden. Es scheint, als ob die Mathematik und die naturwissenschaftlichen Gebiete auf diesem Wege ernster Wissenschaftlichkeit viel weiter fortgeschritten sind als gerade die philologischen Fächer, die sich nicht selten in Nebensächlichkeiten verlieren und die eigentlichen und letzten Ziele der ihnen zukommenden Aufgaben häufig verfehlen 2 . Nach dieser analysierend-systematischen Übersicht möglicher, d. h. ihrem Gegenstande angepaßter Denkgesetzlichkeiten wenden wir uns nunmehr den komplexen Gegenständen umfassender Wissenschaftsgebiete zu. Dabei ist im Auge zu behalten, daß nicht der Gegenstand der Forschung für sich allein bestimmend ist, auch nicht die menschliche Psyche (wie z. B. in Bacons System), sondern, unserm Ansatz gemäß, die besonderen Relationen zwischen dem (erkenntnis-theoretischen) Subjekt und seinem Objekt, dessen normgemäßer Aspekt sich je nach der Betrachtungsweise ändert (S. 108 ff.). 1. E n t w i c k l u n g s w i s s e n s c h a f t e n

und

Geschichte.

Der Arbeitsbereich dieser Wissenschaften umfaßt außer den »Tätig1

H. Driesch, »Philosophie«, S. 4 f. So schon in der 1. Auflage von 1909. I. S. 13 f. Dafür ist höchst kennzeichnend der treffende Aufsatz H. Biltz' zu den neusten Leitsätzen des Schulausschusses des Hochschulverbandes, Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen 1932, Heft 5/6 bzw. 7/8. Ich stimme den Leitsätzen insofern zu, daß der augenblickliche Zustand der höheren Schule recht unbefriedigend ist, glaube aber nicht, daß er durch die vom Schulausschuß vorgeschlagene Organisation zu verbessern ist. Zuguterletzt ist der »Zersplitterung« und »Verflachung« jedoch nur durch Einheit, Ordnung und »wissenschaftlichen Geist entgegenzuarbeiten«, wie H. Biltz klar sieht. Die ganze Frage ist also wesentlich ein m e t h o d i s c h e s Problem, auf der Schule — wie auf der Universität. 1

Entwicklungswissenschaften und Geschichte

139

keiten« der Menschen noch die »Entwicklung« des einzelnen und der Gesamtheit. Eduard Meyer teilt allerdings, aber mit Unrecht, die biographische Arbeit der Philologie zu. Wenn sich viele Lebensbeschreibungen auf das »Sammeln der Quellenwerke« und die »stofflich-registrierende« Geschichtsschreibung der Archivisten beschränkt haben (Ed. Wechssler, a. a.O.),so hätte doch schließlich alles Äußerliche und Zufällige hinter der Entwicklung der Sollensnotwendigkeiten und dem sich ausrichtenden Ringen einer eingeborenen Existenz zurückzutreten, um das Werden einer individuellen Idee an dem Stoffe der Erfahrung darzutun. Nicht die »Quelle« an sich ist wissenswert und lehrreich, sondern wie der emporstrebende Mensch mit den einzelnen Bedingungen seines Daseins fertig geworden ist. Nur eine solche Deutung lebensvoller Richtkräfte kommt als Bildungsgut für die Jugend in Betracht. Die phylogenetische Entwicklungsgeschichte ist ihrem Umfang nach K u l t u r g e s c h i c h t e , d.h. sie beschränkt sich nicht auf die politische Geschichte, wie E . Gothein gegen Dietrich Schäfer erwiesen hat, sondern sie schließt alle Gebiete menschlicher Kultur ein: Ideengeschichte der Wissenschaft, der Kunst, des wirtschaftlich-praktischen Lebens, der Gesittung (Politik!), des Rechts und der Religiosität. Zur politischen Geschichte gehören die innerpolitischen Probleme (Kampf der Parteien, der Stände und Berufe; Verfassungsfragen) und die Fragen der äußeren Politik. Die Entwicklung aller dieser Kulturgebiete greift wechselseitig ineinander. Es war daher ein verfehltes Unterfangen der älteren historischen Schulen, den Akzent grundsätzlich auf die politische Geschichte zu legen. Auch der Geschichtsunterricht hat alle diese Zusammenhänge des N a c h und Miteinander darzustellen. In diesem Ganzen »sind« dann — ohne erst »gemacht« zu werden — die »Querverbindungen« mit anderen Unterrichtsgebieten bereits gegeben, die nun ihrerseits einzelne Teilfragen zwanglos wiederaufnehmen (z. B. Deutsch, Fremdsprachen). Hier liegt dann die Art von Verknüpfung vor, die wir »stoffliche K o n z e n t r a t i o n « genannt haben (S. 102). Sie stellt die ursprüngliche Einheit des Lebens im »Gesamtunterricht« wieder her. Eine zweite Art der Unterrichtseinheit, die »methodische«, leitet zur Frage nach der G e s e t z l i c h k e i t , namentlich nach den »historischen Gesetzen« über. Gibt es überhaupt Gesetzlichkeiten der Entwicklung? Jakob Burckhardt hat sich allerdings Schopenhauer angeschlossen und behauptet in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« : »Die Geschichte ist ja überhaupt die unwissenschaftlichste aller Wissenschaften . . . « E s war das Geschick der Historie, daß sie gleich nach ihrer Geburtsstunde als Wissenschaft, seit dem Kampfe der »historischen Schule« gegen Hegel und der philosophischen Kritik an dieser großen Geschichtskonzeption (z. B. Trendelenburg) bis auf den heutigen Tag (Troeltsch, Grisebach) um ihre Anerkennung ringen mußte. In seiner bekannten Rektoratsrede unterscheidet W . Windelband zwischen nomothetischen

140

Die Bildungsgehalte (Methodik)

und idiographischen Wissenschaften.

Die ersteren sollen das Allgemeine in der Form des

Naturgesetzes suchen, die letzteren das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt. Die nomothetischen Wissenschaften betrachten als Gesetzeswissenschaften die sich immer gleichbleibende Form des Naturgesetzes; die idiographischen als Ereigniswissenschaften den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. Wir werden sogleich sehen, daß sich auch der Charakter von Gesetzeswissen mit der letzteren Formulierung in Einklang bringen läßt, da auch das Einmalige gesetzlicher Art sein kann, insofern es als n o t w e n d i g zu erweisen ist.

Im Anschluß an Windelband behauptet H. Rickert: Die Naturwissenschaft

ist »eine Wissenschaft von dem, was sich an keinen bestimmten Ort und an keine bestimmte Zeit knüpft, sondern allgemein, überall und für immer gilt«.

Die Geschichtswissenschaft

ist dagegen »eine Wissenschaft von dem einmaligen und individuellen Geschehen«. Individuelle und Einmalige allein ist w i r k l i c h

geschehen«.

»Das

Die empirische Wirklichkeit

»wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle«.

Diese

scharfen, von der Methode ausgehenden Abgrenzungen,

die

Rickert später noch vervollkommnet hat, bieten einen geeigneten Ansatzpunkt.

Wir gehen daher in einer individualisierenden Betrachtung von

der Beschreibung des Einmaligen aus und unterscheiden folgende Forschungsweisen : 1. Die s t a t i s c h e Beschreibung, d. h. die Feststellung einer besonderen und einmaligen Realität zu einer gewissen Zeit und an einem gewissen O r t x . 2. Die g e n e t i s c h e

Beschreibung, z. B . die Feststellung eines L a u t -

wandels, nach Ort und Zeit bestimmt.

Diesen können wir wohl »erkennen«,

aber noch nicht »verstehen«. 3. Die d y n a m i s c h e Beschreibung.

Sie geht über die positivistische

Auffassung hinaus, indem sie den Wandel der Entwicklung auf bestimmte Richtkräfte bezieht.

W . v. Humboldt (Aufgabe des Geschichtsschreibers

S. 94 f.) spricht von Ideen, die sich einmal als »Richtung« und sodann als »Krafterzeugung« äußern!

Die Richtkräfte sind, wie der Name sagt,

solche Kräfte, die auf Richtpunkte, d. h, das Reich der Werte, hin-gerichtet sind. Mit der Erfassung dieser Richtkräfte setzt das V e r s t e h e n ein.

Die

Beziehung der Kulturgüter auf Werte ist von H. Rickert schon in seiner Schrift »Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft« hervorgehoben worden. Die Selbstentfaltung des Geistes in der Entwicklungsgeschichte ist, in verschiedener Auffassung, von Leibniz, Herder, Kant, Hegel, Humboldt, Dilthey und seiner Schule, von E . Cassirer, von K . Voßler Croce) eingesehen worden.

(Benedetto

E s gilt aber nun, sich über die verschiedenen

Arten geschichtlich wirkender R i e h t k r ä f t e klar zu werden. E s leuchtet ohne weiteres ein, daß alle Arten von Sinnrichtungen die Entwicklung der Kultur herbeigeführt haben: das theoretische Streben nach Klarheit, das ökonomische Drängen auf Kraftersparnis, das sittliche Verlangen nach 1

Auch Ferd. de Saussure, Cours de linguistique générale, unterscheidet la linguistique

statique ( = synchronique) von der linguistique évolutive

( = diachronique).

Entwicklungswissenschaften und Geschichte

141

machtvollem Sich-Durchsetzen und gütiger Rücksichtnahme, die religiöse Haltung des In-Gott-Geborgenseins. Hier liegen die Mächte, die mit- und gegeneinander, in dauernder Spannung die Kulturentwicklung ausgerichtet haben. Müller-Lyer spricht daher mit Recht in seiner »Phaseologischen Methode der Soziologie«, gegen die sich im übrigen auch mancherlei einwenden ließe, von der »Richtungslinie« der Kulturentwicklung. Ranke gebraucht das Wort »Ideen« für die Dynamik geschichtlichen Werdens. Aber alles hast Du selbst vollendet, heilig glühend Herz! Wenn Dilthey von »Trieben und Gefühlen« spricht, die das eigentliche Agens bilden, das »vorwärts treibt«, so müssen wir zugestehen, daß neben den geistigen Akten auch die Triebe (i. e. S.) das menschliche Wirken bestimmen (Ausdrucksbewegungen!), die Entwicklung aber nur, insofern ihnen ein Einschlag des Geistigen (Instinkt), d. h. willentlicher Richtung eigen ist (vgl. oben i. Teil). Erst der Aufweis der Richtkräfte führt zu einer ideengeschichtlichen Behandlungsweise des historischen Lebens: Rechtfertigung des Idealismus! Diese Richtkräfte sind somit der entscheidende Faktor aller Entwicklung der (organischen) Natur sowohl wie der Kultur. Daneben darf man jedoch die B e d i n g u n g e n , die allem Wandel zugrunde liegen, nicht vernachlässigen. Ich habe äußere und innere Bedingungen unterschieden (oben S. I i ff.). Die äußeren Bedingungen, z. B. Klima und elementare Gewalten, wirken niemals direkt auf den Gang der Entwicklung ein. Denn die Richtkräfte können nur innere Bedingungen, also Erlebtes, d. h. die gegenständlichen, zuständlichen oder Denkbestimmungen unseres Bewußtseins ausrichten. Die ontogenetische wie die phylogenetische Entwicklung hängt schließlich auch noch von zufälligen Umständen ab. Unter »Zufall« verstehe ich die Durchkreuzung mehrerer Tätigkeiten bzw. Entwicklungsreihen. Es kann z. B. die Entwicklung einer Person durch eine Krankheit jäh abgebrochen werden. Die Krankheit selbst ist aber kein Zufall. Die G e s e t z l i c h k e i t einer Entwicklungserscheinung beruht nun darauf, daß unter gleichen Bedingungen und Richtkräften eine gleiche Entwicklung erfolgt. Diese Aufeinanderfolge wird von uns als n o t w e n d i g hingenommen, vielleicht weil wir unsere eigene Entwicklung als notwendig erleben, wie wir auch alle Entwicklung v e r s t e h e n nur von den selbsterlebten Geltungsforderungen der Werte aus. Gesetzmäßig heißt also zunächst »notwendig«, erst im abgeleiteten Sinne »allgemein«, insofern wir nämlich überzeugt sind, daß dieselbe Verkettung von den gleichen Bedingungen und den gleichen Richtkräften auch allgemein zu denselben Entwicklungsergebnissen führen wird. Demnach sind die Gesetzlichkeiten der Entwicklung allerdings anderer Art als die der aktionalen Abhängigkeiten, aber auch hier ist der notwendige Zusammenhang zwischen »Ursache«

142

Die Bildungsgebalte (Methodik)

{causa occultal) und Folge nur ein angenommener — mit Ausnahme der finalen Tätigkeiten, wo das Motiv als Wirkursache ebenso wie die Folge erlebt wird. Was weiterhin das Moment der V o r a u s s a g e betrifft, das auch zum Wesen des Gesetzes gehören soll, so ist die (quantitative) Zuordnung von Ursache und Folge auf dem Gebiete der Natur in der Regel verhältnismäßig eindeutig gegenüber der unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Bedingungen, (sinnbezogenen) Richtkräften und Umständen der Entwicklungsphänomene wie auch des menschlichen Handelns. Außerdem haben es die empirischen Wissenschaften grundsätzlich nicht mit der Zukunft zu tun, sondern nur mit dem, was gewesen ist (Lotze, a.a.O. S . 4 f . ) . Denn niemand kann vorhersagen, ob selbst die Naturgesetze tatsächlich den erwarteten Verlauf nehmen oder in irgendeiner Weise durchkreuzt werden. Mit der Möglichkeit einer Verallgemeinerung individueller Entwicklungsgesetzlichkeiten, wie sie in der Tat in der Sprachwissenschaft, namentlich der Lautlehre, vorliegen, geht die individualisierende Betrachtungsweise in die g e n e r a l i s i e r e n d e über. Es handelt sich aber in diesem Falle nicht um Verallgemeinerungen, um »vage Allgemeinheiten«, wie sie z. B. Ed. Meyer an K. Lamprechts Forschung getadelt hat, sondern immer nur um die Einordnung von Einzelheiten in notwendige Zusammenhänge. Das nennen wir »erklären«. In diesem Sinne sagt auch H. Cornelius in seiner »Einleitung«: »Überall wird die Erklärung dadurch zuwege gebracht, daß das Vereinzelte . . . als Glied eines größeren Zusammenhanges aufgefaßt wird und dadurch den Charakter des Ausnahmsweisen verliert, uns als ein in diesem Zusammenhange N o t w e n d i g e s verständlich wird.« Ganz anders liegen die Verhältnisse jedoch da, wo wir empirisch eine Regelmäßigkeit (Gleichförmigkeit) erfahren, ohne den Zusammenhang von Bedingungen, Richtkräften und dem Ergebnis einzusehen, z. B. in der Nationalökonomie . Die gegen Karl Lamprecht gerichtete Kritik ist insofern begründet, als er eine »Ideenlehre« und eine »zweckhafte« Richtung ablehnt und die Durchführung »des kausalen Gedankens« betont. Wenn er »nicht das Singuläre feststellen« will, sondern »das Allgemeine«, so weist er in seinen »sozialpsychischen Entwicklungsstufen« wesentlich die S t r u k t u r großer Entwicklungsperioden auf (den »Konventionalismus« des Rittertums, den »Individualismus« des 16. Jahrhunderts etc.), d. h. er zeigt Gesetzlichkeiten der Koexistenz, wie andere Historiker vor und mit ihm, z. B. Ranke oder Dilthey. Blicken wir zurück auf die bisherigen »einseitigen Geschichtsauffassungen« (P. Barth), so beachtet die anthropogeographische und die ökonomische Richtung in erster Linie die B e d i n g u n g e n der geschichtlichen Entwicklung. Der Marxismus enthält außerdem, trotz seines Hegeischen Ursprungs, materialistisch-mechanische Elemente naturwissenschaftlicher Kausalität und einen Einschlag von Fatalismus des Weltgeschehens. Darin mischen sich noch Gefühlsmomente eines Ressentiments und die einseitige Konstruktion des homo oeconomicus mit triebhaft-biologischen Tendenzen. Die ethnologischen und noch stärker

Entwicklungswissenschaften und Geschichte

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die ideologischen Auffassungen betrachten vor allem die R i c h t k r ä f t e des Kulturlebens. Die individualistische bzw. die kollektivistische Geschichtsauffassung beschäftigen sich vorzugsweise mit dem jeweiligen Träger der Richtkräfte. Für die politische Auffassung ist dies der Staat. Bei H. Taine, geschult an Carlyle, Sainte-Beuve und Stendhal, fließen in jedem der drei Begriffe (bzw. Ideen): race, milieu, moment sowohl ruhende Bedingungen wie wirkende Kräfte ineinander. Die kulturgeschichtliche Auffassung zieht schließlich mehr den weiteren oder engeren Rahmen (Kultur — Zivilisation — Natur) der Entwicklung und ihre Gehalte in Betracht. Die Stellung des Menschen zum Weltgeschehen, so wie sie sich in der schönen L i t e r a t u r widerspiegelt, sieht bald mehr in den äußeren Umständen bzw. den Bedingungen bestimmende Einflüsse (Schicksalsdrama, Naturalismus: Milieu und Vererbungstheorien), bald in der autonomen Persönlichkeit (Renaissance, Barock, Idealismus), bald in der Fügung Gottes (Mittelalter). Auch in der B i o l o g i e können wir entsprechende Auffassungen und Deutungsversuche der »Natur« verfolgen. Dabei treten aber verschiedene Schwierigkeiten auf. Einmal sind die Begründer neuer Ansichten von ihren Nachfolgern und Anhängern nicht immer richtig verstanden worden, wie H. Driesch in seiner »Philosophie des Organischen« erwiesen hat. So ist z. B. Darwins Lehre und der (dogmatische) Darwinismus wesentlich verschieden. Sodann durchkreuzen sich in der Terminologie die mannigfaltigsten Bedeutungen. Die Auslese durch den Kampf ums Dasein enthält zweifellos — und insofern gleicht der Darwinismus (und Darwins Lehre) dem Vitalismus — ein dynamisches Element des ÜberlebenWollens und -Könnens, des Ausgerichtetseins. Aber darin ist auch der Gedanke des Angepaßtseins in die Lebensbedingungen. Aber der Begriff der Anpassung ist an sich schon ungemein vieldeutig, wie wir im ersten Teil gesehen haben. Ähnlich steht es um den Lamarckismus. Die Lehre Lamarcks und der (dogmatische) Lamarckismus fallen nicht zusammen. Wenn der Lamarckismus und mehr noch der Neolamarckismus die Artenbildung auf das Bedürfnisprinzip zurückführt, d. h. annimmt, daß der Organismus fähig sei, sich jedem Wechsel der Umgebung anzupassen, also mit einer aktional-morphologischen Änderung zu reagieren und solche zufälligen Variationen festzuhalten, so haben wir erstens wieder ein dynamisches und zwar jetzt ausgesprochen spontanes Moment der Selbstausrichtung und zweitens den Begriff der Anpassung in entwicklungsgeschichtlicher Färbung. August Weismanns Theorie und Wilhelm Roux 'Theorie bzw. Experimente, fortgeführt und widerlegt bzw. richtig gedeutet, führen geradlinig zu H. Drieschs Lehre, die uns das Ineinandergreifen von Bedingungen (im Experiment: Änderung der Temperatur, Verdünnung des Seewassers, physischer Druck) und der »Autonomie des Lebens«, einer Entelechie der »Ordnung«, der Selbstausrichtung dartut. Alle entwicklungsgeschichtliche

Forschung

ist, ihrem Wesen

ent-

sprechend, mit zwei niemals zu überwindenden Schwierigkeiten belastet, die vielfach ineinandergreifen: i . Wirhabenoben(S.i2Öf.) gesehen,daß die » o b j e k t i v e « Feststellung äußerer Sachverhalte nach Art der mathematischen Physik nicht die letzte Aufgabe einer verstehenden Geschichtsforschung sein kann. Das Gegebene ist immer das Aufgegebene; für die geschichtliche Forschung gilt das im besonderen Sinne. Schon Schleiermacher hat darauf hingewiesen, wie wenig das Subjekt sich selbst versteht; so muß denn das überlegene, geweitete und vertiefte Wertbewußtsein des Gelehrten (und Künstlers 1), in der aufsteigenden Linie wissenschaftlich-verstehender Forschung, die Vergangenheit für jeden Zeitabschnitt neu erobern bis in alle Ewigkeit.

144

Die Bildungsgehalte (Methodik)

Mit Subjektivität hat diese Betrachtungsweise nichts zu tun, denn über der persönlichen Leistung steht die überpersönliche Forderung, den als Aufgabe vorgegebenen und n o r m g e m ä ß e n Ausgleich zwischen den Besonderheiten des Gegenstandes (die Fundamente) und den Nonngesetzlichkeiten des Subjekts zu finden J . Wir können daher Max Webers Resignation nicht teilen, sondern weisen dem Historiker die Aufgabe zu, aus seiner geklärten Werteinsicht wie aus seiner Sachkenntnis, so frei von Vorurteilen und von Emotionalität (Ressentiment!) wie nur irgend möglich, sowohl die Bedingungen als auch die Richtkräfte geschichtlicher E n t w i c k l u n g aufzufinden und in ihrer Ganzheit zu beschreiben; im Falle geschichtlicher H a n d l u n g e n die Motive der Handelnden und deren gewählte Mittel darzustellen. Die k r i t i s c h - w e r t e n d e Stellungnahme hat der Einzelwissenschaftler dem Ethiker, Ästhetiker usw. zu überlassen. Die A n w e n d u n g einer Einsicht muß er dem handelnden Politiker, dem Sozial- und dem Nationalpolitiker anheimstellen. Wenn der Professor der Nationalökonomie praktisch Stellung nimmt, Ziele setzt und die angemessene Wahl der Mittel abwägt, so haben wir es nicht mehr mit reiner Wissenschaft, sondern mit ihrer Anwendung zu tun (vgl. oben S. 98). Sie wagen das Leben und messen ihr Wagnis an den Forderungen des praktischen Lebens. Wieder ganz anders der Lehrer! E r soll über die wissenschaftliche Darstellung hinaus auch die M ö g l i c h k e i t e n wertender Stellungnahme aufzeigen und gegeneinander abwägen. E r hat aber nicht zu politisieren im parteipolitischen Sinne und für seine persönliche Weltanschauung zu werben — sonst wird die Schule ein Politikum. Aus der Kennzeichnung der Entwicklungsrichtung, der Struktur der verschiedenen Zeitalter, der Beweggründe führender Geister ergibt sich ihre verschiedene Höhenlage, eine verschiedene Normgemäßheit. Die Schwierigkeit besteht nur, wie immer wieder hervorgehoben, in der unlösbaren Aufgabe, fremdes Seelenleben in seiner Wertsehnsucht als ein Ganzes einzusehen und im Hinblick auf eine Norm angemessen einzuschätzen. Das setzt ein geläutertes Wertverständnis voraus, die der Theorie als dauernde Forderung aufgegeben ist. Von dem gegebenen Standpunkt aus wird erst eine Auswahl der historischen Kulturgüter in bezug auf ihren Bildimgswert möglich. Die Auswahl wird bestimmt einmal gegenständlich durch die Werthöhe der »Bildungsgüter«, sodann persönlich durch die Forderungen des Individuums wie der überindividuellen Gesellschaftsgruppen: Familie, Landschaft, Volk, Menschheit, Staat, Kirche. (Über die Begründung von Nonnen s. die 1 Vgl. Ed. Sprangers Akademierede; E . Troeltsch, a. a. O. S. 65 ff.; Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München u. Leipzig 1919. Vgl. E . Krieck, Die Revolution der Wissenschaft, Jena 1920.

Entwicklungswissenschaften und Geschichte

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späteren Ausführungen über Denkformen, Normen der Kunst und Arbeitsmethoden.) 2. Fragt man nach dem Sinn der Ordnung und Selbstausrichtung, nach dem R i c h t z i e l der E n t w i c k l u n g , so fällt auf, daß von den verschiedenen Wissenschaften bzw. Forschern ganz verschiedene Gesichtspunkte, meist in einseitiger Weise, in den Vordergrund gerückt werden. Ist alle Entwicklung wesentlich Ausstrukturierung, d. h. Differenzierung und Integrierung (s. d. i. Teil), so betonen die Biologen (z. B. J . v. Uexküll) die mit der D i f f e r e n z i e r u n g verbundene Zunahme der W i r k f ä h i g k e i t . Diese Leistungsfähigkeit ist auch auf kulturellem Gebiete in der hinter uns liegenden Zeit gepflegt worden: sie wird einem Zeitalter der Brüderlichkeit, der Leistungsfähigkeit u n d der Güte, weichen müssen! Von biologischer Seite wird die Bedeutung der G a n z h e i t hervorgehoben (H. Driesch, E . Ungerer), einschließlich des Faktors »Umwelt« ( J . v . Uexküll). Dabei wird der Lustbetrag als das Agens aller Entwicklung betont (vgl. oben S. 48 f.), worin mir gerade die eigentliche Problematik aller Entwicklung zu liegen scheint. Von philosophischer Seite wird die Steigerung des B e w u ß t s e i n s g r a d e s zum Kriterium des »Fortschritts«gemacht. Das ist der Grundgedanke der »trois etats« Turgots, Saint-Simons und Comtes (theologisches — metaphysisches — positivistisches Stadium), der fünf Entwicklungsstufen Fichtes, der Ideen Schellings und Hegels: die Weltgeschichte als der Prozeß, in dem der Geist zum Bewußtsein seiner selbst kommt. In neuerer Zeit ist dieselbe These verfochten worden von Simmel (steigende Kultur als »allgemein steigendes Bewußtsein«), von P. Barth, von Lamprecht, von Natorp (drei Stufen der menschlichen Aktivität: Trieb, Wille, VernunftWille), von psychologischer Seite (K. Bühlers Stufentheorie: Instinkt — Dressur — Intellekt) und auf naturwissenschaftlichem Gebiet (E. Mach: Reflex — Instinkt — Wille — Ich). Dasselbe wird für die ontogenetische Entwicklung behauptet: Der Weg führt (nach W. Stern) »von der einfachen Willenshandlung zur Wahl- und Vernunfthandlung; von dem Haften an der unmittelbaren Gegenwart zu einer immer souveräneren Fähigkeit, auch das Abwesende und Ferne, das Vergangene und Zukünftige mit einzuschließen und zu berücksichtigen«. Einseitig entwickelt, führt diese Überschulung des Verstandes persönlich zu einer Aufspaltung der individuellen Ganzheit, wissenschaftlich zu einer logizistischen Verengung der Philosophie, zu der Künstelei reflektierten Kunstschaffens, dem Dogmatismus oder dem »theologischen Denken« auf religiösem Gebiet und dem Rationalismus unseres Wirtschaftslebens. So trägt die zunehmende Bewußtseinssteigerung das Ende alles Irrational-Triebhaften, den Keim des Todes in sich, ist Sieg und Untergang zugleich. Die Idee der »Klärung« will dagegen diese Einseitigkeiten überwinden (S. 45 t.) im angemessenen Ausgleich a l l e r Fähigkeiten.

Wir fragen nunmehr nach dem B i l d u n g s w e r t der evolutionalen und aktionalen Betrachtungsweise für den Unterricht. Wenn auf jedem Wissenschaftsgebiete die Richtkräfte als die großen »Richtlinien« herausgearbeitet werden, und zwar mit der bereits oben betonten Vorsicht und Strenge der Zurückhaltung, so kommt »Ordnung« in die Mannigfaltigkeit der EinzelOtto, Unterncbtsl ehre. XO

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

tatsachen eines Gebietes 1 . Sodann treten innerhalb verschiedener Wissenschaften die gemeinsamen Grundrichtungen des Geistes heraus als das eigentliche Apriori aller Kultur. Sind doch alle Wissenschaften aus der einheitlichen Struktur des menschlichen Geistes geboren; sie müssen daher auch alle die gleiche Grundstruktur im Aufbau ihres geistigen Gefüges aufweisen. So und nur auf diese Weise ist eine Übersicht über bloße Tatsachen möglich, nur so kann der sich immer wieder vordrängende Enzyklopädismus mechanischer Stoffanhäufunginder Schule vermieden werden. Eine geordnete Einsicht in die Geschicke der Völker und Führer und ihr Tun gibt daneben in m a t e r i a l e r Hinsicht Menschen- und Weltkenntnis und schärft den Blick für Wesen und Wegrichtung des eigenen Ich. Konkret drängende Fragen des nationalen Lebens, Kriegsschuldlüge und Kolonialproblem, Grenz- und Auslanddeutschtum werden eingesehen im größeren Zusammenhang eines einheitlichen Weltgeschehens. Das geklärte Wissen und Nacherleben der uns nun einmal aufgegebenen Kultur, der Taten überragender Geister zwingen zur Nachfolge und Opferbereitschaft, zu nationaler Würde und Selbstbehauptung, in stiller Pflichterfüllung oder heldischer Größe. Staatsbürgerliche Erziehung! Formal b i l d e n d (im geistigen Sinne) ist allein das Erlebnis und Verständnis geistigen Seins und Geschehens. Wie die neuere Wertphilosophie hervorhebt, zeigt jede neue Werteinsicht neues Werthafte oder auch Wertwidrige an den Erscheinungen; jedes sinndeutende Eindringen in das Geschehen macht auf neue Wertverhältnisse aufmerksam. Durch Versenkung in die Richtkräfte kommen wir zur eigenen Ausrichtung; das Studium der Humaniora, im weitesten Sinne verstanden, ist das Tor zur Humanität; nur durch Kultur, nicht durch Zivilisation, d. h. Kenntnis von bloßen Daten und Tatsachen, vermag Kultur zu wirken und das Geistige im Menschen zu entzünden. Die formale S c h u l u n g (im funktionalen Sinne) durch Geschichtsdeutung trägt einen wesentlich andern Charakter als die »exakte« mathematisch-naturwissenschaftliche Denkschulung. Sie weckt nicht nur »geschichtliches Verständnis«, schärft das »historisch - politisch - kulturelle Urteil«, wie Fr. Friedrich, Ul. Peters, Th. Litt, E. Weniger übereinstimmend b e t o n e n s o n d e r n erzieht zur Besonnenheit und Selbstkritik. Man ver1

Paul de Lagarde, Deutsche Schriften, Göttingen 1891, S. 179: »In hundert Fällen

wird aus dem Nebeneinander ein Widereinander oder eine Neutralisation, das heißt, gar nichts.« A u c h nach H. Nohl, Die Geschichte in der Schule, Göttinger Studien 1926, wie nach E . Weniger, Nohl-Pallat, Handb. d. Pädagogik I I I , 1 (S. 49), ist es Aufgabe des Geschichtsunterrichts,

die

überzeitliche

Struktur des

geschichtlichen

Lebens,

den

»Geist

sichtbar« zu machen, der in den Werken der Menschheit lebendig ist. 1

F . Friedrich, Stoffe und Probleme des Geschichtsunterrichts in höheren Schulen,

Leipzig u. Berlin 1925; Der Sinn des Geschichtsunterrichts, 7. Erg.-Heft, 1(927; Th. L i t t ,

147

Entwicklungswissenschaften und Geschichte

gegenwärtige sich den subjektiv-relativen Charakter aller geisteswissenschaftlichen Überlieferung und Deutung, die weltanschauliche Standpunktbedingtheit aller perspektivischen Sicht; weiterhin die unendliche Komplexität alles gesellschaftlichen Seins, die uns Th. Litt (Individuum und Gemeinschaft) vor Augen geführt hat. Auch die Flucht in eine intuitivkünstlerische Zusammenschau der Ideen und ihre Verlebendigung im Nacherleben, wozu sich Erich von Kahler gegenüber der »alten Wissenschaft« des Rationalismus gedrängt sah, kann keine Rettung bringen. In der Schule muß die Schwere dieser Sachlage der Jugend zur erschütternden Überzeugung gebracht und ihr damit die unabweisbare Verpflichtung zu strenger Wahrhaftigkeit und Zurückhaltung auferlegt werden. Wenn der Aufforderungs- und Geltungscharakter der Wahrheitsidee so tief erlebt und denkend erfaßt wird, ist auch die höchste Aufgabe s t a a t s b ü r g e r licher Erziehung geleistet, die Hinführung zur Verantwortlichkeit des Stellungnehmens und des Sprechens, als Vorbedingung vernünftigen und entschlossenen nationalen und humanen Handelns. — Ich schließe diesen Abschnitt mit einer Zusammenfassung der a l l g e meinen t e c h n i s c h - m e t h o d i s c h e n P r i n z i p i e n der Stoffauswahl bzw. Unterrichtsmethodik, die mithin auch für andere Fächer Geltung beanspruchen. Die ersten drei sind in kürzester Formulierung in Comenius' Linguarum methodus novissima (Kap. 10) aufgewiesen: propiora ante remotiora, regularia ante irregularia, generalia ante specialia. Der erste Grundsatz, das Nahe vor dem Fernen zu treiben, entspricht der Idee des Heimatgedankens. Der zweite, das Regelmäßige vor dem Unregelmäßigen, ist dahin abzuändern, daß die Unregelmäßigkeiten, z. B. die sogenannten »Ausnahmen«, mit dem Regelmäßigen anzueignen sind (siehe z. B. unter Spracherlernung). Dieser Grundsatz berührt sich mit dem dritten, das Allgemeine vor dem Besonderen zu lernen. E r findet seinen Ausdruck in der (organisatorischen) Einrichtung des heutigen Gesamtunterrichts sowie in der Grundforderung des a n a l y t i s c h - s y n t h e t i s c h e n Unterrichtsprinzips 1 (Stoffverteilung der konzentrischen Kreise). Letztere Forderung Geschichte und Leben. Probleme und Ziele kulturwissenschaftlicher Bildung, Leipzig u. Berlin 1925; Ul. Peters, Von Bildungswert und Bildungsziel des Geschichtsunterrichts. Zeitschr. f. deutsche Bildung III, 1927; Der deutschkundliche Geschichtsunterricht. Grundlegung und Zielsetzung. Erfurt (Stenger) 1928; Methodik des Geschichtsunterrichts an höheren Lehranstalten, Handb. des Unterrichts an höheren Schulen, Frankfurt (Main) 1928; E . Weniger, Die Grundlagen des Geschichtsunterrichts, Leipzig u. Berlin 1926. 1 Da das Ganze vor den Gliedern liegt und da alle Entwicklung unsystematische Ausgliederung ist (s. o. S. 8 f.), so muß dementsprechend alles systematische Lernen wesentlich ein Prozeß der ganzheitlichen Analyse sein, wobei allerdings das Moment der Ganzheit unter dem Zerrupfen und Zerzupfen des »Stoffes« wie der Menschen nur allzu oft untergeht. Die Gestaltpsychologen betonen, daß in dem Gefügezusammenhang einer Gestalt 10*

148

Die Bildungsgehalte (Methodik)

ist auch grundlegend für den Geschichtsunterricht. Wenn Ereignis an Ereignis gereiht wird, in synthetisch-konstruktiver Weise, ohne daß der große Rahmen bekannt ist, in dem das einzelne gesehen und verstanden wird, so ist die Summe nichts anderes als ein Sammelsurium. Schließlich wird die Vergangenheit erst verstanden von der erlebten Gegenwart her. An diese Grundsätze reihen sich organisch ein vierter und ein fünfter: die Forderung des Erlebnisses und der Veranschaulichung. Das E r l e b n i s eines unzergliederten Sinnganzen ist von Wilhelm Dilthey, namentlich im »Aufbau der geschichtlichen Welt«, als Voraussetzung alles Verstehens eindringlich geschildert worden. Die Eigenart eines sinnhaltigen Gesamterlebnisses besteht darin, daß ein Kulturgebilde in seiner Totalität auf gefühlsmäßiger Grundlage unmittelbar erfaßt wird, und zwar liegt der Akzent auf dem Erleben einer eigenen Zuständlichkeit. Beide, das Erleben und das Verstehen, setzen eine allgemeine apriorische Wertstruktur des Weltganzen voraus, auf der sich alle geschichtlich-empirischen Ausprägungen aufbauen. Die analysierende Sinndeutung des Verstehens bewirkt eine allmähliche Aufhellung, Weitung und Vertiefung der Wertempfänglichkeit und Werteinsicht, die in wechselseitiger Steigerung unbewußt und auch bewußt in der Selbstbesinnung einander durchdringen. Darauf ist besonders von Ed. Spranger hingewiesen. Erst im abschließenden Gesamterlebnis geklärten Verstehens kann sich der Prozeß der Menschenformung vollziehen. Damit hängt die Forderung der V e r a n s c h a u l i c h u n g als Grundlage des Erlebens, des Verstehens wie des Erkennens aufs engste zusammen. In seinen »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« dehnt Rickert den »Begriff des historischen Begreifens« so weit aus, daß er auch »die anschaulich erfüllten historischen Begriffe mit umfaßt«. Die Überschau des klaren und lebendigen Lehrervortrags, das Selbststudium »das Ganze und seine Glieder sich wechselseitig mitbestimmen, mit einem erschemungsmäßigen und funktionalen Vorrang des Ganzen«, weiterhin, daß die strukturelle Angelegtheit der Seele eine allgemeine Tendenz auf Gestaltetheit schlechthin besitzt. Alles Denken als Komplexergänzung setzt das Vorhandensein eines Komplexes voraus, wie das Lernen nur Strukturieren von Ganzheiten ist. Auch im Akt der Wahrnehmung werden zunächst einige hervorstechende Teile eines Ganzen aufgefaßt und dann der (sinnhafte) Grundcharakter eines Gegenstandes als Gesamtgestalt erkannt, bevor noch die Einzelheiten erfaßt sind. Vgl. Fr. Sander, Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie, Bericht über den X . Kongreß f. experim. Psychol. 1927, Jena 1928; F . Krueger, Der Strukturbegriff in der Psychologie, Bericht über den V I I I . Kongreß f. experim. Psychol. 1923, Jena 1924, S. 44 f. Danach ist Struktur: »ein g e g l i e d e r t e s und in sich r e l a t i v g e s c h l o s s e n e s d i s p o s i t i o n e l l e s G a n z e s ; und bei allen T e i l s t r u k t u r e n haben wir zugleich den d i s p o s i t i o nellen Z u s a m m e n h a n g mit dem p s y c h o p h y s i s c h e n G e s a m t g e f ü g e , dem sie eingegliedert sind, stetig mitzubeachten.« Dazu J . Lindworsky, Zum Problem der Gestalttäuschungen, Archiv f. d. ges. Psychol. 71 (1929); H. Werner, Studien über Strukturgesetze I, Zeitschr. f. Psychol. 94 (1924), S. 248 ff.

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illustrierender .Quellen sowie die praktischen Veranschaulichungen am Leben der Gegenwart und abschließend die Befestigung des Erlebten und Verstandenen unter Benutzung des Lehrbuches müssen daher zusammenwirken, um den Bildungsakt am historischen Bildungsgut zu ermöglichen und ihm Dauer zu verleihen. Der sechste und letzte Grundsatz ist der der Jugendgemäßheit. Der Akt methodischer Schulung und Bildung kann sich nur entfalten, wenn außer dem subjektiven Erleben auch ein normgemäßes Durchdenken und Verstehen vorausgesetzt werden darf, vor allem, wenn der Schüler nicht nur verstehen kann, sondern verstehen will. Und davon hängt alles ab. L i t e r a t u r : P. Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie I, Leipzig 1915. — E . Becher, Geisteswissenschaften und Naturwissensch., München u. Leipzig 1921. — E . Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1908. — W. Brand und M. Deutschbein, Einführung in die philosophischen Grundlagen der Mathematik, Frankfurt (Main) 1929. — E. Cassirer, Substanzbegrifi und Funktionsbegriff, Berlin r 923. — J . Cohn, Geist der Erziehung, Leipzig u. Berlin 1919. — H. Cornelius, Einleitung in die Philosophie, Leipzig u. Berlin 1921. — H. Driesch, Philosophie des Organischen, 1928; Wirklichkeitslehre 1930; Logische Studien über Entwicklung II, Sitzungsber. d. Heidelberger Akademie d. Wiss., phil.-historische Klasse, 1919, 18. Abhandlung. — Geschichtliche Abende, Berlin 1918. — E. Gothein, Die Aufgaben der Kulturgeschichte, Leipzig 1889. — Eb. Grisebach, Gegenwart. Eine kritische Ethik, Halle 1927. — M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1928. — Th. L. Haering, Hauptprobleme der Geschichtsphilosophie, Karlsruhe 1925. — E . v. Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920. — Fr. Kaufmann, Geschichtsphilosophie der Gegenwart, Berlin 1931, Phil. Forschungsber. Heft 10. — Fr. Kreis, Der kunstgeschichtliche Gegenstand, Stuttgart 1928. — F. Krueger, Über Entwicklungspsychologie, Leipzig 1915. — K. Lamprecht, Eine Wendung im geschichtswissenschaftlichen Streit, Zukunft, 2. I (1897); Zwei Streitschriften, 1897; Die kulturhistorische Methode, 1900. — H. Leisegang, Denkformen, Berlin u. Leipzig 1928. — T h . Litt, Individuum und Gemeinschaft, Leipzig-Berlin 1926. — Lotze, System der Philosophie 2, Metaphysik 1884. — D. Mahnke, Eine neue Monadologie, Berlin 1917. — G. Mehlis, Lehrbuch der Geschichtsphilosophie, Berlin 1915. — Ed. Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, Halle (Saale) 1902. — W. Moog, Geschichtsphilosophie und Geschichtsunterricht in ihren wichtigsten Problemen, Handb. f. d. Geschichtslehrer, her. v. O. Kende, Leipzig u. Wien 1927, Band I. — E. Otto, Die wissenschaftliche Forschung und die Ausgestaltung des gelehrten Unterrichts, Bielefeld u. Leipzig 1918. — H. Pichler, Zur Philosophie der Geschichte, Tübingen 1922. — H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1915 (1927); Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen 1902 (1928). — E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Münchenu. Berlin 1926 (Handb. d. Philosophie).— D. Schaefer, Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte, Tübinger Antrittsrede, Jena 1888; Geschichte und Kulturgeschichte, Eine Erwiderung, Jena 1891. — G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, München u. Leipzig 1923. — Ed. Spranger, Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften, Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss., phil.histor. Klasse 1929, I ; Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, Leipzig-Berlin 1925. — W. Stern, Tatsachen und Ursachen der seelischen Entwicklung, Ztschr. f. ang. Psychol. I, 1908. — C. Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften, Abhandlungen d. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1906. — P. Tillich, Das System der Wissenschaften, Göttingen 1923. — A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen I, Berlin 1840. — E . Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft, Schmollers Jahrbuch 45 (1921), Heft 4. — S. Tschulok, Das System der Biologie in Forschung und Lehre, Jena 1910. — E . Ungerer, Die Regulationen der Pflanzen, Berlin 1926. — Ed. Wechßler, Die Generation als Jugendreihe und ihr Kampf um die Denkform, Leipzig 1930. — W. Windelband, Geschichte und Natur-

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Die Bildungsgebalte (Methodik)

Wissenschaft, Rektoratsrede der Universität Straßburg 1894 (1904). •— A. D. Xénopol, L a théorie de l'histoire, Paris 1908.

2. Die überindividuelle und individuelle S t r u k t u r w i s s e n s c h a f t (Kulturkunde). Im vorstehenden ist bereits verschiedentlich die strukturelle Betrachtungsweise gestreift worden. Wir wenden uns nunmehr der Erörterung dieser dynamischen Abhängigkeiten der K o e x i s t e n z auf dem Gebiete des geschichtlichen Lebens im besonderen zu. Wir verstehen unter der Struktur überindividueller Gruppen bzw. individueller Personen ideelle Sinnganzheiten wesensgemäßer Zuordnung von seelischen Funktionen und geistigen Akten, die gliedhaft in wechselseitiger Abhängigkeit stehen und auf ein letztes geistiges Zentrum bezogen sind. Diesen personalen Strukturen ist nun auch die umgebende Natur- und Kulturwelt gesetzmäßig zugeordnet. Solche umfassende, auf das Allgemeine gehende Ganzheiten nennen wir Typen. Aus dem Zusammenhang dieser gliedhaften Einheiten heraus läßt sich allein die Idee des kulturkundlichen Unterrichts begründen, d.h. die Deutung von Gruppen (Völkern 1) und Einzelpersonen aus typischen, d. h. auf Wesens-Ganzheiten bezogenen Erzeugnissen ihres Geistes. a) Überindividuelle K u l t u r g e b i l d e . So oft man in der Pädagogik von »Kulturkunde « gesprochen hat, schwebte den Forschern und praktischen Schulmännern fast immer diese Art des kulturkundlichen Unterrichts vor. Mancherlei Tendenzen unserer geschichtlichen Zeitlage wirkten zusammen, die geisteswissenschaftliche Forschungs- bzw. Unterrichtsweise auf diese Bahn zu drängen : die Abkehr von der atomisierenden Haltung in Wissenschaft und Schule sowie die Hinwendung der Forscher und unserer Jugend zur Ganzheit; in pädagogischer Auswirkung: die Idee der Konzentration und Querverbindung; sodann die Neigung, nicht bei der bloßen Emotion des »Erlebnisunterrichts« stehen zu bleiben, sondern zum Verstehen von Kulturgütern und Völkern fortzuschreiten, als endgültige Absage an die Alleinherrschaft des Positivismus; schließlich die starke Verschiebung des Schwergewichts vom individuellen Subjekt auf seine Vergesellschaftung in einer Zeit, wo bald die stärkere Betonung der nationalen Idee (die »deutsche Bewegung«, der »deutsche Mensch«, Deutschkunde), bald die stärkere Hervorkehrung eines umfassenden Humanitätsideals in die Erscheinung trat. (Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Hofstaetter, Peters, Sprengel einerseits und Litt, Havenstein, Weber, Wichmann andererseits.) Die Gefahren einer überspannten oder mechanisierten »Kulturkunde« sind früh erkannt worden (Th. Litt, E . Lerch, E . R. Curtius, K. Voretzsch, Levin L. Schücking, M. Havenstein u. a.). Sie bestehen in der Schwierigkeit alles Verstehens überhaupt, das leicht seinen Gegenstand verfehlt oder ihn mißdeutet. An die Stelle sicheren Sprachwissens und gewissen-

Kulturkunde

151

hafter Interpretation tritt dann ein oberflächliches Reden über die Sache. Es werden Einzelheiten vorschnell verallgemeinert oder fremde Überzeugungen unverstanden übernommen, auswendig gelernt und bei der Prüfung an den Mann gebracht. Man konstruiert den Typus d e s Griechen, d e s Engländers, den es in Wirklichkeit nicht gibt und nie gegeben hat; denn Typen sind nur ideelle Hilfskonstruktionen. Der Akt freien Stellungnehmens zu Werten und ihren historischen Ausprägungen im kulturkundlichen Unterricht erstarrt leicht zu einem festen Schema, in das nun alles mögliche hineingepreßt wird. Das einzelne Werk tritt als Ganzes dann zurück hinter einer abstrakten Konstruktion; ganze Disziplinen verlieren ihren wissenschaftlichen Eigenwert und werden andern Fächern untergeordnet (Entartungen einer mißverstandenen Deutschkunde!). Dennoch ist der Gedanke eines kulturkundlichen Unterrichts, der sich die Herausarbeitung von (typischen) Strukturen des eigenen Volkes und fremden Volkstums zur Aufgabe setzt, nicht abzulehnen. Ist doch die Kultur eines jeden Volkes, Sprache, Wissenschaft und Kunst, Technik, Politik, Sitte, Sittlichkeit und Religiosität, ein einheitlich gegliedertes Ganzes, in dem jede Sphäre allen andern Äußerungen des geistigen Lebens zugeordnet ist. Wie die Natur nach Fichte ein zusammenhängendes Ganzes ist; wie man kein Sandkömchen von seiner Stelle verrücken kann, ohne »durch alle Teile des unermeßlichen Ganzen hindurch etwas zu verändern«, so ist auch jeder Volkstypus ein einheitliches Gefüge besonderer Grundrichtungen des allgemeinen Menschentums. So Herder bis hin zu Konrad Burdach. Die freie Herausarbeitung eigenen und fremden Volkstums an den Gütern der Kultur und die Klärung eigenen Wesens an fremder Geistesart, die seelische Erhöhung und Ausweitung in dem »Hin und Her zwischen Wertkonstruktion und Wirklichkeitsdeutung« (J. Cohn) trägt unzweifelhaft den höchsten Bildungsgewinn in sich. Herman Nohl hat die Bedeutung der Kulturkunde anerkannt, wenn sie zur Anschauung der Energien führt, »die die geschlossene Form eines Volkes schafft«, wenn sie die Verantwortlichkeit nationaler Energie wachruft und den Wetteifer der Völker untereinander entzündet. Wahrlich die beste Art staatsbürgerlicher und weltbürgerlicher Erziehung, die Sicherung des Friedens durch gegenseitiges Verstehen und ehrliche Zusammenarbeit!

Es ist demnach den Grundüberzeugungen Nohls, Schöns, Schwartz', Hübners, Klemperers, Wechsslers, Deutschbeins, Kuttners, Fasers und all der Theoretiker und Praktiker beizustimmen, soweit sie sich für die »Kulturkunde « eingesetzt haben, auch seitens der Deutschkunde, wenn auch hier und dort ein Abstrich von den aufgestellten Zielen und Plänen vorzunehmen ist. Klassische Philologen, desgleichen Dilthey, Lamprecht, Spengler — alle in anderer Weise — haben ihnen die Wege bereitet. Ed. Spranger faßt seine Darlegungen auf dem Philologentag zu Jena in die Worte zusammen: »Nur in der Auseinandersetzung mit fremder Art gewinnt man die eigene Art.« Ich selbst habe in meiner Allgemeinen Erziehungslehre versucht, in aller Zurückhaltung die Grundzüge einiger Kulturen des Westens und des Ostens zu entwerfen. Ihre methodische Behandlung wird unter folgenden Gesichtspunkten geschehen können: i. Das Material für die kulturkundliche Betrachtung wird wohl in erster Linie die Sprache, namentlich die Semasiologie, und die L i t e r a t u r geschichte liefern; daneben jedoch auch das wissenschaftliche Schrifttum, Malerei, Architektur, Musik, ebenso die Wirtschaftsfragen.

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Die Bildungsgehalte

(Methodik)

2. Die struktur-psychologische Deutung wird keineswegs ausgehen von nichtssagenden Allgemeinheiten über Volkscharaktere; sie wird vielmehr darauf gerichtet sein, die M a n n i g f a l t i g k e i t k o n k r e t e r u n d k e n n z e i c h n e n d e r E i n z e l z ü g e objektiver Gegebenheiten zu ermitteln und ihre einheitliche Zuordnung auf einen tieferen Kern anzubahnen. Ausgangspunkt ist daher immer das einzelne Werk. Vom Werk knüpfen sich die Fäden zu seinem S c h ö p f e r , zum Zeitgeist und weiterhin zum V o l k , dessen Struktur in allen seinen gliedhaften Auswirkungen als ein Ganzes einheitlichen Gepräges erfaßt wird (Volkskunde!). Gibt man auf diese Weise die einzelne Tat und den einzelnen Menschen den übergreifenden Sinnbereichen zurück, so erscheint das Einmalige in seiner dynamischen Abhängigkeit »aufgehoben« im Zusammenhang einer geistigen Wirklichkeit, z. B. ein romantisches Werk der Wortkunst in seiner Beziehung zu Schubert und Weber, zu Schwind und Carolsfeld und Cornelius, dem Maler. 3. Diese Konzentration führt zunächst zu einer Vertiefung in das Wesen der eigenen N a t i o n , das in seiner Besonderung gegenüber andern Völkern verstanden wird. Damit ist das Zusammenwirken von Fremdsprachler und Germanisten, von Historiker und Geographen und Theologen, von Musik- und Zeichenlehrer sichergestellt, nicht als bloßer Akt stofflicher Querverbindung, sondern im methodischen Sinn einer auf das Wesen des Geistes gehenden, einheitlichen Betrachtungsweise: Kulturunterricht als Prinzip! 4. Solche Sinnbezüge weiten sich dann ganz natürlich über die engeren Grenzen nationaler Sonderheiten ins Universale der M e n s c h h e i t s k u l t u r . Das Fremde wird in seiner Eigenart und Selbständigkeit gewürdigt und anerkannt, das Eigene als Aufgabe und notwendige Ergänzung des gesamten Kulturlebens. Die Volksschulen müssen diese Aufgabe unmittelbar von der deutschen Kultur bzw. vom deutschen Wort her leisten. Die Gymnasien (i. w. S.) nehmen den mittelbaren Weg der Fremdsprachen. Die deutsche Romantik führt beispielsweise hin zum Vergleich französischer und englischer Geisteshaltung; italienische und deutsche Renaissance, südländische und nordische Gotik'werden in ihren gemeinsamen Grundzügen, aber auch in ihren völkischen Abweichungen verstanden. Diese vergleichende Interpretation gilt auch für alle übrigen Sphären der Kultur. So wirkt sich die Einheit des Unterrichts aus in einer freien Stellungnahme zu Volk und Menschheit, wie es schon W. v. Humboldt gefordert hat in einem geklärten Kulturbewußtsein national begründeter Humanität. Im Wesenseigenen offenbaren sich die ewigen Gesetze unseres Volkstums; im Andersartigen, beispielsweise im klassisch-romanischen Rationalismus bzw. seiner Formkultur, findet der germanische Irrationalismus und Individualismus seine Ergänzung auf Grund der übergreifenden Gemeinsamkeit des Allgeistes.

Kulturkunde

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5. Neben dem Wesenhaft-Typischen der einzelnen Völker, die erst zusammen ein Ganzes bilden, stehen vereinzelt auf überragender Höhe die ü b e r z e i t l i c h - b l e i b e n d e n Schöpfungen der Menschheit, wohl national gebunden ihrem Ursprung nach, an sich aber ewige Gestalten und Formen, vor denen sich die ganze Menschheit in Verehrung beugt. Sie sind nicht »typisch« für ein bestimmtes Volkstum, sondern für den Menschen schlechthin und ergänzen daher wesensnotwendig den kulturkundlichen Unterricht. 6. Neben den charakteristischen Ausprägungen der überpersönlichen Volkscharaktere sind auch die A b w e i c h u n g e n , neben den typischen Repräsentationen auch die »Ausnahmen« heranzuziehen. Erst wenn die Auswahl der Lektüre unter diesen Gesichtspunkten erfolgt, entsteht ein getreues Bild von dem Reichtum und der Spannungsfülle der verschiedenen Kulturen. Neben der civilisation der France classique steht auch die culture der France romantique, jetzt vertreten durch Claudel, Jammes, Péguy u. a. 7. Begriffliche Konstruktionen zerstören die Anschaulichkeit und die Erlebnisfülle der Kulturgüter. Daher lese man zunächst einmal g a n z e W e r k e , um ihren Gehalt an Ideen, Gedanken und Stimmungen zum vollen Erlebnis zu bringen und so den Prozeß persönlicher Bildung und Formung einzuleiten. Leben und Begeisterung der Jugend entfaltet sich nicht an Proben und Pröbchen (der Kunst!). Erst dann können als Ergänzung Chrestomathien herangezogen werden. Die neuere Methode der »Periodisierung« in der allgemeinen Geschichte und namentlich in der »Literaturwissenschaft«, die mehr auf Tiefen- und Breitenschau (Koexistenz!) geht, statt des Nacheinander der »Literaturgeschichte«, stößt seit Wilhelm Dilthey immer mehr in einem der kulturkundlichen Betrachtungsweise verwandten Sinne vor «. Periodologisches Verständnis der »Epochen« (bzw. »Generationen«, als Struktureinheiten) als Ganzheit des »Neben«- und des »Ineinander«, des »Gleichartigen und Gleichzeitigen« wird zur Aufgabe der Forschung und Darstellung. Das Problem der »periodologischen Wechselförderung von Individual- und Kollektivpotenzen«, das Ausgehen von der »geistig-lebendigen Ganzheit und individuell-kollektiven Einheit sowohl der Persönlichkeit wie der Periode« trifft das, was ich in der schlicht-nüchternen Sprache wissenschaftlicher Terminologie und Sonderung einerseits die »Beziehung« von Subjekt und Gegenstand und andererseits die geistige »Wechselwirkung« von Subjekt und Subjekt genannt habe und worauf sich abschließend die strukturelle Betrachtungsweise des kulturkundlichen Unterrichts gründet. Das gegenseitig-abhängige Geben und Nehmen innerhalb der Gesamtstrukturen ermöglicht die Erarbeitung von Abhängigkeitszusammenhängen und fordert sie als wissenschaftliche Leistung, über das bloße Sammeln und Feststellen von Tatsachen und rein zeitlichen Zusammenhängen hinaus. In dieser Hinsicht leistet die jetzt gepflegte Methode der Periodisierung wertvolle Dienste. Unsere Aufgabe ist es aber, jenseits aller Zeitströmungen, in einer systematischen Orientierung alle Möglichkeiten geisteswissenschaftlich-typologisierender Betrachtungsweisen zu überschauen und das einzelne in der Ordnung des Ganzen zu sehen. 1

Philosophie der Literaturwissenschaft, hrsg. v. E . Ermatinger, Berlin 1930, besonders Beiträge von H. Cysarz, J . Petersen und J . Nadler.

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

b) Individuelle Strukturen. Die Kulturmorphologie der Völker ist untrennbar verknüpft mit der der Strukturwissenschaft vom Einzelmenschen, was schon aus den vorstehenden Ausführungen hervorgeht: die Einsicht in das Aktgefüge geistiger Objektivierungen geht vom Werk zu seinem Schöpfer, von da erst weiter zu seiner Zeit, zu seiner näheren Mitwelt, zu seinem Volk, zur Menschheit. Das Erschauen individueller Strukturen, zunächst der geistigen Spannungsgefüge führender Persönlichkeiten, ist vielleicht tiefer denn je von unserer Zeit als besondere Aufgabe empfunden und erkannt worden. Ed. Spranger betonte in seiner Jenenser Rede: »Die Sehnsucht nach Einsicht in Menschenformen und Kulturzusammenhänge ist bei der jungen Generation die vorherrschende Sehnsucht, nicht mehr, wie noch vor kurzem, das naturwissenschaftlich-technische Interesse.« In seinen »Lebensformen« unterstreicht er sein Vorhaben, »geistige Erscheinungen strukturell richtig sehen zu lehren«. Als Beispiel historischen Verstehens von Persönlichkeiten und des methodisch-historischen Verfahrens läßt er die Geistesstruktur des Sokrates vor unsem Augen entstehen; in der erwähnten Rede geht er aus von dem allgemeinen Problem der Strukturforschung, zeigt an dem Phänomen »Rousseau« die Grundstruktur dieses Typus und läßt seine Erwägungen, die immer noch nicht die verdiente Beachtung seitens der Schule gefunden haben, auch wieder mit dem Strukturproblem ausklingen. Entsprechend erläutert Ed. Wechssler in dem Werke, das den kennzeichnenden Titel »Die Generation als Jugendreihe« führt, seine vier Betrachtungsweisen an Pascal und Leibniz.

Welches ist der Sinn dieses Verstehens ? Zunächst der ungemein große Wert für die theoretische Schulung unserer Jugend. Aber sollen wir es mit dem rein theoretischen Studium von Persönlichkeitsstrukturen bewenden lassen? Wir studieren mit Recht historische Menschen, beschäftigen uns mit abstrakten Theorien, vergessen aber darüber den konkreten Menschen. Wir suchen die Menschen, aber nicht den Menschen, haben theoretisches Verständnis (»Menschenkunde«), auch wohl »soziales«, aber nicht »sympathetisches Interesse«, in Herbarts Sprache gesprochen, wir schweifen in die Ferne, sehen aber nicht unsern Nächsten und all die Menschen unserer Umgebung, die auch ihr Schicksal mit sich herumtragen wie wir. Da kann uns allerdings die Theorie helfen, Menschen nicht nur strukturell zu sehen, sie vielmehr zu lieben und zu fördern und so die Idee einer dritten Humanität endlich zu verwirklichen: die Idee der Brüderlichkeit. Literatur: H. Borbein, Auslandsstudien, Leipzig 1917. — W. Dilthey, Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften V I I . Bd., Leipzig u. Berlin 1927. — F. N. Finck, Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung, Marburg 1899. — W. v. Humboldt, Über den Charakter der Griechen, die idealische und historische Ansicht desselben, Ges. Schriften V I I , 2, Berlin 1908. — Th. Litt, Geschichte und Leben, 3. Aufl. 1930; Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik, 1926. — Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Altphilologen Österreichs V (1931, 32): Vortrag R. Meister. — H. Nohl, Der Bildungswert fremder Kulturen, Die Erziehung 3 (1928), Heft 9. — E . Otto, Möglichkeit und Aufgabe der Kulturkunde und des kulturkundlichen Unterrichts, Ztschr. f. Neuere Sprachen, Beih. 15, 1928. — H. Richert, Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule, Tübingen 1920. — G. Schmidt-Rohr, Die Sprache als Bildnerin der Völker, J e n a 1932. — E . Schön, Bildungsaufgaben des französischen Unterrichts, Leipzig und Berlin

Die literarische Sinndentung

155

1931. — Ed. Spranger, Zum kulturkundlichen Unterrichtsprinzip, Päd. Zentralblatt 7 (1927), Nr. 12; Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, Leipzig u. Berlin 1925: Lebensformen, 7. Aufl. 1930 Halle (Saale). — J . Stenzel, Über den Einfluß der griechischen Sprache auf die philosophische Begriffsbildung, Neue Jahrb. f. d. klass. Altertum 24, 1921. — O. Wichmann, Kulturkunde als Gesamtanschauung, ein Lehrversuch zum Problem der Konzentration, Halle (Saale) 1930. — E. Wechßler, Denkform und Weltanschauung in der Geschichte der deutschen Bildung, Ztsch. für Geschichte d. Erz. u. d. Unterrichts, 20. Jhrg., Heft 1, Berlin r93o; Die Generation als Jugendreihe, Leipzig 1930. — L. Weisgerber, Sprache, Handwörterbuch der Soziologie, her. v. A. Vierkandt, Stuttgart 1931.

3. Die l i t e r a r i s c h e

Sinndeutung.

Die beiden vorausgehenden Abschnitte haben bereits einsichtig gemacht, daß für die Interpretation von Schriftwerken sehr verschiedene Betrachtungsweisen in Erwägung zu ziehen sind, wodurch die einzelnen Probleme der Literaturgeschichte (Literaturwissenschaft) erst klarer in ihrer Besonderung heraustreten I . Die folgende Gliederung der Problemstellungen läßt zugleich erkennen, auf welche Weise die verschiedenen Deutungswege ineinandergreifen. Die veranschaulichenden Beispiele sind der deutschen Schulliteratur entnommen worden, um die praktische Anwendung der Theorie auch für den Unterricht zu erweisen. Geht man von dem eigentlichen Gegenstand der Deutung, dem Werk aus, so ergeben sich folgende methodische Gesichtspunkte für die inhaltliche Interpretation a. 1. Das W e r k , für sich betrachtet. Das ist eine künstliche Isolation, ja eine Fiktion. Denn dem Interpreten ist ja nicht das gesprochene Wort überliefert, sondern nur optische Zeichen, nichts als Lettern. Jede Deskription ist also bereits Deutung, wenn nicht gar Erklärung: die Erfassung des einzelnen setzt das Verständnis des Ganzen in seinen personalen wie raum-zeitlichen Zusammenhängen voraus. Man könnte allerdings, auf künstlerischem Gebiete, von einer i n t u i t i v - s u b j e k t i v e n Deutung sprechen, die ihrem Gegenstand mehr oder weniger angemessen sein kann. Sie ist mehr Sinngebimg als Sinndeutung (s. o. S. 125). Beispiel: Uber allen Wipfeln ist Ruh, . . . Jeder hat das Gedicht anders erlebt und hat es bei verschiedenen Gelegenheiten anders erfahren und gedeutet, je nach seiner eigenen Stimmung. Denn Kunstwerk ist Symbol oder gar, religiös gefaßt, ein Gleichnis des Vergänglichen, schließlich also nur der künstlerisch-nacherlebenden Schau zugänglich. 1 E. Ermatinger klagt im Vorwort der bereits erwähnten »Philosophie der Literaturwissenschaft«: »Die Lage der deutschen Literaturwissenschaft ist gegenwärtig so verworren wie noch nie, seitdem es einen solchen Begriff gibt.« Und schon vorher spricht H. Leisegang von einem »bodenlosen Dilettantismus«. Die philosophische Biographie, Euphorion 31 (1930). 3- Heft. > Was die sprachliche Interpretation betrifft, so verweise ich auf meine Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts, 1925, S. 311 ff. Die ästhetischen Gesichtspunkte werden im II. Abschnitt dieses Teiles behandelt.

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

Die damit verwandte s c h l i c h t e B e s c h r e i b u n g , die zu wissenschaftlichen Zwecken mit allem Aufwand peinlichster Akribie einzusetzen hat, umfaßt die Sammlung und kritische Feststellung der Texte (Papyruskunde und Epigraphik), weiterhin der Sprache wie des Stiles und der Komposition, des Gehalts an Vorstellungen und Ideen, ebenso der Stimmungsfärbung, die sich wiederum auch in der äußeren Gestalt ausdrücken kann. Denn Form und Inhalt sind nun einmal nicht auseinanderzureißen; Form ist, namentlich in der Kunst, die Ausgerichtetheit des Gehalts, wie im i. Teil dargelegt ist. In der Schule spielt die schlichte Beschreibung, vor aller biographischen und kulturgeschichtlichen Deutung, eine bedeutende Rolle. Neben der Beschreibung der gegenständlichen und zuständlichen Einkleidung der Geschehnisse, dem weltanschaulichen Hintergrunde der Gedanken und dem Ideengehalt des Seinsollenden, beansprucht die strukturpsychologische Deutung der Personen einen breiten Raum. Sie ist auf den unteren Klassen der theoretischen und praktischen Schulen konkretanschaulich, auf höheren Stufen nach Wertbeziehungen orientiert. Beispiel: Stonns Schimmelreiter. Hauke Haien ist in erster Linie Machtmensch; er ist kein Mensch der Gemeinschaft, ist herrisch, ehrgeizig bis zur Gewalttätigkeit (Erzwingung des Deichbaues, Episode mit dem Angorakater). Seine körperliche Kraft und Geschicklichkeit (Eisboseln!) erleichtern ihm den Aufstieg. Seine starke theoretische Begabung (Studium des Euklid, in holländischer Sprache!) sowie sein praktisches Können (Übungen im Modellieren von Deichen) stehen im Dienste dieses Geltungsstrebens (er will nicht Deichgraf sein »von seines Weibes wegen«). Die Sphäre der Liebe tritt zurück; seine Frau ist ihm vor allem ein guter Kamerad; sein unglückliches Töchterchen mehr Gegenstand väterlichen Mitleidens. Seine Religiosität ist verstandesmäßig. (Vgl. das Gefüge der Wertstrukturen im Anhang). — Ganz anders Gerhart Hauptmanns »Weber«. Welches ist die Werthaltung der führenden Personen ? Vergebliche Frage im naturalistischen Drama I Die Menschen werden triebhaft vorwärtsgestoßen. Die Triebe sind Hunger und Haß. Das Tier im Menschen bestimmt zwangsläufig-mechanisch sein biologisches Sein. Die Weber sind Typen, und zwar Durchschnittstypen. Die »Bedingungen« der Umwelt beherrschen den Menschen, den seelisch und körperlich gedrückten Weber. Dem entspricht die Sprache des heimischen Dialekts und der Aufbau: Bild reiht sich zwanglos, wie im Alltag, an Bild — nicht »mit strengem Richtscheid nach dem Ziele« geordnet, wie es Schiller, der Idealist, verkündet hatte.

2. Die genetische D e u t u n g als Rückgang von dem Werk auf seinen Schöpfer. In einer geschichtlichen Betrachtungsweise wird die wissenschaftliche Leistung oder das Kunstwerk gedeutet aus den singulären Lebensbedingungen individuellen Menschentums, den besonderen Lebensumständen aktueller Gegebenheiten und den zur Objektivierung drängenden Motiven. Die Betrachtungsweise ist also teils evolutional, auf die Entwicklung des Autors zurückgehend, teils final, das Werk als Ausfluß der energeia, des geistigen Aktes. Damit sind drei Deutungsmöglichkeiten gegeben, die finale, strukturpsychologische und ideell-evolutionale. Die f i n a l e D e u t u n g , aufgewiesen an Goethes Erlkönig. E s genügt nicht die Darlegung der bloßen Bedingungen und Voraussetzungen: Goethes Kenntnis von Herders

Die literarische Sinndeutung

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Ballade »Erlkönigs Tochter«; er hört 1781 in Jena von der geschichtlichen Tatsache und schreibt den Entwurf seiner Ballade im »Gasthaus zur Tanne«, an dem der gehetzte Vater vorbeigeritten war, usw. E s ist vielmehr auf Goethes Erlebnis zurückzugehen, auf die Gedanken, die ihn bestürmten, auf die Ideen, mit denen er gerungen hat, bis sich die Sinngehalte formten und befreiend von ihm ablösten. In der s t r u k t u r p s y c h o l o g i s c h e n D e u t u n g werden mittels der geisteswissenschaftlichen Psychologie (vgl. auch E. R . Jaenschs Typen) oder auch der Psychoanalyse die Verbindungsfäden verfolgt zwischen der Struktur des Werkes und der seines Schöpfers, zwischen den »Denkformen« des Menschen und seinem Stil, die Dinge zu sehen und darzustellen (darüber weiter unten!), zwischen dem weltanschaulichen Gehalt der Schrift und den Lebensschicksalen des Schriftstellers, z. B . an Hebbels Maria Magdalena. Neben äußeren Parallelen (Hebbels Vater — Meister Anton; Klara — Elise Lensing) die Sehnsucht nach Befreiung und Versittlichung des Bürgertums, entstanden aus der Enge und den Entbehrungen der Jugendzeit, aus den Demütigungen in der Klippschule, aus den Zusammenstößen mit der bürgerlichen Gesellschaft (Hamburg), aus den Erschütterungen einer unsteten StudienzeitI Und nirgends ein Ausweg aus all dem Stumpfsinn und der Engherzigkeit! Das Abbild ist die bürgerliche Tragödie Maria Magdalena, das persönliche Ergebnis: der Freiheitskämpfer und Dramatiker Friedrich Hebbel. Die i d e e l l - e v o l u t i o n a l e D e u t u n g möchte vom einzelnen Schriftwerk absehen sowie von den Zufälligkeiten im Leben des geistigen Führers; sie will vielmehr die Idee eines «Urphänomens« (Simmel) ergründen, den Genotyp, nicht den Phänotyp der geschichtlichen Erscheinung. Um die ideelle Gesetzlichkeit der Persönlichkeit zu erfassen, ist das Überzeitliche aus seiner geschichtlichen Gebundenheit zu befreien und hinter das Bewußtsein des Sinnenden und Schaffenden zurückzugehen. Denn unser Wesen erschöpft sich nicht in den empirischen Leistungen; es sind vielmehr, der Idee nach, auch die Werke zu erschließen, die das Genie zur Vollendung hätte bringen können. In dieser ideellen Deutung ist die gesetzliche Struktur des Denkers und Dichters herauszuarbeiten, die besondere Entwicklungslinie seines Wertgefüges, ergänzende Züge zu finden, die sich aus Mangel an den nötigen Bedingungen nicht zu entfalten vermochten. Dann kann selbst die empirisch-zeitliche Aufeinanderfolge dieses oder jenes Werkes zur Bedeutungslosigkeit herabsinken. Eine ebenso schwere wie gefährliche Aufgabe der Forschung, aber nicht der Schule! In dieser Richtung bewegt sich Friedrich Gundolfs Goethe (Einleitung!), Ludwig Marcuses Strindberg (Vorwort!) wie auch Ernst Bertrams Nietzschebuch.

3. Die k u l t u r h i s t o r i s c h e Deutung. Ihre Betrachtungsweise ist wesentlich e v o l u t i o n a l , nimmt aber häufig die finale Wendung in der oben beschriebenen Weise. Ihre Aufgabe ist es, das Werden des Einzelnen zu verstehen aus der Entwicklungsgeschichte der Kultur, einer besonderen »Periode« oder »Generation«, und zwar auf Grund des Werkes, in dem sich alle Strahlen zwischen Mensch und Umwelt schneiden. Diese Sinndeutung drängt über die einzelwissenschaftliche Forschung hinaus zu einem umfassenderen und übergeordneten Standpunkt, zu philosophischer Überschau und Vertiefung. Daraus ergeben sich zwei Betrachtungsmöglichkeiten, die als Grenzfälle zu betrachten sind: die kritisch-evolutionale und die normative Deutung. Die Schulen sind nicht Forschungsinstitute, also nur Nutznießer solcher Deutungsergebnisse. In der Behandlung der illustrierenden Quellen wie im Selbststudium (freier Arbeiten) fällt gelegentlich auch ein

158

Die Bildungsgehalte (Methodik)

Strahl dieser Höhensonne in die Spontaneität schulischen Leistungsunterrichts. Die k r i t i s c h - e v o l u t i o n a l e Deutung. Lessings »Nathan« z. B. spiegelt den theologischen Rationalismus seiner Periode wider, zudem die damalige naturwissenschaftliche Einstellung, die biologische Anschauungsweise und den Glauben an die strenge Verknüpfung von Ursache und Wirkung in Natur und Kultur — so wie sie Lessing sah. Dazu seine ganz eigene Haltung religiösen Problemen gegenüber, die sittliche Forderung seiner Lebensbejahung, sein Humanismus (vgl. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung). Es besteht also nicht nur die Aufgabe, aus dem Schrifttum angemessen zu deuten, was jemand »gemeint« hat, sondern auch in welchem Lichte er die Gedanken und Ideen anderer gesehen hat, wie sie auf ihn, zu verschiedenen Zeiten, gewirkt haben und was er aus ihnen gemacht hat. Das oben gegebene Beispiel: »Erlkönig« würde in diesem Sinne zu Löwes anschaulich-malerischer Interpretation und Schuberts schicksalhaft-fatalistischer Romantik (G. Becking) weitergeführt werden und helleres Licht werfen auf das Phänomen Romantik (im Verhältnis zur Klassik und zum Realismus) wie auf die einzelnen Tondichter und ihre Haltung. So entstehen die Querschnitte des kulturkundlichen Unterrichts. Das ist etwas wesentlich anderes als das berüchtigte Quellenstudium der früheren Philologie. Die aufgewiesene Durchkreuzung möglicher Perspektiven, deren Deutung schließlich nur von dem philosophisch gründlichst geschulten Kulturhistoriker unternommen werden könnte, zeigt wieder, daß alles »objektive« Verstehen nur eine Idee ist und als Ziel nie annähernd erreicht werden kann. Es weist immer über sich hinaus zum Normativen. Die n o r m a t i v e Deutung. Sie ist desgleichen nur ein frommes Wunschbild, da die normierend-kritischen Maßstäbe für die Werthöhe des empirisch Vorgefundenen ausstehen. Und dennoch sollen wir werten über wissenschaftliche und künstlerische, technische und soziale und religiöse Bestrebungen. Kein Wunder, daß die Theorie immer wieder den Ausweg der subjektiv-künstlerischen Schau nimmt. Damit kämen wir zur ersten Art der intuitivsubjektiven Deutung zurück!

Die Sinndeutung eines wissenschaftlichen oder künstlerischen Werkes bleibt bei der Herausarbeitung des Ideen- und Gedankengehalts nicht stehen, sondern greift auch auf die besondere Denkform seines Schöpfers zurück, und zwar auf Denkgesetzlichkeiten, die jenseits der Unterscheidung eines archaischen, primitiven bzw. naiven Denkens stehen. Das grundlegende Werk Hans Leisegangs, »Denkformen«, ergänzt die bisher erörterten, analysierend-wissenschaftlichen Betrachtimgsweisen um die ganzheitliche Denkform des Kreisdenkers. Nehmen wir als Beispiel den Ausspruch des Herakleitos: »Aus Allem Eins und aus Einem Alles«, so schließen sich die Begriffe, dem Inhalt des Satzes entsprechend, zu einer Einheit zusammen, indem der Endbegriff der Reihe kreisförmig auf seinen Anfang zurückführt: A — B — B — A. Im Falle des Wortes aus der Epistel Johannis: »Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm«, schlingen sich zwei Kreise ineinander. Ersetzen wir die Pronomina (wer, ihm) durch entsprechende Substantiva (Mensch oder dergleichen), so ergeben sich folgende Kreise: A — B — C — B — A und C — B —A — A — C. Der metaphysische Grund derartigen Denkens ist die Anschauung, daß der Entwicklungsgang des Logos dem Entwicklungsprozeß des Kosmos, des Makrokosmos wie des Mikrokosmos, zugeordnet sei: Kosmos, Menschheit und Individuum, entwickeln sich gleichlaufend in konzentrischen Kreisen. Daher die Versenkung in die Welt oder in das eigene Ich, um

Denkgesetzlichkeiten

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von hier aus das Weltgesetz (den Logos) zu erfassen. Daher auch der Ring des Gedankenkreises als Denkform. Die B e g r i f f e stellen diametral gegenüberliegende Gegensätze oder nebengeordnete Ideen dar und zwar als wesentliche Stadien und Ausschnitte eines Kreislaufes: Tag — Nacht, Eins — Alles bzw. Gott — Liebe etc. Die U r t e i l e haben die Form einer zum Anfangsglied zurückgebogenen Reihe: A — B, B — C . . . . B — A. Der B e w e i s erfolgt in der Anordnung der Gedanken in einem Kreis. Ein solches Denken finden wir, idealtypisch mehr oder weniger rein ausgeprägt, auch bei Paulus, Augustinus, Meister Eckhart, Seuse, Giordano Bruno, Jakob Böhme, Goethe, den Romantikern und bis auf unsere Z e i t b e i Buddha, Laotse etc. Leisegang nennt diese Denkform »den Gedankenkreis« und kennt außerdem noch drei A r t e n : den »Kreis von Kreisen«, die »Begriffspyramide« und die »materialistisch-positivistische Denkform«. Überprüft man diese Denkformen unter dem Gesichtspunkt unserer drei Betrachtungsweisen, so zeigt sich, daß Leisegangs vier Denkformen nicht auf einer Ebene liegen. Die erstere des Kreisdenkens steht den drei andern gegenüber. E s werden in den drei letzteren T y p e n solche Denkformen aufgewiesen, die unseren Betrachtungsweisen z.T.entsprechen: im 2. T y p u s (Hegel) das evolutionalstrukturelle Denken, im 3. und 4. T y p u s (die Begriffspyramide bzw. Kant) die mathematisch-funktionale bzw. physikalisch-mechanistische Betrachtungsweise; die finale fehlt. Hegels System trägt außerdem nicht den reinen Charakter einer echten, wesensgerechten Denkgesetzlichkeit, sondern ist ein Mischtypus — wie auch Diltheys, von M. FrischeisenKöhler und E. Rothacker übernommene Typen. Denn einmal geht die Methode des »Kreises von Kreisen« auf die Grundform des »Gedankenkreises« zurück, welche Vermutung schon der Werdegang der Hegeischen Dialektik sowie ihre Verwandtschaft mit dem philosophischen Fantheismus nahelegt, und sodann ist Hegels Methode der Auslösung eines Teiles aus dem Ganzen und seine Wiedereinbeziehung ins Ganze nur der Anfang einer vollständigen »Beschreibung« von Entwicklungsprozessen (vgl. oben S. 140) wie auch W. Wundts Gesetze der »Entwicklung in Gegensätzen«, des »geistigen Wachstums« und der »Heterogonie der Zwecke«. Es fehlt die genauere Aufweisung der sinnhaften Richtkräfte im konkreten Wandel des geschichtlichen Lebens. So konnte denn Hegel nicht zu einer idealtypischen Ausprägung der evolutionalen Betrachtungsweise durchstoßen. Auch H. Leisegang bestätigt, daß alle Versuche, für diese Art des Denkens »bestimmte Regeln oder Gesetze« aufzustellen, auf die größten Schwierigkeiten stoßen. Zusammenfassend können wir daher folgende zwei Grundtypen echter » D e n k g e s e t z l i c h k e i t e n « aufstellen: 1

Z.B. bei M.Heidegger. Vgl. dazu H. Leisegang, Blätter für deutsche Philosophie 3 (1930), Heft 4, S. 442 f. Kennzeichnend für moderne Forschungsmethoden ist auch H. Cysarz' programmatische Erklärung: es »müssen auch alle Epochen vom einsinnigen Antezedentienund Subsequentien-Schema befreit und aus der Ablauf- in die Kreislauf-Ansicht gehoben werden«. Wie schon vordem Simmeis Goetheschau dieses Dasein nicht als ein Nacheinander, sondern als einen in sich geschlossenen »Ring« und Gundolf das Gleichnis der »Strahlenkugel« als Sinnbild des Lebens geprägt hatl Philosophie der Literaturwissenschaft, her. v. E. Ermatinger, Berlin 1930, S. 1 1 7 f.

160

Die Bildungsgehalte (Methodik)

I. Der G a n z h e i t s d e n k e r . Sein Denken ist irrational-synthetisch; seine Denkgesetzlichkeit ist der Gedankenkreis, das Übergleiten zum Andersartigen in einer geschlossenen Kette. »Denken« bedeutet für den Kreisdenker nicht analysierende Auseinanderlegung eines Gedankens, sondern Begriffsklärung durch Herausnahme von Begriffen und Ideen aus einem komplexen Zusammenhang und durch Aufdeckung von Beziehungen. Daher ist der Satz wesentlich eine Reihung von Substantiven, die durch das Beziehungswort sein (bleiben usw.) verknüpft sein können: ich bin das Brot, ich bin die Tür usw. (Evangelium Johannis). Dieses mystische Alldenken ist verwandt mit dem intuitiven Schauen des Künstlers. Vom Typus des Ganzheitsdenkers ziehen sich Verbindungen einerseits zum magischen Denken, das unter dem Prinzip der Koinzidenz steht: begrifflichinhaltliche Identität räumlich-zeitlich verschiedener Gegenständlichkeiten; andererseits zum animistischen Denken der symbolhaften Konkretion. II. Der W i s s e n s c h a f t l e r . Sein Denken ist rational-analytisch; es ist das abstrahierende oder ideierende Beziehen und Vergleichen, und zwar in den drei besonderen echten Gesetzlichkeiten der evolutionalen, finalen oder kausal-mechanistischen »Betrachtungsweisen« der Sukzession bzw. der Koexistenz (vgl. S. 133 ff.) 1 . Diese Betrachtungsweisen lösen den außenzeitlichen Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, das funktionale Strukturgefüge eines Miteinander (Mathematik, Logik, individuelle und überindividuelle Geistesstrukturen usw.) sowie die funktionalen Abhängigkeitsverhältnisse des innenzeitlichen Nacheinander (Physik, Anthropogeographie, des Handelns usw.) in das diskursive Denken und Sprechen der (geraden) Linie auf. Mit Einbeziehung der oben (S. 122 f.) festgestellten wissenschaftlichen Haltungen ergeben sich demnach folgende Zusammenhänge innerhalb der Grundtypen echter Denkgesetzlichkeiten: I. G a n z h e i t s d e n k e r und II. W i s s e n s c h a f t l e r ; die Eigenart der letzteren ist entweder das V e r s t e h e n als geisteswissenschaftlich-ideenhafte Haltung (evolutionale bzw. finale Betrachtungsweise) oder das E r k e n n e n aus einer wesentlich physikalisch-begrifflichen Haltung: die kausal-mechanische Betrachtungsweise. 1 In ausgesprochener Anlehnung an H. Leisegang lenkt E. Wechßler (a.a.O.) dessen vier Denkformen in allgemeinere Bahnen und unterscheidet vier getrennte »Baugründe« unseres Bemerkens und Denkens, Bauens und Anerkennens, von denen die 2. u. 3. stärker auf unsere drei Betrachtungsweisen hinzielen, wobei der zweite Typ die evolutionale und finale Betrachtungsweise umfaßt. Seine vier Grundformen sind die kosmisch-organische (des Makrokosmos), die ethisch-persönliche (des Mikrokosmos), die physikalisch-mechanische (des Reiches der Körper im Raum) und die rational-mathematische (des Reiches der klaren Begriffe und der festen Denkbeziehungen). E. Wechßler erklärt ausdrücklich, daß jeder dieser »Denkwege« in sich »notwendig« sei: es habe »jede dieser vier klassischen Grundformen ihr eigenes Denkgesetz«.

161

Pestalozzis Denkform

Diese beiden Haupttypen von Denkgesetzlichkeiten sind nicht einander ausschließende Gegensätze, sondern S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s s e des Anschauens, Vorstellens und Denkens. Der letzte Grund dieser Spannungen liegt in folgenden Aporien: Die Wirklichkeit des tatsächlichen Lebens ist anschaulich gegeben; jedes Denken kann nicht anders als diese Anschaulichkeit vernichten. Man muß zerstören, um zu erfassen; aber wiederum zusammenfassen, um zu erkennen und zu verstehen. So kommt es, daß unsere größten Denker immer davor zurückschraken, das letzte Wort ihrer tiefsten Einsicht zu sprechen: Sokrates, der einer endgültigen Definition von Ideen gern aus dem Wege geht (ausgenommen der Politikos als Idee; der Sophistes ist dagegen ein empirischer Begriff); Goethe, der Dichter der orphischen Urworte; Dilthey, der (nach Sprangers Gedächtnisrede) den letzten Schleier über die enthüllte Wirklichkeit wieder fallen ließ. Das führt schon zu einer anderen Aporie. Denken ist nur eine rationale Funktion der Theorie, aber die geistige Sehnsucht ist ein progressus in infinitum, ein »Postulat der Vernunft«. Hier findet auch der Gegensatz von Erkennen und Verstehen seine Begründung, von objektiv-begrifflicher »Exaktheit« der Naturwissenschaften und dem ewigen Aufgegebensein normativer Geisteswissenschaften. Nicht das Denken begründet die Weltanschauung eines Menschen, sondern beide greifen wechselseitig ineinander, da ja jede Person, wie jeder individuelle und überindividuelle Organismus, ein einheitlicher Wesenszusammenhang zugeordneter Glieder ist, die Hinordnung der Dinge auf ein Ziel (ordo rerum in finem). Die Gegensätzlichkeiten wissenschaftlicher Diskussion beruhen demnach nicht nur auf offenbaren Denkfehlern, sondern auf den (weltanschaulich bzw.

rassenbiologisch

begründeten)

Haltungen

grundverschiedener

D e n k t y p e n ; die wechselseitige Kritik ist fruchtlos, wenn ihr nicht ein A u f weis der Standpunktgebundenheit des betreffenden Denkens vorausgeht. Solche Perspektiven sind: 1. Der Sinn wissenschaftlichen Denkens, nämlich der Wissenschaft an sich wird in Frage gestellt: Wissenschaft als Mythologie, z. B. in der neueren Literaturwissenschaft. 2. Verwechslung von rationalem Diesseits-Denken des Wissenschaftlers und der irrationalen Jenseits-Ergriffenheit des religiösen Menschen: rationallogische Gottesbeweise! 3. Übertragung der mathematisch-mechanischen auf die Sphäre der Geisteswissenschaften:

Betrachtungsweisen

Aufklärungszeit.

Auch heute

segelt unter der Flagge einer »exakten« Philosophie (Wissenschaft) noch vieles, was sich im verengten Kreise der E t h i k und Erkenntnistheorie wie die Katze um den eigenen Schwanz dreht. 4. Hineintragen geistigen Gerichtetseins oder

mystisch-spekulativer

Denkformen in Trieb- oder mechanisches Geschehen: z. B . auf biologischem Gebiete. Die Jugend sollte in der Schule auch gelegentlich aufmerksam gemacht werden auf die eigenartige Denkgesetzlichkeit des Ganzheitsdenkers.

Auf

diese Weise gewinnt der Schüler schließlich ein Verständnis für die Besonderheit

individueller

»Denkformen«

(Denkstrukturen),

in

denen

sich verschiedene Denkgesetzlichkeiten durchkreuzen und dem Denken, O t t o , Unterrichtslehre.

JJ

162

Die Bildungsgehalte (Methodik)

Sprechen und Schreiben des einzelnen ein bestimmtes Gepräge geben, aber an sich niemals echt sind — im Gegensatz zu den ideellen allgemeinen Denkgesetzlichkeiten bzw. besonderen Betrachtimgsweisen. Erst so kommt man zum vollen Verständnis des Schrifttums (Bibel, Romantik etc.) wie des Gesprächspartners — auch ein gut Stück allgemein menschlicher und staatsbürgerlicher Schulung! — Als Möglichkeit einer Deutung nach Inhalt und Denkform gebe ich Pestalozzis Entwurf zur »Abendstunde eines Einsiedlers« (1779). Er ist der Schlüssel zur zweiten Fassung (1779 und 1780) und ermöglicht uns einen klaren Einblick in die Grundhaltung des 33-jährigen Mannes wie in die Art seiner Denkform, seines Denkens und Schreibens, denn der Stil ist der Mensch selbst. In einer pädagogischen Schrift wird gerade dieses Beispiel willkommen sein. Ideen-, Gedanken- und Stimmungsgehalt der Schrift ist zunächst zu deuten aus den Zeitströmungen, aus der Verfassung und Geistigkeit Zürichs zu jener Zeit, aus Pestalozzis Häuslichkeit und Werdegang, aus der Besonderheit seines Wesens: Einfluß der romanischen Mystik (Synthese!), die Idee der »Ordnung« und inneren Ruhe; Harmonie des Makrokosmos und Mikrokosmos und die »Beziehungen« zu Gott (siehe auch F. Delekat, Pestalozzi). Nachwirkungen Rousseaus: gegen Selbstsucht und kalten Verstand, gegen Versklavung und Erstarrung der Gesellschaft; Idee der Natur. — Aufkommen des »industriösen« Zeitalters; Betonung von Fleiß, Sparsamkeit und Einfachheit: die »Lage« des Menschen; das Problem der Berufsbildung. Die volksbildnerischen Schriften Campes sowie Salzmanns (Sebastian Kluge) werfen ein klares Licht auf die Problemlage der Zeit. Autoritäre Stadtverwaltung Zürichs. Landvögte. Die Lage des armen Volkes, Zustand der Volksbildung und der Schulen. Pestalozzis Herkunft und Erziehung: Frauen! — Unvollendete Schulbildung; Aufenthalt beim Großvater (Theologe) in Höngg. — Bodmer und die Ideen der Patrioten: Vaterland, Menschentum, Freiheit, Gerechtigkeit, Schlichtheit, Liebe. — Zusammenbruch der Armenanstalt. Sein unausgeglichener Charakter: Gefühl, Leidenschaft, Religiosität, Wahrheitssuchen, Güte. Er ist kein Führer und hat keinen Sinn für die Pflege persönlicher Selbstdarstellung. Höchst kennzeichnend sind seine synthetische Art des Schauens und die ausgeprägte Denkform des Ganzheitsdenkers. Dem entspricht erstens der G e h a 11 d e s W e r k e s : Menschenbildung vor Berufsbildung; Ruhe und Schlichtheit in allen Ständen und natürlichen Lebenskreisen, d. h. in allen »Ordnungen« und »Beziehungen« zu Gott, in Häuslichkeit und Staat (Fürsten). — Ideen des Glaubens, der Sittlichkeit, der Berufspflicht und der Liebe. Zweitens die D a r s t e l l u n g : keine analytische Ausgliederung des Werkes, andauerndes Kreisen und Wiederholen derselben »Beziehungen« zwischen den Ideen (»Kräften«) und Menschenkreisen. Schließlich S p r a c h e und S a t z b a u (die D e n k f o r m Pestalozzis!): Wiederholungen derselben Worte im Satz oder als Satzanfänge; Weiterführung des Gedankens durch Aufnahme eines Wortes. Umschreibungen und Wortgruppen, z. B. Glauben = Kindersinn gegen Gott; negative Wendungen desselben Gedankens zwecks Verstärkung; analoge Gedankenführung mit zusammenfassendem Abschluß, z. B. Reiner Kindergehorsam gründet sich auf Genießung der täglichen Vatergaben. Volksempfindung der Vatergaben der Regierung bildet reinen Volksgehorsam. Der Gehorsam wird Naturpflicht und Dankbarkeit. Der Satzbau ist nur ein In-Beziehung-Setzen von Ideen. Daher wenige Verben, dafür: wird, bleibt, gründet sich, beruht, zeigt, bildet, ist untergeordnet, besteht, quillt, wächst, hemmt etc. Oder es fehlt die Beziehung ganz: Aneinanderreihung von Hauptwörtern (mit Eigenschaftswörtern) im Kreise. Kennzeichnend sind auch die der großen Ausgabe beigegebenen Schriftproben.

Sprachkunde

163

Alles dies finden wir, etwas gegliedert und geordnet, auch in der zweiten Fassung der »Abendstunde« wieder; das Denken in Kreisen und die beziehungslose Anreihung nominaler Satzteile ist z. T. beibehalten, namentlich mehr gegen Ende der Schrift: tGlauben an Gott — Quelle der Ruhe des Lebens — Ruhe des Lebens, Quelle

der unverwirrten

Kräfte,

Anwendung

Quelle ihres Wachstumes und Bildung

segens«.

Quelle innerer Ordnung — innere

unserer Kräfte



Ordnung in der Anwendung

zur Weisheit — Weisheit, Quelle alles

Ordnung, unserer Menschen-

Und dann wendet sich der Gedanke wieder auf Gott zurück: »Glauben an Gott, Quelle

aller Weisheit und alles Segens« etc. Denkform als individuelle Struktur- und Stileinheit des Seins, des Denkens und Schreibens! Die dritte Fassung (1807) behält wohl die Ausdrucksweise Pestalozzis im wesentlichen bei, Anordnung und Satzbau verrät aber den Eingriff eines klaren, analytischen Denkers (Niederer).

Es sind wohl Pestalozzis Gedanken, aber nicht

sein Geist, nicht die Kraft seines Rhythmus; vom Standpunkt des Stiles: nicht der Mensch Pestalozzi.

Schließlich fragt es sich, inwiefern die Lebens- und Denkform, Wort und T a t der geschichtlichen Persönlichkeit Pestalozzi den ihr gestellten Aufgaben entsprochen hat. Damit wenden wir uns der normativen Deutung zu.

Wer vermag aber Sicheres auszusagen über sein eigenes Lebensziel,

über den Richtpunkt unseres Daseins? L i t e r a t u r : F. Delekat, Joh. Heinr. Pestalozzi, Leipzig 1926. — W. Dilthey, Das Wesen der Philosophie (Typen der philosophischen Weltanschauung), Ges. Schriften V u. VIII. — G. W. Fr. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Ausgabe Meiner 1921. — H. Leisegang, Denkformen, Berlin u. Leipzig 1928. — Pestalozzi, Sämtliche Werke I, her. v. W. Feilchenfeld, Berlin u. Leipzig 1927. — E. Spranger, Wilhelm Dilthey, Eine Gedächtnisrede, Berlin 1912. — E. WechSler, Die Generation als Jugendreihe und ihr Kampf um die Denkform, Leipzig 1930; Denkform und Weltanschauung in der Geschichte der deutschen Bildung, Ztschr. f. Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 20 (1930), Heft 1.

4. D i e

Sprachkunde

u n d die

Sprechkunde.

Die menschliche Sprache ist sowohl der evolutionalen wie der finalen Betrachtungsweise

zugänglich.

Die

Wissenschaft der ersteren ist

die

Sprachkunde, sie betrachtet die Sprache als historisches Kulturerzeugnis vom Gesichtspunkte

der evolutionalen

wie der Koexistenz (Struktur).

Sukzession

(Sprachentwicklung)

Die Wissenschaft vom finalen A k t des

Sprechens ist die Sprechkunde.

Diese Unterscheidung auf Grund der

festgestellten Betrachtungsweisen wird sich als ungemein wichtig erweisen und auch das übliche Durcheinander von Grammatik und Stilistik in dem größeren Rahmen der Wissenschaftslehre klären. I. Wir behandeln zunächst die S p r a c h k u n d e .

Sie erschöpfte sich

bisher fast ausschließlich in der historisch-systematischen

Beschreibung.

Diese stellte den Sprachbestand der Einzelsprachen auf

systematischer

Grundlage fest, suchte diese Grundlage ins allgemeine zu weiten und nahm sich besonders ausführlich der historischen Beschreibung an. Dabei kamen die

Sinnzusammenhänge

zwischen

»Wörtern« und »Sachen«,

zwischen

Sprache und Kultur nicht zur Geltung. » Sprache «ist dagegen ein ungemein verwickeltes Phänomen, unausschöpfbar in seiner Allumfassenheit. 11*

164

Die Bildungsgehalte (Methodik)

Nach den ausführlichen Darlegungen über »Entwicklungswissenschaften und Geschichte«, wo die allgemeinen Gesichtspunkte historischen Werdens gegeben und auch häufig die besonderen Probleme des Sprachwandels berührt sind, beschränken wir uns im folgenden auf die Herausarbeitung des Miteinander in der Sprache und betrachten es unter zwei fundamental verschiedenen Aspekten: zunächst, in der isolierenden Abstraktion, das formale System der Sprache; das ist die (besondere und allgemeine) Grammatik; sodann, als Ganzheit gesehen, die sinnbezogene Struktur der Sprache im Rahmen der Kultur: Struktur lehre. a. Das formale System der Grammatik (Sprachlehre) beschreibt zunächst und ordnet systematisch das Sprachmaterial der Einzelsprachen und deckt überdies das allgemeine Grundgefüge aller Sprachen auf, die sich in der historischen Entwicklung mannigfaltig verzweigt haben. Man könnte in letzterer Hinsicht von »reiner« Grammatik reden; ich ziehe aber die Bezeichnung »allgemeine Grammatik« vor. Sie hat die Aufgabe, die gemeinsamen Grundzüge aller menschlichen Sprachen herauszustellen, wobei die sinnvolle Anwendung der Sprachmittel zunächst unberücksichtigt bleibt. Schon W. v. Humboldt äußert sich in diesem Sinne: da die Naturanlage des sprechenden Menschen im allgemeinen gleich ist, so folgt daraus, daß die Struktur aller Sprachen im wesentlichen tibereinstimmen muß. Die Gleichheit des Sprachzweckes hat die Gleichheit der Sprachmittel zur Folge. Auch A. Marty weist der »allgemeinen Grammatik« die Aufgabe zu, »die allgemeinen Grundlinien und Eigentümlichkeiten des in aller menschlichen Sprache Auszudrückenden oder dessen überall übereinstimmende Kategorien zu beschreiben«. Edm. Husserl gebraucht die Bezeichnung: »universelle Grammatik« im weitesten Sinne; sie behandelt die Fundamente, die für die Wissenschaften aller bestimmten Sprachen »gleichmäßig in Betracht kommen«. Ausdrücke wie »apriorische« Grammatik, die »idealistische Form« der Sprache etc. sind aber unklar und irreführend (vgl. Winckelmann — Humboldt). Von einem »reinlogisch Grammatischen« könnte man nur sprechen im Hinblick auf die t h e o r e t i s c h e Funktion der Sprache (s. u.: Stilistik). Wenn in dieser theoretischen Sphäre das Logische in der Sprache aufgewiesen wird, so ist damit der alten Verwechslung von Grammatik und Logik, gegen die schon H. Steinthal gekämpft hat, vorgebeugt Demnach gibt es allerdings keine »allgemeine Sprache«, also auch keine Grammatik »der« allgemeinen Sprache, wohl aber eine »allgemeine Grammatik«. In ihr werden oberste Gattungsbegriffe a n dem empirisch gegebenen Sprachstofi, an einem oder an wenigen typischen Beispielen, in unmittelbarer Einsicht (ideierend) erfaßt. Wir können hier von »Kategorien« sprechen, nicht im Sinne Kants! Sie bilden die letzten denkbaren Abstraktionen des sprachlich historischen Stoffes und sind daher die einzig mög liehe, allgemeine Grundlage für die Sprachwissenschaft und für jeglichen Sprachunterricht aller Schulen, wie aueb Ed. Hermann gezeigt hat.

Versteht man unter der Laut-Sprache die Gesamtheit der durch syntaktische Mittel in Beziehung gesetzten Begriffswörter, so umfaßt die allgemeine Grammatik: i Unzutreffend ist auch, was O. Jespersen, a. a. O. S. 46 über »logical categories« sagt.

Sprachkunde

165

1. Das G r u n d s y s t e m der Laute und Klänge, die Phonologie. Ich weise beispielsweise hin auf Trübetzkoys oder Sweets 1 organisches System. A. Meillet spricht von einer »phonologie générale«; sie bestimmt »les types articulatoires existant dans le langage«. 2. B e d e u t u n g s k a t e g o r i e n . Sie erstrecken sich auf den Stimmungs-, Begriffs- und Ideengehalt der Worte. E. Husserl unterscheidet: Nennen, Bedeuten und Kundgeben; das sind aber nicht objektiv-bestimmte Einteilungen der »Sprache«, sondern z. T. psychische Sonderungen verschiedenartigen Erlebens, also des »Sprechens«. In die Sprachkunde würden jedoch Unterscheidungen (formaler Art) gehören wie »allgemeine« bzw. »besondere« Bedeutungen (hier bzw. in Prag oder tun bzw. arbeiten). Ein bemerkenswerter Versuch, die Beziehungen zwischen Wort- bzw. Bedeutungskategorien und der Struktur der Begriffssphäre zu klären, ist von P. Matthes unternommen. F. Brunot, auch Charles Bally, sieht mit Recht erst einmal ab von aller syntaktischen Formung, löst das Begriffliche heraus und sucht nun den » Sprachstoff« (mit Humboldt gesprochen) unter Kategorien zu bringen. F. Brunot verwischt jedoch die Grenze zwischen Begriffsbedeutung und syntaktischer Beziehungsbedeutung. 3. S y n t a k t i s c h e Kategorien. Ich bin seit langem dafür eingetreten, die Syntax als »Beziehungslehre« zu begründen*. Wir unterscheiden demnach einmal die Beziehung der Satzteile (Satzträger — Satzaussage), sodann die Beziehung der Satzglieder (Gruppen der Satzglieder). Die erstere Grundeinteilung ergibt sich daraus, daß etwas von etwas ausgesagt wird. Die Beziehung der Satzteile und Satzglieder wird durch Kennzeichnung der Begriffsworte bewirkt. Diese Kennzeichnung geschieht durch »Beziehungsmittel«. Es sind folgende Arten syntaktischer Beziehungsmittel zu unterscheiden: a) Beugung (Flexion), z. B. des Hauses, er geht. b) Wortstellung, z. B. die Mutter liebt die Tochter. Allein die Wortstellung kennzeichnet hier Subjekt und Objekt. c) Stimmführung (Tonfall), Betonung und Pause. Arbeiten von Jones, Klinghardt etc. 1

N. S. Trubetzkoy, Die phonologischen Systeme, Zur allgemeinen Theorie der phono-

logischen Vokalsysteme, Travaux du Cercle Linguistique de Prague i (1929), S. 39 ff.; ebd. 4 (1931), S. 96 ff. 1

E . Otto, a. a. O. S. 80 fi. A n diese Theorien knüpfen bereits mehrere Schulgrammatiken

an, ausgesprochenermaßen die von Engwer-Lerch, Gall-Stehling-Vogel, Regula und Pubanz. Vgl. dazu E. Hermann, Berliner Philologische Wochenschrift 40 (1920) Nr. 42.

In jüngster

Zeit die bedeutsame Schrift W. Hävers', Handbuch der erklärenden Syntax, Heidelberg 1931 ; auch E . Hermann, Lautgesetz und Analogie, Berlin 1931.

166

Die Bildungsgehalte (Methodik)

d) Wortart. Die Funktion der Wortart als Beziehungsmittel leuchtet sofort ein, wenn man in einem beliebigen Satze die Wortart der einzelnen Satzworte abändert. Als Wortarten kommen allein in Betracht: das Gegenstandswort (Dingwort), Eigenschaftswort, Vorgangswort (Zeitwort), Umstandswort und das Zuordnungswort (Verhältniswort und Bindewort umfassend, z. B. während) Die Empfindungswörter sind keine Wortart, sondern ungegliederte Satzäquivalente. Das beiwörtliche Zahlwort (adjektivische Numerale) ist ein Eigenschaftswort der Quantität. Das Fürwort steht als Ersatz »für« ein Gegenstands-, Eigenschafts- (oder Umstands-) Wort, indem der allgemeine Ausdruck statt des besonderen gebraucht ist. Das Geschlechtswort (der Artikel) ist entweder ein Fürwort oder reines Beziehungswort (s. u.). Die Beziehungsbedeutungen der möglichen Wortarten greifen nicht auf inhaltliche Bestimmungen der Umwelt zurück, sondern auf ihre k a t e g o r i a l e Geformtheit, wie sie der Mensch nun einmal auffaßt: Gegenständlichkeit, Eigenschaft, Vorgang etc. Nicht alle Sprachen verwenden diese Mittel nach einem bestimmten Schema, d. h. die einzelnen Sprachen »müssen« nicht über a l l e Beziehungsmittel verfügen, dazu auch nicht in gleicher Weise. Man vergegenwärtige sich, welche Kasus, Zeiten oder Aktionsarten in dieser oder jener Sprache im Rahmen einer bestimmten Struktur ausgebildet sind. Besonders mache ich aufmerksam auf doppelte Ausdrucksweisen, z. B. er freut sich seines Erfolges (adnominal) und er freut sich über seinen Erfolg (Veranschaulichung durch Verhältniswort).

Die verschiedenen Beziehungsmittel erfüllen vier ganz verschiedene Funktionen. Sie kennzeichnen: a) innensyntaktische Beziehungen, d. h. die Beziehungen der Begriffsworte innerhalb des Satzgefüges, z. B. mittels der Beugung; b) außensyntaktische Beziehungen, d. h. Beziehungen, die auf kategoriale (nicht inhaltlich bestimmte) Auffassungen der Umwelt hindeuten, z. B. die Zeiten, Steigerungsgrade etc. Vgl. beispielsweise ich komme morgen (Begriffsbedeutung) — ich werde kommen (syntaktische Beziehungsbedeutung). Diese syntaktische Bedeutung dient aber nicht der Kennzeichnung von Beziehungen i n n e r h a l b des Satzgefüges; c) die eigentliche Mitteilung, d. h. dasjenige Satzglied, das als besonders wichtig herausgehoben werden soll, im Deutschen z. B. durch (logische) Betonung (cf. ich fahre heute — ich fähre heute). W. Wundt (Völkerpsychologie) sagt dafür »dominierende Vorstellung«; v. d. Gabelentz (Sprachwissenschaft) hat die Bezeichnung »psychologisches Prädikat« eingeführt; Tobler und Paul sind ihm gefolgt, Marty hat sich mit Recht dagegen gewandt; 1 Es könnten z. B. auch noch die Beifügungen sprachlich unterschieden werden, je nachdem sie ein Eigenschafts- oder ein Umstandswort bestimmen. Das Deutsche verzichtet aber darauf, z. B. du bist sehr gut, du arbeitest sehr gut.

Sprachkunde

167

d) eine Stellungnahme zum Satzgedanken, d. h. zu einem Sachverhalt (Urteil!). Die Beziehungsmittel können demnach einen Satz kennzeichnen als Bejahungs- oder Aussagesatz, als Verneinungs-, Frage- und Befehlssatz. Der Fragesatz kann z. B. kenntlich gemacht werden durch Wortstellung, Stimmhebung, Beziehungswörter (lat. — ne, frz. est—ce que); der Verneinungssatz durch dtsch. nicht. Die Scheidung von »selbständigen« bzw. »unselbständigen«, von semantischen bzw. synsemantischen Bedeutungen, wie sie im Anschluß an Aristoteles von Husserl bzw. Marty durchgeführt ist, bleibt unzureichend: nicht hat (wie daß, der unbestimmte Artikel ein) überhaupt keine (begriffliche) Bedeutung, sondern nur eine (syntaktische) Beziehungsbedeutung. Es kann sekundär, wie andere Beziehungswörter, vergegenständlicht werden {nichts, bzw. das Nichts). Die Beziehungsmittel dienen außerdem der Sprache als A u s d r u c k (z. B. die emphatische Betonung) und zu stilistischen Zwecken (z. B. die rhythmische Betonung). Die B i l d u n g s w e i s e der Beziehungsmittel kann erfolgen: a) lautlich, z. B. die Bildung der Beugung (Hauses), der Wortart (trotzig, trotzen) etc. Die lautliche Bildungsweise ist entweder synthetisch (patris, trotzen) oder analytisch (des Vaters, der Trotz, gesund sein). b) klanglich, z. B. Stimmführung, Betonung, auch Längung. Aus dieser Eigenart heraus wird die Zeichensetzung der geschriebenen Sprache verständlich. c) unstofflich, z. B. Stellung und Pause. Dazu einige Beispiele aus der Praxis für die Praxis! Nehmen wir einen Satz, wie er zwecks Satzanalyse einem Lesebuch entnommen ist: die weinende Mutter verbarg ihr Gesicht in der Hand. Dann ist die weinende Mutter nicht zureichend gekennzeichnet als i. Fall (es könnte ja auch der 4. Fall sein); ihr Gesicht ist nicht bloß der 4. Fall (es könnte auch der 1. Fall sein). Vielmehr erkennt man die Satziunktion dieser Wörter an der Wortart (Gegenstandswort) sowie an ihrer Stellung, wobei Nachdruck, Stimmton und Pause auch noch Hilfe leisten; ebenso ist der Hand sowohl 2. wie 3. Fall, also nicht bloß 3. Fall, was man so gern aus dem vorstehenden Verhältniswort »schließen« möchte! Es kann nur das als Merkmal in Betracht gezogen werden, was wirklich dasteht, nicht was vermutet oder aus Analogie gefolgert werden »könnte«. — Ein zweites Beispiel: In Erkenntnis der Sachlage sagte sie die Wahrheit. Hier ist Erkenntnis nicht eindeutig der 3. Fall, der Sachlage nicht bloß der 2. Fall, sie nicht allein der 1. Fall, wie die Wahrkeit nicht der 4. Fall. Man kann »ergänzen« oder „schließen", daß es früher einmal so war — soweit damals andere Formen standen! — es ist aber nicht der frühere, sondern der gegenwärtige Sprachzustand festzustellen, d. h. wieweit der Verfall der Beugung fortgeschritten ist und durch welche syntaktischen Beziehungsmittel heutzutage die Satzteile und Satzglieder gekennzeichnet werden. Auch wenn die lat. Neutra, z. B. corpus oder corpora, im Nom. oder Acc. gleiche Formen haben, soll man nicht behaupten, es sei der Nom. oder es sei der Acc. Beide sind eben zusammengefallen. Ebenso wird man den englischen und französischen Substantiven keinen Unterschied des Nominativ und Akkusativ andichten. (Ganz anders die Pronomina!) Das war einmal, und dieser Wandel ist für gelegentliche sprachgeschichtliche Einblicke und Vergleiche höchst

168

Die Bildungsgehalte (Methodik)

lehrreich. Man wird auch in den nationalen. Grammatiken Frankreichs vergebens den Usus suchen, Substantiva nach Art des Lateinischen zu deklinieren: la table, de la table, ä la tableI Das ist nur deutschen Grammatiken des Französischen vorbehalten, mag allerdings im Anfangsunterricht als Vergleich mit dem Deutschen methodisch zu rechtfertigen sein. Dann hat es aber ein Ende; die Jugend ist zum gewissenhaften Beobachten der Wirklichkeit zu erziehen, wodurch zugleich die beste Einführung in das grammatische Verständnis der modernen Sprachen geleistet wird. Denn später heißt es z. B. im Englischen: die direkte bzw. indirekte Bestimmung steht unmittelbar hinter dem Verb.

ß. Die sinnbezogene S t r u k t u r der Sprache als Ganzheit: lehre (Idiomatik).

Struktur-

Sie betrachtet das Ganze eines »Idioms« als einen lebendigen Organismus und legt Querschnitte durch die historische Längsentwicklung der einzelnen Sprachen. Obgleich alle Einzelsprachen an allen Wertsphären teilhaben, weichen sie doch wesentlich voneinander ab, je nach der Art, wie die einzelnen Sprachgemeinschaften, den äußeren Bedingungen und dem Charakter ihrer Richtkräfte gemäß, im Laufe der Geschichte unter den möglichen Sprachmitteln »gewählt« haben — weswegen auch fälschlich hier von »Stil« gesprochen wird! Demnach kann die »Höhe« der Einzelsprachen recht verschieden sein, je nachdem die Sprachgemeinschaft mehr nach logischer Klarheit, ästhetischer Fülle und Anschaulichkeit, praktischer Kürze, gesellschaftlicher Konvention oder auch religiöser Versenkung hinneigt. Das sind die geistigen Richtkräfte, die nun einmal alle historische Entwicklung bestimmen (vgl. o. S. 140f.). Dazu birgt jede Sondersprache in ihrer »Stimmungsstruktur« auch den Niederschlag vitaler A u s d r u c k s erlebnisse, z ^ B . im Stimmungsgehalt und in der Lautgestalt sonst begriffsähnlicher Worte x. Aus diesen geistigen Richtkräften und vitalen Trieben läßt sich die besondere Struktur jeder historischen Einzelsprache allein verstehen, wie es jetzt W. Hävers "gelungen ist. In seiner Untersuchung über die KawiSprache scheidet W. v. Humboldt die (innere) »Form der Sprache« von der »grammatischen«. Die »innere «Sprachform als »geschlossenes System« ist eine Schöpfung der »Ideen«. Und diese Geistigkeit nennt Humboldt die »innere Sprachform«. In ihr offenbart sich somit die Mentalität der verschiedenen Völker 2 . In der »Wort- und Begriffsbildung einer Sprache wie auch in der Redefügung« brechen »die nationellen Eigentümlichkeiten« hervor. In jedem Idiom liegt daher »eine eigentümliche Weltansicht«. Sie ist eine »geistige Einheit«. Erst von dieser Sprach1 Vgl. dazu H. Werners Vortrag über »Sprache als Ausdruck« auf dem X I I . Kongreß der Dt. Ges. f. Psychol., Bericht Jena 1932, S. 201 f. 1 Von Humboldt sind angeregt worden und äußern sich in ähnlichem Sinne: B. Delbrück, H. Paul, G. v. d. Gabelentz, W . Wundt, A. Marty, F . N. Finck, O. Funke, W. Porzig, H. F. J . Junker. Es ist hier nicht der Ort, auf die Literatur näher einzugehen.

Sprachkande

169

auffassung aus wird einsichtig, daß nur eine sinnganze Betrachtungsweise den Strukturen der Nationalsprachen gerecht werden kann und daß jede Sprache auch nur im Zusammenhang der nationalen Kultur zu verstehen ist: Kulturkunde 1 »Und nur wenn man von den zerstreuten Elementen bis zu dieser Einheit hinaufsteigt, erhält man wahrhaft einen Begriff von der Sprache selbst, da man, ohne ein solches Verfahren, offenbar Gefahr läuft, nicht einmal jene Elemente in ihrer wahren Eigentümlichkeit, und noch weniger in ihrem realen Zusammenhange zu verstehen«. E. Lorck, Jahrbuch für Philologie I, ergänzt in dieser Richtung die Grammatik durch die »Sprachseelenforschung«. Die strukturierende Betrachtungsweise umfaßt also nicht nur (formal) die möglichen Arten der Beziehungsmittel und ihre Beziehungsbedeutung (Grammatik! Regeln!), sondern zielt (inhaltlich) auf den Sinn der Sprache, d. h. die geistigen Kräfte, welche ihre Struktur hervorgebracht haben. Von diesem Sinne aus ergibt sich erst die Möglichkeit einer E i n h e i t , die zwischen dem geistigen Gehalt der Sprache und der Besonderheit der übrigen nationalen Kultur besteht! Der Ausdruck »Strukturlehre « umfaßt dann auch die Eigenart des Vorstellungs- und Stimmungsgehalts (z. B. Metaphern! Marty: figürliche innere Sprachform) sowie die eigentümliche Prägung der Laut- und Wortbildung bis hin zur Schrift, da sich in allem die »eigentümliche Weltansicht« eines Volkes widerspiegelt. Struktur ist also ein bestimmt umrissener Fachausdruck auf dem Gebiete der Sprachkunde. »Stil« und »Stilistik« eignen dagegen der Sprechkunde (s. u.). Daraus ergibt sich die Forderung, die formal-isolierende grammatische Betrachtungsweise zu weiten und hinzuführen auf eine dynamisch-strukturierende Behandlung, in der die geistigen Richtkräfte der »inneren Sprachform« in ihrer typischen Ganzheit und gegenseitigen Abhängigkeit im Rahmen der gesamten Volkskultur aufgedeckt werden: die Harmonie von Volkstum und Sprache, von Sprachgehalt und Sprachgestalt. Das ist wohl auch die Grundidee, die der Sprachauffassung Voßlers letzten Endes zugrunde liegt. Und wenn M. Deutschbein glaubt, die Regeln durch »Prinzipien« ergänzen zu müssen, so taucht damit wieder die richtige Idee einer »inneren Sprachform« in Humboldts Sinne auf I . Fassen wir zusammen: Die Grammatik der Einzelsprachen ist auf der Universität und allen Schulgattungen zu betreiben auf Grund einer allge meinen G r a m m a t i k . 1

K . Voßler, Die Nationalsprachen als Stile, Jahrbuch f. Philologie I, München 1925,

S. 1 fi.; E . Otto, Die neuere Sprachwissenschaft und die Schule, Zeitschr. f. Deutschkunde 1925, S. 270 f.; Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts, Bielefeld u. Leipzig 1925, S. 189f. (2. u. 3. Auflage); M. Deutschbein, Prinzipien und Methode der syntaktischen Forschung, Die Neueren Sprachen X X X I I I (1925), Heft 1.

170

Die Bildungsgehalte (Methodik)

In dem System der Syntax als Beziehungslehre werden die gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse der in Beziehung gesetzten Begriffsworte erkannt. Nur auf diese Weise kommt man zu einem vertieften Sprachverständnis sowie zu einer verständigen Begründung der Zeichensetzung. Damit wird auch eine breitere Grundlage für die Erlernung der Fremdsprachen geschaffen (Idee der Parallelgrammatik) und das dynamisch-funktionale Denken geschult. Die Grammatik als künstliche Isolation ist zu ergänzen durch eine sinnbezogene Strukturlehre. Auf diese Weise werden die Sprachen der verschiedenen Nationen (bzw. anderer Gruppen) als geschlossene Ganzheiten bestimmter geistiger Prägung »verstanden«. Das Studium der eigenen Muttersprache, weiterhin auch der Vergleich mit der Struktur der Sprache (und der Kultur) anderer Völker vertieft das »Verständnis« fremder und eigener Geistesart (Kulturkunde!), führt sowohl zur vertieften Nationalgesinnung wie zur echten Humanität und ermöglicht Einblicke in die Welt der Werte schlechthin und ihre Geltungsforderungen. — II. Auf dem Gebiete der Sprachkunde haben wir das-formale System der Grammatik ergänzt durch das sinnbezogene Ganze einer »Strukturlehre«, die nicht nur »erkennen«, sondern geistige Zusammenhänge der Kultur »verstehen« will. Wir werden in ähnlicher Weise auf dem Gebiete der Sprechkunde zu untersuchen haben einmal die isolierende »Sprechlehre«, die die Funktion des Sprechens in der künstlichen Isolation einer wesentlich finalen Betrachtungsweise zu erkennen sucht, insofern das Sprechen als Willenshandlung in der Folge der Zeit verläuft (A. A. Grünbaum); sodann als Ergänzung die »Stillehre« (Rhetorik und Stilistik), die den Akt sinnbezogenen Sprechens und Schreibens (im eigentlichen Sinne) zu verstehen und an normierenden Maßstäben zu messen sucht. Sie ergänzt daher die künstliche Isolation durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Waren auf dem Gebiet der Sprachkunde Abhängigkeiten der Koexistenz herauszuarbeiten, so haben wir es nunmehr in der Sprechkunde mit finalen Abhängigkeiten der Sukzession zu tun. a. Die Sprechlehre x. Wir gehen mit W. Wundt (Essays) davon aus, daß die Sprechtätigkeit »Gedankenäußerung durch artikulierte Bewegungen «ist. Damit umfaßt das Sprechen einmal die psychophysischen Bewegungen des Lautkomplexes, sodann die psychischen Erlebnisse des Ausdrucks bzw. der Stellungnahme. 1

Die Trennung von Sprach- u. Sprechkunde hatte ich, unabhängig von de Saussures Sonderung von Langue und Parole, bereits in meiner »Wissenschaftlichen Forschung«, 1918, S. 43 vorgenommen und dann in meiner »Grundlegung« 1919 durchgeführt. Siehe auch E . Blauert, Zur Psychologie der Wortbedeutung und des Sprachverständnisses, Erziehungswiss. Beilage der Lehrer-Zeitg. f. Ost- u. Westpreußen, 1 (1924), Nr. 10 u. 1 1 .

Sprechkunde

171

Das psychophysische Phänomen des Sprechens (Hörens) bzw. Schreibens (Lesens) setzt sich aus folgenden Komponenten zusammen: i . Das motorische Element der Lautartikulation (m), 2. das a k u s t i s c h e Element des gehörten Lautes (a), 3. das g r a p h i s c h e Element der Schreibbewegung (gr), 4. das optische Element der gesehenen Schrift (o). Diese Heraushebung der Grundzüge sieht ab von den Tastwahrnehmungen der Taubstummen sowie den Gesichtswahrnehmungen der gesprochenen Laute (des Mundes) bzw. der Gebärdensprache (Zeichensprache). Das Phänomen des psychischen Erlebnisses erstreckt sich auf die folgenden Bewußtseinsbestimmungen: 1. Das Element des begrifflichen »Bedeutens« (vgl. oben: »Bedeutung«!), d.h. die bedeutungsverleihenden Akte (b), 2. das Element der Anschauung, die bedeutungserfüllenden Akte (v = Vorstellungsgehalt), 3. das Element des Stimmungsausdrucks (st), 4. das Element der syntaktischen Beziehungsbedeutung (bz). Die Möglichkeit der Zeichenverwendung beruht auf der bereits öfter erwähnten Tendenz der menschlichen Psyche zur g a n z h e i t l i c h e n E r gänzung des sinnlich Gegebenen Es geht also die Aufmerksamkeit vom akustisch-motorisch-optischen »Zeichen« (bzw. Anzeichen) zur BegriffsBedeutung der Worte weiter und darüber hinaus zur Einreihung dieser Begriffssphäre in einen Sach- und S i n n z u s a m m e n h a n g E s ist daher falsch, in dem Wortkomplex eine künstliche Assoziation und in der akustischmotorisch-graphisch-optischen Lautkomponente nur ein willkürliches Zeichen sehen zu wollen. Es empfehlen sich daher folgende Unterscheidungen: A n z e i c h e n (organisch-gliedhaft gewordenes Zugeordnetsein zu einem Erlebnis) 3, Z e i c h e n (willkürliche Konvention), S y m b o l (anschaulicher Vergleich auf Grund einer metaphysischen Einheit), A b b i l d (Wiedergabe der Gegenständlichkeit). Die Hieroglyphen sind Abbilder; die onomatopoetischen Laute sind, wie die begleitenden Gesten, Symbole, z. T. Abbilder; die akustisch-motorischen Lautkomponenten erscheinen als willkürlich gewählte Zeichen, aber nur vom Standpunkt einer isolierend-formalen Sprachbetrachtung. Anzeichen ist dagegen einmal kennzeichnender * Vgl. dazu N. Ach, Zur psychologischen Grundlegung der sprachlichen Verständigung, Bericht über d. XII. Kongreß d. Deutschen Ges. f. Psychol., Jena 1932, S. 122 ff. 1 W. Wundt, Völkerpsychologie I, 1 (ign), S. 570f.; H. Dempe, Was ist Sprache? Weimar 1930, S. 80 ff. Vgl. dazu die Vorträge von E. Cassirer, K. Goldstein, A. A. Grünbaum u. H. W. Gruhle auf dem XII. Kongreß d. Deutschen Ges. f. Psychol. in Hamburg (1931). 3 Wegen des physiognomisch-organischen Charakters der Sprache verweise ich noch auf die Vorträge H. Werners, L. Weisgerbers u. G. Ipsens auf dem XII. Kongreß d. D. Ges. f. Psychol. in Hamburg (1931).

Die Bildungsgehalte (Methodik)

172

Gefühls-Ausdruck des Sprechenden, sodann ist es charakteristisch für das weltanschauliche Apriori einer jeden historisch gewordenen Einzelsprache, also die ganzheitliche Sprache unter s t i l i s t i s c h - s t r u k t u r e l l e m Gesichtspunkt betrachtet 1 . Vgl. S. 201, Anm. 2. Das Bedeuten eines Worts variiert innerhalb einer gewissen Sphäre um einen bestimmten Kern von Individuum zu Individuum, während der (logische) »Begriff« von der Wissenschaft mit Hilfe der Definition möglichst eindeutig festgelegt wird (oder: festgelegt werden sollte) Die Untersuchungen von Martinak,Marbe, Ach,Messer, K.und Ch.Bühler, Taylor, H.E.Müller, Selz, Husserl u. a. haben dargetan, daß das Wortverständnis nicht der konkreten Veranschaulichung bedarf und daß die bloße Intention auf den Gegenstand ohne anschauliche Repräsentation genügt. Der Stimmungsgehalt hängt ab von dem Klange der Worte, von seinen Beziehungen zu anderen Worten oder seiner (geschichtlichen) Herkunft, vgl. Pferd — Roß — Mähre. Das Wort: Vaters hat außer dem begrifflichen Bedeuten, dem möglichen Anschauungsund Stimmungsgehalt noch eine syntaktische Beziehungsbedeutung (Wesfall).

Das Ganze aller dieser Elemente ist ein Komplex, dessen Komponenten in mannigfaltigster Weise sowie in sehr verschiedenen Stärkegraden untereinander verknüpft sind und im Sprechakt mehr oder weniger anklingen je nach der Art der Betätigung. Danach bezeichnet im wesentlichen die Assoziation bzw. Reproduktion a — m: das (laute) sinnlose Sprechen; a — m — b — st — bz: das sinnvolle Sprechen; o — a — m — b — st — bz — gr das sinnvolle Abschreiben, wozu dann noch anschauliche Sachvorstellungen (v) treten können. Der Sprechakt in der Aufeinanderfolge finaler Abhängigkeiten umfaßt die Vorgänge der Lautbildung, der Wortbildung und der syntaktischen Satzgliederung. Die Lautbildung wird beschrieben in der Phonetik 3. Was die Wortbildung und Satzgliederung betrifft, so geschieht die erstere mittels »Induktion«, die letztere mittels der »Komplexergänzung«, was man früher alles in sehr unklarer Weise unter der Bezeichnung »Analogiebildung« zusammengefaßt hat. Die Induktionen (»Analogiebildungen«) dienen als klanglichlautliche Determinierungen der Wortbildung und zwar sowohl der zusammengesetzten Begriffsworte (z. B. Haustür, Häuschen) wie der syntaktischen Formen: des Vaters — des Sohnes, klein — kleiner — am kleinsten = 1

Im ersteren Falle ist das Sprechen kennzeichnend für den Sprechenden, im letzteren Falle für die Sprachgemeinschaft. Fr. Kreis sieht die Sprachzeichen vom Aspekt der aktuellen Grammatik; E. Cassirer, der die produktive Ganzheitsfunktion der Sprache im Auge hat, spricht vom »Symbol«. Daher die Abweichungen. 1 Diese Unbestimmtheit des »Bedeutens« ist zu unterscheiden von der (historischen) »Bedeutung« allgemeiner (okkasioneller) Ausdrücke, z. B. hier statt des besonderen Ausdrucks: in Prag. 3 Die Phonetik ist ein Glied der Sprechwissenschaft, aber keine Naturwissenschaft, wie N. Trubetzkoy behauptet, Travaux du Cercle Linguistique de Prague I (1929), S. 39. Der finale Sprechakt des vernünftigen Menschen ist geisteswissenschaftlich zu betrachten. Nur seine Grundlage ist physiologischer Art, nicht das Sprechen als Energeia.

Sprechkunde

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rein — reiner — am reinsten. Sie sind die Modelle (Paradigmata), nach denen wir andere »Formen« bilden. Von diesen klanglichen Determinierungen der Formenbildung ist wohl zu unterscheiden die A r t der S a t z g l i e d e r u n g im Rahmen einer K o m plexergänzung Auf diese Weise vollzieht sich die jeglicher Einzelsprache besondere Art der Wortstellung, der Stimmodulation (z. B. in der Frage), des dynamischen Akzentes, der Flexion etc. Hier handelt es sich nicht mehr um die klangliche Bildung der Formen, sondern um die Anordnung und Beziehung der Worte im Ganzen eines Satzschemas. Vgl. dazu oben S. I29ff. E s durchkreuzen sich während des (produktiven) Sprechaktes folgende Bewußtseinserlebnisse in der mannigfaltigsten Weise, die ich auf die kürzeste Form zu bringen versuche: 1. Das Denken, d. h. das Gerichtetsein auf einen Vorstellungsgehalt, und das S p r e c h e n (Hören etc.). 2. Beim Sprechakt selbst: das Auftreten der B e g r i f f s w o r t e und der verschiedenen Arten von S a t z s c h e m e n und zwar: a) vorsprachlicher Art einer allgemeinen Grammatik, z. B. die allgemeine Beziehung Satzgegenstand — Satzaussage; b) syntaktische Kennzeichnungen einer besonderen Einzelsprache. Was den psychophysischen Ablauf des Sprechens im einzelnen belangt, so ergeben sich zwei Grenzfälle: entweder der Satz steht sprachlich sogleich in seinem wesentlichen Bau im Bewußtsein des Sprechenden, oder es erfolgt eine durchaus phasenweise Gliederung des Satzgedankens auf Grund teilweis assoziativ verbundener Worte, ferner durch Abspaltung einer Teilvorstellung, durch analytische Weiterführung des Satzgedankens (z. B. die Definition); auch eine anschauliche Vergegenwärtigung (Wahrnehmimg) kann die Analyse fördern 3 . Dem Akt der artikulierten Rede entspricht das »Verstehen« des Gehörten (bzw. Gelesenen). Hier ist »Verstehen« im uneigentlichen 1 0 . Selz stellt (a. a. O. I, S. 128) 3 Gesetze der Komplexergänzung auf: 1. Ein gegebenes als einheitlich Ganzes wirkendes K o m p l e x s t ü c k hat die Tendenz, die Reproduktion des ganzen Komplexes herbeizuführen. 2. Ein einen Komplex seinem ganzen Bestände nach antizipierendes S c h e m a hat die Tendenz, die Reproduktion des ganzen Komplexes herbeizuführen. 3. D i e auf die E r g ä n z u n g eines s c h e m a t i s c h a n t i z i p i e r t e n K o m p l e x e s g e r i c h t e t e D e t e r m i n a t i o n begründet die Tendenz zur Reproduktion des ganzen Komplexes. 1 0 . Selz, a. a. O. II, 326: Einsetzen einer Gegenstandsbezeichnung. E s können zunächst Beziehungen des Bewußtseins auf etwas wirklich Gegenständliches, auf einen Vorgang etc. vorliegen, die dann erst später grammatisch zur angemessenen Wortart geformt werden (II, 325; 308 f.; 320, 345 Anm.). Sehr wichtig für das Wesensverständnis der Wortart als eines syntaktischen Beziehungsmittels I

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

Sinne gebraucht (vgl. oben S. 1 2 2 f.). E s beruht auf einer Kombinationstätigkeit zwischen der vorliegenden Sachlage, der Wissensaktualisierung der verstandenen Wortbedeutungen, der zwischen ihnen bestehenden Sachbeziehungen sowie der syntaktischen Beziehungsmittel im Rahmen der verschiedenen Satzschemata. Auch Ausdrucksbewegungen des Körpers, Haltung, Mienenspiel und Handbewegungen geben dabei Hilfen. Das Verständnis eines teilweise gehörten Satzes führt zur Auffassung des Ganzen auf Grund des Gesetzes der Komplexergänzung: das bereits erfaßte Komplexglied der Rede suggeriert dem Hörenden entsprechende Satzschemata Auf Grund des passenden Schemas werden die einzelnen Beziehungen der Begriffsworte gedeutet. Umgekehrt setzt aber die richtige Antizipation des Schemas wiederum das angemessene Verständnis der Begriffsbedeutungen und ihrer syntaktischen Beziehungen innerhalb des Komplexes voraus. So finden wir auch hier entsprechende Wechselwirkung wie beim Prozeß des Sprechens wieder a. Die vorstehenden Ausführungen beweisen, daß sich die theoretische Grundlegung des sprachlichen Unterrichts noch im vorwissenschaftlichen Stadium befindet: wir sprechen mit großer Sicherheit von einer »sprachlichen Begabung«, gründen den Besuch und die Berechtigungen der »Gymnasien« zum überwiegenden Teil auf die Fähigkeit der Spracherlernung sowie des sprachlichen und literarischen Verständnisses — und sind uns wissenschaftlich über die psychologischen Prozesse dieser Funktionen noch sehr im Unklaren! Ich fasse daher in großen Linien die Gesichtspunkte zusammen, die den Sprechakt, das Verständnis des gesprochenen Wortes und des Schrifttums bedingen: 1. Die akustischen und motorischen Fähigkeiten der Auffassung und der Artikulation (Hörund Sprechfähigkeit). 2. Die Vorgänge der Assoziation bzw. Reproduktion sowie auch der Perseveration, auf denen wesentlich der sichere und schnelle Gebrauch der Begriffsworte (Vokabeln!) beruht. 3. Die »Induktionen« als Determinierungen zusammengesetzter Begriffsworte und der syntaktischen Beziehungsmittel (Formenlehre). 4. Die Determinierungen im Rahmen der »Komplexergänzungen« (Gliederung des Satzgedankens). 5. Das finale Durchdenken begrifflicher Zusammenhänge (Beziehendes Denken). 6. Das geistige Verstehen literarisch-ästhetischer oder theoretisch-begrifflicher Werke (Deuten), das wir bereits eingehend behandelt haben. Alle diese verschiedenen Fähigkeiten lassen auf ebensoviele besondere Veranlagungen schließen, die keineswegs, wenn auch in sich eine Ganzheit, überall dasselbe Niveau zu erreichen brauchen. Der Begriff der sprachlichen Begabung ist daher außerordentlich verwickelt. ß) Die S t i l l e h r e als die Theorie des sinnbezogenen und angemessenen Sprechens und Schreibens: R h e t o r i k und S t i l i s t i k . Die Stillehre, ein 1 Hierhin gehört auch A. Martys Auffassung von der »konstruktiven inneren Sprachform«, Untersuchungen I, S. 144 ff. » O. Selz I, S. 165 ff., 128, 299 f.; II, S. 343 f.; vgl. Ch. Bühler, Ztschr. f. Psychol. 80 (1(918), S. 129 ff.; 81 (1919), S. 181 ff.

Sprechkunde

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höchstumstrittener Begriff ergänzt demnach die Sprechlehre in ähnlichem Sinne wie die Strukturlehre das formale System der Grammatik bzw. die systematische Übersicht des Sprachbestandes einer Einzelsprache. Zunächst zur Unterscheidung von Strukturlehre und Stillehre: Struktur ist, in überpersönlicher Bedeutung, die ideelle D i s p o s i t i o n der zu einer G r u p p e (Familie, Stand, Volk usw.) vergesellschafteten Menschen; in gegenständlicher Hinsicht: das geistige Grundgefüge ihrer Objektivierungen. Stil ist dagegen (finale) A k t i o n eines I n d i v i d u u m s (vgl. die Übersicht auf S. 1 3 3 t.). E s gibt daher wohl die Sprachstruktur der verschiedenen Gesellschaftsgruppen (L. Spitzer: »Sprachstil«!), aber nicht einen nationalen Stil, also auch nicht den Stil der lateinischen oder französischen Sprache. Sodann zur Unterscheidung von sinnfreiem Sprechen (Sprechlehre) und sinnbezogenem Sprechen (Stillehre): wir reden von Stil immer da, wo ein s p r e c h e n d e s (oder schreibendes) I n d i v i d u u m eine bestimmte A u s w a hl unter den möglichen Sprachmitteln (einschließlich der Schrift) vorgenommen hat, und zwar im Hinblick auf einen bestimmten Zweck *. Damit ist ein weiteres Charakteristikum des Stiles gegeben. Während die Grammatik der Einzelsprachen feststellt, welche Sprachmittel dem Redenden zur Verfügung stehen, entscheidet die Stillehre, ob eine Ausdrucksweise angemessen ist im Hinblick auf einen (unbewußten) Z w e c k bzw. ein (mehr oder weniger bewußtes) Ziel 3, sei es in der persönlichen Ausdrucksweise als integrierendem Teil der eigenen Lebensführung (K. Voßler: der »individuelle Sprachgebrauch«; L. Spitzer: »Stilsprache« i. w. S.), sei es zur Charakteristik anderer Personen in literarischen Darstellungen. Grammatik ist also Tatsachenwissenschaft, Stilistik und Rhetorik aber N o r m w i s s e n s c h a f t . Was gegen den Usus verstößt (gegen die »Regel«), ist »falsch«; was einem bestimmten Zwecke nicht entspricht, ist der Wahl nach »unangemessen«. Der Grad der A n g e m e s s e n h e i t beruht auf der 1 W . Kroll, Die wissenschaftliche Syntax im lateinischen Unterricht, 1920, S. 72: »Seit alter Zeit schließt sich an die Syntax ein Anhang, den man früher Syntaxis ornata, jetzt Stilistik oder stilistische Eigentümlichkeiten zu nennen pflegt, ein Sammelsurium aller möglichen Kegeln: meist Warnungen vor Germanismen, die den Schüler beim Lateinschreiben geleiten sollen und daher in der Zeit des lateinischen Aufsatzes besonders umfangreich waren, Semasiologisches, Rhetorisches — aber auch Dinge, die für den Ausdruck des Gedankens wesentlich sind und daher eigentlich in die Syntax gehören«. 3 Vgl. E . Otto, Was versteht man unter Stil ? Was ist Stilistik ? Leipzig 1914; E . Winkler, Grundlegung der Stilistik, Bielefeld u. Leipzig 1929, S. 28 ff.: Theorie der Stilwerte; M. Deutschbein, Neuenglische Stilistik, Leipzig 1932, S. 1 f. 3 Das ist auch der Sinn von H. Dempes Schrift, a. a. O. S. 32, 40. Während ich von »Stil« spreche, sagt Dempe, in Anlehnung an K. Bühler, dafür »Darstellung« und sondert den biologischen Zweck der Sprache (Kundgabe und Auslösung) von der Sprache als intentionalem Sinnphänomen.

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größeren E i n h e i t l i c h k e i t zwischen den gewählten Sprachmitteln und dem ins Auge gefaßten Ziel z . Das ist ein letztes Kennzeichen des Stiles. Die Redeweise: Ich freue mir ist grammatisch falsch, kann aber stilistisch einheitlich sein, indem sie einem bestimmten Zweck angemessen ist, z. B. der Charakteristik eines Ur-Berliners dient. Dann stimmen Umwelt, Lebenshaltung und Sprachstil überein. Es wäre demnach ungemein klärend, von »Stil« überall da zu reden, wo erstens die Sprechaktion eines Individuums vorliegt, zweitens diese »Handlung« eine persönliche Note trägt, drittens eine Auswahl (bzw. Neubildung) unter den möglichen Sprachmitteln einer Sprachgemeinschaft erfolgt ist, und viertens die E i n h e i t der Ausdrucksweise gewahrt ist im Hinblick auf einen bestimmten Zweck. Alle angegebenen Gesichtspunkte hängen eng miteinander zusammen 2 . Von der Stillehre der Einzelsprachen zu unterscheiden ist die allgemeine »Stilkunde«. Sie handelt von den Möglichkeiten der Komposition, den Normen sprachlicher Darstellung schlechthin im Hinblick auf besondere Zwecke (Geschäftsbrief, Umgangssprache, Trauerrede), den verschiedenen Metaphern usw. Dem Sinne nach kann der gesprochene bzw. geschriebene Laut (oder das Wort) entweder {unwillkürlicher) Ausdruck von Stimmungen sein oder (wesentlich willkürlich) Stellungnahme zu einem Sachverhalt. An den unwillkürlichen Ausdrücken kann man in Anlehnung an K. Bühler unterscheiden die »Kundgabe« der eigenen Regungen (z. B. au als Ausdruck des Schmerzes) und die »Auslösung« als Wirkung der Kundgabe auf fremde seelische Regungen (z. B . der Lockruf der Henne) 3. Diese naturhaften Ausdrucksfunktionen (Martinak: Instinktsprache) dienen biologischen Zwecken. Die Sprache als mehr oder weniger willkürliche Stellungnahme zu einem Sachverhalt gehört dagegen der sinnbezogenen Sphäre des Kulturmenschen an (Cassirer: Repräsentation) und dient bestimmten Zielen. Entsprechend der Unterscheidung von Kundgabe und Auslösung kann man an der sinnhaften Rede sondern: einerseits das sinnbezogene Sprechen als »Darstellung«, d.h. die wahre, schöne

• Die Tatsache, daß der Faktor der Wahltendenz gerade das Eigenartige des Geistigen ausmacht, läßt alle Erörterungen über S t i l i s t i k und die späteren Darlegungen über R h e t o r i k im Rahmen unserer Unterscheidung von »Bewegung« und »Richtung« erst im rechten Licht erscheinen. Vgl. o. S. 17 ff. u. 109. 1 »Es muß also etwas wie eine prästabilierte Harmonie zwischen Wortausdruck und Werkganzem im Dichter bestehen, eine geheimnisvolle Zuordnung von Wortform und Werkwollen«. Demgemäß vertritt L. Spitzer die Ansicht, »daß die Stilistik und die Herauslösung des Sprachlichen aus dem Kunstwerk eigentlich... aufzugehen habe in der Analyse des Kunstwerkes«. L. Spitzer, Zur sprachlichen Interpretation von Wortkunstwerken, Neue Jahrbücher f. Wissenschaft u. Jugendbildung 6 (1930), Heft 7; ebenso seine »Stilstudien«, München 1928. 3 Karl Bühler, Kritische Musterung der neuern Theorien des Satzes, Indogerm. Jahrbuch VI (1918), 1920; außerdem a. a. O. 4. Kapitel. Statt »Kundgabe« könnte man eindeutiger sagen »Affektentladung« oder »Entledigung«. Vgl. W. Wundt, Völkerpsychologie (Sprache) I, 1, Leipzig 1911, S. 43 ff.; H. F . J . Junker, Die indogermanische und die allgemeine Sprachwissenschaft, Festschrift f. W. Streitberg, Heidelberg 1924, S. 13 Anm. 2,

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bzw. knappe Darlegung von Sachverhalten, und andererseits die soziale Funktion der »Mitteilung« mit Rücksicht auf den Hörer (Eindruck, Einwirkung) ».

Ich nehme K. Bühlers Bezeichnung »Darstellung« auf, weil sie auf sprachlichem Gebiet der persönlichen Selbstdarstellung (siehe Kunsterziehung) entspricht. Die soziologische Betrachtungsweise der Sprache wird neben K. Voßler namentlich von französischen Philologen (z. B. Raoul de la Grasserie) und den Schweizern, z. B. Ch. Bally, vertreten. Alle diese Ausdrucks- und Einwirkungsbewegungen gehen ohne scharfe Grenze ineinander über, z. B. die »Kundgabe der eigenen und die Einwirkung auf fremde seelische Regungen«. Wer will enträtseln, inwiefern unwillkürliche und willkürliche Elemente der Mitteilung (Eindruck), Stimmungen und sachliche Stellungnahmen in einem Anruf: »He!« durcheinanderfließen I In Fortsetzung der oben gegebenen Zergliederung des Sprechaktes (und des von O. Selz gegebenen Materials) können wir nunmehr, wo die Einheit angemessenen Redens und Schreibens zur Erörterung steht, hinzufügen, daß während des sinnvollen Sprech- bzw. Schreibaktes eine Nachprüfung (Berichtigung) des bereits Ausgesprochenen sowie des Auszusprechenden stattfindet, und zwar unter den konkurrierenden Vorstellungen, die infolge determinierter Wissensaktualisierung, der gestellten Aufgabe gemäß, gegenwärtig sind. Entspricht keine Lösung der gestellten Aufgabe, so kann diese ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Bei der Nachprüfung können einmal die reproduzierten S a c h v e r h a l t e berichtigt werden, was auch mit Hilfe anschaulicher Vorstellungen geschehen kann; weiterhin bei der endgültigen Reproduktion des Sprechaktes bald Worte durch andere ersetzt, bald die syntaktischen Beziehungen abgeändert werden. Wird weniger Gewicht gelegt auf die Gestalt (Form) der Rede, sondern mehr auf die sinnverleihenden Akte, so könnte man von »Äußerungen« sprechen. 1 AI. Fischers Ausführungen über die Formen der geistigen Wechselwirkung (Mitteilung!), Kafkas Handb. d. vergleichenden Psychol., 2. Bd., München ¿922, S. 352 fi. — Von den auf dem X I I . Kongreß d. Deutschen Ges. f. Psychol. geäußerten Meinungen verweise ich besonders auf A. A. Grünbaums Ausführungen über die Mitteilung S. 168 f. — Interessant sind W. Leopolds Darlegungen und L. Morsbachs Entgegnung in der Anglia 56 (1932), 1. Heft. Nach A. Marty, Untersuchungen I, S. 284, besteht neben der Kundgabe des eigenen psychischen Lebens das Primäre des absichtlichen Sprechens darin, das Seelenleben des Hörenden zu beeinflussen. E. Husserl spricht von der Mitteilung mittels der Kundgabe, a. a. O. II, 1, S. 36; vgl. E. Martinak, Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungslehre, Leipzig 1901, S. 84; H. Schwarz, Die verschiedenen Funktionen des Wortes, Zeitschr. f. Philosophie u. philos. Kritik 132 (1908), S. 152 fi. — Goethe bemerkt im Gespräch zu Eckermann über die Franzosen: »Sie sind geselliger Natur und vergessen als solche nie das Publikum, zu dem sie reden.« — Vgl. auch die späteren Ausführungen des vierten Hauptteils über Stilbildung (Rhetorik).

O t » 0 , Untenicbtslehre.

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Die Motive der Sprechgestaltung sind dieselben, die wir in der Sprachentwicklung als die Richtkräfte der Kulturentwicklung kennengelernt haben: Streben nach Wahrhaftigkeit des »Ausdrucks«, nach Klarheit, Schönheit und Bequemlichkeit, dazu sittliche und religiöse Rücksichten. Hier liegen die Verbindungslinien zwischen dem subjektiven S p r e c h a k t im Streben nach stilgemäßer, d. h. angemessener Rede- und Schreibweise, und dem konventionellen Kulturgut (Grammatik) x. Das Zusammenwirken finaler Tätigkeiten und evolutionaler Sprachentwicklung war schon oben als Charakteristikum der »Geschichte« aufgewiesen (S. 135). Die Bedeutung eines umfassenden und frei verfügbaren Besitzes an geistigem Sprachgut und zwar für Volk und Einzelpersönlichkeit wird nach Rudolf Hildebrands Vorgang erst in neuerer Zeit in Deutschland wieder eingesehen. Die Bildung zur Beherrschung der Muttersprache, die Volkwerdung im einzelnen durch die Gemeinschaft des gesprochenen Wortes, die Persönlichkeitswerdung mittels der Selbstdarstellung in der freien Rede ist daher eine der vornehmsten Aufgaben jeder Schule, besonders jeglicher Lehrerbildung, aller Führer des Volkes. Ich begnüge mich mit dem Hinweis auf die weitere Auswirkung der Sprecherziehung im Gesang, in den Fremdsprachen, in den heilpädagogischen Schulen. Die systematische Unterscheidung der wesenhaft verschiedenen »Betrachtungsweisen« vermag schließlich die Gründe klarzulegen, warum namhafte Sprachforscher häufig aneinander vorbeigeredet haben und sich nicht verständigen konnten. H. Paul will, im Gegensatz zu F . de Saussure, nur eine historische, d. h. entwicklungsgeschichtliche Sprachwissenschaft gelten lassen; das hindert ihn nicht, in seinen »Prinzipien« (z. B . Kapitel V) von der Sprachkunde in die Sprechkunde hinüberzugleiten. Daher der Einspruch L . Toblers und O. Dittrichs sowie W. Wundts offenes Bekenntnis, daß man sich keine Vorstellung davon machen könne, was Paul unter seinen Prinzipien verstehe. Misteli erklärt, wenn auch nicht besonders klar, daß es neben der geschichtlichen noch eine andere wissenschaftliche Betrachtungsweise gäbe. Edm. Husserl hat in seinen »Logischen Untersuchungen« (II, i) das »apriorische Fundament« der Sprache, ihre »ideale« Struktur erörtert. Nachdem nun schon A. Thumb geklagt hatte, daß seit Humboldt jeder Forscher unter »innerer Sprachform« etwas anderes verstanden hatte und A. Martys Gedanke der »allgemeinen Grammatik« von K . Voßler kritisiert war, legt Eugen Lerch dar, daß bis vor kurzem eine Übereinstimmung der Meinungen darüber bestand, daß »die syntaktischen Gebilde etwas G e w o r d e n e s seien und daß ihre Erklärung demnach nur eine h i s t o r i s c h e sein könne«. Seit einigen Jahren seien aber andere Auffassungen hervorgetreten: »Die syntaktischen Kategorien (Tempora, Modi, Genera, Kasus usw.) bilden in unserm Innern ein zusammenhängendes logisches System, ein System, das so sein muß und nicht anders sein kann (es ist 'notwendig').« E . Lerch geht in seiner Ablehnung (der allgemeinen Grammatik?) so weit, zu bemerken, daß man dieses System, da es ja »apriorisch« sei, ohne jede Sprachenkenntnis, unabhängig von aller E r 1

Eugen Lerch sagt sehr treffend im Literaturblatt f. germ. und romanische Philologie X L I I I (1922), Sp. 5: »Es läßt sich nämlich am Französischen zeigen, daß der Gebrauch des Imparfait und des Passé défini im älteren Französisch (bis zum 17. Jahrhundert) ein rein subjektiver, stilistischer gewesen ist, und daß erst das Jahrhundert der raison und der Grammatiker ihn regularisiert, d. h. mechanisiert, veräußerlicht, grammatikalisiert hat.«

Die Geographie

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fahrung aufstellen könne. Demgegenüber betont er die Wichtigkeit der historischen Forschung. Im Gegensatz zu diesen Ausführungen unterstreicht O. Funke die Bedeutung der »Beschreibung«. E r weist darauf hin, daß A. Marty mit Recht betont habe: »Es gibt neben genetischen auch deskriptive Gesetze«, also neben den Gesetzlichkeiten der Entwicklung auch solche der Koexistenz. Hieraus ergibt sich, daß ein Sprachforscher die historische Sprachentwicklung im Auge hat, ein anderer den geistigen Wirkungszusammenhang der Sprachstruktur (bzw. ihre Grundlage in der »allgemeinen Grammatik«), wozu schließlich noch Abschweifungen in die (finale) Sprechkunde kommen. Nicht die eine oder die andere Betrachtungsweise wird dem Phänomen »Sprache« gerecht, sondern nur alle drei Betrachtungsweisen zusammen. Daher ist es auch ein hoffnungsloses Bemühen, eine einzige Definition des »Satzes« aufstellen zu wollen. L i t e r a t u r : H. Ammann, Die menschliche Rede, Lahr i. B., I (1925), I I (1928). — N. Ach, Über die Begriflsbildung, Bamberg 1921. — Bericht über den X I I . Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena 1932. — Brod und Weltsch, Anschauung und Begriff, Leipzig 1913. — F. Brunot, L a Pensée et la Langue, Paris 1922. — K . Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930. — E . Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I (Die Sprache), Berlin 1923. — H. Dempe, Was ist Sprache? Weimar 1930. — O. Funke, Satz und Wort, Reichenberg 1925. — v. d. Gabelentz, Sprachwissenschaft, Leipzig 1901. — H. Güntert, Grundfragen der Sprachwissenschaft, Leipzig 1925. — W. Hävers, Handbuch der erklärenden Syntax, Heidelberg 1 9 3 1 . — E . Hermann, Die Sprachwissenschaft in der Schule, Göttingen 1923. — W. v. Humboldt, Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java, nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts I, Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1836. — E . Husserl, Logische Untersuchungen I I , 1, Halle 1913. — O. Jespersen, The philosophy of Grammar, London-New York 1924. — A. Jolies, Einfache Formen, Halle 1930. — Heinrich F. J . Junker, Die indogermanische und die allgemeine Sprachwissenschaft, Stand und Aufgaben der Sprachwissenschaft, Festschrift für W. Streitberg, Heidelberg 1924. — Fr. Kreis, Zur Philosophie der Sprache, Kantstudien X X X I I (1927), Heft 2, 3. — A. Marty, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie I, Halle (Saale) 1908. — P. Matthes, Sprachform, Wortund Bedeutungskategorie und Begriff, Halle (Saale) 1926. — A. Meillet, Linguistique historique et linguistique générale, Paris 1921. — E . Otto, Zur Grundlegung der Sprachwissenschaft, Bielefeld u. Leipzig 1919. — H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, Halle 1909. — J . Ries, Zur Wortgruppenlehre, Prag 1928. — W. Wundt, Völkerpsychologie I (Die Sprache), I. u. 2. Teil, Leipzig 1 9 1 1 u. 1 9 1 2 ; Probleme der Völkerpsychologie 1 9 1 1 .

5. Die Geographie. Auch die Geographie untersteht allen drei fundamentalen Betrachtungsweisen. Man hat allerdings versucht, diese Wissenschaft auch in das Schema : hie Geisteswissenschaften — hie Naturwissenschaften zu pressen, aber namhafte Forscher wie F. v. Richthofen, A. Kirchhoff, A. Philippson, A. Hettner, M. Friederichsen, B. Brandt u. a. haben dieses Bemühen entschieden abgelehnt. Geographie wurde zur Wissenschaft vom »Räume« erklärt (Chorologie). Aber inwiefern kann das Zurückgehen auf den Raum die Einheit der Geographie begründen? Die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Geographie greift zweckmäßig zurück auf die Mannigfaltigkeit der Gebiete, die als »Geographie« zu einer Wesenseinheit zusammengeschlossen sind: mathematische Geographie (einschließlich der »Kartenwissenschaft«), Geophysik, Atmosphärenkunde (Meteorologie, Klimatologie), Meereskunde, Festlandskunde (Gewässer: Seen, Flüsse, Gletscher usw.); Relief der Erdoberfläche: Morphologie; Biogeo12*

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graphie (Pflanzen- und Tiergeographie) und ihr besonderer Teil die Anthropogeographie (Ausbreitung und Verteilung der Menschen; Wirtschafts-, Siedlungs-, Verkehrs- und politische Geographie) Sehr viele dieser Gebiete könnte man zunächst unterscheiden einerseits als »Grenzgebiete«, z. B. die mathematische Geographie, die auf den Schulen auch in die Hände des Mathematikers gelegt werden könnte. Ähnlich steht es mit der Geophysik, Atmosphärenkunde und Geologie. Andererseits könnte man sie bezeichnen als »Hilfswissenschaften«, insofern nämlich die Ergebnisse anderer Wissenschaften Voraussetzungen für die Geographie sind, und zwar unter dem spezifischen Gesichtspunkt ihrer Gesamtbezogenheit auf die Landschaft, z. B. die Flora und Fauna eines Landes 2. Sodann drängt sich als Einteilung folgende Unterscheidung auf: 1. Die p h y s i s c h e G e o g r a p h i e als die Lehre von der Erdoberfläche (Luft- und Wasserhülle) 3. Diese Bezeichnung ist eindeutiger als der Ausdruck »Naturgeographie«, da auch alle Lebewesen, selbst der Mensch als Naturwesen, zur Natur gehören. 2. Die B i o g e o g r a p h i e als die Einheit von Pflanzen-, Tier- und Menschengeographie (einschließlich der Länderkunde). Die spezifische Betrachtungsweise der Erdkunde ist nun die e i n h e i t l i c h e B e z o g e n h e i t der oben angegebenen Teilgebiete auf die E r d o b e r f l ä c h e , eine Landschaft. Insofern, aber auch nur in diesem Sinne, kann man von der Geographie als »Wissenschaft von der Erdoberfläche« reden. Damit rechtfertigt sich einmal die Sonderstellung der mathematischen Geographie als Grenzgebiet; andererseits wird damit erst verständlich, welche Bedeutung in letzter Zeit die »Landschaft« als einheitlich strukturierter T y p u s in der Wechselbezogenheit seiner Partialkomponenten gewonnen hat 4. Daraus folgt, daß es nicht ein Generalschema für die Betrachtung aller Länder bzw. Landschaften geben muß, sondern daß jedes Land unter dem Gesichtspunkt verschiedener individueller Landschaftstypen als den grundlegenden Kategorien geographischen Denkens zu betrachten ist.

Die möglichen Arten der »Bezogenheit« führen uns zu den drei möglichen Betrachtungsweisen aller Wissenschaften zurück. Die Erdkunde arbeitet zunächst die kausal-funktionalen Abhängigkeitsverhältnisse in der Sukzession wie in der Koexistenz heraus, z. B. von Oberflächenform und Gewässernetz oder von Klima in bezug auf Lage und Oberflächenform. 1

Vgl. dazu A. Leutenegger, Begriff, Stellung und Einteilung der Geographie, Gotha 1922, S. 118 ff. 1 Das, was in einem Lande produziert wird, interessiert den Geographen nicht vom Standpunkte der Wirtschaft, sondern er benötigt es zur Charakteristik des Landes. A. Penck, Beiträge, S. 18. 3 Gustav Braun, Zur Methode der Geographie als Wissenschaft, Greifswald 1925, unterscheidet zwischen »allgemeiner« und »individueller« Geographie. Die erstere gliedert er in die Physio- und Biogeographie. Den Überbau seines Systems (Allgemeine Geographie II) sollte man besser »Geographiephilosophie« nennen, als Gegenstück zur Geschichts-, Sprachphilosophie usw., insofern sie, mittels Vergleichung, die allgemeinwissenschaftliche Grundlegung der Erdkunde schafft. Vgl. dazu G. Braun, Geographische Einführung, Erde und Wirtschaft 2 (1928), 1. Heft. 4 Soweit E. Banse in seiner »gestaltenden Geographie« Zusammenhänge der Landschaft nicht zerreißen, sondern diese als Ganzes abhängiger Faktoren betrachten will, ist ihm wohl zuzustimmen. Vgl. seinen Aufsatz »Vom Sinn geographischer Gestaltung« in der pädagogischen Warte 37 (1930), Heft 17.

Die Geographie

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Sodann hat man von Entwicklungen gesprochen als Gegenstand der Erdkunde. Dabei wird man jedoch zwei Arten des Wandels unterscheiden müssen, von denen wir die erstere nur als kausal-funktionale Abhängigkeit der Sukzession ansprechen können. Die wirkenden Kräfte derartiger Abhängigkeiten der Folge sind (nach Philippson) entweder endogener Art (geologische Verschiebungen) oder exogener Art, z. B. Verwitterung, Abtragung, Bearbeitung des Gesteins durch Wasser (Flüsse, Gletscher, Meer), Wirkungen des Windes usw. Man hat wohl von einer »genetischen« Betrachtungsweise auf geographischem Gebiete gesprochen; »Entwicklung« im eigentlichen Sinne, also »Geschichte« liegt aber in den bisher aufgewiesenen Wandlungen nicht vor. Es ist Karl Ritters großes Verdienst, die Notwendigkeit echter e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t l i c h e r Betrachtungsweise gefordert zu haben. Fr. Ratzel, Herders Spuren folgend, setzt sein Werk fort. Denn erst da, wo die Richtkräfte organischer Wesen, bewußt oder unbewußt, auf Grund vorhandener Bedingungen, auf die Umwelt gestaltend einwirken, kann von Geschichte, von Entwicklung gesprochen werden 1 : e v o l u t i o n a l - d y namische Länderkunde! Wie gerade menschliche Entwicklung durch die Landschaft bedingt ist, so wirkt überdies der Mensch seinerseits »handelnd« wieder auf die Landschaft zurück 2 : er macht den Boden urbar, baut Siedlungen, legt Verkehrswege an, gründet Fabriken usw. Demnach kommt zur evolutionalen Betrachtungsweise auch noch die finale — wie immer im geschichtlichen Leben (s. S. 135). O. Schlüter spricht allerdings von einer »kausalgenetischen Erklärung«. Dazu sagt er aber: »Gleichwohl kommt der geisteswissenschaftlichen Forschungsart eine sehr große Bedeutung zu, namentlich für die E r k l ä r u n g der anthropogeographischen Erscheinungen. Denn die Kulturlandschaft ist ja doch der sichtbare Ausdruck einer Kultur, wobei dies Wort auch im höheren und höchsten Sinne genommen werden darf «3. Dabei ist nicht zu übersehen, daß hier die spezifisch geschichtliche, die evolutionale Betrachtungsweise, weit hinter der finalen zurücktreten wird 4. 1 Vgl. z. B. Fr. Klute: Boden, Vegetation, Siedlung, Volk und Rasse Oberhessens in zeitlicher Entwicklung, Verhandl. d. 22. Deutschen Geographentages zu Karlsruhe, Breslau 1928, S. 214 ff.; H. Hassinger, Über einige Beziehungen der Geographie zu den Geschichtswissenschaften, Jahrb. f. Landeskunde v. Niederösterreich XXI, Heft 3/4. 1 Vgl. A. Penck, Beiträge, S. 6; A. Hettner, Die Geographie des Menschen, Verhandl. d. 16. Deutschen Geographentages zu Nürnberg, Berlin 1907, S. 300 f.; B. Brandt, Die südamerikanische Stadt, Auslandkundliche Vorträge d. Techn. Hochsch. Stuttgart (Bd. 4: Südamerika), Stuttgart 1932. 3 Geographischer Anzeiger 21 (1920), S. 146; K. Hassert, a.a.O. S. 10 f. 4 A. Penck, Geographie und Geschichte, Neue Jahrb. 2 (1926), Heft 1, S. 54: »Der einen (Geschichte) fällt die Entwicklung der Menschheit zu, der anderen (Geographie) der durch zahlreiche Geschehnisse bedingte Zustand der Erdoberfläche.«

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In diesem Zusammenwirken der drei Betrachtungsweisen liegt der Ansatzpunkt für die Begründung der Erdkunde als W i s s e n s c h a f t , als einheitlicher Lehre. Denn das Wesen aller systematischen Wissenschaft liegt in der Einheit ihres Gegenstandes und ihrer Methode. Die Herausstellung der mechanischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Klima, Lage und Oberflächenform, der Nachweis ihrer kausal-funktionalen Abhängigkeitsverhältnisse — alles dies sind allerdings notwendige Voraussetzungen, aber doch auch nur künstliche Isolationen. Sie bekommen erst ihren »Sinn« unter dem Gesamtaspekt der (kulturellen) »Landschaft«. Dabei werden wir zu unterscheiden haben nicht nur zwischen Teil- und Gesamtlandschaften, sondern ganz besonders auch zwischen der Konkretheit der unendlichen Zahl wirklich gegebener »Landschaften« und den »Landschaften« als idealen W e s e n s t y p e n . Zur ersteren Art gehören die historisch gewordenen Staaten als sinnbezogene Kulturgemeinschaften (politische Geographie) J. Daher mündet alle konkrete Geographie, mit der bloßen Beschreibung einsetzend, schließlich ein in die Länderkunde als den umfassenden Gegenstand, in die kulturgeographische Betrachtungsweise als abschließende Methode. Die Landschaft als komplexe »Gestalt« wird somit zu »der« Kategorie geographischen Denkens; die Herausstellung verschiedener Landschaftstypen (Chorentypen) wird das letzte Ziel nomothetischer Forschungsweise: der L a n d s c h a f t s t y p u s als die Einheit strukturgesetzlicher Abhängigkeitsbeziehungen kausaler, finaler und z. T. auch evolutionaler Art 2. Damit geht schließlich die konkrete Länderkunde als Einzelwissenschaft in die »Geographiephilosophie« über (»Geosophie«, um F. Marthes Ausdruck aufzunehmen). Was man als »allgemeine Geographie« bezeichnet, die Feststellung der allgemein geographischen Kategorien (Berg, Gewässer, Vegetation, Siedlung, Dorf usw.) sind selbst nur »Teillandschaften«, d. h. Typen letzter Abstraktionen von Abhängigkeitsbeziehungen. Die Kartenkunde ist grundsätzlich etwas anderes: die spezifische Zeichensprache der Geographie. Die Stellung der mathematischen Geographie (und Geophysik) 1

Vgl. O. Schlüter, Die Erdkunde in ihrem Verhältnis zu den Natur- und Geisteswissenschaften, Geogr. Anzeiger 21 (1920), Heft 7/8 und 10/11; M. Friederichsen, Die geographische Landschaft, Geogr. Anzeiger 22 (r92i), Heft 7/8 und 10/11; O. Maull, Politische Geographie, Berlin 1925; W. Vogel, Das neue Europa und seine historisch-geograp'hischen Grundlagen, Bonn und Leipzig 1925. 3 Insofern man es hier mit schematischen Abstraktionen zu tun hat, könnte man von »reiner Geographie« sprechen. Vgl. dazu J . G. Granö, Reine Geographie, Helsinki 1929. E. Markus behandelt nur die »Naturkomplexe«, Sitzungsberichte d. Naturforscher-Gesellschaft bei der Universität Dorpat, X X X I I (1928), Bd. 3—4. Diese Naturkomplexe (grasreiche Einsenkungen, Niedermoor, Wüste) fordern eine Ergänzung nach der Kulturlandschaft hin.

Die Geographie

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ist bereits oben erläutert worden. So fügt sich die allgemeine Geographie in die Länderkunde ein, womit die Einheit der Geographie als Wissenschaft begründet ist. Daraus folgt zugleich der bildende Wert der Erdkunde Sie führt zum genauen Sehen und Beobachten, zum Erkennen und Verstehen der Wirklichkeit, einschließlich der Karten, die methodisch den Abschluß ausmachen. Sie bildet vor allem zum »geographischen Denken« in kausalfinalen bzw. evolutionalen Abhängigkeitsbeziehungendie in ihrer Fülle und wechselseitigen Verschlungenheit keine menschliche Wissenschaft völlig auszudeuten vermag. Die Liebe zur Heimat und zum Volkstum weitet sich zum politisch-wirtschaftlichen, staats- und weltbürgerlichen Sinnen und Wollen (Staat, Auslanddeutschtum, Kolonien), zur Idee des Völkerverstehens. Hier liegt der Hauptwert des erdkundlichen Unterrichts. Immer und immer wieder haben führende Geographen diese Besonderheit und vornehmste Aufgabe geographischer Unterweisung hervorgehoben. Erdkunde (und Volkskunde!) als Konzentrationsfach!8 Am schärfsten scheint mir Albrecht Penck gerade das Zusammenspiel aller Korrelationen in seinem ganzen Ausmaß gesehen zu haben 3. Wohl darf der Geograph nicht verzichten auf die Einprägung eines festen Bestandes positiven Wissens (Topographie); aber erst die Fähigkeit des Denkens in Abhängigkeitsbeziehungen ist die schönste und reifste Frucht erdkundlicher Studien, formal wie material: die wissenschaftliche Vertiefung nationaler, staatsbürgerlicher Gesinnung. — Damit rechtfertigt sich unsere wissenschaftliche Grundlegung möglicher Betrachtungsweisen; sie überbrückt den alten Streit: Erdkunde als Natur- oder als Geisteswissenschaft! Damit erweist sich aber auch die Bedeutsamkeit einer wissenschaftlichen Methodik für die neuere Schule. Nur so können alle Arten von Schulen dem Akte der Bildung, aber auch der Auslese, der Berufsführung und Berufsfindung dienen. L i t e r a t u r : Beiträge zum erdkundlichen Unterricht, H e f t 2 der Mitteilung d. Preuß. Hauptstelle f . d. naturwissenschaftlichen Unterricht, Leipzig 1919 (Penck, Philippson, Fox, 1

Die Hochschullehrer, z. B. W. Behrmann, A. Philippson und F . Thorbecke, fordern

in letzter Zeit ganz besonders nachdrücklich die Erziehung zum geographischen Denken und zur »geistig vertieften Länderkunde«, Geographischer Anzeiger 1927, H e f t 3 und 9. 1

Fr. Brather, Geographischer Anzeiger 20 (1919), S. 140 ff.: Beziehungen zum Deutsch-

unterricht.

Vgl. auch die Aussprache zu den Vorträgen von Schwarz, Bausenhardt und

F o x auf dem 21. Deutschen Geographentag zu Breslau 1925, Berlin 1926, S. 194 ff. 3 A. Penck, Neuere Geographie, Jubiläumssonderband der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1928.

Allerdings wird man an den konkreten Gegebenheiten der

Wirklichkeit wohl die drei verschiedenen Arten von Abhängigkeiten unterscheiden müssen, im Falle der schematischen T y p e n aber wohl von »Korrelationen« sprechen können.



Auch J. Wagner, Das Kulturproblem im Erdkundeunterricht, Deutsches Philologenblatt 40 (1932). H e f t 34.

184

Die Bildungsgehalte (Methodik)

Fischer, Lampe, Urbahn). — Die Geographie als Wissenschaft und Lehrfach (Vorträge von Hettner, Philippson, Meinardus, Gradmann, Schlüter, Krebs, Partsch, Hassert, Wagner, Lampe), Berlin 1919. — O. Graf, Vom Begriff der Geographie, München und Berlin 1925; Die philosophische Vertiefung des geographischen Unterrichts, Monatsschr. f. höhere Schulen 1928. — A. Hettner, Die Geographie, ihre Geschichte, ihr Wesen und ihre Methoden, Breslau 1927. — Fr. Lampe, Zur Einführung in den erdkundlichen Unterricht 1908. — A. Scheer, Erdkundlicher Unterricht, Leipzig 1930. — J. Wagner, Didaktik der Erdkunde, Frankfurt (Main) 1928.

6. Mathematik und Physik. Wir haben einerseits statische, andererseits dynamische Strukturwissenschaften unterschieden. Die letzteren betrachten die Kultur als historisches Ergebnis von Entwicklung und Handlung. Die ersteren haben die mathematischen Gebilde zum Gegenstand. Es wird im folgenden darzulegen sein, inwiefern das formal-ideelle Ordnungssystem von »Symbolen« statischen Charakter trägt, vom pädagogischen Standpunkt als Wissenschaft der Koexistenz betrachtet werden darf und welche Rolle der Funktionsbegriff in ihr spielt. a) Mathematik. Fragt man nach dem »Gegenstand« der Mathematik, so lassen sich folgende Grundauffassungen feststellen: die intuitionistische, die empiristische, die logizistische und die formalistische Wir sehen ab von dogmatischen Behauptungen (E. Study), die eine Grundlagenkrise der Mathematik schlechtweg leugnen. 1. Die i n t u i t i o n i s t i s c h e Grundansicht führt in ihren wesentlichen Intentionen bis auf Piaton zurück Descartes sah in der intuitiven Erkenntnis eine übersinnliche Erfahrung, in der wir die »Ideen« als etwas Ganzes mit einem einzigen Blick zu erfassen vermögen. Diese Ideen sind »unveränderliche und ewige Naturen«. Descartes' Intuitionismus ist nicht zu Ende gedacht. Die Unbestimmtheit seiner »Ideen «sowie seine grundsätzliche Neigung zu einer synthetischen Betrachtungsweise standen ihm im Wege. Wieder anders erscheint der Intuitioaismus bei Kant. Nach ihm sind mathematische Urteile »insgesamt synthetisch«, a priori, allgemein und notwendig, unabhängig von der Erfahrung. Die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori beruht darauf, daß sie auf den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit gründen und diese wiederum Bedingungen der Erfahrungen sind. Das Apriori der geometrischen und arithmetischen Grundsätze folgt aus der apriorisch-ideellen Beschaffenheit des Raumes und der Zeit. Aber auch Kants Intuitionismus ist nicht haltbar, da, abgesehen von philosophischen Einwendungen, seine Lehre unvereinbar ist mit der inzwischen entwickelten nichteuklidischen Geometrie und vor allem mit deren Anwendung auf den Raum der Wirklichkeit in der Relativitätstheorie. Sodann entspricht das methodische Vorgehen der heutigen Wissenschaft nicht den Prinzipien der transzendentalen Methode. Der Naturforscher legt sich nicht auf eine bestimmte Geometrie fest, sondern bedient sich derjenigen Geometrie, die seinem Gegenstand angemessen erscheint. 1 Walter Dubislav, Über den sogenannten Gegenstand der Mathematik, Erkenntnis (Annalen der Philosophie) I, 1930, S. 27, und Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaften 37 (1931), Nr. 5. — A. Fraenkel, a. a. O. 1927, S. 34 ff. 1 P. Boutroux, a. a. O. S. 161 ff., igo ff.

Mathematik

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Kants Auffassung der Geometrie wird heute kaum mehr von Mathematikern oder Physikern vertreten. Anders aber steht es mit seiner Begründung der Arithmetik durch reine Anschauung der Zeit. Der Neo-Intuitionismus L . E. J. Brouwers knüpft ausdrücklich an K a n t an; er behauptet, auf Grund einer Urintuition die Grundlagen der Mathematik — womit im folgenden immer die Mathematik der Zahlen, also Arithmetik und Analysis gemeint ist — mit unmittelbarer Gewißheit erfassen zu können. Die Mathematik ist nach Brouwer ein System von Konstruktionen im menschlichen Denken, das sich von jeder Sprache möglichst frei machen müsse; die Logik wird der Mathematik untergeordnet; innerhalb der Mathematik der unendlichen Systeme ist überdies der überlieferten Logik, die an endlichen Systemen entwickelt worden ist, nicht zu vertrauen. Die Forderung der Konstruktivität bedeutet die Ausschaltung aller reinen Existenzbeweise, z. B. des Beweises der Existenz einer Zahl, die eine bestimmte Eigenschaft besitzt, ohne Angabe eines Verfahrens zur Konstruktion (Berechnung) dieser Zahl. Brouwers Behauptungen sind aber nicht durchgedrungen; die Einsichtigkeit der Brouwerschen beschränkenden Forderungen wird von den meisten Mathematikern bestritten. 2. Die e m p i r i s t i s c h e Grundansicht behauptet, daß der Mensch auf Grund langer Erfahrungen im Laufe der Menschheitsgeschichte gelernt habe, an verschiedenen,, z. T . jedoch gleichartigen Gebilden abstrakte Vorstellungen zu bilden. Dadurch, daß man von den verschiedenen Eigenschaften abgesehen habe, sei man zu der Erfassung der abstrakten Gebilde gekommen. Die abstraktesten unter den abstrakten Vorstellungen, die Zahlen, machten den Gegenstand der Mathematik aus. Daher erfasse die Mathematik die allgemeinsten Eigenschaften der wirklichen Objekte selbst, insofern die Zahlvorstellungen durch Generalisation bzw. Abstraktion aus der Beobachtung der Wirklichkeit entstanden sind. Die Mathematik sei mithin eine empirische Naturwissenschaft. Diese vor allem von J. St. Mill vertretene These, die gegenwärtig kaum noch Anhänger hat, faßt zunächst den Abstraktionsprozeß allzu einfach auf (Dubislav), hilft sich mit der unklaren Annahme von »Vorstellungen« und begründet doch schließlich den Zusammenhang von Axiomen und den abgeleiteten Sätzen nicht rein empiristisch. 3. Die l o g i z i s t i s c h e Grundansicht hat mit dem Intuitionismus die konstruktivistische Tendenz in der Begriffsbildung gemein. Für den Logizismus sind die Gegenstände der Mathematik jedoch keine Anschauungsformen, auch keine bedeutungslosen Figuren, sondern rein logische Gebilde. E r behauptet, daß die Mathematik ein Zweig der Logik sei, daß daher ihre Sätze zwar a priori gelten, aber rein analytischen, »tautologischen« Charakter trügen, also durch Beobachtungen weder bestätigt noch widerlegt werden könnten. Das besagt einerseits, daß die mathematische Begriflsbildung von rein logischen Begriffen ausgehe; andererseits, daß jede mathematische Aussage aus den Grundvoraussetzungen der exakten Logik allein mittels logischer Begründungsverfahren ableitbar sei; die letztere Behauptung wird allerdings von einigen Logizisten eingeschränkt. Schon Raimundus Lullus hatte zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts versucht, die Logik zu einer scientia generalis zu erweitern, indem die zusammengesetzten Begriffe in einfache zerlegt, diesen Elementen Symbole zugeordnet werden und mittels ihrer Kombination und Variation die Grundlagen der Wissenschaften begründet würden. An diese Gedanken knüpft Leibniz an. Er wollte die einfachen Begriffe auf exakte Beziehungen und Abhängigkeitsverhältnisse bringen nach dem Vorbilde der Mathematik. Erst in neuerer Zeit ist es, besonders durch die Bemühungen von Frege und Russell, gelungen, die Logistik (oder mathematische Logik) zu einem umfassenden System auszubauen, in das auch die Begriffe der Mathematik eingeordnet sind. Das Verfahren der Logistik besteht in der symbolischen Darstellung der Verknüpfun-

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

gen der Begriffe im Urteil und der Beziehungen der Urteile im Schlußverfahren. Der Alltagssprache mangelt es an logischer Strenge": das Beziehungswort »ist« bedeutet dreierlei: Gleichsetzung, Unterordnung und Beilegung einer Eigenschaft. Die klassische Logik kennt als Satzform nur die Subjekt-Prädikat-Form; sie vernachlässigt die besonders für die Mathematik unentbehrlichen Beziehungssätze (z. B. »x < y«, »x liegt zwischen y und z«). Mit Hilbert», der hier an Russell anknüpft, kann man folgende Hauptteile des Logik-Kalküls unterscheiden: a) Der Aussagenkalkül. Die sprachlichen Grundverknüpfungen von Aussagen (und, oder, nicht, wenn — so, gleichwertig) werden durch eine geeignete Symbolik (Zeichen) ersetzt. b) Der Prädikaten- und Klassenkalkül. Die Formelzeichen der Verknüpfungsoperationen sind die gleichen, nur daß hier die Verknüpfung zwischen Prädikaten (Begriffen, z. B . »ist sterblich«) oder Klassen (Mengen), nicht zwischen Aussagen besteht. c) Der Funktionenkalkül ist bei weitem der wichtigste Teil. Eine Satzfunktion ist ein unvollständiger Satz mit »Einsatzstellen«, die durch besondere Zeichen, die sogenannten »Variabein«, kenntlich gemacht werden. »Eine alleinstehende Satzfunktion muß als ein bloßes Schema aufgefaßt werden, nur als Schale, als leeres Gefäß für eine Bedeutung, nicht als etwas an sich Sinnvolles.«3 Wenn wir z . B . im vollständigen Satz: »Sokrates ist der Lehrer Piatons« die beiden Satzstellen: Sokrates und Piaton »leer machen«, d.h. durch Variable ersetzen, so ergibt sich: »x ist der Lehrer von y«. Die Beziehung, hier die Lehrer beziehung, wird im Kalkül etwa mit R, die Beziehungsglieder mit x y bezeichnet: » x R y « oder im Falle mehrerer Variablen »R(x, y, z . . . ) « . Entsprechend ist die Darstellung der Aussage: »b liegt zwischen a und c« durch »Z(a b c)«. Alle mathematischen Formeln stellen Abhängigkeiten zwischen derartigen Relationen dar. Es lautet z. B. der Satz: »Wenn y zwischen x und z liegt, so liegt x nicht zwischen y und z« in kalkülmäßiger Darstellung so: »Z (x y z) q ~ Z(y x z)«, wobei 3 das Zeichen für »wenn« ist. Es hat sich jedoch gezeigt, daß gewisse Sätze der Mathematik besondere Existenzaxiome erfordern, also nicht auf die Axiome der Logik allein zurückführbar sind. Ferner sind noch gewisse Probleme ungelöst, die sich auf die Methode der Auflösung der sogenannten Paradoxien beziehen 4. Dennoch möchte A. Fraenkel an ein schließliches Durchdringen der logizistischen Auffassung glauben, und zwar unter Beihilfe des Formalismus 5. 4. Die Richtung des F o r m a l i s m u s in der Grundlegung der Mathematik setzt sich zum Ziel, den Gesamtbestand der klassischen Mathematik einerseits gegen die Paradoxien, andererseits gegen die einengenden Forderungen der Intuitionisten zu verteidigen. Es soll nicht die Einsichtigkeit, sondern nur die formale Widerspruchsfreiheit der Mathematik erwiesen werden. Dieses Ziel wird angestrebt durch Formalisierung der mathematischen Disziplinen, indem man sie mit Hilfe der Logistik durch einen »Kalkül« ersetzt: an Stelle inhaltlich einsichtiger Grundbehauptungen wird ein System von Ausgangsformeln mit den Mitteln des Kalküls aufgestellt derart, daß die übrigen Formeln der Mathematik aus diesen 1 Brand-Deutschbein, a. a. O. S. 17. Beiden Verfassern bin ich auch für persönliche Anregungen zu großem Dank verpflichtet. 1 D. Hilbert und W. Ackermann, a. a. O. S. 3 ff., 34 ff., 43 ff.; W. Dubislav, a. a. O.,

s. 5 fi.

3 B . Russell, a. a. O. S. 158 f. 4 Dazu R. Carnap, a. a. O. S. 91. R. Carnap hat mich auch persönlich beraten, wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen verbindlichen Dank sagen möchte. 5 A. Fraenkel, Die heutigen Gegensätze in der Grundlegung der Mathematik, Erkenntnis I (1930—1931), S. 302.

Mathematik

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Ausgangsformeln mit Hilfe der Operationsvorschriften (Schlußregeln) des Kalküls gewonnen werden können. Der Beweis der Widerspruchsfreiheit, der bisher noch nicht vollständig gelungen ist, besteht dann in dem Nachweis, daß aus den Ausgangsformeln nach den Operationsvorschriften niemals eine Formel und zugleich ihre Negation abgeleitet werden kann. Vom logizistischen Standpunkt wäre überdies noch zu fordern, daß die Mathematik auch auf die Wirklichkeit anwendbar sei, d. h. daß sie uns in den Stand setzt, von einem Wirklichkeitssatz ohne mathematische Zeichen zu einem solchen mit mathematischen Zeichen überzugehen. Demgemäß sieht R . Carnap einen Ausgleich der jetzt bestehenden Gegensätze, sobald der Formalismus gewisse unentbehrliche Ergänzungen seines Systems vornimmt Während die verschiedenen Richtungen im Grundlagenstreit der Mathematik noch nicht zur Einigung gekommen sind, hat sich in der Frage des Gegenstandscharakters der G e o m e t r i e in der letzten Zeit eine einheitliche Auffassung entwickelt, die gegenwärtig von der Mehrzahl der Mathematiker und Physiker vertreten wird. Hiemach kann die Geometrie sowohl mathematisch als auch physikalisch gedeutet werden. Die mathematische Geometrie verwendet entweder die Methode der Koordinaten oder die axiomatische Methode. Bei der Darstellung der Geometrie durch die Methode der Koordinaten werden die Elemente: Punkte, Geraden und Ebenen als Zahlensysteme aufgefaßt. Der Punkt ist ein Zahlentripel (Koordinanatentripel); die Gerade ist eine durch zwei lineare Gleichungen definierte Klasse solcher Tripel; die Ebene ist eine durch eine lineare Gleichung definierte Klasse solcher Tripel. Die Geometrie wird hierdurch zu einem Zweige der Mathematik der reellen Zahlen. Bei der Darstellung der Geometrie durch die axiomatische Methode werden die Begriffe der Geometrie Beziehungen zwischen inhaltslos gedachten Elementen. Die Axiome bestimmen gewisse formale Verknüpfungen zwischen diesen Beziehungen. Nach der Art der Beziehungen unterscheidet D. Hilbert fünf Gruppen von Axiomen: Axiome der Verknüpfung, der Anordnung, der Kongruenz, der Parallelität und der Stetigkeit. Aus diesen Axiomen werden nun neue Sätze (die sogenannten Lehrsätze) durch logische Kombination, ganz abgesehen von jeglicher Anschauung oder irgendwelchen empirischen Tatsachen, abgeleitet. Sowohl die Axiome als auch die Folgerungen haben hierbei keinen sachlichen Inhalt, sondern bestimmen nur die formale Struktur eines Beziehungsgefüges unbestimmter Elemente. Die Geometrie ist hier ein Zweig der logischen Relationstheorie. Die physikalische Geometrie besteht in der Anwendung dieses mathematischen oder axiomatischen Schemas auf den physikalischen Raum, d. h. auf das System der möglichen Lagebeziehungen von Körpern. Die physikalische Geometrie ist eine empirische Disziplin, ein Teil der Physik. Das alte philosophische Problem, wie es möglich sei, daß die Sätze der Geometrie apodiktische Sicherheit und zugleich Gültigkeit für alles Wirkliche besäßen, löst sich durch diese Aufspaltung in mathematische und in physikalische Geometrie: »Insofern sich die Sätze der Geometrie auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit« (Einstein).

Wir stellen nunmehr die Frage, wie sich unter pädagogischem Gesichtspunkt das Bildungsgut »Mathematik« verhält zu den vorstehenden Darlegungen über den Wissenschaftscharakter der mathematischen Wissenschaft. i. Wir haben überall das größte Gewicht darauf gelegt, die pädagogische Methodik in die nächste Nähe der wissenschaftlichen Forschung zu rücken. Nun ist aber die heuristisch-pädagogische Bedeutung der An1

R . Carnap, Die Mathematik als Zweig der Logik, Blätter f. deutsche Philosophie 4 (1930), S. 298, und Diskussion zur Grundlegung der Mathematik, Erkenntnis I I (1931), S. 1 4 1 .

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

schauung wohl zu trennen von der logizistischen bzw. formalistischen Grundauffassung mathematischer Gegenständlichkeit. Die Pädagogik kann eben unter keinen Umständen auf eine weitgehende Veranschaulichung mathematischer Problematik verzichten und nähert sich somit der intuitionistischen Grundansicht. Im Hinblick auf die anschauliche Darstellung mathematischer Gebilde können wir von einer »Koexistenz« im Sinn einer außerzeitlichen Strukturwissenschaft sprechen. In der analytischen Geometrie bezeichnet »Bewegung« nach E. Cassirer (a. a. O. S. 94 f.) »nicht einen konkreten, sondern einen lediglich idealen Vorgang: sie ist der Ausdruck der Synthese, in welcher eine sukzessive Mannigfaltigkeit von Lagebestimmungen, die durch irgendein Gesetz zusammenhängen, zur Einheit eines räumlichen Gebildes zusammengefaßt wird«. Ebenso ist das »Nacheinander« der Ordinalzahlen keine Sukzession in unserm Sinne, sondern nur als Prinzip der Reihung aufzufassen. Es ist also auch die Bezeichnung »statisch« für die Mathematik als Strukturwissenschaft zutreffend. 2. Die mathematischen Operationen beruhen auf dem Vorhandensein von »Beziehungen « wie auf dem Bestehen (funktionaler) A b h ä n g i g keiten. Die Reihe der natürlichen Zahlen stellt die Struktur einer Beziehung dar, in der jedes Glied zu seinem Nachfolger steht; jedes Glied hat einen Nachfolger und (außer x) einen Vorgänger; die Reihe der Kardinalzahlen ist demgemäß 1 1 + 1 (1 + 1) + 1 [(1 + 1 ) + 1 ] • • • (Vgl. Russell, a. a. O. S. 43 ff.) Ebenso bezeichnen Brüche und komplexe Zahlen reine Beziehungen. Es ist bereits oben auf die überragende Bedeutung des Funktionenkalküls hingewiesen worden. Der Funktionsbegriff greift schon in den arithmetisch-algebraischen Unterricht ein, ja der Rechenunterricht muß bereits allmählich auf ihn hinführen. In der letzten Klasse der Volksschule sollte, im Hinblick auf ihre praktische Bedeutung, die geometrische Veranschaulichung von Größen durch Strecken-, Flächen- und Körperdarstellungen der graphischen Darstellung von Funktionen vorarbeiten. In der Arithmetik sieht der Schüler, welche Werte der Ausdruck 2 a annehmen kann, wenn a die Reihe der natürlichen Zahlen durchläuft. Die Meraner Pläne haben die Wichtigkeit f u n k t i o n a l e n D e n k e n s klar herausgestellt und es zum beherrschenden Gesichtspunkt der Schulmathematik gemacht. W. Lietzmann (II, S. 278 ff.) nennt den Funktionsbegriff das »Bindemittel« des ganzen Lehrstoffs. Er findet sich in a n a l y t i s c h e r Form, wo die Abhängigkeit einer Variablen y von einer andern Variablen x unter Benutzung algebraischer Zeichen ausgedrückt ist, z. B. y = 5 x; in g e o m e t r i s c h e r Form, z. B. die funktionale Abhängigkeit der einzelnen Stücke im Dreieck, die Eigenart des geometrischen Ortes usw.; in t a b e l -

Mathematik

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l a r i s c h e r Form, z.B. der trigonometrischen Funktionen oder der Logarithmen. Die graphischen Darstellungen haben auch auf dem Gebiete der Physik, Geographie, Geschichte, Nationalökonomie außerordentlich weitgehende Verwendungsmöglichkeiten. Doch hüte man sich davor, dem Kulte dieser Darstellungen gar zu viel Opfer zu bringen und das, was in gewissen Grenzen zu mathematischer Besinnung führt, in äußerliche Technik ausarten zu lassen. Die Begriffe der Steigung, des Flächeninhalts und der Periodizität der Kurven, auch des Zusammenhangs mehrerer Kurven zeigen, wie fruchtbar das Gebiet der »empirischen Funktionen« ist. Mit den linearen Funktionen (Z = mx + n als Normalform) setzt die eigentliche Mathematik ein. Die graphische Darstellung der Funktionen y = x J und y = x3 usw., der Gleichungen zweiten Grades, der algebraischen, Exponential- und logarithmischen Funktionen zeigt, wie die Geometrie der Arithmetik und Algebra dienstbar gemacht wird. In der nun folgenden analytischen Geometrie tritt umgekehrt die Analysis in den Dienst der Geometrie. Der B i l d u n g s w e r t des mathematischen Unterrichts ist sowohl m a t e r i a l e r wie formaler Art (Lietzmann III, S. 92 ff.; I, S. 40 ff., i3off.). In ersterer Hinsicht ist der elementare Rechenunterricht für alle Berufe unerläßlich, daneben kann sich das Potenzieren, Radizieren, Logarithmieren (die Verwendung von Logarithmentafel und Rechenschieber), die Einsicht in Algebra und Analysis, die zeichnerischen und rechnerischen Bestimmungen geometrischer Gebilde, die darstellende Geometrie, trigonometrische Aufgaben usw. für die verschiedensten Berufe mehr oder weniger nutzbringend bzw. erforderlich erweisen. Auch reicht die mathematische Problematik bzw. die Anwendung der Mathematik weit hinein in die Gebiete der Wirtschaft und des staatsbürgerlichen Lebens (Zinsrechnung, Statistik, W a h l s y s t e m ) A l l e s politische Abwägen der wechselseitig ineinandergreifenden Kräfte ist funktionales Denken in Abhängigkeitsbeziehungen der Koexistenz — ja, unsere Bewältigung des praktischen Lebens beruht immerfort auf dem angemessenen Überblicken von (funktionalen) Abhängigkeiten! Damit treten wir schon in die Erörterung des f o r m a l bildenden Wertes der Mathematik ein. In dieser Hinsicht kommen sowohl ästhetische Gesichtspunkte (z. B. die wohlgegliederte Gefälligkeit geometrischer Konstruktionen, Verständnis für architektonische Komposition) als auch die ökonomisch-technische Seite in Betracht (beispielsweise die Bevorzugung ökonomischer Rechen-, Konstruktions-, Veranschaulichungsund Beweismethoden). Wir haben jedoch hier das Wesen und den Wert der Mathematik vom w i s s e n s c h a f t l i c h e n Standpunkt zu betrachten. 1 p. Zühlke, Politische Mathematik, Berlin 1923.

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Die Bildungsgehalte

(Methodik)

Wir streifen daher nur die Bedeutung mathematischer Unterweisung für die Schulung der räumlichen Anschauungsfähigkeit, der vergleichenden Beobachtung, der Erfassung arithmetischer und geometrischer Größen. Das führt wiederum hin auf den eigentlichen Bildungswert der Mathematik, die Schulung des beziehend-funktionalen Denkens I . Das beziehende mathematische Denken gründet sich auf die Relation des Nebeneinander beim Rechnen mit Kardinalzahlen sowie des Nacheinander im Sinne der R e i h e n b i l d u n g (z. B. Ordinalzahlen). Die primitiven Akte des Hinzuzählens und Fortnehmens stehen am Anfang aller operativen Verknüpfungen. Aber erst mit den Akten der Formalisierung (Arithmetik) treten wir in das eigentliche Gebiet der Mathematik ein, das in den Operationen des b e z i e h e n d - f u n k t i o n a l e n Denkens arithmetischer und geometrischer Art seine höchste Vollendung erreicht. Dieser formal-schulende Wert kann sich aber nur dann voll entfalten, wenn die einzelne Erkenntnis nicht für sich besteht und mit dem flüchtigen Augenblick des »Übens« (und Mitübens) verweht ist. Vielmehr muß die Einzelerkenntnis größeren Zusammenhängen eingefügt werden. Diese sind dreierlei Art. Es sollte im Laufe der Jahre der gesamte Aufbau der Mathematik als ein zusammenhängendes Ganzes und die besondere Wesensstruktur dieses Wissenschaftssystems der Jugend zur Erkenntnis gebracht werden«. Es sollte das Ringen führender Mathematiker mit den großen Problemen, ferner die Geschichte der Mathematik, wo immer es sich zwanglos ermöglichen läßt, der Geschichte unseres gesamten Kulturlebens eingegliedert werden (finaler und evolutionaler Gesichtspunkt) 3; es wäre schließlich möglichst jede mathematische Erkenntnis mit dem praktischen Leben in Beziehung zu setzen, was durch die Anwendung der Mathematik in praktischen Aufgaben zu erreichen ist (z. B. eingekleidete Gleichungen). Ist Mathematik als Wissenschaft höchste »Ordnung«, so muß sie sich auch als innere Ordnung auf den Menschen auswirken. Außer dem spezifischen Bildungswert des mathematischen Unterrichts kommt ihm noch ein allgemeiner zu, den er mit allen übrigen, ernst und streng betriebenen Wissenschaften teilt: die geistige Zucht des wissens c h a f t l i c h e n Verantwortlichkeitsgefühls. Diese Verpflichtung gegenüber der Wissenschaft hat primär noch nichts mit der sittlichen Verantwortlichkeit und der Pflicht gegen die Gesellschaft zu tun. Wissenschaft für sich ist aber eine künstliche Abstraktion. Es ist Sache des Mathematikers, sie 1 W. Birkemeier, a. a. O. S. 84 ff. 2

Auch W. Lietzmanns »Ausblick« auf die metrische, affine, projektive Geometrie und

die Analysis situs, vielleicht mit einer Hindeutung auf die mehrdimensionale Geometrie. 3 Vgl. Marie Deutschbein, Der philosophische Bildungswert der Mathematik, Ztschr. f. Deutsche Bildung 192)9, Heft 6.

Physik

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in einer höheren Sphäre »aufzuheben«. Das kann nicht nur durch die Handhabung der mathematischen Theorie, z. B. die Durchführung von Beweisen, Zeichnungen usw. geschehen (Exaktheit und ihre Auswirkungen), sondern gerade durch die ins praktische Leben einmündenden Aufgaben, in denen wissenschaftliche Strenge in dem Ethos der Gemeinschaft aufgeht. Damit erwachsen dem Mathematiker als Erzieher die höchsten Aufgaben. Über diesen allgemeinen Bildungswert der Mathematik vergesse man nicht, daß doch gerade die Mathematik (und auch die Physik und die Chemie) gegenüber allen geschichtlichen Wissenschaften einen ganz besonderen Charakter trägt. Sie geht auf das o b j e k t i v e E r k e n n e n , nicht auf normativ gerichtetes Verstehen. Auf dem Gebiete der Erkenntnis herrscht der feste Begriff, nicht die immer in die Unendlichkeit weisende Idee. Die scharfe Begriffsbildung, die eindeutige Erfassung mathematischer Zeichen und Operationen, die folgerichtige Herleitung von Sätzen, die jeden Irrtum in seinen Folgen unerbittlich aufdeckt, und damit die Entwicklung der Kritikfähigkeit z , der heilsame Zwang einer klaren, knappen und sachlichen Ausdrucksweise — das alles haben Mathematik und Physik vor den Geisteswissenschaften, vor dem Forschungsziele des Verstehenwollens voraus. Deswegen sind sie auch in keinem Schulsystem zu entbehren und mit einer Stundenzahl zu bedenken, die ihren Bildungswerten volle Entfaltung sichert. — b) P h y s i k . J e nach ihrem Gegenstand haben wir zwei Arten aktionaler Abhängigkeiten der F o l g e unterschieden, finale und mechanische (funktionalkausale). Vgl. oben S. 134t. Die erstere Art ist die der geschichtlichen W i l l e n s h a n d l u n g e n und bezieht sich auf die Abhängigkeit von »Motivation« (Grund) und »Handeln«. Es bleibt uns also nur übrig, an dieser Stelle auf die mechanischen Abhängigkeiten der Sukzession näher einzugehen. Sind auf dem Gebiete der Biologie die wissenschaftlichen Lehrmeinungen geteilt, ob man sie rein mechanistisch-kausal behandeln oder auch die »Selbstgerichtetheit« der Lebensenergien anerkennen und finalen Betrachtungsweisen unterwerfen soll (H. Driesch: Entelechie), so ist die Mechanik doch allgemein als Wissenschaft von den B e w e g u n g e n (Veränderungen) angesehen worden. Physik und ebenso die sich zur Physik entwickelnde Chemie sehen also grundsätzlich von den Möglichkeiten eigenen Ausgerichtetseins der Bewegungen ab — wenn auch philosophische Theorien, 2. B. Leibnizens Auffassung der Monade, oder physikalische Hypothesen, z. B. H. Weyls »Möglichkeit der freien Tat«, den engen Rahmen der klassischen Mechanik zu sprengen suchen. Die Physik hat es zu tun mit den Bewegungen und mit den Kräften 1

Besonders stark betont von V . Gurski, a. a. O. S . 32 f.

192

Die Bildungsgehalte (Methodik)

als »Ursachen« von Bewegungsänderungen, mit Schwingungen und Wellen auf den Gebieten der Thermodynamik, der Akustik und der Optik, der Elektrizität und des Magnetismus.

Sie stellt auch die Frage nach Wesen

und Bau der Materie, der Atome und Moleküle. Die Problematik dieser Fragen neigt bald einer atomistischen, bald einer kontinuitätstheoretischen Auffassung, bald einem vermittelnden Standpunkt zu ». Das 17. und 18. Jahrhundert sind von der »substantiellen« Auffassung der Materie beherrscht. Gassendi, der Erneuerer dieser Theorie, kehrt damit zu der Auffassung Demokrits zurück. Den Grundeigenschaften nach ist die Substanz ausgedehnt, beweglich, träge, undurchdringlich (Euler). Aber schon bei Newton wird der alte Begriff der Materie wesentlich verändert, insofern nämlich die Masse durch ein System von Gesetzen begrifflich faßbar wird. Es kommt nunmehr darauf an, auch auf thermischem, optischem und elektromagnetischem Gebiet die Qualitäten zahlenmäßig durch »Zustandsgrößen« zu erfassen. In der Wärmelehre bestimmt man aus der Größe der Ausdehnung objektiv die Temperatur durch eine Zahl, die als Zustandsgröße den thermischen Veränderungen zugeordnet ist. In der Optik weist man die Periodizität des Lichtes nach und kennzeichnet die Farben durch ihre Wellenlänge; ebenso die elektromagnetischen Schwingungen. Der Atomismus erfuhr eine zweite Umgestaltung durch das Newtonsche Gravitationsgesetz, nach dem nun auch die Atome Kraftwirkungen aufeinander ausüben müssen (Dynamismus). Fernwirkungen werden demgemäß auch zwischen elektrischen und magnetischen Massen angenommen. Mit diesen atomistischen Auffassungen bricht die kontinuitätstheoretische Theorie. Nach Faraday und Maxwell beruht die Anziehung auf einem Spannungszustand im kontinuierlichen Äther, in dem sich die elektrische und die magnetische Feldstärke wellenartig im Räume fortpflanzen. Danach sind die Feldgesetze die einzige Art von Naturgesetzen. H. Hertz bestätigt diese Annahme für das Licht. Denkt man sich alle Arten von Feldern einheitlich und systematisch zusammengefaßt, so bildet das ganze physikalische Geschehen ein Kontinuum. Demnach ist ein »Körper« eine relativ stabile Zustandsstruktur in einem Raumteile. Die Q u a l i t ä t s p h y s i k des A r i s t o t e l e s ist d a m i t von neuem b e l e b t worden. Vgl. dazu K. Faigl, a. a. O. S. 38. Die Vereinigung der älteren Atomistik mit der Feldtheorie führt zu einer neuen Atomistik, indem man die dauernde Erhaltung von Energieknoten aus den Feldgesetzen herzuleiten versucht. Einfacher war es noch, Elektronen innerhalb des Feldes anzunehmen; neben dem Elektron tritt noch als ursprünglicher Baustein das Proton auf, der Kern des Wasserstoffatoms. Die neuere Atomistik zerlegt also die Atome noch weiter in Korpuskeln, die sich nicht im leeren Raum bewegen, auch nicht Fernwirkungen ausüben, sondern dem elektromagnetischen Feld eingelagert sind. Aber die Korpuskeln sind doch immerhin noch die letzten unzerstörbaren Einheiten. Die aufkommende Quantentheorie stützt die jüngere Atomtheorie, führt aber wiederum zu neuen Schwierigkeiten. Man wendet sich der Agenstheorie der Materie zu, nach der die Materie das felderregende Agens ist, das sich selbst überlassene Feld aber in einem homogenen Ruhezustand verharrt. Man versucht dadurch weiterzukommen, daß man sich wieder mehr der Theorie der Feldphysik nähert, unter anderem auch das Korpuskel in Wellen auflöst (Schrödinger: Wellengleichung). Aber die reine Feldtheorie ist doch nur »Hypothese und Programm« (Weyl). Mit dieser Theorie der »Bewegung« kehren wir zu den auf S. 17 ff. angedeuteten Zusammenhängen zurück 1 . Siehe besonders K. Faigl, a . a . O . S. 74 ff.; dazu H. Weyl, a . a . O . S. 124 ff. Dabei sehen wir ab von dem Problem der »Eigenrichtung« bzw. der Problematik Kausalgesetz-Statistik. 1

a

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Physik

Es ist G. Kerschensteiners Verdienst, der Frage nach dem besonderen »Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts« nachgegangen zu sein und ihre sittlichen Erziehungswerte herausgearbeitet zu haben. In letzterer Hinsicht ist der naturwissenschaftliche Unterricht, ganz abgesehen von seiner besonderen Schulung der Beobachtungsfähigkeit und des logischen Denkens, in hervorragender Weise geeignet, die Jugend mit dem Geiste der Gesetzmäßigkeit zu erfüllen, das Gefühl der Verantwortlichkeit zu schärfen, namentlich mittels der Verifikation durch das Experiment, ferner die Ehrfurcht vor ernster geistiger Arbeit zu wecken und die Wahrheitsliebe bis zum Bekennen der eigenen Unwissenheit zu entwickeln. Dazu die Erziehung zur Hilfsbereitschaft der gemeinsamen Arbeit. Es wird wohl niemand die strenge Zucht naturwissenschaftlicher Schulung und ihre ganz besondere Eigenart bestreiten wollen. Es geht aber nicht an, wie bereits E. Goldbeck bemerkt hat, den Wert des physikalischen, chemischen und biologischen Unterrichts im Vergleich mit den Denkprozessen beim Herübersetzen der klassischen Sprachen begründen zu wollen Man tut damit einerseits dem geisteswissenschaftlichen Unterricht ein gewisses Unrecht und verkennt überdies seinen eigenartigen Wert. Wohl ist die Denkschulung des Übersetzens, namentlich die Herübersetzung, die eine Nachprüfung (Verifikation) der Vermutungen ermöglicht, nicht zu unterschätzen; aber die Zeiten, wo die Übersetzungsübungen das Bravourstück des Sprachunterrichts waren, sind doch nun endgültig vorbei. Neben die Übersetzung als Mittel sind als Zielsetzung das Verstehen von Menschen und Völkern, ihrer Sprache und ihrer Kultur getreten, wie wir in diesem Teil zu zeigen versucht haben». Außerdem ist Übersetzen und Experimentieren, in welcher Form auch immer, wesenhaft verschieden. Und das wollen gerade die Ausführungen dieses Hauptteiles darlegen mit der dringenden Unterscheidung von Verstehen und Erkennen, von Entwicklungs- und kausalen Funktionswissenschaften, von Gesetzlichkeiten der Koexistenz und der Sukzession. Andererseits gründet sich der ganz besondere »Wert« alles naturwissenschaftlichen Unterrichts auf das eigenartige »Wesen«, d. h. auf den Wissenschaftscharakter der verschiedenen Disziplinen, wobei Physik und Chemie und Biologie ganz und gar nicht in dieselbe Methode gepreßt werden dürfen. Was die Physik betrifft, so beruhen die von Kerschensteiner hervorgehobenen Bildungsmöglichkeiten, namentlich die Erziehung zum Geist der Gesetzmäßigkeit, gerade auf ihrem wissenschaftlich-methodischen Cha1 S. den II. Abschnitt in Kerschensteiners Buch; der folgende Abschnitt fällt aus diesem Rahmen heraus, da er nicht methodischen, sondern didaktischen Charakter trägt. * Vgl. dazu auch den VI. Abschnitt in Kerschensteiners Buch, in dem einiges von den Unterschieden nachgetragen wird.

O t t o , Untern chtslehie.

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

rakter. Denn ob man eine Vermutung bestätigt oder irgendwelchen Gesetzen nachspürt, ob man deduktiv oder induktiv vorgeht, immer handelt es sich in der Physik um ein Durchdenken gesetzlich-funktionaler Zuordnungen in der Zeitfolge; also um wesentlich andere Abhängigkeitsverhältnisse als in der Mathematik r. Und solche Besonderheiten dürfen nie verwischt werden: »Der Weg, auf dem der Unterricht vorgeht, muß wissenschaftlich sein« (K. Hahn). — Diesen quantitativen Abhängigkeitsbeziehungen gegenüber hat es die Chemie mit dem »Stoff« zu tun, mit den Elementen und ihren Verbindungen bzw. Zerlegungen. E s ist aber anzunehmen, daß sich die chemischen Vorgänge mehr und mehr physikalisch auffassen lassen und daß somit die Chemie in der Physik aufgehen wird 2 . Einen ganz andern Charakter trägt die Biologie als die Wissenschaft vom Leben. Ihre Problematik: Kausalität oder Teleologie bzw. Bewegung oder Richtung ist im ersten Teil als Ausgangspunkt der »Entwicklung« und ihrer Ergänzung, der systematischen Pädagogik, ausführlich dargetan. L i t e r a t u r : W. Birkemeier, Über den Bildungswert der Mathematik. Wissenschaft u. Hypothese X X V , Leipzig u. Berlin 1923. — P. Boutroux, Das Wissenschaftsideal der Mathematiker, deutsch v. H. Pollaczek-Geiiinger, Leipzig u. Berlin 1927. — Brand-Deutschbein, Einführung in die philosophischen Grundlagen der Mathematik, Frankfurt (Main) 1929. — R. Carnap, Die logizistische Grundlegung der Mathematik, Erkenntnis I I (193X). — E . Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1923. — W. Dubislav, Die Philosophie der Mathematik in der Gegenwart, Berlin 1932. — A. Einstein, Geometrie und Erfahrung, Berlin 1921. — K . Faigl, Die Welt der Natur, Handb. d. deutschen Lehrerbildung, München u. Berlin 1931. — A. Fraenkel, Zehn Vorlesungen über die Grundlegung der Mengenlehre, Leipzig u. Berlin 1927. — Gurski-Streicher-Disse-Küchemann, Die Durchführung des Arbeitsschulprinzips im mathematischen Unterricht, Beiträge z. Ztschr. f. mathem. u. naturw. Unterricht, 16, Leipzig u. Berlin 1 9 3 1 . — K . Hahn, Methodik des physikalischen Unterrichts, Leipzig 1927. — D. Hilbert, Grundlagen der Geometrie (Wiss. u. Hyp., Bd. 7), (1899) 1923. — D. Hilbert u. W. Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, Berlin 1928. — G. Kerschensteiner, Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts, Leipzig-Berlin 1928. — W. Lietzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts, Leipzig I (1926), I I (1923) und I I I (1924). — H. Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin u. Leipzig 1928. — B . Russell, Einführung in die mathematische Philosophie, deutsch v. Gumbel u. Gordon, München 1930. — H. Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, Handb. d. Philosophie, her. v. A. Baeumler u. M. Schröter, München u. Berlin 1927. —

7. Philosophie in der Schule. Für die Gestaltung des philosophischen Unterrichts in der Schule ergeben sich folgende Möglichkeiten: 1 G. Kerschensteiner kann also (S. 153) seine »Gewöhnung an die Methode der Variation eines Elements beim Untersuchen einer komplexen Erscheinung« nicht Felix Kleins mathematisch gedachter »Gewöhnung zum funktionalen Denken« gleichsetzen. * Der chemische Begriff geht in den physikalischen über, sobald es gelingt, die Atomgewichte durch s t e t i g e Abwandlung auseinander hervorgehen zu lassen und ein einheitliches, mathematisch darstellbares Gesetz der Abhängigkeit zwischen den Änderungen verschiedenartiger Größen aufzustellen. E . Cassirer, a. a. O. S. 290 ff.

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Philosophie

1. Eine g e s c h i c h t l i c h e Betrachtungsweise. Ihr Gegenstand ist entweder formal die Entwicklungsgeschichte der philosophischen Methode (W. Bruhn) oder inhaltlich die Geschichte philosophischer Probleme (bzw. Ideen), dargelegt an typischen Denkern und ihren Lehren, oder darüber hinaus der Aufweis k u l t u r h i s t o r i s c h e r Zusammenhänge. Diese Aufgabe drängt hin zur Benutzung von Einzelwerken oder von Chrestomathien bzw. Quellenheften. Als Autoren kommen besonders in Betracht: Piaton, Aristoteles, Thomas, Descartes, Spinoza, Hume, Leibniz, Kant, Herder, Schiller: der deutsche Idealismus und seine Auswirkungen! 2. Die s y s t e m a t i s c h e E i n f ü h r u n g in ein oder mehrere Hauptgebiete der Philosophie: Erkenntnislehre und Metaphysik (A. Liebert), oder Logik, Ästhetik, Ethik, Religionsphilosophie; desgleichen Psychologie (Funktions- oder geisteswissenschaftliche Psychologie). In diesem Fall empfiehlt sich die Benutzung eines erkenntnistheoretischen, ästhetischen, ethischen oder religiösen Originalwerkes bzw. eines systematischen Lesebuches. 3. Die s y s t e m a t i s c h e V e r t i e f u n g des w i s s e n s c h a f t l i c h e n U n t e r r i c h t s nach der philosophischen Seite hin. E s ist dann der Ausgang von dem Stande des Schulwissens zu nehmen. Notwendige Voraussetzung hierfür wäre, daß die einzelnen Wissenschaften auf der Universität bereits im umfassenden Geiste philosophischer Vertiefung und Ausweitung getrieben werden E s führt dann der Geschichtsunterricht weiter zur Geschichtsphilosophie, die verschiedenen Sprachen zur Sprachphilosophie, die Naturwissenschaften zur Naturphilosophie usw. Diesen Weg weisen die Vorschläge G. Lambecks und F. Kuntzes, auch Eg. Kirchners. Die Lektüre eines Einzelwerkes, auch Lesebücher bieten dazu die Grundlage und den Anknüpfungspunkt; systematische Bücher, wie z . B . von Sakmann, Weinreich, Neubauer oder Schnaß könnten dann als Ergänzung hier und da herangezogen werden. Diese Möglichkeiten philosophischer Unterweisung leiten unmittelbar hin auf m e t h o d i s c h - o r g a n i s a t o r i s c h e Fragen. 1. Sollen bestimmte Unterrichtsstunden für die Philosophie als »Fach« im Lehrplan angesetzt werden? Damit wäre die Benutzung philosophischer Schriften ermögücht. 2. Oder soll der »okkasionalistische« Gesichtspunkt befolgt werden: Philosophie als Unterrichtsprinzip ? Dann hätte der philosophische Unterricht im Anschluß an die Einzelwissenschaften zu erfolgen. 3. Oder soll ein vermittelnder Weg beschritten werden: Philosophie 1

Vgl. dazu die Ausführungen über die Hohen Schulen (S. 98).

13*

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

als Prinzip, dazu aber auch Vertiefung und Zusammenfassung des Erarbeiteten in besonderen Unterrichtsstunden (bzw. Arbeitsgemeinschaften) ? So z. B. G. Lambeck. Die Lösung der aufgeworfenen Fragen liegt wohl in folgender Richtung: Philosophie als selbständiges, beziehungsloses Fach scheint schwerlich empfehlenswert zu sein, da wir ja mehr denn je bestrebt sind, die Fülle der auseinandergerissenen Fächer möglichst wieder in Zusammenhang zu setzen. Folglich bleibt zunächst Philosophie als Unterrichtsprinzip und die Zusammenfassung der in den verschiedenen Einzelwissenschaften erarbeiteten Einsichten in einem abschließenden Jahreskursus und entsprechenden Arbeitsgemeinschaften1. Dabei geht man wohl am besten, je nach der philosophischen und wissenschaftlichen Richtung des Lehrers, von einem (ihm liegenden) philosophischen Werk oder auch einer Chrestomathie (mit l ä n g e r e n Stücken!) aus. Im Anschluß daran erfolgt eine gelegentliche systematische und historische Orientierung über wichtige Probleme und ihre möglichen Lösungen, im Anschluß an eine Zusammenfassung und Vertiefung der in den E i n z e l f ä c h e r n angesponnenen Probleme. Es müßten demgemäß zwei, als Natur- und Geisteswissenschaftler sich ergänzende Lehrer nacheinander die Leitung der philosophischen Stunden übernehmen. Man wird schwerlich behaupten können, daß alle Einzelwissenschaften auf den Universitäten zu ihren philosophischen Prinzipien durchzustoßen bemüht sind. Solange aber diese Beziehungslosigkeit oder gar Entfremdung seitens der Einzeldisziplinen herrscht, ist grundsätzlich auf der Schule kein Ausweg aus dem Nebeneinander der Fächer und aus dem Gegeneinander der Meinungen über die Durchführung der philosophischen Propädeutik zu erwarten; es besteht so E. Vowinckels Vorwurf zu Recht, daß es eine utopische Vorstellung sei, in den Einzelwissenschaften logische, psychologische und erkenntnistheoretische Einsichten zu e r r i n g e n I c h möchte allerdings auf das bestimmteste gegen eine Fälschung einzelwissenschaftlicher Forschungsweisen und gegen den Verzicht sicheren Tatsachenwissens Stellung nehmen, aber die Kirchturmpolitik einseitigen Fachbetriebes ist auf die Dauer eine Unmöglichkeit. Daß alle Lehrer einer Schule auf dieselbe philosophische Grundanschauung schwören, ist weder möglich noch wünschenswert; doch ist ein 1

M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Berlin 1918, Vorrede: »Jedes besondere Wissen, jedes spezielle Erkennen setzt allgemeinste Prinzipien voraus, in die es schließlich einmündet und ohne die es kein Erkennen wäre. Philosophie ist nichts anderes als das System dieser Prinzipien, welches das System aller Erkenntnisse verästelnd durchsetzt und ihm dadurch Halt gibt; sie ist daher in allen Wissenschaften beheimatet, und ich bin überzeugt, daß man zur Philosophie nicht anders gelangen kann, als indem man sie in ihrer Heimat aufsucht.« » Vgl. E . Vowinckel, Die Philosophie in der höheren Schule, Neue Jahrb. 1930, S. 540 ff.

Philosophie

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rücksichtsvolles Sich-Einfügen in die Arbeitsgemeinschaft der Suchenden eine Selbstverständlichkeit pädagogischen Taktes. Das Philosophieren soll zur erlösenden Aufhellung von solchen Fragen führen, welche sich den Schülern aufdrängen, die in Demut sehen, daß ihre ganze Existenz nichts anderes als Frage und Aufgabe ist». Daraus geht hervor, daß man den jungen Leuten wohl mit zurückhaltender (immanenter) Kritik zur Seite stehen, aber ihnen auf keinen Fall irgendwelche Überzeugungen aufnötigen darf. In mehr konfessionellen Schulen kann daher wohl eine kirchlich gläubige, aber doch zugleich auch weitherzige Persönlichkeit die vertiefende Weiterführung einzelwissenschaftlicher Einsichten übernehmen. Vgl. dazu A. Klein, a. a. O. S. 29. Der Verlauf der L e k t ü r e erfolgt so, daß am Anfang die Aufweisung des Problems steht, das zunächst in seiner Dringlichkeit unbedingt erfaßt werden muß. Es ist weiterhin größtes Gewicht zu legen auf eine scharfe, gelegentlich auch schriftliche Herausarbeitung des Gedankengangs der einzelnen Stellen und des ganzen Aufbaus sowie der Begriffsbedeutung wichtiger philosophischer Fachausdrücke. Schließlich ist die Bedeutung des Einzelwerks (und des Denkers) für den betr. Problemkreis und für die Epoche einzusehen — eine Frage, die zu Anfang der Lektüre als Problemstellung zu klären war! Aus der Fülle weltanschaulicher Probleme 2 und der Einzelfragen greife ich folgende heraus: 1 . Natur und Kultur: Erkennen und Verstehen, Begriff und Idee, Mechanismus und Vitalismus bzw. Kausalität und Finalität; Biologie und Geschichtswissenschaft. Mathematik (Axiomatik), Philosophie und Psychologie (Leib — Seele). — 2. Problematik der einzelnen Kulturgebiete (Wertsphären): Religiosität und Religion; das Gute (Sittlichkeit, Sitte, Recht, Problem der Willensfreiheit); das Schöne (und die Kunst); das Wahre (Was ist Wahrheit? Sein, Sollen, Gelten); Technik, Wirtschaft und Gesellschaft. 3. Religiöse Grundhaltungen: Katholizismus, Protestantismus, orientalische Gläubigkeit; Theismus und Pantheismus. Ethik: Persönlichkeit und Gemeinschaft; Selbstdarstellung und Tüchtigkeit; Aristokratie und Demokratie. Wissenschaft: Idealismus (Humanismus) und Positivismus (Marxismus); Seinsgesetze und Normgesetzlichkeiten; Forschungsmethoden. Kunst: Inhalt und Form, Arten und Gattungen der Künste. Das Praktische: Rationalismus und Arbeitsteilung; Maschine und Mensch. 1

Vgl. dazu Br. Jordan, Der philosophische Unterricht I I I (1932), Heft 2; R . Odebrecht, Philosophie und Schule I (1929), Heft 1. 3 E. Spranger, Denkschrift über die Fortbildung der höheren Lehrer, Monatsschr. f. höhere Schulen X V I I (1918), S. 248: »Das größte und letzte Menschheitsinteresse werden auch in unserer stark nach außen gewandten Kulturepoche die Fragen der Weltanschauung ausmachen. J a eine solche philosophische Vertiefung wird um so notwendiger, je mehr sich das Leben ausbreitet und seinen eindeutigen Mittelpunkt für den einzelnen verliert. In der Wissenschaft brauchen wir Konzentrationen, Zusammenfassungen des grenzenlosen StoSes unter großen Gesichtspunkten, die allein dem einzelnen Wissen das Maß seiner Bedeutung geben«. — O. Wülmann, Didaktik als Bildungslehre, Braunschweig 1909, S. 382 ff.

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Die Bildungsgehalte

(Methodik)

4. Die Spannungen der Wertsphären und Lebenskreise: Glauben und Wissen, Wissen und Sittlichkeit (Tugend!), Leistungsfähigkeit (des Wissens oder des Könnens) und Güte.



Individuum und Gemeinschaft; die Kirche; Familie, Volk, Staat, Menschheit (Humanität) usw.

Auf diese Weise finden die vielen Unterrichts-Fächer sowie die verschiedenen Betrachtungsweisen wissenschaftlicher Forschung, wie sie in diesem Abschnitt begründet sind, auch auf der Schule ihre philosophische Vertiefung und Zusammenfassung — als Selbstbesinnung, als Befreiung, als Klärung, als Stütze in der Relativität des Lebens, als erster Einblick in die eigene Stellung zum Leben und seinen ewigen Rätseln. L i t e r a t u r : W . Bruhn, Einführung in das philosophische Denken für Anfänger und Alleinlernende, Leipzig u. Berlin 1923. — E . Kirchner, Methodik der philosophischen Propädeutik, Frankfurt (Main) 1930. — A . Klein, Der Philosophie-Unterricht in der höheren Schule, Düsseldorf 1929. — Fr. Kuntze, Von den neuen Denkmitteln der Philosophie, Heidelberg 1928. — G. Lambeck, Philosophische Propädeutik, Leipzig u. Berlin 1924. — A . Liebert, Die Philosophie in der Schule, Charlottenburg 1927. — Fr. Neubauer, Große Denker, Frankfurt (Main) 1923. — P. Sakmann, Philosophische Denkschule, Leipzig 1929. — Fr. Schnaß, Einführung in die Philosophie, Osterwieck 1928. — H. Weinreich, Die Philosophie als Führer in der Schule und im Leben, Berlin 1927.

II. W e s e n und Bildungswert der Kunst

Eine hinter uns liegende Pädagogik pflegte die Individualpädagogik der Sozialpädagogik gegenüberzustellen. Sozial hieß einmal der Mensch, der etwas l e i s t e t e , auf dem Gebiete der Theorie oder der Praxis, und dieses Wissen und Können im Handeln für die Gemeinschaft bewährte. Sozial nannte man dann auch den Menschen der Liebe. Ebenso vieldeutig war und ist auch der Erfahrungsinhalt bzw. das Wunschbild der Individualpädagogik. Ihr Gegenstand ist aber, der Idee nach, nicht der Mensch, der sein eigenes Ich in den Vordergrund schiebt, sich selbst lebt, in selbstsüchtiger Weise, sondern die Hochgestalt des Menschen, der unterrichtet, erzogen und in diesem Sinne gebildet ist: der brüderliche Mensch, der nicht nur etwas weiß und etwas kann, sondern auch gütigen Herzens ist und schließlich selbst etwas d u r c h seine P e r s ö n l i c h k e i t d a r s t e l l t ; oder in Anlehnung an M. Heideggers Terminologie: zu der Besorgnis um die Sachwelt und die Fürsorge für die Mitwelt kommt noch die Sorge um das eigene Ich. Dann begegnen sich Individual- und Sozialpädagogik in einer Einheit. Mit dieser Sorge um die Herausarbeitung der eigenen Persönlichkeit innerhalb des Gemeinlebens ist bereits Sinn und Richtung dieses Abschnitts, der von Kunst und Bildung durch Kunst handelt, angedeutet. A. D a s Wesen der K u n s t . Man hat geglaubt, auf dem Gebiete der Ästhetik eine »objektive Methode« der »subjektiv-psychologischen Methode« entgegensetzen, also

Das Wesen der Kunst

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vom Gegenstand, nicht vom Subjekt ausgehen zu müssen (vgl. die Verhandlungen des II. Kongresses für Ästhetik in Berlin, 1924). Beide Standpunkte sind einseitig wie auch die Auffassungen bzw. die Techniken des Expressionismus (vom Subjekt her) bzw. des Impressionismus (vom Objekt her). Es sind vielmehr die Abhängigkeitsverhältnisse, die R e l a t i o n e n zwischen Subjekt und Objekt möglichst vollständig zu beschreiben und auf Gesetzlichkeiten zurückzuführen, was methodologisch allerdings bald mehr vom Subjekt, bald mehr vom Objekt aus geschehen kann. Schon C. Fiedler sagt daher mit Recht: »Denn es wird sich zeigen, daß derjenige, der, unbefriedigt von allen Erklärungen, die das Wesen des künstlerischen Schaffens gefunden hat, nach einer neuen Lösung des alten Problems sucht, nur dann zum Ziel zu gelangen hoffen kann, wenn er auf das Verhältnis des Menschen zur Außenwelt zurückgeht und die ihm geläufige Auffassung desselben einer erneuten Prüfung unterwirft.« Dies Verfahren findet darin seine tiefere Begründung, daß wir es auf dem Gebiete der Kunst, wie in der Sphäre der Wissenschaft, mit der Beziehung eines Subjekts auf einen Gegenstand (S G) zu tun haben. Vgl. o. S. 1x9 f. Dieser Ansatz legt die weitere Frage nahe, ob denn das Gebiet der Kunst innerhalb der Subjekt-Objekt-Relation eine eigene Wertsphäre geistigen Gerichtetseins ist, bzw. in welchem Verhältnis es zu anderen Wertgebieten, zur Wissenschaft und zur Moral steht. Das ist die Kardinalfrage der Ästhetik sowie des »Kunstunterrichts« als eines methodischen Prinzips. Von ältester Zeit an pflegt man von den drei Sphären des Wahren, des Schönen, des Guten, später auch von der des Heiligen zu sprechen. Bemerkenswert ist aber, daß in der Prägung der Scholastik neben dem formalen unum nur das verum et bonum hervorgehoben •wird, das pulchrum

aber auf einer andern Ebene zu liegen scheint. In neuerer Zeit stellt

H. Münsterberg in seiner »Philosophie der Werte« die ästhetischen Werte neben die logischen, die ethischen und die metaphysischen Werte. Ebenso ist für Ed. Spranger der ästhetische Mensch eine eigene Lebensform. So auch für Schiller. Das kommt am klarsten im Anfang seiner kleinen Schrift vom Jahre 1796: »Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten« zum Ausdruck. Aber vielleicht ist das Ästhetische gar kein besonderes Wertgebiet für sieht

In der Tat, jedwede Kunst geht immer, wenn auch nicht auf Wahrheit (im rein wissenschaftlichen Sinne), so doch auf lebensvolle W e i s h e i t . In diesem Sinne sagt W. Dilthey, Beiträge zum Studium der Individualität: »Die Kunst versucht auszusprechen, was das Leben sei«. Danach fiele auch die Kunst in das Gebiet der T h e o r i e , der Besinnung, der Kontemplation, soweit die geistige Sehnsucht des Künstlers dahin geht, zu wissen und zu künden, in Worten oder Farben, in Tönen oder Marmor oder an sonstigem sinnlichen Material, wie diese Welt nun einmal ist oder wie sie sein soll: »Nur durch das Morgentor des Schönen drangst du in der Eikenntnis Land«. Wegen der Fülle persönlich-individuellen Ganzheitseriebens eignet dem echten Kunstwerk allerdings eine stärkere Subjektivität

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

gegenüber der allgemeineren »Objektivität« wissenschaftlicher Werke. Das Kunstwerk ist in seiner Art teils etwas Typisches, teils etwas Individuelles, Vollendetes, Ewiges. Die wissenschaftliche Leistung dagegen bleibt immer nur Teil oder Glied in der fortlaufenden Kette unabgeschlossener, zum Ganzen zielender Lösungsversuche. Der »künstlerische Trieb« ist auch nach Conrad Fiedler ein »Erkenntnistrieb, die künstlerische Tätigkeit eine Operation des Erkenntnisvermögens, das künstlerische Resultat ein Erkenntnisresultat«! Ebenso will jede Künstlerbiographie selbst Deutung einer Weltund Lebensdeutung sein, wie sie sich in einer großen Seele spiegelt, wenn nicht gar nach philosophischen Einsichten geforscht wird: Kuno Fischer, Bruno Bauch, Heinrich Rickert, Max Wundt über Goethe; dazu die Flut von Schriften, die uns das Goethe-Jahr beschert hat. Diltheys historische Schriften der Lebensdeutung I 1 »Wahrheit« war die Dominante der aufstrebenden Dichter-Generation um die Gebrüder Hart und Arno Holz. Es ist so, wie Goethe in der Gedankendichtung »Zueignung« kündet, daß uns »der D i c h t u n g Schleier aus der Hand der W a h r h e i t « zuteil wird. Unnütz, die Zeugnisse von Künstlern und Wissenschaftlern zu häufen I Daher kann das ästhetische Erlebnis auch als scientia cognitionis sensitivae aufgefaßt werden. A. Baumgarten bezeichnet die »Aesthetik« zu Anfang seines gleichnamigen Werkes als die theoria liberalium artiurn, gnoseologia inferior, wie auch seit alters her bis auf Bergson zwischen der intellektuellen und intuitiven Erkenntnis unterschieden wurde. Auch Kant, der über Ästhetik selbst nie gelesen hat, widmet den ersten Teil seiner »Kritik der Urteilskraft« der Untersuchung des »Geschmacksvermögens als ästhetischer Urteilskraft«.

Wie teilen sich dann Wissenschaft und Kunst in die theoretische Wertsphäre, da sie doch beide die Erkenntnis und das Verständnis des Diesseits und Jenseits zum Gegenstand haben? G e i s t i g , der Sehnsucht und Geltungsforderung nach, fallen sie zusammen; f u n k t i o n a l sind sie verschieden. Der Dichter ist ein Mensch des sinnlichen Schauens, der Gefühlswelt, der verhüllten Wahrheit. Dem Griechen flössen ja in dem Begriff der theoria Schauen und Wissen noch zusammen. Wissenschaft hat aber nichts mit dem Gefühl als Gesamtheitsqualität zu tun, ist kalte, sondernde und beziehende Verstandestätigkeit, bleibt also auch nicht beim bloßen Schauen stehen, ist geordneter Denkverlauf, scharfe Analyse und Abstraktion. Der Unterschied liegt demnach in den intellektuellen F u n k t i o n e n ! Da die Sehnsucht des Wahrheitsuchens immer im Irrationalen liegt, so ist die Phantasie beiden, der Kunst wie der Wissenschaft, eine unentbehrliche Funktion. Alle Kunst wahrt sich auch die I r r a t i o n a l i t ä t des geistig Gerichtet-Seins in der Funktion der Zusammenschau; in das klare Licht der ratio, des Verstandes gezerrt, hört sie auf, Kunst zu sein — trotz Reim und Rhythmus. Sie muß Symbol 2 bleiben, „die Ver1 Vgl. auch den VIII. Band seiner gesammelten Schriften, Berlin 1931, S. 26: »Kunst als Darstellung einer Welt- und Lebensansicht«. 2 Ebenso E. Kornmann, Gustaf Britsch, S. 14 und die Anmerkungen auf S. 139 ff. Es wird die »Erkenntnistheorie des künstlerischen Erkennens« der Erkenntnistheorie des begrifflich-wissenschaftlichen Erkennens an die Seite gestellt. »Die reine Wissenschaft der bildenden

Das Wesen der Kunst

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hüllung der Wahrheit«. Auf dem Gebiete der Wissenschaft dagegen v e r l i e r t die irrationale Wahrheitssehnsucht ihre natürliche Ursprünglichkeit durch die Rationalität des zergliedernden Verstandes. Diese Zusammenhänge sind durch das Schema veranschaulicht, das ich im Anhang dieses Buches gegeben habe: sinnliche Zusammenschau der Kunst einerseits, Analyse und Abstraktion der Wissenschaft andererseits, aber beide sind ihrem Wesen nach Funktionen und modifizieren den Ablauf der theoretischen Geistesakte. Der Unterschied von Kunst und Wissenschaft beruht demnach, psychologisch betrachtet, darauf, ob der Gegenstand einerseits als Ganzes geschaut oder andererseits im Denkprozeß aufgespalten und abgezogen ist x . Immer wieder ist demgemäß die Form der Anschaulichkeit als besonderer Vorzug eines Kunstwerks gerühmt worden Dabei kann man auf literarischem Gebiet unter geformter Anschaulichkeit verstehen: ldingenden Reim, Assonanz, Alliteration, die Bewegtheit des Rhythmus, klangvolle Worte, konkrete Wortbedeutungen mit lebendigem Stimmungsgehalt, eindrucksvolle Bilder, plastische Satzkonstruktionen, angemessenen Aufbau der Handlung (bzw. Gedankengliederung, Vers- und Strophenform etc.), Darstellung eines Geschehens in der Gegenwart (Drama) etc. Mit der Unterscheidung von geformtem Stoff und geformtem Gehalt wird schon auf zwei ganz verschiedene Möglichkeiten des Kunstgenusses bzw. Kunstschaffens hingewiesen. R. Benz kennt zwei verschiedene Arten künstlerischer Haltung: die (wesentlich) romanische Freude am » F o r m a l e n « und das {wesentlich germanische) metaphysische Bedürfnis i n h a l t l i c h e r D a s e i n s d e u t u n g . Diese Sonderung weist hinüber zu H. Lützelers Unterscheidung Kunst wird so zu einer Theorie der Erkenntnis über Gesichtssinneserlebnisse«. Die einseitig begriffliche Formulierung hat die Kritik bzw. Ergänzung W. Pfleiderers (Die Geburt des Bildes) und A. Ehrhardts (Gestaltungslehre) herausgefordert. — Alle diese Differenzen werden erst durch die notwendige Unterscheidung von geistigen Akten und von Funktionen des Verstandes überbrückt. Vgl. auch H. Lützelers Ausführungen über »Kunstmythologie« in seinen »Formen der Kunsterkenntnis«, Bonn 1924. 1 Fr. Kreis (»Voll-endlichkeit«) bemerkt mit Recht, daß die theoretische von der ästhetischen Form-Inhalt-Beziehung wesentlich verschieden sei. Diese Vollendung kann aber nur in der sinnlichen Anschauung eingesehen werden; doch ist die sinnliche Erkenntnis g r u n d s ä t z l i c h von der Logik verstandesmäßiger Analyse Und damit von den althergebrachten erkenntnistheoretischen Prinzipien zu trennen. 1 Das S y m b o l ist immer anschaulich und durch diese Veranschaulichung als Brücke u n m i t t e l b a r sinnbezogen bzw. bedeutungsvoll. Das Zeichen ist dagegen Konvention und somit erst m i t t e l b a r ein Bedeutungsträger. Im mathematischen Zeichen der Gleichheit, z. B . a = b, leuchtet die Bedeutung der Gleichheitsstriche (gleichgerichtet und gleich lang) allerdings unmittelbar ein; ebenso A . > e t c - Man könnte hier noch von Symbolen reden. Dagegen sind etc. primär wesentlich konventionell. Ihrem Wesen nach sind die mathematischen Hilfsmittel also Zeichen, keine Symbole. Eine Sinnerweiterung erfährt der Terminus »Symbol« b e i E . Cassirer, Zeitschr. f. Ästhetiku. allg. Kunstwissenschaft X X I (1927), S. 2950. sowie in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« I (1923), I I (1925) und I I I (1929), Berlin. Vgl. dazu die Ausführungen über die Wortzeichen als »Anzeichen« oben S. 1 7 1 .

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Die Bildungsgebalte (Methodik)

der »formalistischen Theorien« (Kunst als Gefonntheit) und der »metaphysischen Theorien« (Kunst als Erhöhung der Welt). Man beachte wohl, wie weit hier unter »formal« bzw. »formalistisch« die Form des materialen Stoffes bzw. die Form des Gedanken-, Stimmungs- und Ideengehalts verstanden werden könnte ! Aber erst beide Seiten zusammen, d. h. die Form des Stoffes wie die jeglichen Gehalts konstituieren das Wesen der echten Kunst. Auch Gustaf Britsch betont immer wieder als den wesentlichen Faktor der künstlerischen Leistung: die »geistige Einheit« eines »Vorstellungs-Gesamtzusammenhanges«, d. h. den »Richtungszusammenhang« und den »Farbzusammenhang« als Differenzierungen einer übergeordneten Einheit. Insofern »Stil«, wie oben dargetan ist, immer die Richtungseinheit einer ganzheitlichen Person oder Sache meint, fordert Fr. Kreis (Der kunstgeschichtliche Gegenstand) mit Recht, daß auf dem Gebiete der Kunst die s t i l i s t i s c h e Betrachtungsweise an die Stelle des ästhetischen Erlebnisses oder der ideengeschichtlichen Einstellung zu treten habe. Also dient auch das geformte Werk, z. B. das Wortkunstwerk, nicht einseitig irgendeinem Teilzweck, wie das wissenschaftliche Wort der Forschung, das sittliche Wort der Erziehung, das praktische Wort z. B. der Reklame, sondern es ist Gesamt-Darstellung, wie der geformte Mensch persönliche »Selbstdarstellung« ist, also gegliederte Ganzheit, nicht Zweckgestalt des Leistens (s. darüber weiter unten). Man hat daher das wesentliche Merkmal der Kunst in der »Form« zu sehen, in der Einheit der Kunstmittel und des Gehalts. Poesie und Wissenschaft — um das unklare Wort Prosa zu vermeiden — können inhaltlich denselben Gegenstand haben, unterscheiden sich aber in dem »Wie« der Behandlung. Dort der symbolische Ganzheitscharakter der verhüllten Lebensweisheit, hier die Verstandeshelle möglichst eindentiger Begriffsklarheit; dort die der I d e e , dem Gehalte und dem Stoff angemessene Form der Sprache und der Darstellung, hier vor allem scharfes Wort und Straffheit der Linienführung: nicht Form, sondern Gestalt. Damit sind jedoch nur zwei Pole einer Spannung gekennzeichnet. Denn einerseits wird der Wissenschaftler die gefällige Form der Rede nicht verschmähen, andererseits gibt es Kunststile abstrakt denkender Völker (Ägypter) und allgemeiner die gerade Linienführung geometrischer Ornamentik». Aus den vorstehenden Darlegungen geht klar hervor, daß die »Form« alle Schichten des künstlerischen Werkes durchdringt: i . Die materialen Darstellungsmittel der Kunst: Farbstoff, Marmor, Töne, Wortklänge sind bereits geformt und zwar von der Idee des ganzen Werkes her. Aus diesem Grunde vermögen die formalen Darstellungsmittel nicht nur gewisse Elementar-Gefühle im E r l e b n i s auszulösen (physiognomische Deutung); sie sind auch (in der geisteswissenschaftlichen Deutung) dem V e r s t e h e n zugänglich, insofern sie geistige Grundhaltungen verraten, allerdings nicht inhaltlich, sondern nur »formal« (z. B. G. Becking: spiritualistische bzw. materialistische »Haltung« zur Welt)>. Auf primitiver Stufe ist Kunst und Wissenschaft (ars I), Konkretion und Abstraktion, noch nicht geschieden. E. R. Jaensch, Über den Aufbau der Wahrnehmungswelt, Leipzig 1927, zeigt die Kohärenz von Innen-Außenwelt, v o n Vorstellungen und Wahrnehmungen, von Denken (i. w. S.) und Gefühl. Auch Sprache und Musik bilden eine ursprüngliche Einheit (Festschrift f. H. Pipping, 1*924, S. 192 ff.; Berichte über den I. und II. Kongreß (1927, 1931) für Farbe-Ton-Forschung in Hamburg: Ton und Farbe!). Abstrakte Kunstformen sind überdies spezifische Eigenart bestimmter Völker (Wilh. Worringer!) sowie besonderer Persönlichkeiten bzw. Zeitrichtungen (Fr. Marc malt die Idee d e s Stiers)." 1

> Es wäre sehr lehrreich, einmal den Bedeutungswandel von »Form« in Schillers Schriften aufzuweisen. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen wird Form (Formalität) im Gegensatz zu »Inhalt« (»Sachunterschied der Dinge«), Materie (Stoff), Welt

Der bildende Wert der Kunst

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2. Weiterhin ist auch der Vorstellungs- und Stimmungsgehalt (z. B . eines Wort- oder eines Farbenwerkes) ganzheitlich »geformt« (z. B . im dramatischen Aufbau), und zwar auf eine I d e e hin. Im Teil z. B . ist neben dem Sprachlich-Klanglichen der Darstellungsmittel auch der Vorstellungs- und Stimmungsgehalt (Land und Leute der Schweiz) nach einer Idee (nationaler Befreiung) einheitlich »ausgerichtet«. Ist das gesprochene Wort kein additivassoziatives Aggregat willkürlich-konventioneller Lautgebung, sondern vom Wortsinn her allmählich geprägt (s. o. S. 1 7 1 ) , so ist auch das ganze Wortkunstwerk vom »Sinne« her durchgeformt. Dem Wesen der verschiedenen Künste gemäß verflüchtigt sich der gegenständliche Sinngehalt der Wortkunst und des Gesanges (mit ihren begrifflich-stimmungsmäßigen Bedeutungen) immer mehr über die Malerei, die Bewegungskunst und Plastik bis hin zur rein zuständlichen Musik und Architektur. Und doch durchdringt sie alle ein geistiger Sinngehalt, auch den Rhythmus, das Ordnungsprinzip der Kunst, selbst die einzelnen Töne der bloßen Farbe (G. Anschütz). Seit C. Fiedlers Unterscheidung der Kunst und des Schönen, der Kunstwissenschaft und der Ästhetik ist eine erzwungene Sonderung der Fachbegriffe betrieben worden, die nur Verwirrung stiften kann, solange man sich über das eigentliche Wesen der Kunst und ihr Verhältnis zur Wissenschaft nicht klar geworden ist. Wenn man eingesehen hat, daß Form nichts anderes sein kann als geistig-ausgerichtete Ganzheit, daß weiterhin das künstlerische Erlebnis immer Ganzheitsschau ist, daß diese Zusammenschau, dem Wesen des nach Integration strebenden Menschen gemäß, mit Wohlgefallen erlebt wird und daß Kunst schließlich eine Zwillingsschwester der Wissenschaft ist, so kann man unter »Ästhetik« die P h i l o s o p h i e vom künstlerisch-metaphysischen Erlebnis verstehen, die allerdings nicht bloß das Schöne i. e. S., sondern auch das Komische, Tragische, Erhabene etc. umfaßt, also alle schaubaren Ganzheiten mit dem Charakter des Symbols. »Kunst« erinnert dagegen an »Können«, an Kunst-Schaffen und ist die W i s s e n s c h a f t der historisch-empirischen Objektivationen. Denn daß die Kunst als Kultursphäre keine bloße Isolation, sondern dem gesamten Leben eingelagert ist, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden: über die theoretische Schau hinaus untersteht alles K u n s t - S c h a f f e n den praktischen Gesetzlichkeiten der Ökonomie; das »interessierte« Begehren des schönen Gegenstandes fällt in die Machtsphäre, sein sinnlich-erotischer Genuß in die (sexuelle Stufe der) Liebessphäre; dem Religiösen ist das irdische Symbol geformter Lebensweisheit nur ein Gleichnis — wie alles Vergängliche dieser Welt.

B. Der bildende Wert der K u n s t . Nachdem im vorstehenden die Frage erörtert ist, wie sich das Kulturgebiet der Kunst zum »System der Kultur überhaupt« verhält, betrachten wir nunmehr die Wirkung des ästhetischen Aktes auf den »genießenden« Menschen, um daraus unsere pädagogischen Folgerungen zu ziehen. Wir trennen also den Akt der (produktiven) künstlerischen »Kontemplation« von dem des »praktischen Kunstschaffens«. Wo der schaffende Künstler die erste flüchtige Skizze hinwirft, wo sich das Material dem Druck der Finger fügt, ja wo sich der leicht anklingende Gedanke der Mneme einprägt, da fällt dieser Akt bereits unter die Gesetzlichkeit der Kraftersparnis. (Äußeres) gesetzt, jedoch ohne scharfe Abgrenzung (vgl. z. B . den 10. Brief). Schiller geht so weit zu behaupten: »In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun«. Das gemahnt an Herbart und seine Schule sowie an A. v. Hildebrand.

204

Die Bildungsgehalte (Methodik)

i. Die Wirkungsmöglichkeiten des Kunstwerks und die »Form«. Die ästhetische Beeinflussung kann nach den vorstehenden Ausführungen nur zweierlei Art sein: sie kann von der akustisch-visuellen Gestalt der Ausdrucks- und Darstellungsmittel ausgehen, aber auch von dem Gehalt von Vorstellungen und Ideen, die nicht in abstrakt-logischer Form aufgespalten, sondern in der Sphäre der Kunst symbolisch-anschaulich geformt sind. a) Das Kunstwerk wirkt auflockernd und auf diese Weise befreiend. Die akustische bzw. visuelle »Schau« der formalen Kunstmittel vermag die Spannung zu lösen, wie sie das überspannte Berufsleben des um sich greifenden Amerikanismus unvermeidlich zur Folge hat. Die Aufgewühltheit ungebundenen Gefühls läßt der menschlichen Betätigung freien Spielraum gegenüber der Hochspannung abstrahierenden, analysierenden Denkens I. Dasselbe gilt für das später zu erörternde Kunstschaffen. Die Psychoanalyse weiß davon zu berichten, wie vielen nervösen Kindern Heilung von peinigenden Vorstellungen in der Entspannung freien Kunstgenusses (z. B. im Zeichnen) beschert ist. b) Der symbolisch eingekleidete Gehalt von künstlerischen Werken (der Lebensweisheit!) ist kein philosophisch-moralischer Traktat, der uns bessern soll oder kann. Der ästhetische Genuß, namentlich am Schauspiel ist aber geeignet, »zur Aufklärung des Verstandes« (Schiller) beizutragen und somit unser ethisches Urteil zu läutern. Mit Thomas von Aquino: ordo und claritas. Im Hinblick auf diese Bereicherung und Erneuerung unseres Wesens durch die Kunst nimmt es nicht wunder, wenn wir seit Kant und Schiller, namentlich seit Karl Groos, auch in der außerdeutschen Literatur, immer wieder den in vieler Hinsicht zutreffenden Vergleich der freien Kunstbetätigung mit dem S p i e l e begegnen (vgl. unten: Spiel und Arbeit). Dieses Schauen in einer Welt der Phantasie, des »ästhetischen Scheines«, ist auch die Grundlage der von Konrad Lange vertretenen Illusionstheorie.

c) Damit ist bereits ein weiterer Begriff der »Freiheit« durch Kunst angedeutet: die Lust und Freude am Guten als Ansporn zum sittlichen Handeln, die eigentliche Freiheit des ausgerichteten Vernunftmenschen. Alle diese Bedeutungen von »Freiheit« im Hinblick auf die Wirkungen der Kunst mag man dann wohl dahin zusammenfassen: »Schönheit also ist nichts anders, als Freiheit in der Erscheinung.« (Schiller: Ästhetische Briefe, Mannheimer Vorlesung, die Einführung zur »Braut von Messina«.) Die Haltung des künstlerischen Menschen ist daher nie passiv und träge: erst der Beschauer vollendet das Bild (Jean Paul); sie ist immer Energieentfaltung, zunächst Gefflhls1 R. Benz, S. 283, hebt die »wohltätige« Wirkung der Musik hervor: »die ausruhende, erlösende Wirkung, die gerade das Einschläfern des Intellekts und die Ausschaltung des Stofflich-Gegenständlichen mit sich bringt«.

Der bildende Wert der Kaust

205

erlebnis und Betätigung der Phantasie, Anklingen der verschiedensten Sinnesgebiete (Synästhesien!), Belebung der motorisch-rhythmischen Funktionen (Rud. Bode: Musik und Bewegung) ; sodann spontanes Werterlebnis, sei es nun Nachschaffen (nicht bloße Nachahmung!) oder Kunstschöpfung, die ja ohne feste Grenzen immer ineinander fließen. Dieses aktivspontane Frei-werden-Von und Frei-werden-Zu, die Beseitigung von Hemmungen, der glatte Ablauf der Funktionen und alles erfolgreiche Wertwirken ist mit Lust verbunden, bedeutet letzthin Menschenglück! Hier liegt die Quelle des Kunstgenusses, des Kunstschaffens wie alles Handeln-Wollens.

d) Schließlich noch eine Wirkung der Kunst, vielleicht die höchste, jedenfalls die ureigenste. Wir haben öfters auf den besonderen Ganzheitscharakter des geformten Kunstwerks hingewiesen. Demnach besteht die besondere Macht künstlerischer Werke darin, dem aufgelockerten und aufgewühlten Menschen die Integration, die Geschlossenheit seines ganzen Wesens, aller seiner Funktionen, aller seiner Kräfte und Strebungen zu ermöglichen. In dieser Hinsicht hat die Metaphysik eines Aristoteles und Schelling, eines Humboldt und Goethe und Schiller tiefer geschaut als einseitig festgelegte Biologen der neueren Zeit. Nach W. Stern sucht die Person im Grundstreben der »Introzeption« die Einheit ihres persönlichen Daseins zu wahren. Wie auch die experimentelle Psychologie erwiesen hat (z. B. Fr. Sander) können wir nicht anders als überall Ganzheiten und Gestalten schauen und erleben. Die Kunst als geformte Ganzheit ist demnach vor allem berufen, die relativ konstanten »Gerichtetheiten der Seele« (Fr. Krueger) in der Kontinuität und Ganzheit der Entwicklung zu sichern und zu fördern.

In Anlehnung an unsere Definition des Typus (S. gf.) wäre die persönliche Form dann die Erlebniseinheit des Leibes und aller wesensgemäßen Funktionen, die in der Persönlichkeit zur geistigen Ausprägung ihres ursprünglichen Wesens gelangt sind. Funktional ist das, was Schiller als »Schönheit des Baues«, geistig, was er als »Schönheit des Spiels« bezeichnet (Über Anmut und Würde). Wir nennen »hübsch« die bloße Schönheit der Funktionen, wie wir sie auf (populären) Bildern zweiten Grades begegnen, ohne den Adel der Seele. Nicht Menzels Auge macht den Maler, auch nicht Michelangelos Schwung der Hand, sondern der große Zug der Seele bewirkt erst den Künstler und die »Schönheit« seines Werkes. Entsprechend kann man das sachliche Kunstwerk bestimmen als geschaute Ganzeinheitlichkeit in der Mannigfaltigkeit der Spannungen eines Symbols. Demnach können wir auch an einem technischen Gebilde unser »Wohlgefallen« haben, z. B. an einer über Abgründen weitgespannten Brücke als Ausfluß und G«stalt theoretischer Besinnung, praktischer Kraftersparnis, sittlichen Wollens, dies alles aber erlebt als anschaulich geformtes Symbol menschlicher Größe, göttlicher Gnade. Form ist demnach etwas rein Geistiges. Ihr Sinn ist weder Äußeres noch Inneres, sondern Inneres und Äußeres, Äußeres des Innern; Inneres des Äußern: »Nichts ist drinnen, nichts ist draußen; denn was innen, das

206

Die Bildungsgehalte (Methodik)

ist außen«. Diese Harmonie von »Kern« und »Schale« ist nicht die einer einseitigen »Zweckgestalt«, z. B. eines wissenschaftlichen, praktischen oder sittlichen Werkes, sondern ist »Form«, d. h. die allseitige und ganzheitliche Ausprägung einer Idee. D a es keinen unbedingten Ausgleich von Subjekt und Objekt als der erlebten Einheit von Idee, Gedanke und Kunstform gibt, kann man nicht von einem »absoluten Schönen« sprechen. Der Chinese schaut die Harmonie in anderer Weise als der Europäer, der Primitive wieder anders als der klassische Mensch. beide nach England.

Hans Holbein der Jüngere und van D y c k gehen

Ursprünglich arbeiten sie als Porträtmaler die Seele der Menschen

heraus; Hauptsache ist die Menschlichkeit. In England werden ihre Porträts konventioneller, die Personen sind kalt; die Kostüme werden sorgsam herausgearbeitet.

Man hat daher mit

Recht von einer soziologischen bzw. ethnologischen Bedingtheit (bzw. Wirkung) der Kunststile gesprochen (H. Taine, J. Ruskin, E . Große, J.-M. Guyau, Y r j ö Hirn, W . Worringer u. a.).

Jede Zeit findet ein anderes Geschlecht vor, eine andere Umwelt.

Dazu kommen die

verschiedenen Arten differentieller Künstlertypen und individueller Schöpfer, die alle sehen und hören und wirken in der ihnen eigenen Weise (A. E . Brinckmann, W. Pinder: Generations-, Alters- und Individualstil).

Zeit-,

Und wenn auch jeder von uns anders wahrnimmt,

fühlt und fabuliert, so gibt es dennoch große, durchgehende Grundzüge menschlichen Seins und

Sollens, damit also auch allgemeine

Kunstgenießens und

Kunstschaffens.

Subjekt-Objekt-Zuordnungen normgesetzlichen

Auf ihren überindividuellen

Geltungsforderungen

beruht die Möglichkeit einer Begründung von (rationalen) Maßstäben zwecks Beurteilung echter Kunst.

2. Die G r u n d f o r m e n persönlicher

Selbstdarstellung.

Wir haben in der vergangenen Zeit viel von Persönlichkeitspädagogik gesprochen, haben auch drei Kunsterziehungstage gehabt, dabei aber vorwiegend das Erlebnis und Kunstverständnis erörtert, kaum jedoch der Persönlichkeitsformung durch Kunst gedacht. Auch in dieser Hinsicht hat bereits Schiller das wichtigste gesagt. Nach Schiller (Über Anmut und Würde) gibt es nur zwei Arten der Schönheit bzw. der Form: die A n m u t der schönen Seele, der weiblichen Tugend als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft; W ü r d e als Ausdruck des erhabenen Charakters, die Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft; ihr höchster Grad ist »Majestät«. Nach Schiller ist Anmut — und wohl auch Würde — »ein Ausdruck moralischer Empfindung«. Wie ich in der Allgemeinen Erziehungslehre gezeigt habe, gibt es auch tatsächlich nur zwei gesellschaftliche Grundverhältnisse, auf denen demgemäß alle Moral beruht: Leistungsfähigkeit und Güte. Normativ gewandt: der Mensch sei »hilfreich und gut« und zwar gut im Sinne von gütig. So muß er nicht nur leistungsfähig, sondern auch voller Liebe zum Mitmenschen sein. Schiller setzt Liebe und Weiblichkeit in die engste Beziehung: »Liebe; ein Gefühl, das von Anmut und Schönheit unzertrennlich ist.« Also könnte

Der bildende Wert der Kunst

207

man sagen, daß Anmut der Ausfluß der Liebe sei, der »weiblichen Tugend«, und zwar insofern Trieb- und Vernunftleben des Weibes harmonisieren. Entsprechend fiele dem Manne die Würde zu als Ausdruck der Macht, der leistungsfähigen Kraft, wie bereits oben angedeutet wurde. Nennt doch auch Schiller Würde und Achtung in einem Atem; das Machtverhältnis von Führer und Geführten beruht ja grundsätzlich auf gegenseitiger Achtung. Nun gibt es aber gütige Frauen, die nicht anmutig sind und tüchtige Männer der Leistung, die der Würde ermangeln. Demnach wäre Anmut nicht der Ausdruck der Güte, Würde nicht der der Macht. Allerdings ist das möglich, denn beide Grundtypen können ja formlos sein, »sich gehen lassen«. Und in dieser Schwäche liegt zugleich der Hinweis auf die Lösung. Anmut ist nicht der bloße »Ausdruck« der Güte schlechthin, sondern vielmehr die S e l b s t d a r s t e l l u n g des gütigen Menschen 1 . Eine Handlung kann zwar gütig sein, aber doch der »Form« entbehren. Form aber ist nach unseren früheren Ausführungen die berechtigte Selbstdarstellung »geklärten« Persönlichkeitsgefühls. Oder wie Schiller sagt: »Sobald man sich seiner sittlichen Bestimmung bewußt wird . . . « — »bewußt« nicht im Sinne verstandesklarer Berechnung willkürlichen Posierens, sondern das organisch gewordene Bewußtsein des eigenen Wertes, »wenn wir bei uns selbst erst entschieden haben, was wir sind, und was wir nicht sind« (Mannheimer Vorlesung). Anmut ist demnach die Form der Selbstdarstellung, genauer: der S e l b s t b e w a h r u n g gütiger Frauen aus einem (geläuterten) Selbstbewußtsein, was man auch Verhaltenheit nennt. Entsprechendist Würde die Darstellungsform der begründetenSelbstachtung des tüchtigen Mannes. Dieser Einschlag berechtigter Selbstbewußtheit kann von der Idee der Selbstdarstellung nicht getrennt werden, ist konstituierendes Merkmal ihres Wesens. Demnach sind »Selbstachtung« bzw. »Selbstbewahrung« die polaren Differenzierungen und zugleich die Korrelate persönlicher Selbstausweitung in die Gemeinschaft. Hat der »vollendete« Mensch, die Persönlichkeit, sonach Ordnimg und »Form«, so ist der einseitige Mensch bloß Mittel zu einem Z w e c k , z. B. bloß »Arbeiter«: er hat Z w e c k g e s t a l t . Die Weltordnung ist in ihm gestört. Entsprechend kann der objektivierte Geist wohl gestaltet, aber doch »formlos« sein, z. B. ein handfestes Werkzeug, das nur seinen praktischen Zweck erfüllt. Das Verhältnis von bloßer Zweckgestalt zur Form ist die Problematik des Kunsthandwerks. Von diesem Ergebnis aus erschließt sich uns jetzt erst der letzte Sinn der Form in ihrem Verhältnis zur Idee der »Klärung« (vgl. o. S. 45 f.). Wir 1

»Die Anmut liebt es, sich anzuschmiegen und voll hinzugeben, auch die feine gesellige Sitte zielt auf Anmut«. Th. A. Meyer, Ästhetik, Stuttgart Ì923, S. 78.

208

Die Bildungsgehalte (Methodik)

haben hier Anmut bzw. Würde, die Formen des subjektivierten Geistes, in enge Nachbarschaft zu einem geläuterten Selbstbewußtsein gerückt. Was heißt das? Wenn Formung die Ganzheitlichkeit der werdenden Persönlichkeit ist, dann schließt diese Forderung somit auch ein, daß der Vernunftmensch erst einmal durch die »Klärung« der Reflexion gegangen sei, daß er als geschlossene Persönlichkeit ein »Wissender« sei. Denn auch das Von-sich-selbst-Wissen gehört zum ganzen Vernunftmenschen. Zwischen Anmut und Anmut, ebenso zwischen Würde und Würde gibt es mancherlei Abschattierungen. Schiller selbst hat schon auf die Unterschiede zwischen Würde, Feierlichkeit, Hoheit und Majestät aufmerksam gemacht. Im letzteren Falle hat die Distanz, die für das Machtverhältnis so wesentlich ist (Achtung), ihren höchsten Grad erreicht. Ebenso gibt es Grade des Sich-Zuneigens in Güte, des Sich-selbst-Verlierens (statt der Selbstbewahrung). Dem entsprechen auch Formweisen der Anmut bzw. der Würde. Über diese formalen Unterschiede der Distanz hinaus gibt es auch sinnhaltige Verschiedenheiten, z. B . der Liebe je nach dem Grade des triebhaft-sinnlichen Einschlags (sinnlich-reizend) und dementsprechend Spielarten der Anmut. Die Anmut südländischer Völker ist eine andere als die nordischer Rassen; die natürliche Anmut des noch nicht entfalteten Kindes ist verschieden von der des jungen Mädchens und der gereiften Frau.

Wie wir öfters Gelegenheit nahmen zu betonen, sind Theorie und Praxis, ebenso Liebe und Macht nicht Gegensätze, sondern Pole natürlicher Spannungen, die wiederum auf Ausgleich hinstreben. Demnach ist die Anmut nicht das ausschließliche Gnadengeschenk des Weibes, die Würde nicht das alleinige Vorrecht des Mannes. Ein »anmutiger Mann« scheint ein Widerspruch zu sein, nicht aber die gefällige Form männlichen Handelns; sicherlich sprechen wir auch von der »Würde« einer im Leben stehenden, etwas »leistenden« Frau wie von der »hausfraulichen« Würde. So scheint uns denn das Ideal der Sinnverwirklichung, d.h. des geformten Vernunftmenschen zu sein: die gefällige Würde des Mannes bzw. die würdevolle Anmut des Weibes. Zu ähnlichen Ergebnissen ist auch L. Klages gekommen. Insofern wir unter »Stil« die Wesensganzheit eines individuellen Ausgleichs von Gehalt und Gestalt, Stoff und Richtung verstehen, liegen hier die polaren Grundtypen möglicher Lebensstile vor. Dieses Ideal wird jeder nur in den Grenzen seiner Anlage, also individuell ganz verschieden ausfüllen können. Aufgabe der Kunsterziehung ist es aber, ihm über das übliche Wissen und Können, über die formale Schulung und einseitige Geistesbildung hinaus, die Wege des Aufstiegs zur Formimg der eigenen Idee zu bereiten im Rahmen der typisch deutschen Lebensform. E . Voigtländer kommt gelegentlich auf die bekannte, auch von Dilthey und Max Scheler anerkannte Gegenüberstellung von romanischer Begrifflichkeit und germanischer Ideenhaftigkeit zurück (S. 121 f.). Dort der griechisch-lateinische Sinn für Maß, Grenze, Geschlossenheit, rationale Zwecksetzung; hier die Idee des Unendlichen, ewiges Streben und Bewegung, Wille und Kraft, die alle Formen zu zersprengen drohen. Dementsprechend arbeitet auch die Verfasserin, ausgehend von Conrad Fiedlers und Adolf von Hildebrands

Bildung durch

209

Kunst

Theorie überall die ausgeglichene Ruhe und Ebenmäßigkeit, Formklarheit und Festigkeit der klassischen Harmonie heraus; in der nordischen Kunst dagegen das Urerlebnis des unendlichen Raumes, die Erregung und Bewegung.

Daher sind Italien und Deutschland die »am

weitesten auseinandertretenden Pole europäischer Kunst«, zwischen denen sowohl die größte Spannung als auch die größte Anziehung besteht.

Diese Theorie ergänzt W. Worringer;

er legt dar, daß auch die Gotik »Form« ist und zwar Formung einer bestimmten, allerdings andersartigen Geistigkeit. Wenn Herman Hefele im »Gesetz der Form« gerade die Ordnung der »klaren, sachlichen Nüchternheit« betont, das »entsagungsvolle Nein« des Menschen, der »sein üppig reiches Innerstes und Heiliges« zum Opfer bringt, so fordert J. Schröteler mit besserem Recht, der Mensch soll »die Anlagen, die er in eigenartiger Prägung von G o t t erhalten hat, gerade in dieser Eigenart zum vollendeten Ausdruck bringen«.

Demnach kann der Sinn einer dritten

deutschen Humanität nur liegen in der Durchdringung klassischer Formkultur mit deutscher Innerlichkeit und Tüchtigkeit,

schließlich mit christlicher Religiosität.

Also auch hier:

freudige Bindung und ernste Freiheit, geformter Geist und durchgeistigte Form.

3. B i l d u n g d u r c h

Kunst.

Nach dem, was wir über das Verhältnis von Form und geläutertem Selbstbewußtsein gesagt haben, kann auch der »Kunstgenuß« nicht ein bloßes Erlebnis sein, vielmehr ein geklärtes Verstehen geformter Sinngehalte; allerdings auch kein rein intellektueller Vorgang, am wenigsten ein Wissen um Jahreszahlen, Namen von Bildern und Neuerscheinungen, womit man in der »Gesellschaft« immerhin einen »gebildeten« Eindruck machen kann! Kunsterziehung ist also nicht Kunstgeschichte, überhaupt kein Fach, sondern ein Prinzip; nicht Lehre, sondern Erweckung eines geistigen Ganzheits-Seins: leibseelisches Lebensgefühl, Lebensstil des Handelns, Sprechens, des persönlichen Wesens in bestimmter Umwelt (auch der Häuslichkeit!). Also sollte man in diesem Sinne nicht von »Kunstunterricht « sprechen, schon eher von Kunsterziehung und zwar im Hinblick auf die persönliche Wechselwirkung der sich formenden Menschen; am besten von Bildung schlechtweg. Vgl. den letzten Abschnitt des 4. Teiles. Da Bildung durch Kunst zunächst ein Auflockern und Aufwecken, Entspannen und Lösen durch die Form des Dargestellten ist, ein Prozeß des S c h a u e n s , also des Sehens und des In-sich-Hineinlauschens mit geöffneten Sinnen und befreitem Gefühl, so ist der erste Grundsatz der: G e w ö h n u n g zur s t i l l e n B e s c h a u l i c h k e i t . Nicht mehrere Gedichte oder Bilder bieten, nicht drängen, sondern Zeit und Muße geben zur Versenkung, zur Hingabe, damit die Seele wieder in Schwingungen gerät, aus der Erstarrung erwacht, zu sich selbst kommt. Ist das Werk, das Bild beispielsweise eine Landschaft, so muß man darin auf-gehen, sich darin er-gehen können; sich lösen im Spiel der Farben, mitschwingen in dem Rhythmus der Raumverteilung und der Linien. Demnach zunächst keine Fragen, sondern ruhige Anschauung, möglichst lange Zeit. O t t o , Unterrichtslehre.

14

210

Die Bildungsgehalte (Methodik)

Kunst ist sodann geformter Vorstellungs- und Gefühlsgehalt; Bildung durch die Kunst ist mithin Läuterung der Seele durch einen Gedankeninhalt. Daher lautet der zweite Grundsatz: Gewöhnung an besinnliche Innenschau und Umschau. Die Klärung des Gesehenen wird im zwanglosen Rundgespräch gefördert: was stellt das Bild dar, mit welchen Mitteln (matte oder leuchtende, kühle oder warme Farben) etc.? Was geht im Drama (Gedicht, Roman) vor? Vorstellungen und Gefühlserleben beim Anhören eines Liedes, beim Genuß einer Farben- oder Ton-Symphonie usw. Nichts aufdrängen, keine Phrasen, keine Verhimmelung! In jedem echten Kunstwerk lebt etwas, was erst eigentlich sein Wesen ausmacht: die formende Idee. Der Akzent liege zunächst auf Idee! Sie gibt dem Kunstwerk Leben; sie kann auch Leben wecken oder besser: gleichgestimmtes Menschentum kann die Idee des Kunstwerks erst verwirklichen. Darauf beruht die Möglichkeit, daß uns das Kunstwerk über uns und diese Welt hinausträgt: Beziehungen zwischen Kunst und Kult! Wie im Spiel, wo wir das uns in der Wirklichkeit versagte Leben nachholend genießen, ergänzt und erhöht die Kunst unser begrenztes Sein, führt uns zur Weisheit: Richtung der organischen Bewegtheit. So ist denn der dritte Grundsatz alles Kunstgenusses: Ausrichtung des eigenen Wesens am (geformten) Ideengehalt des Kunstwerks. Es erheben sich dann Fragen nach dem »Sinn« des Werkes: was wollen die Menschen, was will der Dichter, was will, was soll ich selbst! Liegt der Akzent aber auf dem Begriff »Form«, d.h. betrachten wir das Kunstwerk seiner artbestimmten Besonderheit nach als geformte und formende Idee, so kommen wir zu dem vierten und letzten Grundsatz: Formung des empfänglichen Menschen durch die eigenartige F o r mung eines o b j e k t i v i e r t e n Ideengehalts und zwar durch die höchste I n t e n s i t ä t der Wirkung. Wenn Entwicklung die Differenzierung und Integrierung der geistig-organischen Welt bedeutet und wenn wir als Aufgabe der Theorie die Idee eingesehen haben, den normgemäßen Ausgleich zwischen erkennend-verstehendem Subjekt und den Fundamenten des Objekts zu erfassen (S. io8ff.), so gewinnt die Idee der Ausgeglichenheit als Ziel alles Persönlichkeitsstrebens jetzt seinen tiefsten Sinn. Lebenserhöhung bedeutet Bereicherung der Spannungen und dazu ihren Ausgleich im Überindividuellen und im Individuellen: Ordnung des Menschen in sich, mit seiner Umwelt und mit seinem Gott. Wir sagen demgemäß: F o r m als subjektivierter Geist ist die Ganzheit und Ausgeglichenheit der sich selbst d a r s t e l lenden, leistungsvollen und gütigen, g l ä u b i g e n Persönlichkeit. Diese Idee des Ausgerichtetseins als Lebensstil wird uns zur höchsten

Bildung durch Kunst

211

Lebenspflicht. Alle Muße, Selbstbesinnung, Meditation oder wie man die Entspannung und Sammlung auch nennen mag, kann nur diesen letzten Sinn haben. Auch in dieser Zeit unaussprechlichen Elends ? Ja, je größer die Lebensnot der nie endenden Krise, je dringender muß der entpersönlichte Mensch aller Volksschichten seine persönlichen Forderungen stellen, seinethalben, um der Gemeinschaft willen. Damit enthüllen sich letzte Forderungen und Beziehungen zwischen Kunst und dem Bildungswesen der Jugend wie der Erwachsenen (Volksbildung), ebenso zwischen Kirnst und religiösem Kult. In t e c h n i s c h e r Hinsicht sind nun innerhalb des Unterrichts alle Voraussetzungen zu schaffen, daß ein Kunstwerk, und zwar möglichst das Original seine volle Wirkung entfalten kann. Das Werk ist tunlichst erst als ein G a n z e s zubieten; ein kurzes Gedicht ist also im Unterricht selbst zur ersten Darstellung zu bringen. Dramen und Romane wollen dagegen erst einmal in einem Zuge zu Hause genossen sein und können dann nach Einheiten (Akten) in der Schule besprochen werden. Nicht zu kleine Einheiten, besonders im fremdsprachlichen Unterricht; nichts breittreten 1 Am Schlüsse eine zusammenfassende Überschau. Gedichte trägt der Lehrer in der Regel zuerst selbst vor, schlicht, ohne falsches Pathos, am besten frei, wenn er seines Könnens sicher ist. Auf höheren Stufen mögen sich die Schüler hier und da selbst versuchen: vorher Zeit zum Durchlesen des Ganzen geben! Sonst lesen die Schüler nach der Besprechung. Möglichste Beteiligung der Klasse: Aufführungen, Sprechchor, Verlebendigung durch fremde geschulte Sprecher in der Schule oder im Vortragssaal (Theater, Museen und Besichtigungen, Lichtbild und Radio). Vorsicht vor reisenden »Vortragskünstlern«. Das weist schon zu didaktischen Fragen hinüber. Höchstes Erlebnis setzt weitgehend e i n f ü h l e n d e s V e r s t ä n d n i s voraus. Das Kunstwerk ist nicht nur Form der Darstellungsmittel, sondern auch Formung des Inhalts. Das wird von den expressionistischen Reformern übersehen, die alle »Erklärung« vermeiden wollen. Zuviel Erklärung zerstört allerdings die Schöpfung: Verwechslung von Wissenschaft und Kunst. Zuwenig Erklärung verhindert aber den Genuß des geformten Vorstellungs- und Ideengehalts: wir sind nun einmal Vernunftgeschöpfe, deren Einsicht befriedigt sein will. Störende Unklarheiten beunruhigen und verhindern den vollen Kunstgenuß. Daher ist zu fordern: M ö g l i c h s t e s V e r s t ä n d n i s des s y m b o l i s c h e n G e h a l t s . Damit ist ausgedrückt, daß nicht die letzte Klarheit wissenschaftlich-zergliedernden Denkens erreicht werden soll, sondern Empfänglichkeit für den künstlerischen Ganzheitscharakter einer Schöpfung. Es sind daher v o r der Darbietung eines Gedichts (Bildes, Musikstückes) die störenden Unklarheiten einer verständnisvollen Auffassung möglichst taktvoll zu beseitigen. Es folgt nach der Aufnahme des Werkes als Ganzheit die weitere »Klärung«, auch literarhistorischer Art, soweit dadurch die Tiefe des Kunstgenusses erhöht wird! Man hört, weil man versteht; man genießt, weil man hört. Immer ist in der schlichten Beschreibung das einzelne auf das Ganze zu beziehet. Kein mechanisches Zählen der Hebungen, der Reime etc., sondern immer Zuordnung der Form zum Inhalt und zur Idee des Ganzen. Beispiel: Hugo von Hofmannsthal, Die Beiden. Erste Strophe: »Sie«, Lautmalerei und Rhythmus ihres Ganges, ihres Wesens. Zweite Strophe: »Er«, entsprechende Charakteristik. Dritte Strophe: Synthese, Rhythmuswechsel (»Jedoch«), Bau der Strophe, Bindung der Verse, schwere Stimmung, Symbol: vergossener Wein. Das Ganze ein Symbol der ewigen Polarität von Mann und Weib, des Suchens und Sich-doch-nie-Findens der Menschen. Kunstverständnis und Interpretation sind vom E n t w i c k l u n g s a l t e r , von der all14*

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Die Bildungsgehalte (Methodik)

gemeinen Reife des Genießenden abhangig. Methodologisch, auch für die einschlägigen experimentellen Untersuchungen, wäre zu unterscheiden zwischen der ästhetischen Empfänglichkeit für die F o r m der D a r s t e l l u n g s m i t t e l , für die F o r m des g e g e n s t ä n d l i c h e n G e h a l t s und für den G e d a n k e n - und I d e e n g e h a l t schlechthin. Sonst sind die Ergebnisse höchst zweifelhaft (Meumanns vier Stufen der Bildbetrachtung)! Sicherlich hat das (integrierte) Kind eine stark ausgeprägte Funktionslust an Farben und Gestalten, Symmetrien, Rhythmen und Klängen. Aber erst in der Zeit der Pubertät erwacht der Sinn für das eigentlich Geistige geformter Kunst. Der ältere Schüler gibt seinem Ganzheits-Erleben nicht mehr hemmungslosen Ausdruck im Plaudern, Singen, Malen und darstellendem Spiel. Alles natürliche Tun wird nun zu einer »Kunst«, oft ohne innere Notwendigkeit. Also muß der Bildungsakt nach Möglichkeit die Kunst wieder zur Natur zurückführen, zu einer neuen Geschlossenheit.

Das deutende Kunstverständnis führt vom kulturhistorischen und genetischen zum normativen Verstehen. Historisches Verstehen ist nicht ein bloßes Wissen um äußere Tatsachen, sondern ein Eindringen und Einfühlen in die Lebensstimmung und das Formerlebnis früherer Zeiten und ihre persönlichen Träger. Alle Kunstschöpfungen einer Zeit (Generation) sind in ihrem gemeinsamen Sinn und ihrem Lebensgefühl als Struktur-Einheiten zu verstehen: Dichtung (Kunstformen, Gegenstand, Ideenkreis), Malerei (Verhältnis der Linie zur Farbe, Farbenund Lichtwirkimg, Techniken, Komposition, Ideen), Architektur (Grundrisse, kirchliche und profane Stile, Art des Materials und seine Gesetzlichkeiten, Sinn der Bauten), Musik etc. Der Ausgangspunkt ist die Kunst der Heimat, von da zum weiteren Vaterland bis zu den ewigen Werten der Menschheit. Es sollte demgemäß neben einer Archäologie eine »Neologie« der deutschen Kunst, des deutschen Menschen treten. Dabei ist immer auszugehen vom Geschauten, nicht umgekehrt »Kunstgeschichte« mit einzelnen »Belegen« lernen! Kein Hinwegreden über die Dinge, verfrühtes Urteil oder abgelebtes Ästhetentum. Aber Bescheidenheit und Ehrfurcht.

Das n o r m a t i v e V e r s t e h e n ist das schwierigste Problem der Kunsterziehung. Gibt es so etwas wie ein »Gesetzbuch«, Richtlinien des Geschmacks und des kritischen Kunsturteils? In neuerer Zeit haben namentlich Th. Lipps und Joh. Volkelt unsere Einsichten vertieft und geweitet. Man will jetzt mittels der (formalistischen) kunstgeschichtlichen Grundbegriffe AI. Riegls, Aug. Schmarsows, H. Wölfilins, P. Frankls, Ad. van Scheltemas, Erw. Panofskys u. a. nicht bloß künstlerisch und kunsthistorisch sehen und einsehen lernen, sondern über die Kategorien der Anschauung zu solchen der Lebenshaltung (des »Weltbegriffs«) durchstoßen, für die W. Dilthey und H. Nohl eine philosophische Grundlegung gegeben haben und die L. Coellen, an Hegel anknüpfend, konkreter ausgebaut hat. Rassenpsychologische (W. Worringer) und geistesgeschichtlich-kulturhistorische Betrachtungsweisen (M. Dvoräk) führen Kunst und Kunstwerk auf ihre weltanschauliche Verwurzelung zurück, auf das »Verstehen« geistiger Sinngehalte. R. Benz erweist Musik in ihren verschiedensten Formen als »geistige Auseinandersetzung mit der Welt«. Auch G. Becking bleibt bei der rein formalistischen Deutung der Musik, der funktionalen Technik, nicht stehen, auch nicht bei der bloßen Feststellung bloßer S t i m m u n g s g e h a l t e , treibt aber andererseits auch nicht auf eine phantastische Auslegung i n h a l t l i c h e r Art hin (Hineindeuten!), sondern verharrt in einer mittleren Schicht sinnbezogener Interpretation, da ja Musik nicht die Kunst ge-

Bildung durch stalteter Begriffsbedeutungen ist.

Kunst

213

Nur die Wortkunst gibt die Möglichkeit, Ideen inhaltlich

zu veranschaulichen.

Ich glaube, daß man wenigstens einige allgemeinere Normen aufstellen könnte: 1. Die Höhe eines Kunstwerks hängt ab von der »Höhe« der in der künstlerischen Form veranschaulichten Idee. Denn es ist doch wahrlich ein Gradunterschied zwischen dem in eine schöne Form gekleideten Scherz und der sittlichen Idee eines Dramas. 2. Die E c h t h e i t eines Kunstwerks hängt ab von seinem W a h r h e i t s g e h a l t . Alles Organische ist Ganzheit der wesensgemäß zugeordneten Funktionen, bezogen auf einen geistigen Kern. Also muß auch der geformte Stimmungs- und Vorstellungsgehalt auf die Idee des Ganzen abgestimmt sein. Das ist der Sinn der so viel erörterten »Einheit«! Aber wer will über die Aufrichtigkeit des Künstlers einer längst versunkenen Zeit zu Gericht sitzen! 3. Die Wirkung einer Schöpfung setzt eine gewisse S p a n n u n g voraus; denn alles Organische ist spannungsreich. So kann z. B. der Dichter durch folgende Mittel die Aufmerksamkeit des Zuschauers (Hörers) erregen: Einführung von Gegenspielern und Kontrastfiguren, Hinweise auf das Dazwischentreten neuer Personen, Verwendung von Anspielungen, Ahnungen, Träumen, Nachtrag der Vorgeschichte, Auflösung des Zuständlichen in Handlung usw. Aber keine Aufmachung, keine Sensation! Der höchste Grad des Gespannt- und Ergriffenseins wäre schließlich nicht die bildnerische, malerische oder literarische Darstellung einzelner Menschen, sondern die Volksbühne des allgemeinen Laienspiels, des sich selbst darstellenden und in der Form ausrichtenden Volkes. 4. Der ä s t h e t i s c h e Charakter einer Schöpfung hängt letzthin ab von dem Grade g e f o r m t e r A n s c h a u l i c h k e i t , d.h. von seiner Symbolhaftigkeit. H. v. Hofmannsthal sagt in seinen »Unterhaltungen über literarische Gegenstände« sehr treffend, daß alle Dichtung nur Symbol sei. Symbol bedeutet immer Sinnverwandtschaft, ist daher stets dem deutenden Verständnis eines gleichgerichteten Menschen unmittelbar zugänglich. Sein ästhetischer Sinn ist der, an der »singulären Erscheinung« das »Unendliche« zu veranschaulichen; das ist nach Hebbel (Tagebuch vom 5. Januar 1836) das »erste und einzige Kunstgesetz«. Demnach kann im religiösen Kult alles Vergängliche und Unwirkliche dieser Welt auf die übersinnliche Wirklichkeit bezogen und im Bedingten ein Gleichnis des Unbedingten erblickt werden. Denn schließlich ist ja alles ein Eins, ein Ausfluß des Allgeistes; Die Anschaulichkeit des Symbols braucht sich nicht auf den gegenständlichen Vorstellungsgehalt zu beschränken.

Wie die Arbeit Th. A. Meyers und die experimentellen

Untersuchungen von Messer, Marbe, Ach, Bühler und Taylor erwiesen haben, kann die

214

Die Bildungsgehalte (Methodik)

anschauliche Repräsentation eines Wortes einer bloßen »Bewußtseinslage«, einer »Bewußtheit«, einem »Sphärenbewußtsein« weichen. Wo wir von »Anschaulichkeit« reden, waltet also vielleicht oftmals nur eine stärkere Erregung von Zustandsgefühlen vor. Die Anschaulichkeit im Sinne der Symbolhaftigkeit geht um so mehr verloren, als sich die Kunst der Wissenschaft nähert. Wo z. B. das Drama zum Beleg sozialer Theorien benutzt wird, haben wir es weniger mit der Kunst der Symbolik zu tun als mit der Erregung wissenschaftlicher Interessen. L i t e r a t u r : G. Anschütz, Die Farbe als seelischer Ausdruck, Hannover u. Wien 1930. — G. Becking, Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, Augsburg 1928. — R. Benz, Die Stunde d. deutschen Musik, Jena 1923. — C. v. Biema, Farben und Formen als lebendige Kräfte, Jena 1930. — G. Budde, Sozialpädagogik und Individualpädagogik, Langensalza 1913. — E. Cassirer, Idee und Gestalt, Berlin 1924; Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1922; Philosophie der symbolischen Formen I—III (1923, 1925, 1929) Berlin. — W. Drost, Form als Symbol, Ztschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft X X I (1927). — W. Ehrlich, Stufen der Personalität, Halle 1930. — A. Ehrhardt, Gestaltungslehre, Weimar 1932, Sammlung P. Petersen. — C. Fiedler, Schriften über Kunst, her. v. H. Marbach, Leipzig 1913 (1896). — R. Hamann, Der Impressionismus in Leben und Kunst, Marburg 1923. — H. Hefele, Das Gesetz der Form, Jena 1928. — E. Kornmann, Gustaf Britsch, Theorie der bildenden Kunst, München 1930. — Kongreßbericht (I. u. III. Kongreß f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft), Stuttgart 1914, bzw. i. d. Ztschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwiss. X X I (1927). — Fr. Kreis, Der kunstgeschichtliche Gegenstand, Stuttgart 1928; Von dqr »Voll-endlichkeit« des ästhetischen Wertes, Ästhetische Studien (5) Tokyo 1931. — Eng. Kühnemann, Kants und Schillers Begründung der Ästhetik, München 1895. — R. Lehmann, Die deutschen Klassiker (Herder-Schiller-Goethe), Leipzig 1921. — A. Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Berlin 1922. — H. Lützeler, Formen der Kunsterkenntnis, Bonn 1924. — R. Müller-Freienfels, Poetik, Leipzig-Berlin 1920. — H. Nohl, Stil und Weltanschauung, Jena 1920; Deutsche Vierteljahrsschrift 2 (1924) II. — Pädagogisches Zentralblatt 10 (1930), Heft 7/8 (Aufsätze von Eg. Kornmann, W. Pfleiderer, C. Englert-Faye etc.). — W. Passarge, Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart, Berlin 1930. — H. Richert, Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule, Tübingen 1920. — J. Schröteler, Das katholische Bildungsideal und die höhere Schule, Neue Jahrb. f. Wissenschaft u. Jugendbildung 6 (1930), Heft 5. — W. Schulze-Soelde, Pädagogische Untersuchungen, Breslau 1930. — P. Ueding, Grundfragen der Kunstbetrachtung, Frankfurt (Main) 1929. — E. Utitz, Geschichte der Ästhetik, Geschichte der Philosophie in Längsschnitten, Heft 6, Berlin 1932. — E. Voigtländer, Zur Gesetzlichkeit der abendländischen Kunst, Bonn u. Leipzig 1921. — Joh. Volkelt, Kunst und Volkserziehung, München 1911. — O. Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste, Berlin 1917. — H. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1923. — W. Worringer, Formprobleme der Gotik, München 1922.

III. Wesen und Bildungswert der Werktätigkeit

Unter Werktätigkeit verstehen wir das p r a k t i s c h e S c h a f f e n , das wohl zu unterscheiden ist vom Handeln, mit dem es seit der Zeit der sokratischen Schulen immer wieder vermengt wird. (Vgl. prattein — poiein) bei Aristoteles Wenn wir den Typus des Theoretikers von seinem geistigen Zentrum, von seiner Sehnsucht nach Wahrheit und Weisheit her bestimmt haben, so meinen wir auch den Praktiker nicht nur, insofern seine Funktionen g e s c h i c k t zum Werke sind, sondern soweit ihn eine g e i s t i g e Sehnsucht nach Energieersparnis, nach Ökonomie im Schaffen beherrscht ' Nikomachische Ethik, hrsg. von Ramsauer, VI, 4, Leipzig 1878, S. 382 f.

Das Wesen der Werktätigkeit

215

und seinem Wesen ein eigenartiges Gepräge und bestimmte Formung verleihen kann. Andernfalls wird auch die Idee der Technik und der Wirtschaft auf den ödesten Mechanismus bloßen Funktionierens herabgedrückt. Auf den geistigen Mittelpunkt sind die zugeordneten motorischen Funktionen, die Behendigkeit und die Genauigkeit ihrer Koordination, der intellektuelle Einschlag des Beobachten-Könnens, des Sich-zu-helfen-Wissens einheitlich zu beziehen (s. die Skizze des Anhangs), und zwar immer wieder in individuell verschiedener Weise. Denn einen allgemeinen Faktor »Geschicklichkeit« gibt es nicht, auch keine durchgehende Korrelation zwischen den motorischen Funktionen der Hand und der Sinnestüchtigkeit (Auge, Tastgefühl) des Menschen (A. Argelander). Vgl. S. 59f. In diesem Abschnitt haben wir nicht den sogenannten A r b e i t s u n t e r richt zu behandeln, der ein didaktischer Grundsatz aller Unterrichtsgebiete und aller Erziehung (Selbstverwaltung!) ist und in seinen höchsten Auswirkungen gerade an die geistige Sehnsucht des spontan-schaffenden Werkmenschen anknüpfen wird. Schon mehr geht uns hier Werktätigkeit als Fach an, d. h. als Werk- oder Handfertigkeitsunterricht. In der Schule, der ursprünglichen Gelehrtenschule, gänzlich vernachlässigt, bereits von Luther und Komensky empfohlen, später Berufsvorschulung oder ein Mittel des Erwerbs, auch schon in der Schule (z. B. Kindermann), in den Realanstalten mehr Lehr- und Anschauungsunterricht als praktisches Werkschaffen (z. B. Semler), wird die Forderung der Werktätigkeit in der Schule schließlich sozialpolitisch motiviert als Mittel der Klassenversöhnung. Aber erst der Gesichtspunkt der praktischen Arbeit als Gegengewicht oder Gegenstück zur Schulung des Intellekts, die Idee einer neuen Humanität des ganzheitlichen Menschen oder eines besonderen Typus Mensch gibt dem »Fache« Handarbeit die pädagogische Dignität. Mit andern Worten: wie der wissenschaftliche Unterricht durch seine methodische Anlage, durch die normgemäße Auseinandersetzung mit den theoretischen Bildungsgütern erst den Bildungsprozeß ermöglicht, so ist auch die manuale Werktätigkeit ein methodisches P r i n z i p der Persönlichkeitsbildung und der allmählichen Hinführung auf den Beruf, nicht der Materialismus oder Utilitarismus einer verfrühten und einseitigen Berufsschulung. Demgemäß muß auch der Prozeß des Schaffens »echt«, d. h. den normativen Gesetzlichkeiten des praktischen Werkschaffens wie den Forderungen des reifenden Menschen angemessen sein, um »Bildung« zu verwirklichen. Damit entsteht die ganz eigenartige Aufgabe einer dem praktischen Menschen angepaßten Auswahl und Auswertung spezifischer Bildungsgüter. Wenn man noch immer im »Volksschüler« einen Typus geringerer Intelligenzhöhe sehen zu müssen glaubt, so wird man sich endlich dazu verstehen müssen, die q u a l i t a t i v e W e s e n s v e r s c h i e d e n h e i t des

216

Die Bildungsgehalte (Methodik)

praktischen Menschen sowie sein Anrecht auf eine angemessene methodische Schulung und Bildung durch Werkarbeit anzuerkennen. Denn die praktische Schule ist alles andere als eine »Elementarschule«, wo die Elemente des theoretischen Unterrichts in quantitativer Abstufung übermittelt werden. A. Spiel und Arbeit. Wir gehen von den Besonderheiten des Spieles aus, von seinen unterschiedlichen Arten in den einzelnen Entwicklungsphasen des Kindes und bestimmen von hier aus die Eigenart der Arbeit im allgemeinen und der Werkarbeit im besonderen Dem E c h t h e i t s g r a d nach ist die Spielart s u b j e k t i v i s t i s c h , wobei das Kind die Struktur der Dinge -willkürlich fälscht; oder p h a n t a s t i s c h , wobei im »Paradies des Als Ob« (Ed. Claparide) das Gehörte oder das eigene Tun phantasievoll ausgeschmückt wird: Rezeptions-, Illusions-, Fiktionsspiele, z. B. Anhören von Märchen, Kutscher spielen, Kochen; oder die Spielart ist i n d i v i d u a l i s t i s c h , wenn das Kind gewalttätig Spiel und Sieg an sich reißt, vielleicht auch gütig entsagend den Mitspieler gewinnen läßt; oder n o r m g e m ä ß , wenn man sich den Spielregeln fügt. Dem R i c h t u n g s g e h a l t nach sind die Spiele erstens F u n k t i o n s s p i e l e und als solche wesentlich bloße Bewegungen (s. o. S. 17 f.), z. B.Laufen oder das Spiel mit den eigenen Fingern. Ihren Anreiz empfangen sie aus der »Funktionslust« (K. Bühler). Als funktionale Betätigungen haben diese Spiele direkt zwar keine Zweckrichtung, indirekt-biologisch aber sind sie sinnvoll, insofern sie der Übung bzw. Einübung (»Wachstumsreiz«) dienen; kommt der Lustbetrag einer bewältigten Situation hinzu (Sport), z. B . die Jagdspiele, so haben sie bereits einen sinnhaltigen Einschlag. Sodann die T r i e b s p i e l e , z. B. die Bewerbungsspiele (K. Groos). Sie beziehen ihren Antrieb aus der Lust bzw. Unlust gespannter Organempfindungen und sind auch an sich wertfrei, aber indirekt-biologisch nicht sinnlos, da sie auf Erhaltung des Individuums oder der Gattung »gerichtet« sind (s. o. S. 20f.). Schließlich die S i n n s p i e l e , die den verschiedenen Wertsphären entsprechen (s. Anhang) und somit deren Norm-Gesetzlichkeiten unterstehen, soweit sie nicht bloße Funktionsbetätigungen sind: theoretische Spiele, teils »wissenschaftlicher« Art, z. B . Rätsel, teils »künstlerischer« Art der sachlichen oder persönlichen Darstellung, z. B . Zeichnen oder Tänze; praktische Spiele des Bauens und Basteins (Montessori), die an den Gesetzlichkeiten der Ökonomie teilhaben; Gesellschaftsspiele der Macht (Kampf-, Kartenspiele) bzw. der Liebe (Pflegespiele, also auch Fröbels Koselieder); endlich die religiösen Kultspiele wie die Weihnachtsspiele der Kinder und Erwachsenen. In Wirklichkeit weist jedes Spiel eine Durchlagerung der verschiedensten Schichten auf, ganz besonders die praktischen Spiele des Schaffens, die uns in diesem Abschnitt in erster Linie angehen. Die einzelnen Stufen der Spiele entwickeln sich mit der allmählichen Reifung des Kindes in gesetzlicher Weise, d. h. ohne die Möglichkeit einer Abänderung durch Beispiel (Nachahmung) » oder Lehre, und zwar aus den Funktions1 Ich verweise auf die Arbeiten K . Groos', K . Bühlers, Ch. Bühlers u. Hild. Hetzers, auch auf die Deutungen des Spiels, wie sie von H. Spencer als Abreaktion überflüssiger Kräfte und von Stanley Hall mit Rückgang auf das biogenetische Grundgesetz gegeben sind. 1 Die Nachahmung setzt immer das Vorhandensein ähnlich gerichteter Tendenzen voraus. Vgl. dazu Edw. L. Thorndike, Psychologie der Erziehung, Jena 1930 (1922), S. 36ff.; W. McDougall, Grundlagen einer Sözialpsychologie, Jena 1928, S. 86 ff.; Karl Groos, a. a. O. S. 173 ff.; W.Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Leipzig 1930, S. 67.

Spiel und Arbeit

217

betätigungen zu den sinnhaften Konstruktionsspielen, bei denen das G a n z e nunmehr von vornherein ins Auge gefaßt und durch Komplexergänzungen im Rahmen eines Schemas allmählich ausgegliedert wird, z. 6 . die Zeichnung oder der Bau eines Hauses.

Aus der Sonderung wie aus der Charakteristik der verschiedenen Spiele und ihrer Entwicklung folgt erstens, daß der Zwang jeglicher Verfrühung keine Aussicht auf irgendeinen Erfolg hat, wie schon Komensky und Pestalozzi gesehen und Fröbel (a. a. O. S. 21) und ebenso M. Montessori (a. a. O. S. 161) 1 klar ausgesprochen haben. Im Gegenteil, man lasse das (vorschulpflichtige) Kind in Muße reifen, seine Umwelt erobern, sich in Ordnung und Sitte einleben, bis das freie Spiel allmählich in verpflichtende Leistung eingeht. Sodann sind alle (sinnhaften) Spiele des Kindes wesentlich spontan. Alle Didaktik wird daher weitgehend an diese Kräfte anknüpfen — allerdings nicht auf der Stufe des Spieles stehen bleiben, wie es so gern da geschieht, wo man die Freiheit freudigen Tuns nur in der Spiel-Schule glaubt sichern zu können. Damit eröffnet sich uns schließlich die Einsicht in das Verhältnis von Spiel und Arbeit 2 . Spiel ist in der frühesten Kindheit ich-zentrierte und willkürlich-gesetzte Funktionsbetätigung (Spiel mit den Zehen), später sinnhafte, phantasievoll ausgestattete oder auch strukturgesetzliche Beschäftigung: die Spielregeln werden unter V e r a n t w o r t u n g gegen die Mitspielenden beachtet. Aber das Spielen-Wollen steht dem einzelnen frei! E r braucht nicht zu spielen und kann sich insofern auch den Spielregeln entziehen. A r b e i t ist dagegen eine Leistung, der man sich nicht entsagen darf aus V e r a n t w o r t u n g s g e f ü h l gegen die Mitund Nachwelt. Hier liegt der Unterschied zwischen Spiel und Arbeit. Erst mit dem Übergang von der außergesellschaftlichen zur gesellschaftlichen Verantwortung wird das Spiel zur sittlichen Leistung. Damit kommen wir auf die zu Beginn des 2. Teiles erhobene Forderung zurück, jede Schule, die theoretische sowohl wie die praktische, sei eine Schule der Verantwort1

Über den deutschen Romantiker Fr. Fröbel und der wirklichkeitsnahen, begriffsklaren Italienerin M. Montessori vgl. meine Allg. Erziehungslehre 1928, S. 187 f., ebenso H. Nohl, Pädagogische Aufsätze, Berlin-Leipzig 1930, S. 82 ff., sowie die kritischen Würdigungen W. Sterns, S. Hessens, Ed. Sprangers und H. Volkelts. Wie weit sollen die »Lehrmittel« (das »Unterrichtsmaterial«) überhaupt der Übung von Funktionen oder der Bewältigung sinnvoller Aufgaben dienen? * Spiel ist nach W . Stern, a. a. O. S. 261 f., »freie, selbstzweckliche Tätigkeit«, d. h. »nicht auf die Erreichung eines außerhalb seines selbst liegenden Zieles gerichtet«; nach K. Groos, a. a. O.: »Scheintätigkeit« an einem »Scheinobjekt« in einer »zwecklosen Wiederholung« des Verhaltens; nach S. Hessen, Die Erziehung I (1926), S. 69: »zwecklose und anome Aktivität«; nach K. Koffka, Grundlagen der psych. Entwicklung, »eine Welt der Verantwortungslosigkeit«. Bei Köhler-Hamberg, a. a. O., nimmt die Unterscheidung von Arbeit und Schaffen eine didaktische Wendung (s. d. 4. Teil: Reaktivität und Spontaneität).

218

Die Bildungsgehalte (Methodik)

lichkeit.

Wir sprechen daher nunmehr in diesem Sinne von

»Leistung«

statt des vieldeutigen Begriffs »Arbeit«. Die Idee der Leistung umfaßt daher einmal die Verantwortlichkeit gegen das W e r k : gewissenhafte und werkgerechte Produktion; weiterhin die sachlich unproduktive Leistung der verantwortungsvollen S e l b s t b i l d u n g im Akte der Selbsterziehung und des »Leistungsunterrichts« (statt: »Arbeitsunterrichts«). Schließlich beruht jede s o z i a l e L e i s t u n g in Politik und Wirtschaft auf gegenseitiger Verantwortlichkeit von Führern und Geführten. Der Prozeß der verantwortlichen Arbeit schließt, funktional gesehen, höchste Beweglichkeit (Reaktivität) ein: die Intensität, Exaktheit und Stetigkeit der Ausführung; geistig betrachtet, möglichst spontane Selbstgerichtetheit (s. o. S. 22f., 48f.), im Falle der Werktätigkeit: höchste Ökonomie, maximus effectus minimo sumptu, mit Newton gesprochen. Damit ist bereits auf die Grundlagen didaktischer Unterrichtsführung hingedeutet (4. Teil). L i t e r a t u r : A. Argelander, Der Einfluß der Umwelt auf die geistige Entwicklung, Jenaer Beiträge Nr. 7, Langensalza 1928. — Hanna Boeckers, Die sittliche Erziehung des Kleinkindes, Göttinger Studien (H. Nohl), Langensalza-Berlin-Leipzig 1929. — K . Böhme, Die Entwicklung des Kindes durch das Spiel, Dresden, Auf neuen Wegen, 18. Schrift 1930. — Ch. Bühler, Kindheit und Jugend, Leipzig 1931. — K . Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930. — Fr. Fröbel, Die Menschenerziehung, Langensalza 1913 (Klassiker der Pädagogik X X X ) . — K. Groos, Die Spiele der Tiere, Jena 1930. — H. Hetzer, Kind und Schaffen, Quellen und Studien zur Jugendkunde, Heft 7, Jena 1931. — E. Köhler-Ing. Hamberg, Zur Psychologie und Pädagogik der geistigen Aktivität, Berlin 1931. — M. Montessori. Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter, Stuttgart 1928. — B. D e r

Arbeitsprozeß.

Wir wenden uns nunmehr dem Sinne des Arbeitsprozesses in Schule bzw. in Technik und Wirtschaft zu. gesellschaftliche (Widerstand).

»Technik« nennen wir die

Sphäre des praktischen

Schaffens am

außer-

Gegenstand

Sie ist entweder Leistung des einzelnen oder der Gruppe.

Das natürliche Mittel des Arbeitenden ist die Hand; ihre künstlichen E r gänzungen sind das Werkzeug und die Maschine.

Das Ziel der Technik ist

die möglichst haushälterische Schaffung und Auswertung von Energien: der »energetische Imperativ« Ostwalds.

»Wirtschaft«, genauer »Bedarfs-

wirtschaft« nennen wir dagegen die umfassende Sphäre der natürlichen und

kulturellen

Befriedigung

menschlicher

Bedürfnisse

innerhalb

der

G e s e l l s c h a f t (s. die Skizze des Anhangs). Sie schließt die Güterverteilung in sich. Im ersteren Falle, der außergesellschaftlichen Technik,

bezeichnet

das Versagen der arbeitenden Menschen einen Verstoß gegen die Idee der Ökonomie.

I m letzteren Falle, der Wirtschaft, bedeutet das Versagen ein

sittliches Manko, entsprungen aus der Schwäche oder der Selbstsucht des Menschen. Wirtschaft ist daher Gewalt, solange nicht Recht (des Staates ? Internationale Regelung?) oder vielmehr Versittlichung dieses Gegeneinander in ein geordnetes Miteinander umwandelt.

Daher ist die Erziehung

zur Verantwortung der »Wirtschaftlichkeit« eine sittliche Forderung des gesamten Schulwesens.

Der Arbeitsprozeß

219

Betrachten wir Begriff und Idee der Arbeit, so ist »Arbeit« erstens ein physikalischer Begriff. Die Mechanik bestimmt ihn als K r a f t mal Weg (p . s), d. h. die Wirkung einer K r a f t auf eine gewisse Weglänge. Infolge der Umwandlungsmöglichkeit der verschiedenen Energieformen ist der mechanische Begriff der Arbeit auch auf andere Gebiete der Physik übertragen worden. Von hier aus ging er auch auf die P h y s i o l o g i e der organischen Welt über, auch zwecks Bestimmung quantitativer Abhängigkeiten: Aufmerksamkeits-, Übungs-, E r müdungsmessungen ! Weiterhin muß aber der mechanische Begriff der Arbeit mit seinem Rückgang auf K r a f t und Weg völlig versagen — weil eben menschliche Arbeit nicht bloß Energie, quantitativ zu bestimmende »Bewegung« ist, sondern dazu qualitativ zu erfassende »Richtung«! (Vgl. oben S. 17f.). Die Arbeit des Vernunftmenschen ist wertbezogen. Sie untersteht den ökonomischen Gesetzen der Kraftersparnis, daneben auch den theoretischen Gesetzen des Wahrheitsstrebens T u n ist.

(und Kunstwollens), da Arbeit immer besinnliches bzw. anschauliches

Sie untersteht schließlich als gesellschaftliche »Leistung« dem sittlichen, auch dem

religiösen Prinzip v e r a n t w o r t l i c h e n

Handelns!

Diese umfassende Gemeinschaftsfunk-

tion der Idee »Arbeit« für Vergangenheit und Gegenwart ist noch gar nicht eingesehen. Vgl. dazu F . Krueger und F. Giese ( a . a . O . S. 267 fi.).

Eine p s y c h o l o g i s c h e A n a l y s e des praktischen Arbeitens, des Schaffens hätte zu unterscheiden einmal die Analyse aller der am Vorgang des Schaffens zu sondernden psychophysischen Faktoren sowie der geistigen Akte, sodann ihren typisch-gesetzlichen Stufengang während der einzelnen Entwicklungsphasen des Menschen, schließlich die Analyse des jeweiligen Schaffensprozesses selbst. Dieser ist differentiell (Arbeitstypen!) und individuell unendlich mannigfach. Es ringt sich aus unbekannten Tiefen der menschlichen Seele ein unbekanntes Etwas los, eine geistig gesteuerte Energie, die gestaltend oder gar formend in das Chaos des Noch-nichtSeienden der transsubjektiven Welt eingreift. Bald mag das Werk in angestrengtester Besinnung und höchster Anspannung des Zugriffs geschaffen werden, bald im Akte selbstverständlicher Inspiration plötzlich vor dem überraschten Meister stehen. Man wird gut tun, sich auf eine phänomenologische Beschreibung des individualen (und sozialen) Schaffens zu beschränken und das allgemeine Schema dieses Prozesses aufzuzeigen (H. Freyer). Die psychologische Analyse des S c h a f f e n s p r o z e s s e s weist zunächst, phänomenologisch - schematisch betrachtet, folgende Grundzüge auf: Den einen Pol bildet das mit gerichteter Lebensspannung geladene Subjekt, das von sich aus Energie hinausschickt und den »Widerstand« gestaltet. Der andere Pol ist das zu objektivierende Werk, das, selbst kein Kraftzentrum, vom Geist ergriffen, auf Grund immanenter Strukturgesetzlichkeiten (Simmel: »Bündigkeit«) zu einem individuellen Sinngebilde zusammenschießt — aber doch als das Werk des von einer sinnhaften Aufgabe determinierten Menschen. Dieser Prozeß, nonngemäßen Schaffens, das Einswerden von »formendem Prinzip und geformtem Gehalt«

220

Die Bildungsgehalte

(Methodik)

ist nur möglich, wenn Sinnzusammenhänge einer einheitlich durchstrukturierten Welt sowohl das Subjekt als das von ihm geschaffene Werk beherrschen (Th. Litt). Denn alles Schaffen, auf Grund des Entdeckens und Erfindens, ist letzthin kein Erzeugen, sondern ein Auffinden und Darstellen des in der Ordnung der Welt bereits Vorgegebenen. Sonst wäre der Akt sinnerfassender Intuition undenkbar (vgl. oben S. 108 ff.). Der Prozeß des Schaffens nach dem geistigen Normgesetz des geringsten Krafteinsatzes ist an sich irrational. Denn alle geistige Sehnsucht, wie, auch das Streben nach Wahrheit, nach Sittlichkeit, nach Gotterfülltheii trägt das Gepräge der Irrationalität. Diese nimmt aber in der arbeitsteiligen Wirtschaft immer mehr rationalen Charakter an. Denn alles Schaffen hat einen wissenschaftlich-theoretischen Einschlag. Wir verstehen unter »Entdecken« den erstmaligen Aufweis von gegebenen Tatsachen (z. B. ein Land entdecken) sowie von theoretischen Erkenntnissen, sofern sie in den nun einmal gegebenen Besonderheiten unseres Daseins und Soseins begründet und somit bereits vorgegeben sind. Mit dem Ausdruck »Erfinden« meinen wir den Aufweis neuer Methoden normg e m ä ß e r S i n n g e b u n g im Akt ökonomischer Wertgestaltung, also die T h e o r i e der P r a x i s , nicht den Schaffensprozeß selbst. Auch der Erfinder kann nur das finden, was in der Idee der Normgemäßheit vorgegeben ist, seine spezifische Leistung ist aber gekennzeichnet durch die Möglichkeit der Realisierung im praktischen Werk. Der Erfinder ordnet die mechanisch-kausale Gebundenheit naturgesetzlicher Art den zielgerichteten Gesetzlichkeiten des wirtschaftlichen Kulturlebens ein und ermöglicht damit das normgemäße Sinnschaffen (Nachschaffen) praktischer Güter. Diese Zusammenhänge zwischen Schaffen und Wissenschaft, zwischen Praxis und Theorie sind ungemein bedeutsam. Sie bilden die wichtigste Voraussetzung alles werktätigen Schaffens als eines methodischen P r i n z i p s . Denn nur insofern w i s s e n s c h a f t l i c h e E r k e n n t nisse in den Vorgang des Schaffens eingegangen sind, kann der werktätige Unterricht methodisches Mittel einer p r a k t i s c h - t h e o r e t i s c h e n Unterweisung sein. Die Aufgabe des manualen Unterrichts besteht also darin, die Kulturgüter der Technik und Wirtschaft so auszuwählen und methodisch auszuschöpfen, daß sie ihre praktisch-theoretischen Bildungswerte in möglichster Angemessenheit und Echtheit zu entfalten vermögen. Der werktätige Unterricht tritt damit in Parallele sowohl zum wissenschaftlichen Unterricht wie zur Bildung durch die Kunst. Die Beschreibung der am Prozeß des Schaffens beteiligten p s y c h o p h y s i s c h e n F a k t o r e n umfaßt zunächst die verschiedenartigen sensumotorischen Komponenten: Gesichts-, Geruchs-, Gehörs-, Geschmacks-, Tast-, kinästhetische Empfindungen; besonders die Funktionen der Hand-,

221

Der Arbeitsprozeß

Druck-, Spannungs- und Temperaturempfindungen; Zusammenarbeit der Hände:

Krafthand und Stützhand, komplementäre, antagonistische und

komplikative Zusammenarbeit der Hände bzw. einer Hand mit dem Bein, dem Körper, dem Auge, Ohr etc.; Zusammenwirken von Empfindungen, Gedächtnis

und

Denken:

ständnisanwendung,

Beobachten,

Kombinationsgabe

Funktionserfassung und

und

logisch-kritisches

Ver-

Denken,

schließlich alle diese Arten funktionaler Aktivitäten im Dienste irgendeiner oder

mehrerer geistiger

Strebungen,

vornehmlich nach Ökonomie

und

sittlicher Leistung. Die E n t w i c k l u n g der motorischen Fähigkeiten in den verschiedenen Phasen der Kindheit und Jugendzeit ist seitens der Wissenschaft arg vernachlässigt worden. Während man der Entwicklung des Wahmehmens, des Lernens und Behaltens, ferner der intellektuellen Reifung, ihrer Normierung und Messung seit Binet-Simon das größte Interesse zugewandt hat, besitzen wir nur eine, von N. J. Oseretzky für die Zeit vom 4. bis 14. Lebensjahr durchgeführte Bestimmung der normalen motorischen Begabung ». Seine motorische Stufenleiter von Aufgabenserien für die verschiedenen Altersgruppen umfassen verschiedene Arten des Stehens, Gehens, Springens, Werfens und Fangens, des praktischen Tuns, z. B. sich ankleiden, Gesichtsbewegungen usw. Diese motorischen Tests sind nur zum Teil lebensnah, mehr Spiel als Leistung, häufig sehr komplex, so daß sich wohl eine gewisse Durchschnittsfähigkeit, nicht aber die Schwäche oder ein Ausfall bestimmter Funktionen feststellen läßt, was auch nicht durch diese Tests beabsichtigt ist. Die feineren Qualitäten sensumotorischer Art (namentlich der Hand) treten daher allzusehr zurück. Wichtig wäre eine (experimentelle) Feststellung des geistigen Interesses an

Kraftersparnis

in den verschiedenen Lebensaltern.

wohl eine große Zahl von Untersuchungen

Wir

haben

über die Entwicklung

der

geistigen Stellungnahmen; das Problem des Echtheitsgrades in der Sphäre ökonomischen

Schaffens sowie seine Entwicklung ist aber nirgends

herausgearbeitet.

E s fragt sich überdies, ob durch Tests überhaupt der

geistige Faktor, also hier derjenige der Ökonomie erfaßt werden kann.

Ist

das Geistige doch

zu

»Richtung«, also Qualität und nicht quantitativ

messende »Bewegung«. Im Akte der »Fabrikation«, des mechanischen Nachschaffens von »Ware« als Massenprodukt, ist der Richtungsfaktor der Wirtschaftlichkeit, besonders aber das Schaffen aus theoretischer Einsicht ausgeschaltet. Die Jagd nach Lohn steht im Vordergrund. Auch dem bloßen Kopieren im Schulunterricht fehlt der wesentliche Einschlag bildender Tätigkeit. Die Produktionsschule jedoch, wenn sie nicht Ware zwecks bloßen Verkaufs herstellt, sondern den Werkdienst der Schülergemeinschaft betont, ist eine s i t t l i c h e Leistung, sofern sie sich frei vollzieht, selbst wenn sie zum Teil mechanisch und ohne das außergesellschaftliche Interesse der W i r t s c h a f t l i c h k e i t hergestellt wird, aber doch im Bewußtsein einer Verpflichtung gegen den Brudermenschen. Im w e r k t ä t i g e n B e r u f s l e b e n setzt der Prozeß der Rationalisierung ein infolge derOrganisation der zu schaffenden Gemeinschaft, die dadurch mehr und mehr den Cha1 S. auch E. Lippert, Neue Untersuchungen zur Psychologie der Motorik, Ber. über d. XII. Kongreß d. D. Ges. f. Psychol., Jena 1932, S. 385 ff.; Ch. Bühler-H. Hetzer, Kleinkindertests, Leipzig 1932.

222

Die Bildungsgehalte (Methodik)

rakter der Gesellschaft annimmt, und durch steigende Verwendung der M a s c h i n e . Wohl wirkt die Maschine lebenserhöhend, indem sie zunächst die E r z e u g u n g v o n E n e r g i e dem Fabrikarbeiter abnimmt, durch Gewinnung, Verteilung und Ausnutzung der verschiedenen Energien. Mensch und Tier werden ausgeschaltet als Kraftquellen: die Maschine trägt, schiebt, hebt, dreht für sie, ohne jemals zu ermüden. Weiterhin übernimmt die Maschine noch die mechanische M a n u f a k t u r vorwiegend funktionaler Motorik. Der Maschinenautomat »fabriziert selbst« an Stelle des Menschen, der nur noch zu beobachten, zu überwachen braucht. Die Technik im Rahmen der Wirtschaft umfaßt zudem Steigerung der motorischen Fähigkeit (Werkzeuge), Schärfung der Sinne (optische Instrumente usw.), Hilfe des Gedächtnisses (Karteien usw.). Auch die intellektuelle Funktion des Zählens und Rechnens besorgt die Maschine (Rechenmaschine). Dennoch verzehrt sich das Heer der Proletarier, der Arbeiter und Angestellten, in vorwiegend mechanischer Reproduktion. Schließlich hat ihm das laufende Band den letzten Rest der geistigen Teilnahme am Produktionsprozeß genommen: auch das S t r e b e n n a c h Ö k o n o m i e der Z e i t ist ausgeschaltet und wird von der Maschine reguliert; der Arbeiter ist nur noch ein Teil des Mechanismus — falls er nicht, als Berufs- und Arbeitsloser, selbst aus diesem Prozeß ausgeschaltet wird. Wer unter solchen Umständen eine Besserung seitens der Schule erwartet, namentlich vom Handfertigkeitsunterricht und vom »Arbeitsunterricht«, huldigt einer hoffnungslosen Ideologie. Gesundung der Wirtschaft kann nur aus den geistigen Kräften des Wirtschaftslebens selbst erhofft werden. Und die Schule der Verantwortlichkeit kann diesen Prozeß immerhin vorbereiten. L i t e r a t u r : Fr. Dessauer, Philosophie der Technik, Bonn 1927. — H. Freyer, Theorie des objektiven Geistes, Leipzig-Berlin 1928. — Fr. Giese, Psychologie der Arbeitshand, Berlin-Wien 1928. — N. J . Oseretzky, Eine metrische Stufenleiter zur Untersuchung der motorischen Begabung bei Kindern, Ztschr. f. Kinderforschung X X X (1925). — Th. Litt, Individuum und Gemeinschaft, 1926. — J . Riedel, Arbeitskunde, Leipzig und Berlin 1925. —

C. Der B i l d u n g s w e r t

des p r a k t i s c h e n

Schaffens.

Nach diesen Wesensbestimmungen des praktischen Schaffens stellen wir die grundlegende Frage: inwiefern kann Werktätigkeit bzw. Veranschaulichung im manualen Unterricht als methodisches M i t t e l nicht nur durch materiale Schulung direkt auf die praktischen Berufe vorbereiten, sondern vor allem auch allgemein f o r m a l schulen und bilden. Ich stütze mich im Nachstehenden besonders auf die experimentellen Ergebnisse des Kölner Instituts (J. Lindworsky). 1. Durch motorische Übung wird, in psychophysischer Hinsicht, die Leistungsfähigkeit der M u s k u l a t u r (Masse, Koordination etc.) erhöht, also auch die Geschicklichkeit der Handbetätigung. Diese Übung mag auch mit einer materialen Vorschulung für den Beruf, mit der Beherrschung einer gewissen Arbeitstechnik verbunden sein. 2. Veranschaulichung und Praxis vermögen die B e o b a c h t u n g s g a b e zu üben sowie Mängel des Sinnengedächtnisses, auch Schwächen der motorischen Befähigung im Falle einer geringeren Plastizität des kinästhetischen Gedächtnisses durch erhöhte Übung auszugleichen. Wie wir bereits früher erwähnt haben, neigt allerdings die Psychologie zur Annahme, daß

Der Bildungswert des praktischen Schaffens

223

keine geistige Fähigkeit an sich durch Übung gesteigert werden kann, wohl aber können Mängel der Leistungsfähigkeit durch intensive und gehäufte Übung ausgeglichen werden, insofern nämlich die Gedächtnisstützen vermehrt, Kunstgriffe erworben und somit Ersatzleistungen ermöglicht, auch die Adaptationsfähigkeit wie die Gesamtverfassung (unnütze Bewegungen!) verbessert werden. 3. Veranschaulichung bzw. Werktätigkeit ist ein hervorragend methodisches Mittel der V e r s t a n d e s b i l d u n g , ganz besonders bei mehr praktisch veranlagten Menschen mit geringerer oder langsamer Fähigkeit der Abstraktion. Da alle Begriffe an der Anschauung ihre Quelle haben, so vermag die Erweiterung der anschaulichen, Grundlage die theoretische Einsicht und damit auch die Sprachbeherrschung zu befruchten, falls die Begriffsbildung am anschaulichen Stoff nicht im Kindergarten abgebrochen, sondern auch auf der Unterstufe der Grundschule ausgiebig gepflegt wird. Dies Verfahren hat natürlich seine Grenzen. Es hat sich jedoch gezeigt, daß selbst Schwächen im Rechnen auf Grund von Mängeln des primären optischen Gedächtnisses durch Veranschaulichung sehr schnell ausgeglichen •werden konnten. Der werktätige Unterricht lenkt demgemäß das Kind auf die Außenwelt hin und bietet so die beste Gelegenheit zur Klärung, Einprägung und Verarbeitung des sinnlich Wahrnehmbaren. 4. Veranschaulichung und praktisches Schaffen tragen nicht nur zur Grundlegung, sondern auch zum A u f b a u der V e r s t a n d e s b i l d u n g bei. Das menschliche Denken erarbeitet sich auf Grund individueller Eindrücke Schemata der Wirklichkeit, die von Schicht zu Schicht immer abstrakter werden, z. B. das Schema eines Hauses, eines Pferdes etc. Beim Denken reproduzieren wir in der Regel nur die abgezogenen, inhaltlich anspruchsloseren Schemata, und zwar vollzieht sich unser Denken auf dem Wege der Komplexergänzung (vgl. oben S. 129 f.). Das gebundene Denken verläuft im Rahmen eines Stück für Stück auszufüllenden antizipierenden Schemas. Ich erinnere beispielsweise an die Lösung einer Rechenaufgabe, an die Multiplikation zweier Brüche. Auch der Handarbeitsunterricht gibt vollauf Gelegenheit, entsprechende Schemata zu gewinnen, sei es nun, daß ein Modell anzufertigen oder daß der theoretische Unterricht sonst mit praktischer Arbeit unterbaut ist. Der gesamte Arbeitsprozeß wird in der Schule selten in denselben Bahnen verlaufen. Hier und da wird in eigener Besinnung dieses oder jenes Neue zu ergänzen sein. Dinn wird das antizipierende Schema des Denkens und Schaffens nicht bbße Reproduktion umfassen, sondern auch Raum für eigene »Erfinduigen« gewähren. Das weist schon auf die spontan-produktive Tätigkeit hin.

Die Bildungsgehalte (Methodik)

224

5. Alle Erfindungen erwachsen einer Sehnsucht des geistigen Menschen und zwar dem Verlangen nach Kraft- bzw. Zeitersparnis: Erfindung der Buchdruckerei, der Dampfmaschine, der Verbrennungskraftmaschinen (Benzin etc.), der elektrischen Energieverwendung. Wo immer dem freien Tun, im Rahmen einer nicht bestimmt determinierten Aufgabe, Gelegenheit zu selbständigen Lösungen gegeben wird, sei es im Hinblick auf das zu wählende Material, sei es bezüglich seiner Verarbeitung, kann sich die S p o n t a n e i t ä t der Jugend entfalten. Sie geht, wie bereits angedeutet, einmal auf die Entdeckung einer neuen theoretischen Einsicht, sodann auf Erfindung im Hinblick auf Kraftersparnis, schließlich auf Leistung einer sittlichen Tat durch Gründlichkeit und Genauigkeit des Schaffens, durch Ausdauer und Disziplin, durch Einordnung in die Gruppenarbeit der Gemeinschaft. Erst dann erfüllt sich der Sinn der Leistung als »verantwortungsvoller Arbeit«, im Gegensatz zu den spielerischen Betätigungen bzw. Beschäftigungen. Wenn der praktisch arbeitende Schüler neue Möglichkeiten der Kraftökonomie einsieht, diese oder auch bereits bekannte Zusammenhänge in neuartiger Weise unter Energieersparnis gestaltet und vielleicht dazu noch künstlerisch formt, unter Verwendung neuer Motive, Form- oder Farbenwirkungen, wenn er schließlich von dem Verlangen getrieben wird, irgend jemand, den Eltern oder der Klassengemeinschaft förderlich zu sein, so haben wir hier die verschiedensten Arten der Spontaneität in der Schule des praktischen Menschen Die erste Voraussetzung bleibt jedoch, daß der ökonomische Prozeß den echten Gesetzlichkeiten der Kraftersparnis entspricht. Wo dieser Gesichtspunkt außer acht gelassen wird, ist alles Tun nur mechanisch, die Freiheit der Spontaneität nur Willkür. 6. Schließlich hat die Werktätigkeit noch den Wert theoretischer Durchbildung, der allgemein-wissenschaftlichen Besinnung am praktischen Schaffen — nicht für die nützlichen Zwecke werktätiger Berufsarbeit, sondern gerade als m e t h o d i s c h e s M i t t e l zwecks Gewinnung t h e o r e t i s c h e r Einsichten und zwecks Verständnisses s i t t l i c h e r Verpflichtungen Wir haben ja des öftern gesehen, daß Theorie und Praxis, begriffliche Klärung und Schaffen untrennbar verflochten sind. In den geistigpraktischen Akten des reproduktiven Nachschaffens und der produktiven Sinngebung hat der Praktiker, der Erfinder und Konstrukteur eine Wirk1

Die neuen Richtlinien für Lehrpläne an Bürgerschulen in der Tschechoslowakei fordern, daß der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit in Arbeit und Organisation zu beachten sei. 1 Das war auch Pestalozzis Grundsatz, wenn er durch Handarbeit zum Wissen fortschreitet, wenn er den menschlichen Geist von »sinnlichen Anschauungen zu deutlichen Begriffen« erhebt (Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, IV. Brief). Begriff der »Anschauung«! — So auch P. Oestreich, z. B. in: Bausteine zur neuen Schule, 1923.

Der Bildungswert des praktischen Schaffens

225

lichkeit erst möglich gemacht und gestaltet auf Grund theoretischen Wissens. Dies Wissen und diese Werte, die im wirtschaftlichen Kulturgut ihren Niederschlag gefunden haben, bilden die Grundlage des wissenschaftlichen Unterrichts in der praktischen Schule. Wenn diese eine Stätte des vorwiegend praktischen Menschen ist, so wird der Bildungsprozeß auch in seiner differentiellen und individuellen Besonderung vom praktischen K u l t u r g u t , von der Anschauung der aller Technik und Wirtschaft zugrunde liegenden Wissenschaft wie vom ökonomischen Schaffen des Werkes seinen Ausgangspunkt nehmen 1 ; nicht streng systematisch wie in der theoretischen Schule, sondern von den technisch-wirtschaftlichen Zusammenhängen her! Hier liegt die besondere Aufgabe: es ist in jedem »Fach« so viel wie irgend möglich von der Natur und ihrer technischen Bewältigung im Werk des forschenden, erfinderischen und schaffenden Menschen auszugehen; mit steigender Auffassungskraft der Jugend sind die theoretischen Einsichten in Technik und Wirtschaft der Gegenwart und Vergangenheit zurückzuführen auf ihre wissenschaftlichen, künstlerischen, praktischen und sittüchen Motive, sei es im Anschauen und Beobachten und Nach-Denken, sei es im elementaren Nachschaffen bzw. Neuschaffen von Werken auf die Erkenntnis der fundamentalen Grundgesetzlichkeiten hin. Darum wird sich gerade in der P h y s i k und in der Chemie die Werktätigkeit entfalten können. Die Geschichte der Menschheit aber wird dann zu einem Ringen für die Menschheit, ihre vitalen Bedürfnisse und ihre geistige Sehnsucht des Erkennens und des hierdurch ermöglichten Schaffens. — Abschließend können wir feststellen (und zwar zunächst negativ): vom pädagogischen Standpunkt ist abzulehnen: 1. F l ü c h t i g e Pfuscharbeit: Sie erzieht nicht, macht den Menschen nicht frei, sondern gewöhnt gerade an Unordnung und Nachlässigkeit. 2. Die rein spielerische Beschäftigung entbehrt des verantwortlichen Charakters und könnte nur am Anfang der Schulzeit als Überleitung ihre Stelle finden. 3. Das bloße Kopieren von Modellen ist Zwang. Es kann nicht aus » B. Schulz, Zur Organisation des Unterrichts an höheren Schulen, Die Erziehung 5 (1930). S. 472: »Der Unterricht in Mathematik und Physik in den Anfangsklassen unserer Aufbauschule wurde vielfach direkt auf der Herstellung von Apparaten begründet und erst so für dieses Alter wirklich lebendig. Eine photographische Kamera, Transporteure, Künometer, verschiebbare Säulen und Prozentkreise zu statistischen Zwecken, primitive Telephone wurden gebaut und die eigentlich mathematischen oder physikalischen Fragen ergaben sich erst aus Bau und Funktion dieser Werkzeuge. Graphische Darstellungen aller Art, Reliefs sind bei den Arbeiten in den wissenschaftlichen Disziplinen sehr beliebt, Druck- und Zierschrift spielt bei unsern größeren schriftlichen Arbeiten eine Rolle.« — Ähnlich Fr. Gülland, a. a. O. S. 82 ff. Otto, Unterrichts]ehre, 15

226

Die Bildungsgehalte (Methodik)

dem eigenen Rhythmus erfolgen, kann auch nicht die einheitliche und spontane Ausgliederang eines Ganzen sein, sondern ist mechanisches Summieren. E s gibt kein Verständnis für Technik und Wirtschaft und Kultur, macht nicht frei und lebendig, sondern tot. 4. Das unökonomische Schaffen, die Vergeudung von Zeit, Kraft, Gesundheit (Unfälle!), Material und Werkzeug ist ein unechter Vorgang. E r schult weder die Funktionen, dient nicht der Berufsführung, noch bildet er den Werkmenschen zu der ihm arteigenen und persönlichen Geistigkeit und Form. 5. Das bloße berufstechnische S p e z i a l i s t e n t u m kann wohl eine funktionale Schulung gewisser Geschicklichkeiten mit sich bringen, führt aber nicht zu theoretischen Einsichten und fällt aus der eigentlichen Bildungsarbeit der Schule heraus. Das Z i e l des Werkunterrichts ist, positiv gesprochen, in die tiefste Grundhaltung des schaffenden Menschen vorzustoßen und aus diesen Kräften den spontanen Bildungsakt aufzubauen als ökonomischen, künstlerischen bzw. die Erkenntnis fördernden Prozeß der Selbstbildung und Bildung zur Gemeinschaft. Der U n t e r r i c h t geht demnach auf der praktischen Schule möglichst vom Schaffen der Hand aus, sodann auch vom Handeln, soweit wie irgend möglich aber vom Schauen des praktischen Lebens (Lehrbesuche: Fabriken usw.). Mittels des Schaffens wird die Theorie erarbeitet, namentlich in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern: möglichst eigene und selbständige Analyse von praktischen Gegenständen (Uhr, Fernrohr, Kompaß, Pfeifen usw.), Synthese, d. h. also eigene Konstruktion z. B . von physikalischen Apparaten und Vorrichtungen (Anlage einer elektrischen Leitung usw.). Voraussetzung solchen Werkens ist eine gewisse Material- und Handwerkzeugkenntnis sowie die Beherrschung gewisser grundlegender Techniken (A. Förtsch: Werkgrammatik). Das ist in den unteren Klassen der Hauptschule zu pflegen, bereits angebahnt in der Grundschule (Ton, Plastilin, Papier, Pappe) '. In Grund- und Hauptschule werden Abfallstoffe (Papier, Bindfaden, Draht, Schachteln usw.) ausgiebig verwertet. Freie Kurse und praktische wie wirtschaftskundliche Arbeitsgemeinschaften vertiefen die Pflege besonderer Techniken, namentlich die Holzverarbeitung (Hobeln, Leimen, Beizen usw.). Die Hauptsache ist aber, daß von hier aus der Weg wieder zum Sachunterricht und zum Leben gefunden wird. Daran fehlt es meist, indem der Werkunterricht als Eigenfach n e b e n dem Sachunterricht steht oder zum Selbstzweck im Leben wird, z. B . Buchbinden als Dauertätigkeit sowie die falsch ver1 Nach der Neuregelung des österreichischen Mittelschulwesens vom 2. August 1927 wird auch in den drei unteren Klassen der Mittelschulen wöchentlich zwei Stunden Handarbeit erteilt. Diese Einrichtung läßt sich jugendpsychologisch wohl rechtfertigen und kann namentlich in Internaten sehr erfolgreich betrieben werden, auch nach der künstlerischen Seite hin, wie z. B . in der Bundeserziehungsanstalt Traiskirchen. Der Werkunterricht bildet aber auf theoretischen Schulen niemals eine ähnliche G r u n d l a g e wie auf praktischen Schulen. E r wird also auf allen Arten von Gymnasien immer nur eine Randstellung einnehmen, weswegen er in freien Kursen zur Ergänzung wissenschaftlicher Neigungen, und zwar vornehmlich als Werkherstellung (mit künstlerischer Tendenz) betrieben werden sollte. Für Mädchen ist natürlich die Nadelarbeit verpflichtend.

Der Bildungswert des praktischen Schaffens

227

standene »Produktionsschule«. Dann kann nicht mehr von einem »allgemeinbildenden« Unterricht gesprochen werden. Der Werkunterricht als Teil des S a c h u n t e r r i c h t s umfaßt die Anfertigung von Maßstäben, Modellen geometrischer Figuren, Sammlungen von Holz, Blättern usw., den Bau von Apparaten und technischen Einrichtungen (Rolle, Flaschenzug, Kran, Leydener Flasche usw.); er unterstützt den Zeichen- und den Kunstunterricht und bildet die Grundlage wirtschaftskundlicher Unterweisungen als Gelegenheitsunterricht in allen Fächern, namentlich in Physik, Chemie, Biologie und Erdkunde. Der Werkunterricht tritt sodann in den Dienst des L e b e n s (Binden, Verpacken, Nähen usw.), der schulischen und häuslichen Gemeinschaftsbildung durch Schaffen für andere: g e l e g e n t l i c h e Anfertigung oder Ausbesserung dieser oder jener Gebrauchsgegenstände für Schule und Haus: Bilderrahmen, Quirl, Mappe, Spiel, Schlagholz, Vorbereitung von Festen (Theaterspiel) usw.; a u s h i l f s w e i s e s Zupacken in Feld und Garten, beim Hausbau oder in der Anlage eines Spielplatzes. Alles Schenken- und Helfen-Wollen muß als frei ersonnene Gabe aus vollem Herzen fließen und somit auch der Erhöhung des eigenen Lebensgefühls dienen. Also Vermeidung des Zwanges, des bloß Handwerklichen und des Massenprodukts (E. Linde). Es ist daher die politisch-kommunistische und wissenschaftlich-positivistische Grundlegung des russischen Schulsystems rundweg abzulehnen. Die freien Beschäftigungen vernünftig angewandter Muße in Haus und Heimen neben dem Unterricht wollen ganz anders bewertet sein. Die Werkerziehung zur Gemeinschaft erstreckt sich für die M ä d c h e n mehr auf Häkeln und Stricken, Stopfen, Nähen und Schneidern, wobei der Sinn für das Schlichte und Künstlerische besonders zu wecken ist. — Die Vorbildung der p r a k t i s c h e n L e h r e r an praktischen und auch an theoretischen Schulen umfaßt die allgemeine Ausbildung der Hand in den grundlegenden Techniken, einschließlich des Zeichnens an der Wandtafel; dazu die Beherrschung e i n e r besonderen Fertigkeit: z. B. Holz- oder Metallarbeit. Für den Landlehrer Kenntnis und Können in Garten und Feld. Alles dies in möglichster Beziehung zum Unterricht und zum Gemeinschaftsleben. Entsprechend ist für die b e r u f l i c h e F a c h b i l d u n g der Arbeiter und Handwerker, der Techniker und Ingenieure und Baumeister, für alle Arten von Praktikern und »Erfindern« auf Berufsschulen, die Technischen Hochschulen eingeschlossen, zu fordern: Durchdringung von theoretischem Studium und praktischem Tun. Kein einseitiges Spezialistentum, sondern Erfassen der wesenhaft-typischen Grundlagen der mancherlei Erscheinungsformen »Technik« (O. Hlauschek). Also weniger StoSzwang als Einsicht. Verständnis der Idee »Wirtschaftlichkeit«. Sinn für Menschenführung und Menschenwirtschaft. Allmähliche Hinleitung der Jugend auf den angemessenen und besonderen Berufszweig. Damit mündet die Methodik des praktischen Unterrichts in die des theoretischen ein und nimmt auch hier eine grundsätzliche Wendung zur kulturkundlichen Behandlung der naturwissenschaftlichen wie der geisteswissenschaftlichen Gegenstände. Der höchste Sinn aller Einsicht und aller Werktätigkeit bleibt aber die soziale Erziehung der Jugend wie der Erwachsenen durch Hinführung auf verantwortliche Leistung. —

Unter diesen sozialpädagogischen Gesichtspunkten ist auch die Idee des freiwilligen Arbeitsdienstes zu betrachten. Sie gründet sich auf werktätige Arbeit als soziale Leistung und will das Werden ganzer Menschen und Staatsbürger in der umfassenderen Gemeinschaft einer neuen Sinngebung des Lebens ermöglichen. Daher Ausbildung des gestählten Körpers wie der gesunden Seele, produktiv-sinnvolle Arbeit 15*

228

Die Bildungsgehalte (Methodik)

als berechtigter Anspruch, als Arbeitspflicht wie Arbeitsfreude, Erneuerung der organischen Einheit von Pflichterfüllung und Lebensgenuß, von verantwortlicher Leistung und würdiger Muße; Pflege des deutschen Volkstums in der überparteilichen Volksverbundenheit aller Stände. Die Form ist die freie, gliedhafte Ordnung des Lagerlebens. Und das Werkjahr der weiblichen Jugend? Die Aufgabe des S t a a t e s wird es sein, der Herausbildung einer neuen Gemeinschaftsgesinnung möglichst günstige »Bedingungen« zu bereiten, nicht etwa die Bewegung zu bureaukratisieren. Der Staat wird die Wahl haben, die arbeits- bzw. die berufslose Jugend, die Arbeiter und Bauern, Angestellte und Studenten, entweder in die Verzweiflung, in den Parteiradikalismus zu treiben oder eine neue Welt der B r ü d e r l i c h k e i t , kameradschaftlicher Arbeit und schlichter Nächstenliebe zu ermöglichen. Das ist ohne religiösen Untergrund nicht möglich, bedarf auch wohl der strafferen Ordnung statt der bloßen Freiheit, vor allem der geregelten Zusammenarbeit mit Industrie und Landwirtschaft, mit Vereinen und Bünden, mit Wohlfahrt und Volksbildung. Für den künftigen akademischen Bürger im besonderen wird die Besinnung und Hinführung auf das Studium nicht fehlen dürfen. L i t e r a t u r : A. Argelander, Zur Frage der allgemeinen Handgeschicklichkeit, Die Arbeitsschule 39 (1925). — A.Ehrhardt, Gestaltungslehre, Weimar 1932. — P. Ficker, Didaktik der neuen Schule, Osterwieck-Leipzig 1930. — F. Giese, Philosophie der Arbeit, Halle 1932. — Fr. Gülland, Handbetätigung am sinnlichen Stofi als Bildungsmittel, Weimar 1929. — O. Hlanschek, Studienreform der Technischen Hochschulen, Hochschulwissen 8 (1931), Heft 6. — E . Linde, Wege und Irrwege des Werkunterrichts, Die Arbeitsschule 44 (1930). — J . Lindworsky, Psychologisches zur werktätigen Erziehung, Jahrbuch 1930 (Werktätige Erziehung), Stuttgart. — Petersen-Förtsch, Das gestaltende Schaffen im Schulversuch der Jenaer Universitätsschule 1925—1930, Jena-Plan, Zweiter Band, Weimar 1930. —

VIERTER TEIL

Der Leistungsunterricht (Didaktik) Der vorstehende dritte Teil ist der Methodik gewidmet, die es mit dem »Was« des U n t e r r i c h t s - G e g e n s t a n d e s zu tun hat. Denn nicht jedes Kulturgut ist an sich zugleich Bildungsgut. Was Menschen ersonnen und geschaffen haben, ist daher bestimmten m e t h o d i s c h e n Gesichtspunkten zu unterwerfen, unter denen es theoretisch zu betrachten bzw. praktisch zu behandeln ist, damit es seinen bildenden Wert entfalten kann (vgl. oben S. 105 ff.). Die D i d a k t i k betrifft dagegen das »Wie« der Menschenführung. Wir können daher nunmehr sagen: Methodik ist »Gegenstandslehre«, d. h. die Lehre von den theoretischen bzw. praktischen Betrachtungs- und Behandlungsweisen des Gegenstandes im Schulunterricht. Didaktik ist »Führungslehre«, d. h. die Lehre von der Führung durch Unterricht. Menschenführung ist ein wesentlicher Grundzug des modernen Lebens in Staat und Beruf; Führung des tätigen Menschen zum verantwortlichen Tun wird daher das Kennzeichen der künftigen Schule sein, die als Stätte des tätigen Sich-Erprobens und Sich-Bewährens nunmehr in einem ganz anderen Sinne »lebensnah« wird, als man sonst unter Lebensnähe zu verstehen pflegte. Das ist der Sinn der Didaktik, des Leistungsunterrichts. Der Unterricht als g e o r d n e t e Ergänzung der freien Entwicklung wird nun stets Gefahr laufen, bald dem Z w a n g e systematischer Verfrühung und Über-Schulung zu verfallen, bald der W i l l k ü r planlosen Gewährenlassens und der Verweichlichung. Haben wir schon im 2. Teil gesehen (S. 78 ff.), wie die hier liegenden Spannungen weltanschaulich begründet sind und sich sozialpolitisch und schulorganisatorisch auswirken, so gilt es nunmehr, diesen Zusammenhängen zwischen Ordnung und F r e i h e i t , Z w a n g und W i l l k ü r nachzugehen und weiterhin zu untersuchen, auf welche Weise unter dem didaktischen Gesichtspunkt der verantwortlichen Menschenführung ein angemessener Ausgleich gefunden werden kann I. Ordnung und Freiheit Der Widerstreit zwischen der Anerkennimg einer überpersönlichen Ordnung und der Wahrung individueller Freiheit liegt bereits dem Gegensatz * Vgl. meine Allgemeine Erziehungslehre, zweiter Teil I I I (Die Schule).

230

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

zwischen Pythagoreern bzw. Sokrates und den Sophisten zugrunde und wird immer wieder hervorbrechen in alle Ewigkeit. Nach der Überzeugung der Sophisten muß man individuelles Reifen frei gedeihen und den jungen Bürger in die Gemeinschaftsform seiner Folis hineinwachsen lassen; denn an das individuelle Seelentum kommen wir nun einmal nicht heran. Sokrates betont dagegen, daß es nicht nur individuelles Reifen, sondern auch ein Einordnen in den Logos und ein »Lernen« gibt J . Daher fordert er Lehre und Unterweisung im Hinblick auf die Staatsgemeinschaft — allerdings im Selbstfinden der Ideale. Dieselbe Problematik verbirgt sich in der Aufklärungszeit hinter den Ausdrücken »Natur«, »natürlich«, »naturgemäß« und ähnlichen Bezeichnungen. Ich weise beispielsweise hin auf Comenius, in Sonderheit auf seine Didactica magna ». Auch bei Rousseau spielt die »Natur« eine bedeutende Rolle als Vorbild und Lehrmeisterin, und zwar als Inbegriff der Freiheit eines gottgewollten Zustandes. Seine Mahnungen: »aimez l'enfance « und »épiez longtemps la nature, observez bien votre élève avant de lui dire le premier mot« (Émile II) verkünden die Didaktik der Freiheit. L'inaction und la contrainte werden in einem Atem aneinandergereiht (Émile I) I Die Verfrühung — ce qui tend à former l'esprit avant l'âge — wird als éducation positive abgelehnt (Lettre à Christophe de Beaumont). Während Rousseau bereits die Freiheit des Unterrichts im Auge hat, beschäftigen sich die französischen Schulpolitiker vor und während der Revolutionszeit wesentlich mit der äußeren Reform der Organisation (Helvetius, Diderot, Turgot, Mirabeau, Talleyrand usw.). Condorcet durchdringt alle Ideen der Freiheit und Gleichheit des Menschen und ihrer Vergesellschaftung mit einheitlichem Geiste 3. Die pädagogische Bedeutung des Spannungspaares »Freiheit und Gehorsam«, die schon Montaigne und Locke beunruhigt hatte, war bereits vor dieser Zeit von Pestalozzi eingesehen und im Tagebuch vom 19. Februar 1774 in aller Schärfe herausgearbeitet worden mit dem abschließenden Ergebnis: »Freiheit ist ein Gut und Gehorsam ist es ebenfalls«. Das Problem der »Ordnung« läßt dann Pestalozzi nicht wieder los. Und wieder taucht hier, wie bei Rousseau, die Idee der Tätigkeit und des »SelbstFindens« im Zusammenhang dieser Problematik auf 4 j Nachdem auch Schleiermacher in seinen Maximen des »Gewährenlassens« und des »Behütens«, in der »Theorie der Erziehung als Gegenwirkung« bzw. als »Unterstützung«, auch in der Fragestellung, ob man »einen Moment dem andern aufopfern dürfe«, die Möglichkeiten der »Einwirkung« bzw. der »Selbstentfaltung« immer wieder gegeneinander abgewogen hatte, erstand in Tolstoj der Prophet der »Neuen Schule« J. Nach Tolstoj ist nur ein »freies Verhältnis von Menschen untereinander« wirkliche »Bildung«; sittliche Eingewöhnungen (nravstvennyje privyöki) sind Zwang 1 E. Hoffmann, Der pädagogische Gedanke bei den Sophisten und Sokrates, Neue Jahrb. f. Wiss. u. Jugendbildung 6 (1930), Heft 1.

' Über den Toren der Schulen sollte die Inschrift stehen: Omnia sponte fluant, absit violentia rebus. Schola Ludus, Brünner große Ausgabe I X (1915), S. 292. 3 Uber die Beziehungen zwischen Freiheit und Gleichheit vgl. G. Roffenstein, Das soziologische Problem der Gleichheit, Schmollers Jahrb. 45 (1921), S. 67 ff. 4 Pestalozzi, Sämtliche Werke, hrsg. von Buchenau-Spranger-Stettbacher, I, Berlin u. Leipzig 1927, S. 126 ff. 5 Leo N. Tolstoj, Pädagogische Schriften (R. Löwenfeld), 2 Bde, Jena 1907; Sämtliche Werke, Jena 1907; Les quatre livres de lecture, Paris (édition Bossard) 1928. Vgl. dazu G. Prox, Tolstoj als Pädagoge und seine Bildungsphilosophie, Friedeberg (Queis) ¿926; F. Lösel, Graf L. N. Tolstoj als Pädagoge und Volksbildner, Prager Dissertation (ungedruckt) 1928; S. Hessen, Tolstoj als Pädagoge, Die Erziehung IV (1928), Heft 1; Tolstoj als Denker Logos X I X (1930), Heft 2.

Ordnung und Freiheit

231

und verderben das Kind; je verdorbener es ist, desto mehr bedarf es der sittlichen Freiheit (svoboda): »Das einzige Kriterium der Pädagogik ist und bleibt allein — die Freiheit.« Demgemäß befürwortet Tolstoj einen beweglichen Stundenplan, Gesamt- und Gruppenunterricht; freie Wahl der Aufsatzthemen in der ersten und zweiten Klasse sowie das Vorlesen dieser Aufsätze (Kindersprache!); die Schülerfrage; keine Kontrolle, kein Lohn und keine Strafe, kein Prüfen, keine Noten (in späterer Zeit), keine Zeugnisse; keine festen Bänke, kein Katheder; Fachklassen (Bibliothek, Museum!). Der Lehrer ist getragen von unendlicher Liebe und dienender Hilfsbereitschaft; um die Seele des Kindes zu ergründen, muß er es dauernd beobachten (die Idee des pädagogischen Laboratoriums!): das »Jahrhundert des Kindes« (Ellen Key) ! Alles dies — nicht aber die Mätzchen parlamentarischer Spielereien — finden wir bei Tolstoj ; dann auch bis ins einzelne in den späteren Versuchsschulen, besonders bei B . Otto 1 : Die Kinder »dürfen lernen, was sie wollen, und wenn sie nicht lernen wollen, brauchen sie überhaupt nicht zu lernen. Wenn sie nicht aufpassen wollen, brauchen sie nicht aufzupassen. Wenn sie nicht in die Stunde kommen wollen, brauchen sie nicht in die Stunde zu kommen. Wenn sie aus der Stunde rausgehn wollen, dürfen sie rausgehn. Wenn einmal alle Schüler die Stunde langweilig finden und hinausgehen, werden sie nicht etwa bestraft, sondern dann schämt sich der Lehrer«. Ähnlich Fr. Gansberg, Erw. Haufe (die natürliche Erziehung), W. Paulsen, die Vertreter der »Gemeinschaftsschule«, Entschiedene Schulreformer, die Wiener Schulen bei recht weitgehenden Verschiedenheiten ! Dazu das Ausland : M. Montessori, J . Ligthart, O. Decroly, A. Ferrière u . a . ; auch die modernen amerikanischen Systeme (Dalton-, Winnetka-Plan, die Platoon-School etc.)

Versuchen wir, den pädagogischen Ort dieser Bestrebungen und besonders Tolstojs Stellung aufzuweisen in der Stufenfolge der freien Entwicklung bis hin zur systematischen Bildung, so ergeben sich folgende Möglichkeiten eines Ausgleichs der Problematik »Freiheit — Ordnung«: i. Kultur ist wohl z. T. unbewußtes Wachstum, z. T. aber doch auch bewußte Besinnung, die man dem Kulturmenschen nicht absprechen kann. Insofern ist Entwicklung auch Reflexion über das eigene Werden. Zum Kulturleben und damit zur freien Reifung gehört überdies ein Einschlag zielsicherer, wenn auch nicht immer zielbewußter Führerschaft. Soweit könnte man E. Kriecks Bezeichnung der Erziehung als »Urfunktion der Gesellschaft« anwenden. Die freieste Stufe bildnerischer Beeinflussung läge also in der Ausschaltung jedes systematischen Einflusses auf die Selbsterziehung, d. h. des geschulten und zielbewußten Fachmannes. Das ist insofern möglich, als die menschliche Gesellschaft — Gott sei Dankl — nicht vorwiegend aus systematisch geschulten Fachleuten besteht. Diesem Grundsatz des Sich-selbst-Durchringens durch »Erfolg und Mißerfolg« entspricht auch das Verhalten vieler begeisterter und erfolgreicher Schulmänner, z. B . H. Gaudigs und O. Scheibners, nach denen die »freie geistige Schularbeit« von der »Stellung bis zur 1 B . Otto, Die Zukunftsschule, 1914, Heft 6. Vgl. W. Paulsen, Freie Erziehung, freie Erzieher, Die Erziehung I I I (1928), S. 536. 1 P. Petersen, Die neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926; Fr. Hilker, Deutsche Schulversuche, Berlin 1924; G. Porger, Neue Schulformen und Versuchsschulen, Bielefeld u. Leipzig 1925; Fr. Karsen, Die neuen Schulen in Deutschland, Langensalza 1924; O. Karstädt, Methodische Strömungen der Gegenwart, 1930.

Der Leistungsunterricht

232

(Didaktik)

Lösung der Frage von der Eigenmacht des Schülers getragen wird«. Frinzip!

»Die Tätigkeit des Lehrers ist im idealen Fall gleich Null

D a s sei ein »Natur«« (Gaudig). Wie aber,

wenn der einsichtige Lehrer, ohne der Verfrühung bzw. Hemmung Vorschub zu leisten, vielleicht im Augenblick der nicht wieder gut zu machenden Entgleisung das erlösende Wort spricht bzw. handelt ? Oder durch Vorbild und Beispiel anregt! G. Bäumer und K . Kesseler haben in diesem Sinne von dem »Führer-Erlöser« gesprochen. sein Schwanken zwischen

Systematisierung

(Aufsatz-,

Für Tolstoj bezeichnend ist

Schreib-Leseunterricht

etc.)

und

unsystematischem Gewährenlassen.

2. Die planvolle Fernhaltung s c h ä d i g e n d e r Einwirkungen seitens des Bildners bedeutet bereits einen positiven pädagogischen Eingriff, noch mehr die g ü n s t i g e Gestaltung der Außenwelt, des Milieus oder der Umwelt. In beiden Fällen handelt es sich aber nur um die Abänderungen von »Bedingungen« (s. o. S. 27 ff.). Es steht dem Schüler frei, ob und wie er auf die gegebenen Reize »reagieren« will. Eine Beeinflussung durch persönliche Wechselwirkung findet nicht statt. E s scheint gerade der charakteristische Grundzug Tolstoj'scher Pädagogik und vieler seiner Nachfolger zu sein, die Jugend unter möglichst günstigen Bedingungen aufwachsen zu lassen und ihr anheimzugeben, welchen Gebrauch sie davon machen will.

Recht kenn-

zeichnend für diese Möglichkeit, dem Zwange auszuweichen, ist M. Montessoris System. Ihre Beschäftigungsmittel dienen dazu,

Ordnung

und

Klärung

in die bereits

gemachten

Erfahrungen zu bringen und zwar ganz allein vom Kinde aus auf Grund eines dem Material innewohnenden Aufiorderungs- und Richtungscharakters — und der sich regenden Bedürfnisse der »sensitiven Periode«.

E s fragt sich nur, welches die »günstigen Bedingungen« sind: soll

man der Jugend alle Schwierigkeiten und Gefahren aus dem Wege räumen oder soll man sie »wagen«, wie z. B. Rousseau, Herbart und auch Tolstoj geraten haben ? Ist überdies Freiheit vom Zwang schon die spontane Wendung zur Verantwortlichkeit?

3. Der Akt systematischer Bildung kann den Schüler schließlich hineinstellen in die geistige Wechselwirkung »anregender« Schüler und Lehrer. Auch in diesem Falle steht es dem einzelnen frei, persönliche Einflüsse aller Art abzulehnen — solange nicht roher Zwang oder feste Gewöhnung vorliegen (s. o. S. 31 u. 116). Am freiesten verläuft aber das eigene Tun, wenn es den geistigen Regungen (der Sehnsucht, einem Bedürfnis) entspricht. Daher ist die Weckung des »Interesses« von allen Pädagogen aller Zeiten mit Recht betont worden. Das aktuelle Kennzeichen dieser Unterrichtsführung ist das didaktische Mittel der Schülerfrage. Zwischen dieser Freiheit eigenen Angeregtseins (Wollens) und dem bloß reaktiven Verhalten funktionaler Betätigung, dem gewohnheitsmäßigen Mitmachen liegt eine Unzahl von Abschattierungen geistigen Einschlags. Selbst das reaktive Mit- und Nachmachen kann ganz verschiedenartig verlaufen, gleichgültig oder in höchster Steigerung der Aufmerksamkeit und damit zwanglos, wenn auch unter fremder Leitung. Der Lehrer kann folglich den Unterricht beleben, Freude wecken, einen gesunden Wetteifer anfachen und geistig anregen, um das Gefühl freier Mitarbeit zu entfesseln und dennoch die Ordnung systematischen Unterrichts, verant-

Fremd- und selbstgerichtetes Lernen

233

wortlicher Leistung zu wahren. Die hier liegende Problematik ist nach G. Kerschensteiner in jüngster Zeit von Jonas Cohn (1926), Theodor Litt (1927) und Herman Nohl (1931) von neuem angepackt worden. Sie alle stimmen darin überein: nicht Ordnung oder Freiheit, sondern Ordnung in der Freiheit, Freiheit in der Ordnung. E s wird somit der A u s g l e i c h gefordert der im ersten Teile aufgewiesenen Spannungen von Entwicklung und Bildung und zwar durch angemessene Leitung und Führung der eingeborenen und sich regenden Kräfte. E s fragt sich nunmehr, durch welche M i t t e l der Unterrichtsführung dieses Ziel erreicht werden kann. L i t e r a t u r : G. Bäumer, Sinn und Formen geistiger Führung, Berlin 1930. — J . Cohn, Befreien und Binden, Zeitfragen der Erziehung, überzeitlich betrachtet, Leipzig 1926. — H. Gaudig, Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit I, Leipzig 1922; Freie geistige Schularbeit, Breslau 1928. — G. Kerschensteiner, Autorität und Freiheit als Bildungsgrundsätze, Itzehoe 1927 (1924). — K . Kesseler, Pädagogisches Führertum und moderne Schule, Gotha 1928. — F . Krueger, Die Arbeit des Menschen als phil. Problem, Blätter f. Deutsche Phil. 3 (1929) 2. — Th. Litt, 'Führen' oder 'Wachsenlassen', Leipzig und Berlin 1 9 3 1 . — H. Nohl, Die Polarität in der Didaktik, Die Erziehung 6 (1931), Heft 5. — O. Scheibner, Zwanzig Jahre Arbeitsschule, Leipzig 1930. —

II. Fremd- und selbstgerichtetes Lernen (Reaktivität und Spontaneität) Sobald von »Arbeitsunterricht« gesprochen, d. h. das Problem des Unterrichts von der didaktischen Seite angepackt wird, ist man mit dem Ausdruck »Selbsttätigkeit« bald zur Hand. Es ist nur schade, daß dieser unklare Terminus immer wieder falsch verstanden werden mußte; denn alles, was der Mensch vollbringt, tut er schließlich selbst. E r ist nun einmal kein Maschinen-Automat. Umwelt und Außenwelt können ihn wohl zum Handeln »reizen«, aber zuguterletzt hängt es doch von ihm ab, ob er tätig ist und in welcher Art. Auch das Schlagwort »Selbständigkeit« ist nicht eindeutig. Ebenso vieldeutig ist die Bezeichnung »Aktivität«. Der lebendige Mensch ist immer aktiv. Wenn man »passiv« sagt, so meint man damit gewöhnlich »reaktiv« in seinen verschiedenen Abstufungen; unter Aktivität versteht man aber meist Spontaneität! So war die ältere Schule nicht die der Passivität, sondern eher eine Schule der Reaktivität. Diese Ungenauigkeit psychologischer Auffassung führte immer wieder zu schweren Mißverständnissen. Wir sahen uns daher veranlaßt, zwei Arten der Aktivität zu unterscheiden: die R e a k t i v i t ä t als wesentlich f u n k t i o n a l e B e t ä t i g u n g unter f r e m d e r F ü h r u n g und die S p o n t a n e i t ä t als S e l b s t - G e r i c h t e t s e i n mit dem Gefühl der V e r a n t w o r t l i c h k e i t (vgl. oben S. 4iff., H 2 f f . ; 2 1 7 L ) . Da keine seelische Tätigkeit der Organismen grundsätzlich der Spontaneität, d. h. eines geistigen Einschlags des Selbst-Gerichtetseins völlig ermangelt, werden wir gut tun, verschiedene Grade und Arten spontanen

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

bzw. reaktiven Verhaltens, also des aus dem Innern quellenden Gerichtetseins alles Lernens zu unterscheiden: 1. Die Tätigkeit kann einem geistigen Interesse (einer Sehnsucht) an einer S a c h e entspringen. Eine reine Sachleistung liegt vor, wenn sich der Theoretiker aus dem spontanen Interesse am Forschen (auch an der schönen Darstellung), der Praktiker aus dem Verlangen nach Schaffen müht. Beide werden vom s a c h l i c h e n I n t e r e s s e geleitet. Sie haben wohl ein »Gewissen« dem Gegenstande gegenüber, aber noch keine »Verantwortung« gegenüber den Mitmenschen. Eine triebhafte Vorstufe ist das Tun unreifer oder unbeherrschter Menschen bzw. der Tiere aus Neugier. Entsprechend hat man auf dem Gebiete des Schaffens (Bauens) auf einen ökonomischen »Instinkt« der Tiere (James: instinct of constructiveness; Karl Groos: Herumhantieren) hingewiesen. Wir sprechen dann nicht mehr von einem sachlichen Interesse, sondern von B e d ü r f n i s s e n und ihrer Befriedigung. 2. Theoretisches und praktisches Tun brauchen nicht immer vom außergesellschaftlichen Interesse an der Sache bestimmt zu sein, sondern von s i t t l i c h e n Überzeugungen der V e r a n t w o r t l i c h k e i t gegen den M i t m e n s c h e n . Auch hier liegt ein spontanes Gerichtetsein vor, aber kein unmittelbarer Antrieb zum bloßen Forschen oder Schaffen, sondern letzteres steht im Dienst des gesellschaftlichen Handelns, ist Mittel zum Zweck: s i t t l i c h e s I n t e r e s s e . Man findet sich nötigenfalls, so gut es eben geht, mit den Forderungen theoretischer und praktischer Art ab, und zwar um als m a c h t v o l l h a n d e l n d e Person etwas zu l e i s t e n , im selbstlosen oder eigennützigen Sinn. Von hier aus bezieht das theoretische und praktische Tun seine Richtung. Der erziehende Unterricht wird in diesem Falle an die sittlichen Leistungsmöglichkeiten des theoretischen bzw. praktischen Menschen als Ansporn anknüpfen: hier liegt das E t h o s jeglichen Unterrichts! Entsprechend gibt es auch ein ( s i t t l i c h - ) r e l i g i ö s e s I n t e r e s s e des Menschen, der all sein Tun in den Dienst Gottes stellt, mit oder auch ohne Auswirkung auf die menschliche Gesellschaft (vgl. die Skizze des Anhangs). 3. Das Tun und Handeln des Menschen kann weiterhin weder durch die Sache, noch durch Wirkungen in der Gesellschaft (bzw. in Gott) motiviert werden, sondern aus »Neigung« zu den Eltern, zu einem geliebten Lehrer oder auch angeschwärmten Freund. Wir wissen, daß diese Wertübernahme durch Suggestion namentlich in der Kindheit und ganz besonders in der Zeit der Reifung eine Rolle spielt, wo der Jugendüche nach einem persönlichen Idealbild Ausschau hält, das die Werte in persönlicher Selbstdarstellung oder im gelebten Leben verwirklicht. In diesem persönlichen Verhältnis der Nachfolge ist jede Gunstbezeugung (Anerkennung:

Fremd- und selbstgerichtetes Lernen

235

Belohnung!) von Bedeutung: p e r s ö n l i c h e s I n t e r e s s e der Wertübertragung. Auch hier liegt ein gewisser Einschlag spontanen Verhaltens vor. Diese Art richtunggebender Beeinflussung weist bereits hinüber zu den 4. Funktionsbetätigungen des Ich. Sie umfassen das »Funktionieren« des motorischen Apparats, des Wahmehmens, der Gedächtnisreproduktion, des Denkens. Das Verhalten ist wesentlich fremdgerichtet. Die Richtung der Betätigung wird von einem »Du« oder einem »Es« der Umwelt gewiesen, deren Einfluß sich das Ich nicht e n t z i e h t E r f o l g t der Funktionsablauf im Sinne eines Vorbilds, so reden wir von »Nachahmung«. Auch in diesem Falle kann, wie bei jedem organischen Verhalten, der Faktor eigener Stellungnahme bzw. Zustimmung nicht fehlen. Für das Zustandekommen einer Reproduktion muß also zunächst ein G e s p a n n t s e i n (das wäre eine »Tätigkeitsbereitschaft« als »Wirkungsfaktor«) vorhanden sein. Die Richtung erfolgt dann aus der sachlichen »Übernahme« einer Aufgabe, die von anderer Seite gestellt ist. Die hier vorliegende eigenartige Situation wird auch von K. Lewin als »ausgesprochen reaktives System« (a. a. O. S. 90 ff.) gekennzeichnet. Dies reaktive Tun ist bei glattem Ablauf begleitet von der F u n k t i o n s l u s t , von dem biologischen »Vergnügen« am erfolgreichen »Funktionieren« der Organe. (Vgl. oben S. 216.) Wir sprechen in diesem Falle von einer »funktionalen Betätigung«. Ihr Lustbetrag steht im direkten Verhältnis zum E r f o l g und der I n t e n s i t ä t dieses Sich-Auswirken-Könnens. In diesem Falle redet man auch sowohl landläufig wie wissenschaftlich von »Interesse«. E s leuchtet ein, daß dieser Fachausdruck recht unterschiedlichen Tiefenschichten seelischen, funktionalen bzw. geistigen, Erlebens zugeordnet wird. Die Anlage des Unterrichts wird dahin gehen müssen, den Betrag funktionaler Lustgefühle durch E r f o l g und erhöhte A k t i v i t ä t unter Anspannung der Aufmerksamkeit möglichst zu steigern. Dies reaktive Tun kann schließlich auch der Lust entbehren und zur Funktionsbetätigung ohne innere A n t e i l n a h m e herabsinken. E s ist dann ein interesseloses »Mitmachen«aus »Gewöhnung«, z. B. ein gut Teil manchen Schulbetriebs. — Im Falle der »spielerischen Beschäftigung« wird wohl aus eigener Anteilnahme ein Ergebnis erzielt (Bauen etc.), aber das Werk ist auch in diesem Falle keine verantwortungsvolle Leistung. Vgl. oben S. 217 f. 5. In den bisher erwähnten Fällen ist das Subjekt autonom (bzw. geistig indifferent). Der Mensch will, was er soll, und empfindet schließlich all sein Tun als Auswirkung des eigenen Ich. Wesentlich anders ist jedoch die Sachlage, wenn das Subjekt wollen muß, was eine andere Person oder 1

So Comenius: Discenti labor, docenti directio; Linguarum Methodus Novissima, Kap. X, X X X I V , Große Brünner Ausgabe V I (1911), S. 312. Ebenso Fortius Redivivus, ebd. I X (1915), S. 53: Discere duci. At vero qui ducit, praeit; qui ducitur, sequitur.

236

Der Leistungsnnterricht (Didaktik)

die Umstände gebieterisch fordern. Der Erwachsene, der aus der Notdurft des Leibes und des Lebens sklavisch gehorcht, ebenso der Schüler, der aus Furcht seine »Pflicht« tut, unterstehen einem Zwang. Sie »arbeiten« aus Not oder Furcht vor einem Rückschlag (Gefährdung der Existenz, Strafe!). Man »will« also schließlich auch, aber nur weil man nicht anders kann oder darf (Heteronomie); irgendwelche Verantwortung trägt man auch hier nicht, da die Freiheit der Selbstentscheidung unterbunden ist. Vom pädagogischen Gesichtspunkt ist der Z w a n g nur soweit berechtigt, als der unreife, d. h. nicht wert-einsichtige bzw. willensschwache Mensch auch durch diese Art erzwungener Gewöhnung, die wir Dressur nennen, zur Selbstbestimmung hingeleitet werden kann. Diese feste Gewöhnung erstreckt sich auf die psychophysische Einübung (Assoziation), zum Teil auch auf Übung der sensorischen und motorischen Funktionen. Auch die Gewöhnung wird um so erfolgreicher sein, je intensiver die Betätigung durchgeführt und je mehr das Widerstreben ausgeschaltet wird. Alle erwähnten Arten der Reaktivität und Spontaneität greifen somit in der verschiedenartigsten Weise ineinander: es gibt ein Zurücktreten des Widerstrebens bis zum indifferenten Sich-Einfügen; es gibt auch ein funktionales, also geistig-indifferentes Mittun unter fremder Leitung, das der eigenen, aber noch nicht entfalteten Wertgerichtetheit entspricht. Dann ist es ein »Sich-Einordnen« als Vorstufe der damit vorausgenommenen F r e i h e i t echter Wertentscheidung. Ist das Ziel aller Bildung die Führung des Menschen zur Selbstbestimmung, zur Selbstausrichtung, zur sittlichen Freiheit der Selbstverantwortung, so wird jedweder Unterricht also darauf hinauslaufen, 1. den Z w a n g des A r b e i t e n - M ü s s e n s überzuführen in die F r e i heit des L e r n e n - W o l l e n s ; 2. die bloß funktionalen Abläufe uninteressierter B e t ä t i g u n g nach Möglichkeit zu intensivieren und lustvoll einzubetten in erfolgreiches Tun; 3. die spontane Lust bloßen Spieles hinzuführen auf die Freude am v e r a n t w o r t u n g s v o l l e n Tun; 4. das vorwiegend sachliche Interesse des einseitig theoretischen und praktischen Menschen (S G) zu weiten zum sittlichen Handeln 1 (S — S ) ; 5. das persönliche Interesse bloßer Wertübernahme zu wandeln in ein echtes Wertverhältnis gegenüber den anderen und sich selbst. 1 G. Kerschensteiner, Begrifi der Arbeitsschule, Leipzig u. Berlin 1930, bezeichnet als Zweck der Erziehung: Berufsbildung, Versittlichung der Berufsbildung und Versittlichung des Gemeinwesens.

Fremd- and selbstgerichtetes Lernen

237

6. Schließlich hat das sachlich-funktionale, d. h. geistig indifferente Sich-Fügen allmählich zurückzutreten gegenüber der geistigen S e l b s t entscheidung und dem freien Handeln aus eigenem G e r i c h t e t sein. Nur dies freie »Sich-Einordnen« aus selbständiger Werteinsicht und Verantwortlichkeit, nicht bloß aus Funktionslust, wollen wir in Zukunft »spontan« (i. e. S.) nennen. Denn »spontan« i. w. S., d. h. »gerichtet«, schließlich durch fremde Einwirkung eines sachlichen Reizes oder einer persönlichen Leitung ist eben alles Organische seiner Wesensart nach (s. o. S. 1 7 ff.). Hier leuchtet nunmehr die Idee der echten F r e i h e i t auf in ihrer Besonderung gegenüber Zwang, Willkür oder Indifferenz. Erst diese Freiheit verantwortlichen Handelns kann dem »Lernen« in Schule und Haus — wie dem Wirken im späteren Leben — den Adel menschlicher Vernunft verleihen. Mit diesen Möglichkeiten gesteigerter R e a k t i v i t ä t der Funktionen wie der S p o n t a n e i t ä t verantwortlichen Stellungnehmens und Leistens sind die Mittel aufgewiesen, die Spannung zwischen Ordnung und Freiheit zum Ausgleich zu bringen. Der letzte Sinn höchster Reaktivität und Spontaneität ist dann der, die Jugend aufzurütteln und ihr die Gelegenheit zu gewähren, die Besonderheit ihres Wesens allmählich selbst zu erproben, das eigene Wollen, die eigene Lebensverpflichtung, die eigene Lebensgerichtetheit — und die Grenzen des eigenen Könnens. Der Bildner vermag unter solchen Umständen zu dieser Selbstverwirklichung insofern beizusteuern, als er durch seine Persönlichkeit als Führer einmal u n b e w u ß t - z i e l v o l l eine Lebensmöglichkeit darstellt, an dessen unaufdringlichem Vorbilde der Jünger sich selbst zu ahnen beginnt und somit lebenstüchtig wird für eine Zukunft, die mit den zeitgebundenen Idealen des Führers kaum noch etwas zu tun haben mag. Der b e w u ß t p l a n v o l l e Fachmann wird dazu die ewigen Ordnungen und Sinngehalte des Geistes eingesehen haben, so daß er, aus der allgemeinen Kenntnis der menschlichen Psyche und einer steigenden Einsicht in die besondere Seelenhaltung dieses und jenes Schülers vorsichtig vorfühlend, negativ vorbeugend, positiv die angemessenen Entwicklungsbedingungen schaffend und dazu anregend, seine schwere Pflicht der Mithilfe zu erfüllen vermag. Mit der Erziehung zur Intensität wie zum spontanen Umschauen und Zugreifen sind zugleich die wichtigsten Bedingungen für den künftigen Beruf in Theorie und Praxis erfüllt. Auch die »Volksschule« kann diese Fähigkeiten soweit fördern, daß damit eine formale Schulung und Durchbildung der Jugend erreicht w i r d E i n e materiale Sonderschulung auf 1 Fr. Giese, Bildungsideale im Maschinenzeitalter, Halle (Saale), S. 126, spricht in diesem Sinne, im Anschluß an Gottl, von dem nötigen Verständnis für Verbesserungen des

238

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

den Beruf des Fabrikarbeiters hin ist aber nicht Sache der »allgemein bildenden« Volksschule. Die Sonderung der beiden Unterrichts-Grundsätze, des Selbst- und des Fremdgerichtetseins, wirft auch ein Licht auf die neuen Reformbestrebungen der Hohen Schulen. Universitäten, Hochschulen und Akademien sind zweifellos die Stätte der wissenschaftlichen Anregung, der Spontaneität. Wenn nun neuerdings verlangt wird, daß die Übungen verstärkt werden sollen gegenüber den Vorlesungen, daß auch mehr »gelernt« werden soll, daß man dies vor allem nicht Kräften überlassen soll, die außerhalb der Hohen Schulen stehen, so wird wohl niemand gegen die Erleichterung der Wissensaneignung und des Könnens etwas einzuwenden haben und es damit auch begrüßen, daß diese mehr reaktive Angelegenheit auch in möglichster Intensität an den Hohen Schulen geschieht. Aber die eigentliche Aufgabe der Hohen Schulen ist nun einmal Forschimg, Lehre, Anwendung (s. o. S. 98 f.); Übung und Einübung muß, wie schon zum Teil auf den Gymnasien, mehr der privaten Initiative überlassen bleiben. L i t e r a t u r : Ed. Bürger, Arbeitspädagogik, Geschichte, Kritik, Wegweisung, Leipzig 1923. — G. Clostermann, Philosophie und Psychologie der Arbeitsschule, Langensalza 1929. — AI. Fischer, Die Krise der Arbeitsschulbewegung, »Die Arbeitsschule« 38 (1924). — W. James, The principles of psychology II, London, o. J. — G. Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule, Leipzig u. Berlin 1930. — K. Lewin, Das Problem der 'Willensmessung und das Grundgesetz der Assoziation II, Psych. Forschung II (1922), S. 90 ff. — K. Rößger, Der Weg der Arbeitsschule, Leipzig 1927. — W. Stuhliath, Vom Werden der Arbeitsschule, Osterwieck (Harz) 1922. —

A. D a s f r e m d g e r i c h t e t e L e r n e n

(Reaktivität).

Aus den früheren Ausführungen über das »Lernen« (S. 1 1 1 ff.) geht hervor, daß die natürliche psychophysische Reifung bzw. die systematische Schulung in der Steigerung angemessener Reaktionsfähigkeit besteht, und zwar auf Grund von Assoziationen (Einübung) und der Ausstrukturierung der Funktionen (Übung). Von der Selbstausrichtung geistiger Akte, der Spontaneität (i. e. S.), sehen wir hier vorläufig ab, da im folgenden die wesentlich reaktiv-funktionalen Verhaltungsweisen zu behandeln sind, soweit sie ihre Richtungsbestimmtheit von einem fremden Willen empfangen. Wir müssen zunächst einige klärende Ausführungen über die Aufmerksamkeit und ihre Wirkung vorausschicken Die A u f m e r k s a m k e i t ist eine unerläßliche Voraussetzung alles Unterrichtens: ohne unwillkürliche oder willkürliche (vorsätzüche) AufBetriebs, für bündigen und glatten Vollzug, wuchtige Zusammenfassung, richtigen Verbund. Dazu kommen die Forderungen der arbeitenden Gruppe: gegenseitige Anpassung, Solidarität, Wettbewerb etc. 1 Ich weise bereits hier auf die engen Beziehungen zwischen Aufmerksamkeit und den »funktionalen Fehlern« (Weimer) hin.

Das fremdgerichtete Lernen

239

merksamkeit kein Unterricht! Aber hier setzen sogleich die Schwierigkeiten ein, da man über das psychische Faktum der Aufmerksamkeit sehr verschiedener Meinung ist. Die voluntaristische Theorie führte die Aufmerksamkeit auf den Willen zurück; aber was ist »Wille«! Die emotionale Auffassung hebt die Bedeutung des Gefühls hervor. Die intellektualistische Begründung geht von den Wirkungen der Aufmerksamkeit aus, die sich in der erhöhten Klarheit und Deutlichkeit der »Bewußtseinsbestimmtheiten« zeigt. Wir setzen die Aufmerksamkeit der A k t i v i t ä t gleich die fremd- wie selbstgerichtet sein kann, und charakterisieren sie einmal durch den S p a n n u n g s g r a d der psychischen Energie und überdies durch ihre I n t e n t i o n a l i t ä t (vgl. oben S. 17 f.). Diese intentionale Zuwendung der f u n k t i o n a l e n »Blickrichtung« ist nicht zu verwechseln mit der s p o n t a n e n Gerichtetheit des Geistes aus Sehnsucht (Interesse); denn man kann auch etwas beobachten oder überdenken unter fremder Leitung. Wir bevorzugen den Ausdruck »Intentionalität«, da er einmal auf das Moment der S p a n n u n g (intentio, Intensität) h i n w e i s t s o d a n n auf die A b s i c h t l i c h k e i t der G e g e n s t a n d s b e z i e h u n g , welche Gesichtspunkte seit frühester Zeit immer wieder zusammen anklingen. Ich erinnere auch besonders an Fr. Brentano (»intentionale Objekt«) und seine Nachfolger 3. Sie meinen wesentlich die funktional-intellektuellen Vorgänge, nicht Geistiges. Danach gibt es also I n t e n s i t ä t s g r a d e funktionaler Spannung (Bewußtheit), in denen die Objekte mehr oder weniger klar und deutlich erfaßt werden. Die Intensität der Spannung ist durch Übung oder Einübung nicht steigerungsfähig; wohl aber kann die Aufmerksamkeit in verschiedenen Abstufungen dem intentionalen Gegenstande zugewendet (»konzentriert«) werden. Vgl. oben S. 48f. Wir fügen hinzu, daß der U m f a n g der Aufmerksamkeit verschieden sein kann, je nach der Anzahl der umfaßten Eindrücke; es gilt dann das »Gesetz«, daß die Intensität der Aufmerksamkeit im allgemeinen mit steigender Verteilung auf einen größeren Umfang abnehme. Im besonderen besteht jedoch die Möglichkeit/die Aufmerksamkeit sowohl auf eine geringere als auch auf eine größere Zahl von Eindrücken hinzulenken, die letzteren auch schweifend zu betrachten: fixierende bzw. fluktuierende Aufmerksamkeit. Sie kann ferner mehr labil (ablenkbar oder abschweifend) bzw. mehr stabil sein (beständiges Verhalten störenden Einflüssen gegenüber bzw. Schwankungen des Spannungsgrades). Das arbeitende Kind, das 1 R. Speich, a. a. O. S. 321 ff.: »Somit ist Aufmerksamkeit nichts anderes als der Ausdruck für eine gewisse Intensitätsmaximalität, Konstanz und Gleichgerichtetheit dieser wirksamen Aktivität«. 1 Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, § 117 (Intention und Aktivität); vgl. dazu Intentionalität, Kritik der Urteilsfähigkeit, § 73. 3 Fr. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, I. herausg. v. O. Kraus, 1924, 2. Buch I, § 5. Edm. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Halle, 1922, § 92. — R . Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie, Leipzig und Berlin 1925, S. 233 f.

240

Der Leistungsunterricht

(Didaktik)

sich im Spiele allerdings ganz hingeben kann, neigt zur Verteilung der unwillkürlichen und willkürlichen Aufmerksamkeit statt zur intensiven Konzentration und Beständigkeit der Aufmerksamkeit: wechslung!

daher Eintönigkeit und Einseitigkeit des Unterrichts vermeiden!

Ab-

Der Umfang für simultane bzw. sukzessive Eindrücke ist beim Kinde geringer

als beim Erwachsenen: überspannen!

daher den Umfang visueller oder akustischer Darbietungen nicht

Bedeutsamkeit der Struktur (bzw. eines Schemas) sowie der rhythmischen

Gliederung! Die Adaptation des Kindes an die Arbeit ist durchschnittlich langsamer als beim Erwachsenen: Geduld des vorwärtsdrängenden Lehrers! Leichte Ermüdbarkeit des Kindes: daher wohl höchste Intensität des Unterrichts, aber keine Überreizung!

Musterschulen der

überspannten Höchstleistungen sind ein recht zweifelhaftes Geschenk für Kinder und Lehrer. Die Tatsache, daß die Beherrschung der Aufmerksamkeit der Übung zugänglich ist, gibt die Möglichkeit, die Jugend zur Disziplin der (willkürlichen) Aufmerksamkeit zu erziehen.



Wir haben gefordert, das fremdgerichtete Verhalten funktionaler Betätigungen erst einmal für sich als Unterrichtsleitung zu betrachten. Es fragt sich dann, woher die Reaktivität einmal die seelische E n e r g i e bezieht und sodann, woher sie die R i c h t u n g ihrer Betätigungen empfängt. Die Fremdgerichtetheit ist zuvörderst kein »passiver« Zustand, sondern eine besondere Art von A k t i v i t ä t , die physiologisch auf die physikochemischen Prozesse der Organismen zurückgeht. Auf diesem Zustand des Gespanntseins beruht m. E. wesentlich die erwähnte »Tätigkeitsbereitschaft«. Auch R. Speich unterstreicht die Bedeutung dieser arbeitsfähigen Energie, der psychischen Aktivität. Sie wirkt sich aus in dem Ablauf der wesentlich funktionalen, also ungeistigen Betätigungen, die sowohl motorisch, z. B. beim Gehen oder Sprechen, als auch sensorisch, z. B. beim Beobachten oder beim Denken sein können. Je mehr Aufmerksamkeit diesen funktionalen Betätigungen zugewendet wird, je mehr seelische Aktivität kann ihnen zuströmen, je intensiver wird auch der Funktionsablauf erlebt werden. Insofern nun alle Lebensbetätigungen auch der E n t w i c k l u n g dienen, sind sie bereits lustvoll eingebettet (Funktionslust). So kommt es, daß den funktionalen Betätigungen, wenn sie unter höchster Steigerung der Aufmerksamkeit intensiv ausgeführt werden, ein hoher Lustbetrag eignet. Ist der Ablauf des Geschehens außerdem von E r f o l g begleitet, so wird die Funktionslust noch verstärkt durch die Freude am Gelingen (s. o. S. 49 f., 235). Daraus ergibt sich der pädagogische Grundsatz, alle reaktive Arbeit unter möglichster Intensität der Aufmerksamkeitszuwendung vorzunehmen und der Leistungsfähigkeit des Subjekts anzupassen. Diese funktionalen Betätigungen entbehren aber noch der R i c h t u n g . Als vorwiegend reaktive Verhaltungsweisen sind sie wohl bejahende Stellungnahmen und insofern spontan (i. w. S.), aber doch nicht der Ausfluß der Eigenrichtimg, der Selbststeuerung. Denn es ist eben das Wesen der Reaktivität, daß ihre Richtung von einem f r e m d e n W i l l e n gewiesen wird. Voraussetzung ist jedoch, daß das Subjekt diesem Einfluß mit größerer

241

Das fremdgerichtete Lernen

oder geringerer Erwartung gegenübersteht und bereit ist, der Führung zu

folgen.

Sonst könnte man mit

Recht von

»Passivität«

bzw.

von

Resistenz sprechen, welch letztere aber eine spontane Stellungnahme bedeuten würde. Man sollte jedoch nicht sagen, daß der Energiebetrag eines psychischen Prozesses »aus den momentanen Wahrnehmungen selbst« fließe (K. Lewin). Auch wenn R. Speich Reaktivität und Spontaneität in der Weise scheidet, daß erstere durch andere Erlebnisinhalte, z. B. eine Wahrnehmung, »provoziert« wird, letztere aber ohne erkennbaren äußeren Anlaß in Wirksamkeit tritt, so ist das wohl richtig, trifft aber nicht das W e s e n t l i c h e D e n n das Entscheidende ist immer die A r t eigener S t e l l u n g n a h m e , auch im Fall des Anreizes *. Danach ist zu unterscheiden das schlichte Hinnehmen eines Reizes, d. h. einer Bewußtseinsbestimmtheit als bindende Marschroute auf Grund einer bloß funktionalen Intention einerseits oder auf der andern Seite die wertende Auseinandersetzung mit einer »Anregung« auf Grund eines geistigen Gerichtetseins. (Vgl. auch S. 121 f.). Dort Reaktivität, hier Spontaneität. Ein äußerer Reiz ist nur die Voraussetzung einer Reaktion bzw. echten Spontanhandlung, kann also völlig wirkungslos bleiben, wenn die E n e r g i e , d. h. die Spannung der affektiven Situation, nicht vorhanden ist oder wenn sich die Person nicht danach richten w i l l . Es bleibt der »Aufforderungscharakter« eines Reizes unwirksam, wenn das Subjekt seiner determinierenden R i c h t u n g nicht zustimmt. Somit können wir verschiedene Arten des Sich-Ausrichtens unterscheiden, denen je nach dem Grad eigener geistiger Stellungnahme eine gewisse Besonderung eignet: einmal die R e a k t i v i t ä t , die nicht selbstgerichtet ist, insofern der Verlauf des funktionalen Beobachtens, Reproduzierens und Denkens, des Schaffens und Handelns, von einem fremden Willen her determiniert wird, sei es im Experiment (die Instruktion), sei es im gesellschaftlichen Leben

(Geführt-Werden).

Sodann die geistige

S p o n t a n e i t ä t , das autonome Gerichtetsein verantwortungsvollen Stellungnehmens (Führung).

Pädagogisch gesehen, wird im ersteren Fall der

Schüler vorwiegend geleitet, sei es, daß er dem V o r t r a g e des Lehrers mit- und nachdenkend folgt, sei es, daß^er auf die L e h r e r f r a g e »reagiert« 3. » Vgl. dazu Ch. Bühler, a. a. O. S. 222 ff.; R. Speich, a. a. O. S. 225 ff. — Auch nach G. Kafka kann »Reiz« (und Reaktion) nicht durch bloße Bezugnahme auf Umweltbedingungen definiert werden als Störung des Stoff- und Energiegleichgewichtes im Organismus, sondern setzt bereits »die Bezugnahme auf die spezifische und spontane Aktivität des Organismus« voraus. Es ergibt sich demnach, daß der »Reiz nicht als Wirkung der Umgebung auf ein passives System verstanden werden kann, daß er also seinem Wesen nach nicht in einem ruhenden System Bewegungen »auslöst« oder verursacht, sondern nur die Bewegungen eines spontan und autonom funktionierenden Systems zu modifizieren imstande ist.« G. Kafka, a. a. O. S. 232 ff. Vgl. die Ausführungen über Bedingungen und Richtkräfte oben S. 10 ff. 1 Auch zwischen dem funktionalen Bemerken eines Reizes und dem Bemerken-Wollen gibt es Übergänge, namentlich vom entwicklungspsychologischen Standpunkt betrachtet: »Das Bemerken ist also kein rein rezeptiver und passiver Vorgang, sondern erfolgt nur auf Grund eines spezifischen Bedürfnisses, das sich in der Ausführung (oder wenigstens in der Tendenz zu) einer zweckspezifischen Tätigkeit äußert«. G. Kafka, a. a. O. S. 251. 3 Also kann auch Kants Synthesis im Akte der »Spontaneität« fremdbestimmt d. h. reaktiv sein. Otto, Unterrichtslehre. 16

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Im letzteren Falle, dem wir uns erst später zuwenden werden, nimmt der Schüler spontan Stellung, d. h. er setzt sein eigenes Gerichtetsein durch, kann also auch selbst die Führung oder Mitführung, also auch die Verantwortung des Fragens übernehmen. E s wird gerade die besondere Kunst der Unterrichtsführung sein, die Jugend zur eigenen und ernsten Richtungs- und Stellungnahme »anzuregen«. Das ist der Sinn des F ü h r e r G r u n d s a t z e s : die Richtung geht vom einzelnen aus, der die Gefolgschaft in Freiheit und Ordnung mit sich fortreißt (s. die Allgemeine Erziehungslehre). Reaktivität und Spontaneität greifen aber in der Wirklichkeit der seelischen Gesamthaltung ineinander, aller einseitigen Theorie zum Trotz. Denn einerseits können auch Vortrag und Lehrerfrage (bzw. Aufforderung) gerade zu höchster Spontaneität (methodischer Besinnung!) anregen, andererseits kann die Technik der Schülerfrage zu gut funktionierenden Reaktionen herabsinken, was man gelegentlich in Versuchs- oder Besuchsschulen beobachten mag. — Die reaktiven Betätigungen dienen einmal der »Einübung« und sodann der Verfeinerung der Funktionen durch »Übung«. Vgl. oben S. 30 ff. sowie S. 1 1 2 ff. a) Die E i n ü b u n g der psychophysischen Funktionen. E s ist unmöglich, in diesem Zusammenhang die Theorie des Gedächtnisses, der Assoziation und Reproduktion, aufzurollen. Wir beschränken uns darauf, in Ergänzung der obigen Ausführungen (über das Lernen) einige wichtige Grundtatsachen der Einübung in Erinnerung zu bringen und sodann, in gedrängter Übersicht, zu zeigen, wie die I n t e n s i t ä t der gegenstandsgerichteten Aufmerksamkeit und damit zugleich der funktionalen Betätigung im Unterricht gesteigert und wie auf diese Weise ein Zwang vermieden werden kann 1 : l'icole active I Unter Assoziation verstehen wir die erstmalige Stiftung von Vorstellungsverbindungen simultaner oder sukzessiver Art: »materiale Schulung«! Reproduktion heißt das Wiederauftauchen (die Wiedererneuerung) früherer Eindrücke (Vorstellungen) auf Grund einer Disposition (i. w. Sinne). Es ist wohl zu unterscheiden zwischen der Aufnahmefähigkeit (Lernfähigkeit) des u n m i t t e l b a r e n B e h a l t e n s , das mit Erfolg geübt werden kann und dann bis in die zwanziger Jahre zunimmt, und der Erinnerungsfähigkeit des d a u e r n d e n F e s t h a l t e n s , d.h. der Treue des Gedächtnisses. Lernfähigkeit und dauerndes Behalten nehmen einen umgekehrten Entwicklungsgang: die Lernfähigkeit der jüngeren Kinder ist gering und nimmt mit steigendem Alter zu, die stetige Übung des Gedächtnisses vorausgesetzt; die Treue des Behaltens nimmt dagegen mit den Jahren ab. Von diesen Tatsachen ist wiederum zu unterscheiden die Ü b u n g s f ä h i g k e i t . Der Übungsfortschritt im Lernen ist bei Erwachsenen größer als bei Kindern; der Übnngsverlust der Kinder ist geringer als 1 Welche Bedeutung dem Fehlen gerichteter und gespannter Aufmerksamkeit bzw. dem Vorsatz zukommt, zeigen z. B. besonders auffällig P. Radossawljewitsch, Das Behalten und Vergessen bei Kindern und Erwachsenen, Päd. Monographien, i. Bd. Leipzig 1907, S. 127 f.; E . Siebenhaar, Über die Nachwirkung einer den natürlichen Anlagen entgegengesetzten Übung, Pädag.-Psych. Arbeiten, her. v. M. Brahn, Leipzig 1914, S. 1 ff. Vgl. auch O. Selz, Über die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Lernlust und Lernerfolg, Ztschr. f. Psych. 109 (1929), S. ¿91 ff.

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der der Erwachsenen. Die Lernfähigkeit (als formale Funktion) gewinnt durch Übung mehr als das (dauernde) Behalten. Die Pädagogik wird an diesen Tatsachen nicht vorübergehen können, vor allem aber beachten, daß der »Volksschüler« mit 14 Jahren noch nicht seine volle Schulungsfähigkeit erreicht hat. Überdies ist zu erwähnen, daß Kinder eine außerordentliche Langsamkeit im Reproduzieren besitzen und oft an Reproduktionsarmut leiden. Die Reproduktion ist daher um so wertloser, je schneller sie erfolgen soll. Damit entstehen mancherlei Bedenken gegen einen übertriebenen und prompten Antwort- und Frageunterricht I Die Intensität der Aufmerksamkeit und damit der Einübungserfolg kann in folgender Weise erhöht werden: 1. Durch Veranschaulichung des gesprochenen Wortes.

Wir handeln

hier wesentlich von der Anschauung als eines didaktischen Prinzips, wie es wohl seit alters her gepflegt, aber erst in neuerer Zeit tiefer erfaßt ist. Anschauung als reaktive Betätigung ist kein rezeptives Tun, sondern eine apperzeptive Erarbeitung durch Analyse und Synthese. E . Meumann hat bereits auseinandergesetzt, daß die alte Regel: »Von der Anschauung zum Begriff« nicht zutreffend ist. Wie das Denken auf Anschauung beruht, so wird die Anschauung auch ihrerseits vom »Denken« geleitet (Cl. Baeumker). Daraus ergibt sich die Forderung einer systematischen Schulung des Anschauungsprozesses, wobei sich Methodisch-Gegenständliches und Didaktisch-Subjektives eng berühren: Die Kinder sehen nur das, was sie kennen. Der Lehrer kann ihnen also in ihrer Hilflosigkeit zur Hand gehen. Einmal dadurch, daß er sich mit Pestalozzi »an die Nähe, mit welcher die Gegenstände ihre Sinne zu berühren pflegen«, hält. Pestalozzi getont daher (z. B. in »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt«), daß »die Klarheit meiner Erkenntnis von der Nähe oder Ferne der Gegenstände, die meine Sinne berühren«, abhängig ist. Jeglicher Unterricht wird daher auf die gegebene Wirklichkeit immer wieder zurückgreifen und so das Abstrakte verlebendigen. Zu dieser Wirklichkeit gehört auch das eigene Innenleben. In der Mathematik und ihrer Anwendung finden die bedeutungverleihenden Akte der signitiven Zeichen an dem didaktischen Mittel der Zeichnung, Kurven, bildstatischen Darstellungen, auch an Modellen, eine wesentliche Stütze; in den Naturwissenschaften an den eigenen Übungen und Experimenten '; für die Heimatkunde ist z. B. der Sandkasten von Bedeutung; für die Geschichte der Einblick in das politische Leben und Darstellungen in der Klasse (Th. Litt). Nach R. Hönigswald (a.a.O. S. 179 ff.) bedeutet pädagogisches Anschauen »methodisches Sehen«. Das pädagogisch Anschauliche ist niemals ein »Nur-Sinnliches«, sondern hat Sinn und Verstand nur »im Hinblick auf einen wissenschaftlichen Zusammenhang und dessen besondere Normen«. Erziehung zu korrekter Auffassung und Aussage! Die neuere Pädagogik bringt weniger den anschaulichen Gegenstand in die Klasse, als die Klasse an den Gegenstand in seiner umweltbezogenen 1 Im konkreten Falle des biologischen Unterrichts: Schul- und private Sammlungen, von Lehrern und Schülern (nicht Schüler zum Sammeln von Tieren anregen!), Schulgarten und Schulausflug (W. Schoenichen, Der biologische Lehrausflug), Beschaffung lebender Pflanzen und Tiere (z. B. Schnecke, Frosch, Fliege, Schmetterling usw.), Halten von Tieren, gelegentliche Beobachtung (Raupe — Schmetterling), Bücher und Zeitschriften (Kosmos!), Zeichnen im Heft und an der Tafel (charakteristische Lebensformen). Alle diese Möglichkeiten können gründlich ausgeschöpft werden, um die Methodik der Beobachtung zu lernen, Einzelerkenntnisse einzusehen und, didaktisch, die Aufmerksamkeit zu intensivieren.

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Ganzheit (Bedeutung des Schulgartens, des Schulausflugs, der Schulheime!). Dies »Heran an die Dinge« bedeutet einmal gesteigerte Intensität, dazu, erkenntnistheoretisch, Methode und »Ordnung« (Einsicht in die Lebensgemeinschaften!)! Die Intensität des Sachverhalts wird dadurch gesteigert, daß das Objekt entweder gezeichnet wird (Pestalozzi, Seinig!) oder (seit Fröbel) in seiner besonderen Struktur im A k t e des Nachschaffens erobert w i r d 1 . Das bedeutet wiederum eine Verfestigung des assoziierenden Lernens, höchste Intensität als Vermeidung bzw. Überwindung äußeren Zwangs wie auch methodische Klärung des Erkennens und Verstehens! Vielleicht ist der höchste Sinn der Veranschaulichung aber der, daß die Jugend nicht nur sachlich »an die Dinge herangebracht« wird, sondern an die Menschen, so wie sie es treiben, und daß sie schüeßlich in der persönlichen Selbstdarstellung des eigenen Seins in rhythmischer Gymnastik oder im darstellenden Spiel a n s i c h herankommen, an ihr metaphysisches Ich. 2. Steigerung der Aufmerksamkeitsspannung durch die S t ä r k e des sinnlichen Eindrucks, und zwar unter verschiedenen Formen. Zunächst rein technisch-funktional durch das Mittel des Chorsprechens. Ohne Chorsprechen kein Sprachunterricht! Sodann im Sprechchor Durchseelung des Gehalts im Erlebnis der Gemeinschaft. Deutliche Sprache des Lehrers und der Schüler; klare Schrift in den Heften und an der Tafel; Verwendung verschiedener Farben für Zeichnungen und Skizzen; Freiheit vom Buch (und Notizbuch) zwecks Ausschaltung von Hemmungen und Störungen; Intensität des Epochalunterrichts bzw. der Blockstunden, d. h. der ganzheitlichen Arbeitszeit. 3. Erhöhung der Intensität durch Inanspruchnahme m e h r e r e r S i n n e . Diese A r t der Komplexbildung ist schon von Comenius (verba et res) wie seinen Nachfolgern, ebenso von Pestalozzi eindringlich empfohlen worden: »Verstärke« und »verdeutliche« die Eindrücke wichtiger Gegenstände dadurch, daß du sie »durch verschiedene Sinne auf dich wirken machst«. Rücksicht auf verschiedene Vorstellungstypen! Sprechen und Hören der Worte, Sehen und Zeichnen der Objekte; dazu Handeln in der Darstellung des Gelesenen! Die Wandtafel kann in der Schule recht verschiedenen Zwecken dienen: dem Üben und dem Prüfen der Schüler; in beiden Fällen ist es dann gut, wenn die Wände mit großen Tafelflächen bedeckt sind. Weiterhin kann die Wandtafel auch der Veranschaulichung des gesprochenen Wortes dienstbar gemacht werden; im letzteren Falle vertritt der vorgerufene Schüler den Lehrer, der sich nun der Klasse zuwenden kann, während der Schüler an der Tafel gewöhnlich das veranschaulicht, was die Schülerschaft mündlich oder schriftlich erarbeitet. 1 O. Seinig, a. a. O. S. 14 f. —

M. Herberg, Biologischer Arbeitsunterricht, Handb. f.

höh. Schulen, Leipzig 1927, S. 70, unterscheidet die »Merk-«, die »Protokoll-« und die »Forschungszeichnung«.

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4. Wechsel der Aufmerksamkeitsstärke durch V a r i a t i o n des Gegenstandes. Das Neue und Unerwartete erregt die Aufmerksamkeit, sei es in der Darbietung des gesprochenen Wortes (Abwechslung der Tonstärke), sei es in der anschaulichen Repräsentation: Kontrastenergie. Abwechslung im Unterricht; Kurzstunden für Jüngere! Film, Grammophon und Rundfunk; die Zeitung im Unterricht! Andererseits fesselt gerade das Bekannte: Anknüpfung an bereite Dispositionen. Dazu auch die Mnemotechnik! 5. K r a f t e r s p a r n i s durch S t r u k t u r i e r u n g des Lernstoffes. K. Koffka und W. Köhler haben uns gezeigt, daß alles Lernen (i. w. S.) die »Entstehung von Strukturen« fordert, wobei Struktur ein solches Zusammensein von Phänomenen bedeutet, in dem jedes Glied »das andere trägt«. Einfluß von Rhythmus im einzelnen und im ganzen (vgl. Krieck, a. a. O. S. 361 f.), von Reim, von Alliteration und Assonanz! Durch das Strukturieren wird seelische Energie frei, die nunmehr wieder andere Verwendung finden kann. 6. K r a f t e r s p a r n i s durch angemessene Verteilung der W i e d e r holungen. Die intensivierende Dauer eines Eindrucks kann durch Wiederholungen ersetzt werden. Die erste Darbietung an einem Tage hat den höchsten Einprägungswert; die zweite steht ihm nur wenig nach. Im allgemeinen kann man demnach sagen: je größer bei gleicher Gesamtzahl der Wiederholungen die Anzahl der Erst- und Zweitwiederholungen ist, um so größer ist schließlich die Stärke der Dispositionen. Vorteile des Lernens, beispielsweise eines Gedichts, im ganzen (: keine schädlichen Assoziationen, Unterstützung durch den Sinn) und in Teilen (: besondere Wiederholung der schwierigen Stellen); also vermittelndes Verfahren (Meumann, Vorlesungen III). Die Schüler auf diese Zusammenhänge hinweisen und ihnen so die Arbeit erleichtern! 7. Erregung der willkürlichen Aufmerksamkeit. Sich selbst abfragen während des Lernens: sich besinnen. Die Schüler untereinander fragen lassen. Gesichtspunkte der Fragestellung variieren, z. B. Quer- und Längsschnitt im Geschichtsunterricht. Die immanente Wiederholung, z. B. im Sprachunterricht (Vokabeln!), zum Teil auch unwillkürlich. Erregung der Aufmerksamkeit durch überraschende Ergebnisse. Zusammenfassende Überblicke über ein Ganzes. 8. L u s t v o l l e bzw. unlustbetonte Einbettung im Erlebnisunterricht (vgl. oben S. 48 t.). Fernhalten zu starker Affekte, namentlich der Depression; Frische des Gesamtzustandes; Vorteile der ruhigen und heiteren Gemütslage. Denn das ist ja gerade der Sinn dieser Unterrichtsführung: Erregung der unwillkürlichen und dazu der willkürlichen Aufmerksamkeit, nicht etwa durch Zwang, sondern durch erfolgreiche freudige Arbeit, im Sinne P. G. Münchs. Eine derartige flotte Betriebsamkeit des »schmissi-

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

gen« Lehrers bereitet namentlich den Schülern der unteren Klassen viel »Vergnügen«, was ich an einem ausführlichen Beispiel weiter unten darzutun gedenke (Spracherlernung). Eine besondere Art des assoziierenden Lernens ist die sittlich-religiöse Festigung des handelnden Menschen, die Einübung fester »Gewohnheiten« der leiblichen Sauberkeit, der geistigen Ordnimg. Von diesen Gewohnheiten wertverwurzelter Lebensführung, d. h. eines Nicht-andershandeln-Könnens, ist die sensumotorische, d. h. also funktionale Mechanisierung bloßer Betätigungen wohl zu unterscheiden Durch diese funktionale »Gewöhnung« (Fr. Zeugner) kann der echten Erziehimg allerdings weithin vorgearbeitet werden. Feste »Gewohnheiten« wertvollen Handelns werden sich aber erst da bilden, wo die selbstverständlichen Überlieferungen eines bestimmten Lebenskreises gepflegt werden und wo die Fremdbeherrschung allmählich hinübergleitet in die Selbstbestimmung der Spontaneität. Wir haben im vorstehenden gezeigt, wie durch immanente Steigerung der Aufmerksamkeit der Zwang des Einübens wesentlich herabgemindert werden kann. Wir nennen diese Schulung »material«, insofern hier die assoziative Festigung von Bewußtseinsbestimmtheiten (von »Inhalten«!) sensorischer und motorischer Art vorliegt. — b) Nunmehr wenden wir uns zu der formalen Schulung des Übens, zur differenzierenden Ausstrukturierung der leibseelischen Funktionen. Natürlich werden in diesem Falle nicht etwa gesonderte Fähigkeiten an sich »formal« geübt, sondern auswählende Reaktionen und Zuordnungen ganz bestimmter Sachlagen. Auch diese »Betätigungen« werden durch angespannte Aufmerksamkeit erfolgreicher durchgeführt und gehen in der Steigerung lustbetonter Reaktivität um so »freier« vonstatten. i. Die Übung der Sinneswahrnehmungen und der Beobachtungsfähigkeit ist für den praktischen wie auch für den theoretischen Menschen eine unumgängliche Notwendigkeit (J. Dewey, a. a. O. S. I 0 4 f f . ) . Vgl. oben S. 32 ff. und 114 f. Die Wahrnehmungen des Kindes sind ungenau und unvollständig, emotional-persönlich gefärbt. Die Aufmerksamkeitsrichtung wird -wesentlich bestimmt durch die gesetzliche Entwicklung bestimmter Beobachtungskategorien (W. Stern, Schröbler, Vieweg). Weiterhin besteht immer die Gefahr, auch bei Erwachsenen, daß Erinnerung und Phantasie die Beobachtungen nachträglich verfälschen. Erst die erhöhte Aufmerksamkeitsspannung sowie die systematisch-willkürlich geübte Beobachtung vermögen die Klarheit und Deutlichkeit der 1

Auch John Dewey, Human Nature and Conduct, S. 40 ff., 1 7 2 ff., unterscheidet zwischen zwei Arten des habit: intelligent and routine. »Habit means special sensitiveness or accessibility to certain classes of stimuli, standing predilections and aversions, rather than bare recurrence of specific acts. It means will.« J . Ratner, The Philosophy of John Dewey, London 1928, S. 261 £f., 286 ft.

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Eindrücke auf Grund älterer Vorstellungen im beziehenden, analysierenden und synthetischen Denken zu verbürgen. Das ist wichtig für Wissenschaft (und Kunstbetrachtung) wie auch für das praktische Schaffen und gesellschaftlich-angemessene Handeln (Psychologie der Aussage!). Demnach greifen sinnliche Wahrnehmung, Vorstellungsbestand und Urteile zwecks methodischer Beobachtung und didaktischer Belebung der Unterrichtsführung ineinander. Die Steigerung intensiver Betätigung, einschließlich des Zeichnens und des manuellen Schaffens ermöglichen es, die ziel- und planmäßige Schulung der Beobachtungsfähigkeit und die angemessene Zuordnung der Sinne und motorischen Funktionen in den Grenzen individueller Veranlagung zwanglos zu fördern. 2. Die Ü b u n g des G e d ä c h t n i s s e s ist ein immanenter Teil jeglichen Unterrichts und bedarf daher nicht mehr einer besonderen systematischen Übung. Die Schulung des D e n k e n s ist für viele Pädagogen das eigentliche Kernstück der sogenannten »formalen Bildung«. U n d in der T a t wird niemand die weittragende Bedeutung des beziehenden Denkens für Theorie und Praxis wie für das gesellschaftliche Leben anzweifeln wollen. In jüngerer Zeit ist schließlich auch die praktische Tätigkeit schaffender Handbetätigung in den Kreis der »formalen Übung« einbezogen. Der Ansporn intensiver Hingabe an die Sache hat aber über die bloße Vervollkommnung der Funktionen hinaus noch einen sittlichen K e r n . Die Schule vorwiegender Rezeptivität war nicht nur eine Stätte der Gleichgültigkeit, sondern sehr häufig der Kampfplatz der Schüler gegeneinander, des unlauteren Wettbewerbs oder der Auflehnung gegen den Lehrer. Somit wurde die Frage der Schulzucht, der Störung und der Unaufmerksamkeit, zu einem wesentlichen Bestandteil der früheren Pädagogik. Die Schule der Aktivität, der Reaktivität oder Spontaneität, keimt dieses Problem nicht: »Das beschäftigte K i n d ist immer artig.« D a s leitet bereits hinüber zum Problemkreis der Spontaneität. L i t e r a t u r : Cl. Bäumker, Anschauung und Denken, Paderborn 1921. — Ch. Bühler, Zwei Grundtypen von Lebensprozessen, Ztschr. f. Psych. 108 (1928). — A. Buchenau, Abriß d. Psych., Berlin u. Leipzig 1918. — J . Dewey, Demokratie und Erziehung, deutsch von E. Hylla, Breslau 1930. — F. X. Eggersdorf er, Jugendbildung, Allgemeine Theorie des Schulunterrichts, München 1928. — R. Honigswald. Über die Grundlagen der Pädagogik, München 1927. — G. Kafka, Die Bedeutung des Behaviorismus für die vgl. Psychologie und Biologie, Ber. über d. XII. Kongreß d. Deutschen Ges. f. Psych., Jena 1932. — E. Krieck, Menschenformung, Leipzig 1925. — K. Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin 1926. — E. Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen I (1911), I I (1920), III (1914), Leipzig u. Berlin; Abriß der experimentellen Pädagogik, ebd. 1921. — G. E. Müller, Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit und des Vorstellungsverlaufes, I. u. III. Teil, Ergänzungsband 5 u. 8 der Ztschr. f. Psych., Leipzig 1911 u. 1924. — M. Offner, Das Gedächtnis, Berlin 1924. — J . Ratner, The Philosophy of John Dewey, London 1928. — F. Scola, Untersuchungen zur Frage der automatischen Reproduktion, Arch. f. d. ges. Psych. 75 (1930). — E. Schröbler, Die Entwicklung der Auffassungskategorien beim Kinde, Dissertation Leipzig 1913. — O. Seinig, Die redende Hand, Leipzig 1923. — R. Speich, Reproduktion und psychische Aktivität, Arch. f. d. ges. Psych. 59 (1927). — W. Stern, Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt, Leipzig 1904. — J . Vieweg, Die Stufen der geistigen Entwicklung, Ztschr. f. angew. Psych. 18 (1921). — J . B. Watson, Der Behaviorismus, Berlin u. Leipzig

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Der Leistungsunterricht

(Didaktik)

1930. — Fr. Zeugner, Das Problem der Gewöhnung in der Erziehung, Göttinger Studien zur Pädagogik, 12. Heft, Langensalza-Berlin-Leipzig o. J. —

B. Das s e l b s t g e r i c h t e t e L e r n e n ( S p o n t a n e i t ä t ) . Die im vorstehenden Abschnitt behandelte Fremdgerichtetheit ist ihrem Wesen nach funktionale, also geistig-indifferente Ausrichtung nach der Gerichtetheit eines andern, d. h. nach dem Lehrer. Sie entspricht der Formel: »Ich schließe mich den Ausführungen meines verehrten Vorredners an.« Sinn und Aufgabe dieses reaktiven Geführt-Werdens ist es, den Widerstand und damit den Z w a n g herabzumindern bzw. gar nicht aufkommen zu lassen durch die flotte G e s c h ä f t i g k e i t eines intensivierten »Betriebes«. Jede echte Führung durch Unterricht wird aber weiterdrängen zu einer F r e i h e i t der S p o n t a n e i t ä t , die dem Wesen und der Würde des Vernunftmenschen gerecht wird, den Schüler demgemäß an der Führung teilnehmen läßt. Der Motor einer solchen Menschenführung ist dann nicht mehr die bloße Funktionslust, sondern das geistige und freudige Gerichtetsein auf das Reich der Werte. Die Zielsetzung ist nicht »Schulung« durch Üben und Einüben, sondern »Bildung« im freien Prozeß der Selbstausrichtung. Die Spannung zwischen der Grenzenlosigkeit irrationaler Sehnsucht und der mit dem Faktum »Kultur« nun einmal gesetzten überpersönlichen Ordnung eines geregelten Unterrichts wie des gesellschaftlichen Lebens läßt gleich im vornherein die Schwierigkeit einer bequemen Lösung — wenn überhaupt einer annähernden Lösung — der Problematik Ordnung und Freiheit im grellen Licht erscheinen. Wenn man ganz allgemein unter der Selbstgerichtetheit alles Organischen die triebhafte Gerichtetheit verstehen kann (S. 17ff.), so nimmt dieser Terminus in der menschlichen Sphäre den Sinn an: W e r t g e r i c h t e t h e i t des v e r a n t w o r t u n g s v o l l e n Vernunftmenschen. Im Hinblick auf die Pflicht der Verantwortlichkeit sprechen wir im folgenden nicht von Arbeits-, sondern von L e i s t u n g s u n t e r r i c h t . Fr. Aug. Wolf (a. a. O. S. 81 ff.) unterscheidet zwei Arten von Lehrern: »die für sich kein eigenes Studium treiben, in keiner Wissenschaft eifrig fortschreiten und in der Welt Proben zu geben gedenken, sondern zufrieden sind, wenn sie nur stets das zu jeder Klasse Gehörige mit etwas Leben und Wohlbehagen vortragen.

Sie haben ein gewisses Geschick,

das ihnen längst Bekannte mitzuteilen, daß es den Schülern neu und anlockend erscheint. . . . Eine zweite Gattung von Lehrern besteht in solchen, die in irgendeiner Wissenschaft mit eigener Erfindung arbeiten und ihre Schüler mit Ideen erwärmen.

Die Natur, das Leben,

das Weltall spricht durch sie, und die Schüler eilen ihnen mit Vergnügen zu«. Das ist letzthin das Fichtesche Ideal des Gelehrten, des geistig Sehenden, des Führers der Menschheit.

Es ist nicht zu umgehen, diese »Belebung des Geistes«, die in ihrer ursprünglichen Einheit teils methodisch, teils didaktisch ist, im engsten Zusammenhang mit zwei wichtigen Problemkreisen zu behandeln: dem Problem der »formalen Bildung« und dem des Gesamtunterrichts.

Das selbstgerichtete Lernen

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Denn auch an der Spontaneität haben wir zu unterscheiden zwischen der seelischen Spannung, der »Energie«, und der »Richtung« geistiger Sehnsucht. Wir haben im vorstehenden gesehen, daß Übung und Einübung wohl die besonderen Eigenschaften der psychophysischen Funktionen »schulen«, an der Intensität der seelischen Spannung selbst aber nichts zu ändern vermögen. Wie bereits erwähnt, ist auch die Intensität der spontanen Stellungnahme keiner willkürlichen Steigerung zugänglich. Veränderlich ist einzig und allein die R i c h t u n g der spontanen Stellungnahme auf das Reich der Werte. Der Bildungsakt wird sich somit darauf beschränken müssen, einmal der Wertrichtung nach, den spontanen Willen des autonomen Menschen auf den »höchstmöglichen« Wert hinzurichten, den Weg zum höchsten Ziel aus letzten Bedürfnissen heraus freizumachen (Wertempfänglichkeit) und das Triebleben diesen Aufgaben einzuordnen. Sodann, der Wertnorm nach, die Wertstrebungen aller Art, das Forschen und Schaffen und Handeln, möglichst echt zu gestalten. Uber das »Was« des Gegenstandes ist im 3. Teil gehandelt worden; hier steht das »Wie« der Unterrichtsführung zur Erörterung. Um uns Wesen und Wirkung der S p o n t a n e i t ä t zu vergegenwärtigen, knüpfen -wir nunmehr an die historische Entwicklung des Begriffs einer »formalen Bildung« an 1 . Sie war bereits eine Einsicht des Leibniz-Wolffschen Gedankenkreises, und zwar in dem Sinn einer funktionalen S c h u l u n g , wesentlich intellektuellen Gepräges. Erst W. v. Humboldt hat diesen Begriff zu der Idee geistiger B i l d u n g vertieft, und zwar durch Verschmelzung der neuhumanistischen und der transzendentalphilosophischen Geisteshaltung. Der Sinn dieser Bildungsidee umfaßt mehrere Gesichtspunkte: Erstens setzt er, im Sinne der oben erörterten Strukturwissenschaften (i68f.) und Kulturkunde, die Einheit des B i l d u n g s g u t e s als eines strukturierten Ganzen voraus. Humboldt hatte allerdings wesentlich die griechische S p r a c h e in das Zentrum des neuen Gymnasiums gerückt, nicht die griechische Kultur. Sprache bedeutet ihm, der immer auf Allheit und Einheit der wissenschaftlichen Betrachtung drängte, der wesensimmanente Ausdruck einer spezifischen Geisteshaltung, namentlich einer besonderen Volkskultur (Ges. Schriften IV, S. 420 fi.). Mit der Sprache bemächtigt man sich zugleich des in der Sprache verkörperten Sach- und Sinngehalts (Ges. Sehr. VII, 2, S.640Ü.). Zweitens soll das Bildungsgut nicht bloß »übermittelt«, sondern in einem Prozeß der Schöpfung vom Lernenden immer wieder neu erzeugt werden. Sprache ist nicht ergbn, ein Fertiges, das man funktionell übernimmt, sondern energeia, ein Seelisches, ewig Werdendes und Wirkendes, das man im geistigen Ringen erobert. Demgemäß muß auch das Unterrichtsverfahren ein Akt der S p o n t a n e i t ä t sein, und zwar des ganzen Menschen, nicht bloße »Betätigung« der Funktionen, sondern eingebettet in die tiefsten Bedürfnisse und Forderungen einer Lebensganzheit (Struktur). Damit knüpft Humboldt an Pestalozzi und an Fichte an, der in der zweiten Rede ganz besonders die »Selbsttätigkeit« des »angeregten« Zöglings hervorhebt. Da er eben »selbsttätig« ist, vermag er gar nichts lieber tun denn lernen. Immer 1 Vgl. die grundlegenden Ausführungen in Ed. Spranger, Wilhelm v. Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin ¿928, sowie die wertvollen Ergänzungen Fr. Kreis', Die Idee der »formalen« Bildung und ihre philosophischen Voraussetzungen, Die pädagogische Hochschule III (1931), Heft 2. Dazu die Ausführungen oben S. 37 f.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

•wieder kommt Fichte auf die Bedeutung dieses »Anregens« zurück. In der Schrift: »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin« (1810?) betont Humboldt, daß die staatliche Organisation ihrerseits darauf sehen müsse, die »Tätigkeit immer in der regsten und stärksten Lebendigkeit zu erhalten« (vgl.: ReaktivitätI); überdies sei die Jugend so zu führen, daß sie der »Freiheit und Selbsttätigkeit« überlassen werden kann, vom »Zwange« entbunden, »eine Sehnsucht in sich trage«, die »Wissenschaft als solche zu suchen« (Spontaneität!). Im Geiste Goethes, Schillers, Humboldts und Schleiermachers wurde nun in einem amtlichen Entwurf den Schulen Preußens die Aufgabe gestellt, »die Grundkraft der menschlichen Natur in den verschiedenen Zweigen anzuregen, zu wecken, im allgemeinen zu üben und zu entwickeln« ». Darüber hinaus versuchte Freiherr vom Stein die gesamte Reorganisation des Staates auf die Erweckung aller spontanen Kräfte in der Nation zu gründen: politische Freiheit, selbstverantwortliche Mitbestimmung und harmonische Zusammenarbeit aller Schichten im Volksstaat, das ist der Ganzheitsgedanke, die Einheit Preußens und Österreichs innerhalb eines europäischen Staatenbundes. Drittens: die Idee der Bildung als eines geistigen Werdens und Sich-Formens aus den letzten m e t a p h y s i s c h e n Kräften einer L e b e n s g a n z h e i t führt zu einer Auffassung von »Konzentration«, die wir bereits oben (S. 102 f.) gestreift haben und erst in den letzten Abschnitten im einzelnen verfolgen können. Es besteht nämlich ein fundamentaler Unterschied zwischen Schulung und Bildung, woran bereits des öftern zu erinnern war. Schulung betrifft die Vervollkommnung dieser oder jener Einzelfunktion; Bildung ist Formung, und zwar des ganzen, in sich selbst ruhenden Menschen in der Wechselwirkung der Menschheit (Ges. Sehr. I S. 282 fi.). Es ist die Überzeugung der Transzendentalphilosophie, daß sich nicht das Subjekt nach dem Objekt richte, sondern daß die überempirische Subjektivität den Rechtsgrund aller Objektivität (Normativität) in sich schließt und damit verbürgt. Aber es war erst Fichte vorbehalten, das tätig-handelnde, freie Ich als Persönlichkeit zu entdecken; während das theoretische Ich immer noch unselbständig ist, in bezug auf den Gegenstand, greift das handelnde Ich selbstherrlich über sich hinaus. Das produktive Ich ist nach dem folgerichtigen Idealismus demnach ein bestimmtes Tun und Handeln, indem die Gesetze des Bewußtseins, als der reinen Spontaneität, aus ihm selber hervorgebracht werden. Das Handeln als Ausdruck der Freiheit ist gut, weil es Wirken und damit Verwirklichung der Freiheit ist. Die sittlich-spontane Tätigkeit verantwortlichen Handelns wird somit zum höchsten Wert. Aufgabe der neuen Erziehung ist es aber, den »festen und nicht weiter schwankenden Willen« zum Guten als »inniges Wohlgefallen« hervorzubringen. Hier liegt die Quelle der reinen »Selbsttätigkeit« des Zöglings'. Die synthetischen Fähigkeiten des Bewußtseins, Geisteskraft und Tathandlung ermöglichen schließlich erst die »Geistesform« des Menschen. Hat Kant die Wendung zum. Subjekt vollbracht, dazu Fichte den Eigenwert der spontan-produktiven Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft vorgezeichnet, so lehrt und lebt nun Humboldt darüber hinaus die Bedeutung der u n i v e r s a l e n und t o t a l e n I n d i v i d u a l i t ä t , der sich s e l b s t d a r s t e l l e n d e n Persönlichkeit g e i s t i g g e f o r m t e n M e n s c h e n t u m s . »Der wahre Zweck des Menschen« ist »die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung 3. Hat schon Fichte die Bedeutung des 1

Vgl. W. Dilthey, Süvern, Gesammelte Schriften IV, 1921, S. 499. » Vgl. Fichte, 2. Rede; N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus I, Berlin und Leipzig 1923, S. 43 ff. 3 WL v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 2. Abschn. Ges. Schriften I, Berlin 1903. — Vgl. dazu oben: der bildende Wert der Kunst.

Das selbstgerichtete Lernen

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spontan-handelnden Menschen iör die »Ordnung der Dinge« und für die »gesellschaftliche Ordnung der Menschen« eingesehen, dazu auch betont, daß »durch diese Liebe sein Selbst erhöhet« werde, so mündet die gelebte Kultur eines Humboldt aus in die P f l i c h t des Menschentums zur Selbstdarstellung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft. Und das einheitliche Studium der griechischen Sprache schien ihm dazu das vornehmste Mittel zu sein.

Zusammenfassend stellen wir fest: Die objektive Ganzheit des Bildungsgutes (Konzentration!) und dazu die subj e k t i v - p s y c h o l o g i s c h e Ganzheit des persönlichen Bildungsprozesses ermöglichen erst die m e t a physische Ganzheit geformter Persönlichkeit im Sinne der formalen Bildung Humboldt-Süverns. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sprechen wir in diesem Falle statt von »formaler«, besser von »formender Bildung«, da sich der Ausdruck »formale Bildung« im Sinne einer bloß »funktionalen Schulung« doch zu sehr eingebürgert hat. Aus den gegebenen Darlegungen geht hervor, daß die Idee der Spontaneität nicht zu verwechseln ist mit dem Gedanken der Produktivität. Wenn die Schüler z. B. im Geschichtsunterricht den Stoff an den Quellen »erarbeiten« sollten im Sinne der produktiven Forschung, so ist das grundsätzlich verfehlt. Verständnis und Wissen kann aber »spontan« errungen werden unter Führung des Lehrers, der Mitführung der Schüler. — Es gilt nun, die inneren Zusammenhänge zwischen einer wissenschaftlichen Didaktik der Spontaneität und der Ganzheits-Idee formender Bildung einzusehen und im einzelnen darzulegen. Zu diesem Zwecke knüpfen wir an das Prinzip des G e s a m t u n t e r r i c h t s an. Überblickt man die verschiedenen Arten planmäßigen Gesamtunterrichts, so laufen in diesem Unterrichtsprinzip ganz verschiedene und sich durchkreuzende Tendenzen durcheinander. Man kann folgende Arten unterscheiden (vgl. P. Reiniger):

I. Formen des » s y n t h e t i s c h e n U n t e r r i c h t s « (in Herbarts Sinne), d. h. der Stoffdarbietung: 1. Der Gelegenheitsunterricht: Anknüpfen an Geschautes und Gehörtes in Schule und Garten, in der Heimat und in der Welt, an Zeitungen und Briefe, an Reisen und Wanderungen, an Film und Radio, an Auskünfte von Besuchern der Schule usw. 2. Der Unterricht in geschlossenen Sachkreisen: systematische Auswahl der Kulturgüter in einem geregelten Gesamtplan, z. B. nach »Lebensgebieten« (K. Linke, der Heimatgedanke!). II. Formen »analytischen Unterrichts« (in Herbarts Sinne), d.h. Arten der S t o f f v e r a r b e i t u n g (vgl. oben S. 23 f., 147 f.): 1. Berthold Ottos GesamtunterrichtDer Zusammenhang der Wissenschaften und der Menschen ist uns im Spezialistentum des gefächerten Unterrichts immer mehr verloren gegangen (Zwang I). Wir wollen die Kinder fälschlicherweise nach einem Weltbild modeln, statt sie in ihrem Suchen fragen zu lassen, wie sich die Kinder in der F a m i l i e »fragend an die Eltern« wenden (Freiheit! Spontaneität!). Lehrer und Schüler, in Gesamtheit der ganzen 1

Erste pädagogische Flugschrift des Berthold-Otto-Vereins E. V., Berlin-LichterfeldeWest (Vortrag vom 21. X. 1913).

252

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Schule oder nach Stufen zusammengefaßt, geben Antworten, soweit sie Bescheid wissen. Flaut die Aufmerksamkeit ab, so ist der Stoff zu wechseln, um die Aufmerksamkeit anzuspornen (Reaktivität!). Dieser gelegentliche Gesamtunterricht lenkt nicht von dem Interesse der einzelnen Fächer ab, sondern stärkt es vielmehr und weist jedem Fache allmählich seinen Platz an »innerhalb der großen Gesamtheit der Erkenntnis, innerhalb des ganzen Weltbildes« (Methodik!). Zu dieser objektiven Ordnung der Wissenschaften, im ganzen des Weltbildes, tritt die einheitliche Orientierung und das Erlebnis des einzelnen Menschen, des ganzen Volkes, der ganzen Menschheit. — Gesamtunterricht in jeder Hinsicht, objektiv und subjektiv! 2. Unterricht unter w e c h s e l n d e m Leitgedanken. U n g e f ä c h e r t e r U n t e r r i c h t , in dem ein Gegenstand oder eine Idee die Stoffauswahl für einige Zeit b e s t i m m t z . B. das Leben der Biene (mit Besuch bei einem Imker). Vgl. auch die Stoffgruppierungen bei G. Klemm und H. Ohms. Unterricht in S a c h f ä c h e r g r u p p e n . Solche Gruppen sind die sprachlich-geschichtliche, die künstlerisch-technische, die mathematisch-naturwissenschaftliche Gruppe, z.B. R. Seyferts »Arbeitskunde«. Jetzt erfolgt Auswahl und Zusammenfassung nicht mehr nach Wirklichkeitsgegebenheiten (Heimatkunde), sondern bereits nach der methodischen Betrachtungsweise. Derartige Forderungen führen zur Einrichtung von Epochalunterricht, von »Fachtagen« oder wenigstens zur Zusammenlegung verwandter Fächer oder aller bzw. mehrerer Stunden (Blockstunden) desselben Gebietes 1 ; amerikanische Versuche! Am Ende dieser Reihe steht der gefächerte »Stundenplan«.

Überblicken wir diese verschiedenen Arten von »Konzentration«, von der Mannigfaltigkeit des Gesamtunterrichts angefangen bis zum gefächerten Unterricht, so scheint eine Gruppierung nach einem einheitlichen Prinzip unmöglich. In der Tat durchkreuzen sich hier bei schärferem Zusehen folgende Gesichtspunkte: Erstens: die Vertreter des Gesamtunterrichts drängen darauf hin, die geordnete Ganzheit des sachlich-objektiven Bildungsgutes im Unterricht zu wahren 3. Das Verfahren der Sonderwissenschaften zerreißt aber die Zusammenhänge des wirklichen Lebens. Daher werden in der Schule gerade die wechselseitigen Beziehungen zwischen Landschaft und Mensch in der Heimatkunde (Siedlung, Verkehr) wie in der Deutschkunde (J. Nadler!) herausgearbeitet. Damit erschließt sich uns die bisher sehr strittige Idee der »Kunde«: sie will wissenschaftsmethodisch die gegenständlichen Sinn-Zusammenhänge verschiedener Wissenschaftsgebiete wahren. So z. B. P. Petersens kulturkundliche bzw. naturkundliche Gruppenarbeit. 1

Martin Spielhagen, Das Eigenrecht der Fächer im Gesamtunterricht, Sammlung »Landschulleben«, Heft 10, Langensalza-Berlin-Leipzig 1930, S. 25 ff. 2 Vgl. die in der Ztschr. f. pädagogische Psychologie 32 (1931), Heft 7—8, dargelegten Erfahrungen. 3 Comenius begründet das Versagen der Schüler auch damit: »quod quae natura iuncta sunt, non iunctim sumebantur, sed per divortium«, Didactica magna XIX, vol. IV, Brünn (Brno) 1*913, S. 263. Vgl. damit die Anlage des Orbis Pictus, Comenius' Begründung in des Prodomus Pansophiae XVIII (99): Parallelismus (Harmonie, ratio) in Ding, Begriff und Wort. Ebenso die Ausführungen der Delineatio (Idee der »Ordnung«).

Das selbstgerichtete Lernen

253

Auf der andern Seite treten dieser Ganzheit des Unterrichts noch andere Forderungen, und zwar wiederum methodischer Art, entgegen, insofern die verschiedenen Kulturgüter je nach dem Wissenschaftscharakter ihres Gegenstandes v e r s c h i e d e n e methodische Betrachtungsweisen erheischen, wie im 3. Teil ausführlich dargelegt ist. Infolgedessen sind die »stofflichen Querverbindungen« des Gesamtunterrichts nur soweit zulässig, als wirklich bestehende Sinn-Zusammenhänge einheitlicher Kulturbezirke vorliegen. Darüber hinaus führen die Querverbindungen, wie der uferlose Gesamtunterricht, zu Vergewaltigungen der Einzeldisziplinen. Man wird also gut tun, auch dies Prinzip nicht zu überspannen. Man überprüfe, wie immer von einsichtsvollen Schulmännern die Grenzen des Gesamtunterrichts gefühlt bzw. aufgewiesen sind: die Grenze liegt da, wo das Einzelfach seine wesensimmanente Betrachtungsweise fordert auf Grund seines systematisch-methodischen Wissenschaftscharakters. Diese Frage beunruhigt den Lehrer weniger in den oben erwähnten Formen des »synthetischen Unterrichts«, der namentlich in den Unterklassen der Grundschule seine Stelle hat; wohl aber drängt sie mehr und mehr zur entscheidenden Stellungnahme in den Formen des »analytischen Unterrichts«, in der methodischen Behandlung der Einzeldisziplinen auf der Oberstufe aller Schulen. Denn vom Standpunkt der Methode konstituiert die wissenschaftliche Betrachtungsweise erst ihren Gegenstand, indem man ihn den verschiedenen Betrachtungsweisen unterwirft und ihn erst auf diese Weise »möglich« macht seitens des erkennenden und verstehenden Subjekts.

Zweitens: In den schwankenden Begriff des Gesamtunterrichts fließen nicht nur zwei verschiedene methodische Gesichtspunkte ein, sondern auch ein didaktisches Prinzip. Sobald nämlich die Notwendigkeiten des wissenschaftlichen Forschens bzw. praktischen Gestaltens (Material!) ihre gesetzlichen Ansprüche zurückstellen und nunmehr die Forderungen des zu bildenden S u b j e k t s innerhalb der A r b e i t s g e m e i n s c h a f t stärker hervortreten, da liegen didaktische Gesichtspunkte vor. Wo immer die Frage des Gesamtunterrichts in der Literatur erörtert wird, ist es daher lehrreich zu beobachten, wie die Verfasser nicht nur zwischen den beiden methodischen Forderungen, sondern auch zwischen diesen und didaktischen Erwägungen hin und her geworfen werden: zwischen den objektiv-sachlichen Notwendigkeiten des Gegenstandes und den subjektiv-persönlichen Rücksichten auf die Arbeitsbedingungen der Klasse, der Gruppe oder des einzelnen. Erst die Sonderung zwischen Methodik und Didaktik des Unterrichts kann hier Klarheit schaffen. Vgl. oben S. 101 ff. u. 229. Auch in dem komplexen Charakter des »Projects«, der dem Ganzheitsstreben unserer Zeit erwachsen ist, mischen sich drei Kollektivideen: Erzieherisches, Methodisches und Didaktisches, nämlich die Gemeinsamkeit des Handelns und Planens (Vorbereitung von Feiern), die Lebensganzheit eines umfassenden Gegenstandes (Gesamtunterricht) und die Gruppengemeinschaft des arbeitsteiligen Unterrichts (Laboratorium). — •

Der recht verstandene Gesamtunterricht als p e r s ö n l i c h - d i d a k -

264

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

t i s c h e s Unterrichtsprinzip gewährt dem Schüler folgende Entfaltungsmöglichkeiten 1 : Die E n t s p a n n u n g gestauter Gefühle und quälender Gedanken sowohl durch die Möglichkeit freien und freudigen Schaffens (Zeichnens, Malens etc.) als auch durch die ungezwungene Art des Sich-äußern-Dürfens, wobei eine Antwort auf hingeworfene Fragen nicht immer notwendig erscheint. Die Pflege der natürlichen F r a g e l u s t , der Neugierde oder Erkenntnis-Sehnsucht, statt der bloßen Hinnahme des Stoffes a . Also sollte der Lehrer auch nicht mehr sagen und antworten, als das Kind gerade wissen will. Vermeidung jeglicher V e r f r ü h u n g durch die Wahrung der kindestümlichen Umwelt. Dabei wird sich die angemessene Zusammensetzung der G r u p p e wie die Wahl der zu vereinigenden Klassen als höchst bedeutsam erweisen, (s. u.). Die Möglichkeit einer geeigneten A u s w a h l der K u l t u r g ü t e r bzw. Problemkreise unter Mitwirkung der Schüler und zwar sowohl in qualitativer Hinsicht, der I n d i v i d u a l i t ä t dieses und jenes Kindes entsprechend, als auch in quantitativer Hinsicht: es ist alles zu besprechen bzw. zu gestalten, was die Seele des Kindes bewegt; es ist also nicht nur das »Pensum« zu »erledigen«. Die Voraussetzung hierfür ist das völlige Verständnis der Problemstellung; es wird in der ungehemmten Aussprache angebahnt, wodurch die Apperzeptionsbasis für die Einordnung des Neuen geschaffen und die Eigenart des Unbekannten einsichtig gemacht wird. Diese Pflege spontaner Bewegtheit sowie die Steigerung geistiger Wechselwirkung im Leistungsunterricht, was schon Schleiermacher sehr hoch einzuschätzen wußte, ist mit Indifferenz oder gar mit Zwang unvereinbar. Siesetzen F r e i h e i t und Ordnung voraus und wirken im gleichen Sinne steigernd zurück: die Ganzheit der geformten Persönlichkeit. Soweit der Gesamtunterricht als geistig-spontaner Prozeß und zwar vom Schüler aus betrachtet! Vom Lehrer aus gesehen, bietet er mancherlei Möglichkeiten, die einzelnen Individualitäten beim Suchen und Gestalten genauer kennen zu lernen und sie demgemäß anzuregen und zu erziehen. Aus der geregelten Freiheit echten Gesamtunterrichts, der nie in Willkür ausarten darf, ergeben sich auch die Beziehungen dieser Unter1

Ich verweise auf

die Bemühungen des Kollegiums der Berthold-Otto-Schule zu

Magdeburg um die theoretische Vertiefung und praktische Durchführung des Gesamtunterrichts, niedergelegt in der Schrift: Gesamtunterricht im Sinne Berthold Ottos,

Berlin-

Lichterfelde 1931. 3

E. Jaensch und seine Schüler haben wiederholt erwiesen, daß auch die eidetischen

Anschauungsbilder eine Funktion der spontanen Unterrichtsart sind.

255

Das selbstgerichtete Lernen

richtsgestaltung zur sittlichen E r z i e h u n g . Insofern Sittlichkeit echte Freiheit des Handelns voraussetzt, wird eine freie Unterrichtsführung immer und immer wieder Gelegenheit bieten, die eigene Selbstbesinnung und Selbstbestimmung zu pflegen und die Freiheit zur Pflicht der Ordnung und Selbstverantwortung zu vertiefen. Prinzip der Berufsfindung und -führung durch Bewährung! Demgemäß kann die freie Aussprache des Gesamtunterrichts wohl auf allen Schularten ihre Stelle finden. Wichtiger erscheint es mir aber, wenn die Idee des Gesamtunterrichts allen Fachunterricht durchdringt im Sinne der Jugendgemäßheit, geordneter Freiheit und Spontaneität. Aus den vorstehenden Darlegungen geht hervor, daß die didaktischen Prinzipien des Gesamtunterrichts hindrängen auf die Bildung möglichst homogener Arbeitsgruppen. Wir unterscheiden zwei Grundformen: a) Die Gruppenbildung, wie sie notwendig in einer durch äußere Organisation wenig gegliederten Schule eintritt, z. B. in einer einklassigen Landschule: A b t e i l u n g s u n t e r r i c h t . Peter Petersen 1 hat dazu in Theorie und Praxis gezeigt, wie sich auf allen Stufen seiner in Unter-, Mittel- und Obergruppe gegliederten Schule noch die verschiedensten Gruppenbildungen innerhalb derselben Stammgruppe organisch ausgliedern: Arbeits-, Musik-, Spielgruppen und andere mehr; daneben werden bestimmte Gruppenbildungen gefördert, auch von den Kindern angeregt. In den Patenschaften überschneiden sich die Stammgruppen. Die Bildung der verschiedenen Gruppen kann offenbar nur unter den subjektiven Forderungen höchster S p o n t a n e i t ä t frei erfolgen. Sie fördern sowohl die Entfaltung der Individualität wie der Gemeinschaft in der gegenseitigen Hilfeleistung von Schüler und Schüler, Schüler und Lehrer, Lehrer und Eltern. Diese Ergänzung der F a m i l i e n e r z i e h u n g im Hinblick auf die künftige Volksgemeinschaft, das Ineinandergreifen von Arbeit und Gespräch, Spiel und Feier, von häuslicher und schulischer Leistung und Freizeit scheint mir ihr letzter Sinn zu sein. W a s die äußere Anordnung betrifft, so möchte ich sagen, daß im Falle der r e a k t i v e n Betätigungen, auch wenn sie unter höchst intensiver Spannung der Aufmerksamkeit vor sich gehen, die »Reihe« angebracht erscheint (die alte Schulet).

W o jedoch die

spontane

Wechselwirkung des Leistungsunterrichts von Schülern und Lehrern (Wechselgespräch usw.) obwaltet, ist sicherlich der »Kreis«, wo man sich A u g in Auge sieht, eine zweckmäßigere Einrichtung.

Dort ist die Arbeit im leitenden, richtungweisenden, fragenden Lehrer zen-

triert, hier liegt der Konzentrationspunkt innerhalb der Klassengemeinschaft (den Lehrer eingeschlossen). 1

P. Petersen, Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach

den Grundsätzen »Neuer Erziehung« I, Weimar 1930; Der Jena-Plan, Internationale Zeitschrift 1932, H e f t 2.

Vgl. dazu F . Huber, Die äußeren Arbeitsformen einer Schulklasse,

D i e Arbeitsschule 43 (1929), S. 46^ ff.

256

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

b) Anders — und doch in der Wurzel übereinstimmend — ist die Gruppenbildung des arbeitsteiligen Unterrichts. Sein Wesen besteht in der spontanen Aufteilung und Bearbeitung einer gemeinsamen Aufgabe durch mehrere Schülergruppen. Diese Art der Gruppenbildung erweist sich auf allen Gebieten, den praktischen und den theoretischen, in den Natur- und in den Geisteswissenschaften als außerordentlich fruchtbar. Sie fügt sich aber nur insofern dem Leistungsunterricht ein, als sie der Erziehung zur Verantwortlichkeit dient. Schon im Werkunterricht ist die Zusammenarbeit mehrerer Schüler an derselben Aufgabe, vom einfachen Formen und Basteln bis zur Herstellung von Gebrauchsgeräten, eine alltägliche, auf die spätere Berufs- und Staatsgemeinschaft hinführende Angelegenheit. Man sollte daher auch im praktischen Unterricht nicht nur die einzelnen Werkbeiträge zusammenstellen, also z. B. nicht nur einzelne Gegenstände nach Besuch einer Werkstatt nachbilden lassen, sondern die verschiedenen Leistungen den Schülern einmal theoretisch ausdeuten und dann auf das sittliche Handeln hinleiten (Beruf!). In den Naturwissenschaften stehen neben dem Schauunterricht und neben den Arbeiten »in gleicher Front« ( g l e i c h e Beschäftigungsweise der Schüler!) sowie der »regellosen Arbeitsweise« verschiedener Schülergruppen noch einheitlich gegliederte Gruppenarbeiten mit verteilten Aufgaben, deren Ergebnisse, schließlich zusammengefaßt, zur Beschreibung und Systematisierung, zur Bestimmung und Erklärung, zum gelegentlichen Auffinden, mehr noch zur Bestätigung von Gesetzen sowie besonders zu ihrer Anwendung auf die Praxis des Lebens führen. In der Mathematik ist der arbeitsteilige Unterricht verhältnismäßig wohl seltener durchzuführen, abgesehen von der gelegentlichen Anwendung von Lehrsätzen. In den Geisteswissenschaften können in den Sprachen (Zusammenstellung von Vokabeln und Phrasen, Auffindung der Regeln, Präparation und Interpretation), in der Geschichte, einschließlich der Religions-, Wissenschafts- und Kunstgeschichte, auch der Geschichte der Philosophie (gelegentliche Quellenstudien), Tatsachen und innere Zusammenhänge (Charakteristiken) erarbeitet werden. Desgleichen in der Erdkunde (Auswertung eines Ausflugs). Überall wird in der spontanen Arbeitsgemeinschaft die Problemstellung herausgearbeitet, die Aufgabe gegliedert und auf Gruppen bzw. einzelne Schüler, je nach Begabung und Neigung, verteilt und schließlich die Summe der Einzelleistungen gezogen. Alles dies wird zum Teil in der häuslichen, zum Teil in der Klassenarbeit geleistet, unter größerem oder geringerem Beistand des Lehrers. Die Aufteilung der Aufgaben wie die Durchführung und der Abschluß der Leistung erweist sich schließlich nicht nur als höchst gemeinschaftsbildend, sondern dient auch der Herausbildung der Persönlichkeit, indem jede Individualität innerhalb der Gruppe sich und ihre Eigenart entdecken und zur vollen Auswirkung bringen kann, in der theoretischen Besinnung und im praktischen Vollbringen, in der Darstellung der eigenen Leistung, sei es im geschriebenen Wort bzw. im Werk, sei es zugleich in der Selbstdarstellung persönlicher Eigenart (Erläuterung des Erarbeiteten, Vorführungen der eigenen Leistung usw.).

Das Prinzip subjektiver Individualisierung in der Gruppenleistung führt als Grenzfall zur Einzelarbeit in der Schule. Da nunmehr die Wechselwirkung der Arbeitsgemeinschaft auf ein Minimum herabgesetzt ist, bildet die subjektiv-individualisierende Isolierung mithin den äußersten Pol didaktischer Unterrichtsweise und kommt demnach dem methodischen Gesichtspunkte eigenen wissenschaftlichen Leistens entgegen. Der individualisierende Unterricht in der Schule ist da berechtigt, wo

257

Das selbstgerichtete Lernen

die eigentliche H a u s a r b e i t wegen besserer Arbeitsgelegenheiten in Laboratorien oder Büchereien vorgenommen werden muß.

Sie findet auch

weiterhin überall da eine gewisse Rechtfertigung, wo der Lehrer dem hilfesuchenden Schüler beratend zur Seite steht. Sonst läßt sich die Einzelarbeit in der Schule nur da erklären und verstehen, wo es an didaktisch geschulten Lehrern fehlt.

Denn die wesentliche Aufgabe der Einzelarbeit

ist zunächst die W i e d e r h o l u n g , aufgegebener Anweisungen

sodann die selbständige Ausführung

(Reaktivität!).

E s sollten die Schüler in

diesem Falle genau um die Erledigung der »Aufgabe« wissen und dabei eine gewisse Freiheit genießen: angemessene Vorbereitung der Hausarbeiten in der Klasse ! Die Hilfe des abwesenden Lehrers muß durch die Möglichkeit eigener Nachprüfung ersetzt werden.

Schließlich dient die Hausarbeit,

insofern sie durch das Gefühl ungestörter Muße und des Ganz-auf-sichGestelltseins gekennzeichnet ist, weitgehend dem s p o n t a n e n und Neuschaffen.

Neufinden



Die Spontaneität des Schülers kann sich in zwei Arten des Unterrichts auswirken, von denen die erste nur eine Vorstufe der zweiten sein kann: das geistig fundierte Erlebnis und das Lehrgespräch der Arbeitsgemeinschaft als Frage an den Gegenstand. 1. D e r E r l e b n i s u n t e r r i c h t . Die Fülle und Wirklichkeitsnähe einer ganzheitlichen Betrachtungsweise wird bereits seit dem 18. Jahrhundert gekennzeichnet durch die Losungsworte »Leben« und »Erlebnis«. Diese Wendung, aus dem neuen Verständnis für Geschichte und Biologie erwachsen, bricht durch bei Hamann und Herder, Goethe und Fichte, Schelling und den Romantikern, bei Schopenhauer und Nietzsche, dem Rembrandtdeutschen und bei Lagarde, bei Hildebrand und den Kunsterziehern. Die Bewegung, auch aus dem Ausland gespeist, greift auf das Ausland wieder zurück, Bergson (ilan vital) und auch James (Pragmatismus). Sie findet ihre wissenschaftliche Vertiefung in der »Lebensphilosophie« (Dilthey, Simmel, auch Scheler) und ihren Ausdruck in der Kunst (Expressionismus) und in einer intuitiven Pädagogik: pädagogischer Expressionismus der Lebensschule I »Leben« und »Erlebnis« hat bei allen diesen Denkern wie Männern der Praxis und des Handelns einen sehr verschiedenen Sinn. Einmal bedeuten diese Ausdrücke eine Kampfstellung gegen die Überheblichkeit der zwangsmäßigen Verstandesherrschaft, gegen Überschätzung der Mathematik und der Naturwissenschaften; dazu positiv: das Eintreten für Ursprünglichkeit und Urwüchsigkeit, für Natürlichkeit und Lebensganzheit (Biologie I), und zwar in Wissenschaft und Kunst, in Gesellschaft und mithin auch in der Schule. Sodann geht der Kampf gegen die selbstgefällige Spießbürgerlichkeit der Routine und des Schlendrians, den oberflächlichen Mechanismus in Forschung und Kunstübung, im häuslichen und öffentlichen Leben, also auch in der Schule (»MitmachenI«); und wiederum positiv: die Mahnung zur Selbstbesinnung auf den Sinn des Lebens, zur Verinnerlichung und Vergeistigung des spontan handelnden Vernunftmenschen I 2. D a s L e h r g e s p r ä c h

als

Frage

an

den

Gegenstand.

Die Betonung des Erlebnisses in der modernen Didaktik kann nur eine Voraussetzung eines ganzheitlichen Unterrichts der Spontaneität beOtto, Untenichtslebre. 17

258

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

deuten. Wie die Sehnsucht eigenen Suchens und freier sittlicher Stellungnahme im Menschen entbunden werden kann, zeigen bereits in grundlegender Weise die platonischen Dialoge, an die anknüpfend Friedrich Copei viel Gutes gesagt hat, namentlich in den ersten Teilen seines Buches. Ich möchte folgende Stufen der spontan-autonomen Stellungnahme zum Gegenstand (Kulturgut) im echten Leistungsunterricht unterscheiden: Das erste Stadium oder Vorstadium ist der selbstüberzeugte Mensch des blinden Vorurteils, der selbstsichere Mensch in seinem Wahn. Das Sich-Wundern und Stutzen des aufhorchenden und hinsehenden Menschen. Mit dieser Unruhe, dem Zweifeln, dem erwachenden Gefühl der Verantwortlichkeit, setzt die geistige Bewegung ein, der Beginn der Spannung (Dewey S. 240 f.). Die Ahnung des Nichtwissens, sobald auch nur die Möglichkeit anderer Stellungnahmen eingesehen ist. Die Folge ist eine Erschütterung, Verwirrung oder Ratlosigkeit des einzelnen oder der Gruppe (einer Schulklasse). Die Weckung qualvoller Sehnsucht nach Erlösung, das Suchen (der Eros) des Sich-ausrichten-Wollens. Immer liegt hier ein Prozeß des Ergriffen-Werdens vor seitens überindividueller Geltungsforderungen. Das Ausschauen nach Neuorientierung; das Aufsuchen, Sammeln, Vergleichen von »Material«. Das intuitive Aufblitzen vorgegebener Zusammenhänge. Die systematische Durcharbeitung, die Nachprüfung der Vermutungen und Lösungen: Verifikation und Erhärtung der Evidenz Damit tritt ein Prozeß der Entspannimg ein. Die neue Einsicht bedarf der Fixierung bzw. Formulierung in Bild oder Schrift. Damit beginnt ein neuer Akt des Erkennen-Wollens. Alte Begriffe müssen durch »Begreifen« der Gegenstände gereinigt, in ihrer vollsinnigen Bedeutung anschaulich vergegenwärtigt und so neu erobert werden; fremde Begriffe werden in ihrer Besonderheit eingesehen oder neu geprägt; strukturelle Zusammenhänge sind in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und zentralen Beziehung klar zu erfassen und darzustellen. Die theoretische Erkenntnis ist schließlich durch ihre A n w e n d u n g in den Zusammenhang des gegenwärtigen Lebens einzureihen. Mathematik und Naturwissenschaften als Grundlagen von Technik und Wirtschaft; die Vergangenheit und ihre aktuelle Nachwirkung. Erst dadurch verliert die Theorie den Charakter einer künstlichen Isolation. Denn die Theorie als solche 1

Dieser Gesichtspunkt, der schon von Goethe (Lehrjahre I, 10) gewürdigt, von Herbart (Umriß § 165) anerkannt ist, wird unter Dewey's Einfluß betont von der individualisierenden Didaktik der Amerikaner (z. B . im Winnetka-Plan des Schulrats Washburne), ebenso von Ed. Clapardde, L a Psychologie de l'Intelligence, Scientia X X I I (1917), S. 361, und von G. Kerschensteiner; desgl. O. Jaeger, Aus der Praxis, hrsg. von W . Bolle, Leipzig 1930.

259

Das selbstgerichtete Lernen bleibt ja außergesellschaftlich, wenn ihr Ort im Ganzen dieses

Daseins

nicht aufgewiesen wird. Mit diesem Ringen um Erweiterung des natürlichen Seins erhebt sich von neuem das Problem der Freiheit, der aktiven Muße: ausgeglichene, geordnete Erarbeitung des von der Stoffüberfüllung gereinigten »Pensums« —

oder eine Hetzjagd durch eine bildungsferne Alleswisserei;

diesmal

nicht mehr auf der Ebene der Reaktivität, sondern auf derjenigen des spontanen Stellungnehmens!

Inwiefern darf der Lehrer drängen, wann soll

er helfend, ermutigend, anregend

1

eingreifen ?

L. Nelson spitzt in dieser Sphäre der Spontaneität das Problem paradox zu und behauptet: »Diese Kunst, zur F r e i h e i t zu z w i n g e n , macht das erste Geheimnis der sokratischen Methode aus.« Es besteht darin, »durch äußere Einwirkimg einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen.« Alles hängt von der Kunst ab, die Schüler von Anfang an auf sich selbst zu stellen, sie das Selbstgehen zu lehren. Einerseits soll man daher die nach Wahrheit Suchenden, nach Sokrates' Vorgang, gelegentlich in die Irre gehen lassen, um sie zum eigenen Nachdenken zu bringen, andererseits ist jedoch grundsätzlich alles Schädliche planmäßig zu schwächen, alles Förderliche systematisch zu stärken 2 . Die Durchführung des spontanen Leistungsunterrichts eigenen Suchens und Erarbeitens ist folglich ungemein verwickelt. Die eintönige Technik der heuristischen

Scheinfrage

des

Lehrers —

die man wohl von der

Prüfungsfrage zu unterscheiden hat — , ist höchst elementar; ebenso aber auch das so laut gepriesene Allheilmittel der S c h ü l e r f r a g e 3. Die große Kunst des Lehrers bleibt es, das Suchen und Fragen seiner Schüler durch Anregungen aller Art zu entfesseln, und zwar je nach der Lage der Dinge, aber immer

in höchster

Verantwortlichkeit

gegen Menschen

und

Sachen. Nach O. Selz

ist die Frage

Antizipation der Antwort. darin durch das Fragewort zeichnet.

(Bestimmungsfrage) eine schematische

Das noch fehlende Komplexbestandstück ist (Was?, Warum? usw.) kategorial gekenn-

In der angemessenen Fragestellung als »Denkanstoß« wird es

sich darum handeln, das fehlende Glied des Komplexes durch das passende 1 Unter »Anregung« verstehe ich die Auslösung und Ausrichtung gebundener Energien im Augenblick der íiervorbrechenden Platzbestimmtheit unter Vermeidung jeglicher Verfrühung, Fälschung und Hemmung. Wenn man auch neue Energien nicht erzeugen kann, so besteht doch die Aussicht, vortastenden Energien Richtungsmöglichkeiten zu geben und so, mit Pestalozzi zu sprechen, dem »Haschen der Natur nach ihrer eigenen Entwicklung Handbietung zu leisten«. Vgl. oben S. 49. Die pädagogische Bedeutung der Anregung ist immer wieder von Goethe betont worden: »Das ist die Eigenschaft des Geistes, daß er den Geist anregt.« (Über Shakespeare). 1 Die Möglichkeit und Grenze einer solchen Pädagogik hat bereits Goethe in den Lehrjahren erörtert (Lehrjahre, Ende von V I : »bei so guten Naturen«, VII, 9; VIII, 3 u. 5). 3 O. Tumlirz, a. a. O. S. 81 ff., legt dar, daß dem Jugendlichen vielfach die notwendigen intellektuellen sowie spontan-geistigen Eragevoraussetzungen fehlen.

17*

260

Der Leistungsunterricht

(Didaktik)

Reproduktionsmotiv wachzurufen. Die Hilfen, die dem zögernden Schüler zu geben sind, haben die Ganzheit des Komplexes in seiner charakteristischen Struktur in erhöhte Bereitschaft zu setzen. Der Selbstüberzeugte kann durch die Fragestellung eines Buches, durch den anregenden Vortrag eines Lehrers, ja durch eine hingeworfene Bemerkung in seinem Gleichgewicht erschüttert werden x . Die bloße Haltung des Lehrers, die aufhorchende Miene, eine bloße Bewegung des Zweifels, der Ablehnung oder der Bejahung, kann Widerspruch, nochmalige Besinnung oder Ermutigung wecken. Sodann die mannigfaltige Fülle zurückhaltender und zugleich anregender Zwischen- oder Gegenfragen: So? Wirklich? Ein Beispiel! Achtung! Was meinen Sie damit? Wer von Ihnen hat verstanden, was eben gesagt ist ? Was hat das mit unserer Frage zu tun? Welches Mißverständnis liegt hier vor? Wovon sind wir ausgegangen? Auf welches Wort kommt es dabei an? Sagen Sie es mit anderen Worten usw. Bald wird der Lehrer unklare Antworten überhören (Ökonomie der Zeit), bald Treffendes unterstreichen; bald den Voreiligen dämpfen, bald den Zurückhaltenden ermuntern; bald in Versuchung führen, bald ordnen und auf Möglichkeiten neuer Denkrichtungen hinweisen 1 . Diesem Prozeß produktiver Klärung durch Unterredung (Dialektik) dienen auch die verschiedensten Arten suggerierender, desuggerierender, wie der Entscheidungsfragen, die alle an entsprechender Stelle ihre Berechtigung haben. Dies bald in strenger Sachlichkeit, bald in Güte, wie es uns schon Sokrates vorgelebt hat. So wird man die große Gefahr umgehen können, die Leistungsfähigkeit der Schüler zu überschätzen und sie unter dem Wahlspruch eines aktuellen Schlagworts zu der vermeintlichen Spontaneität eines übersteigerten »Arbeitsunterrichts« zu treiben, der nun auch nichts anderes bedeuten würde als Zwang. Schließlich wird der Lehrer, wenn alles versagt oder versagen muß, letzte Lösungsmöglichkeiten selbst aufweisen oder abschließende Formulierungen geben — oder die Jugend dem eigenen Ringen mit der Frage überlassen, da ja alle Wissenschaft letzten Endes eine unendliche Frage ist, Nachdenklichkeit, Selbstbesinnung und damit tiefste Demut und Ehrfurcht. Daraus ergeben sich folgende Grundregeln einer geordneten Aussprache : i . Sfieak to the point, d. h. fasse dich kurz und bündig in der Formulierung deiner Gedanken! 1

Vgl. die treffenden Ausführungen H. Hahns für das Gebiet der experimentellen

Schälerübungen: das Herausarbeiten der Fragestellung und das Ersinnen von Gedankenversuchen, Physikalischer Arbeitsunterricht, Handb. f. höhere Schulen, Leipzig 1927, S. 28S. 1

Vgl. die verschiedenen Fragestellungen bei Gaudig und

Scheibner, bei

Copei (Der fruchtbare Moment im BildnngsprozeQ, Leipzig 1930) u. a.

Nelson,

Das selbstgerichtete Lernen

261

2. Führe die Gedanken deines Vorredners fort, bis der Punkt erschöpft ist! 3. Lerne, die andern ruhig anzuhören und ihre Gedanken abzuwägen! 4. Dränge dich nicht vor, sondern wisse, hinter schwächeren Mitschülern zurückzutreten! 5. Sei hilfsbereit, im Wort wie in der Tat! Dann entspricht der Leistungsunterricht unserer Bestimmung: er ist »verantwortungsvolle Selbstbildung« zur Gemeinschaft durch die soziale Funktion der Sprache. Wenn auch die reaktive Arbeitsweise einen gewissen Betrag von Gewissenhaftigkeit gegen die Sache (»die Aufgabe«) enthalten mag, so ermangelt sie doch des Gefühls echter Verantwortlichkeit gegen die Mitmenschen. Und das macht ja erst das Wesen der Leistung aus. — Das sind Fragen an den Gegenstand. Nun die Fragen an den M e n s c h e n ! 1. Die W i e d e r h o l u n g s f r a g e . Sie ist eine Form der Wiederholung neben der bereits ausführlich behandelten Einübung. In Wirklichkeit, bilden Einüben und auch Üben, Wiederholen und Prüfen (Selbst- bzw. Fremdprüfen)» eine untrennbare Einheit. Eine verfehlte Didaktik hat an die Stelle der immanenten Wiederholung und Prüfung im Akte des Unterrichtens abgesonderte Maßnahmen gesetzt, z. B. die berüchtigte »Klassifikation« des Lehrers (mit dem Notizbuch in der Hand). Die Wiederholungsfrage durchkreuzt sich mit der Frage an den Gegenstand in der verschiedenartigsten Weise insofern, als der Schüler angeregt wird, auf Grund seines bereits erworbenen Wissens und Könnens nunmehr dem Gegenstand neue Seiten abzugewinnen und seine positiven Kenntnisse mannigfaltig zu verknüpfen sowie zusammenfassend zu festigen (Herbart: »Assoziation« und »System«) und anzuwenden (Herbart: »Methode«). Alles dies kann einerseits r e a k t i v in höchster Spannung der Aufmerksamkeit vor sich gehen als auch s p o n t a n , indem der S c h ü l e r soweit wie irgend möglich die Führung übernimmt, Aufgaben stellt, die Lösungsmöglichkeiten ersinnt und rückblickend den Weg und die Richtigkeit des Verfahrens nachprüft. Das geschieht demnach: a) mittels der Lehrerfrage. Ihre Vorteile liegen in der Anwendung wechselnder wissenschaftlich-methodischer Gesichtspunkte, die nur der geschulte Fachmann beherrschen kann; weiterhin in dem Ansporn der Schüler, die, d i d a k t i s c h gesehen, damit rechnen müssen, »heranzukommen«, um sich auszuweisen (Prüfen!); b) im Wechselgespräch der reiferen Schüler. Diese Art der Wiederholung hat den Vorzug, die Schüler zu erhöhter Spontaneität und Selbstkontrolle heranzuziehen und ihrer Individualität weit entgegenzukommen; c) in kurzen, zusammenfassenden Vorträgen eines Schülers oder des

262

Der Leistungsunterricht

(Didaktik)

Lehrers. Dies Verfahren empfiehlt sich vom ökonomischen Standpunkt der Zeitersparnis besonders in den oberen Klassen. Jedenfalls darf über das Durchdenken methodisch-wissenschaftlicher Zusammenhänge sowie über die Anregungen, Gedanken und Ideen (der »interessante Lehrer«!) das einprägende Wiederholen ganz bestimmter, unbedingt notwendiger Kenntnisse auf keinen Fall verabsäumt werden. E s genügt nicht, daß alles »da gewesen« ist. Vielmehr sollte auf jeder Schule der eiserne Bestand s i c h e r e n und g e o r d n e t e n Wissens für jedes Gebiet gemeinsam festgelegt werden und seine andauernde Wiederholung jedem Mitgliede des Kollegiums zur ernsten Pflicht gemacht werden.

Dann erübrigt sich das recht zweifelhafte »Drillen« vor

den grQßeren Prüfungen «.

2. P r ü f u n g und P r ü f u n g s f r a g e . Alle Prüfungen haben den Sinn verantwortungsreicher Menschenführung. Sie dienen daher (subjektiv) der Einsicht in die augenblickliche Lage (»sich bessern«) und sollen fernerhin einen Ausblick in die Zukunft (Berufsführung) ermöglichen. Alles Prüfen muß schließlich zur S e l b s t e r k e n n t n i s führen: des Schülers in bezug auf .sein Verhalten, der Eltern im Hinblick auf die Angemessenheit ihrer Hilfe, der Lehrer (und der vorgesetzten Behörde) hinsichtlich der Unterrichtsführung. Selbstprüfung durch Fremdprüfung! Hier liegt auch der berechtigte Kern des, meist verkannten, amerikanischen Prinzips: Prüfe dich selbst! Das bedeutet nicht bloß: Prüfe selbst, was du kannst, sondern: wer und was du bist. Eine solche Auffassung vom Wesen der Prüfung setzt voraus, daß Inhalt und Form der Prüfung, namentlich vom Prüfling, als angemessen anerkannt werden können: Berücksichtigung der individuellen Eigenart; Ausschaltung von Zufällen (im Falle schriftlicher Prüfungen: Auswahl von Themen); Berücksichtigung früherer Leistungen, Prüfung seitens der eigenen Lehrer. Inhalt und Form der Prüfung haben der Art der Unterrichtsführung zu entsprechen. Das Prüfen erstreckt sich daher nicht nur auf die Feststellung des unbedingt nötigen Wissens und Könnens (materiale Schulung), sondern auch des (formalen) Beobachten- sowie Beurteilen-Könnens und -Wollens (Erörterung von Lösungsmöglichkeiten usw.), schließlich des spontanen Stellungnehmens. Aus diesen Darlegungen folgt: Zum ersten für die s c h r i f t l i c h e n K l a s s e n p r ü f u n g e n (Extemporalien), wobei ich an den preußischen (Reinhardtschen) »ExtemporaleErlaß« vom 21. Oktober 1911 anknüpfe und ihn im folgenden Sinne inter1

In der Schulpraxis ist die Frage nach der Einteilung der »Stunde«, namentlich der

Lektürestunden, oft erörtert worden: Abfragen der Vokabeln, Nachübersetzung bzw. Musterübersetzung, Verarbeitung (in der Fremdsprache), Vertiefung des geistigen Gehalts. die Wiederholung!

Soweit

Sodann die Vorbereitung: Feststellung der Aussprache seltener Wörter,

Klärung schwieriger Wortbedeutungen

und syntaktischer Beziehungen;

der Inhalt

der

»Stelle« im Rahmen des Ganzen. Ich glaube nicht, daß man diese und noch andere Fragen auf ein bestimmtes Schema bringen könnte noch sollte.

263

Das selbstgericbtete Lernen

pretiere: der Erlaß umfaßt zwei Gesichtspunkte. Der eine will besagen, daß isolierte schriftliche Prüfungsarbeiten ohne vorhergehende und abgeschlossene Übung, Einübung und Wiederholung jeglichen Sinnes entbehren. Also: erst mündliches und schriftliches Üben und Einüben in regelmäßigen Klassen- und häuslichen Übungen (unter ständiger Benutzung der Wandtafeln), dann erst Prüfen. Der zweite betrifft die Beurteilung. Ist der Lehrer seiner Sache nicht sicher, so wird er der eigentlichen Prüfungsarbeit eine »Probearbeit« vorausschicken. Die möglichst zahlreichen, nicht zu zensierenden Übungsund Probearbeiten werden in der Klasse als Gemeinschaftsarbeit unter Leitung des Lehrers mit ständiger Beratung der einzelnen Schüler, von Gruppen und der ganzen Klasse angefertigt und vom Lehrer von Zeit zu Zeit durchgesehen. Sie müssen zu flüssigem Sprechen nnd flotten Niederschriften führen und sind daher nicht mit Schwierigkeiten zu überladen. Beachtung der »Fehlsamkeitsdisposition« wie ganz allgemein des »Fehlerphänomens« (H. Weimer, A. Kießling, auch J . Seemann für die »Rechenfehler«) 1 Der andere Gesichtspunkt ist der, daß 25% nicht genügender Arbeiten als Ergebnis einer schriftlichen Prüfungsarbeit keine Kontrolle, keine Selbstprüfung in sich schließen können. Der Prozentsatz der Versager muß vielmehr wesentlich unter diesem Prozentsatz bleiben. Der Ausfall der Arbeiten, der bekanntzugeben ist, ermöglicht es Schülern, Eltern und Lehrern, über sich selbst zur Klarheit zu kommen. Beide Gesichtspunkte müssen stets verknüpft werden. Ein künstliches Herabdrücken der Versager auf ein Viertel der Arbeiten würde eine Verschleierung der Wahrheit und ein Herabsinken der Leistungen zur Folge haben. Nur durch stetes und sachgemäßes Üben, Einüben (mündlich und schriftlich: Übungsarbeiten) sowie Wiederholen wird man selbst eine »schlechte« Klasse zu heben vermögen.

Zum zweiten: die schriftliche Reifeprüfung. Für sie gelten zunächst die vorstehenden Forderungen in vollem Umfang. Die Bearbeitung der gestellten Aufgaben darf also aus dem Rahmen üblicher Klausuren nicht wesentlich herausfallen und keine besondere Vorbereitimg erfordern. Die unnatürliche Spannung zwischen dem tatsächlichen Können und der verlangten (zu verlangenden) Leistung werden die Kollegen, der Direktor und der Vertreter der Behörde leicht erkennen und Abhilfe schaffen. Dann wird den Prüfungen, die normierend auf die Leistungen aller Klassen zurückwirken, ein gut Teil des häufigen Schreckens genommen werden. Aufregung und Angst der Schüler beweisen ja nur, daß in dem betreffenden Fache etwas nicht in Ordnung ist. So bildet die Abschlußprüfung ein gutes Regulativ für die Anlage des Unterrichts. Die Gelegenheit, zwischen mehreren Themen wählen zu können, wird der I n d i v i d u a l i t ä t eines jeden Prüflings einen möglichst großen Spielraum geben. Das ist der Sinn der freiwilligen häuslichen »Jahresarbeiten« und ihres Verhältnisses zu den freien Arbeitsgemeinschaften. Alles das sind Möglichkeiten des Sich-bewähren-Könnens. Wo keine ausgeprägte Individualität vorhanden ist, wird man daher auch auf eine solche Sonderleistung verzichten. Die bisherigen Erfahrungen, die man mit diesen Versuchen gemacht hat, drängen darauf hin, nur die schlichten Darstellungen individueller Interessen zuzulassen, um so Verstiegenheiten und noch Schlimmerem vorzubeugen, ganz abgesehen von den Folgen einseitiger Mehrbelastung der Schüler 1

Vgl.

die Verhandlungen

der

II.

Direktoren-Versammlung

in

der

Provinz

264

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Die Noten der einzelnen Fächer, am besten immer noch zu einer abschließenden Wertung zusammengefaßt, wenn auch hier und da eine charakteristische Bemerkung warm zu empfehlen wäre (Religion, Musik, Zeichnen, Turnen I), werdensich dann nicht bloß auf alle schriftlichen Arbeiten (Prüfungs-, Probe- und Übungsarbeiten) in der Klasse und Häuslichkeit stützen, sondern vor allem auf die spontane Mitbeteiligung der Arbeitsgemeinschaft. Der richtig betriebene Leistungsunterricht kann es dem Lehrer verhältnismäßig leicht machen, ein endgültiges Urteil über die Fähigkeiten der verschiedenen Schüler abzugeben, aus einer nunmehr möglichen Erfassung der Gesamtpersönlichkeit. — Entsprechend wird auch das Zeugnis ein einheitlich und sinnvoll gegliedertes Ganzes sein müssen.

Das Problem: Ordnung bzw. Freiheit drängt damit seiner endgültigen Lösung zu. Es fragt sich nämlich: Wie fügen sich die beiden didaktischen Unterrichtsweisen der Reaktivität bzw. der Spontaneität nunmehr der Idee einer freien und doch geordneten E r z i e h u n g ein? Wie ist ziel- und planvolle Bildung in Freiheit möglich, als Ergänzung der natürlichen, unsystematischen Reifung ? Diese Frage mündet in den Fragenkreis ein, der Goethe immerfort bewegt hat und der seinem großen Bildungsroman zugrunde liegt. Goethe, der ewig nach Ausgleich aller Lebensspannungen, nach Harmonie in Ordnung und F r e i h e i t gerungen, der seine künstlerische Tätigkeit als Selbstbefreiung empfunden hat, vertritt die Idee der S e l b s t erziehung, die nicht mit bloßer R e i f u n g schlechthin gleichzusetzen ist. Hier liegt eine außerordentlich bedeutsame Problematik vor. Wir haben gesehen: alle Erziehung ist Selbsterziehung. Fällt demnach Erziehung mit natürlicher Reifung zusammen ? Keinesfalls, denn wir haben ja den Faktor »Unterricht« bisher beiseite gelassen! Unterricht ist aber nicht immer Selbstunterricht. Und so kommt es, daß Bildung, welchen Terminus wir als die übergeordnete Idee gewählt haben (S. 121), nicht in bloßer Reifung aufgeht Ich habe wiederholt auf die Bedeutung der »Klärung« durch »Lernen« hingewiesen (S. 44ff.). Dadurch kann nicht nur das Sachwissen und Denken gereinigt und geschärft, sondern auch die Wertgesinnung auf das E c h t e hin ausgerichtet werden. Denn insofern der Unterricht nicht bindende Festlegung ist, und zwar auf bestimmte Lehrmeinungen und Modeanschauungen, womit alle Selbsterziehung unterbunden wäre, sondern vielmehr spontane Reflexion über den Sinn des Echten, wird hiermit der eigenen Entscheidung über Weg und Ziel der Lebensführung in keiner Weise vorgegriffen. Somit ergibt sich die Möglichkeit einer S e l b s t e r z i e h u n g zur S e l b s t v e r a n t w o r t u n g auf Grund eines F r e m d u n t e r r i c h t s ! Hier liegt die Lösung des Problems »Selbsterziehung«, die doch etwas anderes Hessen-Nassau 1927: Referate Friedrichs und Brands sowie Leitsätze und Aussprache. 1 Siehe dazu meinen Aufsatz: Goethe und die Pädagogik der Gegenwart, Pädagogisches Zentralblatt 1932, Märznummer.

Das selbstgerichtete Lernen

265

als bloße »Entwicklung« ist. Diese Selbsterziehung zum pflichtgemäßen Handeln setzt aber den spontanen Leistungsunterricht als nötwendig voraus! Andernfalls dürfte man nicht von »Freiheit« sprechen. Auch Goethe hat uns nicht im Zweifel darüber gelassen, daß alle Bildung nur Selbsterziehung sein könne. Vgl. oben S. 232 f. Also ist auch alle Verfrühung eine Entgleisung. Durch bewußte Auswahl der Lebensbedingungen (die vornehme Gesellschaft!) sowie durch B e l e h r u n g 1 (Gespräche lehrhaften Charakters!) hat er Wilhelm die Eigenbildung erst möglich gemacht. Das ist die Idee seines Bildungsromans, in dem der Held Ziel und Weg zur Selbstüberwindung und zur Verwirklichung sowie Darstellung seiner persönlichen Idee allmählich selbst findet, trotz — oder gerade infolge vielerlei Irrungen, nach Goethes ausgesprochener Theorie. Somit schließen sich S e l b s t - E r z i e h u n g und das damit verbundene menschliche Irren einerseits und F r e m d - B e l e h r u n g durch U n t e r richt auf der andern Seite keineswegs aus — falls der Unterricht nicht »Zwang« ist 2 . Niemals greift Goethe daher auch der Selbsterziehung Wilhelm Meisters durch aufgezwungene Belehrung vor, indem er ihm das Ziel oder die Wege dazu u n m i t t e l b a r vorschreibt. Er beschränkt sich vielmehr darauf, ihm seine Vergangenheit vor Augen zu führen (die »Rolle« im Turm des Schlosses), allgemeine Lebensweisheiten nahezulegen (die Sendboten der Gesellschaft vom Turm; der Lehrbrief), ihm zu raten, was er meiden soll (»Flieh, Jüngling, flieh!«); er gibt zudem Beispiele von Lösungsmöglichkeiten (Reisen, um Vorbilder kennenzulernen; die pädagogische Provinz; das Theater!), legt ihm das Studium Shakespeares ans Herz und empfiehlt schließlich immer und immer wieder: »Tätig zu sein«, d. h. sich selbst zu mühen und zu finden auf Grund einer geläuterten Einsicht. Können wir demnach jemanden weder »entwickeln« noch »erziehen«, da alle Erziehung Selbsterziehung ist, so bleibt uns allein übrig, den Nichtwissenden durch Unterricht zur gesteigerten Reaktivität zu führen, ihn anzuregen zur Spontaneität. Alles übrige ist Zwang. L i t e r a t u r : A. Herget, Die wichtigsten Strömungen im pädagog. Leben der Gegenwart, I, Leipzig-Prag-Wien 1919. — P. Menzer, Leitende Ideen in der Pädagogik der Gegenwart, Osterwiek (Harz) 1926. — 1

Vgl. z. B . am Ende des 9. Kapitels im II. Buche der Lehrjahre die Wiederkehr der Ausdrücke »lehren«, »lernen«, »erlernen«, »leiten«, »Meister« (statt des bloßen »Schicksals«) usw. » Damit hebt sich auch der scheinbare Gegensatz zwischen den Erziehungsgrundsätzen des Landgeistlichen und Nataliens auf. Der erstere will den »guten« Menschen »seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen«, also sich selbst bestimmen lassen (Lehrjahre V I I , 9). Natalie, die leitet ohne zu herrschen, will wohl dem Irrenden raten, aber doch nur »gewisse Gesetze« aussprechen (Lehrjahre V I I I , 3) 1 Therese jedoch betont die Rolle des ordnenden Verstandes und tut des Guten wohl zu viel: sie dressiert. Das besagt, daß sich der Grad freier Selbsterziehung nach der Höhe der intellektuellen Reife richtet!

266

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

P. Ficker, Didaktik der Neuen Schule, Osterwieck-Leipzig 1930. — H. Gaudig, Freie geistige Schularbeit in Theorie und Praxis, Breslau 1928; Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit, hersg. von O. Scheibner, Leipzig 1930. — W. v. Humboldt, Gesammelte Schriften I (1903) ff. — R . Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik, München 1927. — G. Kerschensteiner, Begriff der Arbeitsschule, Leipzig-Berlin 1930. — A. Kießling, Die Bedingungen der Fehlsamkeit, Leipzig 1925. — Peter Petersen, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin und Leipzig 1924, S. 97 ff. — W. Lietzmann, Prüfungsformen, Die Erziehung 7 (1932), Heft 4. — Th. Litt, 'Führen' oder 'Wachsenlassen', Leipzig u. Berlin 1931. — R . Münch, Prüfungslehre, Langensalza-Berlin-Leipzig 1932. — L . Nelson, Die sokratische Methode, Göttingen 1929. — H. Nohl, Pädagogische und politische Aufsätze, Langensalza 1930. — K . Reinhardt, Die schriftlichen Arbeiten in den preußischen höheren Lehranstalten, Berlin 1912. — P. Reiniger, Sinn, Grenzen und Möglichkeit des Gesamtunterrichts, Langensalza-Berlin-Leipzig 1931. — O. Scheibner, Zwanzig Jahre Arbeitsschule in Idee und Gestaltung, Leipzig 1930. — Fr. D. E . Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, hrsg. von E . Spranger, Über das Wesen der Universität (F. Meiner). — E . Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1928. — K . F. Sturm, Sinn, Möglichkeit und Grenzen eines Gesamtunterrichts, Die deutsche Schule 1925. — O. Tumlirz, Das Wesen der Frage, Leipzig-Wien 1919. — H. Weimer, Fehlerbehandlung und Fehlerbewertung, Leipzig 1 9 3 1 ; Psychologie der Fehler, Leipzig 1929. — Fr. A. Wolf, Über Erziehung, Schule, Universität; Quedlinburg u. Leipzig 1835. —

III. Beispiele aus der besonderen Unterrichtslehre Wir greifen nunmehr einige Unterrichtsgebiete heraus, die wir nach den Möglichkeiten intensiv gesteigerten Fremd- bzw. Selbstgerichtetseins anordnen. Zugleich ist zu zeigen, daß die besondere Struktur der verschiedenen Disziplinen bald mehr die eine, bald mehr die andere Unterrichtsführung erfordert. Denn nicht alle Bildungsgüter können spontan »erarbeitet« werden. Wenn wir im wesentlichen den K l a s s e n u n t e r r i c h t im ganzen und in Gruppen als Haupttypus ins Auge fassen, so sind doch die Unterschiede nicht zu übersehen, die der Hausarbeit gegenüber der Schularbeit, den obligatorischen Kernfächern gegenüber den Kursen und ganz besonders den freien Arbeitsgemeinschaften eignen. Gerade die letzteren werden strukturgemäß auf allen Gebieten wesentlich spontan betrieben werden, da sie, frei von äußerem Zwange, der V e r t i e f u n g dienen, kleinere G r u p p e n umfassen und schließlich aus den besonderen I n t e r e s s e n , auch Veranlagungen ihrer Teilnehmer herausgewachsen sind. A.

Spracherlernung.

Wir nehmen als typisches Beispiel eines vorwiegend fremdgerichteten Verfahrens die Didaktik der Spracherlernung im Rahmen des fremdsprachlichen Unterrichts. (Vgl. oben S. 163 ff.) Er ist reaktiv, insofern der Lehrer erstens die Art, Dauer und Reihenfolge aller didaktischen Maßnahmen endgültig zu bestimmen hat; zweitens, insofern der Lehrer das wissenschaftliche Gewissen ist für die R i c h t i g k e i t des Aussprechend sowie der Sprechgestaltung, in semasiologischer wie syntaktischer Hin-

Spracherlernung

267

sieht, schließlich der Sprach- und der Sachdeutung. E r ist sicherlich die letzte Instanz und trägt somit die höchste Verantwortung, an der er die Schüler nach Möglichkeit beteiligen wird, also auch über die bloße Reaktivität hinaus. Unter diesen Gesichtspunkten bitte ich die folgenden Ausführungen zu betrachten, die sich aus der Natur der Sprache und des in ihr ausgeprägten Bildungsgehalts, aus der Natur des Sprechens und der Spracherlernung — alles dieses mit Rücksicht auf die seelische Reife des Kindes in der Gruppe und in bezug auf die Bildungszwecke —mit Notwendigkeit ergeben. Die Darstellung ist im einzelnen abzuändern je nach dem Charakter der betreffenden Sprache, ihrem Beginn (Unterklassen!), den Vorkenntnissen der Schüler und ihrem Wissen von andern Sprachen i . Die S c h u l u n g der A u s d r u c k s f ä h i g k e i t . Sie beruht auf drei Dispositionen bzw. Fertigkeiten: das neugeborene Kind bringt bereits eine Anlage zur Verlautbarung und Spracherlernung durch N a c h a h m u n g mit. Die Intelligenz des Kindes entwickelt sich in den ersten Monaten und den späteren Jahren in dem Maße, daß es einer v e r s t a n d e s m ä ß i g e n B e lehrung zugängüch wird. Der Schüler verfügt bereits über seine M u t t e r s p r a c h e ; dieser letztere Faktor bedeutet für die Aneignung einer Fremdsprache sowohl einen Vorteil wie einen Nachteil. Die i m i t a t i v e Spracherlernung. Das Kind erfindet seine Sprache nicht, sondern entlehnt sie der sprechenden Umgebung (E. Meumann, K . Stumpf, W. Stern). Dem Schüler ist daher möglichst viel Sprachgut anzubieten. Dies Verfahren entspricht dem Prinzip des analytisch-synthetischen Lernens: erstes Auffassen der Fremdsprache als ein Ganzes; dann allmähliche Ausgliederung. Auf diese Weise könnte man eine Fremdsprache bereits in der Grundschule mit Erfolg betreiben — und auch schon früher. Alle imitativen Übungsarten gehen zunächst auf die Einübung des akustisch-motorischen Wortelements (a — m). Vgl. oben S. 1 7 1 ff. E s sind daher die Hör- und Ausspracheübungen, Sprech- und weiterhin die Leseübungen imitativ zu pflegen, sinngemäß, unter Innehaltung der Pausen und im richtigen Tonfall. Der Lehrer spricht vor, die Schüler reagieren, einzeln sowie auch dauernd im Chor. Auf der Unterstufe wird jedes Übungsstück in der Fremdsprache gesprächsweise durchgearbeitet, später die zusammenhängende Lektüre 1 Siehe meine Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts, Bielefeld und Leipzig 1925. Außerdem die einschlägigen Arbeiten von P. Cauer, A. Scheindler, F. Cramer, E. Bruhn, G. Rosenthal, W. Kranz, W. Jaeger, M. Krüger; M. Walter (P. Olbrich), H. Borbein, Ph. Aronstein, R. Münch, Ad. Krüper, W. Hübner, W. Martini, H. Strohmeyer, Ed. Schön, O. Schmidt, K. Ehrke, J . Schmidt, A. Bohlen, W. Popp u. a. 1 Der Streit um die Vorzüge der »direkten« bzw. »indirekten Methode« sowie um die »imitative« bzw. 0verstandesmäßige« Didaktik (!) unter Verwendung der Muttersprache hat eine weitere Klärung durch Gita Scholtkowskas experimentelle Beiträge, Ztschr. f. angew.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Die mündlichen »Übungen« sind dann auch schriftlich vorzunehmen: alle Arten von Umformungen, Deklinations- und Konjugationsarbeiten, Fragen und Antworten, Inhaltsangaben, Behandlungen der gelesenen bzw. gehörten Texte unter bestimmten Gesichtspunkten, Rückübersetzungen, Diktate, freie Arbeiten. Dabei ist nicht nur auf Sprachrichtigkeit (Grammatik) zu halten, sondern von Anfang an auf die Pflege des Sprachgefühls, der sprachbildenden Kräfte (Stilistik). So wachsen aus den Übungen die Probe- und Prüfungsarbeiten heraus, unter dauernder Benutzung der Tafeln: visuelle Typen, Eidetikert Das ältere Schlagwort der Pädagogik: »Von der Anschauung zum Begriff« hat seine Ansprüche aufgegeben. Jetzt geht es, namentlich in den unteren Klassen, um die Höchststeigerung der Aufmerksamkeit in der frohen Arbeitsgemeinschaft der Jungen und Mädel. Die Intensivierung des Unterrichts wird wesentlich unterstützt durch die gleichzeitige Inanspruchnahme mehrerer Sinne (Auge, Ohr) sowie der motorischen Funktionen (Artikulation, auch Handbewegungen zwecks Andeutung ungesprochener Laute in den neueren Sprachen) ». Die Anschauung wird jedoch in anderer Weise fruchtbar gemacht. Der Wortschatz ist weitgehend mit anschaulichen Wahrnehmungen und Vorstellungen zu erfüllen: Darstellungen, Bilder, Goüinsche Reihen. Dadurch wird die geläufige Reproduktion der Vokabeln innerhalb eines ganzheitlichen Gedanken- und Gefühlskomplexes unterstützt. Dramatische Gestaltungen des Stoffes tragen in hohem Maße bei zur Einfühlung in den Begriffs- und Stimmungsgehalt der Wörter sowie in die syntaktischen Beziehungsbedeutungen. Auf der Mittel- und Oberstufe gesellt sich dazu das flüssige Einlesen in gehaltvolle Stoffe ». Diese Art der imitativen Spracherlernung wird erleichtert und abgekürzt durch v e r s t a n d e s m ä ß i g e B e l e h r u n g 3. Ist das erstere Prinzip analytisch-synthetischer Art, so trägt das letztere synthetisch-analytischen Charakter: Grundsatz

allmählicher Klärung.

Beide

Prinzipien greifen

andauernd ineinander. Dem Prinzip der verstandesmäßigen Belehrung entspricht es, wenn man auf dem Gebiete der A u s s p r a c h e die Lautbildung systematisch beschreibt und an den ArtikuPsychol. 25 (1926), S. 65 ff., gefunden. Die Untersuchung beschränkt sich nicht darauf, das Erlernen von Vokabeln zu prüfen (H. A. Peterson, A. Netschajeff, N. Braunshausen, L. Schlüter, W. Schönherr), sondern legt die Einübung von Sätzen zugrunde. Ihre Ergebnisse bestätigen meine Grundsätze. Es wären aber die Prozesse der sprachlichen Induktionsbildung sowie der determinierenden Tendenzen in der Ausgliederung des Satzkomplexes noch mehr zu berücksichtigen, und zwar im Rahmen der verschiedenen Möglichkeiten imitativen Verfahrens. 1 Daß zu Anfang eines solchen Unterrichtsbetriebes die Aufmerksamkeit vorübergehend abgelenkt werden kann, ist mit Recht bemerkt worden. Vgl. L. G. Whitehead, A study of Visual and aural memory processes, Psych. Review 3 (1896); A. Pohlmann, Experim. Beiträge zur Psych, vom Gedächtnis, Berlin 1906; F. Kemsies, Gedächtnisuntersuchungen an Schülern, Zeitschr. f. päd. Psychol. II (1900), III (1901). 1 Auf dem Gebiete des Lateinischen lernt der Schüler beispielsweise so nicht nur eine Fülle der Vokabeln und der Formen (Deklination, Konjugation), sondern er legt auch den Grund zu einem vorläufig ungeklärten Gebrauch des Acc. c. Inf., der Infinitiv- und dann der Partizipialkonstruktionen, der Modi wie auch der oratio obliqua. Erst dann folgt die verstandesmäßige Klärung. Entsprechend in den anderen Sprachen. 3 Die Vereinheitlichung der Tatsachen durch Unterordnung unter leitende Gesichtspunkte wird mit einem Gefühl der Befriedigung aufgenommen. H. Cornelius, Einleitung in die Philosophie, Leipzig u. Berlin 1911, S. 31 ff. (Prinzip der Ökonomie des Denkens); Th. Lipps, Leitfaden der Psychologie, Leipzig 1909, S. 142 ff., 179 ff.

Spracherlernung

269

lationsorganen der Schüler bzw. an geeigneten Abbildungen veranschaulicht. Der W o r t s c h a t z ist innerhalb derselben Sprache (Synonyma, Homonyma) und im Vergleich mit anderen Sprachen nach der begrifflichen Seite wie nach dem Stimmungsgehalte zur Klärung zu bringen. In s y n t a k t i s c h e r Hinsicht werden die Spracherscheinungen, ähnlich wie in den Naturwissenschaften, genau beobachtet, geordnet und umfassend »beschrieben«. Ein fundamentaler Unterschied liegt nur darin, daß die Regeln nicht durch Induktion gefunden werden, sondern, als Wesensbestimmungen der Gegenstände, in der ideierenden Abstraktion, d. h. an einigen wenigen typischen Beispielen eingesehen werden können. Ist in der sogenannten Regel der Kern der Beziehungsbedeutung erfaßt (z. B. das Wesen des Konjunktivs in dieser oder jener Sprache), so fallen die »Ausnahmen« fort und es wird ein tieferes Verständnis der einzelnen Sprachen erreicht. — An die Beschreibung kann sich die »Erklärung« anschließen, d. h. das Verstehen des Gewordenseins einer Spracherscheinung. Die Erklärung erfolgt durch Aufweis der Richtkräfte, die den geschichtlichen Wandel herbeigeführt haben. Dadurch wird einmal das einzelne im Rahmen eines größeren Zusammenhangs erfaßt, sodann der Geist einer besonderen Sprache (z. B . der virtus Romana) wie der des sprechenden Menschen schlechthin eingesehen. Alles dieses geschieht auch wesentlich reaktiv, d. h. unter Anleitung des Lehrers.

Schließlich wird der Prozeß der Spracherlernung vereinfacht durch sprachliche Anknüpfung an die M u t t e r s p r a c h e 1 oder auch an eine bereits erlernte Fremdsprache.

Wenn man zwecks T r a n s k r i p t i o n an die muttersprachliche Gewöhnung, vielleicht sogar an die heimische Mundart anknüpft, so macht man früheres Wissen und Können für den Neuerwerb unmittelbar nutzbar. Desgleichen kann man den lautbestand einer Fremdsprache gegebenenfalls auf den muttersprachlichen W o r t s c h a t z , auf Erb-, Lehn- und Fremdwörter zurückführen (phaneros, fenestra, finestra, fenêtre, Fenster). Die syntaktischen B e z i e h u n g s b e d e u t u n g e n innerhalb aller Sprachen zeigen weitgehende Übereinstimmungen in dem Gebrauch der Wortart, der Flexion (Kasus, Zeiten etc.), der Wortstellung etc., woran man, bewußt oder unbewußt, dauernd anknüpft. Darüber hinaus kann der Lehrer bewußt von einer verwandten deutschen Konstruktion zu einer fremden hinübergleiten: A. c. I . : ich sehe, daß er kommt — ich sehe ihn kommen-, iuvare populum — dem Volk helfen — das Volk unterstützen. In allen Fällen unbewußter und bewußter Sprachangleichung an die eingewurzelten muttersprachlichen Gewohnheiten wird es nun aber darauf ankommen, die muttersprachlichen Zwischenglieder sowie verstandesmäßige Überlegungen (die »Regel«) durch Übung auszuschalten (»aus-zuüben«), sobald sie ihren Dienst geleistet haben. Es ist eine der Hauptaufgaben des Hinübersetzens sowie verwandter Übungen (Umformungen unter H i n z u f ü g u n g der Muttersprache!), daß durch wiederholtes Vergleichen zweier Sprachen die immer wieder dazwischentretende Muttersprache ausgeschaltet und der Ablauf der Satzgliederung in der Fremdsprache mechanisiert wird. Dadurch werden Kräfte frei gemacht für die inhaltliche Bewältigung des Sprachgutes. Die Leitung derartiger Aufgaben kann in der Hauptsache nur der Lehrer, nicht der spontane Schüler vollbringen!

2. Die Schulung des Sprachverständnisses. Das Ziel des Sprachverständnisses ist es, die Gesamtvorstellung des Satzes unmittelbar einzusehen und jedes Satzglied aus dem Schema des Komplexes richtig zu ergänzen. Die unmittelbare Auffassung des gelesenen und gesprochenen 1 Es ist wohl zu unterscheiden die Anknüpfung an die Muttersprache und der Gebrauch der Muttersprache z. B . zwecks Sinndeutung, Feststellung einer Wortbedeutung etc. Der letztere Fall ist wesentlich eine besondere Art verstandesmäßiger Belehrung.

270

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Wortes setzt die angemessene Deutung der Worte und ihrer syntaktischen Beziehungen voraus. Vgl. oben S. 1 7 3 f. Der B e g r i f f s - u n d S t i m m u n g s g e h a l t der Worte ist aus dem Zusammenhang des Satzganzen mit Hilie der Etymologie zu erschließen. Der Wortschatz ist von Zeit zu Zeit nach Sachkreisen und etymologischen Verwandtschaften zu ordnen. Die Ausdeutung der B e z i e h u n g s m i t t e l erstreckt sich nicht nur auf die innensyntaktischen Beziehungen der Satzworte untereinander (z. B . die Kasus, Wortstellung), sondern auch auf die außensyntaktischen Beziehungen: die Stellungnahme des Sprechenden zur Wirklichkeit (Tempora, Aktionsarten), Hervorhebung der eigentlichen Mitteilung (W. Wundt: dominierende Vorstellung), die Stimmung des Sprechenden (emphatische Wortstellung etc.). Die Jugend ist in straffer Zucht zur aufmerksamen und gewissenhaften Ausschöpfung des gelesenen oder gehörten Textes zu erziehen. Das wird durch weitgehendes Extemporieren vorbereitet. Da viele Beziehungen in dem gedruckten Text optisch nicht ausgedrückt sind, z. B . Pause, Stimmton, Kachdruck, so muß der Lehrer diese Ergänzung im Falle schwieriger Texte geben, also sie zunächst ausdrucksvoll vorlesen. Vgl. oben S. 165 ff. Als einfachstes und verhältnismäßig genauestes Mittel der Sinndeutung empfiehlt sich die Muttersprache und zwar besonders in den ersten Jahren des Sprachunterrichts. Obwohl selbst eine Musterübersetzung niemals den Inhalt, noch weniger die (poetische) Form der Fremdsprache wiederzugeben vermag, ist sie doch angetan, den Einblick in die Struktur der fremden wie der Muttersprache zu vertiefen. Leichtere Stellen, namentlich die Stoffe der Hauslektüre können durch bloße Sinndeutung, also ohne Herübersetzung, in kursorischer Durchnahme erschlossen werden. Die Inhaltsangabe einzelner Sätze und größerer Zusammenhänge empfiehlt sich auch nach der wortwörtlichen Übersetzung (G. Rosenthal), da die wörtliche Anknüpfung an die Muttersprache das Verständnis des Sinnes noch nicht verbürgt. Auch liier erweist sich der Lehrer als verantwortlicher Leiter.

3. Die sachliche E r l ä u t e r u n g der S c h r i f t s t e l l e r . Die Auswahl der Lektüre wird bestimmt zuvörderst durch die sprachliche Gestalt, welcher Gesichtspunkt im Anfangsunterricht im Sinne der S p r a c h e r l e r n u n g entscheidend ist; später mehr durch die künstlerische Form und den Gedankengehalt in seiner Bedeutsamkeit für das fremde Geistesleben, für die eigene Kultur wie für die Menschheit schlechthin: die »ewigen Güter« des MenschenI Im einzelnen ist Rücksicht zu nehmen auf die Lesestoffe und Pensen der anderen Unterrichtsfächer sowie auf die Reife der Jugend, ihre verschiedenen Interessen in ihrer besonderen Umwelt. Von der Kenntnis der bloßen Realien und einer vertieften Auslandkunde schreitet man jetzt fort zum Verständnis der Kultur in allen ihren Wechselbeziehungen: Kulturkunde. Vgl. oben S. 1 5 1 ff. Den Ausgangspunkt bildet immer das einzelne Werk. Die (kritische) Besprechung erstreckt sich auf die Anlage, den gedanklichen Gehalt, die Stellungnahme des Verfassers zum Gegenstand, seine Darstellungsmittel und stilistischen Besonderheiten. Der künstlerische Gehalt ist im nachschaffenden Lesen größerer Abschnitte zur unmittelbaren Anschauung zu bringen. So gewinnt man ein Bild von der Persönlichkeit des Schriftstellers, seinem Wollen innerhalb seiner Generation (Periode) und der Geschichte der Menschheit.

Die Bewältigung derartiger Aufgaben kann nur der verantwortlichen Leitung eines geschulten Fachmannes anvertraut werden. Die Schüler werden sich also, je nach der »Instruktion« des Lehrers, zum guten Teil

Der mathematische Unterricht

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fremdgerichtet verhalten1. Aus dieser Sachlage erklären sich letzten Grundes die üblichen, wenn auch nicht klar zum Ausdruck gebrachten Angriffe gegen den breiten Raum, den die Sprachen auf den theoretischen Schulen einnehmen. Der reaktive Charakter der Spracherlernung schließt natürlich nicht aus, daß der führende Lehrer die Jugend weitgehend zur spontanen Mitwirkung heranzieht: Zusammenstellen von Wortgruppen nach Bedeutung und Ableitung, Sammeln und Ordnen von Beispielen zwecks Herleitung und Formulierung oder auch Bestätigung einer Regel, Bilden von Beispielen zu einer Regel (Anwendung), Herübersetzen in Gruppen (Arbeitsteilung und Kritik), Ausgestaltung einer Musterübersetzung, individuelle Differenzierung der Hausarbeit, Stillbeschäftigung in der Klasse (Extemporieren, Übungen), vor allem die beurteilende Stellungnahme zum Inhalt und zur Form des Gelesenen, dazu die Kunstbetrachtung wie die Behandlung der häuslichen Lektüre und Weiterführung der Schul-Arbeit in freien Jahresarbeiten etc. Und dennoch werden die Schüler auch hier vielfach nur dasselbe tun, was sie dem Lehrer (oder auch einem Kameraden) abgelauscht haben Wie aber die Steigerung der Reaktivität und der Spontaneität ineinandergreifen, sei an einem praktischen Beispiel in Kürze angedeutet. Wenn der Lehrer zwecks sprachlicher Durcharbeitung eines Stückes nicht selbst die F r a g e n formuliert, sondern diese Aufgabe den Schülern in irgendeiner Form zuweist, so ist das ein wesentlich reaktives Verfahren, soweit der Lehrer vorschreibt, daß Fragen gestellt werden sollen, wann und wie gefragt werden soll etc. Aber die endgültige Formulierung der Frage, d. h. die Stellungnahme zum vorliegenden Sachverhalt bleibt doch immer Sache des Schülers. Das zeigt wieder, daß zwischen Reaktivität und Spontaneität graduelle Abstufungen vorhanden sind. Und hier liegt die große Kunst des zur Spontaneität »anregenden« Lehrers!

Wenn nun auch in didaktischer Hinsicht der Sprachunterricht, insonderheit der Prozeß der Spracherlernung, vorwiegend reaktiv verläuft, allerdings in dem gesteigerten Wetteifer lebhafter Klassen- und Gruppenarbeit, so darf man doch darüber seine ganz einzigen Bildungswerte in methodischer Hinsicht nicht übersehen: Sprache und Literatur als entwicklungsgeschichtliches Produkt, als Strukturgebilde und als (finale) Schöpfungen unserer großen Geisteshelden. Durch die harte Schale der Spracherlernung muß man eben erst einmal durchstoßen, um sich des köstlichen Kerns zu bemächtigen. Er verheißt, ganz abgesehen vom materialen Nutzen, reiche Möglichkeiten: Klärung des geschichtlichen Sinnes und nationalen Bewußtseins, des wissenschaftlichen und künstlerischen Urteils, des sittlichen und religiösen Gewissens. B. Der mathematische Unterricht (Naturwissenschaften und Geographie). Die folgenden Ausführungen sollen dartun, daß und wie sich auch im 1 Dennoch fragt es sich, ob die vielen Anleitungen bzw. Bevormundungen mancher Übungsbücher den Schematismus nicht gar zu weit treiben. a Vgl. Ewald Bruhn, Altsprachlicher Unterricht, Handbuch für höhere Schulen, herausg. von Jahnke-Behrend, Leipzig 1930, S. 12 f.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht die verschiedensten Abstufungen vorwiegender Reaktivität bzw. Spontaneität durchdringen. Fragen wir nach dem psychologischen Ablauf mathematischen Denkens bei Beweisführungen, Konstruktionen usw., so müssen wir uns zunächst klar machen, welcher Schicht von Bedeutungen der »Sinn« mathematischer Strukturen angehört. Die konventionalen Zeichen möglicher Denkoperationen auf dem Gebiete der Arithmetik und der Geometrie drücken nämlich anschauungsleere Beziehungen aus In dem Vollzug dieser unanschaulichen Akte, die selbst der Worte entbehren können, erfassen wir die Bedeutung einer Formel, eines Lehrsatzes usw. Wir »begreifen« einen Lehrsatz, z. B. den, daß Nebenwinkel zusammen zwei Rechte betragen, wenn der Ablauf unseres Bewußtseins durch mathematische Zeichen derart bestimmt wird, daß wir die gemeinten gesetzlichen Abhängigkeiten einsehen. Im Fall eines Beweises wird diese intuitive Überschau von Abhängigkeitsverhältnissen in einer systematisch-analysierenden Reihe von Schlüssen zur klaren Bewußtheit erhoben. Zeichnungen, Modelle oder die reale Wirklichkeit erfüllen die anschauungsleeren Beziehungen der mathematischen Zeichen mit anschaulichem Gehalt und geben so die Möglichkeit, die Einsicht in die Gesetzlichkeiten der Mathematik an den Gegenständen der Erfahrung zu erleichtern (»ideierende Abstraktion«). Vgl. S. 187 f. Der Prozeß der Sinnerfassung wird also in diesem Falle durch die Anschauung u n t e r s t ü t z t , wovon sowohl die Wissenschaft als auch die Pädagogik Gebrauch macht. Bedarf der Beweis geometrischer Sätze einer Hilfskonstruktion, so wird sie in der Art der Mittelaktualisierung bzw. der Mittelabstraktion gefunden. Vgl. oben S. 129. Das heißt für den vorliegenden Fall: die Lösung einer mathematischen Aufgabe, z. B. der Nachweis, daß im Parallelogramm die gegenüberhegenden Seiten gleich sind, verlangt, daß den Schülern die Gesamtstruktur der vorliegenden Aufgabe einsichtig wird und die zur Lösung geeigneten Mittel ausgewählt und aktualisiert, d. h. aus dem Schatz des Bewußtseins hervorgeholt und zur Anwendung gebracht werden, um dadurch einen bereits vorhegenden Komplex (d. i. im Fall unseres Parallelogramms eine Kombination zweier kongruenten Dreiecke) zu ergänzen. Das führt im Falle des Parallelogramms zum Ziehen einer Diagonale. Die Lösung einer Aufgabe erfolgt also im allgemeinen nicht in der Art, daß ein isolierter Reiz a eine Reaktion b reproduziert, sondern sie besteht in der Ergänzung eines komplexen Schemas auf Grund gesetzmäßiger Zusammenhänge. Der Lehrer muß sich darüber klar sein, daß 1

Über anschauungsleere Bedeutungsintentionen siehe Edm. Husserl, Logische Unter-

suchungen, Halle II, 1 (1913), S. 37 ff., II, 2 (1921), S. 60 ff.

Der mathematische Unterricht

273

alles darauf ankommt, den Schülern die Gesamtstruktur der vorliegenden Aufgabe in ihrer Besonderheit einsichtig zu machen und ein Mittel, das sich in analogen Fällen als förderlich bewiesen hat (Lehrsatz), zu aktualisieren zwecks Ergänzung des vorliegenden Komplexes. Die Lösung kann erstens im Vortrage des Lehrers vorwiegend r e a k t i v vor sich gehen, indem der Lehrer gegebenenfalls auch die nötigen Hilfslinien zieht und den Beweis selbst liefert, die Schüler aber nur im Nach-Denken die Zusammenhänge einsehen. Die Lösung kann zweitens mehr oder weniger intuitiv von diesem und jenem Schüler im experimentierenden Probieren s p o n t a n gefunden werden. Schließlich kann die Lösung auch in der Zusammenarbeit der gesamten Klasse in systematisch-schlußfolgerndem Denken unter der sicheren Führung und Anleitung des Lehrers, also teils fremd-, teils s e l b s t g e r i c h t e t erfolgen. Ist der Lehrsatz zu beweisen, daß im Parallelogramm die gegenüberliegenden Seiten gleich sind, so bedarf es einer Hilfslinie B D als Diagonale. Um sie zu finden, ist ein Schema 0 zu antizipieren, in dem die gegenüberliegenden Seiten und die D bereits bekannten Größen innerhalb zweier Dreiecke auftreten, deren Kongruenz auf Grund eines bereits bekannten Lehrsatzes nachgewiesen werden kann: Wechselwinkel an Parallelen, 2. Kongruenzsatz. E s wird sich zunächst um die Auffindung der Hilfslinie handeln. Erster Fall: diese Linie kann vom Lehrer gezogen werden; dann liegt der weiteren Tätigkeit der Schüler eine Art »zufallsbedingter Mittelabstraktion« zugrunde, nur daß die Hilfskonstruktion nun nicht ein »Zufall«, sondern durch eine absichtliche Handlung des Lehrers herbeigeführt ist: R e a k t i v i t ä t der Schüler! Das r e a k t i v e Verfahren kann mit erhöhter Steigerung der Aufmerksamkeit durchgeführt werden und wird dann eine entsprechende Schulung der Denkfunktionen, ein völliges Verständnis der mathematischen Zusammenhänge und auch, nach entsprechender Übung, die Beherrschung eines sicheren Wissens als Erfolg buchen können. Am Geist eines spontantheoretischen Bildungsaktes hat diese Art der bloßen »Betätigung« nicht teil. Wird die reaktive Lehrweise nun gar ohne Intensität betrieben, so führt sie weder zur formalen Schulung mathematischen Denkens noch zur Einsicht in den Aufbau der Mathematik im einzelnen und im besonderen, höchstens, bei besonderem Drill, zum Auswendiglernen unverstandenen Wissens, d. h. sie ist völlig wertlos, wenn man absieht von der Schulung des Gedächtnisses am sinnlosen Stoff! Zweiter Fall: Finden die Schüler aus sich heraus, d. h. s p o n t a n die Hilfslinie, so kann das in der längeren oder kürzeren »Stillbeschäftigung« durch »Besinnung«, d. h. durch ein glückliches Auftauchen früherer Sätze geschehen. Das wäre der Fall der »Mittelaktualisierung« oder der »reproduktiven Mittelabstraktion«. E s wird in diesem Fall das Unbekannte auf ein bekanntes Verfahren zurückgeführt, das sich bereits als zweckvoll (in einem andern Zusammenhang) erwiesen hat. Dabei kann der Lehrer das Bemühen (Experimentieren) seiner Schüler darin unterstützen, die Erinnerung an ein Wissen zu aktualisieren, das einmal — und zwar in einem andern Zusammenhang — »da gewesen ist«, und nun als Mittel zur Lösung eines ähnlichen Falles dienen kann. Die Aufgabe des Lehrers besteht dann darin, den Schüler auf die Bildung eines a n t i z i p i e r e n d e n K o m p l e x s c h e m a s als Ordnungsfaktor hinzuleiten, in dem die gegebenen und gesuchten Stücke enthalten sind, dazu die verlangte Hilfslinie: Hinführung auf den bekannten Satz über Wechselwinkel an Parallelen durch den Otto, Unterrichts! ehre. 13

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Hinweis auf die Wesenseigenschaften (und den Namen!) des Parallelogramms! Dabei muß immer die Z i e l v o r s t e l l u n g als R i c h t u n g s f a k t o r die ganze Kette durchziehen Hat der Schüler den Zusammenhang, die Richtung auf das Ziel verloren, so müssen die Zielvorstellung (Behauptung) sowie die Voraussetzungen von neuem (seitens des Lehrers!) ins Bewußtsein gehoben werden, was mitunter mehrmals zu geschehen hat. Fehlt dieser Zusammenhang, dann bleibt nur ein mechanisches Nachsprechen übrig. Die rein technische Lösung z. B . von Wurzeln dritten Grades oder der arithmetischen Lösung linearer Gleichungen mit zwei oder mehr Unbekannten nach einem Schema hat kaum irgendwelchen formalen, wenn auch gewissen materialen Wert. Dritter Fall: Genügen die Denkanstöße des Lehrers nicht, die Schüler auf eine wesentlich spontane Lösung des Lehrsatzes hinzuführen, was immer in erster Linie anzustreben ist, so kann schließlich auch der Aufweis der Hilfslinie in strenger Zielrichtung in folgenden Stufen der Reaktivität bzw. Spontaneität mit der ganzen Klasse gefunden werden: i . Was ist bekannt ? 2. Was ist gesucht ? 3. Auf welchen Satz weist Wesen und Name des Bekannten hin ? 4. Welche Lehrsätze wißt ihr über Parallelen ? 5. Welcher Satz könnte für das Gesuchte in Betracht kommen? 6. Ist eine Hilfslinie nötig und welche wäre im bejahenden Falle zu ziehen und aus welchem Grunde? Wenn die Hilfslinie aufgefunden ist, so wird nunmehr aus der Figur der Beweis zu erbringen sein, daß die gegenüberliegenden Seiten gleich sind. Diese Zielvorstellung muß als Richtungsfaktor den Ablauf des Geschehens determinieren und zwar bis zur endgültigen Lösung der Aufgabe. E s sind die bekannten Voraussetzungen herauszuheben: A B CD und AD BC. Diese Einsicht in die Struktur des Satzes, die Sonderung von bereits bekannten und gesuchten Größen muß dem Bewußtsein unbedingt gegenwärtig sein. Erst dann kann der Satz aus dieser Struktur der Aufgabe unmittelbar eingesehen werden. Die erste Teiloperation besteht in der Erkenntnis, daß ¿ \ A B D und CDB kongruent sind; die zweite Teiloperation: da die Kongruenz beider Dreiecke infolge bestimmter Merkmale erwiesen ist, so müssen auch die übrigen entsprechenden Merkmale übereinstimmen, also auch A B - CD, AD = BC. Der Gang des mathematischen Unterrichts muß sich der kindlichen Entwicklung des beziehenden und funktionalen Denkens anpassen. Wir wissen, daß die ersten Anwendungen von Zahlen wenig mit der Fähigkeit des Zählens oder mit der Erfassung des Mengebegriffs zu tun haben. Die Kinder gebrauchen anfangs die Namen von Ziffern, wie auch andere Namen, z. T. assoziativ richtig, z. T. wahllos-willkürlich als Begleitung von Bewegungen, z. B . beim Fangen. Es kann zunächst immer ein und dasselbe Zahlwort wiederholt werden, z. B . eins, eins, eins etc.; die Zahlen werden z. T. außerhalb der Reihe, ebenso wie andere »Eigenschaften«, besonders eins und zwei, mit den Dingen verbunden. Erst allmählich lösen sie sich im Prozeß der Abstraktion von den Gegenständen los, werden richtig in der Reihe angeordnet (im Sinne der Ordnungszahlen). Erst ganz zuletzt stellt sich der Mengebegriff ein. Nach W. Stern muß die Mehrzahl der 4-jährigen Kinder noch bei der Menge 3 »zählen«. Natürlich wird die rhythmische Gestalt akustischer Reize schwerer zur Einheit zusammengefaßt als die visuell aufgenommenen. In der Grundschule kann das Rechnen mit den natürlichen Zahlen wohl einsetzen und gepflegt werden, alle eigentlichen Denkbeziehungen, die 1

Auch Ph. Maennchen, Methodik des mathem. Unterrichts, Handb. d. Unt. an höh. Schulen, Frankfurt (Main) 1928, S. 87, betont die Bedeutung der klaren Zielerkenntnis für das Beweisen; desgl. G. Rose, Welche psychischen Kräfte beeinflussen den Vorstellungsverlauf bei der mathematischen Arbeit? Zeitschr. f. päd. Psychol. 31 (1930), Heft ix, S . 5 x 2 ; F. Jungbluth, Mathematischer Arbeitsunterricht, Handb. d. Arbeitsunterrichts f. höh. Schulen, 9, Diesterweg 1927.

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Der mathematische Unterricht

richtige Durchführung von Schlußketten ist aber erst möglich in den Reifungsjahren. Darum sollte man den systematischen Mathematikunterricht, auf den bereits die Einsicht von Gesetzlichkeiten durch praktische Messungen und dergl. allmählich hinführen kann, nicht vor dem 13. Jahre einsetzen lassen, die vorhergehende Zeit aber besser auf die imitative Erlernung von Sprachen verwenden.

Wenn man von einer besonderen »mathematischen« Begabung gesprochen hat J , so ist das insoweit zutreffend, als es auch auf andern Gebieten hervorragend begabte Talente gibt. Bei sicherer Unterrichtsführung ist aber jedes normale Kind in der Lage, die richtige Auffassung von Größenwerten, den Begriff der Abhängigkeit, der (funktionalen) Beziehung in der Algebra und der Geometrie zu begreifen. Daraus ergeben sich folgende Gesichtspunkte für den mathematischen Unterricht, da die Lösungen von Beweisen bzw. Konstruktionen stets mit Hilfe von Abstraktionen, Kombinationen und von Komplexergänzungen gefunden werden, die ihrerseits von schematischen Antizipationen geleitet sind: 1. Es ist immer auf ein umfassendes Verständnis der mathematischen Grundbegriffe, ihres Wesens und Geltungsbereichs, das größte Gewicht zu l e g e n z . B. das gleichschenklige Dreieck, Kongruenz usw. Die Zeichen für grundlegende Beziehungen, z. B. den »Bruch«, müssen vollständig erfaßt sein: Verhältnis von V5. a/s» 3/s u s w - bzw. I / 1 , V3. V4 u s w - : ihr relativer Größenwert. 2. Vollkommene Klarheit und Einsicht in die Struktur der besonderen Rechenoperationen, Lehrsätze etc. Da am Anfang einer zielgerichteten Denkoperation stets die Bildung eines zureichenden antizipierenden Schemas steht, so können die einzelnen Sätze nur dann durch Mittelaktualisierung Verwertung finden, wenn sie sich bereits in ähnlichen Fällen als förderlich erwiesen haben. Außerdem können sie ihre determinierende Wirkung in der Bestimmung des Bewußtseinsverlaufs nur dann entfalten, wenn ihre besondere signifikative Intention erst einmal zum klaren Bewußtsein 1

Die Frage der mathematischen Begabung ist untersucht worden von W . Betz, W . Brown, P. Ruthe, Th. Ziehen, V. Mercante, D. Katz, G. Köhler, H. Wilhelm, B. Schanoff u. a. Vgl. Werner Liedloff, Beiträge zur Psychol. der mathematischen Schulbegabung, Jenaer Beiträge zur Jugend- u.Erziehungspsychologie Nr. 6 (1928). E s ist hier ein Anfang gemacht, die sich vielfach widersprechenden Leistungen kritisch-experimentell nachzuprüfen. Die vielseitigen Untersuchungen lassen sich keinesfalls auf eine Formel bringen, doch zeigen die schlechten Mathematiker vorwiegend einen Mangel an anschaulichem Vorstellen und an Kombinationsfähigkeit; Ermüdung tritt schnell ein. Dazu verweise ich auf G. Rose, Die Schulung des Geistes durch den Mathematik- und Rechenunterricht, Leipzig, und auf die Bücher der Dresdner Arbeitsgemeinschaft, Wege zur Zahl, Dresden. Vgl. die Ausführungen auf S. 222 f. » Vgl. F . Behrend, Mathematischer Arbeitsunterricht, Handbuch f. höhere Schulen, Leipzig 1927, S. 1 ff. 18*

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

gebracht ist (vgl. oben). Danach setzt die spontane Lösung neuer Aufgaben die Beherrschung gewisser Probleme voraus. 3. Jede neue Aufgabe muß in ihrer Struktur genau erfaßt sein, um als auslösender Reiz die angemessenen Mittel zu aktualisieren. E s sind daher die Voraussetzungen und ihre möglichen Beziehungen immer wieder zu vergegenwärtigen, außerdem das Ziel, um durch Reproduktion der zugeordneten Mittel die Produktion besonderer Leistungen zu ermöglichen. — Nach dieser Untersuchung der psychologischen Voraussetzungen fremd- bzw. selbstgerichteter Unterrichtsart prüfen wir die Möglichkeiten ihrer Durchführung und ziehen auch die Naturwissenschaften in den Kreis unserer Betrachtungen. a) Die reine »Stoffübermittlung«. Diese Art ist bereits als unpädagogisch abgelehnt worden. b) Die mehr reaktiven Verfahrensweisen. E s sind folgende Abarten möglich: E s kann den Schülern das Ziel gesetzt werden, es soll also in der Mathematik beispielsweise ein Lehrsatz, d. h. die bestehende Gesetzlichkeit von funktionalen Abhängigkeiten dargelegt werden; Aufgabe der Schüler kann es dann sein, den Beweis selbst zu finden. Damit ist den Schülern die Freiheit spontaner Betätigung in gewissen Grenzen zurückgegeben. Es kann auch der umgekehrte Fall eintreten. E s wird die W e g r i c h tung gewiesen durch Darbietung einer mathematischen Figur (mit oder ohne Hilfskonstruktionen), und die Schüler werden nun zur systematischen Beobachtung aufgefordert. Auch dann kann die Aufdeckung von Gesetzlichkeiten ein Werk größerer oder geringerer Spontaneität sein. Aber der Grundcharakter dieses Verfahrens ist doch um so mehr reaktiv, als die Weisung: »Tue dies oder das!« die Freiheit eigener Stellungnahme einschränkt. Dieses Verfahren ist in Lehrbüchern — auch in sprachlichen Unterrichtswerken — weitgehend geübt und als »Selbsttätigkeit« seitens der Didaktiker empfunden worden. Ich gebe das folgende Beispiel, um zu zeigen, welche Freiheiten immerhin in diesen Anleitungen zum gründlichen Beobachten und Versuchen (mit planvollem Bericht) bestehen 1 : Vom Kaninchen. Hast du Lust zur Kaninchenzucht? Erkundige dich über verschiedene Kaninchenrassen und nach ihren Eigenschaften 1 Welche Rasse scheint dir zur Zucht die geeignetste zu sein ? (Da mußt du den Z u c h t z w e c k beachten). Berichte tiber die Einrichtung eines Kaninchenstalles! Zeichne einen Plan hiezu und baue selbst einen Stall für deine Pfleglinge! 1

Haudek-Hübner-Kittel, Schaffen und Schauen, Prag 1931.

Naturwissenschaften

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Womit werden Kaninchen gefüttert ? Ihre Anspruchslosigkeit im Futter (Abfälle aus der Küche) und Genügsamkeit im Räume ermöglichen die Kaninchenzucht in jedem Haushalte. Bestimme das Gewicht der Nahrung, die ein Kaninchen täglich verzehrt I Vergleiche dieses Gewicht mit dem Körpergewichte des Kaninchens! Vergleiche das tägliche Futtergewicht mit dem Körpergewichte des Hundes — der Katze 1 Rechne! Begründe die Unterschiede aus den Nährwerten! Welche Einwirkung hat die Gefräßigkeit des Kaninchens auf das Wachstum? Wirf einem Kaninchen eine Rübe (Möhre) vor und achte auf die Tätigkeit der Schneidezähne! Beiße in einen Apfel und ahme diese Zahnbewegung nach! Beobachte die Bewegung des Unterkiefers beim Kauen der Nahrung! Mach's nacht Beschreibe die Lippen des Kaninchens! Sprich über den zweckmäßigen Bau der Oberlippe! Zeichne sie! etc. Entsprechend der Naturgeschichte heißt es dann in der Naturlehre: Kaufe, betrachte, entzünde, gieß etc., beobachte, schmecke etc., vergleiche, beschreibe, erkläre etc.! Sollte man derartige Erfahrungen und didaktische Hinweise nicht vielmehr dem Lehrer an die Hand geben (in Frankreich: livre du maltre!) und die Schulbücher nur vom Standpunkt der M e t h o d i k verfassen? Man betrachte unter diesem Gesichtswinkel einmal unsere »Schulbücher« aller Fächer. Nun kann man noch weiter gehen und den Schülern auch die A n leitungen mehr oder weniger überlassen; damit tritt eine beachtenswerte Wendung in der Didaktik ein. c) Das wesentlich selbstgerichtete Verfahren vollzieht diesen Schritt. Damit übernimmt der Schüler weitgehend die V e r a n t w o r t u n g geordnete Durchführung des Unterrichts.

für die

Dann eröffnen sich folgende

Möglichkeiten: In rein spontanem Verfahren müßten die Schüler den grundlegenden Ansatzpunkt des Problems, die Wegrichtung bestehender Lösungsweisen, das Ergebnis und seine Formulierung selbst finden und auch die Anwendung der Einsicht zur Erörterung stellen. Das alles ist aber nicht durchführbar; insofern ist der rein spontane Unterricht keine Tatsache, sondern nur eine Idee, eine Aufgabe. Die Auffindung der P r o b l e m e ist in der Physik, Chemie, Biologie nur aus dem Erlebnis eigener Erfahrung, vielleicht aus der Not dieses oder jenes Lebenszwanges, in der Mathematik schließlich noch weniger zu erwarten.

Ein ganz freies Nachgeben derartiger Anregungen würde hier

und da dem Bedürfnis vereinzelter Schüler Rechnung tragen und dann völlig unsystematisch verlaufen; es könnte also nur propädeutisch als erste Einführung aufgenommen werden. Dagegen bietet sich die Fülle der Gelegenheiten, die Schüler selbst nach T e i l p r o b l e m e n fragen zu lassen J .

In diesen Fällen ist immer ein

Die Schüler können selbständig Probleme finden durch Vergleich, durch Verallgemeinerung, durch Umkehren eines Lehrsatzes, durch Determinierung mathematischer Probleme, durch Systematisieren. V. Gurski, S. 26 ff. (s.u.). 1

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

ähnliches Problem behandelt worden bzw. eine Anschauung gegeben, an die sie nun besinnlich anknüpfen können, wenn sie dazu erzogen sind. Ist z. B. festgestellt, daß in jedem Parallelogramm je zwei gegenüberliegende Seiten gleich sind, so taucht leicht das Problem auf, wie sich zwei gegenüberliegende Winkel verhalten mögen. Wird den Schülern statistisches Material zur eigenen Bearbeitung in die Hand gegeben, so sind diese Tabellen schon unter bestimmten Gesichtspunkten angefertigt. Wird das Material von der Schülerschaft selbst zusammengetragen, so muß der Gesichtspunkt schon vorher festgelegt sein, unter Mithilfe des Lehrers oder im Rahmen und im Anschluß an ähnliche Betrachtungen. Wenn nun der Lehrer, dem doch der einigermaßen geordnete Aufbau des Systems obliegt (Lehrpläne I), die Schüler auf das Problem oder ein Teilproblem hingeführt hat, so kann in freier Spontaneität einmal das Z i e l , d. h. das Ergebnis (ein Faktum, eine Gesetzlichkeit) einer Aufgabe, und ebenso die W e g r i c h t u n g spontan erarbeitet werden, sei es in der Stillbeschäftigung, sei es in gemeinsamer Aussprache oder auch in Gruppen (in gleicher Front) Wie aus den psychologischen Vorbemerkungen hervorgeht, gilt es zunächst, das Z i e l möglichst klar zu erfassen, um die Lösung einer Aufgabe bewältigen zu können. Das Ergebnis kann in einem Akte intuitiver Überschau durch Vermutungen vorausgenommen werden oder auch dadurch, daß der Schüler planmäßig diese oder jene Größe abändert und im Experiment, durch Schätzung oder Messung die gesetzlichen Beziehungen induktiv e r a r b e i t e t D a m i t wird einmal ein erhöhtes Interesse erregt und sodann das antizipierende Schema der Zielvorstellung in erhöhte Wirkbereitschaft gesetzt. Taucht z. B. die Frage nach der Größe des Peripheriewinkels im Halbkreise auf, so kann die Variation der verschiedenen Möglichkeiten (Zeichnungen oder mit Hilfe eines Bindfadens) den Tatbestand klar hervortreten lassen. Daß Scheitelwinkel einander gleich sind, erhellt aus der Drehung einer der beiden geraden Linien. Der Aufweis derartiger Abhängigkeiten führt im Gedankenexperiment oder an der empirischen Anschauung (zwei Stäbe) auf den Funktionsbegriff hin. Damit wird sehr häufig auch der deduktiven Erarbeitung im wissenschaftlich-verantwortlichen Beweis der Weg bereitet; zugleich werden die Einzelforderungen einer exakten Formulierung eingesehen.

In der Physik, Chemie und Biologie nimmt das wirkliche Experiment einen breiteren Raum ein, namentlich in den Oberklassen der theoretischen Schulen, und durchzieht in verschiedenartiger Weise den Vortrag und die gemeinsamen Überlegungen, bald als mehr r e a k t i v e s Ausführen, dann aber in höchster Steigerung der Aufmerksamkeit beim planmäßigen Beobachten und Denken, bald als vorwiegend s p o n t a n e Leistung der Schüler. In dieser Mannigfaltigkeit seiner Verwendungsmöglichkeiten ist das Experiment teils mehr didaktische Demonstration, teils methodische Varia1 Ich verweise auf H. Frank, Beiträge zur Methodik des mathematischen und physikalischen Unterrichts, Frankfurt (Main) 1930, das ungemein reich an Katschlägen und praktischen Beispielen ist; desgleichen Gurski-Streicher-Disse-Küchmann, Die Durchführung des Arbeitsschulprinzips im mathematischen Unterricht. Beiheft zur Zeitschr. f. mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, 16, Leipzig und Berlin 1931. 2 Siehe dazu die Richtlinien des Mathematischen Reichsverbandes zur angewandten Mathematik (Hamel) sowie die Lehrpläne für darstellende Geometrie (Dorner) im Deutschen Philologen-Blatt 35 (1927), Nr. 46 bzw. 35.

Naturwissenschaften

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tion von Zuordnungen, was wohl zu unterscheiden ist. Es ergeben sich dann verschiedene Möglichkeiten. 1. S c h a u u n t e r r i c h t im Laboratorium oder im Freien (Schulgarten) als Ergänzung von Erfahrungen, auch von Ausflügen oder Wanderungen: analytisches Verfahren. 2. Ü b u n g e n , anfangs mehr in gemeinsamer, später mehr in getrennt-gemeinschaftlicher oder in getrennter Front (freie Arbeitsgemeinschaften!), entweder in den Vortrag des Stoffes eingebaut oder auch als Wechselunterricht im vereinigten Lehr- und Übungsraum. Bloßer Übungsunterricht allein ist nicht zu empfehlen, am wenigsten für den Anfangsunterricht! Analytisch-synthetisches Verfahren. 3. A u s w e r t u n g des Erfahrenen und Geschauten. Synthetisches Verfahren. Im allgemeinen wird sich der Unterricht in folgenden Stufen abwickeln 1 : Erkennen eines Problems auf Grund älterer Erfahrung bzw. augenblicklicher Beobachtung. Erörterung der mutmaßlichen Zusammenhänge *. Durchführung dieses oder jenes Versuchs im Gedankenexperiment: die einfachste Versuchsanordnung, Geräte bzw. Heraushebung kennzeichnender Merkmale (Biologie, Chemie). Wirkliche Durchführung der Versuche im Übungsunterricht der Schüler (Messen; qualitative Bestimmung von Pflanzen) und im Schauunterricht, vom Lehrer bzw. einzelnen Schülern vorgeführt 3. Ordnen des Materials (Niederschriften!); Schlußfolgerungen: Bestätigung gesetzlicher Abhängigkeiten; gegenseitige Kritik; begriffliche Formulierung des Gefundenen. Anwendung der festgestellten Tatsachen 4 und Gesetze, z. T. mit neuen Versuchen von ' Vgl. Hermann Hahn, Physikalischer Arbeitsunterricht, Handb. f. höh. Schulen, Leipzig 1927, S. 28 f. Auch die Aufsätze von H. Petzold u. M. Herberg; ebenso die methodisch-didaktischen Handbücher f. Physik, Chemie u. Biologie, erschienen bei Quelle u. Meyer (K. Hahn, K. Scheid, W. Schoenichen) und bei Diesterweg (K. Gaß, R. Winderlich, K. Heilig u. K. Heinemann); ferner G. Kerschensteiner, Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts, Leipzig-Berlin 1928, S. 48 ff. Kerschensteiner betont mit Recht, daß es (im allgemeinen) nicht Aufgabe der praktischen Übungen ist, Gesetze durch Induktion aufzufinden, sondern irgendwelche Erscheinungen zu erklären und weiterhin auf praktische Aufgaben des Lebens anzuwenden. Vgl. dazu K. Gaß, a. a. O. S. 147 f., K. Hahn, a. a.O. S. 103 f., u. W. Morgner, Die Formen des physikalisch-chemischen Arbeitsunterrichts, Leipzig 1928, S. 55 ff., Schlußkapitel (Forschungsunterricht). 1 Dies Verfahren ist um so wichtiger, als es an den historischen Verlauf der großen Entdeckungen erinnert, z. B. Galileis Feststellung der Fallbewegung: Der Ansatz v = g . t g führt ihn zur Formel s = - 1 1 (Integration durch graphische Darstellung). Da die Fall2 bewegung schwer zu messen ist, kann Galilei jedoch an der verlangsamten Fallbewegung der schiefen Ebene seine Hypothese bestätigen. 3 Für die Physik verweise ich auf die »Technik des physikalischen Unterrichts« meines Lehrers Friedrich C. G. Müller, Berlin 1926. 4 Man spreche nicht von den Gesetzen einer realen, vom Menschen unabhängigen Welt. Denn alle Gesetze drücken »Beziehungen« aus zwischen der objektiven Welt der Dinge und unserer überindividuellen Organisation. Diese Gesetzmäßigkeiten werden nicht als Konventionen zu irgendeinem Zweck von uns »erfunden« (James), sondern »entdeckt«! Aufgabe der Naturwissenschaft ist dann die Zuordnung von übersubjektiven Erlebnissen zu einem Zeichensystem und dessen allmählicher Ausbau.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Lehrern und Schülern. Einreihung der neuen Einzelerkenntnis in das Ganze und zwar sowohl historisch (die großen Entdecker; unsere Wirtschaftslage) wie systematisch '. Wiederholung, bald immanent bei späteren Problemen oder auch unter neuen (praktischen) Gesichtspunkten, bald in zusammenfassender Übersicht der Hauptgesichtspunkte.

Wenn auch das eigene Sich-Mühen um Ziel und Wegrichtung nicht bloß die systematische Beobachtungsgabe stärkt, ebenso die Denk- und Phantasietätigkeit und die Selbständigkeit (den »Willen«), den Zwang zur Selbstkritik und in ganz hervorragendem Maße das Verantwortungsgefühl innerhalb der Werkgemeinschaft, sondern auch die beste Gedächtnisstütze für das Selbst-Erarbeitete ist, so darf über das eigene Erarbeiten nicht das sinnvolle Üben (Rechenfertigkeit!), die Auswertung und Anwendung und das E i n ü b e n der Sätze vergessen werden. Sonst fehlt die sichere Grundlage für spätere Leistungen. Es hängt von den Fähigkeiten, den Interessen und namentlich der Schulung einer Klasse ab, wieweit der Spontaneität vertraut werden kann, wieweit andererseits die gesteigerte Reaktivität an ihre Stelle treten muß. In diesem Ausgleich der Spannungen zwischen zwei Forderungen, dem spontan-bildenden Unterricht und der Zeitökonomie (Erledigung des »Pensums«!), liegt das große Problem der Unterrichtsführung, das im einzelnen Fall immer nur vom richtigen »Takt« des Lehrers gelöst werden kann. Soviel wird aber klar sein, daß die Forderung einsichtiger mathematischnaturwissenschaftlicher Schulung und Durchbildung dringend eine Entlastung der Lehrpläne von entbehrlichem Stoff erheischt1 und daß überdies der kürzeste Weg der geschäftigen Stoffübermittlung (Zwang!) schwerlich zum Wunschbild freier Selbstbildung führt. Dieses Ziel ist nur in der Spontaneität einer freien Unterrichtsführung zur Selbstverantwortung zu erreichen. Damit mündet der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht in die allgemeinen Forderungen alles erziehlichen Unterrichts ein. Wir werfen von hier aus einen Seitenblick auf die didaktische Behandlung der Geographie. Vgl. oben S. 1 7 9 ff. In dieser Disziplin handelt es sich weniger darum, die mechanischen Abhängigkeiten der physischen Geographie als E i n z e l e r s c h e i n u n g e n an sich, also nach ihrem rein p h y s i k a l i s c h e n Charakter darzustellen; das ist vielmehr Sache der Physik und der Chemie. Wohl wird man jedoch vom e n t w i c k l u n g s geschichtlichen Standpunkt das Wirken der kulturellen Richtkräfte auf Grund der vorliegenden Bedingungen herausstellen, vor allem aber, unter finalem Gesichtspunkte, das mehr oder weniger bewußte Wirken und Handeln der Menschen unter diesen oder jenen Voraussetzungen. Hier kommt es uns besonders darauf an zu betonen, daß die K o r r e l a t i o n 1 1

Z. B. Arthur Haas, Das Naturbild der neuen Physik, Berlin u. Leipzig 1924. Dartiber hat H. Frank, a. a. O. S. 19 f. sehr beachtenswerte Vorschläge gemacht.

281

Das werktätige Schaffen

wesensgemäß-zugeordneter Faktoren an der komplexen Gestalt der verschiedenen L a n d s c h a f t s t y p e n zunächst r e a k t i v unter Leitung des Lehrers, später immer mehr s p o n t a n von den Schülern erarbeitet werden kann und zwar zunächst an dem Erschauen und dem Erlebnis der Wirklichkeit, d. h. an der konkreten Struktur der eigenen Heimat (geographisches Beobachten und Sehen-Können), sodann mehr und mehr an den künstlichwissenschaftlichen Hilfsmitteln: Bild, Sandkasten, Relief, Modell, typischer Skizze, an den verschiedenen Karten und Statistiken. Das planmäßige Beobachten der natürlichen Kulturlandschaft (»Erwandern«) wie das systematische Studium der Karte greifen dann abwechselnd ineinander, sich gegenseitig befruchtend und korrigierend. So werden die wechsels e i t i g e n A b h ä n g i g k e i t e n der verschiedenen Komponenten in ihrer g e s e t z l i c h e n Verknüpfung eingesehen. Wir nennen das »geographisches Verständnis«. Lage (und Grenzen), Oberflächengestaltung (geologischer Aufbau), Boden und Gewässer, Klima, Pflanzen und Tierwelt, Wirtschaft, Siedlung, Verkehr, Volkstum (Sitte, Kleidung, Nahrung), Staat und Politik erscheinen als wesensgemäß zugeordnete Partialfaktoren der verschiedenen »Typen«, die im gefühlsmäßigen Wollen oder klar bewußten Kulturwillen des Vernunftmenschen ihren tiefsten Beziehungskern besitzen. Das geographische Gedankenexperiment der Variation eines Faktors erhebt die wesensnotwendige Verkettung aller Teilfaktoren eines Landschaftstypus zur klärenden Einsicht. Zu diesem Verständnis muß der geographische Unterricht, auf sicheren Kenntnissen von Einzelheiten fußend, aus der spontanen Befragung des Gegenstandes allmählich vorstoßen. C. D a s w e r k t ä t i g e

Schaffen.

Wie sich der Organismus entwicklungsgeschichtlich, ontogenetisch wie phylogenetisch, aus einem wenig gegliederten Ganzen entfaltet, so ist auch der Prozeß werktätigen Gestaltens am sinnlichen Material, also auch des Schreibens, Zeichnens, Malens und Komponierens, keineswegs ein Akt mechanischer Addition, sondern die organische Ausgliederung eines Bewegungsganzen aus einem e i n h e i t l i c h e n »Vorgestalterlebnis« und zwar in einem rhythmischen Arbeitstempo, das in der entspannenden Gleichförmigkeit des Berufslebens lustvoll erlebt wird Daraus erhellt die weittragende Bedeutung des individuellen und des überindividuellen Gruppenrhythmus für alles werktätige und künstlerische Schafifen. 1

Überall wo indes beim

K . Reumuth, Über rhythmische Gestaltbildung bei Arbeitsbewegungen in den weib-

lichen Nadelarbeiten, Ztschr, f. päd. Psychol. 29 (1928), S. 571 fl.; Fr. Sander, Räumliche Rhythmik, Neue psychol. Studien, her. v . F . Krueger, 1926, S. 123 ff. — Die Lehre von der »Gestalt«

(Gestaltpsychologie)

wird die Theorie des Schaffens,

schaffens, wesentlich beeinflussen können.

namentlich

des

Kunst-

282

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Sprechen, Schreiben, Zeichnen, Schreiten, Tanzen, Gestalten, Wort-Lernen etc. keine r h y t h mische Gliederung vorliegt, z. B. beim mechanischen Kopieren wie bei aufgezwungener Dressur, stellt sich kein schwingender Wechsel spontaner Spannung und Lockerung ein, keine Kraftersparnis, keine Beruhigung, sondern Überreizung, Erstarrung. Das gilt f ü r die Arbeit in der Schule wie im Beruf, was schon Karl Bücher so meisterhaft gezeigt hat. H a n s von Bülow konnte demgemäß sagen: im Anfang war der Rhythmus. Danach ist auch die spontan-rhythmische Durchgliederung aller Schularbeit nach dem menschlichen Entwicklungsrhythmus in der Periodisierung der Jahre, in der Gliederung jedes Jahres, der Jahreszeiten, der Wochen, jedes Tages, jeder Stunde, jeder Einzelhandlung eine bedeutsame, nur im einzelnen zu verfolgende Aufgabe einer besonderen Didaktik «. Wenn aller Stoff letzthin nur Bewegung ist, Leben und Geistigkeit aber Ausgerichtetheit bedeutet (s. den i . Hauptteil), so ist bereits Eurhythmie i. w. S. echter Ausdruck menschlichen Seins und Wirkens.

Im Gegensatz zur theoretischen Besinnung (»theoretischer Intelligenz«) besteht das wesentlich andere des technischen produktiven Sinnschaffens darin, daß es nicht einem bewußt-analysierenden Denken entspringt, sondern die vorgegebene Gestalt in einem Akt u n b e w u ß t - i n t u i t i v e n Aufspürens erfaßt. Fr. Dessauer sondert mit vollem Recht den systematisch analysierenden und kombinierenden Forscher vom künstlerischen Ingenieur, dem plötzlich und überraschend die Lösung vor Augen tritt z . Sehr treffend schreibt Schopenhauer an Goethe, daß jedes Werk seinen Ursprung »in einem einzigen glücklichen Einfall« habe 3. Damit ist, in der extremen Isolation, ein entscheidender Unterschied zwischen dem theoretischen und dem praktischen Menschen gewonnen. Dieser Erkenntnis darf sich auch die praktische Schule in keiner Weise verschließen. Sie dient weniger der Schulung des wesentlich beziehend-analysierenden, sondern des »technischen Denkens«, d. h. des anschaulichen Erfassens von Gestalten. Daher muß auch aller theoretische Unterricht auf der praktischen Schule seinen Ausgang von der g a n z h e i t l i c h e n Wirklichkeit nehmen und dann erst die Einsichten im Prozeß der Besinnung mehr und mehr klären, möglichst auf der Grundlage des Schaffens und Handelns. Als praktisches Beispiel des rhythmischen Ausgliederungsprozesses aus einem Ganzen im mehr oder weniger bewußten Schaffen bzw. theoretischen Lernen ziehe ich den Vorgang 1

S. dazu E. Meumann, Vorlesungen, III. Band. Vgl. dazu oben S. 160 f. die Unterscheidung zwischen dem analysierenden Gelehrten und dem synthetisch-schauenden Künstler. 3 Vgl. oben S. 84 ff. Dazu stimmt das Selbsterlebnis, das M. Berthfeld mitteilt. Vom Fonnensmn, Die Arbeitsschule 42 (1928), S. 23 f. Erika Scheringers Experimentelle Untersuchungen über die anschaulich-motorische Kombination (prakt. Intelligenz), Langensalza 1928, hat es im wesentlichen mit einem Mischtyp, dem intelligenten Erfinder zu t u n : ihre Vpn. sind Studierendel Dennoch wird hervorgehoben, daß die Lösung auch »mehr oder weniger rasch« von selbst auftaucht (S. 37); daß »die richtige Methode nicht bewußt, sondern mehr zufällig oder instinktiv befolgt worden war« (79, 94); daß »die gesamte Lösung sofort übersehen«, ohne »logische Schlüsse« gefunden wurde (S. 61); die Lösungen »kamen von selber an« (17). Auch L. Thorndike, Psychologie der Erziehung, Jena 1930, S. 108 f., läßt durchblicken, daß das Schaffen ohne bewußt-klarere Einsicht vor sich gehen kann. 1

Das werktätige Schaffen

283

des Lese- und Schreibunterrichts heran. Die Aufgabe besteht darin, den Gang des Unterrichts aus dem Zusammenhang der kindlichen Auffassung und Außenwelt, aus der phantasievollen Symbolik des anschaulichen Erlebens und der spielerischen Beschäftigung herzuleiten. Wie alles Lernen, so ist auch das Lesen keine mechanische Technik, sondern das Erfassen und Ausgliedern eines einheitlichen Sinngehaltes. Angemessenes Lesen der Buchstaben und Worte setzt somit ein Eindringen in die Ganzheit einer Sinnstruktur bereits voraus — Sinn diesmal in weitester Bedeutung genommen. Die Ausgliederung der künstlichen Schrift aus dem Sinnzusammenhang der Worte und Sachverhalte macht folgende Schritte notwendig: 1. Die E i n b e t t u n g der Laute (beispielsweise: f) in eine erlebte G a n z h e i t s s i t u a t i o n (Sachunterricht). Erzählung und Bild: ein Kind bläst mit einem scharf artikulierten f—f ein Licht aus. (Nach Max. Schlegl.) Vielleicht greift man in Hilfsschulen noch besser eine Stufe im seelischen Erleben zurück und geht nicht von einer Erzählung, sondern von emotionalen Erlebnissen aus (z. B. ah\), indem man das Lautieren mit Gebärden verknüpft; diese Gebärden (Berühren der Magengegend!) lösen sich dann erst ganz allmählich ab von dem Laute und dem Zeichen (a).

2. Die V e r a n s c h a u l i c h u n g der A r t i k u l a t i o n (f) im Abbild (eines scharf artikulierenden Kindes), im Schema (Querschnitt) und in der Natur (mit Hilfe eines Spiegels). Beschreibung und Übung der Artikulation, einzeln und auch im Chor: Intensität der Reaktivität und Handlung! 3. B i l d h a f t e V e r a n s c h a u l i c h u n g und Aussprache von W ö r t e r n , die ein f enthalten, synthetisch-analysierendes Selbstfinden geeigneter Wörter! 4. V e r k n ü p f u n g von B i l d e r s c h r i f t und von V e r l a u t b a r u n g des Buchstabens aus der anschaulich-bodenständigen Ganzheitslage: das mit dem Geräusche f—f—f ausgeblasene Licht-Lautzeichen. Siehe die Figuren 11 Rückgang auf den Abbildcharakter der Bilderschrift und die symbolische Einkleidung! 5. Legen von B u c h s t a b e n und W o r t z e i c h e n mit Stäbchen: spielerische Beschäftigung! Später Verwendung des Setzkastens. Die Schrift ist also als »Leistung« zunächst Nebenprodukt: Heterogonie der Zwecke. Wendung zum Schallen! 6. B i l d h a f t e V e r a n s c h a u l i c h u n g des Gehalts eines L e s e s t ü c k s , in dem der Buchstabe f gelesen, gesprochen und — nach vorbereitenden Übungen rhythmischer Handgeschicklichkeit — auch geschrieben wird: Übung und Einübung. Alles dies unter Leitung des Lehrers im ganzen, als spontanes Tun der Schüler im einzelnen. Diese Ausführungen sind nur dann verständlich, wenn man die organisch gewachsene Einheit zwischen Bedeutung, Lautbestand und auch der Schrift (als organisch gewordener Anzeichen!) eingesehen hat, wie ich sie oben (S. 171 f.) dargelegt habe. Da sich der Schüler in diese ganzheitliche Einheit von Satzgefüge, Wortschatz, Aussprache und auch Schreibung eines teils volkhaften, teils allgemeinmenschlichen Kulturbesitzes erst allmählich einleben 1

Von der ganz andern Problematik: Antiqua oder Fraktur, ist hier abgesehen.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

soll, müssen zunächst einmal künstliche Brücken zwischen den Gliedern des Wortkomplexes (Bedeutung, Lautung, Aussprechen, Schrift) geschlagen werden. Daher die Anknüpfang des Schriftzeichens an ein Abbild und seine symbolische Einbettung. Je mehr Lautklang und Schriftzeichen zum organischen Anzeichen werden, je mehr können die künstlichen Zwischenglieder in Fortfall kommen. Stellt man die Frage, ob die analysierende Globalmethöde, d. h. die ganzheitliche Auffassung ganzer W o r t b i l d e r in Verknüpfung mit Schrift, Erzählung und Handlung, dazu später des Schreibens, also mit Umgehung von Silben und isolierten Buchstaben, der kürzere und natürlichere Weg des künstlichen Lesen- und Schreibenlernens ist, so scheint mir die Frage für eine endgültige Entscheidung noch nicht reif zu sein. Es werden noch weitere experimentelle Untersuchungen und dazu praktische Erfahrungen abgewartet werden müssen Bisher steht fest, daß die Globalmethode in denjenigen Sprachen, deren Recht' Schreibung wesentlich von der Aussprache abweicht, größere Vorteile gewährt. Demnach scheint für das Deutsche ein vermittelndes Verfahren empfehlenswert zu sein

In didaktischer Hinsicht folgt aus den vorstehenden Ausführungen, daß alles Schaffen nie und nimmer eine äußerlich übernommene Technik oder gar ein wesensfremdes Kopieren des autoritativ Aufgedrängten sein kann, sondern zunächst nur eine freie Beschäftigung und Betätigung der sich regenden Formkräfte des Kindes. Man lasse daher anfangs alle Kräfte frei wachsen und zwar einmal für die Übung der Funktionen, das instinktiv in uns angelegte Gefühl für Dynamik und Rhythmik und dazu die gleichfalls dispositionell vorhandenen Richtkräfte formgestaltender Art, die sich zwanglos an echten Schöpfungen der Kultur auszurichten beginnen 3. Erst später setzt ganz allmählich die planvolle Unterweisung • ein, die technische Schulung von Auge und Hand, wenn das heranreifende Kind die »Wirklichkeit« des Gegenstandes zu entdecken beginnt und zu seiner deutenden Darstellung übergeht. Und auch dann nicht zu viel systematisieren! Demnach sind zunächst die instinktiv-primitiven Handbewegungen wie Fassen und Fangen, Werfen und Stoßen sowie die elementaren Griffe der Arbeitshand zu vervollkommnen, d. h. die Grundfunktionen 1

K. Sterns Untersuchung, Zur Analyse des Lesenlernens, Bericht über den XII. Kongreß der Deutschen Gesellschaft f. Psychologie, Jena 1932, S. 423 ff. 1 Vgl. O. Decroly, Le principe de la globalisation appliqué ä l'éducation du langage parlé et écrit, Arch. de psych. 20 (1927), S. 324 ff. 3 Über die Zusammenhänge zwischen Kinderzeichnung and (Gebärden-) Sprache siehe P. Metz, Die eidetische Anlage der Jugendlichen in ihrer Beziehung zur künstlerischen Gestaltung, Studien zur psychologischen Ästhetik, hrsg. von E. R. Jaensch, Heft 2, Langensalza 1929, S. 98 fi.; R. Nolte, Analyse der freien Märchenproduktion, ebd. Heft 4, 1931, S. 130 fi. — Auf musikalischem Gebiet: H. J. Moser, Grundfragen der Schulmusik, Leipzig u. Berlin 1931, S. 69 ff. 4 Für das Zeichnen verweise ich beispielsweise auf G. Britsch, Eg. Kornmann, F. Cizek, J. Ettel, G. Kolb, E. Heckmann, Chr. Natter; R. v. Larisch; R. Rothe, O. Wulff, F. L. Rodt etc. Sehr bemerkenswerte Warnungen gibt W. Pfleiderer, Die Geburt des Bildes, Stuttgart 1930. Vom Ausland wären vor allem schweizerische und russische Einflüsse zu erwähnen.

Das werktätige Schaffen

285

des Menschen schlechthin 1 . Vor allem sind alle Entgleisungen sowie alle unechten Erklärungen fernzuhalten; es ist die werkgerechte und künstlerische Haltung von vornherein zu wahren, die eigene »Reihung« auf das Ganze in der subjektiv-persönlichen Einstellung und in der objektiven Darstellung vorsichtig »auszurichten«. Nur so ermöglicht sich die Formung der Persönlichkeit im ungezwungenen Schaffen. Es leuchtet ein, daß die freie Ausreifung und zwanglose Ausrichtung der gestaltenden Kräfte nur in der Spontaneität des Leistungsunterrichts möglich ist. Dazu gehört aber, wie wir immer wieder betonen mußten, die Übernahme der V e r a n t w o r t u n g für das eigene Tun innerhalb der Gemeinschaft. Aus diesem Grunde haben wir den Werkunterricht in die engste Beziehung gesetzt mit dem Sachunterricht in der Schule und mit dem Leben in Familie und Schule (S. 226 f.). Auf diese Weise ergibt sich die Erziehung des praktischen Menschen für die künftige Wirtschaft, die nicht mehr die Freiheit des Gegeneinander sein darf, sondern die Pflicht des Miteinander aller beruflich Tätigen sein muß; nicht atomisierende Konkurrenz, sondern gemeinsame Führung in Erzeugung, Güterverteilung und Finanzgebarung; nicht Willkür, sondern Selbstdisziplinierung; nicht zufällige Spekulation, sondern gliedhafte Durchgruppierung eines Wirtschaftsganzen. Diese sittliche Zielsetzung wirtschaftlichen Tuns ermangelt aber noch der spezifischen Komponente, die im Werkunterricht nur allzu oft übersehen wird. Die bloße Schulung der Muskeln, ihre Koordination, die Übung der Sinne, die Aneignung von Fertigkeiten und von Materialkenntnissen, schließlich die Herstellung des Gegenstandes ist sicherlich nicht der letzte Sinn des »Werkens«, sondern das angemessene Verständnis für Technik und Wirtschaft. Dies Verständnis geht aber zurück auf den geistigen Gehalt der ökonomischen Sphäre, d. h. auf das Prinzip der größten Kraftersparnis unter dem geringsten Einsatz von Material und Werkzeug, von Arbeitskraft und Zeit. Wo der spontane Leistungsunterricht dieses Prinzip des praktischen Schaffens übersieht, wird er seinem eigenen Wesen untreu. Alle Erörterungen des werktätigen Arbeitsunterrichts, die nicht bis zu diesem Punkt vorstoßen, bewegen sich auf einer zu niedrigen Ebene, auch wenn noch so viel von schöpferischer Selbsttätigkeit gesprochen wird. Denn Zielsetzung, Ausführung und Wahl des Materials unterstehen der Idee des ökonomischen S c h a f f e n - W o l l e n s 3 . Zu dieser Ökonomie gehört auch die Pflege des eigenen Ich: in Haus und in Werkstatt 1

Fr. Giese, Berufspsychologie und Arbeitsschule, Prag-Wien 1921, S. 30 fi.; dazu G. Zwiener, Grundlegung des Werkunterrichts, Leipzig 1926, S. 39 ff. > H. de Man, Der Kampf um die Arbeitsfreude, Jena 1927, S. 158 f., eröffnet wichtige Einblicke in das Verhältnis von Mensch und Werkzeug (bzw. Maschine).

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

nicht der Arbeit zu erliegen l . Auch der Besuch der heimatlichen Umwelt, der Arbeitsstätten der Industrie und des Landlebens, ist unter den Gesichtspunkten der Ökonomie — wie auch der vorher erwähnten sittlich-gesellschaftlichen Pflicht wirtschaftlicher Verantwortlichkeit vorzunehmen. Dabei ist immer von den besonderen Interessen der männlichen bzw. weiblichen Jugend auszugehen, in den Schulen der Stadt wie in denen des flachen Landes: 2 die standortgebundene Leistung! Dann wird der Oberstufe der praktischen Schule die eigene Kulturidee nicht mehr fehlen, ihre organische Einfügung in das Sinngefüge unseres heutigen Lebens — alles das, was man in der bekannten Tagung des Zentralinstituts zu Berlin über die Oberstufe der Volksschule mit so starkem Verlangen gesucht hat 3 (Langensalza 1932). Diese Pflege der ökonomischen Gesinnung als eines geistigen Faktors wird die Volksschule davor bewahren, dem öden Materialismus bloßer Technik und Schulung zu verfallen oder der bunten Mannigfaltigkeit verschiedener und wesensfremder Ansprüche zu erliegen 4. Auch vieles, was man über die verfehlte Idee der Oberrealschule als theoretischer Veranstaltung gesagt hat, könnte hier ihre sinngemäße Anwendung finden: stärkere Betonung des wirklichkeitsnahen Menschen, dazu die besondere Pflege der Naturwissenschaften auf praktischer Grundlage, einschließlich des Zeichnens. —

Ich betrachte den allmählichen Übergang einer vorwiegend reaktiven zur mehr spontanen Unterrichtsführung unter folgenden Gesichtspunkten: i. Als schüchte A n a l y s e unseres Daseins ist die tägliche und stündliche, aus der Not geborene Auseinandersetzung des Kindes wie des Erwachsenen mit der gegebenen Umwelt ein allerdings planloser, aber doch spontaner Prozeß; der ziel- und planvoll geleitete Unterricht zwecks Klärung und Bereicherung der Lebenserfahrung kann ihn jedoch systematisch ausbauen. Das analytische Verfahren geht von dem gegebenen Ganzen aus; es dient der Sinndeutung der heimatlichen Welt in der Gegenwart und wendet sich dann mehr und mehr den entfernteren Sachkreisen des Volkes und der Menschheit zu. Immer sind Blick und Herz zu weiten, am das umgebende Leben in aller Wirklichkeit voll einströmen zu lassen und das Geschaute aus nationalen Lebensbedürfnissen zur Besinnung zu erheben. 1

Vgl. P. Ostreich, Die Produktionsschule, Berlin 1924, S. 239. Köhler-Reininger-Hamberg, Entwicklungsgemäßer Schaffensunterricht als Hauptproblem der Schulpädagogik, Wien-Leipzig 1 9 3 1 . 3 Dazu P.Mahlow, Gibt es eine Not im Oberbau der Volksschule?, Beilage zur Pr. Lehrer-Zeitung 1930, Nr. 137. 4 Das betont auch Fr. Giese, Bildungsideale im Maschinenzeitalter, Halle (Saile) 1931, z. B. S. 92 S., 126, 197 ff., 237. Dagegen werden viele seiner beruflichen Forderungen der Idee einer Volksschule als Stätte allgemeiner Menschenbildung keineswegs gerecht. Arno Förtsch, Werkliches Gestalten in der Volksschule, Jena-Plan II, Weimar 1930, S. 19, betcnt, wie wichtig es ist, daß die Schüler sowie auch die Lehrer einheitlich Hand in Hand zusammengehen. 4

Das werktätige Schaffen

287

Beispiel 1 : Das Problem des Vomhundertrechnens hat sich im »freien« Rechenunterricht schon öfters aufgedrängt und will endlich ergründet und geklärt werden. Das praktische Leben liefert die anschauliche Grundlage, diesem Fragenkreis systematisch näherzukommen und zugleich einen wichtigen Einblick in das Wirtschaftsleben und seine Ordnung zu tun. Den Kindern wird z. B . die Aufgabe gestellt, und insofern ist das Vorgehen reaktiv, die alten und reduzierten Preise eines Ausverkaufs festzustellen und in einer Tabelle niederzulegen, den Nachlaß absolut und als Bruchteil des früheren und jetzigen Preises zu ermitteln und die Umrechnung der beiden Preise auf 100 zu vollziehen. Dieselben Aufgaben und Gedankengänge lassen sich mit gleichem Erfolg auch an die Schul-, Wahl- und Bevölkerungsstatistik oder andere Gebiete anschließen. I m Übungsverfahren wird die gewonnene Einsicht auf andere Lebens- und Wirtschaftsgebiete übertragen unter Errechnung der Hundertsätze aus vorhandenen Zahlenunterlagen und umgekehrt der wirklichen Zahlen aus gegebenen Hundertsätzen. Den Abschluß bildet als Synthese eine systematische Übersicht über das gesamte Anwendungsgebiet der Prozentrechnung unter Herausstellung der Begriffe: Grundsumme, Prozentwert und Prozentsatz. Der nicht leichte »Gepäckmarsch« durch diesen weitgedehnten Fragenkomplex wird um so freudiger, anregender und fruchtbarer sein, j e mehr die Problem- und Aufgabenstellung und die Auffindung der Lösungsmöglichkeiten spontan vom Schüler erfolgt. Besonders geeignet ist das analytische Verfahren für den physikalischen Unterricht unter praktischer und theoretischer Mithilfe der Schüler: Zerlegung einer Pumpe (Modell), einer Dampfmaschine (Modell), einer Taschenlampe, einer elektrischen Klingel usw. zwecks theoretischer Einsicht. Dahin gehört auch das E x p e r i m e n t i e r e n in Physik, Chemie und Biologie (Schulgarten!)

2. Konstruktion von Modellen bzw. technischen Apparaten. Dies s y n t h e t i s c h e Verfahren wesentlich reproduktiven bzw. auch des mehr produktiven S i n n s c h a f f e n s (s. S. 125) dient ebenso der theoretischen Einsicht, der Nachprüfung des Wissens und dazu der Übung der Handgeschicklichkeit. Es kann die Durchführung im einzelnen wesentlich von den Schülern geleistet werden 3. 1 I n Anlehnung an H. Limbeck, Ein Beispiel für freien Rechenunterricht im Sinne der Arbeitsschule, Die Arbeitsschule 44 (1930), S. 171 ff. Ich durfte mich dabei meiner Marburger Kollegen Oberstudiendir. Dr. Brand u. Oberschullehrer Haag erfreuen. Vgl. dazu K . Hartmann, Die Pflege der begrifflichen Abstraktion im Arbeitsunterrichte, ebd. 38 (1924), S . 163 ff. 3 Reiches Material z. B . bei A. Lillack, Handliches Tun als Unterrichtsprinzip auf allen Klassenstufen, Die Arbeitsschule 44 (1930), S. 127 ff. Auch die Richtlinien für den Arbeitsplan der Hamburgischen Volksschule, Hamburg i 9 2 ö ; Die Einführung in den Lehrplan für die Volksschulen der Stadt Berlin, Berlin 1924; Stoffe und Beispiele, Pädag. Arbeitsgemeinschaft des Dresdner Lehrervereins, Dresden 1928. 3 In seinem Rechenbuch für Volksschulen gibt F r . K . Ludwig, Prag 1924, unter vielen andern auch folgende Beispiele für die Zusammenarbeit von R e c h n e n und H a n d f e r t i g k e i t im 3. und 4. Schuljahr: Herstellung einer Einmaleins-Tafel aus einem Pappendeckel, von beweglichen Meßstreifen der verschiedensten Arten aus alten Postkarten, von Spielgeldmarken aus Karton, von »ewigen Tagzeigern« aus Pappe, eines Pendels aus Knopf und Zwirnfaden, von Meß- und Vergleichsstäbchen aus gespaltenen Weidenruten, einer Waage aus den einfachsten Mitteln, eines Würfeldezimeters aus Pappe usw. Das Z e i c h n e n dient dem Rechenunterricht durch Aufzeichnen einer Quadrattafel mit 100 Feldern, eines Damespiels,

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

E s werden beispielsweise verschiedene Würfel betrachtet, wobei die Schüler absehen lernen von den sekundären Eigenschaften des Materials, der Farbe, der Größe. Sodann werden die Flächenbegrenzungen nachgebildet: in der Luft, in der Zeichnung, Legen mit Bindfaden, Biegen aus Draht; Verbindung von sechs gleichen Quadraten zu einem Kantenmodell im Suchen und Schaffen der Schüler. Ebenso wird die Eigenschaft »lotrecht« an den Gegenständen der Umgebung aufgewiesen und ein »Lot« gebaut, das sich in der Nachprüfung der gegenständlichen Umwelt bewährt. Der Begriff »waagerecht« wird mit einer Waage in Beziehung gesetzt, an der Flüssigkeitsoberfläche veranschaulicht und in der Wasserwaage zur Anwendung gebracht. Die Verknüpfung der Begriffe lotrecht und waagerecht in anschaulichen Darstellungen führt zum Begriff »senkrecht«. Wichtig ist die Einführung in das Verständnis der Zahlenverhältnisse durch dauerndes Messen, Vergleichen und Zeichnen in der Klasse, auf dem Hof, im Schulgarten unter möglichster Wegweisung der S c h ü l e r D a s Verfahren ist aber nur insofern bildend und formend, als es geistig ist, d. h. soweit eine Sehnsucht nach Erkenntnis in das Schaffen bzw. nach Kraftersparnis oder das Gefühl des verantwortlichen Helfen-Wollens einfließt. Kommt die Konstruktion von Handwerkszeug bzw. von einfachen Geräten dem Unterricht, also Zwecken der Schule, zugute, so geht ja das bloße Lernen und Sichbilden bereits in das Werk der sozialen L e i s t u n g über und erringt somit einen sittlichen Einschlag freier Pflichterfüllung gegen die Gemeinsamkeit.

3. Diesen Charakter spontanen Leistens trägt jede P r o d u k t i o n , die zum Besten der Klasse, der Schule, des Hauses (Einkaufen lernen) oder eines weiteren Kreises verrichtet wird. Ich gebe als Möglichkeiten: das Ausbessern von Büchern, den Bau einer Hütte im Schulgarten, eines Aquariums, Photographieren und Entwickeln, Dekoration für das Laienspiel, Geschenke usw. In diesem Sinne können die Vertreter der Produktionsschule sagen: der Zweck der Produktionsschule ist der produktive Mensch Wird aber, zum Teil mit Blonskij, der Wirtschaft und nicht der Menschenbildung der Primat eingeräumt, so fällt die mechanische Produktion oder freie Reproduktion aus dem Aufgabenkreis der »Schule« heraus. Der Werkunterricht stand in der bisherigen Betrachtung vorzugsweise im Dienste de3 Rechnens (Geometrie) und der Naturwissenschaften sowie des Schul- und Familienlebens. In den g e i s t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fächern tritt statt des Schaffens (und mancherlei Entgleisungen 1) das H a n d e l n in der Klasse ein als freie Nachbildung des wirklichen Lebens.

D. D e u t s c h als K o n z e n t r a t i o n s f a c h . Wir haben bereits (S. 102) drei Arten von Konzentration unterschieden: die stoffliche mittels Organisation, die wissenschaftliche der eines Mühlespieles, des Schulzimmer-Planes, »natürlicher Fünfer« (Händel), einer Fünfer-, Vierer-, Dreier-Tafel, einer Kalendertafel, von Monatstäfelchen, eines Taschenkalenders, eines Zifferblattes (Uhr), einer großen Punkttafel (Tausender), Skizze des Heimatsortes mit eingetragenen Entfernungen usw. Die Beispiele ließen sich unter Heranziehung von Schulbüchern der verschiedenen Fächer ins Unendliche vermehren. Doch geht es hier nicht um den Aufweis von Einzelheiten, sondern um die Herausarbeitung der Hauptlinie. 1 Vgl. dazu die Einführung in Raumformen durch schaffende Arbeit nach H. Frank, Beiträge zur Methodik des mathem. und physikal. Unterrichts, Frankfurt (Main) 1930, S. 45. * K. Dem, Der Produktionsschulgedanke der entschiedenen Schulreformer, Diss. Gießen, Berlin 1926.

Deutsch als Konzentrationsfach

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sachlichen Methodik und die metaphysische durch die persönlich-didaktische Unterrichtsführung. 1. In s t o f f l i c h - o r g a n i s a t o r i s c h e r Hinsicht beherrscht die Idee der Einheitsschule (im weitesten Sinne) alle pädagogischen Bestrebungen: Einheit des Bildungsgutes im Rahmen spezifischer Typen, die organische Gliederung von Stamm- bzw. Kernfächern und Wahlgebieten bzw. Kursen oder Arbeitsgemeinschaften. Im Deutschen als Konzentrationsfach werden die stofflichen Querverbindungen hergestellt einmal durch den grundlegenden grammatischen Unterricht, sodann durch die kultur-kundliche Betrachtungsweise. Denn »Kunde« meint ja ein zusammenfassendes Prinzip, wie wir bereits gesehen haben. Im g r a m m a t i s c h e n Unterricht ist die deutsche Muttersprache berufen, wie schon Herder gemahnt und jüngst Ed. Hermann bewiesen hat, nicht nur die deutsche Sprachund Sprechlehre zu beschreiben, sondern das Grundgefüge aller Sprachen, d. h. die allgemeine Grammatik schlechthin zur Einsicht zu bringen, einschließlich der vereinheitlichenden Terminologie. Also nicht die deutsche oder eine Fremdsprache gewaltsam in das System des Lateinischen pressen, womit man die Vormachtstellung des Lateinischen schwerlich rechtfertigen könnte I Dabei hat der Unterricht immer auszugehen von dem gesprochenen Wort, von der heimatlichen Mundart, von der kindertümüchen Sprache und in einer psychologisch-analysierenden Betrachtungsweise die menschliche Rede als Funktion der Wirklichkeit und somit als G r u n d w i s s e n s c h a f t schlechthin zu erfassen: es sind die Worte zu deuten als Hinweise auf Gegenstände, Vorgänge, Eigenschaften usw., die syntaktischen Beziehungsmittel als kategoriale Formen von Wirklichkeitsbeziehungen bzw. als Kennzeichen der Stellungnahmen eines (urteilenden) Menschen zu vorgestellten Sachverhalten. Vgl. oben S. 167. Im k u l t u r k u n d l i c h e n Unterricht, der D e u t s c h k u n d e , wird das aufgelöste Nebeneinander beziehungsloser »Fächer«, der Geschichte, der Geographie, des Zeichnens usw. ersetzt und ergänzt in einem umfassenden Verständnis der Gesamtkultur. Vgl. oben S. 150 ff.

2. In methodischer Hinsicht ermöglicht das Verstehen die ordnende Zusammenfassung des Vielerlei unter einheitlichen Gesichtspunkten. Alles Erkennen ist bloße Voraussetzung geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweisen und gipfelt im Verständnis der geistigen Richtkräfte, der Ideen und Motive, der Interessen und Tendenzen menschlichen Handelns, das nach Völkern und Stämmen, Siedlungsmöglichkeiten, Gewerben und nachbarlichen Beziehungen so grundverschieden ist und niemals in die starren Begriffe des Verstandes ganz eingeht. Daher größte Vorsicht! Da aber alles Verstehen seine letzten Impulse vom eigenen Wesen her bezieht, aus dem nationalen Urgrund unseres kulturellen Gewordenseins, so muß sein tiefster Ansatzpunkt im Deutschen, in der Heimatkunde h e g e n S o m i t muß alle methodische Konzentration vom nationalen Kulturgut ausgehen und wieder darauf zurückführen. Im Grunde ist daher 1

Siehe dazu das Handbuch der Heimaterziehung, hrsg. von W. Schoenichen, Berlin I9 3, 1924; K. Springenschmid, Das Bauernkind, München u. Berlin 1926, S. 92; O. Willmann, Didaktik, Braunschweig 1909, S. 419. Otto, Unterricbtslehre. 1n 2

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

die methodische Konzentration nur eine Erweiterung und Vertiefung des heimatkundlichen Gesamtunterrichts — wenn man nicht umgekehrt, mit AI. Fischer x, den Gesamtunterricht der unteren Volksschulklassen als eijie besondere Art und als Vorstufe des kulturkundlichen Prinzips betrachten will. E s hieße also die Idee der stofflichen und methodischen Konzentration völlig mißdeuten, wenn man darin nur Prinzipien äußeren »Lernens« sehen wollte und nicht eine humanistische Aufgabe der ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung! Denn alle Stoffgruppierungen nach Kultur- und Lebenskreisen bis hin zur Anfertigung von Protokollen als Zusammenfassung einer Unterrichtseinheit — alles soll doch zuguterletzt nur dazu dienen, durch die Einheit des Bildungsgutes, im Humboldtschen Sinne, die Totalität des Menschen bei aller Differenzierung zu wahren! E s ist eigenartig zu verfolgen, daß die Gegner des deutsch- bzw. kulturkundlichen Unterrichts ihre Einwürfe erheben unter der unausgesprochenen Devise ganzheitlicher Methoden: sie verwerfen einseitig verstandesmäßige Konstruktionen (z. B . »des« deutschen Menschen) und verweisen auf die Irrationalität der ganzen Lebenswirklichkeit; sie verwerfen die Lektüre von Proben und Pröbchen und fordern die Würdigung ganzer Werke; sie betonen das Verständnis objektiver (d. h. normativer) Sinnzusammenhänge statt des Studiums des Einmalig-Typischen; sie bekämpfen den Historismus, das Vielerlei einer undurchsichtigen Vergangenheit gegenüber der Lebendigkeit und Faßlichkeit des gegenwärtigen Lebens.

3. Stellt man aber nun die entscheidende Frage, ob durch die stoffliche Querverbindung der Organisation oder durch methodische Vereinfachung des objektiven Bildungsgutes der letzte Zweck, die persönliche Formung des Menschen erreicht werden kann, so muß man mit einem glatten Nein antworten. E s bleibt schließlich doch nur bei einem »Wissen«, wie es eben der moderne Verstandesmensch auffaßt, also nicht im Sinne des Sokrates oder Piaton. Demnach muß die Didaktik zu Hilfe kommen mit ihrer grundsätzlichen Wendimg zum S u b j e k t , nun aber in einem Sinne, den wir innere, m e t a p h y s i s c h e K o n z e n t r a t i o n nennen. Und damit erscheint die übliche Didaktik in einem ganz anderen Lichte. Daß alles echte »Lernen« auf der Einheit der Seele beruhe und wiederum auf die Einheit des Menschen in der Staatsgemeinschaft zurückwirke, hat bereits Piaton verkündet. Aus dieser tieferen Einsicht erklärt sich Pestalozzis Klage und Anklage gegen den äußerlichen Glanz und Schimmer des Bildungswesens, gegen den »tierischen Mechanismus des Wort-Gedächtnisses und aufgedrungene Verstandesformeln«». Erst in neuerer Zeit ist Kants Lehre von der synthetischen Einheit der Apperzeption zu allgemeinerer Geltung für den Prozeß des Lernens erhoben (Kofika; Krüger und seine Schule; Jaensch) und schließlich auf den Menschen in allen seinen Daseinsbezügen ausgedehnt (Soziologie; anthropologische bzw. existenziale Philosophie).

Es ist der tiefere Sinn der modernen Didaktik, daß neben der gesteiger1

AI. Fischer, Kulturkunde im Lehrplan der Volksschule, Die Arbeitsschule 43 (1929),

S. i f f . 1

Vgl. Br. Bauch, Die erzieherische Bedeutung der Kulturgüter, Leipzig 1930.

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Deutsch als Konzentrationsfach

ten Funktionslust lebenfördernder Bewältigung von Aufgaben reaktiven Übensund Einübens gerade der Rückgang auf die selbstgerichteten Kräfte, der freudige Zugriff der Jugend in der Leistung, im verantwortlichen Gespräch und Handeln gepflegt wird, zuvörderst am erlebten Eigengut des deutschen Menschen in der deutschen Schule, aus der quellhaften Inanspruchnahme des Voll-Menschen, in freier Selbstbesinnung und Ruhe, die zum vorbedachten Tun des Prometheus auch die bedachtsame Muße des Epimetheus fügt. Ist vielleicht doch die naturhafte Ursprünglichkeit des englisch-amerikanischen Unterrichts (education!) unserem bisherigen Schulungsdünkel vielfach überlegen? Diese Besinnung auf deutsche Wesensart ist aber keine rein verstandesmäßige Angelegenheit, nicht die »Übermittelung« abstrakter Schemata zu bequemer Verwendung des Redens über die Dinge, vielmehr ein geklärtes Fühlen und Ahnen um letzte Verpflichtungen. Hiermit stoßen wir auf einen wichtigen Sachverhalt alles Deutschunterrichts sowie auf seine Grenzen: Deutschunterricht ist zuguterletzt Kraftbildung, im Sinne Pestalozzis, also kein bloßes Wissen, auch keine tönende Phrase vom »deutschen Menschen«, von deutschem Wesen, vom »Reich«! Was Deutsch sei, können wir im tiefsten Grunde wohl erschüttert f ü h l e n , und zwar aus unserer Wesensverbundenheit heraus, aber nicht bis in alle Feinheiten bestimmen und aussprechen. Das begriffliche Hochbild d e s deutschen Menschen wäre blaß und farblos gegenüber dem Werterlebnis deutsch fühlender Menschen. Ganz anders die Vergegenwärtigung fremder Schöpfungen, der klassischen oder modernen, soweit wir ihnen nicht wesensgemäß verbunden sind! Hier müssen wir uns oft der künstlichen Krücken des klügenden Verstandes bedienen, um das Fremde, insofern es sich vom Eigenen abhebt, nicht Geist von unserm Geiste ist, zu ergründen und festzuhalten. Kraftweckung und Ausrichtung als Aufgabe besagt fernerhin, daß wir nicht aus deutscher Vergangenheit ein bestimmtes Ziel für die Zukunft ableiten können. Denn einmal kann uns die Vergangenheit niemals über die Zukunft belehren, zumal die Vergangenheit immer nur »erinnerte Geschichte« ist (Eb. Grisebach). Innerlichste Aufgabe des Deutschunterrichts als organischen Konzentrationszentrums ist es also, die metaphysischen Kräfte deutschen Menschentums erst einmal freizulegen, aufzuwühlen und auf eine geschlossene Form hin wachsen zu lassen Auch unsere großen Kulturkritiker, R. Hildebrand, Lagarde, Langbehn und Nietzsche stimmten überein in ihrem Kampfe gegen die Aufspaltung des einzelnen Menschen wie auch des Volkes, aber f ü r Ganzheit und Einheit; g e g e n die Zivilisation des analysierenden Verstandes, jedoch f ü r die Kultur der metaphysischen Kräfte einheitlichen Handelns. Ihnen kommen in vieler Hinsicht nahe die Begründer der deutschen Bewegung seit Herder und Goethe, Görres und Grimm bis zu den Führern der deutschen 1 und der i deutschkundlichen Richtung 3. So reift von der deutschen Idee her ein Wille heran, sich einzuordnen in die 1

Th. Litt, a. a. O. S. 82 f., nennt das Verstehen die »heilende und versöhnende Macht«, insofern man sich »dem Wertgehalt des Andersartigen, ja auch des Abgelehnten und Bestrittenen« aufschließt kraft eines geheimen Wissens, daß ihm die eigene Wertgestaltung im verborgenen Lebensgrunde verbunden ist. M. Wundt, Volk, Volkstum, Volkheit, 1927, S. 28 f. * Vgl. H. Richert, Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule, Tübingen 1920. Auch E. Krieck, Völkischer Gesamtstaat und nationale Erziehung, 1932. 3 Fr. Panzer, Deutschkunde als Mittelpunkt deutscher Erziehung, Frankfurt (Main) 1922; M. Preitz, Deutschkundlicher Lehrplan für die deutsche Oberschule, Frankfurt (Main) 1922 (Vorwort!); G. Sprengel, Die deutsche Kultureinheit im Unterricht, Schule und Leben 19*

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Forderungen allgemeingültiger Sinngebalte, sich zu finden und zu binden an neue Formen, die dem deutschen Geiste gemäß sind. Wenn Eduard Spranger erklärt, daß der Weg zur höheren Allgemeinbildung nur über den Beruf führe, und wenn er den Sinn der Konzentrationsidee in der Gruppierung aller Bildungsstoffe um die Berufsbildung e r b l i c k t s o hält ihm Herman Kohl entgegen, daß nicht die Berufsauffassung das Leben heiligen wird, sondern »das neue Leben und seine Gesinnung den Beruf«. Man wird wohl einwandfrei sagen können, Leben und Beruf stehen in engster Wechselwirkung, und zu diesem Leben gehört sicherlich auch die Schule. So bedeutsam aber auch die kritische Prüfung der Konzentrationsidee und damit einer neuen deutschen Bildungsidee ist, ohne eine gehörige Portion aktiven Anpackens und frischen Wagemutes werden wir aus dem Sumpfe der ewigen Feststellung einer Kulturkrise nicht herauskommen. Und auch das verlangt das »Leben« in Beruf und Schule. —

Wir versuchen zu zeigen, wie sich die m e t a p h y s i s c h e Erneuerung des Menschen und des Volkes an dem deutschen Kulturgut zu vollziehen vermag. P f l e g e des gesprochenen Wortes. Wir sehen hier ab von der Bedeutung des konventionell geheiligten, d. h. des »richtigen« Sprechens: flüssige und lautreine Artikulation (Ausmerzung von Sprechunarten; Sprachfehler!), die geläufige Reproduktion der Worte und ihre Gliederung im Satzkomplex; richtige Atemtechnik 1 ; Beseitigung der Hemmungen seitens der heimatlichen und der Altersmundart. Die Wichtigkeit dieser Schulung steht außer Frage, zumal im Zeitalter des Radios, der Schallplatte, des Telephons; der Unterricht wird erst dann von Erfolg gekrönt sein, wenn es dem Lehrer gelingt, Sinn und vollends Verständnis für die Richtigkeit des Sprechens zu wecken. So wird selbst dieser psychophysische Prozeß korrekten Sprechens schließlich zu einem Akte spontanen Mitschaffens. Uns aber geht es hier ganz besonders um die Rede als S t i l , d. h. als einheitlich persönliche Leistung. Ist doch das W o r t »der Geist des Menschen schlichthin« (L. Weismantel). Diese Aufgabe haben wir »Rhetorik« genannt (S. 175 ff.). Insofern ist Sprechen der S t i m m u n g s a u s druck einer Individualität und weiterhin die angemessene S t e l l u n g nahme zu einem S a c h v e r h a l t innerhalb der Sprachgemeinschaft. Daraus ergeben sich die folgenden Normen im Hinblick auf die subjektive und sachliche Haltung des Sprechenden, auf das objektive Gegenstandsgefüge und schließlich auf den Angeredeten: Die Rede sei w a h r h a f t i g , d. h. natürlicher »Ausdruck« des Gefühls. Heft 12, Berlin 1927; W. Hofstaetter, Der neue Deutschunterricht, Leipzig und Berlin 1926, S. 1 ff. (Ausblick auf verschiedene Auffassungen von »Deutschkunde«); dazu auch Hofstaetters Rechtfertigung der Deutschkunde in der Zeitschrift f. Deutschkunde 41, Heft 2. Vgl. auch H. Nohl, a. a. O. S. 5 ff. — Die Vierteljahrsschr. f. wiss. Päd. 8 (1932), Heft 4 klärt die Idee der Volkskunde. 1 Ed. Spranger, Kultur und Erziehung, Leipzig 1919 (1932), S. 27 5 . Ähnlich schon J . Lattmann, Über die Frage der Concentration, Göttingen 1860, S. 201 f. * Außer E . Drach: Sprecherziehung, Hede, Vortragskunst, hrsg. von H. Lebede, Berlin 1930.

Deutsch als Konzentrationsfach

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Die Rede sei w a h r , theoretisch die »Darstellung« dessen, was man sagen will. Die Rede sei g e f ä l l i g (»schön«), d.h. anschaulich, in Worten und Bildern. Die Rede sei kurz und b ü n d i g , bzw. behaglich, je nach der Situation. Die Rede sei k l a r und r ü c k s i c h t s v o l l , d. h. als Mitteilung der Sprachgemeinschaft verständlich und dem persönlichen Verkehr angemessen (gegebenenfalls auch scharf und hart!). Die Rede sei f o r m a l angemessen (»stilgemäß« i. e. S.), d. h. der Gattung bzw. dem Gegenstande (Stilart) angepaßt: Arten der Prosa bzw. der Poesie. Alle sechs Normen greifen zu einer geschlossenen Einheit ineinander, der spontanen Individualität der sprechenden Person gemäß. Der systematische Unterricht setzt voraus, daß der Lehrer mit den Grundzttgen kindlicher S p r a c h e n t w i c k l u n g vertraut sei. (Darüber habe ich in meiner Methodik und Didaktik gehandelt.) Diese ist im wesentlichen ein Assimilationsvorgang und nimmt den Weg vom subjektiven Ausdruck (Mundart der Heimat und des Alterst) zur objektiven Beherrschung der historischen Sprachmittel, unter denen der Sprechende w ä h l t , seinem persönlichen Stile und seinem besonderen Ziele gemäß: Prozeß der Anknüpfung, Um- und Weiterbildung. Der Lehrer wird die Hemmungen des Kindes im Artikulieren, dessen Armut des Wortschatzes und unklaren Vorstellungen von Dingen wie Wortbegrifien, das kindliche Unvermögen umfangreicher Satzgliederung (»und«, »da«!) nicht übersehen dürfen.

Der Prozeß der S p r a c h e r l e r n u n g vollzieht sich auf Grund psychophysischer Daten (vgl. oben S. 267 ff.), die im planvollen Unterricht systematisch zu nutzen und zu regeln sind. Es gehört ein feines Gefühl der Menschenkenntnis und des unterrichtlichen Taktes dazu, die drei Faktoren: t r i e b m ä ß i g e Sprechbetätigung, i m i t a t i v e s Aufnehmen-Wollen und B e l e h r u n g über das Sprechen im individuellen Falle als Hinordnung auf den eigenen Stil zum angemessenen Ausgleich zu bringen. Im allgemeinen dringe man auf ein schlichtes und natürliches Sprechen a b angemessene Mitte zwischen dem Herunterleiern und dem falschen Pathos. Die Rücksicht auf den Zuhörer (den Angesprochenen) bzw. die Sprechgemeinschaft erheischt, daß man nicht abgerissene Fetzen herausstößt, sich nicht überstürzt, nicht undeutlich oder zu leise spricht. Ist doch das Sprechen des Menschen ein sozialkultureller Akt: die persönliche Darstellung in der sprachlichen Stellungnahme zu einem Sachverhalt, und zwar zwecks gegenseitigen Verständnisses, nicht aber ein biologischer Prozeß der bloßen »Kundgabe« und »Auslösung«. In der Schule empfiehlt es sich dringend, den sprechenden Schüler bei längerer Rede vortreten, wenigstens vom Stuhl aufstehen bzw. aus der Bank heraustreten zu lassen. Als verstandesmäßige Anleitung (Stillehre!) empfehlen sich besondere stilistische Übungen über Wortwahl bzw. syntaktische Gliederung des Satzes. Die Stilbildung ist regelmäßig und systematisch zu betreiben. Die Beispiele können Verstößen der Mitschüler, Zeitungen oder auch geeigneten Büchern entnommen w e r d e n S i e werden an die Tafel 1 Z. B . H. Dunger, Zur Schärfung des Sprachgefühls (Allg. Deutscher Sprachverein), Berlin 1917. Vgl. auch Ed. Engel, Deutsche Stilkunst, Leipzig (1911) 1 9 3 1 ; Br. Christiansen,

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

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geschrieben und im Wechselgespräch der Klasse auf ihre Schwächen hin geprüft und verbessert. Die grundsätzliche Erörterung über die Prinzipien eines angemessenen Stiles sind, dabei das Wertvollste. Es ergibt sich nämlich, daß die Gesichtspunkte stilgerechten Sprechens (bzw. der entsprechenden Mängel) genau den Grundrichtungen alles geistigen Geschehens (Geschichte I) entsprechen und also auch mit den richtunggebenden Kräften der Sprachentwicklung übereinstimmen. Ist doch der Kulturmensch, wie seine Struktur nun einmal geartet ist, der Träger alles Sprachlebens, des Sprechens wie der Sprachentwicklung. Es handelt sich im wesentlichen um folgende Gesichtspunkte (Verstöße). 1. Unwahrhaftige Redeweise: Sentimentalitäten, entlehnte Prunkwörter und Vergleiche, Übertreibungen (Superlative) der Darstellung. 2. Ungenaue und unklare Ausdrucksweise: der allgemeine Ausdruck (die tapferen Feinde) statt des besonderen (der geschlagene, überlistete, geschwächte Feind) oder dergl.; mehrdeutige Worte; Verquickung zweier oder mehrerer selbständiger Sätze (Schachtelsätze), formale Schwächen der Mitteilung: zu lange Sätze oder, umgekehrt, zu kurze Sätze ohne rechten Zusammenhang. Im ersteren Fall ist das wirre Satzungetüm zu zerlegen, im letzteren sind die syntaktischen Neben- und Unterordnungen zu einem gegliederten Satzgefüge zu finden. Der Wert sinn- und stilgerechter Übersetzungen! 3. Unschöne Worte und Wendungen: unnötige Fremdwörterl Abgegriffene, unanschaülich-abstrakte Bezeichnungen (statt gehen: hüpfen, stapfen, gleiten usw. usw.); Vorsicht mit Verbalsubstantiven (Eroberung durch . . . ) ; Dürre oder Überfülle des Ausdrucks; abgehackter Rhythmus; Häufung der Präpositionen (bei!) oder der Genetive. 4. Unökonomisch-unaussprechbare Wortverbindungen: die Kinder, die die Dienerin usw.; weitschweifige Ausdrucksweise. 5. Unvornehme, schroffe und grobe Ausdrucksweisen, die das sittlich-religiöse Gefühl der Zuhörer verletzen. — Dazu Verstöße gegen die Stileinheit der Rede in bezug auf die Situation. Häufig greifen unklare, unschöne und rücksichtslose Ausdrucksweisen ineinander. Zu den allgemeinen Gesichtspunkten kommen noch die Besonderungen persönlichen Stilgefühls und des objektiven Gattungsstiles. — Die aufgewiesenen Wege jeglicher rhetorischen Übungen werden ergänzt durch didaktische Dramatisierungen, durch sprachliche Darstellungen systematischer Beobachtungen sowie des Gelesenen. I. Der Sinn der didaktischen D r a m a t i s i e r u n g e n ,

d . h . von A u f -

führungen des Erlebten, das nach Ausdruck ringt, liegt zunächst in der Pflege der sprach-schöpferischen Urkräfte innerhalb der schaft.

Sprachgemein-

Diese dramatischen Gestaltungen von Erfahrung und Phantasie

sind anfangs mehr Sprechrollen als eigentlich dramatisches Spiel. Aber als Spiel sind sie eine A r t der kindlichen Gesellschaftsspiele und dienen somit der natürlichen Entfaltung von Funktionen und spontanen Akten. Insofern Sprechen und Handeln ursprünglich eine Einheit bilden — ist doch Sprechen selbst nur eine besondere Art von Bewegung — , sollte die Einheit von Rede, Physiognomik (Mimik), Schreiten und freier Bewegung, Tanz und Gesang (Volkslied, Musik) der einzelnen und der Gruppen (chorische Bewegung; Chorsprechen!) möglichst gewahrt und allmählich in die zwanglosen Formen »gebildeter« Menschen gewandelt werden. Marionetten- und HandDie Kunst des Schreibens, Buchenbach (Baden); W. Schneider, Neue Wege der Stilbildung, Frankfurt (Main) 1925. — Fr. Hempel, Erziehung zum klaren Stil, Ztschr. f. Deutschk. 35 (1921), S. 200 ff.

Deutsch als Konzentrationsfach

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Puppenspiele, die der persönlichen Selbstdarstellung entbehren, können somit nur als Vorstufen des eigentlichen Laienspieles betrachtet werden. So auch in Goethes Lehrjahren. Kostüme und theatralischer Apparat erübrigen sich, da die Phantasie leicht die kalte Wirklichkeit überdeckt. Dargestellt wird alles Erlebte: Gehörtes, Gelesenes, aus Schulstube, Häuslichkeit und dem Volksleben, wobei den Einfällen des Augenblicks, weiteren Ausschmückungen und eigenen Schöpfungen (des Geschauten, des Bekennens, der Sehnsucht und des Scherzes) weiter Spielraum gewährt werden muß. Wichtig ist, daß jeder Laienspieler wesentlich sich selbst darstellt: was er ist oder sein kann; nichts Unverdautes und Wesensfremdes. In Wilhelm Meisters Lehrjahren (VIII, 5) wird es klar ausgesprochen, daß sich der Berufsschauspieler »in viele Gestalten« zu verwandeln hat, der Laienspieler aber nur sich selbst spielen kann. Wilhelm kommt im Spiel zu sich selbst (Hamlet!); der Berufsschauspieler Serlo verliert sich dagegen an die Welt. Allen Spielen gemeinsam sind die Stoße der Heimat, des Volkslebens (Märchen, Sagen, Scfiwänke) und religiöser Ergriffenheit (Krippen- und Weihnachtsspiele). Ziehen sich doch geheimnisvolle Fäden von den Ausdrucksformen des persönlichen Lebensstiles, im Fühlen und Denken, im Sprechen (und Schreiten) und Handeln bis hin zum Gesamtrhythmus des ganzen Volkes. Damit dient das Laienspiel sowohl der Entfaltung der Persönlichkeit (des Lebensgefühls, der Menschenkenntnis, der Sprache, der Lebensform) wie der Gemeinschaftsbildung der Gruppe, der Klasse, der Schule, der Elternschaft, der Gemeinde und damit zugleich des Volkes. Schließlich hegt der eigentümliche Charakter dieses Laienspiels in seiner Gleichnishaftigkeit *: die symbolisch-weltliche Funktion des Stückes bedeutet einen Teil unseres eigenen Schicksals auf dieser Erde; die symbolisch-religiöse Funktion die Ahnung des Unendlichen im Endlichen. E s ist daher auf allen Stufen aller Schulen zu pflegen (Spielschar), im Unterricht wie gelegentlich der Feiern und Feste (Schulbühne!), und darüber hinaus von den Werdenden und den Erwachsenen: offene Spielabende! Das »Lektorat für Laien- und Jugendspiel« als Prüfungs-, Anrege- und Beratungsstelle; Verkehr mit Schule und Jugendbünden 1 ! Vom Laienspiel führt der Weg zum künftigen Nationaltheater idee-erfüllter Schauspieler wie auch gläubiger Zuschauer im Hochbild des k u l t i s c h e n S p i e l s . In dieser neuen Sinngebung unseres sinnlosen Daseins wird das Theater zum Mittelpunkt des kulturellen Lebens, eine Gesinnungsgemeinschaft, alle Volksschichten umfassend, als höchste Form der Erwachsenenbildung.

II. Die s y s t e m a t i s c h e n B e o b a c h t u n g e n tragen einen wesentlich anderen Charakter. Sie erstrecken sich auf das begriffliche Erfassen von 1

Vgl. H. Nohl, Pädagogische Aufsätze, Langensalza 1930, S. 92 ff. Gentges-Leibrandt-Mirbt-Sasowski, Das Laienspielbuch, Berlin 1929; W. K . Gerst, Gemeinschaftsbühne und Jugendbewegung, Frankfurt (Main) 1924; Wille und Werk, hrsg. von demselben, Berlin 1928; M. Luserke, Jugend- und Laienbühne, Bremen 1927; H. Hetzer, Das volkstümliche Kinderspiel, Wiener Arbeiten zur päd. Psychol., Heft 6, 1927; L. Weismantel, Schattenspielbuch, Augsburg 1930. Also nicht nur »Aktivierung« des Publikums, sondern besser: »Spontaneisierung des Volkes«. In Goethes »Theatralischer Sendung« sind Theater und Laienspiel noch wesentlich Selbstzweck und haben eine soziale Funktion n e b e n den andern, dem alten Kunstunterricht vergleichbar, der als »Fach« neben andern stand. Ahnlich K . Ph. Moritz' Bildungsroman: »Anton Reiser«, der Goethe wesentliche Anregungen gegeben hat. Hier gibt Bühne und Bühnenspiel dem empfindsamen und phantasievollen, leidenschaftlichen und schwermütigen Titelhelden einen »Ersatz« für alle Möglichkeiten, die ihm das wirkliche Leben der Entbehrungen, der Kränkungen und des Mißgeschicks versagt hat. 1

296

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

Personen und Sachen, Eigenschaften und Vorgängen, um dem Schüler die bedeutungerfüllenden und bedeutungverleihenden

A k t e der Worte un-

mittelbar an den Gegenständen zu veranschaulichen.

(Vgl. oben S. 171).

Die beobachteten Gegenstände sind zugleich mit »ihrem« Namen zu nennen. So werden Zeichen und Begriffsbedeutungen fest assoziiert. Dies alles kann sowohl an Abbildungen, Karten und Modellen als auch viel natürlicher in dem Getriebe des Lebens geschehen: in der freien Natur und im Schulgarten wie in der Wirklichkeit des Kulturlebens (an einer Vase, einem Teppich): Wanderung durch die Straßen (SchaufensterI), Besuch von Werkstätten und Betrieben, Betrachtungen eines Hausbaues usw. Zusammenarbeit mit dem Werk- und Zeichenunterricht als Anleitung zum genauen Sehen-Lernen. Städtische Jungen und Mädchen mttssen wieder Gelegenheit und Muße finden, andächtig in die Natur hineinzuhorchen, auf dem Rücken liegend das Stimmengewirr der Natur von Wasser und Wind zu belauschen, zu unterscheiden und zu benennen. Dann werden alle abgeschmackten und unverstandenen Redensarten und Bilder zurücktreten hinter dem Selbstgeschauten, dem Selbsterlebten. III. Entsprechendes gilt vom

Lesen,

nur daß hier der Terminus

gegeben, die Anschauung der Wirklichkeit aber durch die »innere« Anschauung des bedeutungsvollen Sinngehalts ersetzt ist.

Das Lesen trage

als Vorlesen den Charakter des Erzählten, am besten in freier Natur; auf den unteren Stufen: die Jugend zwanglos um den Vorlesenden gelagert. Später ist das laute Lesen in der Klasse (und zu Hause) zu pflegen (technische Anleitung zum angemessenen Lesen!), der Geschmack und die Freude am klingenden Worte zu wecken und so die Jugend zur guten Gewohnheit des Lesens zu erziehen.

Durch die visuelle Aufnahme des

Wortes im Sachzusammenhang können viele gequälte Übungen in der Rechtschreibung vermieden werden. Daran reiht sich die Verarbeitung des optisch und akustisch aufgenommenen Sprachstoffes und Sprachgehalts in der Unterhaltung, im Nacherzählen und freien Sprechen (Beherrschung der »Ausdrucksmittel« wie der Besonderheit der Mitteilung: Fühlung mit den Zuhörern; freier Vortrag an der Hand einer schriftlich festgelegten Gliederung; sachliche und vornehme Kritik der Klasse).

Vom vorbildlichen

Beispiel des Lehrers, seiner eigenen Sprechweise, seiner Haltung und seines Vortrages hängt ein wesentlicher Teil des Erfolges ab. Dies alles kann nun keineswegs in beliebiger Art und Menge an die Jugend herangebracht werden. Dem Kind und Jugendlichen geht nur das ein, was seiner ReifestufQ und weiterhin dem persönlichen Gefühl und Vermögen gemäß ist. Ebenso erfolgt die Wiedergabe des Gesehenen und Gehörten nur aus den hervorquellenden Kräften der Seele. Wer nichts zu sagen hat zu einem Thema, der wird nur Redensarten zusammenstoppeln. Im Gespräch mit Eckermann mahnt Goethe: »Will jemand einen klaren Stil schreiben, so sei es ihm zuvor klar in seiner Seele.« Nur wes das Herz voll, der weiß zu sagen und zu künden, der eine über dies, der andere über jenes. Alle freie Rede ist dann die natürlich-angemessene Form eines entsprechenden Gehalts und der geformte Sprachstil nur ein Teil des Form gewordenen Lebensstiles.

297

Deutsch als Konzentrationsfach

Anhangsweise seien die drei grundlegenden Prinzipien der Auswahl von L e s e s t o f f e n dargelegt 1 : Erstens, vom S u b j e k t aus betrachtet, muß der Lesestoff dem Erleben, dem Verständnis, der geistigen Reife des Schülers angemessen sein und zu ihm sprechen. Gesichtspunkt der Erlebnisfülle, der Begegnungsnähe, der Jugendgemäßheit 2 . Dieser Gesichtspunkt ist nicht gleichbedeutend mit den, vielleicht abwegigen Wünschen der Jugend:

verlogene Abenteuer-

und süßliche Schmachtgeschichten! Nun ist uns Erwachsenen aber das Verständnis der Funktionskreise des Kindes sowohl wie des Jugendlichen unendlich schwer zugänglich. Sollen daher »Prüfungsausschüsse für Jugendschriften « entscheiden oder soll sich die Jugend ihre Bücher selbst schreiben? Aber wie soll im letzteren Falle »Bildung« als systematische Förderung möglich sein! Daher empfehlen sich für das Deutsche die folgenden Möglichkeiten: Pflege des guten Geschmacks in der Schule an echten Kunstwerken: Bedeutung des Bilderbuches I; volle Ausnutzung der Schülerbücherei (Anleitung zu ihrer Benutzung, Hilfe der Schüler, Verknüpfung von Unterricht und Bücherei); Beratung der Eltern (Ausstellungen von Jugendschriften); reichliche Versorgung der Schule und des Hauses mit guten (und schön ausgestatteten) Büchern. Schließlich bedarf es der engen Zusammenarbeit der Schul- und »Elternbüchereien« mit den kommunalen (bzw. staatlichen) und freien Volksbüchereien (übersichtlich geordnete Lesehallen für Schüler). Dazu kommt, daß jedes Kind seine eigene Individualität, seine Gesellschaftsschicht, seine Ort- und Zeitgebundenheit lebt (Stadt — Land; unsere Wirtschaftslage und Not!). Daraus folgt, daß der Kanon-Dogmatismus verfehlt ist: Kulturlage, Generationen und Jahrgänge, Schüler wie Lehrer, sind im steten Wandel begriffen. Dennoch ist ein einheitlicher, allgemeiner Rahmenplan, von der Grundschule an, zu empfehlen, um ein Durchund Gegeneinander der Stoße zu vermeiden; er ist zu Anfang jedes Jahres durch einen genauen Arbeitsplan zu ergänzen. Zweitens und Drittens, vom O b j e k t

aus betrachtet.

Unter dem

objektiv-normativen Gesichtspunkt verstehen wir die Auswahl der Stoffe nach dem Grade ihrer »Bedeutsamkeit«.

Diese umfaßt zwei verwandte

Prinzipien: a) Auszuwählen ist das Ü b e r g e s c h i c h t l i c h e , die bleibenden Güter der Menschheit. Sie sind bedeutsam nicht wegen irgendwelcher Persönlichkeitsbeziehung oder »Strömungen«, sondern als Schöpfungen des menschlichen Geistes schlechthin. Ihr Wert liegt mithin im Einmaligen als solchem, ganz besonders in den Werken der Kunst als Ganzheiten, in der e i n z i g a r t i g e n Einheit von Form, Gehalt und Gestalt.

»Literaturgeschichte«

1 Siehe die Problematik im »Planmäßigen Aufbau der Lektüre auf der Oberstufe« von W. Göcking, O. Grüters und A. Knoch, Rheinische Beiträge zur Durchführung der Schulreform in den neueren Sprachen, Heft 2 (Beiheft 19 der Neueren Sprachen), Frankfurt (Main) und Marburg (Lahn) 1930. 1 Vgl. Zollinger, Das literarische Verständnis des Jugendlichen und der Bildungswert der Poesie, Zürich 1926, S. 31 ff.; J. G. Sprengel, Die neuere deutsche Dichtung in der Schule, Frankfurt (Main) 1911. — Vgl. dazu W. Weigel, Vom Wertereich der Jugendlichen, Pädagogische Monographien X X I V , Leipzig-München 1926.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

unter diesem Gesichtspunkte geht auf das Werk an sich und seine rein »gegenständliche« Deutung nach Inhalt und Form. Und wenn hier Vergleiche mit anderen Höchstleistungen des menschlichen Geistes angestellt und Einheitsbeziehungen der Ideen, Gedanken oder Stilformen entdeckt werden, so geschieht es außerhalb des chronologischen Netzwerkes der geschichtlichen Existenz; es handelt sich vielmehr um die i d e a l e E s s e n z in einem Prozeß unmittelbarer Vergegenwärtigung, innerhalb des schicksalhaft geweiteten Menschentums, aber außerhalb raum-zeitlicher Relationen. In diesen Bahnen scheint sich die neuere Literaturwissenschaft vorwiegend zu bewegen. b) Auszuwählen ist ferner das T y p i s c h e , das Charakteristische. Es ist nicht übergeschichtlich-vereinzelt, sondern gerade als das GeschichtlichGemeinsame an Ort, Zeit und Person gebunden. Daher kann es auch nur aus einer bestimmten Umwelt, aus einer bestimmten historischen Persönlichkeit und überpersönlichen Nationalität verstanden und gedeutet werden (persönliche, aber nicht gegenständliche Interpretation!). »Literaturgeschichte« geht dann nicht mehr auf das ewige Gesetz, sondern betrifft gerade die kulturelle Sonderleistung im Sinnzusammenhang ihrer Zeit (das Neben- und Nacheinander im Quer- und Längsschnitt), aber immer in ihrer Bedeutung für die Gegenwartsprobleme. Dieser Gesichtspunkt der »Lebensnähe« in bezug auf Zeit (und Ort: Heimat!) ist entscheidend. Die Lektüre behandelt demgemäß nicht das Werk als Ganzheit, sondern kann sich auf die Heraushebung des Typischen beschränken. Dies Charakteristisch-Typische ist weiterhin nicht ideales (klassisches) Hochbild, das unreflektiert hingenommen wird, sondern wird gerade zum Gegenstand der Problematik, der »Auseinandersetzung«. Man kann hier eher von einem k r i t i s c h e n R e a l i s m u s sprechen, in dem man einen Überblick sucht über das rastlose Werden und das Gegeneinander des Augenblicks, um bereit zu sein für die Aufgaben der Zukunft (weltanschauliche Werke, auch Briefe, Tagebücher, Berufsschriften). Hier Volkwerdung in heißer, ringender Besinnung, dort, in dem Aufschauen zu den gleichen Idealen der Menschheit, Überbrückung der Gegensätze durch unbedingte Anerkennung eines gemeinsamen Kulturbesitzes. Dann erfolgt die Auswahl der Bildungsgüter weniger aus den Schöpfungen einer überwundenen Vergangenheit als aus dem Reichtum der problemgeladenen Gegenwart. »Bedeutsam« unter diesem Gesichtspunkte des Typischen und Eigenartigen ist die persönliche Haltung des einzelnen und seine Leistung, die nationale Besonderung und ihre Bedeutung für den Aufbau der gesamten Kultur. Dieser Gesichtspunkt entspricht also dem wesentlichen Grundsatz des (einseitigen) kulturkundlichen Unterrichts (s. oben S. 152). Die klare Unterscheidung dieser Gesichtspunkte führt weiter zu der

Deutsch als

299

Konzentrationsfach

Forderung, daß die Auswahl der Lektüre auch die neuere Zeit und ihre Problematik zu umfassen hat (W. Schönbrunn, Weckung der Jugend!) neben den Meisterwerken der »Erfüller und Vollender« aller Völker, nötigenfalls in Übersetzungen; das erfordert bald eine epochal-kritische, bald eine übergeschichtlich-idealistische Interpretation 1 . Der Einblick in diese Zusammenhänge vermag auch die Idee der staatsbürgerlichen Erziehung zu klären. Er setzt allerdings ein positives Wissen voraus, die Kenntnis der herrschenden Staats- und der Verwaltungsform sowie der allgemeinen politischen Lage: Versailler »Vertrag«, Kriegsschuldfrage und Reparationsproblem, Kelloggpakt und Youngplan, Minderheitenschutz und Kolonialproblem; Haager Schiedsgericht und Völkerbund als bitterböse Tatsache und vor allem als Idee! Dazu ein allgemein humanes Kulturbewußtsein und ein volkhafter Kulturwille. Diese Aufgabe und das Pflichtbewußtsein, zum Hüter und Förderer ewiger Güter sowie der volkhaft einzigen Geistigkeit im Ganzen der Menschheit bestellt zu sein, fließt nicht aus einem Reden über die Dinge und aus der kalten Theorie der Verantwortlichkeit, sondern letzthin aus dem tiefen Erlebnis und Verständnis eines geschichtlich gewordenen, gemeinsamen Kulturbesitzes der eigenen Nation. Das vermag der deutsche Unterricht anzubahnen, in engster Fühlungnahme mit dem Geschichtsunterricht und den übrigen Fächern — sofern sich die Notgemeinschaft des deutschen Schicksalsraumes bereits in der Leistung und Verantwortung einer spontanen Unterrichtsführung bewährt. Wir haben bisher von der Pflege des gesprochenen Wortes gehandelt und gesehen, daß allem Bemühen nur dann Erfolg winkt, wenn der deutsche Unterricht immer wieder auf die sprach- und volksgestaltenden Mächte zurückgreift. Diese Bestrebungen finden ihre abschließende Ergänzung im d e u t s c h e n A u f s a t z , dem künstlichen Niederschlag der natürlichen Rede. Die Fragen des Aufsatzunterrichts gruppieren sich um die beiden zentralen Probleme: Wahl der Themen und deren Durchführung. i. Die W a h l der Themen. Vergegenwärtigen wir uns zunächst in einer kurzen Übersicht die möglichen Arten von Aufsätzen: Erlebnisaufsätze 1

Vgl.

z. B.

die

als ungekünstelter

verschiedenen

Standpunkte

»Stimmungsausdruck« der des

»Altsprachlichen

Lehrplans«,

Deutscher Altphilologen-Verband, Berlin 1930 (auch die Andeutungen S. 26 u. 34), und G. Rosenthal, Deutsches Philologenblatt 1928, H e f t 38, u. Weinstock, ebd. 1928, H e f t 3 1 ; Jos. Borucki,

ebd. 1931, H e f t 1 1 .

problem, Wien u. Leipzig 1931. — Shakespeare bzw. Corneille?

Dazu auch R . Meister, Humanismus und

Kanon-

Entsprechend in den neueren Sprachen: wieviel von

300

Der Leistungsunterricht (Didaktik)

geschauten Fülle des drängend Selbsterlebten, eines unterbewußten Träumens des »Es« Phantasieaufsätze der Illusion bzw. der Kombination. Die erstere Fähigkeit nimmt bis in das Grundschulalter wesentlich ab, die letztere kann mit der Geschlechtsreife zu eigenen Schöpfungen führen. Beobachtungsaufsätze. Die typischen Unterschiede der Auffassungsstadien kommen hier nur zum Teil in Betracht; mehr jedoch die Differenzen der verschiedenen Beobachtungstypen, die weitgehend den Vorstellungstypen entsprechen. Erinnerungsaufsätze. Je nach dem Vorstellungstyp sind die Niederschriften mehr sinnlich-anschauliche Erzählungen bzw. Schilderungen (Töne, raum-zeitliche Beziehungen usw.) einerseits und unanschauliche Darlegungen (Zahlen, Namen, abstrakte Wortbedeutungen usw.) andererseits. Differeritielle Unterschiede der Geschlechter und Lebensverhältnisse I Dazu die Verschiedenheiten der eidetischen Anlage (E. Jaensch, O. Kroh, H. Freiling, H. Zeman, M. Zillig, F. Roeßler, E. Liefmann usw.). Urteilsaufsätze des beziehenden Denkens. Das Kind lebt mehr in Individualvorstellungen. Erst der Jugendliche denkt in logischen Schlußfolgerungen und ist in der Lage, strenge Schlüsse und Schlußketten zu überblicken. Damit ist die Möglichkeit von Referaten, Auszügen aus wissenschaftlichen Abhandlungen, Darlegungen theoretischer Gedankengänge gegeben. Beurteilungsaufsätze der wertenden Stellungnahme. Hier handelt es sich nicht mehr um die besondere Darstellung eines gegebenen Gedankengehalts, sondern um kritisch-normative Auseinandersetzungen in der Welt des Sollens (Ideen). Damit mündet die Reihe der verschiedenen Aufsatzarten in die alten literarischen »Abhandlungen« über Zitate und Sprichwörter ein — unter Vermeidung aller allgemeinen und moralisierenden Themata (R. Hildebrand). Statt deren sind besondere und konkrete Fragen der Theorie und des drängenden praktischen Lebens gelegentlich zur klärenden Erörterung und unter verantwortungsbewußte Entscheidung zu stellen. Vom p e r s ö n l i c h e n Standpunkt muß die Themenwahl der jeweiligen Entwicklungsreife entsprechen. Ich möchte in dieser Hinsicht im wesentlichen vier verschiedene Stufen unterscheiden 1 : 1

Vgl. dazu Leo Weismantel, Der Geist als Sprache, Augsburg-Köln, 1927, S. gaff.; O. Tumlirz, Einführung in die Jugendkunde I, Leipzig 1920 (1931), S. 208. * K . Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena (1921 (1930), S. 309 ff.; Ch. Bühler, Kunst und Jugend, Zeitschrift, f. Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft X X , S. 288ff.; E . Spranger, Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1 9 3 1 , 2. Abschn.; Th. Valentiner, Die Phantasie im freien Aufsatze der Kinder und Jugendlichen, Leipzig 1930 (Beiheft 28 der Zeitschr. f. angew. Psychologie); F . Giese, Das freie literarische

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Die e r s t e S t u f e reicht vom Schulbeginn bis ungefähr zum achten Lebensjahr. Sie fällt also wesentlich in die Grundschule. Die seelische Betätigung ist sehr labil und fast ausschließlich auf die Außenwelt gerichtet, die unbeständig, lückenhaft und unkritisch beobachtet wird. Diese Außenwelt wird in einem primitiven Realismus phantastisch-gefühlsmäßig aufgefaßt und subjektiv umgedeutet. Der seelischen Gesamthaltung dieser Stufe entsprechen folgende Themen, wie sie aus mündlichen Übungen und Vorträgen hervorgehen: E r l e b t e s in einfachster Form. Kein Allerweltsthema der allgemeinen Redensarten und Oberflächlichkeiten wie »Ein Frühlingstag«, sondern konkrete Erlebnisse in Familie, Schule und auf der Straße: »Wie wir den Schneemann gebaut haben« und dergl.'. P h a n t a s i e a u f s ä t z e , Beseelung des Geschauten und Gehörten, Fortbilden und Ausschmücken von Märchen. Beispiel: »Was sich die Spatzen erzählen.« E r f a h r u n g s a u f s ä t z e . Beschreiben von Gegenständen und Vorgängen, Menschen und Tieren (Pflanzen), z. B . »Zigeuner!«, »Unsere Dorf schmiede«, »Meine Tiere« (Beziehung auf das eigene Ich!). Illustration des Geschauten durch Zeichnungen! Gelegentliche W i e d e r g a b e vorerzählter Stoffe, dramatisierter Szenen usw. — Schwierigkeiten dieser Stufe sind der nachhaltige Einfluß der Mundart, die Ungeübtheit im Schreiben, in Rechtschreibung und Zeichensetzung. Also nur gelegentlich zwanglose und kurze Niederschriften der Schüler, großzügige Durchsicht seitens der Lehrer. Die z w e i t e S t u f e reicht vom neunten Jahre bis zum Beginn der Pubertät, etwa bis zum 12. Jahre. Wie im Verlauf der ontogenetischen Entwicklung (s. 1 . Hauptteil) das Kind von den phantastisch-gesetzten zu den objektiv-gesetzlichen Beziehungen durchdringt, so reiht sich an das Märchen- (und Sagen-) und an das Robinsonalter (12. Jahr) die Zeit realistischer Einstellung zu Dingen, Tieren und Menschen. Die Beobachtung der Wirklichkeit wird genauer, kritischer und allseitiger. Zeit der Heldenverehrung I Das mechanische Gedächtnis hat seinen Höhepunkt erreicht und wendet sich nun dem verstandesmäßig unterstützten Lernen zu. Das Kind wird nunmehr von bestimmten Interessenkreisen beherrscht. E s sucht Beziehungen und Zusammenhänge: es ist die Zeit der technischen Konstruktionen (Knaben). Phantasieerlebnisse schwellen ab; die Vorgänge eigenen und fremden Gefühlslebens nehmen die Aufmerksamkeit wenig in Anspruch. Aufsatzarten dieser Stufe sind demgemäß: S e l b s t e r l e b t e s , z. B . »In der Badeanstalt«, »Auf Besuch«, »Weihnachten«, »Die Nationalfeier«, »Die Feuersbrunst«, »Abenteuer!« usw. Geordnete B e o b a c h t u n g der Um- und Mitwelt, z. B . Beschreibung des Marktes, Tiergeschichten, Charakteristisches am Menschen. Alles dies mit eigenen Zeichnungen, in Ernst und Scherz, kurz und bündig, d. h. ohne den Zwang, diese Übungen zu künstlichlangen Ausarbeitungen breitzutreten. Darlegung b e s o n d e r e r I n t e r e s s e n : Sammlungen (Marken, Pflanzen), Basteln, Lesestoffe. Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Leipzig 1928 (7. Beiheft der Zeitschr. f. angew. Psychologie); Arno Schmieder, Der Aufsatzunterricht auf psychologischer Grundlage, Leipzig u. Berlin 1916; O. Kroh, Die Psychologie des Grundschulkindes, Langensalza 1930, S. 176 f.; Psychologie der Oberstufe, 1932, S. 95 f. 1 Vgl. Jensen und Lamszus, Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat, Hamburg 1 9 1 0 ; Der Weg zum eigenen Stil. Ein Aufsatzpraktikum, Hamburg 1 9 1 6 ; S. Rauh, Deutsche Spracherziehung in der Schule, München 1923 ; L . Müller, Vom Deutschunterricht in der Arbeitsschule, Leipzig 1925.

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Kleine A u s a r b e i t u n g e n aus den verschiedenen Unterrichtsgebieten, der wissenschaftlichen, praktischen und künstlerisch-technischen Fächer. Die d r i t t e Entwicklungsstufe ist die Zeit der Reifung. Die Jugendlichen beschäftigen sich in ihrer Unruhe und Unzufriedenheit vorwiegend mit ihrem eigenen, auch fremden Innenleben. Daher das persönliche Interesse für das Gemütsleben, das aber anderen nicht leicht erschlossen wird. Auch die Beobachtungen werden durch das IchInteresse bestimmt (Ich-Erzählungen). Daneben entwickelt sich das kritisch-funktionale Denken in der fortschreitenden Ablösung des Subjekts von der Außenwelt und ein trutziges religiös-sittliches Wollen. Auch das geschichtliche Verständnis bahnt sich an. Diese Stufe geht also teilweise schon über die übliche (achtklassige) Volksschule hinaus. Dem entsprechen folgende Aufsatzarten: B e o b a c h t u n g e n von Menschen: ihre Gespräche und wechselseitigen Beziehungen, ihre Charaktere. Zwiegespräche. Beschreibung von Bildern (geschichtliche Stoffe). Von E r l e b n i s a u f s ä t z e n nur solche, insofern sie nicht ganz persönlicher Natur sind und nicht den Charakter von Selbstbekenntnissen tragen, z. B . ein Sportbericht oder »Schulschluß«, Wanderungen oder die Schilderung einer durchseelten Landschaft. W i e d e r g a b e gelesener Stoffe und Weiterbildung in der Richtung der Verinnerlichung: Anfänge der Charakteristik (des Heldentums), z. B . »Gedanken Friedrichs des Großen nach der Schlacht bei Leuthen«, »Ansprache Armins an sein Heer«. E i g e n e Versuche, z. B. einer Novelle, einer Skizze. T h e o r e t i s c h e Aufsätze, z. B. Vergleich zweier Männer der Geschichte oder Dichtung. Auch persönliche Stellungnahme zur Schule oder Heimat Die v i e r t e Stufe der Adoleszenz ist die Zeit der Versuche einer positiven Einstellung zum Reich der Werte. Der Jugendliche findet mehr und mehr den normgemäßen Ausgleich in der Spannung Subjekt—Objekt sowohl in seinem Verhältnis zur Natur wie zum kulturellen Leben und zu sich selbst (Totalität in der Differenzierung). Auf allen Gebieten der Kultur, in Wissenschaft und Kunst, im Verkehr der Menschen und in seinen religiösen Nöten, tritt jetzt ein Suchen nach Ordnung und Gefälligkeit, nach Verstehen und selbständiger Stellungnahme an die Stelle der bloß äußerlich übernommenen Werturteile, schließlich der Wille zur verantwortungsvollen Tat. Als Themen kommen auf dieser Stufe demnach in Betracht: B e o b a c h t u n g e n , z. B . der Besuch einer Gerichtsverhandlung, einer Ansstellung; »Eine Theatervorstellung«, »Eine Eisenbahnfahrt«. O b j e k t i v e Darlegungen aus den verschiedenen Kulturgebieten, aus der Weltgeschichte (z. B . »Rom, die ewige Stadt«), der Sprache: Heimatliche Mundart, Fachausdrücke einer Berufssprache (ElternI), Eigenart eines Schriftstellers, z. B. G. Keller; aus der Erdkunde (Reisen), den Naturwissenschaften (Experimente) usw.; Gedankengang eines kritischen Werkes (einer Abhandlung, eines Kapitels); Auszüge (G. Rosenthal: Progymnasmota) 1 Damit nähern wir uns Bestrebungen, wie sie früher im Vordergrund standen, aber nur insofern, als die E r z i e h u n g zur S a c h l i c h k e i t immer ihre Berechtigung behalten wird, die jugendfernen, verstiegenen, literarisch-ästhetischen Themen aber ihre Unfruchtbarkeit bewiesen haben. Ich verweise auf die tonangebenden Werke von Ernst Laas, Paul Klaucke, G. Wendt, Rudolf Lehmann, Paul Geyer, P. Cauer und A. Biese, auch A. Matthias. 1 Georg Rosenthal empfiehlt, alle zwei Wochen eine kurze Zusammenfassung des Wesentlichen von Schriftwerken (oder von Klassenbesprechungen). Moderner Unterricht in Deutsch und Geschichte, hrsg. von Grabert-Hartig.

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C h a r a k t e r i s t i k e n , z. B. Tasso; Iphigenie; »Mahomets Gesang, an einem Führer erläutert«; die Entwicklung eines Charakters, z. B. »Michael Kohlhaas«; vergleichende Charakteristik, z. B. »Götz und Weißlingen«; die Charakteristik von Massen, z. B. »Das Volk in Julius Cäsar« (Shakespeare), oder von geschichtlichen Perioden, z. B. »Die Idee volkhafter Erhebung nach Wilhelm Teil« oder »Die Idee der Freiheit« in einem Schillerschen Drama. Entsprechende Bildbeschreibungen, z. B. Böcklin, Schweigen im Walde. P e r s ö n l i c h e B e u r t e i l u n g e n bzw. Begründungen eigener Überzeugungen (nicht der des Lehrers), z. B. »Welche Rechte hat der Staat auf den Bürger?« (im Anschluß an Agnes Bernauer). Stellungnahme zu einem Wissenschaftler oder Künstler (Dichter, Maler usw.) oder auch zu seinem Werk. Freie Meinungsäußerung über ein allgemeines Problem oder über eine brennende Tagesfrage, die den einzelnen oder die ganze Klasse bewegt, auf ethischem (z. B, sozialpolitischem) oder religiösem Gebiet. Gelegentlich auch ein Erlebnis von allgemeinerer Bedeutung oder auch die Behandlung philosophischweltanschaulicher Fragen zu eigener Klärung (s. oben: Philosophie). — Überschauen wir die Mannigfaltigkeit der Themen, so gelten für ihre Auswahl ganz allgemein folgende G r u n d s ä t z e : Man verlange von den Schülern nichts, was ihrer besonderen Eigenart bzw. Entwicklungsstufe widerspricht. Man verlange ferner nicht, was sie aus Gründen der Wahrhaftigkeit nicht schreiben s o l l e n , z. B. übernommene oder erheuchelte Anschauungen. Diese Forderung ist seit der Zeit, wo man sich in Nachahmungen ciceroniascher Beredsamkeit erging, bis auf unsere Zeit vernachlässigt worden: eine Verwechslung von mechanischverstandesmäßiger Spracherlernung und Themenwahl! Gegen diese Veräußerlichungen hat sich schon Herder ausgesprochen, mit besonderer Schärfe R. Hildebrand, in neuerer Zeit, außer den oben Erwähnten, auch Scharrelmann und Gansberg, mit beißendem Spott O. Anthes (Der papierene Drache) und frischem Humor O. Schroeder (Vom papierenen Stil), in neuester Zeit M. Havenstein (Die Dichtung in der Schule), W, Hofstaetter (Der neue Deutschunterricht), P . G . M ü n c h (Dieses Deutsch!I) u . a . Man verlange schließlich nicht, was die Schüler nicht sagen w o l l e n , z. B. Offenbarungen ihrer Gefühle (in der Pubertätszeit!). Soweit die negativen Beschränkungen in der Themenwahl.

Positiv bewegen sich die Stoffe der zu wählenden Themen in folgender Richtung: Auf der Grundschule sind die kleinen Niederschriften mehr subjektivemotionale Ausdrucksbewegungen bzw. gelegentliche Beobachtungen. Die späteren Aufsätze sind mehr objektive Darstellungen und Mitteilungen von Sachverhalten und Stellungnahmen. Daher tragen die kindlichen Niederschriften höchst individuelles Gepräge und verlangen die größte Freiheit in der Themenwahl und in der Zeit der Abfassung (Gelegenheitsarbeiten des aktuellen Erlebens). Später schieben sich die überpersönlichen Geltungsforderungen des künftigen Berufs und der staatsbürgerlichen Verpflichtungen in den Vordergrund; sie erheben den Anspruch, daß der Staatsbürger und Mensch in der Lage sei, seine Gedanken und Ideen klar und der Sachlage angemessen darzustellen und mitzuteilen. Da auch hier der Individualität ein gewisser Spielraum zu gewähren ist (Problematik: Ordnung — Freiheit!), so wird für die sachlich-objektiven Darlegungen

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und Beurteilungen wenigstens in gemeinsamer Arbeit ein festumrissener Rahmen zu finden sein, sowohl im Hinblick auf die Erziehung zur gesellschaftlich-beruflichen Pflichterfüllung als auch schultechnisch mit Rücksicht auf die Korrektur und die gemeinsame Besprechung der Aufsätze. Diese Leistungen können sich mehr und mehr ausweiten zu freien Hausarbeiten. 2. Wir wenden uns von der Problematik der Themenwahl nunmehr der Ausführung der Aufsätze zu. Auch hier kann gut Werk nur gedeihen, wenn es aus der Spontaneität des Menschen quillt, der wirklich etwas zu sagen hat. Nach der gemeinsamen Themenfindung sollte erst einmal eine gewisse Zeit zur Eigenbesinnung gewährt werden. Erst dann könnten Anregungen wechselseitig gegeben und Lösungsmöglichkeiten, zumal wenn sie zum Widerspruch reizen, erörtert werden. Auf die mehr oder weniger wahllose Stoffsammlung folgt die »Ordnung« des Materials in qualitativer und quantitativer Hinsicht und schließlich die Gestaltung bzw. die Formung der Ausdrucksweise. Die Beziehungen zwischen emotionalem Stimmungsausdruck, sachlichem Gedankengehalt, Anordnung und schließlich der sprachlichen Einkleidung im Hinblick auf die Idee machen das aus, was man »Stil« nennt. Die Mannigfaltigkeit und Einheit des Stils entspricht der Struktur der (werdenden) Persönlichkeit. Wer keine persönliche Lebensform, keinen Lebensstil hat, wird auch niemals einen (echten) Stil im Schreiben haben. Man kann niemand befehlen, stilgemäß zu schreiben, wie man ihm nicht vorschreiben kann, eine »Persönlichkeit« zu werden. Demnach ist alle Bildung zu stilgemäßer Rede und Schreibart schließlich nichts andres als Hinführung zur Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Klarheit, zur gefälligen, sachlichen und rücksichtsvollen Selbstdarstellung und Selbstmitteilung. Hier liegen alle Schwierigkeiten des Aufsatzes: wer einen klaren Aufsatz schreiben will, muß über sich klar werden; wer gefällig plaudern will, muß wenigstens die Anlage zur angenehmen Form haben. Die Führung zum stilgerechten Schreiben besteht also einmal darin, sich selbst getreu zu werden und zu bleiben, andererseits aber auch immer der Sachlage Rechnung zu tragen, d. h. je nach der Stilgattüng des Aufsatzes und der angeredeten Person wohl ein anderer zu sein, aber doch in den Grenzen seines wirklichen Wesens. Diese notwendigen Zusammenhänge zwischen Schreiber, Empfänger und Art der Mitteilung (Sachlage) geben gerade den (echten) Briefen ein eigenartiges Gepräge: Geschäftsbrief — privates Schreiben eines Backfisches — eines gereiften Mannes an Vorgesetzte, Freunde usw. Damit ist auch die Frage entschieden, ob dem Aufsatz eine besondere »Disposition« beigegeben werden soll. Gegliedert ist er ja immer, zwanglos oder streng logisch; das liegt im Wesen des Stiles. Es fragt sich aber, ob die Disposition ausdrücklich gekennzeichnet werden soll, am Rand oder in einer Zusammenfassung. Es wäre stilwidrig, wenn ein offenbares Erlebnis oder ein Gebilde der Phantasie, ein eigenes Gedicht oder Märchen, auf strenge Richtlinien gebracht würde. Es wäre ebenso unangemessen, wenn in einer

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s a c h l i c h e n Darstellung nicht eine strenge Folge der Gedanken innegehalten würde; ob sie aber irgendwie kenntlich gemacht wird, ist eine sekundäre Frage: sicherlich wird eine »Disposition« dem Lehrer die Durchsicht erleichtern und ihm auf den ersten Blick sagen, ob sich der Verfasser an einen bestimmten Plan gehalten hat oder nicht. Primär wird es aber den Stilgesetzlichkeiten widersprechen, wenn beispielsweise in einem Brief die (an sich vorhandene) Gliederung angegeben wird. Offenbar entspricht es aber dem Sinn eines zu strenger Zucht und Selbstbeherrschung, zur Selbstprüfung und Selbstbesinnung verpflichtenden Unterrichts, wenn bei Erinnerungs-, Beobachtungs-, Urteils- und Beurteilungsaufsätzen die innere Ordnung auch äußerlich klar zum Ausdruck gebracht wird. Der Fehler der alten Schule lag nicht darin, daß eine Gliederung verlangt wurde, sondern daß die »Disposition« so häufig in einen starren Schematismus ausartete. Auch die geordnete Klarheit übersichtlicher Kürze gehört zum Stil, zur sachlichen Mitteilung.

Blicken wir zurück, so ist alle Sprech- und Schreibschulung sowie die Bildung des persönlichen Stils in der Muttersprache nichts Geringeres als Weckung der spontanen Kräfte und ihre Gestaltung zum Lebensstil aus den metaphysischen Tiefen persönlichen Seins. Kann doch auch Kunst und Bildung durch Kunst nur volkhaft bodenständig gedeihen. Diese Kraftbildung ist Lebensformung, ist der Weg zum eigenen Ich, zur Persönlichkeit, zur Verantwortung gegenüber dem Volke aus den unmittelbaren Kräften des deutschen Menschen. Das ist der Sinn der Konzentration, des Deutschen als Konzentrationsfach innerhalb der deutschen Volks-Schule — denn alle Schulen sind Schulen des Volkes! L i t e r a t u r : E . Drach, Sprecherziehung, Frankfurt (Main) 1929. — H. Dunger, Zur Schärfung des Sprachgefühls, Berlin 1917. — S. Engelmann, Methodik des deutschen Unterrichts, Leipzig 1929. — O. v. Greyerz, Der Deutschunterricht als Weg zur nationalen Erziehung, Leipzig 1921. — Ed. Hermann, Die Sprachwissenschaft in der Schule, Göttingen 1923. — R. Joerden, Das Problem der Konzentration der deutschen Bildung, Göttinger Studien zur Pädagogik, 4. Heft, Göttingen 1925. — Th. Litt, Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal, Leipzig u. Berlin 1930. — Methodik des Deutschunterrichts, Frankfurt (Main) 1930, 5. Band des Handbuchs des Unterrichts an höheren Schulen (Fischer, Arends, Jahn, Leggewie). — H. Nohl, Zur deutschen Bildung I, Göttinger Studien zur Pädagogik, 5. Heft, Göttingen 1926. — E . Otto, Zur Grundlegung der Sprachwissenschaft, Bielefeld u. Leipzig 1919. — K . Schme'ing, Freie Rede, Leipzig 1922. — W. Schneider, Deutscher Stil- und Aufsatzunterricht, Frankfurt (Main) 1929. — Sprach-, Stil- und Aufsatzunterricht, Leipzig 1928, Der deutsche Arbeitsunterricht, hrsg. von G. Wenz, Heft 2. — L. Weismantel, Über die geistesbiologischen Grundlagen des Lesegutes der Kinder und Jugendlichen, Augsburg 1931. —

E. Religiöse Bildung. Wir haben bisher alle Wissenschaftsgebiete in den Kreis unserer Betrachtungen gezogen — ausgenommen die »Religion«. Wir stellen daher nunmehr die Frage: Ist auch Religion ein »Fach«? Kann man von »Religions-Unterricht« im selben Sinne handeln wie von Sprach-, Physik-, Musikunterricht ? Die Antwort lautet: Nein. Denn wo immer wir bisher von »Unterricht« gesprochen haben, lag die Beziehung eines Subjekts auf einen Gegenstand vor (S ->• G), der entweder theoretisch zu betrachten O t t o , Untenicbtslehre.

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(in Wissenschaft bzw. Kunst) oder praktisch zu gestalten war (in der Werktätigkeit). Religion hat es aber immer mit der Wechselbeziehung zwischen Subjekt und dem Absoluten, mit Gott zu tun. Das ist etwas wesentlich anderes. Wir stellen daher zunächst fest: Religion ist nicht ein Unterrichtsfach wie alle übrigen. So auch L. Weismantel. Daraus folgt zugleich: auch unsere drei methodischen Betrachtungsweisen (des dritten Teiles) können für die Bildung des religiösen Menschen keinesfalls in Anwendung kommen. Überdies stellen wir fest: »Religion« betrifft ein ganz spezifisches, psychisches Faktum: im religiösen Erlebnis ist der Gläubige nicht »spontan« (im bisherigen Sinne) auf ein irdisches Objekt gerichtet, auch nicht »reaktiv« (in dem bisherigen Sinne) tätig, wie im theoretisch-praktischen Unterricht, sondern »hingegeben« an das Göttliche, das in seiner Weise wirkt: der aufgeschlossene Mensch wird »ergriffen« von überweltlichen Mächten. Daraus folgt, daß nicht nur alle weltlich-methodischen Betrachtungsweisen versagen, sondern auch die grundlegenden Führungsweisen der Didaktik. Aus dem Tatbestande des Ergriffen-Werdens wird vielmehr klar, daß Religiosität kein bloßes Ergebnis des »Unterrichts« sein kann, sondern wesentlich ein Akt der Gnade sein muß. Schließlich liegt dem religiösen Akt auch keine Wechselwirkung mehrerer Subjekte, d. h. von Menschen zugrunde (S «—>• S). »Religion« ist infolgedessen auch kein Prozeß der Erziehung in dem Sinne, wie die Allgemeine Erziehungslehre ganz auf den spezifischen Akten menschlicher »Wechselwirkungen« aufgebaut ist. Das Gebiet der Religion fällt mithin als eine eigene Wertsphäre für sich weder in die allgemeine Erziehungslehre noch in die allgemeine Unterrichtslehre (vgl. die Skizze am Schluß dieses Buches). Etwas ganz anderes ist das Faktum der verschiedenen historisch gewordenen Religionen, ihre Riten, Dogmen usw. Sie sind der Gegenstand der Religionswissenschaft, die historisch-vergleichend zu verfahren hat. Es ist daher eine Unterweisung in der Geschichte der einzelnen Glaubensbekenntnisse wohl möglich als besondere Aufgabe der religiösen Gemeinschaften, auch gelegentlich als Bestandteil des weltlichen Geschichtsunterrichts. Die wissenschaftlich-philosophische Ergründung der religiösen Sinnsphäre ist Aufgabe der Theologie (bzw. der Religionsphilosophie). Die Grundfrage dieser Domäne, unter wissenschaftlichem Aspekt, lautet: Welches ist der Wahrheitsgehalt der großen Weltreligionen, des Christentums, des Evangeüums! Hier drängen letzte Entscheidungen auf den Menschen ein. Man beachte aber wohl: Theologie als systematische Theorie ist nicht reine Wissenschaft im weltlichen Sinne, da ihr Gegenstand, die Relation zwischen Subjekt und Absolutem, der wissenschaftlichen For-

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schung nicht in gleicher Weise gegeben (bzw. aufgegeben) ist wie im Falle der Geistes- oder der Naturwissenschaften. Theologie ist somit nicht reinrationale Theorie (Dialektik oder dergleichen!), sondern »Klärung« des Gott-Gerichtetseins. Hier liegen Aporien vor, die in ihrer Unauflösbarkeit erst einmal eingesehen werden müssen. Das soll keinen Verzicht der Wissenschaft schlechthin bedeuten, eine Leugnung jeglicher Theologie, sondern nur eine Mahnung zu einer kritischen Haltung gegenüber vorschneller Theorienbildung. Denn einerseits besteht die Möglichkeit, das persönliche Erlebnis des auf Gott hingeordneten Menschen der Theorie zu unterwerfen. Andererseits wird das irrationale Gotteserleben des religiösen Menschen auch seine besondere Geltung beanspruchen. Soweit ich sehe, gibt es ganz allgemein zwei fundamental verschiedene Formen religiös-weltanschaulicher Stellungnahmen, denen die Grundüberzeugungen des Katholizismus bzw. des Protestantismus weitgehend entsprechen, wenn sich auch die positiven Ausprägungen beider geschichtlichen Konfessionen nicht mit ihnen decken 1 : a) Der Gläubige sucht den Sinn der religiösen Wahrheit, des Seins in Gott zu erfassen zunächst unmittelbar in der symbolisierenden Schau, sodann mittels eines begrifflichen Denkens. Dieser Rückgang auf Sinnenschau wie auf die ratio ist vorwiegend romanische Sonderart ». Der Verstand — auch wenn »Vernunft« gesagt wird — bannt den ewigen Fluß des Werdens in feste Begriffe (das Be-Kenntnis), um sich auf diese Weise der Wirklichkeit (i. w. S.) zu bemächtigen. Wie die Lebensordnung der hierarchisch gegliederten Kirche verläuft auch das Denken in der geschichteten Architektonik einer Begriffspyramide, in der sich der Übergang vom Diesseits zum Jenseits stufenförmig aufbaut. Alles erkennende Denken geht auf Obj e k t i v i t ä t , d.h. beansprucht die Möglichkeit, das endliche und unendliche Sein begrifflich unter Denkkategorien zu erfassen. Diesem »Wissen« kann auch der »Glaube« und die Offenbarung nicht widersprechen. J a , es 1 Eine geschichtliche Weitung dieser religiösen Grundtypen gibt der ertragreiche Aufsatz J . W . Hauers, Der katholische und der protestantische Mensch in ihrer Entgegensetzung und ihrer Einheit, Kommende Gemeinde I, i , S. 35 ff. Über andere, mehr intuitive Weltanschauungen und Religionen vgl. meine Allgemeine Erziehungslehre, Dritter Abschn., I I I . 1 A. v. Martin, Kultursoziologie des Mittelalters, Vierkandts Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1 9 3 1 , S. 3 7 2 : »Diese Kirche hat eine Fülle intellektualistischer Elemente aus der griechisch-römischen Geisteskultur in sich aufgenommen und tritt mit diesen der irrationalen A r t der germanischen Völker gegenüber. « Was Frankreich betrifft, so verweise ich auf den Feldzug g e g e n Rousseau bzw. die Romantik ( J . Lemaître, P. Lasserre, E . Seillière usw.) und f ü r die französische Ordnung und begriffliche Klarheit (École romane: J . Moréas usw.). — Vgl. die Bedeutung der intellektuellen Werterkenntnis in S. Behns Werk: Philosophie der Werte, Handbuch der Erziehungswissenschaft, München 1930. Ebenso Fr. X . Eggersdorfer u. R. Allers.

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wird dem menschlichen Verstände die Kraft zugetraut, in allen entscheidenden Fragen des Bekenntnisses selbst sicher zu finden und zu führen, also auch ohne Hilfe einer übernatürlichen Offenbarung »das Dasein Gottes« erkennen und beweisen zu können 1. Die Philosophie als Wegbereiterin trägt der Offenbarung die Fackel voran, untersucht und beweist die Gründe für die Tatsächüchkeit und Glaubwürdigkeit der Offenbarung. Der einzelne führende und forschende Mensch muß daher immer der Stimme seines Gewissens folgen, die — wenn sie echt ist — ihn zur Wahrheit führt, überdies der gesicherten Erkenntnis nicht widersprechen kann, wohl aber überall da, wo noch keine endgültige Entscheidung gefällt ist, den Ausbau der echten Lehre zu fördern vermag. Darauf gründet sich Recht und Berechtigung der Kirche. Sie ist nicht Menschenwerk, sondern göttliche Stiftung. Als Offenbarung Gottes in der geschichtlichen Welt ist sie Trägerin, Wächterin und auch Auslegerin der übernatürlichen Offenbarung. Da Gott weder irren noch in Irrtum führen wird, kann die endgültig festgelegte Lehre der Kirche auch nicht den Erkenntnissen des Verstandes widersprechen. Der einzelne tut daher gut, sich in allen Konflikten seines Glaubens der hierarchisch gegliederten Kirche anzuvertrauen, der »Lehrerin in den natürlichen und in den übernatürlichen Wahrheiten der Religion«. Hier liegt die Begründung für die Autorität und Disziplin der Kirche. Auf diesen Grundlagen beruht im wesentlichen die geschlossene Einheit der katholischen Lehre. Unsere Darlegungen machen einsichtig, daß katholischer »Religionsunterricht« auf rational-intellektuelle Grundlegung und Unterweisung im »Bekenntnis« nicht verzichten kann». Als »Erziehung« ist ihm Religion die Hinführung auf Autorität in der Gemeinschaft, auf Formung der Individualität 3. Damit wird die unendlich schwere Problematik eines spezifisch deutschen Katholizismus erst einsichtig als dringende Aufgabe der Zukunft. 1

Max Pribilla, Glauben und Wissen im Katholizismus, Philosophie und Leben I (1925), 1. Heft. Vgl. dazu A.Messer, Glauben und Wissen bei Kant und im neueren Protestantismus, ebd.; P. Lippert, Die Weltanschauung des Katholizismus, Leipzig 1 9 3 1 , S. 76 ff., 83 ff. (Glauben und Vernunft); siehe auch B . Rosenmöller, Religionsphilosophie, Münster 1932, S. 1 5 5 ff. » J . Schröteler, Die katholische pädagogische Literatur des Jahres 1929, Die E r ziehung V (1930), Heft 8, hebt ausdrücklich zu Beginn seiner Umschau hervor: Die katholische Auffassung ist ider Meinung, daß Weltanschauung auf intellektueller, entweder unmittelbar einsichtiger oder reflex nachprüfbarer Grundlage aufbauen muß. Ihr ist eine derartige Begründung für eine vernünftige Lebensanschauung unerläßlich. Der Primat des Logos vor dem Eros wird damit grundsätzlich aufgestellt«. I H. Hefele, Die römische Wirklichkeit, Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland, S. 195 ff. Heiler, Die Religion in Geschichte u. Gegenwart I I I , S. 694. Vgl. oben S. 208 f.

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K e n n z e i c h n e n d f ü r d a s W e s e n d e r k a t h o l i s c h e n G r u n d h a l t u n g ist d e r Gegensatz zwischen R i e h . K r a l i k u n d K a r l M u t h , d e m B e g r ü n d e r u n d L e i t e r des »Hochland«. D o r t die R o m a n t i k , a u s ostdeutsch-wienerischen Quellen gespeist, als k a t h o l i s c h e G r u n d h a l t u n g a u c h d e r »Irrtum« F r i e d r i c h Schlegels, A d a m Müllers, K a r l J a r c k e s , wie Josef N a d l e r bereits b e m e r k t h a t 1 : die m o d e r n e klassische K u n s t h ä t t e eben die G e w a n d u n g d e s B a r o c k s , n i c h t d e r p r o t e s t a n t i s c h e n R o m a n t i k t r a g e n m ü s s e n . Hier K a r l M u t h , d e r Vert r e t e r rheinländisch-Münchener L i t e r a t u r , d e r als Klassiker die Ü b e r w i n d u n g d e r R o m a n t i k f o r d e r n m u ß t e . E b e n s o H e r m a n n B a h r , d e r in W i e n n i c h t in K r a l i k s S p u r e n w a n d e l t e , s o n d e r n die K u l t u r e i n h e i t des B a r o c k s v e r t r a t ; desgleichen H u g o von H o f m a n n s t h a l . D e r p r o t e s t a n t i s c h e Mensch ist eben w e s e n h a f t R o m a n t i k e r d e r K a t h o l i k dagegen d e m B a r o c k v e r w a n d t oder d e r Klassik, d e m Gesetz d e r F o r m v e r p f l i c h t e t . R o m a n t i k ist u n e r f ü l l t e S e h n s u c h t , B a r o c k a b e r g e k l ä r t e r Wille. —

b) Dem zweiten Grundtypus entspricht wesentlich der P r o t e s t a n tismus. Seine Theologie stützt sich nicht auf das begrifflich-objektivierende Denken, sondern ist letzten Endes auf normgemäßes V e r s t e h e n eines ewigen Werdens gegründet. Also nicht Aristoteles und intellektueller Hellenismus, sondern Neuplatonismus, Augustinus und ein Hang zur Mystik; nicht sichere Führung durch Autorität, sondern Trost durch Verinnerlichung. Die ungebundene, irrationale I d e e n h a f t i g k e i t der Vernunft, die spezifisch germanische Sehnsucht, ist nun einmal von dem funktionalen Verstände nicht auszuschöpfen 3. M. Pribilla lehnt daher seinerseits als Katholik die »Schemenhaftigkeit« der idealistischen Philosophie ab, die Gottes Dasein zu einer bloß »regulativen Idee« verflüchtigt 4. Kant hatte bereits einen Trennungsstrich zwischen Glauben und Wissen gezogen; er hatte dargelegt, daß Gottes Dasein nicht in wissenschaftlichphilosophischer Erkenntnis begriffen werden kann; das Dasein Gottes wurde zu einem Postulat der praktischen Vernunft. Moderne Theologen (Ritsehl, Herrmann, Ernst Troeltsch) folgten seiner Entscheidung. Man verzichtet 1 J . N a d l e r , H o c h l a n d k ä m p f e v o n gestern u n d m o r g e n , W i e d e r b e g e g n u n g von K i r c h e u . K u l t u r in D e u t s c h l a n d , M ü n c h e n 1927, S. 64 ff. Vgl. J . E n g e r t . Die Bildungslehre der katholischen Religion, H a n d b . d. Dtsch. Lehrerb. I . S. 38. 1 Ü b e r d a s W e s e n d e r R o m a n t i k s. J u l i u s P e t e r s e n , Die W e s e n s b e s t i m m u n g d e r d e u t s c h e n R o m a n t i k , Leipzig 1926, u n d G. H ü b n e r , Theorie d e r R o m a n t i k , D e u t s c h e Viertel]'ahrsschrift f. L i t . u . Geistesgesch. 10 (1932), H e f t 2. 3 K . Kesseler, R a t i o n a l i s m u s u n d I r r a t i o n a l i s m u s in ihrer B e d e u t u n g f ü r die t h e o logische A r b e i t d e r G e g e n w a r t , M o n a t s b l ä t t e r f ü r d e n evangelischen R e l i g i o n s u n t e r r i c h t 19 (1926), H e f t 5/6; R . S c h e r w a t z k y , E r z i e h u n g zur religiösen Bildung, Leipzig 1925, S. 88. « Vgl. E d u a r d W i n t e r , A n t o n G ü n t h e r u n d die b a r o c k - r o m a n t i s c h e , p a t e r n a l familiale Soziologie E . K . W i n t e r s . Theol. Q u a r t a l s c h r i f t 1930, H e f t I I / I I I . E . K . W i n t e r stellt d a s »Ideelle P l a t o n i s c h e , B a r o c k - r o m a n t i s c h e , S y n t h e t i s c h e « d e m »Begrifflichen, A n a l y t i s c h e n , Aristotelisch-scholastischen« scharf gegenüber. I c h lasse es d a b e i h i n gestellt, o b diese G e g e n s ä t z l i c h k e i t e n g e r a d e a n A. G ü n t h e r in d e r angegebenen S c h ä r f e h e r a u s g e a r b e i t e t w e r d e n k ö n n e n . Vgl. d a z u E d . W i n t e r , D a s positive V e r n u n f t s k r i t e r i u m , W a r n s d o r f 1928, S. 16 ff. — Vgl. O. W i l l m a n n , Geschichte d e s I d e a l i s m u s I I I , B r a u n schweig 1897, S. 504 ff.: d e r u n w i s s e n s c h a f t l i c h e C h a r a k t e r v o n K a n t s Philosophieren.

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Der Leistungsunterricht (Didaktik)

grundsätzlich darauf, das Wesen Gottes an sich »erkennen« zu wollen, und beschränkt sich auf die Feststellung des gefühlsmäßig-religiösen Erlebnisses als Offenbarung des Gläubigen. So Schleiermacher (Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit) und seine Schüler (Wobbermin, Kesseler) Die kritische Entsagung geht aber noch weiter, Kierkegaards Spuren folgend. Die rein-religiöse Sphäre, die Relation des Subjekts zum Absoluten wird grundsätzlich von der sittlichen Sphäre der »praktischen Vernunft« abgelöst: Bedingtes und Unbedingtes, Zeitliches und Ewiges, Endliches und Unendliches sind wesenhaft verschieden (R. Otto, Barth, Brunner, Gogarten, Thurneysen, Bultmann, Tillich). Der Inhalt der Relation Mensch — Gott wird zum unlösbaren Problem und die in der menschlichen Sphäre gesprochene Aussage: Gott »ist« zur Herabwürdigung des Absoluten in das Relative. Die Schwächen einer solchen Dialektik, die im Gewände einer wissenschaftlichen Philosophie einherschreitet, sind von H. Leisegang aufgewiesen worden2. Ist es im Rahmen dieser Grundhaltung ein Anthropomorphismus, Gott selbst zu charakterisieren als den Allwissenden (theoretisch I), den Schöpfer (praktisch I), den Allmächtigen und Allgütigen (sittlichI), d. h. also in allen überhaupt möglichen Wertidealen der menschlich-diesseitigen Sphäre, so drängt es doch den Gläubigen, alle idealen Eigenschaften einem U r b i l d e Gottes beizulegen, der in diesem Sinn ein »Mittler« ist zwischen Gott und den Menschen. Seine Idee vermögen wir deutend immer klarer im Gotteserlebnis zu erfassen, heiße sie nun Christus oder Buddha. Ob diese Verkörperung der Wegrichtung, der Wahrheit und des Lebens jemals gelebt hat, ist unwesentlich: das Wesen der Idee ist, daß sie als gültig erlebt wird, daß sie »gilt« und wirkt, nicht aber, ob sie »existiert« oder existiert h a t . Daher darf man die Wesensbestimmungen des Mittlers dogmatisch auch nicht mit empirisch-historischen Festlegungen belasten 3. Denn nur Ideen sind ewig und wahr; sie können durch keine Tatsachen jemals widerlegt werden.

Der Rückgang auf das subjektive Erlebnis der religiösen Erfahrung hat zur Folge, daß die Gläubigkeit des eigenen Gewissens allein zur Quelle der Wahrheitseinsicht und zum Ansatzpunkt der Erlösungsmöglichkeit gemacht wird. Das Individuum für sich übernimmt die freie Verantwortung für sein Seelenheil. Mit dieser Rückwendung auf die Ge-Sinnung, nicht auf das Bekenntnis (vgl. die Spannung Volk — Nation oben S. 74ff ). 1

Vgl. den Schlußabschnitt meiner Allgemeinen Erziehungslehre, Leipzig 1928. Auch Th. Litt, Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik, Leipzig u. Berlin 1931, S. 178 ff. Siehe die Vorträge W. Gruehns und E . Przywaras auf dem X l l . Kongreß d. Dtsch. G. f. Psych. 1 H . Leisegang, Religionsphilosophie der Gegenwart, Berlin 1930, S. 39 ff. 3 Dagegen K. Barth, Wtinschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Glaubensbekenntnisses, Zwischen den Zeiten 3 (1925), H e f t 4; J . W. Hauer, Kommende Gemeinde 2 (1930), 2. u. 3. Heft, stellt offen und ehrlich die Grundfrage nach der religiösen Krise der Gegenwart. Dazu die Reden und die Aussprache der Comborger Tagung. — O. Baumgarten, Die Gefährdung der Wahrhaftigkeit durch die Kirche, Gotha 1925. — Willy HellßäCh, Zwischen Wittenberg und Rom, Berlin 1931.

Religiöse Bildung

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weiterhin durch die Kulturkritik, die den Wert des sittlichen Handelns selbst in Frage stellt, wird auch die Möglichkeit kirchlichen Gemeinschaftslebens — als Idee! — aufs äußerste gefährdet Wenn gerade in neuerer Zeit protestantische Lehre, Kirchenbrauch und christlicher Lebenswandel zur Rechtfertigung vor den Richterstuhl Luthers gezogen werden, wenn die Forderung unbedingter Wahrheit und Wahrhaftigkeit in gläubiger Hingabe erhoben wird, so ist das doch etwas anderes, als wenn Theologie völlig in dem Gebiet wissenschaftlicher Theorie aufgeht und der Theoretiker den Fehler begeht, Theologie als reine Wissenschaft nach Art der anderen Wissenschaften zu behandeln, was sie doch dem religiösen Menschen, den obigen Ausführungen gemäß, nun einmal nicht ist. Auf bloße Wissenschaftstheorie läßt sich wohl eine »Schule« wissenschaftlicher Lehrmeinungen, aber keine Gemeinschaft gründen, also auch keine »Kirche«, allerdings auch nicht auf bloße Konventionen des Dogmas. Eine Erneuerung des Protestantismus aus den letzten Überzeugungen Luthers wird mithin nur möglich sein, wenn seine besten Quellen zusammenfließen, die pietistische Gläubigkeit, die wissenschaftliche Forschung und die aristokratisch-dogmatische Einordnung in kirchliche Gemeinschaft. Der dieser letzteren Grundform entsprechende »Religionsunterricht« wird einmal auf das persönliche Erlebnis religiöser Glaubenserfahrung zurückgreifen müssen — und wo ist mehr vom »Erlebnis« die Rede gewesen als in der Methodik des evangelischen Religionsunterrichts —, sodann zur Freiheit persönlicher Selbstverantwortung in allen Glaubensentscheidungen innerhalb der Bekenntnis-Kirche hinzuführen haben, in aller Tiefe religiöser Verinnerlichung. — Den beiden extremen Grundtypen möglicher Theologien entsprechen nicht völlig der historische Katholizismus noch der historische Protestantismus, ihre Wandlungen und ihre Differenzierungen! 2 Auch werden die Spannungen zwischen den beiden großen positiven Religionen des Abendlandes dadurch abgemildert, daß sie aus gemeinsamer Not zur gegen1 Fr. Delekat, Vom Wesen evangelischer Erziehung, Neue Jahrbücher f. Wissenschaft u. Jugendbildung 6 (1930), Heft 4. — P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, Berlin 1926.

* Über die spannungsreiche Weite der katholischen Religionsphilosophie in Frankreich (unter Bergsons Einfluß) und in Deutschland (Augustinus — Thomas — Molina und ihre Erneuerungen) siehe E . Przywara, Kantstudien 33 (1928), S. 73 ff. — Ganz anders der Rationalismus rechtlich-verstandesklaren Denkens der jüdischen Religionsphilosophie, wie er auch in dem antiromantischen Geiste des von H. Cohen begründeten Neukantianismus vorliegt. Auf der andern Seite zeigt das Schrifttum eines Martin Buber, wie auch Zionismus und Mystik zusammenfließen können. Vgl. dazu H. Leisegang, a. a. O. S- 4 ff.

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Der Leistungsunterricht

(Didaktik)

seitigen Toleranz und zum einheitlichen Handeln gezwungen sind r . Aber noch stehen die ohnmächtig tastenden und disputierenden Kirchen, nach Zeiten des formalen Idealismus und des praktischen Nützlichkeitsgedankens, neben dem Weltzerfall; sie sind wohl ehrwürdige Vergangenheit, aber doch nicht lebendig wirkende Gegenwart. Es fehlt der Welt allenthalben an ursprünglicher Gläubigkeit sowie an der tätigen Verantwortungskraft der konkreten Entscheidung in Güte — statt des brutalen Gewaltstrebens; fast scheint es, daß sich die Wendung der öden Sachlichkeit zur neuen Geistigkeit der Ordnung in der Gott-Welt nicht durchzusetzen vermag: keine Christheit des Bürgertums noch des Proletariats trotz aller Berührung eines recht verstandenen Christentums und Sozialismus 2. Wir haben im ersten Teile dieser Allgemeinen Unterrichtslehre gezeigt, daß alle Entwicklung nichts anderes ist als Ausgliederung, d. h. Differenzierung (»Lernen«) und Integrierung. D i f f e r e n z i e r u n g ist nunmehr schon seit Jahrtausenden das Charakteristikum der gesteigerten Zivilisation und wesentlich unseres geschichtlichen Augenblicks. Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, Politik und Sprache wie auch Leibesübungen und Sport haben sich abgelöst vom kultischen Mutterboden und ihrer metaphysischen Verwurzelung 3. Das Leben ist nur Betrieb und arbeitsteiliges Getriebe. Diese Übersteigerung zusammenhangloser S a c h - Z i v i l i s a t i o n , des objektivierten Geistes, auf Kosten der p e r s ö n l i c h e n K u l t u r , des subjektivierten Geistes, kann nur als Auflösung, als Entleerung und Sinnlosigkeit des Daseins empfunden werden. So heißt denn die große Sehnsucht der Zeit: Ganzheit, d. h. Konzentration, Ausrichtung. Wenn in archaischer Vorzeit der orientalischen Staaten, beispielsweise in Indien, der reifende Mensch geborgen ist in der noch unaufgespaltenen Einheit von Natur und Kultur, von Religion, Kunst, Wissenschaft und Sitte; wenn alle Wissenschaft (Astronomie, Mathematik, Grammatik) sowie alle Kunst (Architektur, Gesang und Tanz) dem Kult dienen; wenn Leib und Seele eine ungeschiedene Einheit darstellen und also vom Geist her zu bestimmen sind; wenn das Bildungsgut des religiösen Wortes als Symbol des Seins und Daseins ohne verstandesmäßige Deutung unmittelbar verstanden wird und der Lehrer in der häusüchen Lebensgemeinschaft von Meister und Schüler seine Lehre selbst lebt und persönlich darstellt — so soll die Idee der metaphysischen Konzentration den Bruch 1

Vgl. J. Schröteler, D a s katholische Bildungsideal und die höhere Schule, Neue

Jahrbücher f. Wiss. u. Jugendbildung 6 (1930), S. 445. 1

S. die Aussprache in H . Siemering-Ed. Spranger, Weibliche Jugend in unserer Zeit,

Leipzig 1932.

V g l . P . Piechowski, Proletarischer Glaube, Berlin 1930.

3 D a Leibesübungen Wechselwirkung

nicht

von Menschen,

Beziehung

auf

also Erziehung

einen Gegenstand

bedeuten,

sondern

zu gesunden und charaktervollen

sönlichkeiten, so sind sie in der Allg. Erziehungslehre behandelt.

Per-

Religiöse Bildung

313

und Umbruch unserer Zeit nach Möglichkeit zu heilen versuchen! Diese hohe Aufgabe eines erneuerten Menschentums kann man sich nicht ernst genug vergegenwärtigen. Was vordem selbstverständlich war, der ganze religiös-sittliche Mensch, das haben wir nunmehr zu »lernen«, seit der Zeit des Sokrates und des Protagoras, wo sich dies Problem des Lernens, auch der Widerstreit zwischen durchgeistigender Persönlichkeits-Bildung und ertüchtigender Berufs-Schulung zum erstenmal dem Menschen aufdrängt. Hier liegen die letzten und tiefsten Aufgaben moderner Pädagogik und ihrer betonten Idee der Ganz-Einheit. Wie J. W. Hauer im ersten Heft seiner Zeitschrift gezeigt hat, waren auch die beiden Grundrichtungen religiöser Sehnsucht in der Gläubigkeit des M i t t e l a l t e r s noch vereint; sie sind erst in der Neuzeit mehr und mehr auseinandergetreten, bis zur Atomisierung der künstlichsten Isolation: Ziel und Aufgabe religiöser Menschen wird es sein, notwendig bestehende Spannungen allerdings nicht äußerlich zu überdecken, wohl aber in einer Einheit wahrhaftiger Gläubigkeit und des Handelns zum Ausgleich zu bringen. Das ist die höchste Auffassung von »Konzentration« gegenüber einem immer mehr sich differenzierenden Leben. Auch die Einheit von begrifflichem Denken und ideenhafter Sehnsucht bildet erst das Ganze. Wie sich die p o l i t i s c h e n Spannungen naturgemäß »aufheben» in der umfassenden Ganzheit aristo-demokratischer Gesinnung aus sozialer Verantwortlichkeit (s. o. S. 80f.), so müssen Jenseits-Gerichtetheit und Diesseits-Handeln einander durchdringen und halten. Hatte Kant vor aller Erkenntnis den Primat der praktischen Vernunft gesichert, so sehen wir auch hierin noch eine künstliche Isolation. Das Heilige ist »Kern« alles Lebens und persönlichen Seins, somit auch zentraler Beziehungspunkt alles »Heimat-Unterrichts«. Es steht, in einer vermeintlichen »Rangordnung der Werte« nicht neben den anderen Werten, ist auch im Spannungsgefüge des Lebens nicht eine Schicht über anderen Schichten, sondern ist das A l l - U m f a s s e n d e , das Alles-Durchdringende, die Seinseinheit von Immanenz und Transzendenz. Wir haben bereits dargelegt, wie die Geschlossenheit und Ausgeglichenheit der Persönlichkeit in sich und in der Gesellschaft angebahnt werden kann durch Versenkung in die Natur, durch Erleben der Kunst, durch richtig verstandenen Unterricht in Muttersprache und angestammter Kultur, also für uns Deutsche durch das Deutsche. Diese Hinführung zur persönlichen und überpersönlichen Form ist nur perfectio secundum quid; sie findet erst die perfectio simpliciter in der religiösen »Bildung« als der Vollendung von Erziehimg und Unterricht. Denn alle hingebende Haltung, auch in der Endlichkeit, an die Natur, an die Kunst, an die Kultur ist letzthin doch nichts anderes als Ausdruck einer im tiefsten Sinne r e l i g i o -

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Der Leistungsnnterricht (Didaktik)

sen Haltung, eines metaphysischen Gerichtetseins auf das Unendliche. Religion ist demnach, in Anlehnung an Ciceros Ableitung, Wiedersammlung, Wieder-Hinführung des Menschen auf sich, auf den Mitmenschen, auf den Weltensinn. Das ist keine Gewöhnung und kein Lernverhältnis (S-+0!), sondern die Erneuerung der Urrelation, das Gefühl der WiederErgriffenheit und Geborgenheit im Ganzen der Diesseits-Jenseitsbezogenheit. Der Mensch ist dann nicht bloß ein »Kunstwerk« an sich, geformtes »Symbol« der Lebenswahrheit, als Ziel der Kunsterziehung, sondern mehr als das: er stellt ein »Gleichnis« dieses vergänglichen Lebens dar, wie auch der religiöse Mensch in allem Endlichen nur ein Gleichnis des Unendlichen s i e h t I n diesem unerlösten Heimweh nach persönlicher Vollendung und überpersönlicher Gemeinschaft liegt auch der Geltungsanspruch jeglicher »Konzentration« begründet. Damit rechtfertigt sich der tiefere Sinn der im Anhang gegebenen Übersicht über das Strukturgefüge der Werte, zu deren schematischer Darstellung ich mich nur ungern entschlossen habe 2. Und die Skizze will eben in der V e r s c h r ä n k u n g und dem S p a n n u n g s gefüge der W e r t - S c h i c h t e n andeuten, daß die Existenz des Menschen in der Ganzheit aller Seinsbezüge beschlossen ist, nicht nur in der künstlichen Isolation einseitig theoretischer bzw. praktischer Leistungen, auch nicht in dem Überbau des leistungsfähigen und gütigen Menschen, sondern erst im umfassenden Ausgleich des religiösen, d. h. des »gebildeten« Vollmenschen. Diese »Bildung« kann der übliche »Religions-Unterricht« nicht leisten, sofern er »Fach« neben andern Fächern ist. Soll er der »inneren Konzentration« dienen und dem Menschen die Einheitsbezogenheit der metaphysischen Ganzheit zurückgeben, so muß er werden eine stille Stunde der Entspannung, der Versenkung und der Verinnerlichung, der großen Ruhe, der Ausrichtung auf Gott 3. So wird die »Schule« wenigstens in dieser einen »Stunde« eine Stätte der Muße sein (schöle) und so ihren alten guten Sinn zurückgewinnen. Das Paradies der naturhaften Einordnung in die Umwelt, 1 Ähnlich ergänzt Max Vanselow in seiner Metaphysik der Erziehung, Berlin 1930, das exakte Erkennen und das künstlerische Schauen durch das fromme Ahnen. Schon vor ihm hatte A. Görland das »Ahnen« als selbständige Funktion des Bewußtseins anerkannt. Auch Kurt Kesseler hat wiederholt auf die Unmöglichkeit eines intellektualistisch-moralisierenden Religionsunterrichts hingewiesen, desgleichen Niebergall, Schlemmer, Scherwatzky u. a. Von katholischer Seite, z. B. J. Göttler, System der Pädagogik im Umriß, München 1927, S. 133, wird der Einfluß der Gewöhnung (Mitübung) unterstrichen, was innerhalb gewisser Grenzen wohl zu billigen ist. Jr > Wie bedeutungsvoll die Grundlegung solcher Ordnungsbeziehungen aber ist, geht aus den kritischen Darlegungen J. Schrötelers hervor (Die Erziehung VII, S. 267), ja sie ist der Ansatzpunkt aller Ordnung schlechthin. 3 Vgl. dazu R. Otto, Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, Gießen 1925.

Religiöse Bildung

315

das instinktive Weltgefühl des Bios, ist dem Vernunftmenschen auf immer versperrt. So bleibt uns nur das Leben im Logos, die geklärte, aber doch wesentlich irrationale Grundhaltung des tätigen und zugleich gottergriffenen Menschen als Aufgabe der Menschwerdung. Der »Religionsunterricht« wird also auf den unteren Stufen, im Sinne des heimatkundlichen Prinzips, von dem Erleben des Kindes in der Familie, in Schule und Umwelt ausgehen und diese erlebte Wirklichkeit weiten und klären an dem Leben und Beispiele des Gottessohnes, seinem Gottvertrauen, seiner Liebe, seinem Sterben. Das vornehmste Ziel ist somit das Gerichtetsein auf Gott, die Weckung der sittlich-religiösen Kräfte der Formung und Bindung, in Stunden der Muße, der Feier, der Besinnung. Auf der Oberstufe der theoretischen Schulen darf die philosophische Vertiefung auf den Ewigkeitsgehalt des Christentums hin im Ganzen aller Weltreligionen nicht fehlen. Das alles ist mehr das Werk der Lehrerpersönlichkeit bzw. des Geistlichen als das planmäßige Ergebnis eines ausgearbeiteten »Systems«. Also wenigstens einmal in einer »Stunde« keine Methodik und Didaktik des Unterrichts! Wenigstens einmal keinen Rationalismus, keine Systematik und keinen Zwang des zu bewältigenden »Pensums«, sondern vernünftige Freiheit und Kultur der Seele; kein Befragen des Gegenstandes, sondern Selbstbefragung »des eigenen Ich und besinnliche Einkehr. Gibt es nicht zu denken, wenn Männer wie Pestalozzi und Herbart, Fichte und Schleiermacher, ebenso viele Männer und Frauen unserer Zeit gerade aus tiefster Frömmigkeit ernste Bedenken gegen jeden planmäßigen Religionsunterricht geäußert haben! Damit wird in keiner Weise dem Extrem des bloßen »Erlebnisunterrichts« das Wort geredet. Denn Zusammenleben ohne Ordnung ist das Chaos. Religiosität ist vielmehr notwendige Richtung und Ordnung alles bildenden Unterrichts, der metaphysischen Formung des einzelnen und seines Volkes. Dieser Ordnung fügt sich der religiöse Mensch gläubig ein, bald als Geführter, bald als Führender, entsagend und zugleich in höchster Aktivität — im Sinne der hier vertretenen Unterrichtsführung, die doch im Grunde nichts anderes sein kann als die Lebensnorm selbst. Dem »gebildeten« Menschen erwächst somit die heldische Aufgabe, die Schwere der spannungsreichen Gegenwart entschlossen zu bejahen und im sozialen Handeln verantwortungsvoller Entscheidung die Synthese immer wieder von neuem zu suchen, den Blick nach oben gerichtet. Ist doch diese ganze Welt gleichgeordnet der Gesetzlichkeit in der eigenen Brust. Und dies Gesetz nur kann uns Freiheit geben.

316

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