Gershom Scholem Und Die Allgemeine Religionsgeschichte [Reprint 2013 ed.] 311016356X, 9783110163568

Die Herausforderung religionsgeschichtlicher Forschung besteht darin, die Erschließung von Quellen in ihren Kontexten un

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Gershom Scholem Und Die Allgemeine Religionsgeschichte [Reprint 2013 ed.]
 311016356X, 9783110163568

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Erster Teil
1 Literatur zu Gershom Scholem
1.1 „Buber vs. Scholem“ und andere Kontroversen
1.2 Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation
2 Der „Schafspelz des Philologen“: Scholems Selbstverständnis als Historiker
2.1 Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus
2.2 Geschichte und Metaphysik
3 Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik
3.1 Gershom Scholem als „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule“
3.2 Die klassische Religionsphänomenologie
Zweiter Teil
4 Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik
4.1 Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?
4.2 Die Wesenszüge der jüdischen Mystik
5 Die „Stadien der Religionsgeschichte“
5.1 Vorbemerkung: Kabbalistischer Symbolismus als Herzstück der Scholemschen Kabbalaforschung
5.2 Das mythische Denken
5.3 Mystik und lebendige Religion
6 Die mystische Erfahrung
6.1 Vorbemerkung: Zum allgemeinen Konsens in der Scholem-Rezeption
6.2 Die Einheit der mystischen Erfahrung und das Verhältnis von Erfahrung und Deutung in der älteren Mystikforschung
6.3 Scholems Theorie mystischer Erfahrung
7 Das religiöse Bewußtsein
7.1 Das religiöse Individuum
7.2 Die religiösen Ideen und ihre Dynamik
7.3 Das religiöse Gefühl (Fazit)
8 Schluß
9 Literaturverzeichnis
9.1 Schriften von Gershom Scholem
9.2 Literatur zu Gershom Scholem
9.3 Weitere Literatur
Abkürzungen
Zur Transkription des Hebräischen

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Elisabeth Hamacher Gershom Scholem und die Allgemeine Religionsgeschichte

1749

Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten herausgegeben von Fritz Graf Hans G. Kippenberg Lawrence E. Sullivan Band 45

Walter de Gruyter Berlin · New York 1999

Gershom Scholem und die Allgemeine Religionsgeschichte von Elisabeth Hamacher

Walter de Gruyter Berlin · New York

1999

Die Reihe Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten wurde 1903 begründet von Albrecht Dieterich und Richard Wünsch. Die Bände I —XV erschienen 1903 — 1915 unter der Herausgeberschaft von Ludwig Deubner und Richard Wünsch. Die Bände XVI-XXVII erschienen 1 9 1 6 - 1 9 3 9 unter der Herausgeberschaft von Ludolf Malten und Otto Weinreich. Die Bände XXVIII - XXXVIII erschienen 1969-1982 unter der Herausgeberschaft von Walter Burkert und Carsten Colpe.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Hamacher, Elisabeth: Gershom Scholem und die allgemeine Religionsgeschichte / von Elisabeth Hamacher. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten ; Bd. 45) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-11-016356-X

ISSN 0939-2580 © Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Januar 1998 bei der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Dissertation eingereicht und im Sommersemester 1998 angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Ich danke Herrn Prof. Dr. Karl Hoheisel und Herrn Prof. Dr. Dr. em. Johann Maier, daß sie mir eine Doktorarbeit zwischen den Stühlen der Vergleichenden Religionswissenschaft und Judaistik ermöglichten; Frau Margot Cohn von der Handschriftenabteilung der Jüdischen Nationalund Universitätsbibliothek Jerusalem und Frau Dr. Itta Shedletzky vom Jerusalemer Franz Rosenzweig Research Center für die Gelegenheit, Scholems unveröffentlichten Nachlaß einzusehen, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Scholem Library für ihre Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft; Herrn Prof. Dr. Hans G. Kippenberg und Herrn Prof. Dr. Fritz Graf für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Retigionsgeschichtächen Versuche und Vorarbeiten-, der Universität Bonn für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses; dem Cusanuswerk für jahrelange materielle und ideelle Förderung; und ganz besonders meiner Schwester Ursula Hamacher und Herrn Dipl.Bibl. Thomas Fischer, daß sie die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens auf sich genommen haben. Bonn, im September 1998

Elisabeth Hamacher

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

Einleitung

1

Erster Teil 1 Literatur zu Gershom Scholem 1.1 „Buber vs. Scholem" und andere Kontroversen 1.1.1 Scholem und Buber 1.1.2 Baruch Kurzweil und der Streit um den jüdischen Messianismus 1.1.3 Weitere Debatten

11 11 12 21 24

1.2 Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation 1.2.1 Die Monographien (Biale, Schweid, Dan) 1.2.2 Moshe Idels neue Perspektiven 1.2.3 Deuter des Judentums zwischen religiöser Tradition und säkularer Moderne 1.2.4 Scholems Zionismus und sein „deutsches Erbe"

27 27 34 36 43

2 Der „Schafspelz des Philologen": Scholems Selbstverständnis als Historiker

49

2.1 Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus 2.1.1 „I have never cut myself off from God ..." 2.1.2 Die Konkretisierung der Tora in der Halacha 2.1.3 Religiöser Anarchismus 2.1.4 Die Dialektik des Säkularismus 2.1.5 „I certainly am not a mystic ..."

50 50 52 54 57 60

Vili

Inhaltsverzeichnis

2.2 Geschichte und Metaphysik 2.2.1 Philologie als Hohlspiegel 2.2.2 Die Objektivität der Geschichtswissenschaft oder Philologie als Zauberstab 2.2.3 Fazit 3 Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

62 62 68 71 73

3.1 Gershom Scholem als „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule" 73 3.1.1 Begriff und Programm der Religionsgeschichtlichen Schule . 74 3.1.2 Scholems frühe Beschäftigung mit Bibelkritik und allgemeiner Religionsgeschichte 79 3.1.3 Wilhelm Bousset und Richard Reitzenstein als Vertreter der Schule 84 3.2 Die klassische Religionsphänomenologie 3.2.1 Rudolf Otto, Friedrich Heiler und die „verstehende Religionswissenschaft in der Weimarer Zeit" (R. Flasche).... 3.2.2 Das theologische Selbstverständnis der „vergleichenden" Religionswissenschaftler 3.2.3 Prinzipielle Abgriinde zwischen Scholem und den christlichen Wissenschaftlern

88 88 95 99

Zweiter Teil 4 Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

105

4.1 Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala? 4.1.1 „... wie die Religionsgeschichte lehrt" 4.1.2 Typen der Religionsgeschichte 4.1.3 Die „vornehmsten Gestaltungen" der Religion 4.1.4 Scholems Äußerungen über Religionsphänomenologie 4.1.5 Das Wesen des Judentums 4.1.6 Scholems historischer Wesensbegriff und Ottos phänomenologische Wesensschau

105 110 113 115 119 122

4.2 Die Wesenszüge der jüdischen Mystik 4.2.1 Mystik als symbolische Auslegung der Tradition 4.2.2 Die „Auferstehung des Mythos im Herzen des Judentums" 4.2.3 Mystik als besondere religiöse Erfahrung 4.2.4 Mystik als Produkt historischer Krisen

133 136 143 151 160

127

Inhaltsverzeichnis

5 Die „Stadien der Religionsgeschichte" 5.1 Vorbemerkung: Kabbalistischer Symbolismus als Herzstück der Scholemschen Kabbalaforschung

IX

165 165

5.2 Das mythische Denken 5.2.1 Mythos als Einheitsbewußtsein 5.2.2 Das primitive Denken 5.2.3 Das gnostische Denken 5.2.4 Gnostisch-mythisches Denken als intuitive Welterkenntnis

170 170 177 184

5.3 Mystik und lebendige Religion 5.3.1 Religion als lebendiger Organismus 5.3.2 Denken und Leben 5.3.3 Mystik und prophetische Religion 5.3.4 Religion und Religiosität 5.3.5 Lehre und Leben

195 196 199 203 213 220

6 Die mystische Erfahrung 6.1 Vorbemerkung: Zum allgemeinen Konsens in der Scholem-Rezeption 6.2 Die Einheit der mystischen Erfahrung und das Verhältnis von Erfahrung und Deutung in der älteren Mystikforschung 6.2.1 Einheit und Vielfalt der Mystik, unmittelbare Erkenntnis und Ideogramm nach Rudolf Otto 6.2.2 Die Einheit der dualistischen Erfahrung und ihre Beschreibung durch Symbole bei Evelyn Underhill 6.2.3 Zur Theorie mystischer Symbolsprache: E. Récéjac 6.2.4 Die Diskussion über das Verhältnis von Erfahrung, Interpretation und Tradition (Delacroix, Coe, Jones) 6.3 Scholems Theorie mystischer Erfahrung 6.3.1 Die dualistische „Urerfahrung" und ihre „Ausdrucksformen" 6.3.2 Das Verhältnis von Erfahrung und Deutung 6.3.3 Die verschiedenen Deutungen 6.3.4 Mystik und Pantheismus 6.3.5 Das Symbol als Ausdruck mystischer Erfahrung 6.3.6 Mystische und religiöse Erfahrung

190

229 229 235 235 241 243 246 250 250 257 262 267 270 274

χ

Inhaltsverzeichnis

7 Das religiöse Bewußtsein 7.1 Das religiöse Individuum 7.1.1 Scholems Polemik gegen die „reine Innerlichkeit" 7.1.2 Mystik als Weltflucht in der Allgemeinen Religionsgeschichte 7.1.3 Der Mystiker und die Gemeinschaft nach Scholem 7.1.4 Das schöpferische religiöse Genie 7.1.5 DerHomo religiosus bei Scholem

277 277 277 279 282 287 291

7.2 Die religiösen Ideen und ihre Dynamik 296 7.2.1 Innere und äußere Antriebskräfte der Religionsgeschichte . 297 7.2.2 Historische und strukturelle Erklärung 302 7.2.3 „Alchemie der Ideen" (Hans Jonas) 306 7.2.4 Religiöser und psychischer Faktor 309 7.2.5 Die Psychologie der Religionsgeschichtlichen Schule 313 7.2.6 Die religiösen Ideen und ihr irrationaler innerer Kern 316 7.3 Das religiöse Gefühl (Fazit) 7.3.1 Die Verbindung von religiösen Ideen und Gefühlen im religiösen Bewußtsein 7.3.2 Das religiöse Gefühl und das Erlebnis des Numinosen

319 319 322

8 Schluß

327

9 Literaturverzeichnis

333

9.1 Schriften von Gershom Scholem 9.1.1 Autobiographische Schriften (Erinnerungen, Briefe, Interviews) 9.1.2 Monographien, Sammelbände 9.1.3 Sonstige Schriften (Artikel, Aufsätze, Rezensionen u.a.)

333 333 334 335

9.2 Literatur zu Gershom Scholem 9.2.1 Monographien, Sammelbände 9.2.2 Artikel, Aufsätze, Rezensionen u.a

337 337 337

9.3 Weitere Literatur

345

Abkürzungen

357

Zur Transkription des Hebräischen

359

Einleitung

Er gedachte der Frommen wie der Abtrünnigen mit der Trauer eines Unerbittlichen, der wider alle Vernunft recht behalten hatte, weil er allen guten Ratschlägen zum Trotz schon 1923 ins Gelobte Land zurückgekehrt war, wo er einer der intellektuellen Gründungsväter des neuen Israel geworden war. Dort hatte er das geheimnisvolle Buch Sohar entschlüsselt und den Juden, Gläubigen wie Ungläubigen, Gottesgelehrten wie Philologen, ein Stück versunkener Geschichte zurückgegeben. [...] Ich war zum ersten Mal einem ungebeugten Juden begegnet, einem Stolzen und Freien, der an die Lebenskraft seines Volkes glaubte und sie verkörperte.1

Monika Plessners Erinnerungen an die deutsch-jüdischen Emigranten, die sie an der Seite ihres Mannes kennenlernt, erschienen 1995 unter dem Titel Die Argonauten von Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholen und anderen. Scholems Name auf der Titelseite ist ein beredtes Zeugnis dafür, welchen Bekanntheitsgrad der israelische Wissenschaftler, der sein Leben der Entschlüsselung geheimnisvoller und versunkener Traditionen der jüdischen Geschichte widmete, auch in Deutschland erreicht hat. Und nicht nur der Grad dieser Bekanntheit, sondern auch ihre Qualität hat sich im Laufe der Zeit entscheidend gewandelt. Stand Scholems Name lange Zeit in erster Linie stellvertretend für die Werke anderer, die er zugänglich machte, indem er sie edierte und interpretierte, so steht er heute für sich selbst. Man liest Scholem nicht mehr nur, um etwas über den Zohar zu erfahren, über die Kabbala oder den jüdischen Messianismus oder auch über Walter Benjamin, dessen Nachlaß er verwaltete. Scholems eigener Nachlaß wird ediert, sein Werk in all seiner Vielschichtigkeit wird interpretiert und kontrovers diskutiert. Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, das Verhältnis des Kabbalaforschers zur sogenannten Allgemeinen oder Vergleichenden Religionswissenschaft in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu untersuchen. Es handelt sich um eine Teilansicht von Scholems Werk, die nicht den Anspruch auf eine umfassende Gesamtdeutung erhebt. Allerdings sucht sie diese durchaus zu beeinflussen, indem sie die Aufmerksamkeit auf bisher vernachlässigte oder 1

M. Plessner, Die Argonauten auf Long Island, Berlin 1995, 54f.

2

Einleitung

möglicherweise mißverstandene Aspekte der Scholemschen Historiographie lenkt. Gershom Scholem (1897-1982) machte sich nicht nur als Pionier der modernen Kabbalaforschung, der sich akribisch dem Auffinden und Entziffern mystischer Quellen widmete, einen Namen. Mit seinen Arbeiten über die sabbatianische Bewegung und seinen zuerst 1941 auf Englisch erschienenen Vorträgen über Major Trends in Jewish Mysticism revidierte er das herrschende Bild jüdischer Geschichte überhaupt.2 Anhänger wie Gegner erklärten, der Mystikforscher habe eine „nahezu kopernikanische Wende" 3 in der jüdischen Historiographie herbeigeführt. Bevor sein Lebenswerk zum eigentlichen Objekt der Diskussion wurde, war Scholem Subjekt, Teilnehmer oder Hauptagitator, zahlreicher öffentlicher Diskussionen über die Grenzen seines Forschungsgebiets hinaus. Als „Polemiker großer Dimension"4 war der Kabbalaforscher so sehr in öffentliche Polemiken involviert, daß sich seine intellektuelle Biographie beinahe als Geschichte von „Scholem-Kontroversen" schreiben ließe. Seit Ende der sechziger und besonders der siebziger Jahre wächst die Flut von Publikationen, anfangs vor allem Rezensionen, Laudationen und Ehrungen zum 70. und 80. Geburtstag, in denen es mehr um den Historiker selbst als um die historische Kabbala geht Viele amerikanische Intellektuelle wenden sich auf der Suche nach jüdischer Identität „von Buber zu Scholem" (H. Bloom). Scholems späte Veröffentlichungen zu Mystik und Theologie in der Gegenwart, seine Jugenderinnerungen und Interviews geben außerdem Anlaß zu allerlei Mutmaßungen über die wahren Absichten des Kabbalaforschers und seinen Beitrag zur jüdischen Philosophie und Theologie der Gegenwart. David Biale setzt sich in seiner 1979 als Buch veröffentlichten Dissertation das Ziel, die Voraussetzungen der Scholemschen Historiographie zu rekonstruieren und die politischen, kulturellen und theologischen Positionen des Gelehrten deutlich zu machen.5 1983 folgt ihm Eliezer Schweid, der Scholems

2 3 4 5

Vgl. H. Arendt, Jewish Revised, Jewish Frontier, März 1948, 34-38. H. Pachter, Masters of Cultural History [s.u. Kap. 1 Anm. 175], 16. R. Weltsch, Gershom Scholem - Deuter des Judentums, JR 31, 1 9 7 1 , 5 3 1 . D. Biale, Gershom Scholem. Kabbalah and Counter-History, Cambridge/Mass. 1979; 2. Aufl. Cambridge/Mass. 1982 (als Dissertation unter dem Titel: The Demonic in History. Gershom Scholem and the Revision of Jewish Historiography, Diss. Los Angeles 1977). Die folgenden Angaben beziehen sich, wenn nichts anderes vermerkt ist, auf die (ungekürzte) 1. Aufl. von 1979.

Einleitung

3

Auffassung von Judentum und Mystik einer ausfuhrlicheren Kritik unterzieht.6 Mit diesen beiden Monographien (deren Wirkung sich daran ermessen läßt, daß die erste bereits 1982 in zweiter Auflage, die zweite 1985 in englischer Übersetzung erscheint) beginnt ein neuer Abschnitt in der Scholem-Rezeption. Der Tod des Gelehrten im Februar 1982 setzt außerdem eine reiche Produktion von Gedenkreden, privaten Erinnerungen und kritischen Würdigungen von Leben und Werk in Gang, von denen manches in Sammelbänden zusammengefaßt ist.7 Die beiden wichtigsten sind die Sammlungen der Vorträge, die auf zwei unmittelbar aufeinander folgende internationale Konferenzen in Berlin zurückgehen, von denen die eine dem Stand der Kabbalaforschung fünfzig Jahre nach Scholems erstem Hauptwerk,8 die zweite dagegen dem Gelehrten selbst aus Anlaß seines zehnten Todestages gewidmet ist.9 Scholems Gesamtwerk wird außerdem Gegenstand einer weiteren Monographie, verfaßt von Joseph Dan, Schüler und Nachfolger auf den Jerusalemer Lehrstuhl für Jüdische Mystik;10 einzelne Schriften werden Gegenstand weiterer Dissertationen und Buchveröffentlichungen. 1987 präsentiert die Jewish National and University Library eine Ausstellung anläßlich des fünften Todestages und der Einrichtung der Gershom Scholem Library. Seit 1988 prägen Moshe Idels „neue Perspektiven" in der Kabbalaforschung, die mit einer prinzipiellen Kritik an der Scholemschule einhergehen, die Diskussion um die Scholemsche Geschichtsschreibung. Hinzu kommt die zunehmende Berücksichtigung von Scholems nach und nach veröffentlichtem Nachlaß. 6

7

8

9

10

E. Schweid, Judaism and Mysticism According to Gershom Scholem. A Critical Analysis and Programmatic Discussion, Atlanta/Georgia 1985; hebr. in: Jerusalem Studies in Jewish Thought, Suppl. II, 1983; alle Angaben im folgenden beziehen sich auf die eng}. Ausgabe. Gershom Scholem. 'Alha-'ish ufo'oh, Jerusalem 1983 (Vorträge eines Symposiums 30 Tage nach Scholems Tod in Jerusalem), im folgenden zitiert nach der um einen Beitrag von Joseph Dan und eine Einfuhrung des Hg.s erweiterten eng}. Ausgabe: P. Mendes-Flohr (Hg.), Gershom Scholem. The Man and His Work, New York-Jerusalem 1994 (Dans als Originalbeitrag deklarierter Essay ist fast identisch mit: J. Dan, Scholem's View of Jewish Messianism, Modem Judaism 12, 1992, 117-128); Gershom Scholem Memorial Issue, Modem Judaism 5/1, 1985; H. Bloom (Hg.), Gershom Scholem, New York 1987 (mit nur einem Originalbeitrag, von H. Bloom). P. Schäfer/J. Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends in Jewish Mysticism. 50 Years After, Tübingen 1993 (nach der Tagung vom 17.-19.2.1982). P. Schäfer/G. Smith (Hg.), Gershom Scholem. Zwischen den Disziplinen, Frankfurt a.M. 1995 (nach der Tagung vom 19.-21.2.1992). J. Dan, Gershom Scholem and the Mystical Dimension of Jewish History, New York 1987 (Kap. 6 ist die leicht veränderte Fassung von: J. Dan, Gershom Scholem's Reconstruction of Early Kabbalah, Modem Judaism 5, 1985, 39-66).

4

Einleitung

Zum hundertsten Geburtstag des Kabbalaforschers im Dezember 1997 schließlich werden neue Vortragsreihen und Tagungen veranstaltet, darunter ein Symposium des Potsdamer Einstein-Forums und des Wissenschaftskollegs zu Berlin, bei dem „Gershom Scholem als Schriftsteller" im Mittelpunkt steht Wie sehr bei alldem Scholems Verhältnis zur allgemeinen Religionsforschung vernachlässigt wurde, soll der folgende Literaturbericht (Kap. 1) zeigen, der einen ersten Einblick in die im Entstehen begriffene ScholemForschung (bis zum Jahre 1997)11 gewährt. Die rein fachwissenschaftliche Kritik an Scholems Darstellung der jüdischen Mystik, zu der es bereits diverse forschungsgeschichtliche Zusammenfassungen gibt12, wird weitgehend ausgeklammert und nur im Verlauf der weiteren Arbeit angesprochen, wenn es nötig und sinnvoll erscheint. Der Einführung in die Schriften, die sich um ein tieferes Verständnis des Scholemschen Unternehmens insgesamt bemühen, wird ein verhältnismäßig breiter Raum eingeräumt, weil die vorliegende Arbeit sich nicht zuletzt auch an ein religionswissenschaftliches Publikum richtet, das mit der Scholem-Rezeption nicht so vertraut sein dürfte wie die judaistische Fachwelt Angesichts der ungeheuren Fülle kleinerer Publikationen ist es naturgemäß unmöglich, jedem Autor gerecht zu werden; der Schwerpunkt des Überblicks liegt auf den erwähnten Monographien, die ausschließlich Scholem gewidmet sind.13 Der Darstellung der Kontroversen über Gershom Scholem wird ein Blick auf die Kontroversen mit Scholem vorausgeschickt. Denn es sind nicht nur 11

Von den Publikationen, die erst nach Abschluß der Dissertation erschienen sind und nicht mehr in den Literaturbericht aufgenommen werden konnten, seien genannt: P. Schäfer, „Die Philologie der Kabbala ist nur eine Projektion auf eine Fläche": Gershom Scholem über die wahren Absichten seines Kabbalastudiums, J S Q 5, 1998, 1-25; A. Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der frühen Neuzeit, Stuttgart-Weimar 1998; Ch. Schmidt, Der häretische Imperativ. Gershom Scholems Kabbala als politische Theologie?, Z R G G 50, 1998, 61-83; J. Twardella, Soziologische Überlegungen zur jüdischen Mystik im Werk von Gershom Scholem, ZRGG 50, 1998, 84-90.

12

Vgl. Dan, Mystical Dimension; die Veröffentlichungen der Scholem-Konferenzen sowie allein für den deutschsprachigen Raum in jüngerer Zeit z.B. R. Goetschel, Die kabbalistischen Studien nach Gershom Scholem, Trumah 3, 1992, 63-78; M. Galas, Die Mystik der polnischen Juden in Gershom Scholems Arbeiten — ein forschungsgeschichtlicher Uberblick, Judaica 51, 1 9 9 5 , 9 7 - 1 0 2 ; E. Hamacher, Die Sabbatopferlieder im Streit um Ursprung und Anfange der jüdischen Mystik, JSJ 27, 1996, 119-154.

13

Die Liste der „Literatur zu Gershom Scholem" verzeichnet nur die von mir zitierten Werke und stellt insbesondere hinsichtlich der zahlreichen Geburtstagsartikel, der Rezensionen seiner Werke und der Literatur zu Scholem und Benjamin nur eine subjektive Auswahl dar.

Einleitung

5

einige Publikationen der letzten zwanzig Jahre speziell diesen Debatten gewidmet, sondern es wird in späteren Interpretationen wie in der vorliegenden Arbeit immer wieder darauf Bezug genommen, so daß die Diskussion um Scholems Werk ohne Kenntnis dieser Kontroversen zu seinen Lebzeiten kaum zu verstehen ist. Hier wiederum wird der Schwerpunkt auf Scholems Verhältnis zu Martin Buber gelegt, da dieser für Scholems Bild der allgemeinen Religionsgeschichte eine nicht unerhebliche Rolle spielt. In der Tat ist Martin Buber, um mit den Herausgebern der Scholem-Briefe zu sprechen, einer der „ersten 'geistigen Väter'" 14 und in mancherlei Hinsicht „der eigentliche Antipode"15 des Kabbalaforschers. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist Scholems wissenschaftliches Werk als Religionshistoriker, der sich auf die Erforschung der jüdischen Mystik konzentriert. Werk und Persönlichkeit des Gelehrten sind jedoch zu sehr miteinander verflochten, als daß man über das Werk sprechen könnte, ohne auf das Selbstverständnis seines Autors einzugehen. Zu den Präliminarien, die mir unerläßlich erscheinen, gehört darum auch eine kurze Erläuterung der Frage, welches grundsätzliche Bild von Gershom Scholem — als Historiker der Kabbala und „Deuter des Judentums" (R. Weltsch) - im folgenden zugrunde gelegt wird (Kap. 2). Das letzte vorbereitende Kapitel (Kap. 3) erklärt den Ausgangspunkt dieser Studie überhaupt, nämlich Scholems biographische Beziehungen zur Religionsgeschichtlichen Schule und der Allgemeinen Religionsgeschichte in Deutschland zu Beginn dieses Jahrhunderts. Es erläutert zudem die Auswahl der Autoren, die als Repräsentanten dieser Allgemeinen Religionsgeschichte gelten und in deren Lichte Scholems Werk analysiert wird, allen voran Rudolf Otto und Friedrich Heiler, die als Begründer der klassischen Religionsphänomenologie in die Geschichte der Religionswissenschaft eingegangen sind. Die Schriften der älteren Religionsforschung sollen allgemein als Folie für die Interpretation der Schriften Scholems dienen, als eine Brille, die das Augenmerk auf bestimmte religionswissenschaftliche Ideen und tragende Überzeugungen des jüdischen Historikers lenkt. Aufgabe und Ziel soll es nicht sein, „parallelomanisch" so viele Entsprechungen und literarische Abhängigkeiten wie möglich aufzuspüren. Die historischen Verbindungslinien sollen nur begründen, daß es im wörtlichen wie übertragenen Sinn naheliegend ist, das Werk des jüdischen Mystikforschers im Hinblick auf Differenzen und Über-

14 15

I. Shedletzky, Einleitung zu: Scholem, Briefe I, XI. Th. Sparr, Einleitung zu: Scholem, Briefe II, XIII.

6

Einleitung

einstimmungen mit der allgemeinen Religionsforschung in der Weimarer Republik zu untersuchen. Der gesamte erste Teil erörtert vor allem Scholems autobiographische und andere „unhistorische" Äußerungen.16 Die Analyse von Scholems wissenschaftlichen Schriften zur Geschichte der Kabbah beginnt mit einem Überblick über Scholems Charakterisierung der jüdischen Mystik insgesamt (Kap. 4.2). Dies soll als Rahmen dienen für die weitere Untersuchung, die einzelne Aspekte dieser Bestimmung aus ihrem genuinen Zusammenhang herausgreift und mit Auffassungen der älteren Religionswissenschaft kontrastiert. Um Mißverständnissen vorzubeugen, soll zuvor geklärt werden, ob bzw. inwiefern Scholems „Wesensbestimmung" als „Phänomenologie der Kabbala" zu betrachten ist (Kap. 4.1). Es geht dabei nur um Scholems Verhältnis zu dem, was die ältere Forschung unter Religionsphänomenologie versteht, nicht um seine Beziehung zur philosophischen Phänomenologie oder gar um eine adäquate Beschreibung von Scholems Hermeneutik, die zwar ebenfalls ein Desiderat der jungen Scholem-Forschung, jedoch die Sache von Philosophen ist.17 Die folgende Interpretation nimmt ihren Ausgang von den sogenannten „Stadien der Religionsgeschichte", d.h. von Scholems grundlegender Theorie, nach der die Mystik, indem sie den Mythos fordeben und wiederauferstehen Heß, die jüdische Religion lebendig hielt (Kap. 5). Nach einem Blick auf Scholems Vorstellung vom mythischen Denken und dem Verhältnis von Religion und Mystik sollen dann Scholems Äußerungen zur mystischen Erfahrung in ihrem Verhältnis zur phänomenologischen Mystikforschung analysiert werden (Kap. 6). Hier liegt, soviel sei vorweggenommen, der eigentliche Drehund Angelpunkt der Studie: die kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden Meinimg, der Kabbalaforscher spreche den jüdischen Mystikern das 16

Da die Analyse der wissenschaftlichen Schriften und nicht die Biographie im Vordergrund steht, wurde nur das veröffentlichte Quellenmaterial untersucht und der unveröffentlichte Nachlaß aus dem Scholem-Archiv nur in sehr begrenztem Umfang herangezogen (etwa Scholems Studienbücher oder der Briefwechsel mit dem Religionswissenschaftler Kurt Rudolph, aus dem bisher nur ein Brief publiziert ist). Einsicht in Scholems Tagebücher 1918-1923 (deren Erscheinen verschoben wurde) war mir leider nicht möglich. Wie mir Herbert Kopp-Oberstebrink brieflich mitteilte, enthalten sie keine direkten Äußerungen zu den für diese Arbeit zentralen Religionsforschem (Bousset, Reitzenstein, Otto, Heiler, Underhill, von Hügel).

17

Vgl. R.J. Zwi Werblowskys Bemerkung zum Fehlen einer Dissertation über Scholems Hermeneutik, „weil man sich durch ein von Gershom Scholem als akzeptabel anerkanntes Wissen und wissenschaftliches Kaliber auszeichnen müßte": Gedenkrede auf Gershom Scholem (1897-1982), Berliner Theologische Zeitschrift 1, 1984, lOOf.

Einleitung

7

„unmittelbare Erlebnis" der Unio mystica ab. Abschließend soll dann die Frage nach den Trägern der mystischen Erfahrung - und der Religionsgeschichte überhaupt - gestellt werden (Kap. 7), d.h. nach dem einzelnen H o m o religiosus und seinem Verhältnis zur religiösen Gemeinschaft und nach dem Charakter der religiösen Ideen und Gefühle, die das sogenannte religiöse Bewußtsein Scholem zufolge auszeichnen. Wie David Biale und die meisten Scholem-Interpreten gehe ich von der Einheitlichkeit des Scholemschen Werks aus, das zwar Entwicklungen durchmachte und Revisionen erfuhr, jedoch nicht von grundsätzlichen' Brüchen gekennzeichnet ist. Versuche, diese Einheit in Frage zu stellen und fundamentale Wandlungen nachzuweisen, sei es in den dreißiger Jahren die Abkehr von einer anfänglichen unhistorisch-kabbalistischen Weltsicht, 18 sei es in den vierziger Jahren infolge des Holocausts, 19 scheinen mir wenig überzeugend. So

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So J. Dan, Gershom Scholem - Mystiker oder Geschichtsschreiber des Mystischen?, in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 33-69 (ähnlich A. Funkenstein, Charisma, Kairos und messianische Dialektik, ebd., 14-31). Der Versuch einer Frühdatierung des Zohars (Scholem vermutet dessen hohes Alter noch in: Eine unbekannte mystische Schrift des Mose de Leon, MGW[ 71, 1927, 109-123, anders dagegen schon in: Vulliauds Übersetzung des Sifra diZeniutha, MGWJ 75, 1931, 351) macht Scholem gewiß nicht zum Anhänger einer kabbalistisch-antihistorischen Weltsicht, denn erstens hatte er spätestens als Doktorand zur Philologie gefunden und zweitens zeigt der Brief an Bialik von 1925, wie sehr die Suche nach den „uralten" Ursprüngen der Kabbala mit der (ganz unkabbalistischen und durchaus historischen!) Ursprungssuche der religionsgeschichtlichen Gnosisforschung verbunden ist. Die Kabbala sollte nicht „die Erfindung von zwei, drei Leuten aus der Generation des Maimonides" (Judaica 6, 57f. = Devarim bigo, 60) gpwesen sein, d.h. keine bloße Reaktion auf die rationalistische Philosophie im Sinne von H.H. Graetz, sondern ein (mindestens) aus der Zeit der antiken Gnosis stammendes Produkt der kollektiven jüdischen Seele, das uralt und anonym von einer Generation des Volkes an die nächste überliefert wurde. Scholem gesteht, daß er „tief beeindruckt war von Achad Ha'ams Worten über den 'jüdischen Nationalgeist', der in der anonymen oder pseudepigraphischen Literatur wirksam sei" (VBnJ, 169), und zwar zur Zeit der Dissertation, als er zwar schon das Buch Bahir, aber noch nicht den Zohar historisch-kritisch untersuchte. Erst die mehrjährige Beschäftigung mit der Zoharkritik zwang ihn, davon Abstand zu nehmen. Die Idee einer Volksseele (die noch in Scholems späteren Beschwörungen eines „jüdischen Genius" mitschwingt) impliziert keineswegs eine Ächtung der Historie. Man beachte Dans eigenen Hinweis auf „Scholem's strict adherence for over 60 years to a basic program from which he did not deviate in the 40 books and 600 papers which he published. This program was oudined in his 1925 letter to Hayyim Nahman Bialik" (Jewish Studies after Gershom Scholem, EJ Yearbook 19831985, 138). So B. Kurzweil oder auch H. Bloom; vgl. die Einwände von Biale, Counter-History, 173f., und A. Rh. Rosen (s.u. Kap. 1. Anm. 169), 184f.

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Einleitung

tiefgreifend die Krisen gewesen sein mögen, die Scholem etwa nach der Vernichtung der europäischen Juden oder auch angesichts der Desillusionierung seiner Hoffnungen auf einen „unpolitischen" Zionismus erlebte, so augenfällig ist die Kontinuität in Scholems wissenschaftlichem Schrifttum, in dem sich immer wieder, bis in Formulierungen und andere Details hinein, Übereinstimmungen zwischen früheren und späteren Veröffentlichungen finden.20 Die vorliegende Arbeit wird von der Hoffnung getragen, daß die Beobachtung sachlicher Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Scholem und der religionsphänomenologischen Forschung zu einem tieferen Verständnis von Scholems Werk beiträgt. Auch wenn es nicht darum gehen soll, eine „Einflußtheorie" aufzustellen und literarische Abhängigkeiten von der christlichen Religionswissenschaft aufzuzeigen, mag es gewagt erscheinen, den überzeugten Zionisten und Judaisten, der stets kühl geworden sein soll, wenn man auf die Nähe zwischen Judentum und Christentum anspielte, mit den christlichen Wissenschaftlern auch nur in Verbindung zu bringen.21 Als Vergleichende Religionswissenschaftlerin, die auch Judaistik studiert und eine Magisterarbeit über die Gebetsmystik der spanischen Kabbala geschrieben hatte, konnte ich mir jedoch kaum ein reizvolleres Thema für eine Doktorarbeit vorstellen. Und auch kein dringenderes angesichts gewisser Einseitigkeiten der Scholem-Rezeption und erschreckender Kommunikationsdefizite zwischen Allgemeiner Religionswissenschaft und Judaistik. Nicht zuletzt sprechen für mein waghalsiges Unternehmen all jene Gründe, die mich eigentlich davon hätten abhalten müssen, nämlich alle jene einschüchternden Superlative, die in Verbindung mit dem Nestor der Kabbalaforschung begegnen. Scholem gilt als ein „Geistesriese"22, dessen Werk sämtliche Dimensionen sprengt. Wer ihn kannte, erlebte ihn als „einen wahren Wissenshimmel auf Erden"23, der ebenso originell wie universalgelehrt war. Seine ehrfurchtgebietende Persönlichkeit wird in lebhaftesten Farben geschil20

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Im folgenden (bes. Kap. 4.2) wird auf solche Entsprechungen immer wieder hingewiesen. Vgl. Η. v. Hentig, Die Welt aus den Angeln zu heben. Letzte erste Begegnung mit Gershom Scholem, FAZ 26.2.1983: „Über die ja nicht schwer zu erklärenden Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum sprach er nicht gem - und wir alle haben seinen Unmut fürchten und meiden gelernt." A. Shapira im Vorwort zu: Od Davar, 1; vgl. The Symbolic Plane (s.u. Kap. 1 Anm. 174), 350. Uwe Pörksen in einem Brief an W. Kraft, zitiert in: W. Kraft, Kleinigkeiten, Bonn 1985, 83.

Einleitung

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dert, auch wenn nicht jeder Charakterzug („a down-to-earth-realism"24 zum Beispiel oder „his clowning and bad-boy anti-establishment image which Scholem sometimes presents the public"25) von jedermann in derselben Weise geschätzt wurde.26 In jedem Fall galt und gilt er als „einer der führenden Intellektuellen Westeuropas und Amerikas"27 und „einer der wichtigsten Juden des 20. Jahrhunderts" 28 . Dies allein sind der Gründe genug, das Werk dieses multidimensionalen Gelehrten von möglichst verschiedenen Seiten zu durchleuchten und es auch gegen den in der Scholem-Rezeption üblichen Strich zu lesen. „Es ist ja noch lange nicht aller Tage Abend um Benjamin."29, schreibt Scholem einmal über seinen berühmten und umstrittenen Freund. Und es ist wohl noch lange nicht aller Tage Abend um Scholem, möchte ich dem hinzufügen.

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A. Altmann, Gershom Scholem 1897-1982, PAAJR 51,1984,1. R. Schatz-Uffenheimer nach H. Weiner, 9 1/2 Mystics. The Kabbala Today, New York 1969, 73. Vgl. auch den Erlebnisbericht von I.G. Marcus, Last Year in Jerusalem, Response 13/4, 1983, 23-34, oder die Schilderung des Professors Jakob Keter und seiner Seminare über die Merkabamystik in den fünfziger Jahren in Amerika in Chaim Potoks Roman Τhe Book of Lights (New York 1981). E. Simon, Scholem und Buber, NZZ 11.6.1967, Beilage Literatur und Kunst, Blatt 19. H.G. Perelmuter, Gershom Scholem - Jewish Revolutionary of Our Time, Journal of Reform Judaism 3,1984,72. Scholem, Briefe II, 175.

1 Literatur zu Gershom Scholem 1.1 „Buber vs. Scholem" und andere Kontroversen Von den zahlreichen öffentlichen Debatten mit und über Scholem, die sich größtenteils in den sechziger Jahren abspielen, werden zwei in den achtziger Jahren Thema ausführlicher Chroniken: The Buber-Scholem Controversy (Maurice Friedman)1 und The Schokm-Kurqveil Debate (David Myers)2. Noch davor findet allerdings der kaum weniger berühmte Konflikt mit Franz Rosenzweig einen Chronisten. Scholem lernt den Religionsphilosophen, der ihn zuvor schon als Übersetzer hebräischer und jiddischer Texte wahrgenommen hatte, Anfang der zwanziger Jahre kennen. Der Graben zwischen dem leidenschaftlichen Zionismus des Jüngeren und dem „Deutschjudentum"3 des Älteren führt zu einer „der stürmischsten und irreparabelsten Auseinandersetzungen"4 in Scholems Jugend. Intensität und Scheitern ihrer Beziehung ist Thema eines Vortrags von Michael Brocke (1984), der die persönlichen Begegnungen der beiden, Scholems öffentliche Äußerungen zu Rosenzweig, den gemeinsamen Bekanntenkreis und ihre unterschiedliche Übersetzungsarbeit eingehend untersucht.5 Bei aller Aufmerksamkeit, die dem Verhältnis von Rosenzweig und Scholem aus guten Gründen zuteil wird,6 wird dessen Bedeutung jedoch in 1

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M. Friedman, Interpreting Hasidim: The Buber-Scholem Controversy, LBIY 33, 1988, 449-467; vgl. die kürzere Fassung schon in: M. Friedman, Martin Buber. The Life of a Dialogue III, New York 1983, 280-299 (= Kap. 12: The Interpretation of Hasidism: Buber versus Scholem), sowie davor bereits M. Oppenheim, The Meaning of Hasidut: Martin Buber and Gershom Scholem, JAAR 49,1981,409-423. D. Myers, The Scholem-Kurzweil-Debate and Modem Jewish Historiography, Modem Judaism 6,1986, 261-286. Scholem, VBnJ, 173. Ebd., 173f. M. Brocke, Franz Rosenzweig und Gershom Scholem, in: W. Grab/J.H. Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart-Bonn 1986, 127-152. Vgl. z.B. D. Mach, Franz Rosenzweig als Übersetzer jüdischer Texte. Seine Auseinandersetzung mit Gershom Scholem, in: W. Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig I, München 1988, 251-258 (konzentriert auf Scholems Kritik an zwei

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Literatur zu Gershom Scholem

den Schatten gestellt von Scholems Beziehung zu Martin Buber, die Anfang der neunziger Jahre Gegenstand einer eigenen Dissertation wurde.7

1.1.1

Scholem und Buber

Die inzwischen legendäre Buber-Scholem-Kontroverse im engeren Sinn betrifft die Darstellung und Deutung des osteuropäischen Chassidismus. Tatsächlich aber handelt es sich um eine lebenslange Auseinandersetzung, die in Scholems Jugend beginnt, genauer im Mai 1914, als der junge Zionist zu Buber, dem charismatischen Führer der zionistischen Jugendbewegung, übergeht, und zwar „mit vollen Segeln"8, wie er selbst notiert. Erst die postum edierten Tagebücher aus dieser Zeit zeigen das wahre Ausmaß der Anhängerschaft, das Scholems Jugenderinnerungen eher herunterspielen. In den Tagebüchern werden unzensiert die Visionen des Auserwählten festgehalten, dessen Wegbereiter Martin Buber ist und dessen Berufung darin besteht, die Seele seines todgeweihten Volkes „aus der Verbannimg und Trennung von ihrem Volkskörper"9 zu befreien. Schon im Sommer 1915 beginnt jedoch die Wende, im Dezember sieht sich der Achtzehnjährige nach drei Jahren der Suche endlich „auf dem Wege zu mir"10. Entscheidenden Anteil daran haben

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von Rosenzweigs Übertragungen, da es primär um Rosenzweigs Übersetzungsarbeit geht); W. Cutter, Ghostly Hebrew, Ghastly Speech: Scholem to Rosenzweig, 1926, 412433, bes. 424-433; R. Horwitz, Franz Rosenzweig and Gershom Scholem: On Zionism, in: M. Sharon (Hg.), Judaism in the Context of Diverse Civilizations, Johannesburg 1993, 277-301; M. Brenner, A Tale of Two Families: Franz Rosenzweig, Gershom Scholem and the Generational Conflict Around Judaism, Judaism 42, 1993, 348-361 (der die „familiären" Gemeinsamkeiten zwischen beiden - als Kinder typisch deutschjüdischer, assimilierter Eltern - betont). K.S. Davidowicz, Gershom Scholem und Martin Buber, Neukirchen-Vluyn 1995, zugleich Diss. Wien 1993. Der Autor referiert die jeweiligen Positionen zu Zionismus, Jugendbewegung und Weltkrieg (noch ohne Berücksichtigung der erst 1995 veröffentlichten Tagebücher Scholems), zu Mystik und Mythos sowie zum Chassidismus, allerdings ohne tiefgreifende Auseinandersetzung mit älteren Interpretationen. Scholem, Tagebücher 1913-1917,24. Ebd., 120; vgl. auch die Reisebeobachtungen und Rtisegedanken vom 17.8.1914 sowie den Vortrag zum Diskussionsabend über Buber am 27.1.1915, veranstaltet von Jung-Juda (ebd., lllf.). Ebd., 210 (Notiz vom 20.12.1915; vg}. ebd., 209: „Ich gjaube, ich habe mich in den letzten drei Jahren vollkommen umgekehrt. [...] Gleich bleibt sich nur der Wissensdurst

und die radikale Stellungnahme bei dem einmal Erkannten.")

,Buber vs. Scholem" und andere Kontroversen

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sowohl die Gespräche mit dem neugewonnenen Freund Walter Benjamin11 als auch der Erste Weltkrieg, als Scholem einen Zusammenhang zwischen dem (den Weltkrieg patriotisch begrüßenden) „'Deutschjudentum' und der Erlebnisfatzkerei"12 feststellt. Der ehemalige Visionär wird nun zu dem unbarmherzigen Kritiker der jüdischen Jugendbewegung, als der er aufgrund seiner frühen Artikel und Rezensionen bekannt ist: Als Zionist fordert er die Hebraisierung der jüdischen Jugend und einen praktischen, 62/kräftigen Zionismus im Kampf gegen den ästhetizistischen Mystizismus des Erlebnisses, das er als das „Geschwätz gewordene Absolute" definiert.13 Als angehender Historiker verlangt er kritische Philologie anstelle des Nacherlebens mystischer Zeugnisse; Hauptangriffsfläche bieten hier die als dilettantisch verurteilte Sohar-Anthologie von Jankew Seidmann14 und besonders die Sammlung Die Lyrik der Kabbah von Meir Wiener. In dieser wird für Scholem „die verheerende Nichtigkeit des Spiels mit einer untief angelegten Erlebnisterminologie überdeutlich [...], kurz: der mißlungene Erlebnis-Simmel"15. Scholems Kontroverse mit der Jugendbewegung erregt nicht nur in den zwanziger Jahren Aufmerksamkeit. David Biale widmet ihr ein Kapitel seiner Dissertation; er betont dabei die Rolle Martin Bubers und interpretiert den Konflikt vor allem als Kritik an dessen sogenannter Erlebnismystik, der von der Lebensphilosophie Diltheys und Simmeis beeinflußten frühen Phase, die der Philosophie des Dialogs vorausging.16 Anderen Autoren geht es allgemein

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Vgl. bes. den Bericht 4.8.1915 (ebd., 142-144) und die Notiz vom 26.10.1915 (ebd., 176). Ebd., 4 1 5 (Notiz vom 6.11.1916). In seiner Rede zu Chanukka am 19.12.1914 hatte Buber erklärt, daß nun „der Jude in dem katastrophalen Vorgang, den er in den Völkern miterlebte, bestürzend und erleuchtend das große Leben der Gemeinschaft entdeckt" habe (Die Jüdische Bewegung I, 2. Aufl. 1920, 240; vgl. Scholem, VBnJ, 65, sowie Biale, Counter-History, 59). Scholem, Offener Brief an Herrn Dr. Siegfried Bemfeld und gegen die Leser dieser Zeitschrift, Jerubbaal 1, 1 9 1 8 / 1 9 1 9 , 125-130, wiederabgedruckt in: Briefe I, 461-466 (Zitat: 464); vgj. Jüdische Jugendbewegung, Der Jude 1, 1 9 1 6 / 1 9 1 7 , 822-825, in: Tagebücher 1 9 1 3 - 1 1 7 , 513-517, sowie - gekürzt und mit kurzem Kommentar von H. Bergmann in: MB 8.12.1972, 5. Beides erschien 1976 in engl. Übersetzung (in: On Jews and Judaism in Crisis, hg. v. W. Dannhauser, New York 1976,49-60). Scholem, Über die jüngste Sohar-Anthologie, Der Jude 5, 1920/21, 363-369. Scholem, Lyrik der Kabbala?, Der Jude 6, 1921/22, 55-69 (Zitat: 60). Vgl. Biale, Counter-History, 52-69 (er deutet Bubers Wende nach P. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, Königstein/Taunus 1978); ähnlich I. Shedletzky in der Einleitung zu Scholem, Briefe I, Xlf.

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Literatur zu Gershom Scholem

um den Charakter der von Scholem dominierten Gruppe Jung Juda, die mit ihrer gegen das Establishment gerichteten Radikalität eine Ausnahme unter den zionistischen Jugendbewegungen darstellte.17 Gert Mattenklott zitiert und analysiert Scholems Offenen Brief an Siegfried Bernfeld als Beispiel für die Debatten der jüdischen Intelligenz in Deutschland um Deutschjudentum und Zionismus.18 Er versteht den Brief als besonders radikales, apodiktisch formuliertes Zeugnis für den Einspruch gegen die „Gewalt der Ideologien"19 in der Jugendbewegung, wie er auch von Benjamin, Rosenzweig und Buber erhoben worden sei. Herbert Kopp-Oberstebrink schließlich behandelt Scholems Kritik an „Bubers Orientierung am erlebenden Individuum", wie sie in den frühen Tagebüchern dokumentiert ist, im Rahmen einer Untersuchung von Scholems Verhältnis zu Friedrich Nietzsche und dem jüdischen Nietzscheanismus.20 Im Licht der frühen Aufzeichnungen erscheint die Vehemenz der Scholemschen Kritik an der Erlebnismystik der zionistischen Jugend nicht nur als Ausdruck der Radikalität des nüchternen, bei seinen Zeitgenossen als „willensstark, aber total unkünsderisch"21 verschrienen Intellektualisten. Sie ist auch als Reflex der eigenen Buber-Verehrung zu verstehen, als eine Art Bewältigungsversuch jener kurzen, aber intensiven Zeit, da er selbst zu denen gehörte, die der ,,stille[n] Einsamkeit heiliger Ekstase"22 huldigten und erkannt zu haben meinten, daß „der Gott des Erlebens, das ist der Gott des

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H. Weiner, Gershom Scholem and the Jung Juda Youth Group in Berlin. 1913-1918, Studies in Zionism 5, 1984, 29-42; G.L. Mosse, Gershom Scholem as a German Jew, Modern Judaism 10, 1990, 119f. (der aber auch Scholems „De-Romantisierung" der Mystik gegen Bubers „Ahistorismus" betont). G. Mattenklott, Über Juden in Deutschland, Frankfurt a.M. 1992, 87-132, bes. 91-111 (veränderte und erw. Neuausgabe von: Jüdische Intelligenz in Deutschen Briefen. 16191988, Frankfurt a.M. 1988). Ebd., 91. H. Kopp-Oberstebrink, Unzeitgemäße Betrachtungen zu Nietzsche contra jüdische Nietzscheanismen. Ein Kapitel aus der Frühgeschichte Gershom Scholems, in: W. Stegmaier/D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin-New York 1997, 90-105 (Zitat: 97). Der Autor legt den Schwerpunkt auf den „Vorrang, den Scholem der Suche nach Gott vor der Selbstsuche und -findung einräumt", in der man bereits in Scholems (von Motiven aus Nietzsches Zarathustra und den Unzeitgemäßen Betrachtungen durchsetzten) Reisebeobachtungen „eine unausdrückliche und doch entscheidende Akzentverschiebung gegenüber der Auffassung Bubers" sehen müsse (ebd., 95). VBnJ, 64; vgl. Scholems Brief vom 4.1.1968 an R. Weltsch, der in einem Artikel zu Scholems 70. Geburtstag dessen einstigen Ruf als „monomanie eccentric" erwähnt hatte (Briefe II, 194f. mit Anm. 3). Tagebücher 1913-1917,34.

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Mythos" 23 , auf den einsamen Bergen wohnte. 24 Lautet die Parole im Konflikt mit der Jugendbewegung: Hebräischlernen, nicht Erleben, oder „Erkenntnis statt Geschwätz" 25 , so läßt sich die Chassidismuskontroverse der sechziger Jahre auf die Formel bringen: historische Quellenkritik statt pneumatischer Exegese. Erst jetzt wendet sich Scholem explizit gegen Bubers (spätere) Schriften selbst, während es in der jugendbewegten Zeit um dessen junge Anhänger ging, die in „ästhetischer Ekstase" 26 versanken, wenn sie Bubers Bücher über die Chassidim lasen, ohne die chassidischen Quellen selbst zur Kenntnis zu nehmen. Scholems Essay über Martin Bubers Deutung des Chassidismus aus den frühen sechziger Jahren 27 wird ergänzt und erläutert durch den Beitrag seiner Schülerin Rivka Schatz-Uffenheimer im Buber-Band der Reihe'Philosophendes 20. Jahrhunderts28. (Scholem hatte seine Mitarbeit verweigert: weil die Reihe dem Philosophen das letzte Wort gebe, wie Herausgeber Maurice Friedman noch 25 Jahre später mit merklicher Empörung berichtet.29) Eine weitere Ergänzung von Scholem selbst bietet sein Eranosvortrag über Martin Bubers Auffassung des Judentums von 1966. E r geht hier ebenfalls auf Bubers Schriften zum Chassidismus ein, die er mit den (zuvor analysierten) Schriften zur Bibel vergleicht. In diesen findet Scholem „die Anwendung einer rein pneumatischen Exegese,

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Ebd., 35; vgj. Bubers Definition des Mythos im Nachwort zu: Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse, Leipzig 1910, wiederabgedruckt in: Buber, Werke I, 1023-1051, bes. 1027f. Der Aufsatz über die Jugendbewegung sollte eine „Abrechnung im guten und bösen Sinne mit Buber" enthalten, notiert Scholem am 13.7.1916 (Tagebücher 1913-1917, 333). Vgl. dazu auch den von Scholem übersetzten Essay Ch.N. Bialiks über Halacha und Aggada als den „Zwillingsformen des Schrifttums und des Lebens", nämlich dem Gefühl und dessen Bewältigung in schöpferischer Geistesarbeit; Bialik ruft auf, zur Halacha zurückzukehren, zu Pflicht, „Tat" und „Verwirklichung" - gegen das „Geschwätz" und das „Willkürjudentum", das nur Aggada will (Bialik, Essays, Berlin 1925, 82-107; zuerst in: Der Jude 4, 1919/20,61-77). VBnJ, 85; vgl. Tagebücher 1913-1917, 396ff. Martin Buber's Hasidism. A Critique, Commentary 22, 1961, 304-316; die deutsche (etwas veränderte) Version erschien zuerst in NZZ 20. und 27.5.1962 (= Judaica 1, 165202). Vorausgegangen waren bereits Artikel in Ηα-Ληίζ am 6.2.1948 (Über Bubers Wirken auf dem Gebiet des Chassidismus) und 6.2.1953 (Zur Gestalt Martin Bubers), wiederabgedruckt in: Devarim bego, 540-562. R. Schatz-Uffenheimer, Die Stellung des Menschen zu Gott und Welt in Bubers Darstellung des Chassidismus, in: P.A. Schilpp/M. Friedman (Hg·), Martin Buber, Stuttgart 1963, S. 275-302. Friedman, Interpreting Hasidim, 452.

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Literatur zu Gershom Scholem

deren Subjektivität den Leser verblüfft" 3 0 . Während die Bibelexegese aber dennoch mit einem umfangreichen wissenschaftlichen Apparat aufwarte, beweise der Mangel an Quellen- und Literaturangaben in den Schriften zum Chassidismus ihren Charakter als „ex cathedra-Mißemngen"^. Scholems Kritik an Bubers unhistorischer Auslegung der chassidischen Quellen setzt bereits an ihrer Auswahl an. Zugunsten der Legenden habe Buber die älteren theoretischen Schriften, die die älteren und darum verläßlicheren Quellen darstellten, vernachlässigt; außerdem habe er zentrale chassidische Ideen, Umdeutungen älterer kabbalistischer Konzepte, falsch dargestellt. 32 D e r Unterschied zwischen dem Chassidismusbild der beiden Gelehrten ist kaum zu überschätzen: Während Bubers weltzugewandte Chassidim den Alltag als solchen heiligen und „das unendliche Ethos des Augenblicks" 33 verkünden, die „Schicksalsfiille des Jetzt und Hier" 34 , geht es den um spirituelle Konzentration auf das Göttliche bemühten Mystikern Scholems um die Weihung der alltäglichen Welt durch deren Vernichtung, um die Aufhebung des konkreten irdischen Daseins im Dienste der mystischen

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Scholem, Judaica 2, 174. Durch Projektion seines mystischen Begriffs von Offenbarung (als einer jederzeit möglichen, inhaltlosen, aber sinngebenden Begegnung mit dem Ewigen Du) auf die traditionell zu bestimmten, historischen Offenbarungen erklärten Ereignisse am Sinai „erlangt Buber ebensosehr eine außerordendiche Auflockerung der Texte, in denen das historische Judentum als eine religiöse Gesellschaft gründet, wie auch die von ihm verteidigte Identifikation der Offenbarungen, die von der religiösen Tradition rezipiert und als autoritativ betrachtet worden sind, mit jenen Offenbarungen, die an jedem Ort dem angestrengt Lauschenden zuteil werden können" (ebd., 175). Ebd., 184. (Die hier implizierte Parallele zwischen der Exegese der Bibel und der chassidischen Quellen fällt noch mehr ins Auge, wenn man Bubers Theorie der „ereignisnahen" Sage als Quelle für die Bibel im ersten Kapitel von Moses [Werke II, 1722] mit den Äußerungen zur legendären Anekdote der Chassidim vergleicht [Werke III, bes. 71-77.994-998]). - Scholems postum ediertes Letztes Wort [%ur Polemik mit Buber] blieb zu Lebzeiten unveröffentlicht (Od Davar, 414f.). Dazu gehört auch die chassidische Haltung zum Messianismus, die Scholem in einem eigenen Artikel (The Neutralisation of the Messianic Element in Early Hasidism, JJS 20, 1969) behandelt. Die Diskussion darüber erscheint als Mittelpunkt der ganzen Kontroverse bei Biale, Counter-History, 165-170, dem es darum geht, daß Scholem hier eine ikonoklastische dritte Position einnimmt: gegen die messianische (Dinur, Tishby) und gegen die antimessianische Deutung (Dubnow, Buber) des Chassidismus. Buber, Werke III, 805. Ebd., 814.

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Verbindung mit Gott.35 Doch in der Scholem-Buber-Kontroverse, wie sie die Grenzen der akademischen Judaistik sprengt, diskutiert man weniger über den Charakter des Chassidismus. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Selbstverständnis der beiden Gelehrten als objektiver Historiker einerseits und „Sieb" (Buber) des chassidischen Lebens und Geistes andererseits. Buber selbst lenkt in seinen Antworten an Schatz-Uffenheimer und Scholem die Diskussion in diese Richtung. Es gebe eben zwei Weisen der Geschichtsbetrachtung: die historische Forschung, d.h. die „bloße Wiederbekanntmachung einer [...] Lehre", und „das Hinzeigen auf die einstige Wirklichkeit eines mit dieser Lehre geschichtlich zusammenhängenden Lebens" mit der Absicht, „von der Kraft jenes Lebens [...] der eigenen Zeit das zu übermitteln, was ihr helfen kann, ihre Glaubensnot zu überwinden und die zerrissene Bindung an das Unbedingte zu erneuern".36 In zahlreichen Stellungnahmen zu dem Streit der beiden Gelehrten von den Leserbriefen in der Zeitschrift Commentary an, in eigenen Aufsätzen oder Kapiteln von Monographien über Buber und später auch über Scholem, wird nicht die chassidische Bewegung, sondern der Streit selbst interpretiert. Er gilt als „wahrhaft dramatische Konfrontation von zwei der überragenden Gestalten des post-assimilatorischen bewußten Judentums, die zugleich zwei menschliche Grundtypen darstellen und verschiedene Ziele anstreben"37. Als solche „Prototypen"38 werden der am „gelebten Konkreten" interessierte Buber und der an Theologie interessierte Professor Scholem kontrastiert39, der Verkünder einer lebendigen „Seinstradition" und der Historiker40 oder auch der Dichter

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Vgl. jetzt den Versuch, zwischen den völlig unversöhnlich erscheinenden Positionen zu vermitteln: B.J. Hammer, Resolving the Buber-Scholem Controversy in Hasidism, JJS 47, 1996,102-127. Buber, Noch einiges zur Darstellung des Chassidismus, in: Werke III, 991 (als Erwiderung auf den Commentary-hukiXzy, vgl. Bubers Antwort an Schatz-Uffenheimer: Zur Darstellung des Chassidismus, in: P.A. Schilpp/M. Friedman, Martin Buber, Stuttgart 1963, 627-635. R. Weltsch, Gershom Scholem - Deuter des Judentums, JR 3 1 , 1 9 7 1 , 5 2 8 - 5 3 5 . J.H.A. Wijnhoven, Gershom G. Scholem: The Study of Jewish Mysticism, Judaism 19, 1970, 469. So David Horowitz in einem Leserbrief in: Commentary 3 3 , 1 9 6 2 , 161-163. G. Schaeder, Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966, 237-248; um so mehr betont sie andernorts: „Es wäre eine unangemessene Vereinfachung, sich Scholem als trockenen und religiös unempfindlichen Gelehrten vorzustellen." (M. Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten I, Heidelberg 1972, 81).

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Literatur zu Gershom Scholem

mit dem nüchternen Wissenschaftler41. Buber selbst versteht sich allerdings keineswegs als freier Nacherzähler, sondern nur als Dolmetsch der chassidischen Botschaft, die ihn „wie ein verwendbares Gerät"42 angefaßt und zum Deuter für den modernen Menschen berufen habe. Für ihn gibt es keine Kluft zwischen seiner und der historischen Wahrheit,43 wie sie die meisten Kommentatoren der Kontroverse als Lösung anbieten. Danach hatte Scholem die objektive Wahrheit aus historischer Sicht vertreten, Buber dagegen die seiner eigenen Philosophie und Persönlichkeit. Oft wird Bubers Werk als das überdauerndere, wahrhaft gültige gepriesen, um sein Werk auf diese Weise gegen Scholems Attacke zu immunisieren.44 Oder der Ältere gilt als der Pionier, der die wissenschaftliche Forschung des Jüngeren überhaupt erst möglich machte.45 Seit den achtziger Jahren wird Scholems Anspruch auf Objektivität zunehmend in Frage gestellt, sei es durch den Hinweis auf die wachsende Kritik an seiner Auffassung des Chassidismus von wissenschaftlicher Seite46, sei es durch den Angriff auf Sinn und Grenzen „objektivistischer" Geschichtsschreibung überhaupt.47 41

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Vgl. Sch. Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber. Ein Erinnerungsbuch, München 1966,45; Davidowicz, Gershom Scholem und Martin Buber, bes. 71. Buber, Werke III, 935. So beruft er sich auf eine religionswissenschaftliche Gattung der „legendären Anekdote" oder versucht zu vermitteln, indem er (wie andere Kritiker Scholems auch) zwei Strömungen unterscheidet, eine theoretischere, „vergeistigtere", und die ursprünglichere Linie des Baalschem. VgJ. J.D. Levenson, The Hermeneutical Defense of Buber's Hasidism: A Critique and Counterstatement, Modem Judaism 11, 1991,297-320. Wijnhoven, Gershom G. Scholem, 481. Vgl. W. Kaufmann, Martin Bubers Fehlschläge und sein Triumph, in: J. Bloch/H. Gordon (Hg.), Martin Buber. Bilanz seines Denkens, Freiburg 1983, 36. Bubers Einfluß auf Scholems Hinwendung zum Chassidismus - und dessen Verbundenheit mit der neoromantischen Forschung überhaupt - betont auch R. Schatz, Gershom Scholem's Interpretation of Hasidism as an Expression of His Idealism, in: Mendes-Flohr (Hg.), The Man and His Work, 87-103: Scholems Kritik an Buber richte sich weniger gegen dessen Neoromantik als gegen den Existentialismus, der seiner eigenen „idealistischen" Sicht des Chassidismus entgegengesetzt sei. So Friedman, Interpreting Hasidim, 462; vgl. auch S.H. Dresner, Hasidism Through the Eyes of Three Masters, Judaism 23, 1983, 160-168 (der eine Gemeinsamkeit von Buber und Scholem hervorhebt: Verglichen mit A.J. Heschel spiegele ihrer beider Forschung die Ablehnung der jüdischen Tradition als Modell für ihr persönliches Leben wieder, bei Buber in seiner Ablehnung der Mystik bzw. der existentiellen Entscheidung, bei Scholem in der Suche nach sabbatianischen Einflüssen). L.J. Silberstein, Martin Buber's Social and Religious Thought, New York-London 1989, 53-70, in einem Abschnitt mit der Überschrift „Interpreting Hasidism: Buber vs. Scholem" und dem Fazit: „objectivistic historiography distracts us from the burning

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Die Chassidismuskontroverse besitzt außer einem Vor- und Nachspiel auch mehrere Nebenschauplätze. So provoziert Scholem heftigen Widerspruch mit seiner Darstellung von Martin Bubers Auffassung des Judentums überhaupt. In einem Artikel über Schokm und Buber in der Neuen Zürcher Zeitung8 widerspricht Ernst Simon Scholems These, mit der demonstrativen Wende von der Mystik zur Philosophie des Dialogs habe Buber nur verbal der Mystik den Rücken gekehrt.49 Simon kritisiert außerdem Scholems stillschweigende Ausklammerung von Bubers politischer Theorie und Praxis und verwahrt sich gegen die simplifizierende Behauptung von Bubers geringem Einfluß auf die jüdische Welt. Während Scholem die tiefe Entfremdung der erwachsen gewordenen zionistischen Jugend von Buber hervorhebt und unter anderem auf die Enttäuschung über die späte Emigration ihres einstigen Sprechers zurückfuhrt, verteidigt Simon Bubers Bleiben in Deutschland: vor allem nach 1933 habe Buber den schwereren Teil gewählt, was dankbar gewürdigt worden sei. Im selben Jahr wie Simons Gegendarstellung zu Scholems Bubervortrag sieht sich Scholem seinerseits genötigt, eine Gegendarstellung zu Schalom Ben-Chorins Erinnerungen an Buber zu veröffentlichen. In seiner Zwiesprache mit Martin Buber erweckt Ben-Chorin im Zusammenhang mit der Chassidismusdeutung den Eindruck, Scholem habe (gemeinsam mit orthodoxen Rabbinern) die Berufung des von ihm kritisierten Buber auf einen Lehrstuhl für Altes Testament oder Chassidismus verhindert.50 Auf die Entscheidung gegen Bubers Berufung auf einen Lehrstuhl für Allgemeine Religionsgeschichte im Winter 1933/34 (um den es sich in Wahrheit gehandelt hatte) habe er keinerlei Einfluß gehabt, wehrt sich Scholem, sichtlich empört darüber, daß Ben-Chorin seine „sachliche Kritik" zu „einer falschen Rekonstruktion meiner Haltung zu Bubers Berufung" nutzt: „Weder waren mir im Jahre 1933 meine späteren kritischen Überlegungen schon geläufig, noch hätten sie mich davon abgehalten, mich für eine Berufung Bubers auf einen Lehrstuhl der Religionsgeschichte einzusetzen."51

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existential crisis of our age" (ebd., 70); vgl. auch St. D. Kepnes, A Hermeneutic Approach to the Buber-Scholem Controversy, JJS 38, 1987, 80-98. E. Simon, Scholem und Buber, NZZ 11.6.1967, Beilage Literatur und Kunst, 19. Bubers unmittelbare Beziehung, die Ich-Du-Erfahrung ist für Scholem nichts anderes als die „Hypostasierung des alten Erlebnisbegriffes ins Ontologische" (Judaica 2, 165); vgl. dazu E. Simon in seiner Einführung zu: Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, 6. Vgl. Schalom Ben-Chorin, Zwiesprache mit Martin Buber, 45f. Scholem, Martin Bubers Berufung nach Jerusalem. Eine notwendige Klarstellung, Frankfurter Hefte 22,1967, 229ff. (Zitate: 231). Scholems Briefe aus jener Zeit an Buber lassen keinen Zweifel aufkommen, daß die Ablehnung der Berufung Bubers durch das

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Literatur zu Gershom Scholem

Ben-Chorin erwähnt auch die lebenslange Freundschaft der beiden Gelehrten und Scholems Verehrung für die Genialität des Älteren (der ihm nach BenChorin deshalb um so verdächtiger gewesen sei). Seine Wertschätzung von Bubers „Format" und „moralischer Größe" 52 hatte Scholem unter anderem im Jahre 1951 öffentlich zum Ausdruck gebracht, als er Bubers Motive zur Annahme des Hanseatischen Goethe-Preises verteidigte, über die in Israel in der Zeitschrift Ha-Aret^ eine polemische Debatte geführt worden war. In seinem Leserbrief spricht sich Scholem zwar gegen die Annahme des Preises aus, da er diese Form von Kontakt mit der deutschen Öffentlichkeit (als anonymer Masse, unter der unzählige einzelne jüdisches Blut an den Händen hätten) ablehnt. Dennoch tritt er für Buber ein, was man ihm von seiten der Freunde Bubers hoch anrechnet. 53 Weniger Anerkennung erntet Scholem dagegen mit seinen Bemerkungen zum Verhältnis der Juden zu Deutschland anläßlich der Feier zum Abschluß der Buberschen Bibelübersetzung im Jahre 1961. Immerhin betont er in seiner 1963 veröffentlichten Rede die Fragwürdigkeit des Unternehmens, in dem er das „Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung" 54 sieht. Auch die Beobachtungen zu den sprachlichen Aspekten der Übersetzung verraten bei aller Würdigung von Bubers Leistung Scholems kritische Haltung. Bibelübersetzung und Übersetzungsprobleme überhaupt — auch dies ein wichtiger Teil der lebenslangen Buber-Scholem-Kontroverse - gehören zu den am häufigsten wiederkehrenden Themen im Briefwechsel zwischen Buber und Scholem. Insgesamt ist dieser Briefwechsel, wie seine Herausgeberin formuliert, das „Zeugnis einer ungewöhnlichen Beziehung, die zugleich im

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Jerusalemer Kuratorium für Scholem einen großen Verlust bedeutete: „Brauche Ihnen nicht zu sagen, [...] wie uns hier der Verlust Ihrer Mitarbeitschance getroffen hat." (Buber, Briefwechsel II, 555). Geständnis über eine schmerzhafte Angelegenheit, Brief an den Hg., Ha-Aretz 30.12.1951, in: Devarim bego, 121f. Vgl. D.W. Senators Bemerkung über „den mutigen Brief von Scholem an den Haaretz" in einem Brief an Buber vom 19.1.1952 (Buber, Briefwechsel III, 308); im selben Jahr schrieb Scholem seinen „Brief aus Israel" an die Deutsche Universitätszeitung. Vgl. auch die Notiz vom 22.12.1950 von S.H. Bergman, Tagebücher und Briefe II, hg. v. M. Samburksy, Königstein/Taunus 1 9 8 5 , 1 0 4 . An einem denkwürdigen Tage. Rede bei der Feier zum Abschluß der Buberschen Bibelübersetzung in Jerusalem 1961, NZZ 31.3.1963 = Judaica 1, 2 1 5 („und es fallt mir nicht leicht, das zu sagen"). Vgl. die Notiz vom 15.2.1961 von S.H. Bergman, Tagebücher und Briefe II, 361f.

,Buber vs. Scholem" und andere Kontroversen

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Laufe von fünf Jahrzehnten ein Stück jüdischer Geistesgeschichte dokumentiert"55.

1.1.2 Baruch Kurzweil und der Streit um den jüdischen Messianismus Gilt Scholem im Vergleich zu Buber als Vertreter objektiv-wissenschaftlicher Geschichtsforschung, so steht gerade dieser Anspruch auf Objektivität im Zentrum der zweiten vielzitierten Polemik aus den sechziger Jahren. Nun ist Scholem der Angegriffene, attackiert von Baruch Kurzweil, Professor für Hebräische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der religiös orientierten Bar-Ilan-Universität in Israel. Ausgetragen wird die Debatte von Scholems Mitstreitern, während er selbst zu den Vorwürfen schweigt, die der „scharfzüngige Literaturkritiker"56 zuerst in der Zeitung HaAret£ publiziert. In einem erst postum veröffentlichten Brief an Kurzweil vom 4.12.1959 bekundet Scholem seine Enttäuschimg darüber, daß es ihm nicht gelungen sei, mit der Zusendung seines Vortrags über Religiöse Autorität und Mystik seinen Kritiker von dem „vollkommenen Irrtum zu überzeugen über die Motive, die Sie mir seit langem in Ihren Aufsätzen zuschreiben"57. Ausgelöst von Scholems Werk über Sabbaiai Zwi, das (auf hebräisch) 1957 erscheint, geht es in der Debatte zunächst um die Einschätzung der antinomistischen Bewegung des Sabbatianismus, schließlich aber um die zionistische Historiographie an der Hebräischen Universität überhaupt, mit Scholem als ihrem wichtigsten Repräsentanten. Den Jerusalemer Historikern wird vorgeworfen, daß sie ihre säkularen Geschichtsentwürfe an die Stelle des traditionellen Judentums zu setzen suchten. Scholems vermeintlicher Versuch, das 55

G. Schaeder, in: Buber, Briefwechsel I, 80. Die ganze Ambivalenz dieser ungewöhnlichen Beziehung spiegelt sich auch in den Tagebüchern S.H. Bergmans. So notiert dieser z.B. einerseits am 5-/6.6.1959 eine Bemerkung v o n Scholems geschiedener erster Frau, die meinte, „Scholem habe den 'Schreck seines Lebens' durch Buber bekommen und weil er nicht in die A r t verfallen wolle, in welcher Buber spricht, schweigt er" (Tagebücher und Briefe II, 308), andererseits am 1 3 . 1 2 . 1 9 6 5 nach der Abschiedsfeier in der Universität f ü r Scholems Emeritierung (ebd., 495): „Scholem sprach sehr herzlich über Magnes und über Buber. Ohne Buber wäre er niemals zur Kabbala gekommen."

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„a sharp-tongued literary critic": Myers, The Scholem-Kurzweil Debate, 262.

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Scholem, Briefe II, 5 0 ; Anlaß des Briefes war die Zusendung von Kurzweils Sifrutenu hachadasha - hemshekh o' mahpekha, Jerusalem 1 9 5 9 ; vgl. außerdem Ha'arol W'Shabbetaj Zevi" shel Gershom Scholem (1957) und Ί-ha-nachat she-behislorija uvemadda'e ha-jahadut (1965), wiederabgedruckt in: Kurzweil, Bema'avaq 'al 'erkhe ha-jahadut, Jerusalem-Tel A v i v 1 9 6 9 , 99-150.

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Literatur zu Gershom Scholem

normative rabbinische Judentum durch einen mystischen Nihilismus zu ersetzen, wird als besonders gefahrlich empfunden, weil er, wie Kurzweil zum Beweis für die allgemeine Verwirrung der Juden in der Gegenwart anfuhrt, zum Sprecher des Judentums geworden war.58 Auch R.J. Zwi Werblowsky59 rückt in seiner Rezension von Sabbaiai Zwi die zu positive Bewertung der häretischen Bewegung in den Mittelpunkt und kritisiert die Voreingenommenheit der von Scholem begründeten „neuen Schule"60, die nicht weniger dogmatisch sei als die von Scholem in seinem Vorwort angegriffene ältere Geschichtsschreibung. Auch hier reagiert Scholem mit einem privaten Brief: Verärgert über den ironischen Stil des Rezensenten verwehrt er sich entschieden gegen dessen Vorwurf, er selbst vertrete einen als Empirismus verkleideten Dogmatismus61. Es kann kaum überraschen, daß Scholems Darstellung und Deutung des Sabbatianismus und des jüdischen Messianismus allgemein heftigen Widerspruch in Israel und Amerika erregt, weit über Kurzweils Rundumschlag gegen die in Scholem verkörperte zionistische Historiographie hinaus.62 Der Kabbalaforscher mißt immerhin einer häretischen Bewegung, deren Messias ein zum Islam übergetretener Apostat war, eine ungeheuer wichtige Rolle innerhalb der Geschichte des Judentums bei. Seine Schriften zum Sabbatianismus zeugen ungeachtet ihres historischen und über weite Strecken sehr sachlich-distanzierten Charakters von einer Faszination, die allein gläubige Juden schockieren mußte, ganz abgesehen von seiner These, daß Aufklärung und Reformjudentum (mit ihrer Zersetzung der traditionellen Auffassung von

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Vgl. außer Myers auch Biale, Counter-History, 155.172f., sowie den Abschnitt über „Baruch Kurzweil und Gershom Scholem oder: Gegen die Historisierung des Judentums" (Neged ha-historisa^a shtl ha-jahadut) von M. Scwarcz, im Vorwort zu: B. Kurzweil, Lertokhakh ha-mtvukha ha-ruchanit shel dortnu, Ramat Gan 1976, 25-33. Später Professor für Vergleichende Religionswissenschaft in Jerusalem, Übersetzer von Sabbatai Zivi und Verfasser einer Gedenkrede, die er selbst als „persönliches und bewegtes Zeugnis eines Scholem nahestehenden Schülers, Kollegen und Freundes" bezeichnet (Werblowsky, Gedenkrede, 79 Anm. 1). Werblowsky, Hirburim 'al ,¿habbetaj Zivi" leGershom Scholem, Molad 15, 1957, 539-546 (Zitat 540). Vgl. den Briefentwurf vom 13.1.1958 in: Scholem, Briefe II, 38-45. Schon zu Beginn der vierziger Jahre provozierte Scholem mit seiner Behauptung über R. Eibeschütz' sabbatianischen Glauben „a concerted attack by orthodox scholars" (Biale, Counter-History, 163; vgl. auch Dan, Mystical Dimension, 308, und Scholem selbst rückblickend in seiner Rede zur Verleihung des Bialik-Preises von 1977, in: Devarim bego, 42).

,Buber vs. Scholem" und andere Kontroversen

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Tora) im sabbatianischen Antmomismus wurzelten bzw. „logischerweise"63 am Ende der Entwicklung standen. Eine hitzige Debatte um Scholems Analyse des jüdischen Messianismus mit seinen restaurativen und apokalyptischen Elementen, die in „ein wohlgeordnetes Haus" einen „anarchischen Luftzug" blasen64, entbrennt auch in den siebziger Jahren nach dem Erscheinen von The Messianic Idea and Other Essays in Jewish Spirituality (1971). Immer wieder wird diskutiert, ob der Sabbatianismus nicht vielmehr nur „a marginal aberration"65 gewesen sei und ob der Kabbalaforscher messianische Bewegungen zu positiv bewerte66. Gegen Scholems vielzitiertes Fazit vom „Leben im Aufschub" (dem Mangel an „Einsatz auf der geschichtlichen Ebene"67) als dem Preis der messianischen Idee wird erhoben, daß Scholems Charakterisierung der jüdischen Erlösungshoffhung der historischen Sphäre zu viel Bedeutung beimesse, sei es wegen seines Zionismus68, sei es infolge seiner zu statischen Kontrastierung des jüdischen Konzeptes zur verinnerlichten Erlösung des Christentums69. Mancher nimmt Scholems Schriften zum Anlaß für eigene Reflexionen über die jüdische Eschatologie70 oder über Parallelen zu politischen Bewegungen vom stalinistischen Rußland bis zum Amerika der siebziger Jahre.71

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Scholem, Zehn Unhistorische Sätze über Kabbala, in: Judaica 3, 269. Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Grundbegriffe, 147. Vgl. dazu jetzt den Brief an E. Rosenzweig vom 29.10.1931; Scholem spricht hier bereits (fast dreißig Jahre vor dem Eranosvortrag) vom „apokalyptisch gelüfteten Hause" (Briefe 1,248). J.B Agus, Bringing Clarity into the Mystical, Judaism 21, 1972, 378. Vgl. Scholems „Verteidigung" durch Wijnhoven, Gershom G. Scholem, 480; wie schon E.E. Urbach, 'al Gershom Scholem, Molad N.F. 1,1967/68,437-441. Grundbegriffe, 166f. Vgl. S. Cain, Gershom Scholem on Jewish Messianism, Midstream 17, 1971, 35-51, bes. 49f. Vgl. J. Taubes, The Price of Messianism, JJS 33, 1982, 595-600. Vgl. A.A. Cohen, Messianism and Sabbatai Zwi, Midstream 20,1974, 30-49. Vgl. Ν. Podhoretz, Redemption Through Politics, Commentary 51/1, 1971, 4f. Zur Diskussion um Rolle und Bedeutung des Messianismus bei Scholem nach seinem Tode s.u. S. 52f.

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Literatur zu Gershom Scholem

1.1.3 Weitere Debatten Wie die Kontroverse um den Chassidismus, so sprengen auch die Diskussionen um Sabbatianismus und Messianismus den Rahmen der akademischen Kabbalaforschung. Andere öffentliche Auseinandersetzungen, die Scholem zu seinen Lebzeiten provoziert, haben von vornherein nichts - oder jedenfalls nicht unmittelbar - mit ihr zu tun. Dies gilt vor allem für seine Einmischung in die Debatten der israelischen Öffentlichkeit über die zionistische Politik (besonders während seines Engagements für die arabisch-israelische Verständigung im Brit Shalom, dem Scholem von 1925 bis 1933 angehörte72) oder über die israelische Gesellschaft und Kultur. Im Streit etwa um die gesetzliche Anerkennung der bürgerlichen Zivilehe73 meldet sich der Kabbalaforscher ebenso zu Wort wie in der Diskussion um den Roman Portnoy's Complaint von Philip Roth, der als Nestbeschmutzung verurteilt wird, weil er von den sexuellen Obsessionen eines Juden (und Opfers jüdischer Erziehung;) handelt.74 Mangelnde Solidarität mit dem jüdischen Volk wirft Scholem auch Hannah Arendt vor, als sie mit ihrem Bericht über die Banalität des Bösen zur intensiven Auseinandersetzimg mit dem Eichmann-Prozeß (und der Kollaboration der Judenräte) beiträgt. Die bereits Anfang der sechziger Jahre auf hebräisch, englisch und deutsch veröffentlichte briefliche Kontroverse beendet offenbar ihre Korrespondenz — und „eine Freundschaft voller Konflikte und Streitpunkte, die in dem Augenblick, da sie offen zutage traten, das Ende bedeuteten"75. Enger mit seiner Forschung verbunden und dennoch Ursache für einen Aufruhr über die Grenzen der Kabbalaforschung hinaus ist Scholems Polemik gegen die Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts und ihre Erben. Eine deutsche Übersetzung des ursprünglichen hebräischen Essays aus dem Jahre 1944/45 erschien erst 1997, übersetzt und kommentiert von dem Berliner Judaisten Peter Schäfer.76 Größere Bekanntheit beim nicht

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Vgl. 'Od davor, 61-90, sowie Biale, Counter-History, 174-182. Vgl. Who is a Jew, CCAR Yearbook 80, 1970/71, 134-139 (hebr. in: Devarim bego, 591597). Vgl. Scholems Artikel in Ha-Ant^ vom 6.6.1969 und 4.7.1969 = Devarim bego, 534-537 (engl.: Scholem on Philip Roth, CCAR Journal 17/3, 1970, 56ff.). Sparr, Einleitung zu: Scholem, Briefe II, XIX; vgl. auch Scholems Brief an die FAZ vom 7.4.1977, 11. VgJ. Scholem, Judaica 6; Devarim bego, 385-494, und die französische Übersetzung von Anfang und Schluß von B. Dupuy, Gershom Scholem face à la Hochmat israël, Pardes

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hebräischsprachigen Publikum erlangte die kürzere und wesentlich abgemilderte deutsche Fassung des Vortrags im Londoner Leo Baeck Institut (1959) im ersten Judaica-Band (1963). Scholem selbst bezeichnet die zweite Version nachträglich als „allzu kompromißlerische deutsche Rede"77. Doch findet er auch hier noch harsche Worte für seine Kritik an der Vereinnahmung der Wissenschaft zugunsten von assimilatorischer Apologetik und Emanzipationsbestrebungen; letztlich sei man auf die „Liquidation des Judentums als eines lebendigen Organismus"78 oder seine Verklärung aus gewesen und habe die Kabbala oder auch die Unterwelt tabuisiert in dem „Versuch, das Judentum auf eine rein geistige, ideale Erscheinung zu reduzieren"79. Scholems Polemik wird nicht als die bittere Abrechnung mit seinen Kollegen an der Hebräischen Universität aufgefaßt, als die sie offensichtlich gedacht war. 80 Rezipiert und diskutiert werden seine Äußerungen in aller Regel als vernichtender Rundumschlag gegen die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts.81 David Biale plädiert für eine differenziertere Sicht, da Scholems Haltung zweideutiger und positiver sei, als man im allgemeinen behaupte,82 sieht aber seinerseits in Scholem vor allem den „Revisionisten" der Wissenschaft (s.u.). E.E. Urbach wiederum ist überzeugt, daß Scholem seine heftigen Worte aus den vierziger Jahren später zurücknahm83, eine Behauptung, der Peter Schäfer energisch widerspricht. Anhand einer detaillierten Analyse des hebräischen Essays zeigt Schäfer außerdem, daß vor allem die spätere und besonders die zeitgenössische Historiographie angegriffen wird. Mit ihren Begründern, ihrer ersten Phase, habe sich Scholem durchaus verbunden gefühlt und sich „nicht als den großen Antipoden der Wissenschaft des Juden-

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5, 1987, 1 0 1 - 1 0 4 (mit kurzem Hinweis auf den Unterschied zur deutschen Version, die „bien plat" erscheine [ebd., 102]). GeF, 140; L'identité juive, 4. Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt, in: Judaica 1 , 1 5 2 . Ebd., 149. „[...] ich habe eine bittere Rechnung mit unseren Zeitgenossen zu begleichen", schreibt Scholem am 8.5.1945 an Shalom Spiegel (Briefe I, 297); vgl. Schäfer, Nachwort, in: Scholem, Judaica 6, 92. Vgl. S.H. Bergmans Notizen vom 5.10.1944 nach einem Gespräch mit N. Rotenstreich „über Scholems aufregenden Aufsatz im Kalender des Haarez. Ich sagte, der Artikel könne eigentlich ein Selbstmord-Motiv geben, weil er zu so verzweifelten Resultaten kommt. [...]" (Tagebücher und Briefe II, 640). VgJ. z.B. H.-H. Völker, Die Wissenschaft des Judentums, Tribüne 25, 1986, 251-262, bes. 252f. Biale, Counter-History, 5. E.E. Urbach, Gershom Scholem and Judaic Studies, in: Mendes-Flohr (Hg.), The Man and His Work, 29-39.

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Literatur zu Gershom Scholem

turns, sondern als ihren Vollender, den Vollender der in ihrem Ursprung angelegten Möglichkeiten" gesehen.84 Der Eindruck, daß es dem Gelehrten mit seiner Polemik gegen die Wissenschaft des Judentums in erster Linie um die zersetzende Wirkung von Assimilation und Emanzipation auf das Judentum in Deutschland geht, ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Er wird verstärkt durch Scholems Stellungnahme Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch (1964) bzw. zum Thema Juden und Deutsche (1966), die den zweiten Judaica-Band (1970) eröffnen.85 Radikal verneint der Kabbalaforscher, „daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat"86, und sucht die Idee einer deutsch-jüdischen Symbiose als Fiktion zu entlarven, weil das Deutschsein eines Juden stets die Preisgabe des Jüdischen in seiner „Ganzheit"87 verlangt habe. Seine Radikalität führt nicht nur zu heftigem sachlichem Widerspruch.88 Es sei ihm begegnet, schreibt Scholem in einem Brief vom 18.7.1965, „dass mir in Deutschland entgegen gehalten worden ist, ich sei tief deutschfeindlich, wenn ich mich über die zwischen unseren Völkern anhängigen Dinge mit rücksichtsloser Klarheit geäussert habe"89. Unter den postum veröffentlichten Briefen sind einige, in denen es um Scholems Blick auf das deutsch-jüdische Verhältnis geht.90 Noch mehr Briefe aber, nämlich praktisch die gesamte Korrespondenz an Th.W. Adorno, 84

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Vgl. bereits P. Schäfer, Gershom Scholem und die „Wissenschaft des Judentums", in: Schäfer/Dan (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 122-156; ähnlich schon Dan, Between History and Historiosophy (s.u. Anm. 114), 47-56. Als Offener Brief an den Herausgeber in: M. Schlösser (Hg.), Auf gespaltenem Pfad. Zum 90. Geb. von M. Susman, Darmstadt 1964, 229-232, und als Vortrag, gehalten am 2.8.1966 auf dem Jüdischen Weltkongreß, Neue Rundschau 77,1966, 547-562. Judaica 2, 7 (Hervorhebung i.O.). Ebd., 8. Vgl. z.B. R. Weltsch, in dessen bereits zitiertem Artikel über den Deuter des Judentums das Thema Deutsche und Juden an zweiter Stelle (nach der Kontroverse mit Buber) steht. Briefe II, 143. (Er antwortet einem Berliner Studenten, der sich an Scholem als Teilnehmer eines am 29.5.1965 gesendeten Rundfunkgesprächs über Israel und Deutschland gewandt hatte. Die jungen Deutschen, hatte jener erklärt, erwarteten „von den Juden, die zu uns sprechen, Uberwindung des Gefühls, klare, verbissen klare Folgerungen aus jenen Tagen, die uns helfen, Sicherheit zu finden im Urteilen" [ebd., 289 Anm. 1 zu Brief Nr. 97]. Scholem erwidert, er teile den Wunsch, daß mehr Juden zu Deutschen sprechen könnten. Er stellt jedoch in Frage, ob dies durch das Auftreten in den deutschen Medien geschehen soll, und betont, daß in jedem Fall Gefühle eine Rolle spielten, die beiseite zu schieben Juden unmöglich sei.) Briefe II, 167.170.183.214; vgl. dazu auch P. Szondi, Briefe, hg. v. Ch. König und Th. Sparr, Frankfürt a.M. 1993, 238-241.

Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation

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betreffen Scholems Blick auf Walter Benjamin und damit den Gegenstand einer weiteren berühmten Kontroverse, die mit seiner Mystikforschung nur indirekt zu tun hat. Um so breiter ist ihre Wirkung (nicht umsonst ist ihr der größte Raum im zweiten Band der Scholembriefe gewidmet), ist doch die Benjamin-Rezeption dem Jugendfreund, Nachlaßverwalter, Biographen und Interpreten sehr verpflichtet. Dies muß selbst zugestehen, wer nicht der Meinung Shalom Ben-Chorins ist, „daß es keinen Kafka ohne Max Brod und keinen Walter Benjamin ohne Scholem gäbe"91. Seine scharfe Kritik am Marxismus seines Freundes trägt Scholem den Vorwurf ein, gemeinsam mit Adorno in ihrer Ausgabe der Schriften (1955) und der Briefe (1966) Benjamins materialistische Prämissen zugunsten einer „theologischen" Deutung zu unterdrücken. „Liest man die Kritiken heute, nach mehr als einem Vierteljahrhundert", schreibt Thomas Sparr in seiner Einleitung zu Scholems Briefen, „so wird man gewahr, in welcher Reduktion Scholem als 'Zionist' wahrgenommen wurde — mit allen Implikationen, die dieses Wort bis heute in Deutschland hat — seine Kritiker hatten überhaupt keinen Begriff von seinem Werk."92

1.2 Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation 1.2.1 Die Monographien (Biale, Schweid, Dan) Gegengeschichte, „counter-history", ist der Begriff, auf den David Biale das Werk des Kabbalaforschers zu bringen sucht. Kernthese der ersten Auseinandersetzung mit Scholem im Rahmen einer ausführlichen Monographie93 ist, daß Scholem die jüdische Geschichte im Sinne Walter Benjamins „gegen den

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Ben-Chorin, Gershom Scholem - dreissig Tage nach seinem Tod, in: W. Licharz (Hg.), Dialog mit Martin Buber, Frankfurt a.M. 1982, 173. Briefe II, XVII (vgl. auch R. Tiedemann, Erinnerung an Scholem, in: Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, Frankfurt 1967, 2 1 1 - 2 2 1 ) . Sparrs Urteil gilt auch für viele spätere Darstellungen, wie z.B. das 5. Kapitel: „Benjamin und Scholem" der Dissertation von K.-M. Neuss, A u f der Suche nach Walter Benjamin, Konstanz 1 9 8 7 , 128-165. Eine sensible Chronik der Brieffreundschaft aus der Perspektive des „Deutschen auf Widerr u f ' bietet H. Mayer, Der Widerruf. Über Deutsche und Juden (st 2585), Frankfurt a.M. 1996, 388-427. Zu Biales Wegbereitem, darunter vor allem Th.W. A d o m o , E. Simon und R. Alter, s.u. Kap. 1.2.3.

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Literatur zu Gershom Scholem

Strich bürsten"94 wolle. Kontergeschichte sei objektiv, aber engagiert, d.h. weder dogmatisch noch rein antiquarisch oder unparteilich-relativistisch. Sie stimme der Existenz eines Hauptstrangs, einer Geschichte des herrschenden Establishments zu, suche aber die vitalen Kräfte in untergründigen Traditionen. Darum, so Biale, entdeckte Scholem die das Judentum im dialektischen Gang seiner Geschichte lebendig erhaltenden Kräfte in der jüdischen Mystik mit ihrer Wiederbelebung von irrationalen Elementen aus Mythos, Gnosis und apokalyptischem Messianismus. Ausgehend von Scholems Polemik gegen die Wissenschaft des Judentums interpretiert Biale Scholems Kabbalaforschung dabei als „Produkt der romantischen Revision"95 der rationalistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts: ihrer konservativen Revision (E. Täubler) einerseits und der nietzscheanischen Revolution (M.J. Berdyczewski, M. Buber, Shai Ish-Hurwitz und Salman Rubaschoff) andererseits. Diese Revision wiederum sei Folge einer radikalen Rebellion gegen das assimilierte deutsche Judentum überhaupt. Aufgrund von Scholems erstmals veröffentlichtem Brief an Salman Schocken (von 1937) mutmaßt Biale über die eigentliche Motivation des Historikers für die Hinwendung zur Kabbala, in der er „ein mögliches Modell für seinen eigenen unsicheren Balanceakt zwischen Tradition und Säkularismus" 96 gefunden habe. Darüberhinaus zieht Biale aus Scholems Schriften97 Schlüsse auf die „antiexistentialistische" und „anarchistische Theologie" des Historikers: Mit dem Rang, den Scholem der Tradition als vermittelnder Auslegung der göttlichen Offenbarung beimesse, richte er sich gegen jede Propagierung eines „unvermittelten"98 Gotteswortes im Sinne Bubers. Außerdem lehne er die Anerkennung einer einzigen Autorität ab, da die Geschichte den Kampf um absolute Werte unter konkurrierenden Stimmen 94

Biale, Counter-History, 196 (nach Benjamins Geschichtsthesen); Biale erläutert seinen Begriff von „counter-history" im letzten Kapitel der Arbeit anhand der Schriften von Walter Benjamin und Emst Bloch sowie der Ketzergeschichte von Gottfried Arnold aus dem 18. Jahrhundert. Zu Rezeption und (Amos Funkensteins) Kritik des Begriffs vgl. D. Krochmalnik, Neue Tafeln. Nietzsche und die jüdische Counter-History, in: W. Stegmaier/D. Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, Berlin-New York 1997, 53-

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Ebd., 35. Ebd., 76. Bes. aus den frühen Übersetzungen und Rezensionen, den Arbeiten zur kabbalistischen Auffassung von Sprache, Offenbarung und Tradition, und dem Offenen Brief an H.-J. Schoeps von 1937 (wiederabgedruckt in: Briefe I, 466-471), Scholems „anti-existentialistisches Manifest" (Counter-History, 97). Counter-History, 91.

81. 96 97

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der Autorität lehre. Insofern er jedoch an einen letztlich unfaßbaren Gott als Ursprung der - vieldeutigen - Tradition und Garant ihrer Legitimität glaube, unterscheide sich seine anarchistische Theologie von jeglichem Relativismus oder Nihilismus. Da Scholem selbst in seinen Zehn unhistorischen Sätzen über die Kabbala die historisch-philologische Arbeit mit der mystischen Schriftauslegung vergleicht," ist Biale der Überzeugung, daß der Kabbalaforscher die jüdische Geschichtswissenschaft selbst als Teil der dialektischen Entwicklung und legitime moderne Form des Judentums betrachtet: „In Scholem we have the fulfillment of the desire of the 19th century Wissenschaft des Judentums to find a secular substitute for religion in historiography."100 Scholems eigentliches Vermächtnis, fügt Biale später in der Zeitschrift Judaism hinzu, sei der anarchische Luftzug im modernen jüdischen Denken, den sein Werk darstelle. Anarchismus als jüdische Philosophie lasse sich nicht durchhalten bzw. dürfe nicht selbst normativ werden, gibt er mit Seitenblick auf die moderne jüdische Historiographie zu bedenken.101 In der zweiten Auflage seiner Monographie ist das Schlußkapitel, in dem Biale den Begriff der Gegengeschichte expliziert, gestrichen. Den Schlußpunkt bildet stattdessen das Kapitel über Scholems Theologie, das ein Rezensent der ersten Auflage bereits als das eigentliche Herzstück der Untersuchung („the heart of Biale's study") bezeichnet hatte.102 In der neuen Einleitung zu diesem Kapitel hebt Biale nachdrücklich hervor, daß Scholem in erster Linie Historiker, und zwar säkularer Historiker, gewesen sei.103 Er reagiert damit auf das wachsende Interesse an Scholems impliziter Theologie, aber auch auf die Rezensenten der Erstauflage, die seine Arbeit in erster Linie als Angriff auf Scholems wissen99

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Vgl. dazu auch Biales kommentierte englische Übersetzung: Gershoms Scholem's Ten Unhistorical Aphorisms on Kabbalah, Modern Judaism 5 , 1 9 8 5 , 67-93. Counter-History, 102. Vor diesem Hintergrund werden dann zentrale Aspekte von Scholems Werk analysiert: seine Darstellung der Mystik als mythische Philosophie und als „counter-attack" gegen das rationale Judentum, seine These einer jüdischen Gnosis und seine Gnostisierung der Kabbala und seine Messianismus-Studien, mit denen er sich als Teil der christlichen Wiederentdeckung der Apokalyptik erweise und die jüdische Orthodoxie provozierte. Den Abschluß bildet die Darstellung der politischen Positionen des Zionisten und die Explikation des Begriffs der „counter-history". Vgl. Biale, Gershom Scholem and Anarchism as a Jewish Philosophy, Judaism 32, 1983, 70-96. Er kritisiert nicht nur die zum konservativen Establishment gewordene Kabbalaforschung, sondern auch die Holocaustforschung, die die Historie politisch mißbrauche, und den Zionismus als neue Orthodoxie. M.M. Morgan, Biale on Scholem, Judaism 31, 1982, 125. Vgl. die Verwunderung über die Streichung des Counter-History-Kapitels bei Krochmalnik, Neue Tafeln, 53 Anm. 1. Biale, Counter-History, 2. Auflage, 1 9 8 2 , 1 1 2 .

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schaftliche Objektivität verstehen, sei es, daß sie ihm die „Buberisierung"104 (Joseph Dan) des Historikers vorwerfen, sei es, daß sie ihn gemeinsam mit Baruch Kurzweil (und später Eliezer Schweid) als Entlarver des naiven Objektivitätsmythos der historistischen Scholemschule feiern. 105 Als vielleicht erste wirkliche Auseinandersetzung mit Biales Thesen jenseits der Objektivitätsdebatte erscheint in den neunziger Jahren ein Artikel von Shaul Magid, der Biales Einschätzung von Scholems Kritik an Bubers Existentialismus modifizieren möchte. Er untersucht „Scholems ambivalente Haltung zur mystischen Erfahrung und seine Kritik an Martin Buber im Lichte von Hans Jonas und Martin Heidegger" und kommt zu dem Schluß, daß Scholem sich vor allem gegen die Gefahren einer unmittelbaren religiösen Erfahrung innerhalb eines philosophischen Systems ohne gnädigen Gott und erlösende Geschichte richte: „Scholem's critique must be seen not as a critique of existentialism as such but a fear of Heidegger's 'fundamental ontology" and 'original ethics' that Buber rejected as well."106

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Dan, KS 54, 1979, 360; vgl. den Hinweis auf Biales Übereinstimmung mit „Kurzweil's essential attitude" in: Dan, Mystical Dimension, 36 Anm. 33. Biale bezieht sich mehrfach auf die Debatte und gibt Kurzweil Recht hinsichtlich einer Verbindung von Zionismus und Historiographie, die aber weder nihilistisch noch apokalyptisch sei (CounterHistory, 173f.182.187.192f.). T. Ross, Scholem, Mysticism and Living Judaism, Immanuel 18, 1984, 106-124, bes. 107ff.; vgj. auch Α. Rapoport-Albert, Gershom Scholem, The American Scholar 54/3, 1985, 547f. Dagegen begreift Morgan, Biale on Scholem, 126, das neunte (CounterHistory-) Kapitel als Verteidigung gegenüber dem Vorwurf mangelnder Objektivität was Biale eher gerecht werden dürfte. Sh. Magid, Gershom Scholem's Ambivalence Toward Mystical Experience and His Critique of Martin Buber in Light of Hans Jonas and Martin Heidegger, The Journal of Jewish Thought and Philosophy 4, 1995, 245-269 (Zitat: 268). - Eine kritische philosophische Auseinandersetzung mit Scholems Identifikation von Historiographie der Kabbala und kabbalistischem Kommentar ohne Auseinandersetzung mit Biale (die Identifikation erscheint dem Autor als offensichtlich, auch wenn sie „kaum ausdrücklich" geschehe) bietet Stéphane Weiss, Wissenschaft des Judentums und Kabbala. Die jüdische Mystik in der Geistesgeschichte von Schelling zu Scholem, in: E. GoodmanThau/G. Mattenklott/Chr. Schulte (Hg.), Kabbala und Romantik, Tübingen 1994, 307329. Der Autor verweist auf die Selbstwidersprüchlichkeit einer „Wissenschaft der Kabbala", die die Unterscheidung von Wissenschaft und Gegenstand, von absoluter Wahrheit und relativer Tradition aufhebe; sie „vermag nicht mehr auf Wahrheit' aus zu sein, sondern beschränkt sich auf ihre 'Symbole'" (ebd., 322), ganz abgesehen davon, daß sie historisch, also rational und somit normativ zu erweisen versuche, daß nichtnormative irrationale Bestände das Leben des Judentums ausmachen, die so „zur Norm geadelt werden" (ebd., 325).

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In den Augen Eliezer Schweids ist David Biale daran gescheitert, daß er weder einen kritischen Ansatz entwickle, noch eine unabhängige Meinung formuliere, die auf eigener Forschung beruht. Eine programmatische Kontroverse verlange, daß man selber einen Standpunkt beziehe und Alternativen anbiete.107 Er selbst stellt darum seinen eigenen Entwurf dem des Kabbalaforschers gegenüber. In erster Linie wendet sich Schweid gegen Scholems Überbewertung der Mystik. Dies jedenfalls ist das zentrale Ergebnis seiner „Rekonstruktion" und Kritik der Scholemschen Auffassung von Mystik, Philosophie, Kabbala und rabbinischem Judentum. Er kritisiert insbesondere Scholems Vernachlässigung der biblischen Religion, seine zu vage Definition von Mystik und die unbewiesene Behauptung ihres hohen Alters, das Bild einer rein äußerlichen, institutionellen Halacha und die Deutung der Philosophie als falscher, unjüdischer Weg. Dem setzt Schweid sein eigenes Bild der jüdischen Religion entgegen, die seiner Meinung nach in erster Linie auf dem „historischen Mythos" der Bibel und der rabbinischen Halacha gründet und die weltliche Beziehung zwischen Gott und Mensch und den Wert ethischen Verhaltens in den Mittelpunkt stellt. Im Jahr zuvor hatte Eliezer Schweid bereits einen Aufsatz über The Jewish World View of Gershom Scholemw% veröffentlicht und die enge Verbindung von Leben und Werk („his subjective approach"109) hervorgehoben. In die nationale kulturelle Wiedergeburt integriert, so Schweid, sollte seine Forschung vor allem den Nachweis eines lebendigen Judentums neben dem halachischen erbringen. Dabei sei für Scholem Wissenschaft nicht bloßes Mittel zum Zweck, sondern eine quasi-mystische Erfahrung: „the most far reaching Jewish experience of Scholem himself' 110 . Mit seinem Selbstverständnis als Historiker ohne Entwurf für ein neues Judentum verkünde Scholem (durchaus mit prophetisch-missionarischem Impetus) das „Tora-Studium um seiner selbst

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Schweid, Judaism and Mysticism, 12 Anm. 9.16f. Die Forderung nach „eigener Forschung" (gemeint ist Erforschung der rabbinischen und mystischen Quellen) erinnert an die Rez. Dans, der Biale zum Vorwurf macht, daß er keine einzige hebräische Quelle aus der Zeit vor dem 19. Jh. zitiert! E. Schweid, The Jewish World View of Gershom Scholem, Immanuel 14, 1982, 129141. Ebd., 133. Ebd., 136; vgl. Judaism and Mysticism, 37f.: „In the process of his search, Scholem seems to be reenactmg an experience resembling that of the mystic. [...] the spiritual fervor poured into the concluding lines of his work Major Trends in Jewish Mysticism surely has a mystical foundation, if not a prophetic one."

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willen"111 als Antwort auf die Krise des Judentums. Diese Haltung sei typisch für die Zionisten der zweiten und dritten Alija (die erwarteten, daß sich ein neues Judentum spontan von selbst entwickelt, wenn nur erst jüdisches Leben im eigenen Land garantiert ist) und vor dem Hintergrund der persönlichen Erfahrungen Scholems verständlich. Doch biete er nur Warnungen vor falschen Wegen und keine Lösungen, so daß neue Denker neue Wege bahnen müßten,112 wie Schweids letztlich vernichtendes Fazit lautet. Von den kritischen Reaktionen auf Schweids „absorbing counter-thesis to Scholem's"113 ist Joseph Dans 114 sicher die bekannteste, ergänzt und unterstützt von zahlreichen weiteren Artikeln und schließlich seiner Monographie, die 1987 erscheint. Scholems Schüler und Nachfolger möchte der „Allegorisierung" und „Guruisierung" seines Lehrers entgegenwirken, die er in der Scholem-Rezeption am Werke sieht. Beides führt Dan auf das unverändert herrschende Vorurteil zurück, daß die jüdische Mystik irrelevant sei; man könne offenbar nicht glauben, daß Scholem sein Lebenswerk allein der philologischen Erforschimg der Kabbala mit nur einer Handvoll historischer Schlußfolgerungen widmete.115 Dan selbst hält fünf Jahre nach Scholems Tod die Zeit für eine gemessene Würdigung noch nicht gekommen; nach seiner „persönlichen Auffassung" 116 aber sei Scholems wichtigste Leistung die Wiederentdeckung der „mystischen Dimension" in der jüdischen Geschichte gegen die Ignoranz und apologetische Verzerrung in der älteren (und neueren) Geschichtsschreibung.

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The Jewish World View, 137.140; Judaism and Mysticism, 146 (im Zusammenhang mit der Wissenschaft des Judentums), vgl. ebd., 163ff. (.Judaism's Contemporary Crisis"). Deren Richtung gibt Schweid an in: Mysticism and Judaism, 165: „The enterprise of creative thought, accompanied by creative work in the area of social norms, must be continued." T. Ross, Scholem, Mysticism and Living Judaism, 118. Vgl. bes. Ν. Rotenstreich, 'Al mussagim mshimmush bahem beshule stfro shel Elitär Schweid, sowie Η. Lazanis-Yafeh, Od 'al „mistiqa mjahadut", Jerusalem Studies in Jewish Thought III/3, 1983/84, 477-488 und 489-492. J. Dan, Gershom Scholem·. Ben historija lehistoriosofija, Jerusalem Studies in Jewish Thought III, 1983/84, 427-476; engl.: Gershom Scholem: Between History and Historiosophy, Bina 2, 1989, 214-249; zitiert im folgenden nach dem Sonderdruck in der ScholemLibrary. J. Dan, Jewish Studies after Gershom Scholem, EJ Yearbook 1983-1985, 138-145. Dan, Mystical Dimension, 28.

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Da seiner Meinung nach Scholems historisches Werk zu wenig als solches gewürdigt wurde 117 , faßt er in seiner Monographie kapitelweise Scholems Forschungen zur Geschichte der einzelnen mystischen Hauptströmungen zusammen. Er verweist zwar auf die Kritik von Fachkollegen, legt aber auch Wert auf die bleibende Bedeutung des Grundgerüsts von Scholems Forschung.118 Quintessenz des einleitenden Kapitels, in dem er auf Scholems Biographie und seine Haltung zu Judentum und Zionismus eingeht, ist dieselbe wie die seiner Schweid-Kritik: Scholem war Historiker und nicht „Historiosoph".119 Die zentralen Argumente, die diese Behauptung stützen sollen, lassen sich zu einigen wenigen Thesen zusammenfassen: Scholems Hinwendung zum Judentum (infolge der Ablehnung der Assimilation) sei der Beschäftigung mit der Kabbala vorausgegangen; sein Zionismus sei von größerer Bedeutung für die Verbindung des Historikers Scholem mit dem „thinker-philosopher"120 als die Kabbala.121 Scholems Konzentration auf die jüdische Mystik (einschließlich ihrer häretischen Formen) habe in erster Linie wissenschaftliche Gründe, nämlich in der bisherigen Vernachlässigung der Kabbala und in der fur jede wissenschaftliche Forschung notwendigen Spezialisierung.122 Sie sei weder auf eine Vorliebe für anarchisch-destruktive Tendenzen noch auf ein besonderes Interesse an Mystik allgemein zurückzuführen, schließlich habe Scholem immer den einzigartigen Charakter der jüdischen Mystik betont und eben

117 Vgl. d¡ e Kritik an der selektiven Wahrnehmung der Schriften bei Schweid (History and Historiosophy, 57ff.) und bei Biale (vgl. Dans Rez. v. Biale, 359). Wie bereits im Todesjahr, in Zion, dem Organ der Jerusalemer Schule, zu Scholems Werk überhaupt: J. Dan, Mishnato ha-historit shelProf. Gershom Scholem, Zion 47, 1982, 165172. Anders in den neunziger Jahren: vgl. Dan, Mystiker oder Geschichtsschreiber, 33. 1 1 9 Dies gilt letztlich auch für seine „Erklärung" von Scholems Zehn unhistorischen Sätzen (vgl. J. Dan, Min ha-semel 'elha-mesummak lehavanat ,,'esre ma'amarim bilti-historijim 'alha-qabbala" leGershom Scholem, Jerusalem Studies in Jewish Thought V, 1986, 363-385). 1 2 0 History and Historiosophy, 63 (was er sich darunter vorstellt, erläutert er nicht). 121 Vgl. ebd.; Mystical Dimension, 8f.29ff.; Mystiker oder Geschichtsschreiber, 43ff. Woraus sich allerdings das Problem überhaupt erst ergibt: Wie kommt der Zionist zur Kabbala? VgJ. Scholem selbst im Brief vom 3.11.1967 an G. Lichtheim, Briefe II, 189: „Dass ich nicht von der Kabbala zum Zionismus gekommen bin, ist evident, und man braucht also das Problem nicht aufzuwerfen. Das Umgekehrte wäre wenigstens des Schweisses der Edlen wert." 1 2 2 Während Scholem selbst einräumt, daß abgesehen von einer inneren Affinität auch „mein Drang, das Rätsel der jüdischen Geschichte zu verstehen", mitgewirkt haben könnte, das Rätsel der „Existenz der Juden durch die Jahrtausende" (VBnJ, 130).

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durch diese Wertschätzung des Besonderen zum Verständnis des Allgemeinen beigetragen.123 Dans Behauptung, daß Scholems objektive Sicht der Geschichte nicht durch einen von der allgemeinen Mystikforschung geprägten Mystikbegriff beeinträchtigt wurde (der ihn veranlaßt hätte, die Mystik zum Zentrum des Judentums zu erheben), richtet sich ursprünglich gegen Schweid. In den neunziger Jahren wiederholt Dan diesen Gedanken mit besonderem Nachdruck; „aufgrund der jüngsten Entwicklungen in der Judaistik"124 stellt er nun Scholems historischen Ansatz dem „phänomenologischen" Ansatz des Kreises von Eranos gegenüber, mit C.G. Jung und Mircea Eliade als Repräsentanten.125 Der ungenannte eigentliche Gegner aber ist Moshe Idei, der sich mit seinem ausdrücklich als phänomenologisch bezeichneten Gegenentwurf zu Scholems Kabbalaforschung von 1988 um eben jene neuen „Entwicklungen in der Judaistik" bemüht.

1.2.2 Moshe Idels neue Perspektiven Idei möchte sowohl der Vernachlässigung des phänomenologischen Ansatzes in der Kabbalaforschung als auch der einseitigen Konzentration auf die spekulative, theoretische Kabbala ein Ende bereiten, die sich mit Scholem durchgesetzt habe. Er kritisiert, daß von der Renaissance an die Kabbala insgesamt als esoterische Theorie interpretiert wurde, deren Symbolik auf das Eindringen in die heiligen Schriften und Verstehen des Göttlichen angelegt ist, während die praktische Seite mittels kabbalistischer Ausübung der Gebete und Gebote vernachlässigt wurde. Um dem entgegenzuwirken, plädiert er für mehr vergleichende Forschung und stärkere Berücksichtigung der verschiedenen religionswissenschaftlichen Disziplinen; er widmet sich intensiver der Erforschung ekstatisch-kabbalistischer Quellen und versucht, auch im Blick auf die theosophische Kabbala „neue Perspektiven" zu entwickeln, indem er sie nicht als „symbolische Weltanschauung" im Sinne Scholems, sondern als „Theurgie" History and Historiosophy, 65; vgl. Dan, Mystical Dimensions, 27: „it is [...] because of his intensive insistence on understanding the unique character of every phenomenon that Scholem achieved the universal meaning of his studies". 1 2 4 Dan, Mystiker oder Geschichtsschreiber, 32. Neu ist hier auch die oben (in der Einfuhrung) erwähnte These von Scholems anfanglicher unhistorisch-kabbalistischer Weltsicht. 125 Vgl. auch Dans Vorwort zu G. Scholem, The Mystical Shape of the Godhead, New York 1991, 3-14. 123

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beschreibt: Nicht „Gnosis", die erlösende Erkenntnis, um ihrer selbst willen, sei das Ziel der spekulativen Kabbala, sondern das erlösende Handeln, das in der Imitatio der göttlichen Dynamik (der Sefirot) bei der Ausübung der Gebote besteht; das kabbalistische Symbol „invites to act, rather than to think"126. Thema von Idels Buch ist die Kabbala, nicht Scholem; es enthält aber einige kurze Überlegungen zu Scholems Persönlichkeit (als Theoretiker, der sich immer nach mystischer Erfahrung gesehnt habe)127 und - über das ganze Buch verstreut - sehr viel Kritik an Scholems verschiedenen Thesen. Manches davon spricht Idei in speziell Scholem gewidmeten Aufsätzen noch einmal an, zum Beispiel das nach Idei falsche Bild eines „unmythischen" talmudischen Judentums 128 oder die Gnostifizierung der Kabbala um jeden Preis, auf die Idei auf der Berliner Scholem-Konferenz zurückkommt.129 Er kritisiert hier Scholems Theorie, nach der die Gnosis und auch der Messianismus als die entscheidenden Katalysatoren in der Geschichte der Kabbala gewirkt hätten, vor allem als eine zu einseitige Theorie. Sie ignoriere nicht nur zahlreiche andere äußere Einflüsse, sondern vernachlässige, weil sie zu sehr „den Akzent auf die große Bedeutung des Subversiven und Katastrophenträchtigen"130 lege, die als inaktiv verurteilte konservative Spiritualität. Sie sei offenkundig „Teil einer gewissen Axiologie, die a priori einen Typus der Religiosität einem anderen vorzieht" und „charakteristisch für wichtige Sektionen der Scholem-Schule, wie schon R.J. Zwi Werblowsky bereits festgestellt hat"131. Mit diesem Hinweis auf die Sabbatianismus-Kontroverse und mancherlei ähnlichen Bemerkungen knüpft Idei an ältere Infragestellungen der Unvoreingenommenheit des zionistischen Historikers und seiner Schule an.132 Dies mußte ebenso provozierend wirken wie Idels Beobachtung, daß Scholems Konzentration auf die philologische Textforschung bei seinen Schülern zu einer defizitären Ideologie („an inert ideology of textology"133) geworden sei. Insgesamt werden seine Thesen weit über die Grenzen der Scholemschule M. Idei, Kabbalah: New Perspectives, New Häven-London 1988, 223. Ebd., l l f . 128 Vgl M. Idei, Rabbinism versus Kabbalism: On G. Scholem's Phenomenology of Judaism, Modem Judaism 1 1 , 1 9 9 1 , 281-296. 1 2 9 M. Idei, Subversive Katalysatoren: Gnosis und Messianismus in Gershom Scholems Verständnis der jüd. Mystik, in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 80-121. 1 3 0 Ebd., 104. 1 3 1 Ebd., 105. 1 3 2 Genauso wie mit der Feststellung, die Behandlung der Beziehungen zwischen Mystik und Messianismus sei typisch für die Scholemschule und ein typisch israelisches (sprich: zionistisches) Phänomen (vgl. ebd., 99). 133 New Perspectives, 23. 126

127

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hinaus als Angriff auf die bis dato ungebrochene Autorität Scholems empfunden.134 Auch wer Idels Buch nicht als „significant turning point" 135 der Kabbalaforschung feiert, muß doch mindestens „Veränderungen in der Atmosphäre der Judaistik" 136 konstatieren, Veränderungen, die sich auch auf die Scholem-Rezeption außerhalb der Mystikforschung auswirken. So werden beispielsweise die unterschiedlichen Ansätze als Ausdruck der Lebensumstände gedeutet, die den zionistischen Pionier von dem jüngeren Rumänen (der bei seiner Ankunft in Israel Religion, Zionismus und Kabbalaforschung als „normale" Tatsachen vorfindet) unterscheiden.137 Wie immer Scholems Werk gedeutet wird, stets wird es vor dem Hintergrund seines Lebenswegs gesehen, der ihn von Berlin nach Jerusalem führte. Die unüberschaubare Zahl an kleineren Publikationen zu Scholem läßt sich zusammenfassen, indem man sie nach dem jeweils leitenden Interesse unter die Oberbegriffe Säkularismus und Nationalismus subsumiert: Geht es den einen stärker um die Frage nach Scholems Beitrag zur jüdischen Theologie in der säkularen Moderne, so legen andere den Schwerpunkt eher auf die Bedeutung und Eigenart von Scholems Zionismus.

1.2.3 Deuter des Judentums zwischen religiöser Tradition und säkularer Moderne Noch bevor David Biale Scholems anarchistische Theologie auf den Begriff zu bringen sucht, wird der Kabbalaforscher als Theologe des Judentums interpretiert. Zwar fragt man auch nach den Grundprinzipien seiner Geschichtsphilosophie und Hermeneutik: Nathan Rotenstreich erklärt in einem einfluß134

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Dessen Auffassungen weithin als „geoffenbarte Wahrheiten betrachtet würden, wie Ch. Mopsik bemerkt (Une querelle à Jérusalem: la féminité de la Chekhina dans la cabale, Pardès 12, 1990, 16f.). Vgl. die Kontroverse zwischen Y. Tishby, Haßkha becheqer haqabbala {'alsifro shelM. Idei, Qabbab-perspeqtivot chadashoi), Zion 54, 1989, 209-222, und Idei, „Chadash 'asur min ha-tora", ebd., 223-240. Für die allgemeinere Scholem-Rezeption vgl. R. Alter, Jewish Mysticism in Dispute, Commentary 88, 1989, 53-59; M. Odenheimer, Kabbalah as Experience, Jewish Action 50, 1990,27-30. H. Tirosh-Rothschild, Continuity and Revision in the Study of Kabbala, ASJ Review 16, 1991, 167. Dan, Mystiker oder Geschichtsschreiber, 32. Vgl. Wohlfarth, „Haarscharf an der Grenze ..." (s.u. Anm. 164), 214f. mit Anm. 123. Tirosh-Rothschild, Continuity and Revision, 174, spricht ihrerseits vom Dialog zwischen dem vom französischen Strukturalismus beeinflußten Rumänen mit dem deutschen Juden aus dem Vorkriegsdeutschland.

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reichen Aufsatz den Begriff des Symbols (als Mittler zwischen Mensch und Gott) und die Ablehnung des Pantheismus zu den zwei Achsen, die „the epistemological and the ontological components [...] of Scholem's interpretative work" umfassen.138 Ihm folgt Jürgen Habermas, der zwei Motive aus Scholems Zehn unhistorischen Sätzen, das erkenntnistheoretische und das geschichtsphilosophische Motiv, als „Gelenke der Interpretation" bei Scholem überhaupt betrachtet.139 Auch Zwi Werblowsky macht sich Gedanken über „Scholems Methode sive Hermeneutik"140, indem er der metaphysischen Dimension nachgeht, die die jüdische Geschichte für Scholem besitze, seiner „provokativ unorthodox [en]" Solidarisierung mit der jüdischen Geschichte, die der Grund für Scholems innerjüdische Wirkung und Leistung sei.141 Doch im Vordergrund des Interesses steht im allgemeinen die Suche nach einer offenen oder verhüllten jüdischen Theologie. Schon zum fünfzigsten Geburtstag des Gelehrten hatte sein Schüler Josef Weiss mit einigen Bemerkungen zu Scholems „bewusst getriebener privater Esoterik"142 seinen Lehrer provoziert.143 Anläßlich des siebzigsten Geburtstags deutet Th.W. Adorno seinerseits den Historiker als einen heimlichen Mystiker, dessen geschichtliche, d.h. distanziert-säkulare Betrachtung der Kabbala nicht als Rückzug auf die Gelehrtenposition zu verurteilen sei: „der mystische Funke muß in ihm selbst gezündet haben", ist sich Adorno sicher und versteht Scholems Zurückhaltung nicht zuletzt als Schutz vor dem Subjektivismus des religiösen Existentialismus und als Ausdruck der Abneigung 138

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N. Rotenstreich, Symbolism and Transcendence. On Some Philosophical Aspects of Gershom Scholem's Opus, Review of Metaphysics 3 1 , 1 9 7 7 , 604-614; hebr. (gekürzt) in: Simäjut mha-techum ha-'ebhi, in: Scholem, 'Od Davar, 39-42; vgl. auch Rotenstreichs Schweid-Kritik (s.o. Anm. 113). Habermas, Die verkleidete Tora. Rede zum 80. Geburtstag von Gershom Scholem, Merkur 32, 1978, 96-105; beide Motive wirkten auf die Einschätzung des Messianismus (bzw. des nichtmessianischen Zionismus) und des Judentums (als geistiges Unternehmen, das Säkularisierung überleben kann). Habermas spricht hier vom „Theoretiker" Scholem, später davon, daß dieser „das Visier des Wissenschaftlers aufgeklappt und sich als negativen Theologen zu erkennen gegeben" habe (Habermas, In der Geschichte das Andere der Geschichte aufspüren, Babylon 10-11, 1992, 145). Werblowsky, Gedenkrede, 101. Ebd., lOlf. „Seine Esoterik ist nicht absolutes Verschweigen, sie ist eine Art von Camouflage. [...] seine Metaphysik offenbart sich im Verborgenen [...]. Die Wissenschaft ist Scholems Inkognito." J. Weiss, Gershom Scholem - 50 Jahre, Jedi'ot ha-jom 5.12.1947, zit. nach Scholem, Briefe I, 459. „Ein sehr netter und frecher Aufsatz." Scholem an H. u. E. Bergman am 15.12.1947 (Briefe I, 332).

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„gegen das Gesalbte von Ich und Du".144 Explizit widmet sich Ernst Simon „einigen theologischen Sätzen Gershom Scholems".145 Er deutet Scholems Schweigen von Gott als Bekenntnis zu ihm, nämlich als „indirekte Mitteilung" im Sinne Kierkegaards, und versucht dann, den persönlichen Charakter dieses Gottes sowie Scholems eigenen Glauben an Schöpfung, Offenbarung und Erlösung aus anderen indirekten Aussagen zu ermitteln. Seine vage Ausdrucksweise und das Ausweichen vor klaren Antworten wird Scholem nicht erst von Eliezer Schweid zum Vorwurf gemacht.146 Gershon Weiler kritisiert dies als Mangel an Verpflichtung seitens des Kabbalaforschers, der in dem Sammelband Devarim bego die Frage zu beantworten suche, wie man

ohne religiösen Glauben Jude sein könne und dadurch zu einem „Lehrer" von nationalem Rang geworden sei.147 Weilers kritische Auseinandersetzung mit dieser Position Scholems ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit von besonderem Interesse, da der Autor den Kabbalaforscher in die Nähe zu Rudolf Otto rückt. Wie dieser (und auch die existentialistischen Theologen des modernen Protestantismus) huldigt Scholem in den Augen Weilers jenem Irrationalismus, der den undefinierbaren Gott des mystischen Erlebnisses dem positiv bestimmbaren Gott der rationalen (maimonidischen) Theologie vorziehe. Es sind nicht zuletzt diese kritischen Bemerkungen Weilers, die David

144 Th.w. Adorno, NZZ vom 2.12.1967, vgl. Scholems Brief vom 8.12.1967 (Briefe II, 191f.). 145

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Über einige theologische Sätze von Gershom Scholem, MB, 8.12.1972, 3ff. und 15.12.1972,4ff.; vgl. Biale, Counter-History, 249 mit Anm. 51. Vgl. auch S.H. Bergmans Tagebuchnotiz vom 5.12.1957 (Tagebücher und Briefe II, 264) zur „Feier des 60. Geburtstags Scholems in der Schocken-Bibliothek [...] Es sprachen Agnon, Tischbi, Sadan, Emst, Shazar. Gerschom [sie] antwortete. Er wurde (wie schon vor zehn Jahren von mir) von Tischbi auf sein Glaubensbekenntnis hin gefragt und antwortete, indem er sich auf die vorhergegangenen Worte von Emst berief, man könne heute nur 'indirekt' sprechen." Vgl. H. Weiner, 9 1/2 Mystics. The Kabbala Today, New York 1969, 52-81, der Scholem verteidigt, er habe sich nur ehrlich zu den Grenzen des Wissenschaftlers bekannt; er zitiert den Kommentar eines Journalisten nach Scholems Vortrag über jüdische Mystik heute (nach dessen Ende Scholem sichtlich nervös und ohne Diskussion den Saal verlassen habe): „The striptease of thirty years is over. All has been revealed and there is nothing there." (ebd., 79). Weiner selbst sieht in Scholem weniger den halben Mystiker, wie der Buchtitel suggeriert, als vielmehr den distanzierten „Buchhalter" der Kabbala (nach der Titulierung eines Jerusalemer Rabbi für wissenschaftliche Mystikforscher), dessen Wissen und Meisterschaft allerdings auch von orthodoxen Juden in Jerusalem anerkannt werde. G. Weiler, 'al ba-U'ologja shel Gershom Scholem, Keshet71, 1976, 121-128.

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Biale zu seiner „Gegen-These" veranlassen, nach der Scholem „Buber's conception of revelation as experience"148 ablehnte. Gershon Weiler konzentriert sich wie nach ihm Eliezer Schweid ganz auf Scholems Reflexionen über jüdische Theologie von 1974, deren Bedeutung für die Scholem-Rezeption kaum zu überschätzen ist. In den Sonderbeilagen israelischer Tageszeitungen, die zum 80. Geburtstag erscheinen, wird explizit nicht nur der vielseitige Mystikforscher, Gelehrte und Lehrer, sondern auch der (heimliche) jüdische Theologe gewürdigt: So versteht etwa Rivka Schatz ihren Artikel über „Theologie im Zeichen der Krise der Autorität" als Versuch, das zwischen den Zeilen Verborgene in Scholems Essay über die jüdische Theologie aufzuspüren.149 Der eigenwilligste Versuch, zwischen den Zeilen des Scholemschen Werks zu lesen, stammt zweifellos von Harald Bloom, der schon in den siebziger Jahren damit beginnt, das kreativ fehlgelesene kabbalistische System der Sefirot für seine Theorie des literarischen Einflusses fruchtbar zu machen.150 In dem Kabbalaforscher selbst sieht der amerikanische Literaturkritiker eine „Miltonsche Gestalt": Wie Milton die christliche und klassische Tradition redefinierte und „ins Miltonsche wendete", so müsse nach Scholem „ein Jude, der jüdische Spiritualität abseits der normativen Gruppierungen finden will, wohl erst durch Scholem hindurchgehen, weil in unserer Zeit kein anderer die Sprache des esoterischen Judentums mit gleicher Autorität zu sprechen vermochte"151. Für 148

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Biale, Counter-History, 109. Der Autor erklärt hier mit Bezug auf Weilers Aufsatz, daß Scholem einen dritten Weg entworfen habe - eine Alternative zur rationalen Theologie (bzw. zur maimonidischen Attributenlehre, von der Weiler spricht) einerseits und zur protestantischen und Buberianischen Erlebnistheologie („the logically meaningless 'experiental' theology") andererseits. R. Schatz, „Cherut 'al ha-luchot' — te'olopija be-Hman mashber shel samkhut, in: Gtrshom Scholem - Ha-mafil rveha-'ish, Jedi'ot 'Acharonot 2.12.1977, Gillajon mejuchad bimeWat 80 shana leGenhom Scholem, 4.6. H. Bloom, Kabbala. Poesie und Kritik, Basel-Frankfurt a.M. 1988 (Kap. 1 = Kabbalah and Criticism, Commentary 59/3, 1975, 57-65). „It's a free country", lautete Scholems Kommentar dazu nach Cynthia Ozick, die den Gelehrten ihrerseits auf der Suche nach dem verborgenen „Schatten-Scholem" (Scholem) aufsucht (The Fourth Sparrow [1983], in: Bloom (Hg.), Gershom Scholem, 125-135). Vgl. auch N. Finkelstein, The Ritual of New Creation: Jewish Tradition and Contemporary Literature, Albany/New York 1992, 49-61, der weniger Scholems Werk interpretiert, als den Beitrag von Scholems Ideen über Kommentar und Tradition zu Theorie und Praxis „postmoderner" jüdischer Literaturkritik aufzeigt. H. Bloom, Scholem. Unhistorischer oder jüdischer Gnostizismus, in: H. Bloom, Kafka Freud - Scholem. 3 Essays, Basel-Frankfurt a.M. 1990, 78 (der Essay erschien zuerst in: Babylon 1, 1986, 70-83).

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Literatur zu Gershom Scholem

Bloom ist der Historiker „der heimliche Theologe der jüdischen Gnosis" 1 5 2 , sein Werk „der Entwurf zu einer neuen Theorie des Lesens und zu einer neuen, auf die antike Gnosis gegründeten Theosophie" 1 5 3 . Als bewußtes „philologisches Äquivalent zu Kafka" 1 5 4 wandle Scholem ebenfalls auf der Linie zwischen Religion (normativem Judentum) und Nihilismus. Eine stetig wachsende Zahl von Scholem-Interpreten betrachtet den Historiker als typischen Vertreter der literarischen Moderne aufgrund seiner Fähigkeit zur Emphase, seiner Vorstellungskraft und seines Ideenreichtums - kurz: „the quality o f imagination" 155 , wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Alter bereits Anfang der siebziger Jahre formuliert. 156 Nicht alle, die Scholem als Begründer einer modernen (Literatur-)Theorie der jüdischen Tradition begrüßen, betreiben eine so aggressive „Fehl-Lektüre" wie Bloom. Fast alle aber nutzen Franz Kafka, dessen Schriften der Kabbalaforscher selbst als „säkularisierte Darstellung des (ihm selber unbekannten) kabbalistischen Weltgefuhls" 157 gedeutet hatte, als Schlüssel zum Verständnis des Scholemschen Werks. Meist mit engem Bezug zum diesbezüglichen Briefwechsel zwischen Benjamin und Scholem 158 , untersucht man die jeweiligen Auf-

Ebd., 59. Ebd., 60; vgl. auch Blooms „double reading" der ]ugmdmnntrungen, die direkt und kabbalistisch gelesen werden müßten, nämlich als politische Parabel für DiasporaIntellektuelle, die implizit zum Zionismus zwingt, und als Erzählung einer Suche nach spirituellen Wurzeln, die in der Formulierung der jüdischen Gnosis endet (in: Scholem, From Berlin to Jerusalem, New York 1988, vii-xxi). 1 5 4 Bloom, Unhistorischer oder jüdischer Gnostizismus, 71. 1 5 5 R. Alter, The Achievement of Gershom Scholem, Commentary 55, 1973, 71. Hinzu kommen die „modernen" Themen: Mystik als Sichtbarmachen des „Abgrunds", als Sprachmystik und neuer Mythos. Spätere Deutungen vorwegnehmend betont Alter außerdem den nüchtern-skeptischen Charakter der Neoromantik des Historikers, der wie die nietzscheanischen Dichter das Erbe einer historischen Gegenkultur („counterculture") entdeckte und dessen Werk einen Akt sozialer Rebellion darstelle: eine Waffe „used to épater le bourgeois" (ebd., 72; vgl. Werblowsky, Hirburim 'al ,JSbabbetaj Zevi", 542). 156 Vgl auch bereits Alter, Sabbatai Zevi and the Jewish Imagination, Commentary 43, 1967,66-71. Auch G. Steiner, Inner Lights, The New Yorker, 22.10.1973, 152-174, zählt den Autor von Sabbatai Zui zu den Erben Prousts. 1 5 7 Scholem, Zehn unhistorische Sätze über Kabbala: Judaica 3, 271. 1 5 8 Ausnahme ist Marina Cavarocchi-Arbib, Scholem als Interpret von Kafkas „Vor dem Gesetz", in: Manfred Voigt (Hg.), Franz Kafkas „Vor dem Gesetz", Würzburg 1994, 147-163 (sie bezieht sich ausdrücklich nicht auf Benjamin und berücksichtigt statt dessen Scholems nachgelassene Notizen, bes. zur Parallele zwischen Kafka und Hiob). Andere wiederum behandeln die Debatte zwischen Scholem und Benjamin mit aus152

153

Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation

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fassungen nicht, um zu klären, inwieweit Scholems theologische Interpretation dem Prager Dichter gerecht wird. Ziel ist vielmehr das tiefere Verständnis der Gemeinsamkeiten zwischen dem Dichter und dem Historiker, ihrer ,,historisch-psychologische[n] Wahlverwandtschaft"159, wie Stéphane Mosès formuliert. Beide gelten als Angehörige „jener Generation verlorener und gleichzeitig rebellischer Söhne [...], denen vom Vater lediglich ein einziges Gebot gegeben worden war, nämlich einer Identität treu zu bleiben, die jeden Inhalt verloren hatte"160. Und beide gelten als Vertreter jener Theologie des „Nichts der Offenbarung", die Scholem in Kafkas Werk so unübertroffen zum Ausdruck gebracht sieht. Scholems eigenes historisches Werk gilt - für Stéphane Mosès wie auch für David Biale161, Robert Alter 162 oder Susan A. Handelman163 - als Antwort auf die allgemeine „Krise der Tradition". Als „Theologie des 'Und wenn schon?'" stellt sich für Irving Wohlfarth diese Antwort dar. In seinen Augen ist Scholem der Theologe des Zim^urrr. ein Theologe, dessen Gott sich ins Nichts zurückgezogen hat und bei dem die messianische Idee sich verflüchtigt habe zum trotzigen Widerstand gegen das

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schließlichem Interesse an Benjamins Kafka-Deutung, die "Brechts Materialismusprinzip und Scholems Mystikvorstellung" zu versöhnen versuche (so z.B. P. Beicken, Kafkas 'Prozeß' und seine Richter. Zur Debatte Brecht-Benjamin und Benjamin-Scholem, in: B. Bennet u.a. [Hg.], Studien zur deutschen Literatur von Nietzsche bis Brecht, FS W. Sokel, Tübingen 1983, 343-368, Zitat: 361). St. Mosès, Zur Frage des Gesetzes: Gershom Scholems Kafka-Bild, in: K.E. Grözinger u.a. (Hg.), Kafka und das Judentum, Frankfurt a.M. 1987, 13-34 (Zitat: 16); leicht verändert in: St. Mosès, Der Engel der Geschichte, Frankfurt a.M. 1994, 185-214; darin auch eine Interpretation von Scholems Bekenntnis über unsere Sprache von 1926 (das auch schon bei Brocke, Franz Rosenzweig und Gershom Scholem, 148ff., abgedruckt ist). Mosès, Der Engel der Geschichte, 190 (vgl. ders., Zur Frage des Gesetzes, 16). Biale, Scholem's Ten Unhistorical Aphorisms, 90; vgl. auch Counter-History, 2. Aufl., 33.135. R. Alter, Necessary Angels. Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin, and Scholem, Cambridge/Mass. 1991. In dieser späteren Publikation mahnt Alter besonders eindringlich (und mit Recht) vor der Tendenz, Kafka, Benjamin und Scholem (der in der Tat „a decade before the spread of the vogue" als poststnikturalistischer Literaturtheoretiker erscheinen könne) zu „Propheten unseres eigenen postmodemen Dilemmas" zu machen und dabei ihre Verwurzelung in den spirituellen Problemen des deutschen Judentums im frühen 20. Jahrhundert aus dem Auge zu verlieren. Man dürfe nicht vergessen, daß ihre Suche nach einem Judentum eine Suche nach Gott gewesen sei (vgl. ebd., 87.89f.)! S.A. Handelman, Fragments of Redemption. Jewish Thought and Literary Theory in Benjamin, Scholem, and Lévinas, Bloomington-Indianapolis 1991, 47-55. Die Anglistin möchte, indem sie Benjamins und Scholems Ideen über Sprache und Messianismus im Licht jeweils des anderen liest, die Beziehungen zwischen Literaturtheorie, Theologie und Philosophie und die enge Verschlingung von „Heiligem und Profanem" aufzeigen.

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Literatur zu Gershom Scholem

dogmatische Selbstverständnis einer gottlosen Moderne.164 Auch bei Wohlfarth steht im Mittelpunkt jene Verbindung von religiöser Tradition und säkularer Kultur, die Zwi Werblowsky als „das große persönliche Problem des Juden Scholem"165 diagnostiziert. Als negativer Theologe und Vermitder zwischen Judentum und Moderne gilt Scholem nicht nur wegen seiner Schriften zur kabbalistischen Symbolik und Sprachtheorie, in denen er über das Verhältnis von Offenbarung und Tradition handelt. Mindestens ebenso wichtig sind seine Äußerungen über das Wesen und die historische Bedeutung des mystischen Messianismus, die stets (wie bei David Biale) als eine Philosophie der Geschichte gelesen werden. Stéphane Mosès interpretiert die von Scholem aufgezeigten „Aporien des Messianismus"166 dabei nicht nur im Lichte der Schriften Walter Benjamins, sondern auch in ihrem Verhältnis zu Franz Rosenzweig. Was demnach die drei jüdischen Denker vor allem verbindet, ist ihre Sicht der Geschichte als einen diskontinuierlichen, von Krisen und Brüchen gezeichneten Prozeß,167 deren Zentrum die messianische Utopie bildet: die Hoffnung auf die jederzeit mögliche Erlösung.168 Scholems Auffassung des jüdischen Messianismus wird - weit über die Diskussionen um seine (Über-)Bewertung des Apokalyptisch-Häretischen hinaus

164 j Wohlfarth, „Haarscharf an der Grenze zwischen Religion und Nihilismus". Zum Motiv des Zimzum bei Gershom Scholem", in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 176-256; vgl. schon Habermas, Die verkleidete Tora, zum Motiv der Selbstnegation Gottes. Bei aller Bedeutung, die der Zimzum zweifellos für Scholems Denken (über die säkulare Moderne) hat, läßt sich jedoch nicht behaupten, daß er ihn als allgemein-jüdischen „Grundbegriff' betrachtet, wie Christoph Schulte aus der Aufnahme von Schöpfung aus Nichts und Selbstvenchränkung Gottes in die Sammlung der Grundbegriffe des Judentums folgert (Scholem und Molitor [s.u. Anm. 184], 160 Anm. 48). Tatsächlich gilt hier die Crtatio ex nihib als solcher Grundbegriff, das Konzept des Zimzum dagegen als Höhepunkt in der Entwicklung der mystischen Umdeutung dieses Begriffs und somit (der geschichtlichen Wirklichkeit gemäß) als ein auf das mystische Judentum beschränktes Konzept. 165

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Werblowsky, Tradition in „säkularer" Kultur, in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 70-79. Mosès, Der Engel der Geschichte, 163-184 (= Kap. 7). So auch Biale, Counter-History, bes. 154. Vgl. Mosès, Der Engel der Geschichte, 18ff. Vgl. auch L. Jäger, Unter Zauberern. Gershom Scholems Briefe von 1948 bis 1970, Literaturbeilage der F.A.Z. vom 10.10.1995, 36, für den sich Scholems gesamtes Forschungsprogramm als „Versuch, im Innern des Judentums einen modernen Begriff der Geschichte zu formulieren", darstellt.

Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation

43

- zum zentralen Gegenstand des Interesses 169 — so sehr, daß Sigrid Weigel in einem Aufsatz zu Scholems Gedicht An Ingeborg Bachmann den Kabbalaforscher als den „als Historiker des Messianismus bekanntefn] Gershom Scholem,, 1 7 0 einführt. Sie selbst vernachlässigt in ihrer Interpretation allerdings so sehr Scholems Zionismus, daß sie dem von ihr interpretierten Gedicht kaum gerecht wird. Denn Scholems Messianismusdeutung ist wie sein gesamtes Werk unlösbar mit seinem Zionismus verbunden. 1 7 1

1.2.4

Scholems Zionismus und sein „deutsches Erbe"

Die Verbindung v o n Scholems Lebenswerk mit seinem jüdischen Nationalismus, Zielscheibe der Polemik Kurzweils und Ausgangspunkt v o n Biale wie Dan, ist immer wiederkehrendes Thema der Scholem-Rezeption. 172 Mit besonderem Nachdruck rückt Abraham Shapira Scholems „zionist-existential approach" in den Mittelpunkt der Betrachtung. Als einer der Herausgeber von Scholems Nachlaß betont er die Bedeutung der frühen Aufzeichnungen über

169

Typisch z.B. A.Rh. Rosen, Versions of catastrophe (Shakespeare, Defoe, Scholem), Diss. Boston University, Ann Arbor/Mich. 1988; E. Stewart, Destroying Angels: Messianic Rhetoric in Benjamin, Scholem, Psychoanalysis and Science Fiction, Diss. New York 1994; „the highlights of Scholem's research in this area" resümiert J. Dan, Gershom Scholem and Jewish Messianism, in: Mendes-Flohr (Hg.), The Man and His Work, 73-

170

S. Weigel, Gershom Scholem und Ingeborg Bachmann. Ein Dialog über Messianismus und Ghetto, Zeitschrift für Deutsche Philologie 115, 1996, 608-616 (vgl. bereits DIE ZEIT vom 21.6.1996, S. 48). „Die Stunde der Erlösung ist vorüber,/der Untergang am letzten Abend - leicht": dies ist bei Scholem gewiß weniger Ausdruck einer „postmessianischen Position" nach der Shoah, wie Weigel meint, als vielmehr eine „postzionistische" Haltung nach dem Scheitern des Zionismus, den „die Hybris des Erlösungswunsches" verdarb, wie es in den Esoterica (s.u. Anm. 173) heißt. VgJ. die überzeugendere Deutung des Gedichts bei Wohlfarth, „Haarscharfan der Grenze ..." 203ff. So auch bei Urbach, 'al Gershom Scholem, 437; J. Ben-Shlomo, The Spiritual Universe of Gershom Scholem, Jerusalem Quarterly 29, 1983, 127-144 (leicht verändert in: Modern Judaism 5, 1985, 21-38); H. Maccoby, The Greatness of Gershom Scholem, Commentary 76/3, 1983, 37-46. Vgl. auch Biales Beschreibung von Scholems Zionismus als „Gegen-Nationalismus" (Scholem und der moderne Nationalismus, in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 257-274).

86.

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Literatur zu Gershom Scholem

die „esoterischen" Dimensionen des Zionismus 1 7 3 für das Verständnis der geistigen Physiognomie des Gelehrten. 1 7 4 Schon 1 9 7 8 erklärt Henry Pachter sich hiermit die Breitenwirkung von Scholems W e r k überhaupt: Es sei die originelle und existentielle Verbindung der Geschichte der jüdischen Mystik mit seinem spirituellen Zionismus, die den Historiker zum „mythmaker" der jüdischen Nation gemacht habe. 1 7 5 Aufgrund seiner zionistischen Überzeugung habe er erkannt und mit seiner Geschichte der Mystik gezeigt, daß das Judentum primär die Religion der Unerlösten im Exil sei. Bei allem Respekt kritisiert Pachter jedoch sowohl Scholems Vernachlässigung der nichtjüdischen Geschichte als auch die politische Naivität des Kulturzionisten. 176 In seiner Jerusalemer Gedenkrede bestimmt Nathan Rotenstreich die Idee einer Rückkehr zur Geschichte (und geschichtlichen Verantwortung!) unter Betonung der ethischen Entscheidung

des Einzelnen als Quintessenz von Gershom Scholem's Conception ofJewish Naíio-

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Zur posthumen Publikation bestimmt unter dem Titel Esoterica: Metaphysica. Über Judentum und die esoterische Seite des Zionismus 1917-1933·. F. Niewöhner, Im Brennpunkt der Historie. Selbstkritik des Zionismus: Gershom Scholems esoterische Aufzeichnungen der Jahre 1930/31, FAZ 29.10.1997. A. Shapira, Vorwort zu: Od Davar, 12-22; und: Risgfut umered, 7-24; sowie ders., The Symbolic Plane and its Secularization in the Spiritual World of Gershom Scholem, The Journal of Jewish Thought and Philosophy 3, 1994, 331-352. Auch fur ihn Scholems Werk insgesamt von der Spannung geprägt zwischen strenger Wissenschaft („a kind of sacred service": Symbolic Plane, 345) und der intuitiven Bejahung mystischer Thesen. Mit seiner Deutung von Scholems Auffassung der „symbolischen Ebene und ihrer Säkularisierung" folgt er Rotenstreich (s.o. Anm. 138). H. Pachter, Masters of Cultural History. Gershom Scholem - The Myth of the Mythmaker, Salmagundi 40, 1978, 9-39. Vgl. Α. Funkenstein, Charisma, Kairos und messianische Dialektik, in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 14-31, der die Einschätzung des Sabbatianismus als antithetische Präfiguration des Zionismus zu den wichtigsten Gründen für das „Charisma" des Forschers, der die Aktualität der Mystik auch fur die Gegenwart erkannt habe, zählt. Ahnlich F. Niewöhner, Scholems „Sabbatai Zwi" - Mystik und Moderne [Vortrag in der Hessischen Landesvertretung am 28.4.1992], hg. vom Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie und Bundesangelegenheiten, Wiesbaden o.J. (= Babylon 10-11, 1992, 146-157). Abgesehen von der Überbewertung der Mystik (Pachter, Masters of Cultural History, 37). Mit der Verbindung von Mystik und nationaler Regeneration allein sei Scholem nicht originell, sondern nur mit dem irrationalistischen Strom der Zeit geschwommen (ebd., 14). Vgl. auch S. Berti, A World Apart?, JSQ 3, 1996, 213-224, die ihrerseits Scholems von Nationalismus und Leugnung des deutsch-jüdischen Dialogs bestimmte „internalistische" Historiographie kritisiert, mit Sabbatai Zm als Beispiel.

Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation

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nalismP1. Mit Scholems Gegnerschaft gegen die Assimilation und der Trennung von religiösem Messianismus und säkularem Zionismus spricht Rotenstreich Aspekte an, die auch andere Autoren immer wieder hervorheben.178 Die Art und Weise, wie der Zionismus die intellektuellen und institutionellen Konturen der jüdischen Geschichtswissenschaft an der Hebräischen Universität überhaupt prägte, versucht D.N. Myers in seiner 1995 als Buch veröffentlichten Dissertation aufzuspüren.179 Der Autor, der sich bereits der Scholem-Kurzweil-Debatte angenommen hatte, weil sie die wichtige Frage nach dem Verhältnis von Zionismus, jüdischer Identität allgemein und Geschichtsschreibung aufwerfe, rekonstruiert die Geschichte des Institute of Jewish Studies und widmet sich dann kapitelweise nacheinander Y.F. Baer, B.Z. Dinaburg und G. Scholem. Dessen Werk zeugt demnach von einer gespaltenen Identität („bifurcated identity") in doppelter Hinsicht: Wie die Jerusalemer Historiker überhaupt sei der Kabbalaforscher hin- und hergerissen zwischen seiner zionistischen Identität und seiner Herkunft aus der deutschen Kultur 180 ; außerdem bewege er sich als „historian qua theologian"181 zwischen kritischer Distanz und emphatischer Identifikation. Auf Scholems deutsche Wurzeln wird immer wieder hingewiesen - mit oder ohne Bezugnahme auf Scholems (Kultur-)Zionismus182 und seine Theologie

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In: Mendes-Flohr (Hg.), The Man and His Work, 104-119; deutsch, um den letzten Absatz gekürzt: Gershom Scholems Gedanken über den jüdischen Nationalismus, Kirche und Israel 12/1, 1997, 46-56. Vgl. z.B. P. Bouretz, Questions après l'assassinat d'Itzhak Rabin. Dialectiques du sionisme et sécularisation d'Israël, Esprit Nr. 217, Dezember 1995,112-122, der anhand eines imaginären Dialogs mit L. Strauss den unpolitischen Nationalismus Scholems analysiert, der die Gefahr eines Wandels vom religiösen zum messianischen Zionismus frühzeitig erkannt habe. D.N. Myers, „Re-Inventing the Jewish Past". European Jewish Intellectuals and the Zionist Return to History, New York-Oxford 1995 (vgl. D.N. Myers, „From Zion Will Go Forth Torah": Jewish Scholarship and the Zionist Return to History, Diss. Columbia University 1991). Nach Myers' psychologisierender Deutung der Polemik gegen die Wissenschaft des Judentums empfand Scholem dieser gegenüber Identifikation und Entfremdung - und ein Ziel für die Übertragung von Zorn und Schuldbewußtsein, selbst dem Holocaust entronnen zu sein (vgl. ebd., 167f.). Ebd., 171; vgj. die Überschrift des Kapitels: „Between "Pure Science' and 'Religious Anarchy'". Α. Hertzberg, Gershom Scholem as Zionist and Believer, Modem Judaism 5, 1985, 3-19; G.L. Mosse, Gershom Scholem as a German Jew, Modern Judaism 10, 1990, 117-133. Außer dem Einfluß des romantischen deutschen Nationalismus behandelt Mosse auch

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Literatur zu Gershom Scholem

des Judentums. In seiner Laudatio zur Verleihung des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim (1969) hatte Hans Georg Gadamer Scholem als „Schüler der großen historischen Schule deutscher und romantischer Herkunft" gewürdigt - und damit die wesentlichen Momente zusammengefaßt, in denen gemeinhin „Scholem's debt to German thought" 1 8 3 gesehen wird: seine philologische Methode und das Beharren auf strenger Wissenschaftlichkeit einerseits und das Erbe der deutschen Romantik 1 8 4 und Neoromantik andererseits. Auch Michael Löwy betrachtet Gershom Scholem in erster Linie als Repräsentanten des deutschen Judentums. 1 8 5 Er untersucht die „Wahlverwandtschaft" 1 8 6 zwischen dem jüdischen Messianismus und den Utopien mitteleuropäischer Anarchisten im Denken deutscher Juden des beginnenden 20. Jahrhunderts. Bezüglich Scholem hebt er im Unterschied zur allgemein vorherrschenden Meinung hervor, daß der Anarchismus und nicht der Zionismus für ihn die messianische Utopie par excellence sei. Anarchismus sei „Scholem's own vision of the world" 1 8 7 . Als solche sei er eine der geistigen Quellen für das ausgeprägte Interesse des Historikers an den häretisch-messia-

Scholems Konzept von Bildung als „seif cultivation" im Sinne Goethes und Humboldts, das ein genuin deutsches Ideal verkörpere. 1 8 3 A. Momigliano, Gershom Scholems Autobiography, in: ders., On Pagans, Jews, and Christians, Middletown/Connecticut 1987, 258; vgl. Maccoby, The Greatness of Gershom Scholem, 37; Berti, A World Apart?, 214ff.; und bereits I. Rosenzweig, Qabbala umabpekha, Molad N.F. 1, 1967/68, 442-451, der die Herkunft aus Deutschland zu einer Zeit der „Gärung" betont. Er würdigt vor allem, daß Scholem, der die Religion (wie schon Dilthey, Weber, Sombart und Troeltsch) als revolutionäre gesellschaftliche Kraft begriffen habe, sich um die Erforschung der „Dialektik von Ideologien" verdient machte. 184 v g j auch G. Schocken, Gershom Scholem und die deutsch-jüdische Romantik, Philobiblon 27/2,1983,112-120; Ch. Schulte, „Die Buchstaben haben ... ihre Wurzeln oben." Scholem und Molitor, in: E. Goodman-Thau/G. Mattenklott/Ch. Schulte (Hg.), Kabbala und Romantik, Tübingen 1994,143-164. 1 8 5 „Their thinking was profoundly, 'organically' and inseparably Judeo-Germanic": M. Löwy, Redemption and Utopia. Jewish Libertarian Thought in Central Europe, London 1992, 1. (Das Buch erschien zuerst auf französisch paris 1988], als Artikel im Archives des Sciences Sociales des Religions 51, 1981; das Projekt-Exzerpt wurde 1979 noch mit Scholem durchgesprochen). 1 8 6 Als soziale Kategorie: gemeint ist eine Beziehung zwischen zwei soziokulturellen Konfigurationen, die nicht auf direkte Kausalität oder Einflüsse reduziert werden kann (z.B. Utopismus als säkularisierter Messianismus), sondern in einer Wechselwirkung besteht, die auf gegenseitiger Anziehung beruht. 1 8 7 Löwy, Redemption and Utopia, 67; vgl. auch Biale, Counter-History, 65, zu Scholems Sympathie für die revolutionären Anarchisten zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

Scholems Werk als Gegenstand der Interpretation

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nischen Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts und eine der Wurzeln für seine tiefe Affinität zu Benjamin. Wieder stärker als Zionist und doch zugleich als Vertreter des deutschen Judentums erscheint der Kabbalaforscher bei St.B. Smith, der die Differenzen zwischen Gershom Scholem und Leo Strauss herausarbeitet, um so ihren eigenen „deutsch-jüaischen Dialog" zu rekonstruieren, einen Dialog zwischen „zwei großen Repräsentanten Mitteleuropas".188 Thomas Sparr interpretiert Scholems geschichtsphilosophischen Entwurf im Lichte von anderen „ganzheitlichen Entwürfen" deutscher Juden in den zwanziger Jahren. Auch wenn sie einander vermutlich nie begegnet seien, sei die Konzeption von Karl Mannheims Ideologie und Utopie aus dem Jahre 1929 „auch in Scholems Erforschung des jüdischen Messianismus am Werk"189. Gary Smith wiederum bringt Scholem gemeinsam mit Walter Benjamin in Zusammenhang mit den deutsch-jüdischen „Esoterikern" O. Goldberg, E. Unger und E. Gutkind. Er zeigt Analogien auf, insbesondere hinsichtlich des jeweiligen Zeit- und Geschichtskonzepts, und möchte damit einen Beitrag zur Geschichte der jüdischen Intellektuellen in der Weimarer Republik leisten.190 Ungeachtet aller Differenzen über Scholems Motive, die ihn zur Erforschung der jüdischen Mystik führten, ist man sich einig, daß die Rebellion gegen den „Selbstbetrug" (Scholem) der Assimilation das zentrale Grundmotiv für Scholems Lebenswerk ist, das ihm die Geschichte der jüdischen Religion und gleichzeitig das Schicksal der jüdischen Nation zum Herzensanliegen werden ließ. Scholems Rebellion wird als eine doppelte aufgefaßt: als Revolte gegen das Exil der jüdischen Religion in der säkularen Moderne, dem er seine 188

St.B. Smith, Gershom Scholem and Leo Strauss: Notes Towards a German-Jewish Dialogue, Modem Judaism 13, 1993, 209-229 (Zitat 210, im Original deutsch: „two great representatives of mittel Europa")·, der Autor vergleicht im einzelnen die jeweiligen Auffassungen über die Geschichte (und die Rolle der Mystik bzw. der Philosophie), über die Moderne (und die Bewertung der Vernunft) und schließlich darüber, was „jüdische Identität" ausmache. Zu Strauß und Scholem vgl. auch I. Shedletzky, „Zum wirklichen Zentrum des Judentums". Eine Kontroverse zwischen Gerhard (Gershom) Scholem und Ludwig Strauß, Jüdischer Almanach des LBI 1993, Frankfurt a.M. 1992, 96-103 (zum Briefwechsel über George und Hölderlin August-November 1918).

189

Th. Sparr, „Ideologie und Utopie" als Motiv in der deutschen Wissenschaftsgeschichte, Merkur 4 9 / 6 , 1 9 9 5 , 538-543, zum Verhältnis von Scholem und K. Mannheim. Scholem bezeichnet Mannheim (was Sparr merkwürdigerweise unerwähnt läßt) als „einen der begabtesten Schüler Max Webers" (GeF, 142). G. Smith, „Die Zauberjuden": Walter Benjamin, Gershom Scholem, and Other GermanJewish Esoterics Between the World Wars, The Journal of Jewish Thought and Philosophy 4 , 1 9 9 5 , 2 2 7 - 2 4 3 .

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48

Literatur zu Gershom Scholem

Deutung eines im neuen Sinne „traditionellen" Judentums entgegensetzt, und als Revolte gegen das Exil des jüdischen Volks ohne geschichtliche Eigenverantwortung. Bei alldem gilt das Werk des rebellischen Zionisten, der das Deutschjudentum als Illusion entlarven wollte, wenn nicht gar als „lebender Beweis der deutsch-jüdischen Symbiose"191, so doch jedenfalls als „kostbares Ergebnis der tragisch-furchtbaren Geschichtsstunde, die ihresgleichen bisher nicht hatte und die so nicht wiederkehren wird: der Euphorie des deutschen Judentums vor seiner Vernichtung"192.

191

Ben-Chorin, Gershom Scholem, 171; vgl. Ch. Schmidt, Das Hören der Bilder und das Sehen der Stimmen. Zu Gershom Scholems Deutung der deutsch-jüdischen Geschichte, Jüdischer Almanach des LBI 1994, Frankfurt a.M. 1993,141-152 (eine Interpretation der Metaphorik der Töne in Scholems Rede über Deutsche und Juden als Anspielung auf die archaische Urszene, in der Herder den Ursprung der Sprache aus dem Schrei und Ton der Leidenschaft schildert): Scholem, so der Autor zum Schluß, habe seine eigene Affinität zum deutschen Denken (Novalis, Baader, Schelling und Molitor) verdrängt, „eine Affinität, die die These von der Nichtexistenz des deutsch-jüdischen Gesprächs zumindest zweifelhaft erscheinen läßt" (ebd., 151). Ähnlich S. Berti, A World Apart?, 215.

192

E. Simons, Das dunkle Licht, MB 5.4.1974, 5; vgl. auch R. Weltsch, Deuter des Judentums, 531.

2 Der „Schafspeb: des Philologen": Scholems Selbstverständnis als Historiker Die heftigen Diskussionen um die Beeinflussung von Scholems Wissenschaft durch seine nationalistischen Überzeugungen und Interessen oder durch metaphysische Anschauungen philosophischer oder gar mystischer Natur machen es notwendig, die der folgenden Werkdeutung zugrundeliegende Auffassung von Scholems Selbstbild als Historiker der Kabbala zu explizieren. Trotz aller Bemühungen von Joseph Dan, dem Bild vom Historiosophen das seiner Meinung nach adäquatere Bild des sachlich-nüchternen, objektiven Historikers entgegenzusetzen, überwiegt insgesamt die Vorstellung vom „mythmaker" oder jedenfalls „Mehr-als-nur-Historiker", der nicht nur — oder sogar nicht eigentlich — historische, sondern philosophische oder theologische Einsichten vermitteln will, obwohl er sich nach außen unter dem Deckmantel des Philologen verbirgt. Da die Deutung und Wertung von Scholems Selbstverständnis als „reiner" Historiker so umstritten ist und ich mich nicht uneingeschränkt der einen oder anderen Auffassung anschließen möchte, scheint es mir unumgänglich, noch einmal die Quellen selbst zu Wort kommen zu lassen: Scholems eigene verstreute Äußerungen über seine Religiosität, über die Rolle mystischer Praxis und vor allem über Aufgabe, Sinn und Grenzen der historischen Kritik und ihr Verhältnis zu „unhistorischen" Einsichten und Erkenntnissen. Vermehrt durch die neueren, postumen Veröffentlichungen der frühen Tagebücher und Briefe finden sich insgesamt doch recht viele Aussagen darüber, jedenfalls mehr als nur der in diesem Zusammenhang vielzitierte Brief an Salman Schocken, dem Scholem Ein offenes Wort über die wahren Absichten meines Kabbalastudiums enthüllt, und die Zehn unhistorischen Sät^e über Kabbala (deren erster durch den Schocken-Brief erläutert wird). Daß man stets Scholems Zurückhaltung in Glaubensdingen betont, behält dennoch seine Gültigkeit, insofern

50

Der „Schafspelz des Philologen"

er sich in der Tat in der Öffentlichkeit erst recht spät, nur selten geradeheraus und nie wirklich ausführlich offenbarte.1

2.1 Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus

2.1.1 „I have never cut myself off from God ..." Die Frage, die - auf den ersten Blick jedenfalls - relativ eindeutig zu beantworten ist, ist die nach Scholems eigener Religiosität im allgemeinsten Sinne, bekannte der Kabbalaforscher doch wiederholt und offen seinen Glauben an Gott. Seit Mitte der sechziger und vor allem in den siebziger Jahren formulierte er deutlich genug seine Überzeugung von der „Existenz Gottes (an der ich nie gezweifelt habe)"2. Er erweckt dabei den Eindruck einer früh und unerschütterlich feststehenden Gewißheit, während Briefe und Tagebücher durchaus sein frühes Ringen um Gottesglauben bezeugen. Zur Zeit seiner Verehrung für Martin Buber identifiziert er sich — in Anlehnung an Kierkegaard - mit dem „Denker", der im Unterschied zum „Gläubigen" anderen predigt, sich selbst aber nicht helfen kann: Ich predige den Chassidismus, die Mystik, Buber, den Sozialismus als neue Religiosität, aber ich weiß nicht, wo der Gott wohnt, von dem ich rede, und ich weiß nicht, ob er da ist. Ich kann nicht mal sagen, ich glaube. Nein, ich hoffe nur. U tin ami'

Im Januar 1915 grübelt er darüber, daß man „in den letzten hundert Jahren den alten Himmel so gründlich eingerissen [hat], daß er für immer weg ist". Als Ergebnis seiner Reflexionen ist er sich „nun darüber im Klaren, daß ich an keinen persönlichen Gott glaube und an einen, der nur die Idee der Sittlichkeit 1

2

3

Vgl. jetzt auch Scholems den Schocken-Brief vorwegnehmende Einleitung zu „Betrachtungen über den Sinn und die Erscheinung der Kabbala" von 1921, ediert und analysiert von P. Schäfer, „Die Philologie der Kabbala ...". VBnJ, 142; bereits 'Alchinnukh la-jabadut (1963), in: Od Davar, 111.114 (= Education for Judaism, 209.211); vgl. With Gershom Scholem, 35; GeF, 73; Irving Howe Interviews Gershom Scholem, 55 („The only thing in my life I have never doubted is the existence of God"); Mendes-Flohr, Divided Passions, 346, zum Protokoll des Ηα-'οί von 1939 (s.u.), wonach Scholem - einer von Magnes hinzugefügten Notiz zufolge - sein Statement mit dem Bekenntnis Schloß, er glaube an Gott, alles weitere sei zweifelhaft und offen für Diskussionen. Tagebücher 1913-1917,42 (Notiz vom 15.11.1914) (Hervorhebung i.O.).

Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus

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verkörpern soll, noch weniger! Mein Gott ist wohl nur ein Ideal meiner Träume vom erfüllten Menschenleben".4 Besonders im Sommer 1915 durchlebt er Zeiten einer „gottfeindlichen Stimmung", in denen er beim Anblick des noch sternenlosen Abendhimmels überlegt, daß da kein Gott sein kann, der all das lenkt, daß das alles so schön, so ganz unpersönlich harmonisch ist, daß ich keinen Gott darin aushalten könnte. [...] Es ist so gar nichts da, was nach Gott schreit. Man fühlt sich wohl und befreit, daß man nicht immer an ein unbekanntes Wesen hinter den Sternen und Welten denken muß, daß [sie] - möge es nun Einfluß haben auf die Welt oder nicht - doch die richtige Harmonie der Riesendimensionen mit seiner ungeschlachten Riesenhaftigkeit stören würde. Gott ist nicht zum Aushalten. Man sieht die Welt und sieht, daß da kein Ende ist, daß ewige Schöpfung ist und ewiges Wandern, daß Ruhe nur Ziel ist, dem vielleicht, vielleicht die Welten zustreben, wie Gott höchstens ein Ziel unserer Tat ist, die wir zu erreichen streben, aber nichts, was da ist und existiert.5

Noch nach der Abwendung von Buber, als er beginnt, seinen besonderen Begriff der Tradition zu entwickeln, schreibt er in einem Brief an Gerda Goldberg vom 6.8.1917 zu ihrem Atheismus: „Ich persönlich kann überhaupt hierzu keine Stellung finden, da ich zu Gott nicht im Verhältnis des Glaubens (im christlichen Sinn) stehe. Wir Juden sind nicht gläubig in keinem Sinne."6 Wichtiger sei vielmehr die Bejahung der Thora als einer metaphysisch begründeten Forderung. Hier zeichnet sich bereits die Haltung ab, die in den späteren, entschiedeneren Bekenntnissen zum Gottesglauben im Hintergrund steht. Im Gegensatz zu dem jungen Studenten auf Orientiemngssuche geht es dem Siebzigjährigen nicht mehr um die Abgrenzung von einer christlichen pistis, von der sich das jüdische Bekenntnis zur Autorität der Tora unterscheide. Vielmehr betont der reife Kabbalaforscher seinen Gottesglauben offensichtlich, um sich als religiöser, das Dasein einer göttlichen Transzendenz bejahender Denker auszuweisen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er diesen Gottesglauben vertritt, ist vor diesem Hintergrund aber nicht nur als Ausdruck gläubiger Gewißheit zu verstehen, sondern auch als Hinweis darauf, daß die Glaubensfrage, daß Sein oder Nichtsein Gottes keine Frage ist, über die man diskutieren kann (oder soll).7 Diskussionswürdiger ist vielmehr die Frage nach 4 5 6 7

Ebd., 79. Ebd., 124 (Notiz vom 4.7.1915); vgl. ebd. 79f. Briefe I, 89f. Vgl. GeF, 73: „Da wir beide an Gott glaubten, haben wir nie über sein "Dasein' diskutiert."

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Der „Schafspelz des Philologen"

der Anerkennung der Autorität der Tora auf der Basis einer „metaphysischen", nicht rein immanenten Begründung. In seinen späten Überlegungen zur jüdischen Theologie betont Scholem, die wichtigsten Widersprüche in den jüdischen Theologien im Laufe der Geschichte beträfen nicht die Existenz Gottes („about which there was no doubt in any of the stages of the religious development of Judaism, and without which I could hardly imagine even a discussion like the present one"8), sondern die Interpretation des Konzeptes der Offenbarung. Diese sei prinzipiell vom Glauben an die Existenz Gottes unabhängig, der wiederum allein noch keine Theologie definiere. Nach Scholem gibt es zwar keine Theologie ohne Gott, doch sehr wohl eine Bejahung Gottes ohne definitive Theologie, d.h. ohne daß theologische Konsequenzen daraus gezogen werden können.9 Er selbst, so ist man geneigt, über den Autor hinaus zu folgern, bejaht eben nur Gott, besitzt aber keine Theologie.

2.1.2 Die Konkretisierung der Tora in der Halacha Nicht zufallig berührt Scholem häufiger oder ausführlicher die Frage nach der Anerkennung der Tora als die nach Gott. So fraglos sein Bekenntnis zum Gottesglauben, so problematisch scheint das Verhältnis zur schriftlichen und mündlichen Offenbarung des Judentums, vor allem seine Haltung zur Halacha, der „Konkretisierung der Tora", wie er schon 1918 an Erich Brauer schreibt: „in bezug auf die heutige Konkretisierung der Tora bekenne ich mich stets und klar als Zweifler"10. Die Tagebücher ergänzen hierzu nur, indem sie ein wenig ausfuhrlicher die aus den Jugenderinnerungen bereits bekannte frühe, nach kurzem Schwanken entschiedene Ablehnung der Halacha als gültiger Norm für das tägliche Leben dokumentieren. Wie Scholem berichtet, folgt dem Beginn seines jüdischen Erwachens im Anschluß an die Lektüre der Graetzschen Geschichte der Juden im Sommer 1911 nicht nur die Hinwendung zum Zionismus, den er nie mehr verlassen würde, sondern auch der Annäherungsversuch an das orthodoxe Judentum. Den Beginn seines Talmudstudiums bei dem orthodoxen Rabbiner Bleichrode kommentiert Scholem rückblickend mit den Worten:

8 9 10

Reflections on Jewish Theology, 265. Ebd., 275f. Briefe 1 , 1 9 4 f .

Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus

53

Wenn ich mich frage, ob ich eigentlich je das hatte, was man in meiner Beziehung zum und Erfahrung des Jüdischen ein Erlebnis nennen dürfte, so weiß ich nur eine Antwort. Das war die Erschütterung im Frühjahr 1913, als ich an einem Aprilsonntag bei Bleichrode die erste Seite des Talmud im Original lesen lernte ,.. 11

Er besucht regelmäßig die Synagoge, wo bei aller Freude am Gottesdienst der liberalen „Orgelsynagoge" in der Lindenstraße der streng orthodoxe Ritus der Alten Synagoge in der Heidereuthergasse die stärkere Anziehungskraft ausübt12, und studiert hingebungsvoll und begeistert den Pentateuchkommentar des Begründers der Neo-Orthodoxie, S.R. Hirsch, „bis mir nach einiger Zeit die Augen aufgingen und ich wieder nüchtern wurde"13. Ende 1913 bis Mai 1914 schließt er sich an die Agudat Jisrael an, nach seinen eigenen Worten „eine 1911 gegründete Konkurrenzorganisation der Orthodoxie zum Zionismus, die aber damals noch nicht die später eingenommene streng klerikale und antizionistische Richtung genommen hatte"14. Er wird sogar zum Vorstandsmitglied gewählt, verläßt sie aber nach etwa einem halben Jahr, als er erkennen muß, daß ihre programmatische Formel vom „Geist der Tora" nichts war als „ein Stück orthodoxer Diplomatie, denn sie meinte gar nicht den 'Geist der Tora', sondern viel präziser den Buchstaben des 'Schulchan Aruch'"15. Einen Monat nach einem „Krach erster Ordnung" in der Hauptversammlung, so erfährt man in den Tagebüchern, „bin ich von der Orthodoxie weggegangen. Es ist mir nicht leicht gefallen. Großes Aufsehen erregt."16 In einer Tagebuchnotiz vom 16.8.1916 erinnert sich Scholem an die Auseinandersetzungen über die „Göttlichkeit der halachischen Diskussionen"17 im Talmud, die er zur Aguda-Zeit geführt hatte. Schon damals habe er die Göttlichkeit der Halacha geleugnet, weil dies dem Menschengeist die Macht zu autoritativem Denken, die Fähigkeit zu selbständigem normativem Urteil über Dinge des Lebens absprechen würde: „Immer habe ich den Thora-Begriff als dauerndes Schaffen aufgefaßt, orthodox gesprochen, wohl im Geiste Gottes, aber doch durch menschliches Denken." 18 Im Oktober 1916 hat er den „Weg zum Talmud, den ich bewußt verlassen hatte, aus mir selbst heraus wiedergefunden [...], weil ich 11 12 13 14 15 16

17 18

VBnJ, 53. Ebd., 43. Ebd., 44. Ebd., 56. Ebd., 57. Tagebücher 1 9 1 3 - 1 9 1 7 , 24 (undatiert); vgl. den Brief vom 10.5.1914 „An den Vorstand der Jugendgruppe der Agudass Jissroël in Berlin" (Briefe I, 3). Tagebücher 1 9 1 3 - 1 9 1 7 , 377. Ebd., 378.

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Der „Schafspelz des Philologen"

jetzt tiefer und richtiger als vor zwei oder drei Jahren das Wesen dieser Dinge erkannt habe" 19 - nämlich das Wesen der Tradition. Tagebücher und Briefe zeigen die Schwere der Entscheidung, man spürt den Ernst, mit dem der junge „Mauereinrenner" um die Anerkennung der ganzen Tora ringt und nach Sinn und Zweck der Halacha fragt. Insgesamt bestätigen die frühen Quellen den in den Jugenderinnerungen geweckten Eindruck, es handle sich um einen frühen und mit dem Austritt aus der Aguda mehr oder weniger definitiven Entschluß. Dieser Eindruck wird jedoch relativiert in dem nach Gesprächen mit Jean Bollack und Pierre Bourdieu entstandenen Text von 1980. Er habe sich die Entscheidung gegen die orthodoxe Lebensweise nicht leicht gemacht, bekennt der über Achtzigjährige und macht deutlich, daß ihn das Problem offenbar auch noch beschäftigte, nachdem er sich in Palästina niedergelassen hatte. Es habe die eigene Position als Historiker erschwert und sein Verhältnis zu den zeitgenössischen Kabbalisten belastet, die Nichtgläubigen jede Einsicht absprächen.20

2.1.3 Religiöser Anarchismus Scholem selbst bezeichnet sich wegen seiner Ablehnung der Halacha als einen religiösen Anarchisten. Er benutzt die Formulierung nicht nur für Martin Buber21, sondern bereits kurz darauf (1963) in einem Gespräch mit jüdischen Pädagogen bezogen auf die eigene Haltung als Historiker, der die Tora des Mose vom Sinai nicht akzeptieren könne.22 Der Ausdruck, den nicht nur

19

20

21

22

Ebd., 411; dabei hatte er noch im Januar 1916, nach einer Notiz vom 10.1.1916, dem Talmud (im Unterschied zur Bibel) die Heiligkeit abgesprochen (ebd., 236)1 L'identité juive, 4; vgl. auch die Bemerkung über den Besuch der orientalischen Gemeinde, er hätte wohl mehr erfahren können, wenn er als Orthodoxer aufgetreten wäre (With Gershom Scholem, 37). Zu Scholems Haltung gegenüber modemer Orthodoxie vgl. auch seine harsche Kritik an der „intrikaten orthodoxen Heuchelei" des späten Agnon im Tagebuch vom 22.6.1948, zitiert bei F. Niewöhner, "Ich habe keinen Garten und habe kein Haus". Ein unbekanntes Gedicht Schmuel Josef Agnons in der Übersetzung von Gershom Scholem, in: Disiecta Membra. Studien Karlfried Gründer zum 60. Geburtstag, Basel 1989, 86f. Vgl. Scholem, Martin Bubers Deutung des Chassidismus, in: Judaica 1, 197f.; dazu Myers, „Re-Inventing the Jewish Past", 170.174. 'Al chinnukh la-jabadut, in: Od Davar, 111 (= Education on Judaism, 209); vgl. auch VBnJ, 187 (zum Anarchismus als dem verbindenden Glied, das die eigene Position des religiösen Zionismus mit der säkularen Haltung der radikalen Zionisten verband) sowie

Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus

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David Biale, sondern auch andere Scholeminterpreten aufgegriffen haben,23 bezeichnet also weder eine unleugbare „implizite Ideologie"24 noch die Übertragung der Charakterisierung Bubers auf den Kabbalaforscher selbst durch spätere Interpreten.25 Er steht auch keineswegs im Widerspruch zur Titulierung Bubers26, denn gemeint ist zunächst nur die Ablehnung der orthodoxen Auffassung des Offenbarungsgeschehens, rabbinisch gesprochen, der Überzeugung, daß schriftliche und mündliche Tora dem Mose am Sinai offenbart wurden (Tora min-ha-sbamajim) und folglich die halachische Auslegung der Tora göttlichen Ursprungs und also verbindlich ist. In der Ablehnung der Verbindlichkeit der orthodoxen Halacha sind sich Buber, Scholem und andere nichtorthodoxe religiöse Juden ja durchaus einig. „Bis zu einem gewissen Grad sind wir alle Anarchisten", heißt es entsprechend in einem Dokument von 1939, das erst nach Scholems Tod publiziert wurde.27 Es handelt sich um das Protokoll der ersten Sitzung des Ha-'ol („Das Joch [der Tora]"), eines Kreises junger zionistischer Intellektueller, der von J.L. Magnes als religiöse Gesellschaft ins Leben gerufen worden war. In der ersten Zusammenkunft wurde über die Frage diskutiert: „Was bedeutet uns die Tora?" In seiner die Sitzung eröffnenden Ansprache betont Scholem, es gebe keine Tora ohne göttliche Autorität und keine schriftliche Tora ohne mündliche, d.h. ohne Auslegung der göttlichen Offenbarung. Die Tora sei darum kein einheitliches System, sondern ein sich entwickelndes Kontinuum von Fragen und Antworten, als solches aber nicht willkürlich, von der freien Entscheidung des Einzelnen abhängig, weshalb „im Prinzip" die Orthodoxie recht habe. Da es aber den hier Versammelten - darunter Buber und andere Kollegen der Hebräischen Universität - unmöglich sei, die mündliche Tora der Orthodoxie zu akzeptieren, müsse man auf die eigene verbindliche, autoritative mündliche Tora warten. Denn es gebe, bekräftigt Scholem zum Abschluß, keine Tora ohne Offenbarung („mattati Tora'), ohne

23 24

25

26 27

Hirburim 'al 'tfsharut shel mistiqa jehudit bimenu, in: Devarim btgo, 80f.; With Gershom Scholem, 32ff. Vgl. außer Myers v.a. Biale, Counter-History, 94-100; Robinson, Introduction, XV. Th. Friedman, Gershom Scholem: Exuberant Scholar of Jewish Mysticism, Conservative Judaism 32,1979,79 (Hervorhebung von mir). Shapira, The Symbolic Plane, 335 („the anarchism with which people tend to characterize Gershom Scholem's religious approach [...]")· So Myers, „Re-Inventing the Jewish Past", 170. Vgl. Od Davar, 95ff.; vgl. die bereits 1987 erschienene engjische Übersetzung von Mendes-Flohr, Divided Passions, 344ff. (Zitat: 346). Wobei die Ablehnung des orthodoxen Offenbarungsbegriffs natürlich nicht notwendig die der Halacha überhaupt einschloß, wie Scholem suggeriert.

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Der „Schafspelz des Philologen"

Heteronomie, ohne autoritative Tradition. In seinem Schlußwort im Anschluß an die Diskussion beschwichtigt er regelrecht seine Zuhörer, die in seiner Auffassung eine Tendenz zum Subjektivismus (Gutmann) oder eine implizite Negation der Tora (Magnes) furchten. Ihr aller Anarchismus sei doch nur ein Übergangsstadium („transitional"), insofern er sie offensichtlich nicht vom Judentum wegführe; er fühle sich der Orthodoxie keineswegs unterlegen und nicht weniger legitim als die jüdischen Vorväter, die eben „nur einen deutlicheren Text" gehabt hätten. Man sei vielleicht Anarchist, aber gegen Anarchie, schließt Scholem mit der für ihn typischen Vorliebe für paradoxe Formulierungen. Den Nachdruck, den Scholem auf die Notwendigkeit legt, die heteronome Autorität der Tora anzuerkennen, ist im Lichte seiner späteren Äußerungen zu verstehen als Kritik an Buber und anderen modernen jüdischen Denkern, die die Autorität auf das je gegenwärtige Gotteserlebnis des Einzelnen verlagern, dessen Bedeutung nicht übertragbar ist, sich nur in den Taten des Menschen äußert und nur subjektive Geltung besitzt.28 Gegen religiösen Subjektivismus gerichtet, impliziert das Warten auf eine neue kollektiv verbindliche Offenbarung bei Scholem letztlich einen potentiellen religiösen Fundamentahsmus, wie Eliezer Schweid berechtigterweise zu bedenken gibt.29 Scholems Erwartungen einer neuen Halacha bezogen sich ursprünglich keineswegs auf eine ferne, utopische Zeit, setzte er doch alle Hoffnungen hinsichtlich einer Erneuerung des Judentums auf den Erfolg des Zionismus: „Wenn der Zionismus einmal sein Ziel erreicht hätte und eine neue Gemeinschaft neu geschaffen würde", so gibt S.H. Bergman Scholems Meinung wieder, die dieser in einer abendlichen Diskussion am 19.10.1928 zum Ausdruck gebracht haben soll, „dann würde auch der Schulchan Aruch neu geschaffen werden. Bis dahin müsse man zwischen zwei Stühlen sitzen, es gibt legitim vor Gott Menschen, die zwischen den Stühlen sitzen."30 Das ganze Ausmaß der Enttäuschung Scholems bereits zwei Jahre später, angesichts der realen Entwicklung, die alles andere als jene ersehnte postzionistische neue Gemeinschaft hervorbrachte, wird in den auszugsweise bereits veröffentlichten Esoterica aus Scholems Nachlaß mehr als deutlich.31

28 29 30 31

Vgl. Reflections on Jewish Theology, 273. Schweid, The Jewish World View, 139. Bergman, Tagebücher und Briefe I, 261. Vgl. Niewöhner, Im Brennpunkt der Historie, der in seiner Vorbemerkung auf die Bedeutung der blutigen Unruhen von 1929 fur die Zäsur, die „Krise im Leben des Zionisten" um 1930/31, hinweist.

Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus

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Der kurze Text des Sitzungsprotokolls des Ha-'olnimmt zentrale Gedanken vorweg, die Scholem später sowohl in seinen Arbeiten über den Offenbarungs- und Traditionsbegriff der Kabbala32 als auch in seinen Reflections on Jewish Theology aus den siebziger Jahren allgemeiner und unpersönlicher formuliert. Als persönliche Reflexion über das eigene Verhältnis zur jüdischen Religion rechtfertigt dieses Protokoll grundsätzlich den Versuch, aus seinen Äußerungen als Kabbalaforscher Rückschlüsse auf Scholems religiöse oder theologische Uberzeugung zu ziehen, zumindest im Hinblick auf sein Selbstverständnis als religiöser Anarchist.33

2.1.4 Die Dialektik des Säkularismus In seinem Kommentar zur englischen Ubersetzung des Protokolls schreibt Paul Mendes-Flohr, der sogenannte religiöse Anarchismus sei besser als säkulare Religiosität zu begreifen.34 In der Tat bezeichnet der Begriff die Bejahung und Verneinung des Säkularismus zugleich. Weder orthodox noch ungläubig, geht es Scholem um eine Verbindung von säkularen und religiösen Anschauungen,35 in traditioneller Terminologie ausgedrückt von Vernunft und Offenbarung. Die Verneinung der Autorität der Halacha, erklärt Scholem in seinen Gesprächen mit Jean Bollack und Pierre Bourdieu von 1980, beruht auf der Entscheidung, „der historischen Vernunft treu zu bleiben, die mir sagte, daß die Gesetze der Veränderung unterworfen sind"36. Ist das Bekenntnis zu religiösem Anarchismus zu verstehen als Bejahung des säkularen Prinzips der 32 33

34 35

36

S.u. unten Kap. 4.2.1. Was keinesfalls automatisch bedeutet, daß sein historiographisches Werk als Ausdruck einer wie immer gearteten Theologie zu verstehen wäre; es legitimiert nur gewisse „Konjekturen", wie Mendes-Flohr diese Versuche mit Bezug auf David Biale nennt (Divided Passions, 363 Anm. 33; Mendes-Flohrs kritischer Einwand gegen Biale, er habe die Beziehungen nicht berücksichtigt zwischen Scholems Suche nach einer „Gegentradition" und seiner Überzeugung, daß die orthodoxe Halacha nicht das Wort Gottes sei, ist mir allerdings unverständlich). Vgl. Mendes-Flohr, Divided Passions, 400. VgJ. VBnJ, 187, w o Scholem von seinem Verhältnis zu den radikalen Zionisten spricht, von denen er sich bei aller Sympathie unterschied „durch meine positive Wertung des religiösen Faktors, der im Zionismus wirksam war. Ich war nicht im herkömmlichen Sinne religiös, aber ich träumte von einer Verbindung des säkularen mit dem religiösen Element [...]. Das anarchistische Element in manchen, keineswegs unwichtigen Gruppen in Israel kam [...] meiner eigenen damaligen Position sehr nah". L'identité juive, 4.

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Der „Schafspelz des Philologen"

historischen Vernunft, so verweist umgekehrt das Bekenntnis zum Gottesglauben (und zur notwendig mit der Offenbarung verbundenen „Heteronomie") den Säkularismus in seine Schranken. Scholem hat seine Uberzeugung von der Dialektik der Säkularisierung, „ihrer dialektischen Kompensation" (temuratah ha-dialeqtitf1, ebenso ausdrücklich benannt wie seinen religiösen Anarchismus - und damit selbst die Erläuterung gegeben, was er unter dessen Übergangscharakter versteht: „I don't believe in a world of total secularism in which the religious factor will not manifest itself with redoubled strength",38 heißt es im Interview mit Muki Tsur aus dem Jahre 1974. Obwohl er sich selbst zu den „admirers of Reason" zählt, besteht er darauf, daß die Vernunft vor allem das Instrument der destruktiven Kritik ist, die dauerhafter ist als ihre Konstruktionen positiven Denkens. Für überdauernde Konstruktion brauche man Moral und damit Religion: „for I believe that morality as a constructive force is impossible without religion, without some Power beyond Pure Reason. Secular morality is a morality built on Reason alone. [...] This is an utter illusion of philosophers, not to speak of sociologists."39 Die Dialektik des Säkularismus besteht allerdings nicht nur darin, daß er ein zwar notwendiges, aber nicht endgültiges Stadium ist, das ein neues Wiedererwachen der Religion erwarten läßt, sondern auch darin, daß in Scholems Augen vieles, was nach „reinem" Säkularismus aussieht, in Wahrheit religiöse Elemente hat, daß Säkulares und Religiöses sich keineswegs immer eindeutig trennen lassen — ein Gedanke, der in biographischer wie in religionswissenschaftlicher Hinsicht von Interesse ist, berührt er doch das Problem der Möglichkeit bzw. Einschätzung von säkularer Mystik.40 So schwierig jedoch 37 38

39

40

Od Davor, 124 (Brief an E. Ben-Ezer vom 1.2.1976). With Gershom Scholem, 34; vgl. ebd., 33; Zionism, 290; Irving Howe Interviews Gershom Scholem, 54; und bereits Scholems Brief vom 8.12.1967 an Th.W. Adorno (Briefe II, 191). With Gershom Scholem, 32; Th. Friedman, Gershom Scholem, 79, nennt Scholems religiösen Anarchismus darum „anarchy with difference"; vgl. auch Ben-Shlomo, The Spiritual Universe, 36; St.B. Smith, Gershom Scholem and Leo Strauss, 223ff.; Bouretz, Questions, 121. „Wer kennt die Grenzen der Heiligkeit {gevulot ha-qedushd)}", fragt Scholem im Aufsatz über Mystik heute und deutet an, das Weltliche sei vielleicht nur „die Verkleidung einer Heiligkeit, die als solche noch nicht erkannt ist" (Devarim bego, 81); vgl. auch Scholem, Religiöse Autorität und Mystik, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 27f.; Walter Benjamin und sein Engel, 37 (zu Benjamins „Verbindung mit der mystischen Tradition und mit einer mystischen Erfahrung, die dessenungeachtet noch lange nicht die Erfahrung Gottes war, wie das so viele simplifizierende Geister als die einzige den Namen Mystik verdienende Erfahrung ausgeben").

Religiöser Anarchismus und dialektischer Säkularismus

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die Trennung zwischen Religion und Säkularismus mitunter sein mag, so rigoros vertritt der Kabbalaforscher die Möglichkeit und Notwendigkeit der Trennung von religiöser und säkularer Einstellung im Hinblick auf sich selbst und seine Arbeit als Wissenschaftler. Als religiöser Anarchist, davon ist Scholem eindeutig überzeugt, kann er positiv nur seinen Gottesglauben, nicht aber eine Theologie formulieren. Sein Beharren darauf, er habe keine positive Theologie zu bieten, ist unbedingt ernst zu nehmen. Man mag Scholems Werk gegen seinen Willen als negative Theologie deuten, doch verkehrt es seine Intentionen ins Gegenteil, wenn man es in eine positive und direkte Botschaft ummünzt und damit die „Verzweiflung" nivelliert, der Scholem in seinem Brief vom 15.12.1947 an Hugo und Escha Bergman Ausdruck verleiht. Die „Dualität von 'Professoren' und 'Propheten'", wie sie Scholem in den berühmten Schlußsätzen der jüdischen Mystik in ihren Hauptströmungen beschwört, könne sich das „jüdische Volk in seiner gegenwärtigen Verfassung [...] nicht leisten", hatte Bergman kritisiert. Scholem antwortet dem Philosophen, er habe „den Glauben an die direkten 'Botschaften' verloren". Seiner Meinung nach ist gerade die Direktheit bzw. deren „Naivität" verantwortlich für das Scheitern solcher Botschaften, „auch wenn sie nicht im gefälschten Elias-Mantel Bubers erscheinen". Und er bekennt schließlich, daß dahinter eine Verzweiflung steht: „Ich lebe in der Verzweiflung und kann nur aus der Verzweiflung heraus tätig sein. [...] wie leicht ist es, andere aufzufordern, sich auf Gott zu verlassen — etwas, das mich immer wieder empört, wenn ich ihn Q.L. Magnes] predigen höre."41 Religiöser Anarchismus birgt Verzweiflung, er ist keine Theologie, mit der es sich leben läßt, keine positive oder gar die Theologie des Judentums. Er birgt aber auch die Hoffnung auf seine eigene Überwindung, die Erwartung, daß eine positive Theologie eines Tages wieder möglich sein wird. Deutet man Scholems Werk als implizite Theologie, so muß man sie auf jeden Fall als eine vorläufige verstehen, in Scholemschem Vokabular gesprochen, als Theologie des Aufschubs, zu der die utopische Hoffnung auf eine jüdische Theologie in postsäkularer Zeit, auf einen „deutlicheren Text", wesentlich dazugehört.

41

Briefe I, 331. Die einzige mir bekannte, vor dem Hintergrund aller sonstigen Aussagen um so bemerkenswertere Äußerung Scholems, die einen völlig anderen Tenor anschlägt, übediefert Hans Mayer, leider ohne Erläuterung ihres ursprünglichen Zusammenhangs und darum nicht adäquat zu interpretieren (ging es um den Vergleich mit Benjamin?): „Ich habe Scholem [...] einmal gefragt, welche Berufsbezeichnung er für sich selbst akzeptieren würde. Er sah mich erstaunt an, das war offenbar eine dumme Frage: 'Ich bin Theologe'." (Mayer, Der Widerruf, 245).

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Der „Schafspelz des Philologen"

2.1.5 „I certainly am not a mystic ..." Mindestens ebenso nachdrücklich wie die Rolle des Propheten und Theologen weist Scholem die des Mystikers von sich. Während es ihn amüsiert, wenn Alfred Gottschalk ihn als Lehrer jüdischer Reformrabbiner bezeichnet, weil hier seine Freude an den ironischen und paradoxen Seiten der Geschichte auf ihre Kosten kommt, mißfallen ihm entschieden Gottschalks Spekulationen über seine mystische Natur: „I certainly am not a mystic, because I think that scholarship is based on distance."42 Ohne Distanz und die Prinzipien der historischen Kritik könne jüdische Forschung nicht von bleibendem Wert sein. Mystik und Wissenschaft schließen sich gegenseitig aus. Scholem ist hier völlig eindeutig, und es entbehrt jeder Grundlage, ihm mystische Neigungen oder Erfahrungen im Sinne der Kabbalisten zu unterstellen, wie es so oft gemacht wird. Gewiß, er beschreibt sein Verhältnis zur Kabbala des öfteren als eines von Identifizierung und Distanç (wie der Titel seiner Abschiedsrede in Ascona lautet). Doch meint er mit Identifikation die seine ungeheure, mühevolle Arbeit motivierende Überzeugung, daß in der Kabbala das „lebendige Zentrum"43 des Judentums steckt, daß an ihr „dennoch etwas dran ist"44. Daß er diese früh gewonnene Überzeugung auf frühe „Intuitionen" zurückführt, impliziert nicht die Identifikation seiner Intuitionen mit denen der Mystiker, die bewußt und mittels langwieriger und intensiver Meditationspraxis erreicht werden. Wenn Scholem selbst, wie er in seiner Autobiographie knapp berichtet, während seiner ersten Lektüre abulafianischer Handschriften die dort beschriebenen Techniken ausprobierte, dann mit der Neugierde des jungen Wissenschaftlers, der die Texte besser verstehen will („daß man [...] nicht alles in einen Topf werfen darf' 45 !), und weniger, weil er sich nach mystischer Erfahrung sehnte.46 Damit will ich nicht bestreiten, daß er mit 42

43 44 45

46

Response [to Arnold Gottschalk], CCAR Yearbook XCI, 1981, 173; der definitive Ton ist hier derselbe wie bei der Bemerkung, die er an den Rand von Maccobys Rezension von Biale, Counter-History notierte, zitiert bei Myers, 'Re-Inventing the Jewish Past', 175: „I did not write as a Theologian" (vgj. auch Mendes-Flohr, The Spiritual Quest, 23). With Gershom Scholem, 46. Scholem, Ein offenes Wort..., in: Briefe I, 471 (= Biale, Counter-History, 216). VBnJ, 169 (Scholem „versuchte sogar einige seiner praktischen Anweisungen umzusetzen, bemerkte, daß sie Veränderungen im Bewußtsein hervorrufen und verstand, daß man zwischen den Zielen der verschiedenen kabbalistischen Methoden unterscheiden muß und nicht alles in einen Topf werfen darf"). So Idei 1988, 12. Scholem war schließlich nicht mehr der Buberianische Messiasanwärter des Jahres 1914, sondern der Promovend über das Buch Bahir, der bereits den höheren

Religiöser Anaichismus und dialektischer Säkularismus

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seinem Lernen nicht minder als sein Freund Walter Benjamin die „profane Erleuchtung des Denkens"47 angestrebt und vielleicht auch erlangt hat. Ich halte es nur für unangemessen, die intellektuelle - sicher nicht emotionslose, aber immer rationale - Suche nach metaphysischer Wahrheit mit dem Streben nach unmittelbarer, also die Ratio transzendierender Gotteserfahrung mittels besonderer Meditationstechniken „in einen Topf zu werfen". Unter Scholems Briefen findet sich einer an S.L. Lewis vom 5.4.1948 (mit dem er sich für dessen Schreiben bedankt), der die knappen Bemerkungen in den Jugenderinnerungen ergänzt und keinen Zweifel läßt, daß er seine eigene „Intuition" eben nicht als die eines praktizierenden Mystikers oder Esoterikers versteht. Er bekundet sein Interesse für Lewis' Berichte über die Begegnung mit Kabbalisten in Kalifornien und eigene esoterische Studien und fügt hinzu: I must confess that I have never been initiated into any esoteric circle, and in interpreting Kabbala and Jewish mysticism at all, I have been relying on my own intuition and that measure o f understanding which a careful analysis of difficult texts on a philological basis may afford. 4 8

Das heißt natürlich nicht, daß er überhaupt keine Kontakte zu praktizierenden Kabbalisten gehabt hätte. Mit Muki Tsur sprach Scholem über seine Begegnung mit zeitgenössischen Kabbalisten, die ihm als Gruppe von „Eretz Yisrael Jewish-style Yoga practitioners"49 erschienen seien. Bereits in dem Artikel über Kabbala-Forschung und jüdische Geschichtsschreibung in der Hebräischen Universität Jerusalem erwähnt er die Kabbalisten von Bet-El, für deren „Bewußtsein [...] weitaus das meiste von den historischen Gehalten erloschen" ist; er beschreibt die zeitgenössische Kabbala als letztlich unlebendig oder unschöpferisch.50

47 48 49 50

Sinn und Wert der Philologie entdeckt hatte und sich aus diesem Grunde dem Studium der Münchner Handschriften Abulafias hingab! Walter Benjamin und sein Engel, 62. Briefe II, 5. With Gershom Scholem, 38. Kabbala-Forschung, 28. In der Gebetsmystik des Schar'abi im 18. Jahrhundert sieht Scholem „die letzte Kabbala, die in einem gewissen Maße noch eigenes Leben zeigt. Für heutige Anhänger sind alle anderen Gebiete der Kabbala, soweit sie nicht der theoretischen Begründung dieser Meditationsmystik dienen, [...] undurchsichtig und obsolet geworden, und wenn sie einen alten Text überhaupt noch lesen, so nur, um darin die Geheimnisse ihres eigenen Systems wiederzuentdecken." Vgl. dazu auch F. Niewöhner, Scholems Sabbatai Zwi, 19f., für den sich Scholem darum als Nachfahre der Wissenschaft des Judentums erweist, insofern er selbst der Mystik, dem Rabbinismus und dem Messianismus ein Begräbnis bereite, da sie ihre Schuldigkeit getan haben, nun aber (in

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Der „Schafspelz des Philologen"

Seine Bekanntschaft mit Gershon Vilner im Jahre 1926, die von besonderem Eindruck und Einfluß gewesen ist, wie er selbst sagt, erscheint als Anekdote in der Einleitung zu seinem ersten Eranosvortrag von 1949, allerdings nicht in der ersten Person, sondern als Bericht über das Erlebnis eines Freundes.51 Gerade diese Geschichte bezeugt Scholems Interesse, Kabbalisten kennenzulernen, und macht zugleich deutlich, daß er dabei gerade die Dista»£ des (nicht orthodoxen) Wissenschaftlers zu aktiven Vertretern seines Forschungsgegenstands erfuhr. Scholems Berufung auf Intuitionen ist sicher nicht als Ausdruck einer Neigung zu mystischer Praxis zu verstehen. Sie verweist vielmehr auf sein Verständnis von (philologischer) Historiographie und zeigt, daß er entgegen einem verbreiteten Vorurteil keinem positivistischen, von naivem Objektivitätsglauben genährten Historismus anhängt.52

2.2 Geschichte und Metaphysik

2.2.1 Philologie als Hohlspiegel Während Scholem sich energisch dagegen verwahrt, als Theologe oder Mystiker betrachtet zu werden, und auch darauf besteht, mehr Historiker als Philosoph zu sein (dies allerdings zu seinem Bedauern [¿eda'apom]^), leugnet er nie, „metaphysische" oder „philosophische" Einsichten gehabt und in seinem Werk zum Ausdruck gebracht zu haben. Darin besteht eben die Zweideutigder zionistischen Ara) keinen normativen Wert mehr besäßen und nur noch historisches Interesse verdienten. 51

With Gershom Scholem, 38; vgl. Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 117; vgl. auch die Bemerkung über die persönliche Begegnung mit dem „marokkanischen Gelehrten Makhlouf Amsellem [...], der sowohl Kabbaiist wie theoretischer und praktischer Alchemist war" (Alchemie und Kabbala, 1977, 71; nur angedeutet in der Fassung von 1924,104).

52

Peter Schäfer, Scholem und die „Wissenschaft des Judentums", 151, diagnostiziert z.B. einen „Wissenschaftsbegriff [...], der offenbar von der naiven, aus der Romantik gespeisten Voraussetzung der Identität von Wissenschaft und ihrem Gegenstand, von Erkennendem und Erkanntem ausgeht." Das Insistieren auf der Notwendigkeit der historischen Kritik habe „trotz allem etwas Tragisches angesichts seines Wunsches [...], die 'Nebelwand der Historie' zu durchschreiten [...] und nicht den 'Tod in der Professur' zu erleiden".

53

'Al chinnukh k-jabadut, in: 'Od Davar,

1 1 4 (= Education for Judaism, 212).

Geschichte und Metaphysik

63

keit der Position des Historikers, die das Bild vom „Schafspelz des Philologen"54 im berühmten Brief an Salman Schocken beschwört. Diesem Brief vom 29.10.1937 zufolge kam Scholem zur Philologie, nachdem in den ersten Studienjahren „sehr erregtes Denken [...] mich ebensosehr zur rationalsten Skepsis meinen Studiengegenständen gegenüber wie zur intuitiven Bejahung mystischer Thesen geführt"55 hatte. Rationale Skepsis verhinderte, daß der einst ekstatisch erregte Heranwachsende zum Mystiker wurde, und verhalf ihm zur Distanz des Philologen, die jedoch die Identifikation mit (manchen) mystischen Ideen nicht ausschloß, von ihr vielmehr motiviert war. Wie in den späteren Interviews56 dient die „intuitive Bejahung" auch im Schocken-Brief als Erklärung für die Motivation des Philologen und bezieht sich auf die innere Überzeugung, daß an der Kabbala (respektive ihren mythischen und pantheistischen Ideen) etwas sein muß, das die Lebendigkeit des Judentums garantierte. Dieses Etwas zu finden, die auch vor der rationalsten Skepsis bestehende Wahrheit zu formulieren (Zusammenhänge, „die auch unsere menschlichsten Erfahrungen betreffen"), mit seinen Worten: die „Absicht, nicht die Historie, sondern die Metaphysik der Kabbala zu schreiben", ist das Motiv, das ihn mit der Erforschung der Kabbala beginnen und schließlich die Historie der Kabbala schreiben ließ.57 Vor dem Hintergrund der bisherigen Auslegungen des Schocken-Briefs, die sich vor allem auf das Eingeständnis stürzen, er habe ursprünglich die „Metaphysik der Kabbala" schreiben wollen, scheint es mir nötig hervorzuheben, daß in dem Brief genauso wie im ersten der Zehn unhistorischen Sät^e nicht behauptet wird, dem Historiker diene die Philologie nur als mehr oder minder unwichtige Verkleidung, als Deckmantel, unter dem eine unhistorische Metaphysik verkündet wird. Beide Schlüsseltexte sind zuallererst ein Bekenntnis zur historischen Vernunft und zur Notwendigkeit der historischen Kritik. Es geht, was gern übersehen wird, nicht eigentlich um die Gefahr durch den möglichen Tod der Professur, sondern darum, daß trot% dieser Gefahr „die Notwendigkeit der historischen Kritik und kritischen Historie [...] durch nichts 54

55 56 57

Schreibweise nach der Kopie des Manuskripts, die mir Prof. Dr. F. Niewöhner freundlicherweise zur Verfugung stellte; beide gedruckte Fassungen (Biale, Counter-History, 2 1 5 = Briefe I, 471) transkribieren „Schafpelz". Briefe 1 , 4 7 1 . Bes. With Gershom Scholem, 19. Die Dissertation über Das Buch Bahir begann im W S 1918/19. Bekanntlich hatte Scholem 1 9 1 8 noch vor, über die Sprachtheorie der Kabbala zu schreiben. Erst über der Arbeit am Buch Bahir wurde der Philosophiestudent zum Historiker, der sich — erst einmal — daran setzte zu erforschen, was die Kabbalisten „wirklich" gedacht hatten.

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Der „Schafspelz des Philologen"

anderes abgegolten werden" kann: „Gewiß, Geschichte mag im Grunde ein Schein sein, aber ein Schein, ohne den in der Zeit keine Einsicht in das Wesen möglich ist."58 Die Erkenntnis der Wahrheit einer vergangenen Erscheinung wie der jüdischen Mystik ist nur möglich, wenn man ihren geschichtlichen Charakter ernst nimmt; ohne historische Kritik sind die mystischen Thesen nicht zu verstehen.59 Zugleich zeigen die Texte, wie wenig Scholem einem vermeintlich naiven Historismus verpflichtet ist, geht es doch um den Charakter der Geschichte als Schein oder „Nebel"60 und um die Ungewißheit, die alle philologische Geschichtsschreibung charakterisiert. Was Scholem im Schocken-Brief das „Paradox" der Geschichte nennt, bezeichnet er in Zehn unhistorische Sät^e als die „Ironie" der Philologie der Mystik, die darin liegt, daß „das Wesentliche" („die mystische Totalität des Systems") nur durch die Geschichte zu erkennen ist, obwohl es „grade in der Projektion auf die historische Zeit verschwindet"61. Die historisierte Wahrheit der Mystiker ist nicht mehr identisch mit dem Wesen der Sache, sprich der über- oder transhistorischen, metaphysischen Wahrheit. Der Philologe hofft, durch die Historisierung der Kabbala eine Wahrheit herauszufinden, die selbst nicht historisch ist, die den „Schein der 'Entwicklung'"62 transzendiert. In dieser Ironie besteht die Analogie, die Scholem zwischen der philologischen Historiographie und der jüdischen Mystik selbst feststellt. Die Kabbala ist ebenfalls ironisch, weil sie die Tradition („qabbala") einer Wahrheit zu sein beansprucht, die gerade „alles andere ist als

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Vgl. Briefe I, 472 (das Wort Zeit ist im mir vorliegenden Manuskript unterstrichen). Schon 1920/21 fordert Scholem „noch mehr [...] als ehrliche Philologie, die aber durch solches 'Mehr' wahrlich nicht überflüssig wird" (Über die jüngste Sohar-Anthologie, 363). VgJ. dazu E. Troeltsch, Gesammelte Schriften II, 735: „Ob diese Historisierung unseres ganzen Denkens als ein Glück zu empfinden ist, das ist hier nicht die Frage [...] Jedenfalls können wir nun einmal nicht mehr ohne und gegen diese [die historische, E.H.] Methode denken und müssen alle unsere Forschungen über Wesen und Ziele des menschlichen Geistes auf sie aufbauen." Ein „Nebel freilich, der aus ihr [der Philologie, E.H.] selber dringt" (Judaica 3, 264). Das heißt, durch die Historisierung, indem er die Mystik als geschichtliches Phänomen begreift, schafft der Philologe selbst den Nebel, den er durchdringen will. In den Zehn unhistorischen Sätzen als rhetorische Frage, im Schocken-Brief als Aussage formuliert! Er hofft „auf jene unscheinbarste, kleinste Verschiebung der Historie, die aus dem Schein der 'Entwicklung' Wahrheit hervorbrechen läßt" (Briefe I, 472). Für diese überhistorische „Wahrheit" verwendet Scholem die Ausdrücke „das Wesen", „die mystische Totalität des Systems", „das Wesendiche", „die Offenbarung aus dem Berge".

Geschichte und Metaphysik

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tradierbar. Sie kann erkannt werden, aber nicht überliefert werden, und gerade das in ihr, was überlieferbar wird, enthält sie nicht mehr."63 Mit seiner Analogisierung zwischen Historiographie und Kabbala sagt Scholem nichts über eine Analogie zwischen der historischen Wahrheit bzw. der „metaphysischen" Wahrheit, die der Philologe letztlich herausfinden will (das Wesen der Sache), und der untradierbaren Wahrheit der Kabbala (die das Wesen Gottes betrifft); noch weniger identifiziert er beides, was tatsächlich bedeuten würde, daß die Geschichte (Tradition) an die Stelle Gottes tritt. Wohl verführt seine Metaphorik zu einem derartigen Analogieschluß.64 Die „Hoffnung auf das richtige Angesprochenwerden aus dem Berge" bezieht sich auf den „Berg, das Korpus der Dinge", das von der „Nebelwand der Historie" umhüllt ist.65 Wer mag entscheiden, wie legitim und wie weitreichend die Assoziation mit dem Geschehen auf dem sinaitischen Berg der Offenbarung ist — und wer oder was hier anspricht! Für eine Scheidung zwischen der metaphysischen Wahrheit über die Kabbala, das Judentum und seine Geschichte und der theologischen Wahrheit über Gott selbst spricht nicht zuletzt, daß Scholem stets von seinen metaphysisch-philosophischen, nicht aber theologischen Einsichten als Historiker spricht. Im Unterschied zu den publizierten Zehn unhistorischen Sätzen spricht Scholem in dem ursprünglich wohl nicht zur Publikation bestimmten Brief an Schocken nicht von der Analogie in der gemeinsamen Ironie, sondern stellt eine Beziehung her zwischen der traditionellen Kommentarliteratur und der philologischen Kritik, die sich seiner Meinung nach „in den legitimen Ordnungen des Kommentars"66 bewegt. Schon 1920/21, in einer seiner ersten Veröffentlichungen als Kabbalaforscher, deutet er einen ähnlichen Gedanken an, wenn er über wissenschaftliche Einführungen schreibt, daß sie „in Ermangelung der lebendigen Tradition als Lehrer und Tradenten dienen".67 Im Juli 1918 bezeichnet er in einem Brief an seine spätere erste Frau die Philologie als „wahre Geheimwissenschaft, und die einzige wahrhaft historische Wissenschaft, die es bisher gibt Sie ist einer der größten Bestätigungen meiner Ansichten über die zentrale Bedeutung der Tradition in einem freilich neuen

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65 66 67

Judaica 3 , 2 6 4 . Wie er manchen vielleicht etwas zu selbstverständlich ist, z.B. Dan, Min ha-semel 'ei hamesummaL, 366f.; Idei, New Perspectives, 12. Vgl. jetzt auch Schäfer, „Die Philologie der Kabbala...", 7f.l5f. Briefe I, 472; entsprechend die „Offenbarung aus dem Berge" in: Judaica 3, 264. Briefe 1 , 4 7 2 . Über die jüngste Sohar-Anthologie, 363.

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Der „Schafspelz des Philologen"

Sinn dieses Wortes." 68 Mir scheint es darum gerechtfertigt, mit David Biale von einer säkularen Fortsetzung des religiösen Kommentars in der modernen Historiographie zu sprechen, ohne daß damit Scholems Philologie zur verkappten Metaphysik und seine Forderung nach objektiver Suche der historischen Wahrheit zum bloßen Lippenbekenntnis erklärt wird. Ist es doch nach Scholem selbst kein Widerspruch, daß die philologische Arbeit metaphysisch-philosophische Implikationen hat, denn es ist ja die - objektiv zu erforschende - historische Wahrheit, die die philosophische oder metaphysische Wahrheit des Judentums birgt. Scholem ist überzeugt, daß die Identität der Juden in der Gegenwart nicht von der Halacha bestimmt wird, sondern vom historischen Bewußtsein, vom Gefühl einer Kontinuität mit der Vergangenheit und einer gemeinsamen Hoffnung auf die Zukunft.69 Geschichte, erklärt der Professor bereits 1946 in einem Vortrag vor israelischen Jugendleitern und Lehrern, ist die in der Gegenwart „lebendige", das heißt relevante Vergangenheit, die zugleich Werkzeug im Kampf für die Zukunft ist. Da sie im Judentum nun einmal mit Religion verbunden ist, zwinge sie zur Beschäftigung mit „Fragen der Transzendenz". Auch wenn es „legitim" sei, das Judentum oder seine Geschichte säkular zu deuten, komme man nicht daran vorbei, sich solchen Fragen zu stellen, weil erstens die jüdischen Geschichtsquellen immer religiöse Quellen seien und zweitens die jüdische Wirklichkeit, allen voran die der Shoah, die Auseinandersetzung mit religiösen Konzepten unumgänglich mache: mit der messianischen Idee als dem Grund dafür, daß das Judentum keine Geschichte der Sieger sei, mit dem Gedanken des Martyriums (qiddush ha-shem) und mit der schmerzhaften Frage nach dem besonderen Charakter des jüdischen Volkes.70 68

Briefe I, 167; vgl. den Brief an L. Strauß vom 1.8.1918 (ebd., 170) sowie an E. Brauer vom 6.6.1920: Er „treibe Textkritik und noch dunklere Dinge" und sei von dem Thema seiner Dissertation „sehr begeistert [...], da es keine Spielereif,] sondern ehrliche Arbeit ist und zudem Gelegenheit zu Gedanken gibt, für deren wissendes Verschweigen man dann den berühmten summa-Doktor bekommt." (MuS, 74 Anm. 4).

69

Vgl. u.a. L'identité juive, 17ff.; Zionism, 285f. Darum die Ablehnung des gesetzlichen Verbots der bürgerlichen Ehe, „a law which has no root in our historical and Jewish conscience": für Gesetze wie dieses, das entscheidet, wer Jude ist, sollte die „lebendige historische Erfahrung", nicht „politische Zweckmäßigkeit" ausschlaggebend sein (Who is a Jew?, 138); darum auch seine Sorge über das Einreißen der „Brücken zur lebendigen Vergangenheit", über eine „Liebe zum Land Israel" ohne „Liebe zu Israel" und dem „Erbe seiner Vergangenheit" ('Od Davar, 149).

70

Vgl. Sikkaron we'utopija, in: Od Davar, 187-198; der erst 1989 veröffentlichte Vortrag nimmt die Gedanken voiweg, die Scholem 1970 im Interview mit E. Ben Ezer darlegt (vgl. Zionism, 282f.).

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Anstatt eine simple Alternative von objektiver Geschichtsforschung oder subjektiver engagierter Geschichtsphilosophie aufzustellen,71 reflektiert Scholem den „symbolischen Charakter der Vergangenheit" und die „Dialektik" des historischen Bewußtseins: Geschichte sei immer selektiv, denn das historische Gedächtnis (der Öffentlichkeit wie des Historikers) wähle aus je nach Intuition, Erkenntniskraft und den Interessen der Gegenwart. Historisches Bewußtsein sei dialektisch wie die geschichtliche Wirklichkeit, ja Wirklichkeit überhaupt, weil in jedem geschichtlichen Augenblick ein vertikaler und ein horizontaler Impuls wirke; jeder Moment sei Folge vorausgehender Lehren und zugleich von der Gegenwart verursacht.72 Geschichte ist (wie das Judentum) nicht nur vielfältig, sondern auch vieldeutig; „einzige Garantie ist der Wille zur Wahrheit"73. Gemeint ist der Wille zur historischen Wahrheit, der Wille zur „Objektivität" in der Geschichtsforschung, der eben gerade darum so wichtig ist, weil das geschichtliche Bewußtsein immer selektiv und dialektisch ist und weil die historische Kritik den „wunderlichen Hohlspiegel"74 71

72

73 74

Bezeichnenderweise bilden in der Rede zur Verleihung des Bialik-Preises (1977), wo er über die zwei Pole des eigenen Werkes spricht, das historische und das theoretischphilosophische Interesse gemeinsam, untrennbar verbunden, den einen nüchtern-trockenen wissenschaftlichen Pol seiner Arbeit (gegenüber dem weniger auffallenden, doch genauso wichtigen, weil „bewässernden" Interesse für die „imaginative Welt", d.h. die „poetisch-lyrische" Seite der Kabbala) {Od Davor, 43-46). Ebd., 187ff. In einem Brief vom 3.5.1965 widerspricht er G. Friedmann, der das Ende des jüdischen Volkes beschwört, weil das israelische kein jüdisches Volk mehr sein werde. Der Historiker erinnert an die „ungeheure Kraft des auch aus dialektischen Pendelschlägen sich wieder rekonstruierenden historischen Bewusstseins"; die Zionisten hätten wissentlich die Krise in Israel, den Verlust des historischen, d.h. jüdischen Bewußtseins, heraufbeschworen, „weil wir an die schöpferische Macht des wie immer undefinierbaren jüdischen Genius glaubten [...] eine Metamorphose der Traditionen und Formen, in denen sein Genius sich geäussert hat, stellt keinen [...] Untergang dar". (Briefe II, 130) Sikkaron we'utopija, in: Od Davar, 191. Ein offenes Wort ..., in: Briefe I, 472; vgl. die Einleitung über die mittelalterliche Aggadadeutung in Jedi'ot chadashot 'al R. Josef Ashkenasj, Tarbiz 28, 1959, wo Scholem Rabbinismus, Philosophie und Kabbala als Versuche bezeichnet, die älteren Quellen durch einen je „neuen geistigen Hohlspiegel" (''aspeqlarijá¡ zu deuten. .Jede Generation besitzt ihre eigenen Ziele und Deutungen der Geschichte bzw. Tradition [...]" - Bezogen auf das historische Judentum wurden diese Sätze in Od Davar wiederabgedruckt, vor und nach den Reden über jüdische Erziehung bzw. moderne Geschichtsdeutung (ein Weg, der im übrigen das Schicksal der meisten Scholemschen Schriften veranschaulicht!). Sie implizieren, daß auch die historische Kritik, also der vom Reformjudentum im 19. Jh. entdeckte Hohlspiegel (vgj. Die Geheimnisse der Schöpfung, 9), nur ein vorübergehendes Deutemittel ist.

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Der „Schafspelz des Philologen"

darstellt, durch den die Geschichte lebendige Bedeutung in der Gegenwart erhält. Es herrscht kein Widerspruch zwischen einer Art „funktionalem Kontinuum vom prämodernen jüdischen Chronisten zum zeitgenössischen Historiker" und dem „Glauben an die 'rein wissenschaftliche' Qualität" der historischen Arbeit, um Formulierungen von David Myers aufzugreifen.75 Gerade weil die jüdische Historiographie „a personal exercise in group genealogy"76 darstellt, die in besonderem Maße die persönliche Identifikation erfordert, legt Scholem so großen Wert auf die Forderung nach Unvoreingenommenheit und Objektivität.

2.2.2 Die Objektivität der Geschichtswissenschaft oder: Philologie als Zauberstab Der Wille zur Wahrheit ist der zentrale Gedanke von Scholems Rede anläßlich der Verleihung des Rothschildpreises im Jahre 1962, die auf englisch unter dem Titel Kabbalah and Historical Critidsm erschien und in der der Historiker für das „Streben nach Objektivität" eintritt, auch wenn dies Ziel nie völlig erreicht werden mag. Wenn es keine Wissenschaft gebe, so Scholem, dann wenigstens das Ringen um den Namen Wissenschaft.77 Er ist der ausdrücklichen Uberzeugung, daß keine Wissenschaft „pure and fact-finding" ist, wie er als Präsident der Akademie der Wissenschaften vor Naturwissenschaftlern formuliert; er bezeichnet sich selbst darum als „non-positivist humanist"78. Es sei kein großes Geheimnis, daß historisches Verstehen „eine Bewertung mit sich bringt", schreibt er am 13.1.1958 an Zwi Werblowsky anläßlich der Rezension von Sabbatai Zwï. „Ich streite es nicht ab." Doch die „allen offenkundige und zur Freude aller Kritiker deutlich auf dem Titelblatt des Buches formulierte Tatsache, daß ich Anschauungen habe [...] macht aus mir noch keinen Verteidiger oder Ankläger".79 Allen Einschränkungen zum Trotz hält Scholem die historische Kritik für das Mittel zur Sicht der Ereignisse und 75 76

Myers, The Scholem-Kurzweil Debate, 278. Ebd., 277.

77

Devarim bego, 65.

78

[Diskussionsbeitrag], in: Scientists in Search of their Conscience, Berlin-New York 1973, 154. Wobei Positivismus bei Scholem für einen „Materialismus" steht, der nicht nur alles, sondern dies auch noch „rein immanent" erklären zu können glaubt (vgl. Od

Davar, 196). 79

Briefe II, 41.

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Ideen, „wie sie wirklich gewesen sind" 80 . Unerschütterlich glaubt er an Objektivität in dem Sinne, daß es prinzipiell möglich und auf jeden Fall erstrebenswert ist, mit Hilfe philologischer Analyse herauszufinden, was sich tatsächlich ereignet oder genauer: was der Autor einer schriftlichen Quelle „wirklich gedacht" 81 hat. Besonders typisch ist in diesem Zusammenhang die Diskussion mit französischen Hermeneutikern, in der er immer wieder seine Auffassung damit verteidigt, daß sie die des (in diesem Falle biblischen) Autors wiedergibt. 82 Philologische Kritik ist eben nicht nur ein Hohlspiegel für die Erkenntnis metaphysischer Wahrheiten, die in der Gegenwart relevant sind, sondern auch ein „Zauberstab" 83 , mit dem man falsche Geschichtsbilder hervor- und entzaubern kann; durch Mißbrauch kann sie zum verzaubernden (d.h. entstellenden) „Stab der Zerstörung" werden und bleibt doch einziges Mittel, diesen Mißbrauch aufzudecken, der in der Verfälschung der historischen Wahrheit besteht und damit auch ihrer metaphysischen Implikationen für die zeitgenössischen Juden.

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Devarim bego, 398; wörtlicher „gemäß ihrem wirklichen Wesen" (vgl. Schäfer, Scholem und die „Wissenschaft des Judentums", 131; in Judaica 6, 42, von Schäfer präsentisch übersetzt: „die Probleme, Ereignisse und Ideen als das anzusehen, was sie wirklich sind, im Rahmen ihrer historischen Funktion in der Nation"; es geht aber doch um den unverstellten Blick auf die Vergangenheit). Kabbala-Forschung, 29 (wo es wieder gegen die Wissenschaft des Judentums geht, durch die „zwar jedermann erfahren [kann], wie Isaak Lurja dem Judentum geschadet, niemand aber, was er wirklich gedacht hat"). Vgl. auch sonst seine Vorliebe für das Wort „wirklich", z.B. Der Begriff der Kawwana, 505 Anm. 1 (gegen Graetz, Berliner, Enelow): „Es scheint mir [...] keineswegs überflüssig zu betonen, daß diese Untersuchung den nirküchen religiösen Sinn und Gehalt des Begriffes der Kawwana erst einmal auch nirkäch verstehen will, keineswegs aber seine Verteidigung oder Verwerfung beabsichtigt." Oder: Die Vorstellung vom Golem, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 259: „wo es uns darum ging, zu verstehen, was nirkäch die jüdische Tradition vor dem 19. Jahrhundert vom Golem ausgemacht hat" (Hervorhebungen von mir). Quelques remarques sur le mythe de la peine, bes. 158ff.l60; bezeichnenderweise, sei es mit oder ohne Absicht, ignoriert er die Bemerkung des Diskussionsteilnehmers Castelli (ebd., 155): „Vous faites une distinction fondamentale entre les textes et l'herméneutique, n'est-ce pas? Ici, nous sommes des herméneutes." Devarim bego, 393/ vgl. bereits Lyrik der Kabbala?, 55 (über die die Geschichte „verzaubernde, verwandelnde Funktion" der Wissenschaft des Judentums, die allmählich durch tiefer sehende Philologie überwunden werde) sowie Schäfer, Scholem und die „Wissenschaft des Judentums", mit 128 Anm. 28.

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Wenn Scholem in seinen veröffentlichten Schriften84 den größeren Nachdruck auf die Möglichkeit und Notwendigkeit legt, die historische Wirklichkeit objektiv zu erforschen, als auf die Zweideutigkeit der Historie, wenn er energisch die strikte Trennung der historischen Forschung von einem religiösen Ansatz fordert und stets betont, daß die „Philologie" vor Illusionen und Selbstbetrug warnt, denen die weniger mittelmäßige, aber daduch gefahrlichere Intuition und Betrachtung ausgesetzt sind85 - dann deshalb, weil er die historische Kritik so unendlich bedroht oder in Frage gestellt sieht, und zwar gleich von mehreren Seiten: einerseits - innerhalb der Reihen derer, die sie uneingeschränkt anerkennen bzw. sie sogar begründeten - von denjenigen, die sie nicht richtig, weil nicht vorurteilsfrei, sondern zu apologetischen Zwecken anwandten und so die jüdische Vergangenheit entstellten; andererseits von den halbherzigen, „heuchlerischen" Vertretern historischer Kritik, die versuchen, „die beiden Phänomene des Gläubigen und des Kritikers zu vereinen"86. Solche Versuche sind für Scholem — zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt - zum Scheitern verurteilt, wie er gegenüber einem kritischen Leser der jüdischen Mystik in ihren Hauptströmungen betont, der ihm die Fähigkeit zum gläubigen „Lauschen auf die stille Musik der Mystik" abspricht: Es hat sich mir [...] gezeigt, daß solch ein Lauschen etwas Geheimnisvolles an sich hat und nicht Sache des akademischen Studiums im Hörsaal ist. Wir alle haben diese Lehre des Lauschens nicht richtig überliefert bekommen. So ist sie sehr subjektiv geblieben und für alle möglichen Irrtümer und Mißverständnisse offen. Deshalb bin ich sehr vorsichtig, sie nicht mit Gegenständen der Forschung zu vermischen. Mir steht zu deutlich vor Augen, was dieses Lauschen Ahron Marcus bewirkt hat und was, als anderes Extrem, aus Martin Bubers Lauschen geworden ist. Ich habe daraus gelernt, vorsichtig zu sein.87

Bezieht sich die Kritik in den frühen Schriften vor allem auf die Buberianische Erlebnismystik, die es zum vordringlichsten Anliegen des Studenten werden

84

Vgl. den Brief an S.B. Urbach: „Im Gegensatz zu dem, was Sie mir zuschreiben, ist mir vollkommen bewußt, daß die Erklärung der historischen Bedeutung von Symbolen und ihrer Entwicklung keinesfalls einen Schlußstrich unter die Möglichkeit setzt, diese Symbole als Gefässe fur lebendige Inhalte des Glaubens benützen zu können. [...] Sehr häufig betonen meine veröffentlichten Schriften die einfache Tatsache, daß Philologie und Geschichte notwendige und wichtige Errungenschaften sind, ohne deren Anwendung das Gesamtbild entstellt wird; sie sind aber nicht die letzten Werte, die das Leben des Menschen bestimmen [...]" (Briefe II, 37; Hervorhebung von mir).

85

Devarim bego, 67f. Briefe II, 36. Ebd., 38.

86 87

Geschichte und Metaphysik

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ließ, mittels kritischer Philologie „die Wiederbelebung dieses unseres Erbes nicht vom unkontrollierbaren Tiefsinn, und hat er selbst Methode, kompromittieren zu lassen"88, so kritisiert Scholem in späterer Zeit die pneumatische oder existentialistische Exegese, mit der durch den späteren Buber, aber auch von anderer (mystisch-religiöser wie säkularer) Seite die kritische Historie unterminiert oder offen destruiert wird.89 Niemand brachte Scholems Sorge wohl besser auf den Punkt als sein jüngerer Freund Peter Szondi, der am 6. Juli 1969 seinem Briefpartner Jean Bollack die Motivation des Kabbalaforschers erklärt: „II faut voir combien cette peur de la pensée, cet attachement à la facticité sont un méchanisme de défense contre la folie, vieux de 50 ans."90

2.2.3 Fazit Scholems Selbstverständnis als „reiner" Philologe, so läßt sich als Fazit festhalten, ist weder als naiver Historismus zu begreifen noch als Tarnung des Kryptotheologen oder jüdischen Gnostikers. Die Alternative von Historiker oder Historiosoph wird ihm nicht gerecht. Er macht keinen Hehl aus seinen religiösen Uberzeugungen und Zweifeln und ist sich der Dialektik des historischen Bewußtseins bewußt und der metaphysischen Intuitionen seiner Historiographie. Um so nachdrücklicher verpflichtet er sich einer nach Objektivität zumindest strebenden, mit überprüfbaren kritischen Methoden arbeitenden Geschichtsforschung, die er als einzigen Garanten gegen die gefahrlichen Irrtümer von allzu subjektiven, nur noch mit religiösen oder metaphysischen Intuitionen begründeten, „unhistorischen" Einsichten versteht. Selbst wenn man einen Schritt über Scholems offen ausgesprochene Bekenntnisse hinaus wagt und die religiöse Dimension seiner historischen Kritik betont, ihm unterstellt, daß er die säkulare Historiographie als legitime Nachfolgerin des rabbinischen Kommentars begreift, ist darum Scholems Werk nichtsdestoweniger als das eines streng wissenschaftlich arbeitenden Historikers ernst zu nehmen. Als solches wird es im folgenden in erster Linie aufgefaßt, was in keiner Weise ausschließen soll, daß es auch jene meta88 89

90

Lyrik der Kabbala?, 56. Vgl. L'identité juive, 4 (zur pneumatischen Exegese bei Buber, Hirsch u.a. als versuchte Synthese aus gläubigem und notwendig säkularem wissenschaftlich-kritischen Ansatz, der letzdich nur geheuchelt sei); Devarim bego, 68 (zur Generation der sich „selbst überhebenden und hohlen 'existentialistischen Analyse'"). P. Szondi, Briefe, 274f., zitiert auch von Th. Sparr in der Einleitung zu: Scholem, Briefe II, XXVII Anm. 8.

72

Der „Schafspelz des Philologen"

physischen oder religiösen Dimensionen hat. Vielmehr ist davon auszugehen, daß neue Interpretationen seines Werkes als Religionshistoriker, die das Augenmerk auf bisher vernachlässigte Aspekte oder gar Fehldeutungen lenken, auch von Bedeutung sind für das Verständnis des „ganzen Scholem" in seiner Vielschichtigkeit und Vieldimensionalität.

3 Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik 3.1 Gershom Scholem als „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule" Im Zusammenhang mit Scholems Beziehung zu modernen Mythostheorien im letzten Abschnitt des sechsten Kapitels von Kabbalah and Counter-Histoiy bezeichnet David Biale den Kabbalaforscher als ein Kind der Religionsgeschichtlichen Schule, „a child of the Reßgionswissenschafischule of the late nineteenth and early twentieth centuries"1. Der Autor möchte damit seiner eigentlichen These Nachdruck verleihen, nach der sich der historische Ansatz Scholems von den „counter-histories" Martin Bubers und Micha Josef Berdyczewskis wesentlich unterscheide. Scholem habe keine (neuen) Mythen schaffen wollen, sondern sei im weitesten Sinne all jenen modernen Denkern — von der deutschen Romantik über Ernst Cassirer bis C.G. Jung - zuzurechnen, die das Fortdauern des Mythos im menschlichen Bewußtsein wissenschaftlich zu erklären suchten. Biale stützt die Behauptung von Scholems Verwandtschaft mit den christlichen Religionshistorikern, deren philologische Methodik und besonderes Interesse für die antike Gnosis der Kabbalaforscher teilte, durch den Hinweis auf Scholems Semitistikstudium in München, „where he came in contact with the particular methodology of the German scholars of ancient Near Eastern religions"2. Ich möchte Biales griffige Formel als Ausgangspunkt zu allen weiteren Überlegungen nutzen, wobei ich sie in einem engeren, zugleich aber auch umfassenderen Sinne verstehe, als ihr Urheber sie intendiert haben dürfte. In einem engeren Sinne, insofern ich den deutschen Ausdruck „Religions1 2

Biale, Counter-History, 142. Ebd. Vgl. auch das 7. Kap. „Messianism", wo Biale Scholem als Teil der christlichen Wiederentdeckung der Apokalyptik bezeichnet. Er bezieht sich dabei (von den Wiederentdeckern der Anabaptisten und Pietisten abgesehen) auf F. Overbeck, J. Weiss und A. Schweitzer (ebd., 152f.), ohne jedoch explizit einen Bezug zu der im 6. Kap. erwähnten „Religionswissenschaftschule" herzustellen.

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

geschichtliche Schule" für die ihrem Selbstverständnis nach ursprünglich „innertheologische Bewegung"3 protestantischer Theologen und die ihr nahestehenden Forscher verwende und nicht für jene von Biale suggerierte Gesamtheit deutscher Altorientalisten. In einem umfassenderen Sinne, weil ich hinsichtlich der Beziehung zwischen Scholem und der Schule den Akzent auf die tiefgreifende Rolle lege, die der Begriff der „allgemeinen Religionsgeschichte" mit seinen weitreichenden Implikationen in der Geschichtsschreibung dieser christlichen Gelehrten spielt.

3.1.1 Begriff und Programm der Religionsgeschichtlichen Schule Es ist hinreichend bekannt, daß die (Selbst )Bezeichnung der Religionsgeschichtlichen Schule bereits unter ihren ersten Anhängern umstritten war. Es ist eine „Schule ohne Lehrer"4, so formuliert Hermann Gunkel, also keine Schule im strengen Sinne, weil ihr „der Meister fehlt", um mit Hugo Greßmann zu sprechen, für den der Ausdruck nur einen Sinn hat „als Bezeichnung eines Kreises von wesentlich gleichgestimmten Forschern"5. Wie die Bezeichnung als Schule, so setzt sich auch der Begriff der Religionsgeschichte in ihrem Namen durch, obwohl er von Anfang an offenbar mehr Verwirrung stiftet als zur Klärung beiträgt. Bereits im Jahre 1904 hält Josef Weiss eine Erklärung für nötig, weil „man heute schon nicht mehr sicher versteht, was eigentlich mit 'religionsgeschichtlicher Methode' gemeint ist"6. Weiss versteht darunter drei Grundanschauungen. Als erstes zählt er dazu die Einsicht, daß die biblische Religion nur eine, wenn auch die wichtigste, historische Phase der christlichen Religion sei; es habe sich - insbesondere 3 4

5

6

H. Gunkel, Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung, ChrW 3 6 , 1 9 2 2 , 66. H. Gunkel, Gedächtnisrede auf Bousset, Ev. Freiheit 1920, 158, zit. nach G. Ittel, Die Hauptgedanken der „religionsgeschichtlichen Schule", Z R G G 1 0 , 1 9 5 8 , 6 7 . H. Greßmann, Albert Eichhorn und Die Religionsgeschichdiche Schule, Göttingen 1914, 25. Auch die Verfasser forschungsgeschichtlicher Studien legen Wert darauf, daß hier die „Grundvoraussetzung einer jeden Schule, daß sie nämlich von einem Manne her ihr wesentliches Gepräge empfangt, fehlt" (Ittel, Hauptgedanken, 66f.), so daß es sich soziologisch gesehen um eine „Gruppe" handle (F.W. Graf, Der „Systematiker" der „Kleinen Göttinger Fakultät", in: H. Renz/F.W. Graf (Hg.), Troeltsch-Studien. Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte, Gütersloh 1982, 289; vgl. auch A. Ozen, Die Göttinger Wurzeln der „Religionsgeschichtlichen Schule", in: G. Lüdemann (Hg.), Die „Religionsgeschichtliche Schule", Frankfurt a.M. 1996,23-64, bes. 23). J. Weiss, [Rez. von] Heitmüller, „Im Namen Jesu", ThR 7, 1904, 185. Zu Weiss' nicht unproblematischem Verhältnis zur Schule vgl. Graf, Der „Systematiker", 259-265.

Gershom Scholem als „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule"

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gegen die Dogmatik A. Ritschis - „der geschichtliche Sinn in der Erkenntnis" erhoben, „dass die biblischen Ideen nicht unverkürzt mit Luthers Glaubensgedanken oder modernen Anschauungen gleichgesetzt werden könnten"7. Zum zweiten, so Weiss, wuchs das „Verständnis dafür, dass die Lehren nur Ausdrucksformen sind für ein religiöses Empfinden und Wollen. Die Religion selber als ein eigentümliches Leben wird Gegenstand des Studiums".8 Drittens schließlich gehöre zur religionsgeschichtlichen Methode die Heranziehung des zeitgeschichtlichen Milieus bzw. des hellenistischen Synkretismus. Weiss verwehrt sich gegen plumpe Ableitungen, verteidigt aber nachdrücklich, daß „die v e r g l e i c h e n d e Religionsgeschichte zur Darstellung der Wanderung religiöser Ideen aus einer Religion in die andere übergehen darf und soll"9, wenn sich historische Verbindungslinien ziehen lassen. Diese drei Prinzipien tauchen in allen methodologischen Überlegungen der Religionsgeschichtlichen Theologen wieder auf, allerdings mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. So legt Hermann Gunkel - ebenfalls im Jahr 1904 - den größten Wert darauf, daß religionsgeschichtliche Methode nichts weiter meine als das Ernstmachen mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit der christlichen Religion. Der Ausdruck Religionsgeschichte stehe darum nicht primär für die Berücksichtigung nichtchristlicher Religionen.10 Wilhelm Bousset betont dagegen zur selben Zeit, man könne von religionsgeschichtlicher Arbeit „im strengen Sinne des Wortes" 11 erst reden, wenn „man in ihr den Sehwinkel nicht auf eine Religion allein stellt, sondern den Blick vergleichend über die verschiedenen Religionsgebiete wandern läßt"12. Dies führe zu einer doppelten Horizonterweiterung der theologischen Forschung, nämlich zunächst auf die naive Frömmigkeit der unteren Schichten (weil insbesondere die Literatur des Spätjudentums eine Literatur der Masse gewesen sei) und schließlich: Indem man aber so, auf die Unterströmungen im religiösen Leben, auf das, was die Masse bewegte, auf das Unformulierte, auf das nicht bewusst, sondern in Sitte und Kultur unbewusst Festgelegte achten lernte, wurde man nun zugleich in der Forschung

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11 12

Weiss, [Rez. von] Heitmüller, „Im Namen Jesu", 186. Ebd., 187. Ebd., 188 (Hervorhebung i.O.). Vgl. Gunkel, Rez. von Max Reischle, Theologie und Religionsgeschichte (Tübingen 1904), DLZ 25, 1904, 1 1 0 0 f . l l 0 9 ; Reden und Aufsätze, Göttingen 1913, 26; Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung, 66. W. Bousset, Die Religionsgeschichte und das neue Testament, ThR 7 , 1 9 0 4 , 270. Ebd., 271.

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik mit natürlicher Notwendigkeit auf die allgemeine Religionsgeschichte und den religionsgeschichdichen Vergleich hingedrängt. 13

Der Begriff der Religionsgeschichte nimmt in der Schule also - mindestens dreierlei Bedeutungen an: Zum einen steht er für die Geschichte der christüchen Religion, d.h. die Tatsache, daß die christliche Religion geschichtlich geworden ist. Zum anderen meint er die Religionsgeschichte der vorderonentalischen Religionen aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Christentums, d.h. die Tatsache, daß die christliche Religion nur durch Kenntnis der historischen Abhängigkeiten und Neuerungen gegenüber den Umweltreligionen adäquat zu erfassen ist. Drittens schließlich bezeichnet er die allgemeine Religionsgeschichte, d.h. die Tatsache, daß das Christentum eine unter vielen historischen Manifestationen von Religion (im Singular) in der Menschheitsgeschichte ist.14 Gerade letzteres birgt zahlreiche Implikationen, wie die von Bousset besonders nachdrücklich propagierte Heranziehung von Erkenntnissen über primitive Religionen zur Erklärung des sogenannten Frömmigkeitslebens der Masse, aber auch die Notwendigkeit, den Ort des Christentums in der Religionsgeschichte überhaupt, traditionell ausgedrückt, das Verhältnis von natürlicher Religion und Offenbarung, neu zu bestimmen. 15 Die unterschiedlichen Schwerpunkte bei der Definition der religionsgeschichtlichen Methode verdanken sich nicht nur den individuellen Profilie13

14

15

Ebd., 272f.; vgl. bereits Bousset, Zur Methodologie der Wissenschaft vom neuen Testament, ThR 2, 1899, bes. 8-10, sowie: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum, Göttingen 1892, bes. 4.9f., die wenig beachtete Eröffnung der methodologischen Diskussion (vgl. H. Paulsen, Traditionsgeschichtliche Methode und religionsgeschichtliche Schule, ZThK 75,1978, 34). Vgl. das Fazit Ittels, „daß es der religionsgeschichtlichen Schule primär um das geschichtliche Verständnis der eigenen Religion gegangen ist, daß dies aber notwendig eben durch das Mittel der Analogie [die als Kriterium der Wahrscheinlichkeit von Uberlieferungen Hauptmittel der historischen Kritik sei, E.H.] - eine Einbeziehung des Christentums in den Rahmen der allgemeinen Religionsgeschichte zur Folge haben mußte" (Ittel, Hauptgedanken, 66); vgj. auch G. Lüdemann, Die „Religionsgeschichtliche Schule" und die Neutestamentliche Wissenschaft, in: ders. (Hg.), Die „Religionsgeschichtliche Schule", 9-22, bes. 9ff.). Nach Troeltsch, Gesammelte Schriften II, 500f., bedeutet der Ausdruck Religionsgeschichtliche Schule „im allgemeinen nichts anderes als die in der ganzen wissenschaftlichen Welt verbreitete Erkenntnis, daß die Religion der Menschheit nur in einer Vielzahl einzelner religiöser Bildungen vorliegt, die sich in vielfacher gegenseitiger Berührung und Beeinflussung entwickeln und zwischen denen nicht mit dem alten dogmatischen Mittel der Unterscheidung einer natürlichen und übernatürlichen Offenbarung die Entscheidung getroffen werden kann."

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rungen der einzelnen Forscher, sondern auch apologetischen Zwängen, da die Schule von Anfang an heftigen Angriffen ausgesetzt war.16 Dabei kritisierte man nicht nur die (vermeintliche) Infragestellung der Originalität des Christentums durch das Aufzeigen historischer Parallelen und Abhängigkeiten. Es ging auch um die Inanspruchnahme einer allgemeinen Religionsgeschichte, deren Etablierung als akademisches Lehrfach auf heftigen Widerstand stieß. Losgelöst von der Sprache und Geschichte der einzelnen Völker „zu einem heillosen Dilettantismus"17 verurteilt, so Adolf von Harnack in seiner berühmten Rektoratsrede aus dem Jahre 1901, gebe es eine allgemeine Religionsgeschichte „nur als unendliche Aufgabe vieler Disziplinen, dafür richtet man keine Lehrstühle ein, weder bei der theologischen noch bei der philosophischen Fakultät"18. Entsprechend polemisiert der Kirchenhistoriker19 in seiner Rezension von Boussets Hauptprobleme der Gnosis (1907) gegen diejenigen, „die das Interesse für sehr untergeordnete Fragen der Geschichte des Christentums durch den eigens für sie vorbehaltenen Tiele 'religionsgeschichtlich' zu beleben suchen"; denn „was treiben wir alle denn anderes als 'allgemeine und vergleichende Religionswissenschaft? Wir führen nur nicht immer das stolze Wort im Munde, und wir meinen nicht, daß 'Religionsgeschichte' dort aufhört, wo die Mythologie aufhört und der Logos einsetzt."20 16

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So ist die oben erwähnte Auffassung Gunkels einmal konkret gegen den zu engen Sprachgebrauch Max Reischles gerichtet (der unter Religionsgeschichte nur die Ableitung aus fremden Religionen verstehe), das andere Mal gegen die Polemik Kittels (daß die Schule durch den wachsenden Einfluß der orientalischen Ausgrabungen und der Allgemeinen Religionsgeschichte entstanden sei); an anderer Stelle würdigt Gunkel stärker die „Bereicherung" der altorientalischen Religionsgeschichte durch die neuen Funde (Gunkel, Reden und Aufsätze, 19; vgl. auch Gunkels (undatierten) Brief an A. v. Harnack, in: H. Rollmann, Zwei Briefe Hermann Gunkels an Adolf Jülicher zur religionsgeschichtlichen und formgeschichtlichen Methode, ZThK 78, 1981,287). Harnack, Reden und Aufsätze II, Gießen 1904,167. Ebd., 182. Vgl. H. Rollmann, Theologie und Religionsgeschichte, ZThK 80, 1983, 6984. Auf dessen Vaterschaft die Schule sich gern beruft (vgl. z.B. Bousset, Die Religionsgeschichte, 266f.; Greßmann, Albert Eichhorn, 26); zu Scholems Auseinandersetzung mit Harnack vgl. jetzt außer GeF, 74, auch die Tagebuchnotiz über die Vorlesung „Kirchengeschichte von den Anfangen bis zur Gegenwart", die er im Winter 1915/16 hört und deren Bild vom antiken Judentum (bes. der Essäer) er heftig kritisiert (Tagebücher 1913-1917, 177). Wegen Harnacks Haltung zum Weltkrieg erwähnt er den „Durchhalte, harter Nockenl" (ebd., 345) außerdem am 2. Jahrestag der deutschen Mobilmachung. ThLZ 1908, 10-13, zitiert nach dem Wiederabdruck in K. Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, Darmstadt 1975, 231. Hugo Greßmann reagiert prompt auf diesen Vor-

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Die Harnacksche Polemik könnte auch auf das Programm des jungen Kabbalaforschers gemünzt sein, der im Jahre 1923 seine Dissertation über das kabbalistische Buch Bahir abschließt. Scholem verbirgt sein methodologisches Credo hier in einer Anmerkung. Er formuliert es negativ, als Kritik am Vorgehen der jüdischen Historiker, die „die Entwicklung der Kabbala prinzipiell mehr in philosophiegeschichtlichen als in religionsgeschichtlichen Zusammenhängen suchten (Neumark, Ehrenpreis u. a.), eine Einstellung, die hier prinzipiell verlassen wird" 21 . Es ist dieselbe programmatische Vorentscheidung, wie er sie Jahrzehnte später noch einmal formuliert, in jener umfassenden „Einleitung, die ich damals in jugendlichem Übermut verhieß" und die „ihre verantwortliche Form erst viele Jahre später in meinem Buch 'Ursprung und Anfänge der Kabbala' erhalten"22 hat. In diesem Buch erklärt Scholem nachdrücklich: Die einfache und doch sich im Detail sehr folgenreich auswirkende methodische Voraussetzung der folgenden Untersuchungen und der in ihnen zum Ausdruck kommenden Anschauungen ist, daß die kabbalistische Bewegung im Judentum adaequat nicht in den Kategorien der Philosophiegeschichte dargestellt werden kann, sondern nur in denen der Religionsgeschichte, so eng sich streckenweise auch ihre Verbindung mit der Philosophie erweisen mag. 23

Scholem will den ,,fundamentale[n] Tatbestand" berücksichtigen, „daß es religiöse Motive und keine anderen waren, die die Entwicklung der Kabbala entscheidend bestimmt haben"24. Darstellung in den Kategorien der Religionsgeschichte bedeutet zunächst die Klärung der Herkunft dieser Motive aus den religiösen Quellen vor und während der Entstehimg der kabbalistischen Bewegung, dann aber auch die Berücksichtigung der Tatsache, daß es sich bei der Kabbala nicht um Philosophie, sondern um eine religiöse Bewegung, d.h. um ein Phänomen der allgemeinen Religionsgeschichte handelt. Wie sehr diese Programmatik aus dem Geist der Religionsgeschichtlichen Schule zu verstehen ist, zeigt sich in Scholems Brief an Chaim Nachman wurf, wenn er das Schlagwort religionsgeschichtlich u.a. deshalb für anfechtbar hält, „da es den falschen Schein erweckt, als hätte die religionsgeschichtliche Schule das Monopol für Religionsgeschichte gepachtet. Solche Anmaßung liegt ihr selbst völlig fem." (Greßmann, Albert Eichhorn, 25). 21 22

23 24

Scholem, Das Buch Bahir, 20 (Anm. 1 zu § 16). So Scholem im Vorwort zur Neuausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt 1970). Ursprung und Anfänge, 8. Ebd.

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Bialik, in dem er zwei Jahre nach seiner Ankunft in Palästina die Hauptprobleme der philologischen Kabbalaforschung darlegt.25 Als erstes nennt Scholem die Frage nach dem Alter der Kabbala und den Umständen ihrer Entstehung, nämlich ob diese im Judentum oder in anderen religiösen Strömungen zu suchen seien. Eng damit verbunden sei das zweite Kernproblem, die innere Entwicklung der Kabbala, worunter Scholem in erster Linie die Frage nach der Herkunft bzw. Originalität der diversen kabbalistischen Traditionen versteht Gegenwärtig, da die Erforschung der Religionsgeschichte in hellenistischer Zeit in neuer Weise beginne, werde die Frage nach Beziehungen der Kabbala zu dieser Epoche oft gestellt. Gerade die Frage nach dem Ursprung der Kabbala ist darum für Scholem von großer Bedeutung für die „allgemeine Religionsgeschichte" (toledot ha-dat

ha-kelalit).2b

3.1.2 Scholems frühe Beschäftigung mit Bibelkritik und allgemeiner Religionsgeschichte Die neu veröffentlichten Briefe und Tagebücher dokumentieren den Weg, der das „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule" zu deren Methode führt, einen Weg, der schon vor dem Studium der Semitistik in München beginnt. Eine intensive (und von heftiger Polemik bestimmte) Auseinandersetzung mit der christlichen Bibelkritik sowie das Studium der allgemeinen Religionsgeschichte begleiten bereits die Jahre, die der Entscheidung zur Promotion über das Buch Bahir vorausgingen — jene im Schocken-Brief erwähnten „Jahre des erregten Denkens", die mit der Ablehnung wissenschaftlicher „Systematiker nach europäischer Methode" 27 beginnen und beim Selbstverständnis als „Wissenschaftsfanatiker"28 enden. Insbesondere die Beschäftigung mit der christlichen Bibelwissenschaft ist von großer Bedeutung fur Scholems Entwicklung zum Verfechter strenger philologischer Maßstäbe bei der Erforschung der Kabbala.

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28

Devarim bego, 59-63; deutsche Übersetzung (von P. Schäfer): Judaica 6, 55-67. Devarim bego, 60. David Biale verweist auf diesen Brief im Zusammenhang mit Scholems Versuch, das hohe Alter des Zohars nachzuweisen (vgj. Counter-History, 116ff.) bzw. die Kabbala als „product of an underground tradition of Jewish Gnosticism which started in late antiquity" (ebd., 133) darzustellen, jedoch nicht im Zusammenhang mit der christlichen Gnosisforschung, zu der Scholem selbst sein („religionsgeschichtliches"!) Interesse an Ursprung und Originalität der Kabbala in Beziehung setzt. Tagebücher 1913-1917, 64 (27.11.1914; es geht um die wissenschaftliche Talmudforschung). Ebd., 249 (25.1.1916).

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A m gründlichsten prüft der Heranwachsende die Thesen Julius Wellhausens, der damaligen Autorität schlechthin in der philologischen Bibelforschung. 29 Als Sechzehnjähriger ist Scholem v o m „Wahnsinn der Wellhausenschen Geschichtsschreibung" (die davon ausgeht, daß „Gesetz", die Tora, ein spätes Produkt der Geschichte Israels ist!) überzeugt und lehnt sie als „ein Erzeugnis wissenschaftlichen Antisemitismus und christlicher Überhebung" strikt ab. 30 Doch ein halbes Jahr später fragt er sich selbstkritisch: „Gerhard Scholem, wie steht es mit deiner Stellung zur Bibelkritik?" 31 Er macht Zugeständnisse an Beobachtungen zur Quellenscheidung 32 und studiert im November 1 9 1 7 „zum erneuten Male die 'Prolegomena zur Geschichte Israels' v o n Wellhausen, um doch endlich zu einer Auseinandersetzung mit diesen Ansichten zu gelangen, die so meinen Widerspruch von je erregen" 33 . Dabei ist ihm Gunkel in jeder Hinsicht sympathischer als Wellhausen [...] Der unsäglich schnöde Ton, der gegen den 'Judaismus' von Wellhausen [...] angeschlagen wird, gibt zu denken. Natürlich bin ich nicht so unbillig, das als Argument gegen seine sachlichen Gründe anzusehen, und eben Gunkel z.B., der über die Kritik hinaus die Bibel nicht beschmutzt, sondern sich ehrlich um eine Würdigung der Sache bemüht, scheint mir viel geeigneter zu einer sachlichen Auseinandersetzung.34

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Auf dessen „Vaterschaft" sich die Verfechter der religionsgeschichtlichen Methode stets berufen, wenn es darum geht, daß sie die „Philologie", nämlich Text- und Literarkritik, nicht ersetzen wollten, sondern selbstverständlich als unerläßliche Voraussetzung ihrer Arbeit betrachten (vgl. Gunkel, Reden und Aufsätze, 13.18.22; Bousset, Die Religionsgeschichte und das neue Testament, 266; Greßmann, Albert Eichhorn, 26.30; Klatt, Hermann Gunkel, 46f.). Tagebücher 1913-1917, 59 (Notiz vom 23.11.1914). Zum (verbreiteten) AntisemitismusVorwurf vgl. R. Smend, Wellhausen und das Judentum, in: ders., Epochen der Bibelkritik, München 1991,186-215. Ebd., 146 (Notiz vom 13.8.1915). Vgl. z.B. die Bemerkung vom 25.11.1916: „An einigen Stellen kann man übrigens der Kritik die auf den ersten Blick in die Augen fallende Eigentümlichkeit nicht abstreiten, mit der einige Geschichten wiederholt werden, mit einem anderen Gottesnamen. Stilistische Unterschiede habe ich bisher nur solche gefunden, die im Gegenstand begründet sind ..." (ebd., 436). Briefe I, 124 (an A. Heller, 28.11.1917) - „unter Nachlese aller Bibelzitate", wie er am 4.12.1917 an H. Heymann schreibt (ebd., 129). Ebd., 129 (Hervorhebung i.O.). Es folgt der Nachtrag: „Daß der berühmte Bernhard Duhm, von dem ich nun viel kenne, meine schärfste Ablehnung findet, ist hierbei nachzutragen. Sein großer Kommentar zu Jesaja ist höchst minderwertig, an einigen Stellen lehrreich, meistens aber übel." Zu Duhms Bedeutung fur die Religionsgeschichtler vgl.

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Scholems Probleme mit dem „kritischen Wechselbalg" 35 , wie sie sich in seinen Tagebüchern niederschlagen, sind vielfaltiger Natur. Sie betreffen nicht nur die Quellenscheidung, den Antisemitismus oder auch die Spätdatierung der Erwählung Jerusalems nach der unbeweisbaren, weil „geschichtsphilosophischen Konstruktion" von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (der „erste Haupt- und Staatsmensch der Kritik" 36 ). Es geht auch um die Berechtigung und die Folgen der wissenschaftlichen Kritik überhaupt, die den Relativismus in die Bibel getragen hat 37 , eine Auseinandersetzung, die mit Reflexionen über Geschichtsphilosophie, über den „Abgrund der historischen Skepsis" 38 und der Wissenschaft generell verknüpft ist. Die autobiographischen Quellen werfen ein neues Licht nicht nur auf Scholems geschichtsphilosophische Ideen über das Judentum, sondern auch auf seine komplexe Beziehung zur Bibel (deren Lektüre den Sechzehnjährigen „halb ekstatisch erregt" 39 ) und seine ambivalente Haltung zur christlichen Bibelforschung, die eine eigene, tiefergehende Untersuchung verdienten. 40 Auf

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A.F. Verheule, Wilhelm Bousset, Amsterdam 1973, 298f.; Graf, Der „Systematiker", 255.283. Scholem, Tagebücher 1913-1917,447 (16.12.1916). Ebd., 446. Vgl. ebd., 41 lf. (27.10.1916). Es ist nicht zuletzt die Frage nach der „Göttlichkeit der Bibel" ohne orthodoxe Auffassung von Offenbarung, die Scholem umtreibt. Zuerst versucht er es mit einem von Nietzsche und Buber inspirierten, ausgesprochen ahistorisch-ästhetizistischen Mythosbegriff - die Bibel als von „unbekannte[n] Dichter[n]" geschaffene „Mythen gewaltigster Art, wie kein anderes Volk auf Erden sie hervorgebracht hat", von „erhabener Schönheit und urwüchsiger Kraft der Vorstellung" (ebd., 69; zum Ahistorismus vgl. ebd., 43: „Weg mit der geschichtlichen Betrachtung!"). Bis er schließlich zu seiner Definition vom Judentum als Historie findet, die dann seine Deutung der Bibel bestimmt: als Offenbarung der „absoluten Wahrheit", die von der jüdischen Tradition überliefert wird (vgl. ebd., 411). Ebd., 282 (8.3.1916); vgj. bes. die Gedanken über die Gespräche mit W. Benjamin (ebd., 142.176f.); dazu auch Kopp-Oberstebrink, Unzeitgemäße Betrachtungen, 101-105. Scholem, Tagebücher 1913-1917,236. Die vielleicht zur Klärung der vielkritisierten Unklarheit von Scholems Aussagen über „das biblische Stadium des Judentums" (Schweid, Judaism and Mysticism, 61) beitragen könnte. In der Tat scheint er ein ambivalentes Verhältnis zur Erforschung der Bibel als einer historischen Quelle für die israelitische Geschichte gehabt zu haben, betonte er doch stets die Bedeutung der Bibel als religiöse (Offenbarungs-)Urkunde („The continuity of the Biblical period existed within a religious reality and not within a historical reality": Zionism, 278) und läßt das Judentum eigentlich erst zur Zeit des Zweiten Tempels beginnen. Dennoch stellt Scholem gelegendich, z.B. in manchen Eranosvorträgen, zu Beginn der Darstellung eines kabbalistischen Begriffs dessen biblische Auffassung voran oder besser der kabbalistischen Interpretation gegenüber. Vgl. Sünde und Strafe,

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jeden Fall zeigen sie, daß der spätere Kabbalaforscher in erster Linie von der christlichen Bibelwissenschaft her zu seiner philologischen Methode fand ungeachtet seines heftigen Widerspruchs gegen ihre philosophisch-theologischen Folgerungen, seiner Einsicht in die Gegenstandslosigkeit der Kritik, wie er selbst seine Einstellung zum christlichen Offenbarungs- und Geschichtsverständnis kurz und bündig zusammenfaßt.41 Als er zu schwanken beginnt in seiner Ablehnung der Theorien Wellhausens, fragt Scholem sich nach dem Grund: „Ich weiß eigentlich nicht genau, warum, vielleicht ist es die Beschäftigung mit der orientalischen Religionsgeschichte, besonders dem Osten, der unbewußt solchen Einfluß übt." 42 War es ursprünglich das Interesse an der Geschichte Israels infolge seines jüdischen Erwachens, daß den jungen Zionisten Jahre vor seiner Hinwendung zur Kabbalaforschung zur Lektüre christlicher Alttestamentler veranlaßte, so scheint die Beschäftigung mit nichtjüdischer Religionsgeschichte primär von Martin Buber beeinflußt oder motiviert gewesen zu sein. So hegt der Sechzehnjährige die Hoffnung, im Tao te King ein ebenso „sehnsüchtiges Buch"43 zu finden wie die Bibel, sieht im symbolischen Gleichnis über die Wandlung, wie es Martin Buber in Reden und Gleichnisse des Tschuang-Tse (Leipzig 1910) überliefert, ein Bild für die eigene „Anschauung vom Geiste"44, und verweist Walter Benjamin auf Bubers Werk anläßlich eines Gesprächs über „den Orientalen [...], der als das Wesentliche die 'Bahn', den Weg sieht".45 Im Wintersemester 1915/16 besucht er jeweils eine Vorlesung von Eduard Meyer

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2f., wo er die Bibel einerseits wirkungsgeschichtlich (als das einheitliche „Dokument religiöser Offenbarung", als das es in der jüdischen Geschichte gewirkt habe) auffassen will, andererseits die je verschiedene Auffassung der biblischen Autoren selbst historisch-kritisch betrachtet. Auffällige rweise bezieht sich Scholem, wenn er die biblische Religion historisch behandelt, oft auf die christliche (alttestamentüche) Forschung, aber selten auf jüdische Bibelforscher. „Von der Kritik habe ich jetzt einen klaren Begriff, nachdem ich sie durchaus verwerfen muß[J da sie gegenstandslos ist." (Brief vom 1.11.1918 an L. Strauss bzgl. der Lektüre von Numeri [Briefe I, 183]; Hervorhebung i.O.) Vgl. sein Fazit gegenüber E. Burchhardt (ebd., 184f.): „Ich glaube nun schließlich auch schon urteilsfähig in den Grundfragen der Bibelwissenschaft zu sein und sehe jetzt am allertaugjichsten Objekte meine maßloseste Vermutung über die fundamentale Unfähigkeit dieser Betrachtungsweise und dieser Betrachter bestätigt." Tagebücher 1913-1917,146. Ebd., 51 (17.11.1914). Ebd., 55 (18.11.1914). Ebd., 142 (4.8.1915).

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über Grundprobleme der Retigionsgeschichtf6 und von Ernst Troeltsch, dem sogenannten „Systematiker oder Dogmatiker der Religionsgeschichdichen Schule" 47 , der über Reügionsphilosophie auf religionsgeschichtücher Grundlage liest. An Troeltschs Vorlesung erinnert der Kabbalaforscher sich noch Jahre später, daß sie „mich seinerzeit ungewöhnlich unbefriedigt gelassen hat" 48 . Im kommenden Semester belegt er eine Vorlesung über den Buddhismus bei Hermann Beckh 49 und liest dazu ein Buch von Th.W. Rhys Davids, das ihm „sehr gut" 50 gefallt. In seinen ersten Semestern in München 1918-1919 hört er bei dem Amerikanisten Walter Lehmann, von dem ihm Walter Benjamin erzählt hatte, eine „außerordentlich interessante]" 51 Vorlesung über religiöse Dichtung der Mayas. Daß er Morris Jastrows Einführung in Die Religion babyloniens und Assyriens (Gießen 1905-1912) studiert, ist für einen Promovenden im Hauptfach Semitistik natürlich selbstverständlich - Scholem schätzt das Werk, denn es ist „ohne jede assyriologischen Kenntnisse lesbar, völlig exakt und enthält in der Tat äußerst wertvolle Dinge beisammen" 52 , wie er im Dezember 1920 an Erich Brauer schreibt. Doch auch die sogenannten primitiven Religionen beschäftigen ihn bereits in dieser Zeit: Die geistige Kultur der Naturvölker (Leipzig 1914) von K.Th. Preuß, schreibt Scholem im selben Brief, „liest sich sehr angenehm, wie es scheint, und scheint methodologisch gerade sehr aufschlußreich. Und vorläufig ist ja wohl die Methode noch eins der Hauptschlachtfelder der

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Ebd., 176 (28.10.1915). Im Artikel über „Die Dogmatik der 'religionsgeschichtlichen Schule'" von 1913 erwähnt Troeltsch selbst, daß er als „Systematiker oder Dogmatiker" der Schule gelte, ohne dem zu widersprechen; um so mehr Wert legt er auf die genaue Unterscheidung von religionsgeschichtlicher Systematik und Dogmatik; beides wiederum scheidet er nachdrücklich von der Interessensrichtung innerhalb des „religionsgeschichtlichen Denkens", die sich der historischen Forschung widmet (Troeltsch, Gesammelte Schriften II, 500); zur Problematik der Bezeichnung vgl. Graf, „Der Systematiker", 236-239. In einem Brief an K. Rudolph vom 27.12.1962 (Briefe II, 90). Obwohl Troeltschs Religionsphilosophie „sehr leicht ist, aber eben im tiefsten nichts wert ist", wie er am 2.10.1917 an A. Heller schreibt (Briefe I, 104; Hervorhebung Ì.O.), erscheint der Name vergleichsweise häufig in seinen Aufzeichnungen (vgl. Tagebücher 1913-1917, 176.187.208.233.251f.). Vgl. das Berliner Zeugnis im Scholem-Archiv 0NULA 4° 1599/7); Briefe I, 105; sowie H. Beckh, Buddhismus (Buddha und seine Lehre), 2 Bde., Berlin 1916. Briefe 1,129; vgl. Th.W. Rhys, Der Buddhismus, Leipzig o.J. (in Scholems Bibliothek). VBnJ, 168f.; vgl. Scholems Kollegbuch der Münchner Universität (JNULA 4° 1599/7); MuS, 57; GeF, 47; Engel der Geschichte, 81f. Briefe I, 211; vgl. auch das Zitat von B. Meißner, Babylonien und Assyrien I, Heidelberg 1920, in der Dissertation (Das Buch Bahir, 153, im Zusammenhang mit der TamarSymbolik).

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Religionsgeschichte."53 Alles in allem hat der angehende Philologe der Kabbala spätestens Ende 1920 „die Abteilung Religionsgeschichte meiner Bibliothek jetzt als selbständig erklärt"54. Scholems frühes Interesse an Religionsgeschichte weit über die Geschichte des hellenistischen Synkretismus hinaus läßt sich als Hinweis darauf verstehen, daß der Philologe der Kabbala unter seiner eigenen religionsgeschichtlichen Methode nicht nur die Einbeziehung der direkten historischen Nachbarreligionen der jüdischen Religion bzw. ihrer mystischen Strömungen verstand. Auch bei ihm scheint Religionsgeschichte stets etwas mit der „allgemeinen Religionsgeschichte" zu tun zu haben, mit der religiösen „Geschichte der Menschheit"55 überhaupt, von den Naturvölkern bis zu den alten Hochkulturen des fernen Ostens. Vor diesem Hintergrund scheint es um so lohnender, die Bemerkung vom „Kind der religionsgeschichtlichen Schule" zum Anlaß zu nehmen für eine Untersuchung, in deren Zentrum die Frage steht nach Scholems Bild von der Religion oder der Religionsgeschichte generell innerhalb seiner „religionsgeschichtlichen" Betrachtungsweise der Kabbala.

3.1.3 Wilhelm Bousset und Richard Reitzenstein als Vertreter der Schule In der folgenden Untersuchung sollen grundlegende Ideen bzw. zentrale Theoreme der Religionsgeschichtlichen Schule und der Allgemeinen Religionsgeschichte (im Sinne einer sich zusehends etablierenden akademischen Disziplin) als eine Art Folie dienen, vor deren Hintergrund die Scholemsche Deutung der Kabbala dargestellt und interpretiert wird. Die Auswahl der Schriften richtet sich danach, daß die religionswissenschaftlichen Prämissen der religionsgeschichtlichen Methode und nicht ihr theologischer Ertrag für die christliche Dogmatik bzw. die Historiosophie des Judentums zur Diskussion steht. So wird primär Wilhelm Bousset (1865-1920) als Vertreter der Position der Religionsgeschichtlichen Schule herangezogen. Denn Bousset, dem es in größerem Maße als seinen Kollegen um jene allgemeine Religionsgeschichte ging, verfaßte außer seinen Studien zur Geschichte der Gnosis und des antiken Judentums auch Schriften, die direkt über sein Verständnis von Religion überhaupt Aufschluß geben. Dabei darf Bousset wohl als repräsentativ für die Schule gelten; als Angehöriger bereits der „Kleinen Göttinger

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Briefe 1 , 2 1 1 . Ebd., 212. Bousset, Leben Jesu, 10.

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Fakultät" ist seine Zugehörigkeit zur Schule jedenfalls nicht jenen „zum Teil absurde[n] Zuordnungen"56 zuzurechnen, die den Begriff der Religionsgeschichtlichen Schule fragwürdig machen. Darüber hinaus legt selbstverständlich auch die enge sachliche Beziehung zwischen Boussets zentralem Forschungsgebiet und Scholems Erforschung der „jüdischen Gnosis" (verbunden mit der Tatsache, daß Boussets größeren historischen Werke zu Gnosis und Judentum allesamt in Scholems Bibliothek vertreten sind57) die besondere Berücksichtigung von Bousset nahe. Aus demselben Grund wird Richard Reitzenstein (1861-1931) herangezogen, jener Altphilologe und Usenerschiiler, der entscheidend dazu beigetragen hat, daß man von einer „Arbeitsgemeinschaft"58 zwischen der Religionsgeschichflichen Schule und der Schule Useners gesprochen hat.59 Nicht nur wegen seiner Forschungen zur hermetischen Literatur und den hellenistischen Mysterienreligionen, sondern auch aufgrund seiner grundsätzlichen Reflexionen wird er völlig zu Recht häufig mit Wilhelm Bousset in einem Atemzug genannt und mit diesem zusammen zu denjenigen Religionsgeschichtlern gezählt, die die Relevanz der allgemeinen Religionsgeschichte für die religionsgeschichtliche Methode besonders betonen.60

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Graf, Der „Systematiker", 239; man denke auch an Biales vagen, sehr weit gefaßten Begriff von einer deutschen „Religionswissenschaftschule". Wobei bes. in dem Exemplar von Kyrios Christos, Göttingen 1913, relativ viel angestrichen ist und sich auf dem ersten Blatt links neben dem Vorwort die handschriftliche Notiz findet: „Ein Buch über diesen Gegenstand, in dem an keiner einzigen Stelle derjenige Vers, der am meisten zur Sache gehört, auch nur erwähnt istlll/Protestantische Wissenschaftll/Malachi 3,1: ha-'adon 'asher 'attem mevaqeshim fin hebr. Schrift]". Nach brieflicher Auskunft von H. Kopp-Oberstebrink findet sich bereits in Scholems 1923 angefertigtem „Verzeichnis der Bücher des Dr. Gerhard Scholem" (der Zolliste für die Emigration) in der Abteilung „IX. Religionsgeschichte" Boussets Hauptprobleme der

Gnosis.

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Greßmann, Albert Eichhorn, 29. Reitzenstein will der Theologie „nur Handlangerdienste tun", schreibt er im Vorwort zu Poimandres, Leipzig 1904, V, einer „Arbeit auf dem Grenzgebiet zwischen Philologie und Theologie. Ich habe sie als rein philologische betrachtet und hoffentlich auch behandelt" (ebd., VI); vgl. auch Die hellenistischen Mysterienreligionen, Darmstadt 1956, 2, sowie R. Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte, Frankfurt a.M. 1994, 193-241, bes. 198f. Vgl. Ittel, Hauptgedanken, 63. Auch zwei Werke Reitzensteins finden sich offenbar bereits in der oben (Anm. 57) erwähnten Bücherliste des jungen Scholem: Zwei Religionsgeschichtliche Fragen, Straßburg 1901; Das iranische Erlösungsmysterium, Bonn 1921.

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Vor allem aber soll der Blickwinkel über die Religionsgeschichtliche Schule hinaus auf jene expliziten Vertreter der allgemeinen Religionsforschung gelenkt werden, die mit der Schule persönlich und ideell eng verbunden waren: Rudolf Otto (1869-193η und Friedrich Heiler (1892-1967). Besonders Otto, als einer der „Zeitgenossen der ersten Generation"61 ins „Solidaritätsgefuhl der Freunde der 'religionsgeschichtlichen Schule' [...] mit eingeschlossen"62, verbinden mit Bousset persönlich wie sachlich viele Berührungspunkte, nicht zuletzt das gemeinsame Engagement für die „neufriesische Schule"63. Ein wichtiger Faktor dieser Solidarität ist die gemeinsame Front gegen die aufkommende Dialektische Theologie, den „Fieberzustand"64 der jungen deutschen Theologenwelt, wie es bei dem selbst erst knapp über 30jährigen Friedrich Heiler heißt. In den Augen dieser jüngeren theologischen Bewegung vertritt die liberale Theologie einschließlich der Religionsgeschichtlichen Schule

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O. Eissfeldt, Art. Religionsgeschichtliche Schule, RGG 2 IV, 1930, 1898f. H. Kahlert, Der Held und seine Gemeinde, Frankfurt a.M. u.a. 1984, 125; vgl. Lüdemann/Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule, 75-78.145 (Otto als „Religionsgeschichtler der zweiten Generation"). Vgl. den Untertitel von Reich Gottes und Menschensohn·. „Ein religionsgeschichdicher Versuch", der eine Methode der Theologie meint, eine systematische Theologie, die sich als Verstehen einer geschichdichen Wirklichkeit begreift, und die hier bes. in Gegensatz zu Bultmanns existentialistischer Exegese gesetzt wird (vgl. H.-W. Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 63 Anm. 8). - Zu Heiler vgl. K. Goldammer, Ein Leben für die Erforschung der Religion, in: A. Heiler (Hg.), Inter Confessiones, Marburg 1972,11.

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G. Weiß, Die neufriesische Schule in der Theologie Rudolf Ottos und Wilhelm Boussets, ChrW 25, 1911, 729-932; vgl. Schütte, Religion und Christentum, 40-44; Verheule, Wilhelm Bousset, 382-392. - Gegen Graf, nach dem Bousset das „IrrationalitätsAxiom" seines Freundes kritisiert hätte („Der Systematiker", 268f.), ist zu betonen, daß die Freunde sich durchaus einig wußten hinsichtlich des Wechselspiels von Rationalem und Irrationalem und in der Wertschätzung des letzteren als des Wesendichen, aber eben auch Primitiven und Gefährlichen. (Daß nur der Band über das irrationale [numinose] Element des Heiligen erschienen ist und Epoche gemacht hat, bedeutet nicht, daß das Heilige auf das Ethische verzichten kann und Otto das Irrationale über das Rationale stellt, wie H.G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 253, behauptet. „On no account do I wish to be considered a 'non-rationalist'.", wehrt Otto sich selbst [in seinen Anmerkungen %ur englischen Übersetzung der Kantisch-Fries'schen Religionsphilosophie von 1931, in: Schütte, Religion und Christentum, 123] gegen diese heute so beliebte Interpretation, die ignoriert, daß er das Heilige als eine ,,Kfl^)¿xkategorie" aus irrationalem und notwendigem rationalen Faktor definiert [dazu auch unten Kap. 5.3].)

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Im Brief an N. Söderblom vom 9.7.1924 (F.v. Hügel/N. Söderblom/F. Heüer, Briefwechsel, 216); vgl. Evangelische Katholizität, München 1926, 211-214; Im Ringen um die Kirche, München 1931, 56ff.

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einen „Geschichtspantheismus"65, der die geschichtlichen Kräfte als geistige bzw. göttliche Mächte verabsolutiert: Man suche, so Rudolf Bultmann, in der Geschichte den Sinn, während doch „die Welt, die der Glaube erfassen will, mit der Hilfe der wissenschaftlichen Kritik überhaupt nicht erfaßbar wird", und sehe nicht, „daß Gottes Anderssein, Gottes Jenseitigkeit die Durchstreichung des ganzen Menschen, seiner ganzen Geschichte bedeutet".66 Dabei nimmt die „antihistoristische Revolution"67 der Dialektischen Theologen gerade in ihr Bild von Gottes „Anderssein" manchen Gedanken des liberalen Theologen und Religionsgeschichtlers Otto auf.68 Mit Friedrich Heiler an seiner Seite gehörte Otto überhaupt zu denjenigen sogenannten vergleichenden Religionsforschern, die das Bild von der Religionsgeschichte und der Religion in Deutschland in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts am nachhaltigsten bestimmten.

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R. Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, ThBl 3 / 4 , 1924, 75. Ebd., 80. Vgl. H.G. Geyer, Die dialektische Theologie und die Krise des Liberalismus, in: R. Thadden (Hg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978,147-154. Von H. Heimpel geprägt wurde der Begriff von K. Nowak „erstmals für die Erforschung der neueren Theologiegeschichte fruchtbar gemacht" (F.W. Graf, Die „antihistorische Revolution", 378 Anm. 3). Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 8. Für Bultmann, Die liberale Theologie, 84, verkörpert Otto einen Widerspruch innerhalb der liberalen Theologie selbst. Ottos Kritik an Bultmanns „Existentialismus" in: Reich Gottes und Menschensohn, 29.35ff.305, liest sich teilweise wie eine Scholemsche Polemik gegen Bubers „pneumatische Exegese". Buber wiederum distanzierte sich sowohl von Ottos „Subjektivismus" als auch von der dialektischen „Theologie der Krise", der Gott „das völlig Andere, aber nicht mehr das bezogene Andere" ist (H. Kohn, Martin Buber, 3. Aufl., Köln 1961, 215).

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

3.2 Die klassische Religionsphänomenologie 3.2.1 Rudolf Otto, Friedrich Heiler und die „verstehende Religionswissenschaft in der Weimarer Zeit" (R. Flasche) In wissenschaftsgeschichtlichen Darstellungen ist häufig die Rede von einer prinzipiellen „Janusköpfigkeit der Religionswissenschaft"69 in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Während das eine Antlitz unterschiedlich bestimmt wird (meist als die philologische, oft auch als ethnologische oder soziologische Richtung), bildet das andere Antlitz dieses Januskopfes stets die sogenannte klassische Religionsphänomenologie. Rudolf Otto und Friedrich Heiler, Joachim Wach, Gerardus van der Leeuw und Gustav Mensching sind die kanonisch gewordenen Namen unter den Repräsentanten dieser Richtung, die Rainer Hasche als die „verstehende Religionswissenschaft der Weimarer Zeit"70 bezeichnet hat. Wenn die folgende Untersuchung von Scholems Bild der allgemeinen Religionsgeschichte sich ganz auf sein Verhältnis zu dieser klassischen Religionsphänomenologie konzentriert, und innerhalb dieser wiederum vor allem auf Rudolf Otto und Friedrich Heiler, so hat dies verschiedene Gründe, über die enge Verbindung mit Wilhelm Bousset und der Religionsgeschichtlichen Schule hinaus. Für die Konzentration auf die Schriften Ottos und Heilers spricht allgemein die Rolle, die diese beiden Gelehrten in der religionswissenschaftlichen Landschaft Deutschlands zu der Zeit innehaben, in der Scholem studiert und seine Laufbahn als jüdischer Religionshistoriker beginnt. Im Jahre 1917 veröffentlicht der fast 50jährige Marburger Professor für Evangelische Theologie Das Heilige, ein Jahr später erscheint die umfangreiche

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R. Flasche, Religiöse Entwürfe und religiöse Wirkungen von Religionswissenschafilem, in: P. Antes/ D. Pahnke (Hg.), Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, 203; für andere Zweiteilungen vgl. K. Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft, Berlin 1962; M. Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Wien 1973, 51f.; H.G. Kippenberg, Rivalität in der Religionswissenschaft, ZfR 2 , 1 9 9 4 , 69-89. R. Flasche, Religionsmodelle und Erkenntnisprinzipien der Religionswissenschaft der Weimarer Zeit, in: H. Cancik (Hg.), Religions- und Geistesgeschichte der Weimarer Republik, Düsseldorf 1982, 261-276; zur Zeit zwischen den Kriegen als Epoche der „klassischen Phänomenologie" vgl. z.B. auch J. Waardenburg, The Problem of Representing Religions and Religion, in: H.G. Kippenberg/B. Luchesi (Hg.), Religionswissenschaft und Kulturkritik, Marburg 1991, 31-56.

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Dissertation des 25jährigen Heiler, Das Gebet. Beide Werke stoßen auf eine ungeheure Resonanz, auch bei jüdischen Lesern. „Selten ist ein theologisches Werk der Stimmung der Zeit so entgegengekommen und so restlos eingesogen worden wie das vorliegende", schreibt Adolf von Harnack anläßlich der achten Auflage von Das Heilige im Jahre 1924 in der Deutschen Literaturzeitung.71 Und auch Das Gebet von Friedrich Heiler erlebt einen so „unvergleichbaren Erfolg"72, daß bereits nach zwei Jahren eine zweite Auflage erscheint. Diese benutzt auch Gershom Scholem, der das Buch offenbar bereits im Jahre 1921 erwirbt.73 Außerdem findet sich die wesentlich kürzere Schrift Die buddhistische Versenkung, mit der sich Heiler, fünf Jahre älter als der Kabbalaforscher, vier Jahre vor dessen Promotion in München habilitiert, in der Scholem-Library in einer Ausgabe zusammengebunden mit Die Bedeutung der Mystik (München 1918), in der neben einem Kapitel aus der Dissertation (Das Gebet in der Mystik) auch Heilers Probevorlesung an der Münchner Universität vom 12.10.1918 (Luthers reügionsgeschichtliche Bedeutung enthalten ist. Nach seiner Habilitation folgt Heiler 1920 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Religionsgeschichte und Religionsphilologie an der Evangelischen Fakultät in Marburg, wo er mit Rudolf Otto (und Heinrich Frick) zusammen Marburgs Reputation als „Mekka der deutschen Religionswissenschaft" begründete.74 Alle Vertreter der verstehenden Religionswissenschaft der Weimarer Zeit seien mehr oder weniger abhängig von Otto, meint Rainer Flasche.75 Und wenn Gustav Mensching in den siebziger Jahren behauptet: „Unter heutigen Religionswissenschaftlern in Deutschland dürfte wohl niemand sein, der nicht irgendwie von Otto bzw. von seiner Schrift 'Das Heilige' her beeinflußt

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DLZ 1, 1924, 993. Zur jüdischen Rezeption siehe weiter unten. Wann Scholem Das Hetäge zuerst zur Kenntnis nahm, ist mir nicht bekannt. In Hauptströmungen, 397, zitiert er die 11. Aufl. 1923. Zu seiner persönlichen Begegnung mit Otto im März 1928 in Jerusalem vgl. S.H. Bergmans Notiz vom 27.3.1928: Otto befand sich auf dem Rückweg von Indien, besuchte mit Scholem Raw S. Assaf und verbrachte einen Abend bei Scholem, „der durch ihn angeregt, sehr viele interessante Dinge erzählte" (Tagebücher und Briefe 1,238). Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 133. Vgl. die handschriftliche Eintragung in der Ausgabe aus Scholems Bibliothek (2. Aufl., München 1920): „Gerhard Scholem München 1921"; das Buch findet sich auch in der Bücherliste (s.o. Anm. 57). Vgl. G. Lanczkowski, Art. Heüer, Friedrich (1892-1967), TRE 14, 1985, 639. Vgl. Flasche, Religionsmodelle, 267. Wobei Schleiermacher hier wie auch sonst als der „eigendiche geistige Vater" (ebd., 268) gilt.

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wurde",76 so ist dies nicht unbedingt als Übertreibung seitens des Ottoschülers zu werten. Gewiß gehört die Religionsphänomenologie, wie Otto und Heiler sie repräsentieren, heute der Vergangenheit an. Vor allem ein seit der Methodendiskussion der siebziger Jahre 77 vielbeschworenes eklatantes „Theoriedefizit"78 führte dazu, daß der Name Rudolf Ottos und vielleicht noch mehr der Friedrich Heilers heute für ein vergangenes Kapitel der Religionswissenschaft steht.79 Dennoch ist kaum von der Hand zu weisen - unabhängig davon, wie man die Versuche einer Wiederbelebung oder Neubegründung der Religionsphänomenologie bewertet - , daß gerade ihre klassische Phase nicht nur für eine antiquarische Wissenschaftsgeschichte von Interesse ist. Dies beweisen allein die Zählebigkeit ihrer Schlüsselbegriffe wie das Numinose oder Heilige und die Tatsache, daß ihre Ideen nicht nur von explizit „neophänomenologischer" Seite immer wieder aufgegriffen werden.80 Heilers enge persönliche und ideelle Verbindung mit Otto trug den beiden nicht nur zu Lebzeiten die scherzhafte Charakterisierung als „DvandaKompositum" ein81, sondern wirkt bis heute noch fort, insofern sie oft in einem Atemzug als die beiden eigentlichen Begründer der klassischen Religionsphänomenologie genannt werden. Allerdings darf man über den Gemeinsamkeiten nicht die Differenzen verwischen, über die sich besonders Heiler selbst offen äußerte und die in beider Werk, in der gesamten Orien76

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In: E. Benz (Hg.), Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, Leiden 1 9 7 1 , 6 7 . Bes. nach der der Methodologie gewidmeten Tagung der I.A.H.R.: vgl. L. Honko (Hg.), Science of Religion. Studies in Methodology, The Hague 1979 (bes. Teil 2: The Future of the Phenomenology of Religion); R. Pummer, Recent Publications on the Methodology of the Science of Religion, Numen 22, 1975, 161-182. F. Stolz, Grundzuge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, 229; vgl. H. Seiwert, Systematische Religionswissenschaft, ZMR 61, 1977, 1-18. Ganz so naiv und optimistisch gegenüber historischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis wie K. Goldammer, Ein Leben für die Erforschung der Religion, 6, behauptet, war Heiler allerdings nicht (vgl. z.B. dessen Bemerkungen zu den Schwierigkeiten einer „objektiven und in die Tiefen dringenden Darstellung" in: Das Wesen des Katholizismus, 4f.). Vgl. bes. K.-H. Kohl, Geschichte der Religionswissenschaft, HbrwG 1, 1988, 261; H. Zinser, Religionsphänomenologie, HbrwG 1, 1988, 308. Vgl. z.B. P.L. Berger, Der Zwang zur Häresie, Freiburg 1992 (engl. Erstausgabe: New York 1979); D. Kamper/Chr. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt a.M. 1987. Man beachte auch den jüngsten Nachdruck von Das Haiigt in der Beck'schen Reihe, München 19971 Nach einem Terminus der indischen Grammatik, vgl. Heiler, Protestantischer Universalismus, 139; G. Lanczkowski, Erkenntnis und Wertung der Religionen, Kaitos 8, 1966, 169f.

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tierung wie in Einzelheiten, immer wieder zum Ausdruck kommen. Heiler selbst fuhrt sie auf seine evangelisch-katholische Haltung82 zurück, indem er diese als Grund für frühe persönliche Spannungen anführt. Aus der katholischen Kirche exkommuniziert, doch enttäuscht über das kirchliche und theologische Leben des Protestantismus, so Heiler rückblickend, habe er Ottos Versuch, einen Mitkämpfer für seinen protestantischen Universalismus zu gewinnen, Widerstand entgegengesetzt. Es war ihm offenbar schwergefallen, den Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaft innerhalb der protestantischen Theologie einzunehmen, der in Ottos Augen Heilers „rechter Beruf' 83 war. Wiederholt kritisiert der jüngere Gelehrte „Ottos Abneigung gegen alle metaphysische Theorie, sein psychologistisches Religionsverständnis, seine ästhetizistische Behandlung der religiösen Phänomene und endlich seine Auflösung der Offenbarungs- und Heilsgeschichte in religiöse 'Intuitionen' und 'Divinationen'"84. Doch auch wenn er den seiner Meinung nach typisch liberal-protestantischen, „immanentistisch-psychologistischen Religionsbegriff'85 Ottos seinem eigenen urkatholischen objektivistisch-realistischen Verständnis von Religion gegenüberstellt, sieht Heiler Otto als „Bundesgenossen"86, insbesondere im Kampf gegen die sogenannte Neuorthodoxie und Dialektische 82

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Auch nach dem „Übertritt" zur evangelischen Kirche am 7.8.1919 in Vadstena, „nicht durch einen bütgedichen Rechtsakt, sondern durch einen chrisdichen Liebesakt am Tisch des Herrn", hegte er „unausrottbare Erinnerungen aus meiner katholischen Mutterkirche"; er habe sich „nie förmlich losgesagt noch mich völlig von ihr getrennt" (Evangelische Katholizität, 191); vgl. auch Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 117f. Anm. 6.127ff. Otto in einem Brief an Heiler vom 12.9.1919, zitiert bei Heiler, Protestantischer Universalismus, 138f. Es geht Otto um einen solchen „Lehrstuhl mit entschlossener theologischer und kirchlich-praktischer Zuspitzung [...] innerhalb der Theologie, und darum - da es einen interkonfessionellen nicht gibt, auch innerhalb der protestantischen Theologie. Und daß Sie innerlich dieser angehören, beweist Ihr 'Luther'. Mit 'Katholisieren' meinen Sie, was ich selber ein modernes "Hochkirchentum' nennen würde. Und das suche ich selber." Nach Lanczkowski, Art. Heiler, 639, lehnte Heiler 1920 einen Ruf für systematische Theologie an die Evangelisch-Theologische Fakultät Breslau ab, bevor er nach Marburg ging. Heiler, Protestantischer Universalismus, 137; vgl. z.B. auch die Kritik an Ottos „subjektivistische[m] Psychologismus", der die „Objektivität der Heilstatsachen" abschwächt, wo alle dogmatischen Aussagen nur „freischwebende Äußerungen [...] des religiösen Gefühls" seien, in einem Artikel über „Die christologische 'Häresie' in alter und neuer Zeit" von 1930 (in: Im Ringen um die Kirche, 51). Heiler, Protestantischer Universalismus, 139. Ebd.

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Theologie. Ihrer beider wichtigste Gemeinsamkeit liegt nach Heiler in ihrem Universalismus und der Hochschätzung der östlichen Religionen. Vor allen anderen Verdiensten würdigt er die überragende „Bedeutung Rudolf Ottos für die Vergleichende Religionsgeschichte"87, speziell als „Meister der Einzelvergleichung"88. Bei allem individuellen Eigenprofil lassen sich Otto und Heiler gemeinsam als Bindeglieder zu älteren Vertretern der Allgemeinen Religionsgeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts begreifen. Die heute übliche Rede von der klassischen Phänomenologie verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, daß hier eine Art Synthese aus der älteren Religionsforschung versucht wird, die zu den ersten Höhepunkten in der Geschichte moderner systematischer Religionswissenschaft gehört. Wie die Namen Otto und Heiler heute für die Religionsphänomenologie stehen, sind Anfang des Jahrhunderts, zum Beispiel in Adolf Harnacks oben zitierter Rektoratsrede,89 „der Chantepie" und „der Tiele" Synonyme für die Allgemeine oder Vergleichende Religionsgeschichte.90 Mit „dem Tiele" ist das Kompendium der Religionsgeschichte von C.P. Tiele gemeint, dessen vierte, umgearbeitete Auflage von 1912 Nathan Söderblom besorgt, damals Professor für Allgemeine Religionsgeschichte in Leipzig. Sowohl Otto als auch Heiler stehen mit dem späteren Erzbischof von Uppsala in persönlichem Kontakt.91 Für den „evangelischen Katholiken" Heiler ist der im 87

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So die Überschrift seines Aufsatzes in: B. Forell/H. Frick/F. Heiler, Religionswissenschaft in neuer Sicht, Marburg 1951, 13-25. Ebd., 20. In der Harnack den (im Vergleich mit Einzelstudien) geringen Einfluß der religionswissenschaftlichen Handbücher betont und polemisiert: „Wem es gelingt, den Chantepie de la Saussaye durchzulesen, dem widme ich meine Bewunderung. Ich glaube aber nicht, daß das jemand schon fertiggebracht hat, es sei denn, daß ihn der Geist trieb, ein Kolleg über allgemeine Religionsgeschichte zu lesen." (Harnack, Reden und Aufsätze II, 182). P.D. Chantepie de la Saussaye gilt wegen seines Lehrbuchs der Religionsgeschichte (Tübingen 1887) als „Begründer der Religionsphänomenologie", obwohl der diesbezügliche Absatz in den weiteren Auflagen gestrichen ist - nach Fritz Stolz, weil er der von ihm geschaffenen Disziplin „gegenüber so mißtrauisch geworden [ist], daß er auf sie verzichtet hat" (Stolz, Grundzüge, 223). - Der Ausdruck Religionsphänomenologie, wohl von Chantepie zuerst (und von Otto und Heiler eher selten) benutzt, verdrängte seit G. v.d. Leeuws Phänomenologie der "Religion (1933) allmählich die Bezeichnungen allgemeine oder vergleichende Religionsgeschichte, die zunächst für systematische Forschung generell üblich waren (vgl. Zinser, Religionsphänomenologie, HbrwG 1,1988,306). Otto lernte Söderblom offenbar schon 1900 in Karlsruhe persönlich kennen und besuchte ihn in Paris, wo Söderblom als Auslandspfarrer tätig war (vgl. Schinzer, Rudolf Otto — Entwurf einer Biographie, in: Benz (Hg.), Rudolf Ottos Bedeutung fut die Religionswissenschaft, 12).

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Kampf um die christliche Ökumene engagierte Schwede „der Mystagoge, der mich in die weite Welt der Religionen 'einweihte'"92, was weit über das Fachliche hinausging. In wissenschaftlicher Hinsicht rühmt Söderblom Heilers „Selbständigkeit landläufigen Theorien gegenüber"93, doch der jüngere Gelehrte selbst billigt sich „nur unermüdliche[n] Sammeleifer" zu und bekennt ehrerbietig seine völlige Abhängigkeit in bezug auf die „großen religionsgeschichtlichen Richtlinien".94 Ist Rudolf Otto persönlich und sachlich das Bindeglied zwischen der Religionsphänomenologie und der Religionsgeschichtlichen Schule, so stellt Friedrich Heiler eine enge Verbindung zur englischen Mystikforschung her. An erster Stelle ist hier Evelyn Underhill zu nennen, deren Ruf als „der besten Kennerin der katholischen Mystik"95 oder gar „Meisterin auf dem Gebiete der Mystikforschung"96 die neuere Forschung fast ein wenig kopfschüttelnd zur Kenntnis nimmt.97 Heiler dürfte an der Verbreitung dieses Rufs in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts nicht unschuldig gewesen sein. Jedenfalls spricht er der Mystikforscherin im Vorwort seines Werkes über den Kathoäsjsmus von 1923 seinen besonderen Dank aus und erklärt, daß er sie — ebenso wie ihren Lehrer Baron Friedrich von Hügel — besonders oft zitieren werde, da beide in Deutschland leider noch weitgehend unbekannt seien.98 Vier Jahre später verfaßt er das „Geleitwort" zur deutschen Übersetzung von Underhills heute auch in Deutschland berühmt-berüchtigtem Werk Mystiäsm von 1911; die deutsche Ausgabe erschien 1928. „Seitdem Friedrich von Hügel von uns

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Heiler, D e r Streit um die evangelische Katholizität. Meine Stellung zu Erzbischof Söderblom, in: Evangelische Katholizität, 196; vgl. die Bemerkung des Hg.s in: Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 14f., zum bes. Einfluß von Söderbloms Werk Riägionsprobkmet (Stockholm 1910). Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 78. Ebd., 80. Heiler, D e r Katholizismus, XXXIVf. Heiler, Die Bedeutung Rudolf Ottos, 20. So z.B. B. McGinn, Die Mystik im Abendland I, 3 9 4 („Mit ihrer ausladenden Prosa und nicht immer gerade stringenten Argumentationsweise wird man E. Underhill eher unter der Rubrik Journalismus einordnen."). Vgl. Heiler, Der Katholizismus, XXXIVf. (Heiler bezeichnet hier die 1 9 2 2 zur anglikanischen Kirche aus der Kirchenlosigkeit zurückgekehrte Autorin irrtümlicherweise als Anglokatholikin, worüber ihn F. v. Hügel brieflich aufklärt: vgl. Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 1 8 2 . 1 3 5 mit Anm. 2); in seinem Eranosvortrag würdigt Heiler Underhill als „genuine Interpretin der klassischen christlichen Mystik wie als praktische Lehrmeisterin in der Pflege der Kontemplation" (Heiler, Die Kontemplation in der christlichen Mystik, EJB 1, 1 9 3 3 , 2 7 3 ) .

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gegangen", schreibt Heiler dort, „gibt es auf der ganzen Welt keinen gründlicheren und intimeren wissenschaftlichen Kenner der Mystik als Evelyn Underhill."99 Er selbst habe aus keinem anderen Buch so viel gelernt, mit Ausnahme des Werks ihres Lehrers The Mystical Element of Religion.100 Außer Underhill und von Hügel schätzt Heiler auch den anglikanischen Theologen William Ralph Inge als besonders „geistvollen Anwalt"101 der christlichen Mystik. Der spätere Dean hatte 1899 acht Vorlesungen vor der Universität Oxford unter dem Titel Christian Mysticism veröffentlicht. Mit diesen englischen Studien zur christlichen Mystik und anderen Werken der zeitgenössischen Forschung, die im einzelnen in der folgenden Untersuchung noch genannt werden, hat sich auch Gershom Scholem nicht nur nachweislich auseinandergesetzt, sondern sie immerhin für wert befunden, sie in die Bibliographie seines ersten Hauptwerks (unter der Rubrik „Über Mystik im allgemeinen"102) aufzunehmen. Die Tatsache, daß Scholem viele ihrer Schriften benutzt hat, bestimmt — neben der wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung der Autoren und ihrer sachlichen wie persönlichen Verbindungen untereinander — die Auswahl der Schriften, die im folgenden als Vertreter der älteren Mystikforschung und der Allgemeinen Religionsgeschichte herangezogen werden. Dennoch soll das Thema, wie oben in der Einführung bereits erklärt wurde, nicht der Nachweis direkter „Einflüsse" dieser älteren Werke auf den jüdischen Historiker sein. Es sollen darum durchaus auch solche Schriften einbezogen werden, die Scholem möglicherweise oder sogar aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelesen hat.103 Denn es gilt, auch den Intentionen der Autoren aus der älteren Religionsforschung, selbst wenn sie nur als Hintergrund dienen, gerecht zu werden und allzu grobe Pauschalisierungen zu vermeiden. Dies um so mehr, als gerade bezüglich der klassischen Religions-

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Underhill, Mystik, München 1928, IX. „Die Beschäftigung mit Friedrich von Hügels und Evelyn Underhills Werken hat mich auch veranlaßt, meine früher von Ritschl, Hermann, Harnack usw. beeinflußte Auffassung der Mystik zu korrigieren." (Ebd., X). Vgl. auch Goldammer, Ein Leben für die Erforschung der Religion, 10 (zu Heilers „theologische [r] Herkunft aus dem katholischen Modemismus"). Heiler, Die Kontemplation in der christlichen Mystik, 273. Inge hatte 1923 Heilers Katholizismus rezensiert (vgl. Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 188 Anm. 5). Scholem, Hauptströmungen, 457. Was wohl mindestens für Boussets „Religionsgeschichtliche Volksbücher" mit einiger Sicherheit behauptet werden kann. Andererseits werden bekannte Werke wie Heilers Erscheinungsformen und Wesen der Reägtott von 1959 vernachlässigt, da ich mich auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg beschränke.

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Phänomenologie und der Religionsgeschichtiichen Schule in der Religionswissenschaft „pauschal vernichtend[e]"104 Urteile an der Tagesordnung sind.

3.2.2 Das theologische Selbstverständnis der „vergleichenden" Religionswissenschaftler Mit Annette Wilke kann ich „nicht ganz der heutigen Otto-Rezeption beistimmen, die im mitreißend enthusiastischen Autor von Das Heilige den Schwarzen Peter der Religionswissenschaft sieht."105 Das bedeutet keineswegs, daß ich der Otto-Kritik jede Berechtigung absprechen würde. Die Kritik an Ottos Theorie des Heiligen im engeren Sinne ist bis heute unter anderem mit den Namen Geyser, Feigel, Baetke verknüpft, deren Bekanntheit nicht zuletzt auf den von Carsten Colpe in den siebziger Jahren herausgegebenen Band Die Diskussion um das Heilige zurückgehen dürfte.106 Die dort in Auszügen wiederabgedruckten Werke von Friedrich Karl Feigel und Walter Baetke stehen auch in der Bibliothek Scholems, der „die kritische Literatur über Otto, die ja umfangreich ist, aufmerksam studiert"107 hat, wie er Kurt Rudolph gegenüber betont. Die zahlreichen Einwände zeitgenössischer108 wie späterer Kritiker sollen hier nicht ausführlich diskutiert werden, da es um Scholems Kabbaladeutung und nicht um die Stärken und Schwächen der älteren Religionsforschung geht. Ein Problem muß jedoch unbedingt vorweg angesprochen

104

Keine Urmotive, nur Besonderungen. Rudolf Ottos West-Östliche Mystik, die Problematik des interreligiösen Dialogs und der Vergleich Eckhart - Sankara, Z R G G 49, 1997, 35. Die meisten der späteren „Ismen", wie Irrationalismus, Subjektivismus, Psychologismus u.a., waren bereits beliebte Schlagwörter der zeitgenössischen Kritik (auch der Weggefährten untereinander: vgl. allein Heilers oben erwähnte Kritik an Ottol). 1 0 5 Ebd. 106 Vgl. die Auszüge aus: J. Geyser, Intellekt oder Gemüt?, Freiburg 1922; W. Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942; F.K. Feigel, "Das Heilige'. Kritische Abhandlung über Rudolf Ottos gleichnamiges Buch, 2. Aufl., Tübingen 1948; in: C. Colpe, Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977, 302-405. 1 0 7 Im bereits erwähnten Brief vom 27.12.1962 (Scholem, Briefe II, 90); demnach hatte Scholem von Walter Baetke erst 1962 durch Rudolph (Baetkes Schüler) erfahren. 1 0 8 Als einer der ersten Kritiker überhaupt hatte R. Bultmann bereits unmittelbar nach Erscheinen von Ottos aufsehenerregendem Werk die wesentlichen Punkte der späteren Kritik vorweggenommen, in einem seit 1969 veröffentlichten, in der Religionswissenschaft jedoch wenig beachteten Brief an Otto vom 6.4.1918 (im Anhang zu: Schütte, Religion und Christentum, 130-139).

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

werden: das Selbstverständnis sämtlicher hier zu Worte kommender Vertreter der allgemeinen Religionsgeschichte als christliche Theologen. Zu den typischen Merkmalen der klassischen Religionsphänomenologie zählt Rainer Flasche unter anderem das „Prophetiesyndrom"109, das charismatische Sendungsbewußtsein der Gelehrten, deren Forschung aus einer Mischung von persönlicher Ideologie und Wissenschaft bestanden habe. R. Otto habe demnach „zumindest in Hinblick auf seinen Entwurf der sich durch die religiösen Erfahrung konstituierenden 'echten' Religion, diese Schwelle zum Propheten überschritten, und er hat insgesamt gesehen wohl mehr religiös als wissenschaftlich gewirkt"110. Niemand scheint Flasches Diagnose mehr zu bestätigen als Ernst Benz, wenn er Ottos „äußere Universalität seiner Wirksamkeit" damit erklärt, daß er das „zentrale Urphänomen der Religion" gefunden habe „aufgrund einer eigentümlichen und unter Gelehrten seltenen, wenn nicht einzigartigen Begabung"; es sei ihm selbst „als eine spontane religiöse Erfahrung in einer jüdischen Synagoge in Marokko auf einer Reise zuteil geworden, wie er mir selbst erzählt hat".111 Für Benz schmälert dies allerdings Ottos wissenschaftlichen Rang keineswegs. In der Literatur zu Otto und Heiler wechseln der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit oder der unlauteren Grenzverwischung zwischen Religionswissenschaft und Theologie bzw. Religionsphilosophie einerseits und - positiv gewendet - das Lob der Genialität, die Zurückfuhrung seiner genial-intuitiven Einsichten auf eine außergewöhnliche religiöse Begabung andererseits einander ab.112 Daß sie „Gottsucher"113 seien, hätten die beiden Religionsphänomenologen, die sich

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Flasche, Religionsmodelle, 261; vgl. auch Religiöse Entwürfe, 203-217. Flasche, Religiöse Entwürfe, 208. Zur Problematik der Verhältnisbestimmung von Religionswissenschaft und Theologie allgemein vgl. S. Hjelde, Die Religionswissenschaft und das Christentum, Leiden 1994. E. Benz, Rudolf Otto als Theologe und Persönlichkeit, in: ders. (Hg.), Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft, 35. „Sein intuitionistischer Duktus mag sowohl begeisternd als auch befremdlich, sowohl sachgemäß als auch unsachlich wirken" (Wilke, Keine Urmotive, 37). Bes. Kurt Rudolph, auf den unten (Kap. 4.1) noch eingegangen wird, macht den klassischen Phänomenologen zum Vorwurf, was sie selbst als längst fällige Uberwindung der Vorherrschaft rein profaner (und darum reduktiver) Religionsgeschichte in Deutschland feierten (vgl. G. v.d. Leeuw, Rudolf Otto und die Religionsgeschichte, ZThK 19, 1938,71). B. Gladigow, Religionsgeschichte des Gegenstandes - Gegenstände der Religionsgeschichte, in: H. Zinser (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 1988, 8. Vgl. dazu auch Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, München 1997,258 mit Anm. 57, der gegen Gladigow (und Flasche) einwendet, daß die „prophetische Konzeption" auch von Wissenschaftlern „ohne theologische Bindung vertreten wurde", und sie darum

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selbst als christliche Theologen definieren, wohl kaum bestritten. 114 W o h l hätten sie geleugnet, daß es einen Widerspruch gebe zwischen den empirischen Fakten der allgemeinen Religionsgeschichte und ihrem durch und durch christlich geprägten Bild v o m Wesen der Religion. Ihr Selbstverständnis als christliche Theologen fassen Otto und Heiler selbst allerdings weniger im Sinne einer charismatischen Berufung auf. Rudolf Otto scheint solche eher an sich vermißt zu haben, 1 1 5 auch wenn seine vielzitierten Reiseerlebnisse eine wichtige Schlüsselfunktion gehabt haben für seine intuitiven Einsichten in das Erlebnis des Heiligen. 116 Und Friedrich Heiler stellt seinerseits ausdrücklich fest, er sei „selbst kein eigentlicher katholischer Mystiker wie es die echten katholischen Modernisten sind" 117 . Otto verstand sich unzweideutig als systematischer Theologe, wobei sein Interessenschwerpunkt sich zunehmend von religionsphilosophischen auf ethische Fragen verlagerte. 118 Heiler wiederum wollte v o r allem Seelsorger sein, abgesehen von seinem Engagement als Kämpfer für die Ökumene. 1 1 9 Seine Zerrissenheit weniger auf die theologische Herkunft als vielmehr mit K.H. Kohl auf einen ambivalenten (nämlich auch kulturkritischen) Eurozentrismus zurückführt: „Die Idealisierung des Fremden wurde aufgrund einer kritischen Stellungnahme zur eigenen Kultur mit missionarischem Pathos vorgetragen." (ebd., 302.) 1 1 4 „Das uns leitende Interesse in D.H. war weder ein religionsgeschichtliches noch ein religionspsychologisches [,] sondern ein theologisches, und zwar das christlich-theologische: nämlich durch Untersuchung des Heiligen und seiner sowohl irrationalen wie rationalen Gehalte und ihrer Verbindungen und wechselseitigen Durchdringung uns vorzubereiten für eine schärfere und bessere Erfassung der biblischen und besonders der neutestamentlichen Gotteserfahrung." (Otto, Sünde und Urschuld, München 1932, 61) Vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 28, zu Baetke und Rudolph: „Diese Gegner haben besser als mancher der Freunde Ottos verstanden, wie sehr er zeit seines Lebens Theologe geblieben war." 1 1 5 Nach C.H. Ratschow (Art. Otto, Rudolf, 562), litt Otto sogar darunter, „keine 'direkten' charismatischen Berufungserfahrungen gemacht zu haben". 1 1 6 Vgl. Heiler, Die Bedeutung Rudolf Ottos, 16; Schinzer, Rudolf Otto - Entwurf einer Biographie, 17. 1 1 7 Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 84. 1 1 8 Vgl. G. Nygren, Die Religionsphilosophie Rudolf Ottos, in Benz (Hg.), Rudolf Ottos Bedeutung, 84-96; den Theologen Otto behandeln v.a. Schütte, Religion und Christentum, und Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 104-139 (der allerdings Schüttes Betonung der Einheit von Ottos Werk nicht uneingeschränkt zustimmt: vgl. ebd., 106 Anm. 15). 119 Vgl Heilers Zustimmung zu Söderblom, der „meinen überkonfessionellen Beruf' als „Pilger auf Erden" am tiefsten erfaßt habe (Evangelische Katholizität, 196f.). Außer den dort versammelten Aufsätzen vgl. auch Goldammer, Ein Leben für die Erforschung der Religion, 14f.

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

zwischen evangelischem und katholischem Christentum betraf auch das Verhältnis von Wissenschaft und Religiosität „Nun stehe ich reägiös der 'orthodoxen' Theologie näher als der typisch-'liberalen'. Wissenschaftlich freilich, d. h. methodisch, stehe ich entschieden auf dem Boden der kritischen Theologie."120 Einerseits scheint ihm der Protestantismus „das zu bieten, was im Katholizismus unmöglich ist - und [...] was in keiner Religionsgemeinschaft der Erde möglich ist: die Verbindung von freier und kritischer Religionsforschung mit lebendiger Frömmigkeit"121. Andererseits quält ihn ein „unausrottbares Bedürfnis nach dem Dienst im Heiligtum"122, dem er nur wegen seiner Exkommunikation nicht nachkommen konnte. Heilers Schüler berichten über sein späteres, meist stilles Wirken als Priester, Prediger, Seelsorger und „geistiger Führer"123 der Marburger Studenten- und Laiengruppe, deren Morgenandachten er leitete. Das ausdrückliche Bekenntnis zu kritischer Religionswissenschaft und spezifisch christlich-theologischen Anliegen findet sich bei allen Religionsforschern, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, in der Religionsgeschichtlichen Schule ebenso wie in der (englischen) Mystikforschung. Es handelt sich hier so gut wie ausschließlich um engagierte christliche Theologen, die sich aus religiösem Interesse, sei es eher theoretisch-philosophischer124, sei es eher praktisch-seelsorgerischer Natur,125 der allgemeinen Religionsgeschichte zuwenden. Damit sind naturgemäß tiefgreifende Differenzen zu dem jüdischen Historiker verbunden, die sich für jeden Leser Scholems von selbst verstehen. Manches davon wird in seiner Selbstverständlichkeit im folgenden hinterfragt; in (mindestens) dreierlei Hinsicht jedoch klafft zwischen Scholem und der von Christen betriebenen Allgemeinen Religionsgeschichte ein „Abgrund", der beim besten Willen nicht zu überbrücken ist und der auch mit der folgenden Analyse in keiner Weise nivelliert werden soll. Es handelt sich um die je sehr unterschiedlichen Anliegen spezialisierter und vergleichender Forschung, um

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124 125

Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 102 (Hervorhebung i.O.). Ebd, 99. Ebd., 83. Goldammer, Ein Leben für die Erforschung der Religion, 15; vgl. A. Schimmel, Friedrich Heiler (1892-1967), History of Religion 7, 1967/68,271. So z.B. W.R. Inge, Christian Mysticism, London 1899, bes. Vllf. Etwa E. Underhill, die in ihrem „Büchlein über "Das innere Leben' [...] aus reichster Erfahrung konkrete Anweisungen zum persönlichen Gottesumgange gibt" (Heiler in: Underhill, Mystik, X). Zu den Aktivitäten der Protestanten vgl. Lüdemann/Schröder, Die Religionsgeschichdiche Schule, Kap. VII.

Die klassische Religionsphänomenologie

99

die Wertung des Christentums und um die Einschätzung des sogenannten Spätjudentums.

3.2.3 Prinzipielle Abgriinde zwischen Scholem und den christlichen Wissenschaftlern Bei Scholem führen historische Umstände — die Situation des assimilierten jüdischen Bürgers in Deutschland am Vorabend der von Scholem geradezu vorausgeahnten Katastrophe - verbunden mit einer sehr individuellen persönlichen Entwicklung zur gewissermaßen eigenwillig-stolzen Konzentration auf das Judentum unter ausdrücklicher, ja fanatischer Ablehnung aller Art von apologetischen Interessen. Die wissenschaftliche Arbeit des Zionisten wird allein darum von vornherein, programmatisch, von jüdischen Themen und jüdischen Perspektiven beherrscht. Dagegen ist die Forschung der christlichen Gelehrten gerade vom Problem der Auseinandersetzung der Religionen bzw. Konfessionen bestimmt. Otto und Heiler machen nicht nur die sogenannte Vergleichende Religionswissenschaft zu ihrem bevorzugten Forschungsgebiet, so daß sie schließlich in die Geschichte der Religionswissenschaft eingehen, während sie theologiegeschichtlich vergleichsweise wenig Wirkung zeigen,126 sondern sie engagieren sich auch über ihre im engeren Sinne wissenschaftliche Arbeit hinaus tatkräftig für den interkonfessionellen und interreligiösen Dialog. Ist Heilers Herzensanliegen von frühester Jugend an die christliche Ökumene, so begründete Rudolf Otto den Religiösen Menschheitsbund, da ihm der weltweite Dialog der Religionen besonders dringlich erscheint, spätestens seit seinen Weltreisen, „auf denen ihm die endliche Auseinandersetzung der Weltreligionen wie ein Alptraum daherkam"127. Das Bewußtsein der Dringlichkeit, sich den interreligiösen Problemen zu stellen, ist untrennbar mit der Frage nach dem christlichen Absolutheitsanspruch verknüpft. Dabei verdankt dieses Thema seine besondere Aktualität zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht nur der Relativierung des Christentums durch seine Historisierung und seine Vergleichbarkeit mit anderen Religionen seitens der (religions-)geschichtlichen Forschung, sondern auch der Infirage126 Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 107; Pfleiderer, Tlieologie als Wirklichkeitswissenschaft, 104f. 127

Ratschow, Art. Otto, Rudolf, 561; vgl. Schinzer, Rudolf Otto - Entwurf einer Biographie, 19.

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

Stellung „der" Religion überhaupt durch die Naturwissenschaft.128 Was „die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" (Ernst Troeltsch)129 betrifft, so verleihen die christlichen Religionsforscher ihrer Überzeugung von der Überlegenheit des Christentums unmißverständlich Ausdruck. Angesichts der zunehmenden religiösen Universalisierung130 fordert Otto „statt Synthese Wetteifer"131, im unerschütterlichen Glauben, daß das Christentum sich in diesem Wettstreit letztlich als die überlegene Religion erweisen werde. Denn als vollendeter Ausdruck des Sühnebedürfnisses, als vollkommenste Äußerung des Grundzugs aller Religion, „auf Heil [zu] gehen" 132 , ist die Religion des Gekreuzigten seiner Meinung nach eindeutig die „tiefste religiöse Intuition"133 der Religionsgeschichte. Friedrich Heiler zitiert diese Formulierung zustimmend in seiner Habilitationsschrift.134 Seine Zustimmung gilt allerdings weniger der für Otto zentralen Deutung des sühnenden Todes des christlichen Erlösers. Heiler bezieht sich vor allem auf die Verbindung der rationalen und irrationalen Momente des Heiligen „in gesunder und vollkommener Harmonie"135, die Otto im Christentum (auch) findet. Diese Harmonie entspricht in Heilers Augen seinem eigenen Ideal einer Synthese aus protestantischer („rationaler") und katholischer („irrationaler") Frömmigkeit in der vollkommenen christlichen Religion.136 Zwanzig Jahre nach seiner Habilitation behandelt er die Frage der 'Absolutheit' des Christentums im Licht der Religionsgeschichte in einem eigenen Artikel. Energisch verteidigt der Religionswissenschaftler darin die Auffassung, daß die Religionsgeschichte die Endgültigkeit und Unüberbietbarkeit der christlichen Offenbarung bestärke, auch wenn fünf Erkenntnisse der Vergleichenden Religionsgeschichte scheinbar dagegen sprächen: der Reichtum der außerchristlichen Religionen, die (phänomenologische) Erkenntnis der Einheit sowie der Echtheit aller Religionen, die außerchristlichen Analogien zu allen

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Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 2ff. E Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1902. Vgl. Flasche, Religiöse Entwürfe, 207. Heiler, Die Bedeutung Rudolf Ottos, 22; Otto habe, so Heiler, auf die Entscheidung durch die geschichtliche Auseinandersetzung gewartet, von der Troeltsch 1902 sprach. Otto, Das Heilige, 193 (vgl. auch ebd., 72f.). Ebd., 200. Heiler, Die buddhistische Versenkung, 68f. Otto, Das Heilige, 170f. Ein Idealbild, das mit der (Söderblomschen) Typologie von prophetischer und mystischer Frömmigkeit verknüpft ist (vgl. ebd., 58, und weiter unten, Kap. 5.3).

Vgl.

Die klassische Religionsphänomenologie

101

zentralen Werten des Christentums und die außerchristliche Quelle bestimmter christlicher Ideen und Kulturformen.137 Weder Heiler noch Otto wollen den „Reichtum" und die „Echtheit" der nichtchristlichen Religionen schmälern oder gar in Abrede stellen. Oft findet sich die Bemerkung, man wolle mit diesem oder jenem Vergleich, bei dem das Christentum besser abschneidet, die andere Religion keinesfalls abwerten.138 Dies gilt nicht nur für die Religionsphänomenologen, sondern auch für die Theologen der Religionsgeschichtlichen Schule oder die christlichen Mystikforscher, die von der Überlegenheit ihrer Religion nicht weniger überzeugt sind, unabhängig von den teilweise verschiedenen Begründungen im einzelnen.139 Gerade die „vergleichenden" Religionsforscher repräsentieren in den Augen ihrer Zeit einen für damalige Verhältnisse durchaus progressiven „Universalismus" — einen Universalismus, den man von sich wies, wenn damit die Nivellierung der christlichen Sonderstellung (oder der Vielfalt der Religionen überhaupt) gemeint war, den man jedoch für sich in Anspruch nahm, wenn er die Würdigung des „Reichtums" und der „Echtheit" nichtchristlicher Religionen bezeichnete.140 Eine ähnliche Ambivalenz prägt auch das Bild und die Wertung des nachbiblischen Judentums, das die christlichen Theologen das „Spätjudentum" nennen, weil es in ihren Augen ein spätes, vom Christentum überholtes und danach nur noch in versteinerten Resten fortlebendes Stadium der einst lebendigen biblischen Religion darstellt.141 Erstarrte Gesetzesfrömmigkeit gilt als das Hauptmerkmal des toratreuen Judentums, dessen Halacha den Christen 137 Vgl. Heiler, Die Frage der „Absolutheit" des Christentums im Licht der Religionsgeschichte, EHK 20, 1938, bes. 317-320. 1 3 8 Heiler, Die buddhistische Versenkung, 68f.; vgl. auch den Hinweis auf die größere Armut „an religionspsychologischem Material" der indischen Religionen (nach Söderblom), womit kein Werturteil, „sondern lediglich bedeutsame psychologische Verschiedenheiten festgestellt" wurden (ebd., 58). 139 Vgl z β . Heilers Kritik an Ottos (und Troeltschs) Umdeutung des Absolutheitsanspruchs in „immanenüstische Höherwertigkeit" (Die Frage der „Absolutheit", 315) oder Boussets Kritik an Otto in einem Brief vom 3.12.1916 (abgedruckt in: Schütte, Religion und Christentum, 127f.); zu seiner eigenen Begründung der christlichen Überlegenheit vgl. Bousset, Das Wesen der Religion, Halle 1903, 237-240. So kritisiert Heiler die „verführerische u n i v e r s a l i s t i s c h e und relativistische Theorie" des Verzichts auf den Absolutheitsanspruch, die einen normenlosen Universalismus bedeute (Die Frage der „Absolutheit", 323; Hervorhebung i.O.) - und tritt ein für einen „Universalismus", der „die Klarheit und Festigkeit des christozentrischen Offenbarungsglaubens besitzt" (ebd., 321). 141 Vgl κ . Hoheisel, Das antike Judentum in christlicher Sicht, Wiesbaden 1978. 140

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

ein Buch mit sieben Siegeln ist und von dessen Reichtum an aggadischer, philosophischer und mystischer Tradition man nichts weiß oder wissen will. Trotz dieser christlichen Ignoranz und Arroganz gelten Anfang des Jahrhunderts gerade die religionsgeschichtlichen Theologen aus den Reihen der liberalen Theologie vielen Juden als zumindest potentielle Dialogpartner. In seiner Rezension von Das Heilige in Martin Bubers Zeitschrift Oer Jude verteidigt Leo Strauss die jüdische Rezeption der Ottoschen Ideen, indem er den Theologen gemeinsam mit der protestantischen Bibelwissenschaft (wie auch der Kulturkritik Nietzsches) zu den Fällen zählt, wo sich der deutsche Geist jüdischen Tendenzen zuwende und diese in sich lebendig mache; dies rechtfertige das Hineintragen der die deutsche Umwelt „beherrschenden Wertungen und Gesichtspunkte in die Beurteilung und Betrachtung jüdischer Dinge"142. Verglichen mit der Situation im Kaiserreich ist besonders die Zusammenarbeit christlicher und jüdischer Wissenschaftler im Rahmen der zweiten Auflage des Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart als Fortschritt zu werten. Und doch ist es ein Fortschritt, der rasch seine Grenzen offenbart, weil es zwar politisch-institutionell, aber nicht in der Sache vorangeht.143 Martin Buber wiederum lädt Rudolf Otto und andere christliche Gelehrte ins Frankfurter Lehrhaus ein; der Versuch jedoch, in seiner Zeitschrift eine fruchtbare christlich-jüdische Diskussion in Gang zu bringen, brachte ihm in erster Linie Enttäuschungen ein.144 Insgesamt scheint die unter der Toleranz des Liberalismus verborgene Situation, um mit Paul Mendes-Flohr zu

142

Der Jude 7, 1923, 241. Strauss würdigt Ottos Anschluß an die Tradition der Bibel, des jüdischen Kultus und der jüdischen Theologie, weil er Rationalität und Irrationalität im transzendenten Objekt selbst verankere, und übt Kritik nur an der Betonung des Gegensatzes zwischen Religion und Theologie. Auch diese sieht er als solche sehr wohl berechtigt, „um den unter religiösen Gesichtspunkten sekundären Charakter der Theologie festzustellen"; sie dürfe nur für die Juden nicht bindend sein, da Otto hier sehr stark von Lutherischen Tendenzen und dem „eigentümlich protestantische[n] Subjektivismus" bestimmt sei (ebd., 242).

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Vgl. L. Siegele-Wenschkewitz, Das Verhältnis von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums während der Weimarer Republik, in: W. Grab/J.H. Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart-Bonn 1986, 153-178, bes. 172. Vgl. Mendes-Flohr, Divided Passions, 141.151. In Zwei Ghubtnsweisen (1950) dankt Buber Otto besonders fur die „peripatetischen Gespräche" sowie „für sein tiefes Verständnis der Majestas in der hebräischen Bibel", trotz der „psychologistischen Mauer, die er um sie errichtet hatte" (Buber, Werke I, 659); vgl. dazu Friedman, Martin Buber. The Life of a Dialogue I, New York 1981, 86ff.

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sprechen, äußerst spannungsreich und stärker von Polemik und Apologetik als von unvoreingenommenem Austausch oder Dialog geprägt.145 Es ist dieser Zustand des christlich-jüdischen Gesprächs zu Beginn des Jahrhunderts (und dessen Anteil an der Wahrheit des Mythos vom deutschjüdischen Gespräch), der Scholem dazu veranlaßt, vehement für die Verbannung aller Apologetik aus der jüdischen Historiographie einzutreten. In privaten Äußerungen polemisiert er seinerseits heftig gegen das Christentum und seine gelehrten Vertreter. Neben dem Spott über die mangelnden Hebräischkenntnisse der gojischen Alttestamentier146 begegnet am häufigsten die Kritik am ,,abscheuliche[n] Geruch der Innerlichkeit"147. Gemeint ist damit vor allem die Verinneriichung der Erlösung zu einem „Vorgang im 'geistlichen' Bereich und im Unsichtbaren [...], der sich in der Seele, in der Welt jedes einzelnen abspielt"148: jener spiritualisierte Messianismus, den er in seinem berühmten Aufsatz über die messianische Idee der jüdischen Erwartung eines Geschehens, das „sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft"149, gegenüberstellt. Dieser verinneriichte Messianismus ist der in den veröffentlichten Briefen meistgenannte Grund, „warum ich das Christentum so vollends unerträglich finde"150, wie Scholem in einem Brief an Georg Lichtheim bekennt. Es geht um Simone Weil in diesem Schreiben, das auf subtile Weise die Verletztheit über die Konversion der Jüdin verrät.151 145

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Mendes-Flohr, Divided Passions, 13f.; vgl. F.Ch. Rangs Klage übet den „Durcheinander-Sumpf, das sog. "liberale Verständnis'" im Brief an Buber vom 14.3.1924 (Martin Buber, Briefwechsel II, 187f.). V.a. des Schweizers K. Marti (Scholem, Briefe I, 183; VBnJ, 123) und des Münchner Professors Goettsberger (Briefe 1 , 2 1 3 ; VBnJ, 144). Briefe II, 16. Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum: Grundbegriffe, 121 (in der älteren Version spricht Scholem vom „geistigen Bereich": Judaica 1, 8). Und den er im „unendlichen Chorus der christlichen Theologen" seit den Kirchenvätern findet, wie er in der Kontroverse mit H. Gollwitzer betont (Grundbegriffe, 168; vgj. auch Briefe II, 153f.l67). Briefe II, 16 (Manuskript aus Scholems Nachlaß mit der Aufschrift „[An Georg Lichtheim 1950]"). In viel ungeheurerem Sinne schmerzlich ist das Kapitel der jüngsten deutschen Geschichte, das Scholem die Zusammenarbeit mit deutschen Religionswissenschaftlern in der Nachkriegszeit erschwert. 1963 lehnt er das Angebot einer Gastprofessur für jüdische Studien in Heidelberg ab: „Es ist undenkbar, eine Einladung in diesem Fach anzunehmen, wenn die Beziehung grade [sie] zu nächsten Nachbarn im wissenschaftlichen Feld, wie vor allem zum Vertreter des Hebräischen, von dunkelsten Erinnerungen überschattet, belastet und kollegial unrealisierbar werden würde, womit ich in Heidelberg

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Allgemeine Religionsgeschichte in der Weimarer Republik

Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wundert sich M. Ritter, daß Scholem selbst in seinem Aufsatz Zur Entstehung der Kabbah von 1928 den Ausdruck „Spätjüdische Apokalyptik" benutzt, obwohl er in einem Brief an J. Bloch vom 5.1.1965 seiner Empörung über diese „skandalöse und beleidigende Terminologie"152 und das „von unseren Protesten kaum erreichbare und nie abreissende Geplapper der protestantischen Theologen zum Spätjudentum"153 Ausdruck verleiht. Der Gebrauch dieser Terminologie in Scholems frühen Schriften erscheint dem heutigen Leser völlig unverständlich, der unterschätzt, welche Selbstverständlichkeit der Begriff Ende der 20er Jahre noch besaß. Vielleicht darf man generell nicht unterschätzen, wie sehr Scholem sich in gewisser Weise doch im Rahmen dieser „protestantischen Wissenschaft"154 bewegt. Möglicherweise teilt er mehr Selbstverständlichkeiten mit ihr, als er selbst und viele seiner Leser wahrzunehmen bereit sind.

rechnen muss." (Brief an W. Conze vom 6.8.1963: Briefe II, 105). Aus demselben Grund spricht er sich 1960 gegen die Zusammenarbeit zwischen LBI und deutschen Instituten zur Erforschung des Judentums aus, auch wenn er K. Rengstorf, den Leiter des Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, für einen „sehr anständige[n] Mann" hält (ebd., 53). Vgl. auch den Briefwechsel mit K. Rudolph über G. Mensching (ebd., 90) oder auch Scholems Engagement für biographische Aufklärung im Falle Eugen Herrigels, wo immer er etwas über dessen Schriften zum Zen-Buddhismus las (vgl. Devarim bego, 496f.). 152 153 154

Vgl. M. Ritter, Art. Spätjudentum, HWPh 9 , 1 9 9 5 , 1 3 1 4 . Scholem, Briefe II, 121. S.o. Anm. 57.

4 Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik 4.1 Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala? „Kabbalah is a unique phenomenon, and should not generally be equated with what is known in the history of religion as 'mysticism'."1 Sätze wie dieser, mit dem Scholem seinen großen Kabbalah-Axtskü in der Engdopedia Judaica von 1971 eröffnete, gelten als typisch für die ablehnende Haltung des Philologen gegenüber einer Religionsforschung, die das Gemeinsame in den historischen Religionen oder bestimmten religiösen Erscheinungen verschiedener Orte und Zeiten sucht. Man beruft sich diesbezüglich auch gern auf die Einführung in Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Darin wendet sich Scholem gegen die Versuche „der modernen Zeit [...], so etwas wie eine abstrakte Religion der Mystik überhaupt zu erfinden"; er kritisiert die Konstruktion einer „Universalreligion", einer „sozusagen chemisch reine[n] Mystik, die an keine bestimmte Religion gebunden ist"2. Joseph Dan rühmt Scholems Konzentration auf die Erforschung allein der jüdischen Mystik als konsequente Umsetzung der Einsicht in die Gebundenheit der religiösen Phänomene an die jeweiligen historischen Religionen. Zudem scheidet er Scholems „pragmatischen" Mystikbegriff, durch den „nicht mehr als eine typologische Konvention zum Ausdruck gebracht" werden soll, von der Auffassung bedeutender Strömungen der internationalen Diskussion, die Mystik als „objektive Entität" betrachten, als „universales Phänomen, das unabhängig von den Identifikationen und Definitionen der Wissenschaftler in jeder Kultur oder religiösen Gruppe existiert".3 Konkret kontrastiert Dan, wie bereits erwähnt, den „ideen-

Scholem, Art. Kabbalah, 489. Wobei die folgende Bemerkung, was gem übersehen wird, die Kabbala sehr wohl als Mystik definiert: „It is mysticism in fact; but at the same time it is both esotericism and theosophy." Hauptströmungen, 6f.; vgl. bereits die Rezension von H. Kohn, The Jewish Mystic, Contemporary Jewish Record VI/6, 1949, 667, der (noch) vorsichtig formuliert: „Dr. Scholem [...] perhaps does not emphasize sufficiently its close interrelation with the nonJewish mysticism." Dan, Mystiker oder Geschichtsschreiber, 47f.

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

geschichtlichen" Ansatz seines Lehrers mit dem „phänomenologischen" Ansatz des Kreises von Eranos, repräsentiert durch Mircea Eliade.4 Dans wichtigster Kontrahent, Moshe Idei, der seinen eigenen phänomenologischen Ansatz als „essentialistisch" definiert,5 hält Scholems Konzentration auf die jüdische Mystik dagegen für eine Folge der einseitigen Beschränkung auf die philologisch-historische Textforschung, erzwungen von der Notwendigkeit, die Quellen überhaupt erst zu erschließen. Nach Idei hat sich der Kabbalaforscher später infolge seiner Teilnahme an den Eranostagungen der Phänomenologie der jüdischen Mystik zugewandt: „a result of the need to present it to the particular type of audience that was characteristic of these symposia"6. Wie für Dan und Idei gilt auch sonst in der Literatur über Gershom Scholem stets der Kreis von Eranos, der ungeachtet der Vielfalt der dortigen Teilnehmer in die Nähe einer Jungianischen Sicht der Religionsgeschichte gebracht wird, als Repräsentant einer phänomenologischen Sicht der Religion. Entweder man betont mit Joseph Dan die radikale Kluft zwischen ihrer ahistorischen Sicht und Scholems anti-phänomenologischem Ansatz7 oder man unterstellt, daß sie Scholems eigene Phänomenologie der jüdischen Mystik beeinflußt und geprägt habe.8 Für Moshe Idei ist Scholem der Begründer einer solchen „Phänomenologie der Kabbala".9 Auch andere Autoren belegen Scholems Deutung der jüdischen Mystik oder einzelne Aufsätze mit dem Adjektiv „phänomenologisch", selbst Joseph Dan, der Scholems Eranosvortrag Zum Verständnis der messianischen Idee als phänomenologischen Essay bezeichnet, ohne zu erklären, was Scholems Messianismusbegriff von seinem Mystikbegriff unterscheidet.10 Offensichtlich dient der Ausdruck Phänomenologie einmal der Polemik gegen die 4 5 6 7

8

9 10

Vgl. ebd., 50-58 und oben Kap. 1.2.1. Vgl. Idei, New Perspectives, xiiff. Ebd., 11. Scholems Teilnahme begann 1949 und dauerte bis zur Abschlußrede 1979. Vgl. auch Altmann, Gershom Scholem, 12: Scholems phänomenologischer Ansatz „did not put historical reality 'in brackets' as it were, nor did it reduce concepts, motifs and images to timeless archetypes"; trotz der Teilnahme an Eranos „he kept his manner of interpretation aloof fromjungian terms and methods". Typisch z.B. Bourel, Gershom Scholem, 122: „Et il faudra démêler un jour l'écheveau des influences multiples sur son travail - celles de Jung et d'Eliade singulièrement." Idei, New Perspectives, 11.22. Dan, Scholem and Jewish Messianism, 79; vgl. auch Dan, Mystical Dimension, 1, wo er drei Bücher fordert: Er selbst wolle sich dem Historiker und Bibliographen der Kabbala widmen, ein anderer habe Scholems Biographie zu schreiben, ein drittes Buch „should deal with Scholem the phenomenologist".

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

107

„essentialistische" Kabbalaforschung Moshe Idels,11 ein anderes Mal zur Unterscheidung einer synthetischen oder verstehenden, nach „Sinn" oder „Bedeutung" fragenden Betrachtungsweise von der sogenannten rein historisch-philologischen Forschung.12 Oft scheint mit der Bezeichnung Scholemscher Schriften als phänomenologisch, die selten begründet wird 13 , nichts weiter gemeint als die systematische oder auch nur die „thematische" Behandlung einer speziellen kabbalistischen Idee in Arbeiten, die eher motiv- oder begriffsgeschichtlich zu nennen wären. Alexander Altmann spricht beispielsweise von Scholems „thematic-phenomenological approach"14, dem er sämtliche Aufsätze, die ein konkretes Symbol oder einen bestimmten Vorstellungskomplex thematisieren, zuordnet Andere wiederum assoziieren den Begriff vage mit der Feststellung von religionsübergreifenden Gemeinsamkeiten.15 Die vielleicht größte Schwierigkeit, die dieses Bild der bisherigen ScholemRezeption aus der Sicht der (Allgemeinen oder Vergleichenden) Religionswissenschaft birgt, liegt darin, daß man Religionsphänomenologie stets mit dem Ansatz von Mircea Eliade und beides mit dem Kreis von Eranos identifiziert. Abgesehen davon, daß sich jener Kreis aus sehr unterschiedlichen und keineswegs nur von Jung beeinflußten Rednern zusammensetzt, stellt das Werk des rumänischen Schriftstellers und Religionsforschers einen spezifischen (und vergleichsweise jungen) Sonderweg dar, dessen Verhältnis zu C.G. 11

Auch von ausgesprochen kompetenter Seite: vgl. die „Heiterkeit" Zwi Werblowskys über „das bevorzugte Zauberwort der 'neuen Kabbalahforschung'" (Werblowsky, Messianismus und Mystik, in: Schäfer/Dan [Hg.], Gershom Scholem's Major Trends, 15). Den einstigen Schüler G. van der Leeuws hatte die „Entdeckung, daß in einer kleinen historisch-philologischen Fußnote von Scholem mehr "Phänomenologie' steckt als in aller Tintenkleckserei der sogenannten Phänomenologen" (ebd., 16), zum Kritiker der Religionsphänomenologie werden lassen.

12

Vgl. Mendes-Flohr, The Spiritual Quest, 23, der als Beleg dafür, daß Scholem „no cold historical positivist" sei, auf so unterschiedliche Analysen verweist wie die von E.E. Urbach über Scholems Verhältnis zur Wissenschaft des Judentums und Nathan Rotenstreichs Untersuchung der Funktion des Symbols in Scholems Werk; beide sollen zeigen: „Scholem employed a refined phenomenological method in his reconstruction of the data of the past and their meaning-structures." Vgl. z.B. Idei, Rabbinism versus Kabbalism; Rotenstreich, Symbolism and Transcendence, 607.610f. Altmann, Gershom Scholem, 12. Alter, The Achievement, 70, versteht z.B. unter Scholems Phänomenologie der jüdischen Mystik: „explaining the psychological and institutional categories with which it works, the dynamics and tensions peculiar to it as well as those shared with other mystical systems".

13

14 15

108

Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

Jungs tiefenpsychologischer Religionsforschung ebenso problematisch ist wie zur historischen Religionswissenschaft.16 Und auch was die übrigen, in sich wiederum sehr verschiedenen Religionsphänomenologien betrifft, die Religionswissenschaft eines Rudolf Otto oder Friedrich Heiler, eines Gerardus van der Leeuw oder Joachim Wach, so haben diese doch vor allem eines gemeinsam: die energische Distanzierung von religionspsychologischen „Reduktionsideologien"17. Abgesehen davon erscheint mir die These, daß Scholem eine „Phänomenologie der Kabbala" zu entwickeln begann, nachdem er durch die Eranoskonferenzen mit den Interessen der allgemeinen Religionswissenschaftler konfrontiert wurde, unhaltbar. Viele der Scholemschen Ideen, die gemeinhin als phänomenologisch bezeichnet werden, wie etwa die Deutung der Kabbala als gnostische Theosophie, begegnen keineswegs erst in den Eranosvorträgen,18 auch wenn Scholem anfangs erheblich mehr bibliographische Artikel (in Kirjat Sefer) veröffentlichte. Etwas anderes ist, daß sich durch Eranos eine ideale Gelegenheit bot, Ideen über die Kabbala zu formulieren und zu veröffentlichen, die über rein quellenkritische Beobachtungen hinausgingen und damit eine breitere Öffentlichkeit ansprachen. Und ohne Zweifel fand Scholem in Ascona nicht nur eine Publikationsmöglichkeit für seine Ideen über die Kabbala, sondern auch ein herausforderndes Publikum. Das mag ihn in einzelnen Punkten inspiriert haben — etwa zu den relativ häufigen Bemerkungen über die islamischen Ismailiten, die sein Eranoskollege Henri

16

17

18

Vgl. H.P. Duerr (Hg.), Die Mitte der Welt. Aufsätze zu Eliade, Frankfurt a.M. 1984, bes. die Beiträge von G. Dudley und K. Rudolph; aber auch Dan, Mystiker oder Geschichtsschreiber, 51f. Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Wien 1973, 93. Zur klassischen Phänomenologie s.u. Kap. 7.2. Dasselbe gilt natürlich auch für die späteren Versuche einer (Neu-) Begründung der Religionsphänomenologie (z.B. Widengren, Bleeker, Waardenburg), die sich alle gegen „die Reduktion religionswissenschaftlicher Arbeit auf den humanwissenschaftlichen Ansatz" richten (Antes, Systematische Religionswissenschaft - Zwei unversöhnliche Forschungsrichtungen?, in: Humanitas Religiosa, FS H. Biezais, Stockholm 1979, 219), im Kampf gegen die „kulturwissenschaftliche Gegenposition" (Gladigow, Religionsgeschichte des Gegenstandes — Gegenstände der Religionsgeschichte, in: H. Zinser [Hg.], Religionswissenschaft, Berlin 1988, 15), die den Vorwurf des Reduktionismus gerade zu ihrem Anliegen macht. Vgl. z.B. den Abraham Cardoso-Essay von 1928 (in: Judaica 1, 119-146) oder die frühen Belege für den Begriff der „symbolischen Weltanschauung" (s.u. Kap. 4.2.1). Zu bedenken ist auch, daß der letzte Eranosvortrag Akhemie und Kabbala im wesendichen, ohne nennenswerte Unterschiede, bereits 1924 verfaßt wurde, später ergänzt um ein paar Anmerkungen zu Jung!

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbah?

109

Corbin erforscht hat.19 Die Eranostagungen prägten naturgemäß auch die Themen der Vorträge, die sich stets in irgendeiner Form an dem Thema der jeweiligen Konferenz orientieren, oft allerdings nur im allgemeinsten Sinne. Ob Scholem ohne diese Vorgabe beispielsweise über die Farbensymbolik der Kabbala gearbeitet hätte, scheint eher fraglich. Im Wesentlichen jedoch, in seinen zentralen Anschauungen, sei es über die jüdische, sei es über die allgemeine Religionsgeschichte, dürfte Scholem aber kaum entscheidend beeinflußt worden sein. Mythos und Symbol, Gnosis und Messianismus, mystischer oder religiöser Nihilismus waren bereits Scholems Schlüsselbegriffe, bevor er sich dem Kreis von Eranos stellte. Vor allem aber gilt es klar und deutlich zu unterscheiden, ob man von Scholems Phänomenologie spricht, d.h. von einer spezifischen Art und Weise der Erforschung der jüdischen Mystik (die dann genau zu definieren wäre, da der Terminus weder in der Philosophie noch in der religionswissenschaftlichen Methodendiskussion eindeutig verwendet wird), oder ob man von seinem Verhältnis zur Phänomenologie im Sinne eines besonderen Ansatzes religionsvergleichender Forschung handelt oder überhaupt von seiner Einstellung zu einer Vergleichenden oder Systematischen Religionswissenschaft im allgemeinsten Sinne. Im folgenden Abschnitt sollen zunächst nur Scholems explizite Äußerungen zu vergleichender Religionsforschung näher betrachtet werden. In einem zweiten Schritt geht es dann um die Frage nach seinem Verhältnis zur Religionsphänomenologie als wissenschaftlicher Methode der Wesensschau, verstanden ausschließlich im Sinne ihrer klassischen Repräsentanten Rudolf Otto und Friedrich Heiler.20

19

Vgl. z.B. Gestalt der Gottheit, 194; Grundbegriffe, 15; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 18.21 mit Anm. 4.5; Ursprung und Anfange, 4 1 1 ; Scholem würdigt Corbin auch in seiner Abschlußrede: Identifizierung und Distanz, 476.

20

Es geht also nicht um Scholems Verhältnis zur philosophischen Phänomenologie, für die er in den Jugenderinnnerungen nur Spott übrig hat, nachdem ihre Münchner Vertreter ihn zum „Bruch mit der Phänomenologie Husserls, für die ich einige Jahre, von den 'Logischen Untersuchungen' beeindruckt, starke Sympathie empfunden hatte", veranlaßten (VBnJ, 142). Die anfängliche Begeisterung für Husserl zeigt sich in den frühen Briefen und Notizen (vgl. Briefe I, 142.169; Briefe an Werner Kraft, 38; Tagebücher 1 9 1 3 - 1 9 1 7 , 340f.).

110

Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

4.1.1

„... wie die Religionsgeschichte lehrt"

Daß Scholems Konzentration auf die jüdische Religionsgeschichte mit skeptischen Zweifeln über Sinn und Wert religions vergleich ender Studien einherging, geht weniger aus seinem wissenschaftlichen Werk als aus seinen persönlichen Äußerungen hervor. In einem Brief v o m 19.4.1976 schreibt er an Hananya Godman, die ihn nach vergleichenden Untersuchungen zu Hinduismus und Judentum gefragt hatte: I do not know of scholarly, critical studies comparing Indian and Jewish thought. Having read Patañjali on Yoga and some of Sankara's writings in English and German, I doubt very much whether this would be a good subject fot a critical comparison. But I may be mistaken. I possess a work by Schräder, Introduction to the Pancarâtra (Madras, 1914) which has struck me as presenting a system not unsimilar to the Kabbalistic tree of the Sefiroth, and I suppose that there may be a number of systems presenting similar structures of Divine powers. This, of course, would be something to be expressed as gnostic structures of the world of Divinity [which] have an overall affinity in many religious systems in quite different religions (Tantra, Hindu later philosophy, Islamic gnosis of Ismailitic type, Christian theosophy like Jacob Boehme, etc.). In all these independent or not so independent systems you find certain structural affinities with Kabbalah - only the contraiy would surprise me. [...] Therefore, I am not sure that such a study would do much to 'illuminate Jewish and Indian scholarship' as you put it. 21 In seinen Gesprächen mit Richard Kostelanetz begründet der Kabbalaforscher seine eigene Zurückhaltung gegenüber der Behandlung anderer Religionen mit der Furcht v o r Dilettantismus. 22 Wie erst durch den posthum veröffentlichten Briefwechsel bekannt wurde, hatte Scholem offenbar in den vierziger Jahren mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung zu Parallelen zwischen jüdischer und indischer Mystik gespielt. Dies geht aus einem Brief an Ananda K. Coomaraswamy v o m 27.2.1945 hervor, in dem es heißt: You are quite right that there are a lot of Indian parallels to Jewish mysticism and I could go into great length in pointing them out. I hope to be able to dwell on these points in a later and fuller edition after the war. 23

21

22

In: H. Goodman (Hg.), Between Jerusalem and Benares, Albany/N.Y. 1994, 2 (Hervorhebungen i.O.); vgl. ebd., 269 Anm. 1, zu Scholems Notizen in seinem Exemplar von F.O. Schräder, Introduction to the Pancaratra and the Ahibudhnya Samhita, Adyar 1916, die auf ähnliche kabbalistische Motive hinweisen. Kostelanetz, The Mystic's Medium, 32.

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

Ill

Auch sonst bezeugt der Briefwechsel durchaus Interesse an den Parallelen zwischen der jüdischen und anderen Religionen.24 In einem Brief an Morton Smith vom 30.12.1950 äußert sich Scholem über das Buch von John Woodroffe, Shakti and Shákta. Essays and Addresses on the Shákta Tantrashástra (2. Aufl., London 1920). Dieses Werk sei wie das Studium indischer Theorien überhaupt für die jüdische Mystik sehr ergiebig, genauso wie für Smiths Forschungsgebiet der frühen christlichen Mystik, „as it would reveal the essential character of this mode of thought as not bound to its Christian ways of expression". Scholem schreibt weiter, er selbst habe vor der Reise nach Ascona intensiv orientalische Religionsgeschichte („oriental religion") studiert, in Zusammenhang mit seiner Arbeit zum religiösen Nihilismus.25 Demnach lehnte Scholem vergleichende Forschung nicht grundsätzlich ab. Die Gebundenheit der Mystiker an die „Ausdrucksweise" ihrer Religion impliziert nicht, daß es keinerlei Gemeinsamkeiten in der „Denkweise" zwischen Mystikern verschiedener Religionen geben könnte, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdienen. Bei aller Skepsis bezüglich religionswissenschaftlicher Komparatistik verfaßte der überzeugte Philologe der jüdischen Mystik schließlich außer der frühen vergleichenden Untersuchung über das Verhältnis von Alchemie und Kabbala (1925/1977) auch drei ausdrücklich systematische, religionsübergreifende Analysen: die beiden Eranosvorträge Religiöse Autorität und Mystik (1957) und Der Nihilismus als religiöses Phänomen (1974)26 sowie den englischen Vortrag Mysticism and Society (1966). Hinzu kommen außerdem seine Reflections on the Possibility of Jewish Mysticism in Our Time, die zuerst auf Hebräisch 1963/64 erschienen und mit kurzen Bemerkungen zur Definition von Mystik

23

24

25

26

Briefe I, 295 (dem Zitat folgt die Kritik einzelner Thesen seines Briefpartners zur platonischen Seelenwanderung, mit denen Scholem nicht einverstanden ist). Vgl. außer den im folgenden genannten Briefen auch die Anwendung des Karmabegriffs auf kabbalistische Ideen im Brief an Buber vom 8.7.1925 (Briefe I, 226) (anläßlich einer geplanten Veröffentlichung Die phydognomischcn Traditionen der Kabbala) und den Brief vom 26.12.1944 an J.L. Blau über J. Abelsons Thesen zum Verhältnis von Swedenborg und dem Zohar (Briefe I, 294). Brief vom 30.12.1950 (Briefe II, 19f.). Scholem empfiehlt außerdem den Vergleich von christlicher und Abulafianischer Mystik: „if you tum, let us say, to Gregorior Polomos, and the Athos-group, a comparative study of Abulafia might be very interesting and revealing" (ebd.). Zu Morton Smiths Beziehung zu den Scholems vgl. I. Gruenwald, in: Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, 25 Anm. 1. Der Vortrag behandelt in einem ersten Teil den religiösen Nihilismus allgemein, im zweiten Teil seine christlichen und im dritten Teil seine jüdischen „Erscheinungsformen".

112

Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

allgemein beginnen, ähnlich wie der zwanzig Jahre ältere hebräische Vortrag über die jüdische Mystik Ha-mistorin ha-jehudi weha-qabbala aus dem Jahre 1944. Der Gedanke eines Umschlags der Mystik in religiösen Nihilismus begegnet schon in den dreißiger Jahren, im Artikel Zum Verständnis des Sabbatianismus im Schocken-Almanach von 1936/37. Scholem deutet hier nur an, was er in den siebziger Jahren weiter ausführt, nämlich daß es sich um ein Phänomen nicht nur der jüdischen Religionsgeschichte handelt. In seinen radikalsten Formen habe der Nihilismus „nur wenige (freilich gewichtige) Parallelen in der Religionsgeschichte", heißt es dort und kurz danach: „Der mystische Nihilismus beginnt seinen Weg mit der in der Sektengeschichte aller Religionen an kritischen Punkten immer wieder auftauchenden These von der Heiligkeit der Sünde."27 Die Rede von „allen Religionen" und der Begriff der allgemeinen Religionsgeschichte, den Scholem ungleich häufiger als den Ausdruck „Religionsphänomenologie" verwendet28, geistern durch sein gesamtes Werk, auch wo es ganz auf die Darstellung jüdischer Religionsgeschichte konzentriert ist. Die Berufung darauf, daß „die Religionsgeschichte lehrt"29, dient stets der Bestätigung der eigenen Beobachtungen; diese Thesen gelten als selbstverständlich und bedürfen keiner weiteren Belege, um den eigenen Behauptungen Nachdruck oder größere Autorität zu verleihen. Diesem Zweck dienen auch die gelegentlichen Hinweise auf (vorgeblich) allgemein bekannte Typen der Religionsgeschichte. All diese Typen spielen schon in der religionsgeschichtlichen Schule und erst recht in der klassischen Religionsphänomenologie eine Rolle, vor allem bei Friedrich Heiler, der schon von seinen unmittel-

27

Zum Verständnis des Sabbatianismus, 36.39; eine wichtige Anregung erhielt Scholem hier zweifellos von Joseph Bernharts Artikel Zur Senologie der Mystik von 1928 (zitiert unten in Kap. 7.1.2). Vgl. auch Scholem, Die krypto-jüdische Sekte der Dönme, 117, wo er sich zur Erklärung unhistorischer Parallelen auf die „allgemeine religionswissenschaftliche Einsicht" beruft (für die die Dönme als „Schulbeispiel" gelten können), „daß jeder akute und radikal emstgenommene Messianismus Abgründe aufreisst, in denen mit innerer Notwendigkeit antinomistische Tendenzen und libertinistische Moralvorstellungen Macht gewinnen".

28

Vgl. aber zur Entstehung des Kommentars (Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in: Grundbegriffe, 97): „Daß diese innere Gesetzlichkeit in der Entwicklung des Begriffs der Offenbarung sich dann auch in anderen Religionen findet, die die Autorität einer Offenbarung anerkennen, zeigt, daß der Vorgang, um den es sich hier handelt, von allgemeiner Bedeutung für die Phänomenologie der Religionen ist." Hauptströmungen, 346.

29

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

113

baren Zeitgenossen als der große Typologe unter den Religionswissenschaftlern gerühmt oder kritisiert wurde.30

4.1.2 Typen der Religionsgeschichte „Aus der allgemeinen Religionswissenschaft kennen wir den Typus, der als 'Pneumatiker', pneumatikós, oder 'Spiritualist', spiritualir, bezeichnet wird", schreibt Scholem zum Beispiel in seinem Essay Erlösung durch Sünde, und weiter: „Dieser Begriff, dem in der Religionsgeschichte große Bedeutung zukommt, meint 'jemanden, in dem mehr des Geistes ist', oder einen 'spirituellen' Menschen oder, in der Sprache des Sohar: den 'Meister einer heiligen Seele'. [...] Bekanntlich findet man diesen Typus am häufigsten auf dem Gebiet der religiösen Mystik."31 Derselbe Typ begegnet nicht nur in Hans Jonas' Werk über die Gnosis32, sondern auch in Ernst Troeltschs Soziologie des protestantischen Spiritualismus33 und schon bei Wilhelm Bousset34 und Friedrich Heiler35, jeweils als Phänomen der allgemeinen Religionsgeschichte, in Gegenüberstellung zu den Gläubigen oder Psychikern. Berühmter als der Typ des Pneumatikers ist der des Propheten, den Scholem dem des Mystikers gegenüberstellt, wobei er sich auf „eine alte Streitfrage" bezieht.36 In der Tat handelt es sich hier um eine alte, verbreitete Dichotomie mit tiefgreifenden Implikationen für die Sicht der Religionsgeschichte überhaupt, die ihre außerordentliche Popularität nicht zuletzt auch Heilers Aufnahme Söderblomscher Ideen verdankt; der Streit zwischen Otto 3Θ

31 32

33

34 35 36

Vgl. W. Koepp, Einführung in das Studium der Religionspsychologie, Tübingen 1920, 44.79; für Otto wie Heiler bestand „allgemeine Religionsgeschichte" in erster Linie aus Typologie; vgl. die Kritik von C. Colpe, Zur Neubegründung einer Phänomenologie der Religionen und der Religion, in: H. Zinser (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 1988, 141: „manchmal sitzt es [das, was in der Religionswissenschaft meist "Phänomenologie' heißt, E.H.] gar auf dem Stand nicht reflektierter, sondern naiver Beschreibung, ja einer Listenwissenschaft hoffnungslos fest"; vgl. auch H. Biezais, Die Typologie in der religionsgeschichtlichen Forschung, Temenos 1 7 , 1 9 8 1 , 5-26. Erlösung durch Sünde, 28f.; vgl. auch ebd., 61f., sowie Hauptströmungen, 366. Vgl. H. Jonas, Gnosis und Spätantiker Geist I, Göttingen 1988, 234, zitiert bei Scholem, Erlösung durch Sünde: Judaica 5, lOlf. Vgl. E. Troeltsch, Gesammelte Schriften I, Tübingen 1912, 848-940 (mit Betonung der engen Verbindung des Spiritualismus zur Mystik). W. Bousset, ICyrios Christos, 5. Aufl., Göttingen 1965, 118f. F. Heiler, Der Katholizismus, München 1923, 435f. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 18f.

114

Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

und Heiler und Scholems Haltung dazu wird weiter unten (in Kap. 5.3.3) noch ausfuhrlicher behandelt. Im selben Vortrag spricht Scholem im allgemeinen Sinn vom ,,geistige[n] Führer" bzw. dem „Guru, wie die Inder sagen"37, einem Typus, den auch Heiler im Zusammenhang mit des Mystikers „Stellung zur religiösen Autorität"38 beschreibt. Der Schriftgelehrte schließlich stellt Scholem zufolge einen „neuen Typus des religiösen Menschen"39 in der Religionsgeschichte dar, was wiederum an Bousset erinnert, der dem Schriftgelehrten als dem neuen „Führer" nach den Propheten und Priestern ein eigenes Kapitel seiner Darstellung der Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter widmet40. Die jeweiligen Charakterisierungen dieses Typus sind so verschieden, wie es allein aufgrund des Judentumsbildes der Religionsgeschichtlichen Schule nicht anders zu erwarten ist. Nach Scholem ein „Musterfell als Spontaneität in der Rezeptivität"41, galt der wichtigste Repräsentant der Gesetzesreligion in der religionsgeschichtlichen Schule als ein „zwischen Seelsorger und Geheimpolizist"42 angesiedelter Jurist. Angesichts des gewaltigen Unterschiedes in der Auslegung gerade dieses Typs überrascht die Selbstverständlichkeit, mit der Scholem von den Typen der Religionsgeschichte spricht. Von selbst versteht sich allenfalls die Bezeichnung der Typen als solche. Um so stärker ist der Eindruck, daß Scholem der typologisierenden allgemeinen Religionswissenschaft sehr wohl etwas abgewinnen kann, oder besser, sich auf ihre Autorität beruft, auch wenn er gegebenenfalls ihre Aussagen völlig auf den Kopf stellt. Scholems Beschwörung der „allgemeinen Religionsgeschichte" entspricht ganz dem älteren Sprachgebrauch der Religionswissenschaft in der Weimarer Republik. Der Ausdruck bezeichnet in aller Regel zusammenfassend die jeweils auf eine Religion bezogene und die vergleichende, überwiegende typologisierende Forschung, die dann nach den klassischen Religionsphänomenologen in die eigentliche Wesensbestimmung münden sollte.43

37 38 39 40

41 42 43

Ebd., 30. Heüer, Das Gebet, 265ff. Scholem, Grundbegriffe, 96f. Bousset, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, Berlin 1903, Kap. V. Scholem, Grundbegriffe, 97. Bousset, Religion des Judentums, 145. VgJ. die Gliederung der Religionswissenschaft bei Heiler, Das Gebet, 22ff.; vgl. Der Katholizismus, wo er die „typisierende Analyse" von der „religionswissenschaftlichen Wesensforschung" als zweitem Schritt scheidet. Zu Otto vgl. bes. Sünde und Urschuld, 138f.

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

4.1.3

115

Die „vornehmsten Gestaltungen" der Religion

Dieselbe Selbstverständlichkeit, mit der Scholem von der Religionsgeschichte oder ihren Typen spricht, klingt auch in dem oben erwähnten Brief an Hananya Goodman an, der er klarzumachen sucht, daß nicht die Existenz struktureller Affinitäten zwischen indischem und kabbalistischem Denken, sondern nur ihr Fehlen ihn überraschen würden. Von „struktureller Affinität" spricht Scholem immer dann, wenn er Ähnlichkeiten zwischen kabbalistischen und nichtjüdischen Bewegungen feststellt, die keine direkten historischen Beziehungen aufweisen.44 Betrachtet man diese in Scholems Werk verstreuten, sporadischen Religionsvergleiche, so sind christliche Mystiker (Eckhart, Swedenborg und besonders Jakob Böhme)45 und christliche häretische oder spiritualistische Bewegungen (die antike Gnosis, die Katharer, die Brüder vom freien Geiste, Joachim de Fiore und die Spiritualen)46 die bevorzugten konkreten Vergleichsgrößen, doch nicht die einzigen. Wie erwähnt nennt Scholem gleich mehrfach die muslimischen Ismailiten. Einmal verweist er auf die Übereinstimmung zwischen der Praxis der Simulation (Tekijje) im Bektashi-Orden mit der sabbatianischen „Verstellung",47 ein anderes Mal auf die Verwandtschaft zwischen der kabbalistischen Kritik am Bittgebet mit ähnlich kritischen Äußerungen von Rumi; Gewährsmann für letztere ist kein Historiker des Islams, sondern Friedrich Heiler.48 Aus dem ursprünglich geplanten detail44

45

46

47 48

Vgl. den Begriff der „Struktur der Religion" (oder religiöser Phänomene) bei C.J. Bleeker, La Structure de la Religion, in: The Sacred Bridge, Leiden 1963, 25-35, dort gleichgesetzt mit dem Wesen (Eidos) und dem Logos, der eigenen „Logik", der Erscheinungen. Zu Scholems „struktureller Erklärung" und seiner Betonung einer „inneren Logik" religiöser Ideen s.u. Kap. 7.2. Vgl. Hauptströmungen, 137.406 Anm. 59; Grundbegriffe, 74, zu Meister Eckhart; Gestalt der Gottheit, 225f., zu Swedenborg; Hauptströmungen, 259; Grundbegriffe, 75.82; Gestalt der Gottheit, 66f.280; Judaica 4,15, zu Böhme. Vgl. Hauptströmungen, 91.113f.255; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 113; Ursprung und Anfange, 410, zu den Spiritualen; Hauptströmungen, 265; Ursprung und Anfange, 12-15.206-210, zu den Katharem; zur Gnosis und zur Analogie von Sabbatianismus und Frühchristentum s.u. Kap. 4.2. Vgl. auch Scholems Brief vom 6.3.1961 an H. Grundmann zum Dank für die Zusendung des Sonderdrucks von: Zur Biographie Joachims von Fiore und Rainers von Ponza, Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 16,1960, 437-546; Scholem schreibt, er habe Gnindmanns Arbeiten seit 1935 - d.h. seit Erscheinen von 'Religiöse Bewegungen im Mitteklter - „schätzen und benutzen gelernt" (Briefe II, 79). Vgl. Judaica 4,160; Die krypto-jüdische Sekte der Dönme, 102f. Vgl. Der Begriff der Kawwana, 503 mit Anm. 3; vgl. außerdem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 52.21f. (zur verwandten Auffassung von heiliger Schrift in allen monothei-

116

Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

Herten Vergleich zwischen Kabbala und indischer Religionsgeschichte wurden schließlich ein paar kurze Bemerkungen zu Parallelen zwischen kabbalistischer Seelenwanderung und indischen Reinkarnationslehren über jenseitige Purgatorien oder über die Idee einer Wanderung durch Tierleiber49 und zur Entsprechung von kabbalistischer Schechina-Symbolik und indischer Shakti.50 Sporadisch verweist Scholem auch auf den Buddhismus, sei es auf die „Theosophie" des tibetischen Buddhismus, die mit Abulafias Kabbala das Symbol der Auflösung der (die Seele bindenden) Knoten gemeinsam hat oder mit den deutschen Chassidim das Motiv des mystischen Schusters, sei es auf den Mahayana-Buddhismus bei der Analyse der Idee des göttlichen Nichts und beim Vergleich der Befreiimg des Frommen vom Gilgul mit der Lehre vom Bodhisattwa.51 Der Blick auf diese konkreten Vergleichsgrößen hinterläßt das gleiche Bild wie Scholems drei explizit religionsvergleichende Analysen: Die allgemeine Religionsgeschichte besteht bei Scholem faktisch nur aus den sogenannten Schrift- und Hochreligionen, oft liegen der Bezugnahme auf „die" Religionsgeschichte nur Übereinstimmungen zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zugrunde. Zwar entschuldigt der Judaist seine Beschränkung auf die monotheistischen Traditionen mit dem Mangel an fachlicher Kompetenz52, doch erwähnt er die Hochreligionen Asiens immerhin gelegentlich, während er Vertreter nichtschriftlicher Kulturen vollständig ignoriert. Die bei einem Historiker der jüdischen Mystik zweifellos naheliegende Konzentration auf die monotheistischen Religionen verdiente weiter keine Aufmerksamkeit, wenn er nur Aussagen über die Mystik in monotheistischen Religionen machen würde. Doch spricht Scholem immer wieder ausdrücklich von der Religionsgeschichte, der Religion oder der Mystik generell. Mit Vorliebe stellt er eine Behauptung über die jüdische Mystik auf,

49 50

51

52

stischen Religionen); Hauptströmungen, 104.406. Anm. 59; 416 Anm. 105 (zu sufischen Ideen im deutschen Chassidismus und bei Abulafia). Vgl. Gestalt der Gottheit, 208.224. Vgl. ebd., 188-191 (mit Hinweis auf das oben erwähnte Werk von J. Woodroffe); vgl. auch Ursprung und Anfänge, 411 (zur Entsprechung zwischen der Schemittalehre und der Neigung zu großen Ziffern „bei den Indem"). Vgl. Hauptströmungen, 142; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 177f.; Grundbegriffe, 78; Gestalt der Gottheit, 208f. Judaica 4, 135f.: „Wie das Studium indischer und femöstlicher Religionen zeigt, fehlt es auch dort keineswegs an parallelen Erscheinungen, wenn auch oft in ganz anderen Zusammenhängen, zu deren Durchdringung ich mich nicht kompetent fühle." Interessanterweise spricht Scholem im diesem Zusammenhang von der „monotheistischen Tradition" im Singular!

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

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die er dann auf die Mystiker „aller Religionen" überträgt.53 Nicht selten fehlt jede Präzisierung, ob es sich um eine Aussage über alle Religionen oder nur die monotheistischen Mystiker handelt. So schreibt der noch junge Kabbalaforscher im Zusammenhang mit der kabbalistischen Vorliebe für Oxymora zur Beschreibung unbegreiflicher, paradoxer Vorgänge: „In der gleichen Richtung verwenden viele Mystiker [...] derartige Oxymora."54 Hier bleibt es dem Leser überlassen, an welche Mystiker er denken soll. Formulierungen jedoch wie jene aus Scholems Dissertation über die „Neigung der mittelalterlichen Autoren aller Religionen, auch die Dinge, die gar keiner Stütze durch eine Autorität bedürfen, noch zu belegen"55, sind verräterisch: Die monotheistischen Religionen des europäischen Mittelalters sind für Scholem oft genug „alle Religionen". Die Religion nichtschriftlicher Völker begegnet stets in allgemeinen und nicht weiter belegten, sondern als selbstverständlich vorausgesetzten Behauptungen über die sogenannte primitive Religiosität, meist in einem Atemzug mit Volksreligion, Magie und „Aberglauben". Als Belege werden hier keinerlei konkrete Quellen bzw. ethnologische Untersuchungen konkreter Erscheinungen genannt. Etwas häufiger zitiert Scholem Literatur aus der europäischen Volkskunde, z.B. das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens.56 Auffallend groß ist demgegenüber die Zahl der von Scholem genannten Werke zur griechischen, jüdischen und arabischen Magie, darunter sämtliche Klassiker der Magieforschimg in der Spätantike und den monotheistischen Religionen.57

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57

Genaue Belege s.u. je zu Beginn der Abschnitte von Kap. 4.2. Eine unbekannte mystische Schrift, 119f. Anm. 4; vgl. Das Buch Bahir, 136, zur Fähigkeit Isaaks des Blinden, den Leuten anzusehen, „ob sie neue oder alte Seelen hatten. Aehnliche Fähigkeiten wurden allen großen Mystikern zugeschrieben." Das Buch Bahir, 73. Vgl. Ein Fragment zur Physiognomie, 175 Anm. 2; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 252.282.289f. K. Preisendanz, Papyri graecae magicae I, Leipzig-Berlin 1928 (vgl. Hauptströmungen, 395 Anm. 49; Jewish Gnosticism); L. Blau, Aljüdisches Zauberwesen, Budapest 1898 (vgl. Hauptströmungen, 458; Das Buch Bahir, 83.110; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 281 Anm. 19; Judaica 3, 17); M. Gaster, Studies and Texts in Folklore and Magic, Medieval Romance, Hebrew Apocrypha and Samaritan Archeology, New York 1928 (vgl. Hauptströmungen, 70 mit Anm. 91); D.H. Joel, Der Aberglaube und die Stellung des Judenthums zu demselben, Breslau 1881-1883 (vgl. Hauptströmungen, 458); J. Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition, New York 1939 (vgl. Hauptströmungen, 461); L. Thorndike, A History of Magic V, New York-London 1928 (vgl. Sabbatai Zwi, 222 Anm. 127; Alchemie und Kabbala, 1977, 21.76); F. Domseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig 1922 (vgl. Das Buch Bahir, 87.168; Eine unbekannte Schrift,

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

Verglichen mit dem Fehlen von ethnologischer Fachliteratur erscheinen Scholems Literaturangaben zu Schrift- und Hochreligionen geradezu reichhaltig. Es gibt eine ausdrückliche Stellungnahme Scholems, die keinen Zweifel läßt über seinen Standpunkt bezüglich der - unter den späteren Religionsphänomenologen sehr umstrittenen - Frage nach der Rolle der primitiven Religionen innerhalb der Religionswissenschaft.58 Anläßlich der geplanten Berufung Bubers auf einen Jerusalemer Lehrstuhl für Religionswissenschaft erklärt Scholem in einem Brief an das Hebrew University Survey Committee aus dem Jahre 1933, er denke bei einem solchen Lehrstuhl, von dem aus allgemeine Religionswissenschaft ohne bestimmte dogmatische Bindung und theologisch-praktische Zielsetzung zu lehren wäre, nicht etwa in erster Linie an die Erforschung primitiver Völker. In Universitäten, die über spezielle Lehrstühle oder doch Lehrkurse verfügen, in denen die konkrete Erscheinungswelt der großen Religionssysteme Indiens, Griechenlands, Vorderasiens und Europas gelehrt wird, fallt nur allzuleicht der Nachdruck bei einer Professur für allgemeine Religionsgeschichte oder Religionswissenschaft automatisch auf die Phänomenologie der übrigbleibenden primitiven Religionen. Nicht dies ist es, was das Zentrum solcher Studien in Jerusalem zu bilden hätte. In einem Geschlecht, dem der Sinn für religiöse Realität und religiöse Problematik in erstaunlicher Weise vedoren gegangen zu sein scheint, ist es wichtig, daß eine wissenschaftlich tiefgrabende Erforschung der allge-

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118 mit Anm. 3; Judaica 3, 25 mit Anm. 26); H.A. Winkler, Siegel und Charaktere, Berlin 1930 (vgl. Jewish-Arabic Demonology, 2 Anm. 3). Vgl. C.J. Bleeker, The phenomenological Method, Numen 5, 1955, 13; und G. Widengren, Einige Bemerkungen über die Methoden der Phänomenologie der Religion, in: G. Lanczkowski (Hg.), Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft, Darmstadt 1974, 263, wonach G. van der Leeuw „die Religionen schriftloser Völker unverhältnismäßig stark, mehr als es ihrer wahren Bedeutung entsprochen hätte, heranzog" infolge der „evolutionistischen Überschätzung der seinerzeit so genannten 'primitiven Religion'", die sich auch bei Heiler finde. (Bezeichnenderweise kritisiert Widengren die wertende Vorstellung von primitiven und entwickelten Religionen, stellt aber selbst „obskure afrikanische oder indianische Stammesreligionen" den wichtigeren „größten lebenden Religionen" gegenüber [ebd., 270]l). Heiler betont zwar die „ursprüngliche" Frömmigkeit der Primitiven, von einer Bevorzugung des Materials aus schriftlosen Kulturen würde ich aber bei seiner Konzentration auf christliches und indisches Material (auf die auch Widengren hinweist!) nicht sprechen, gerade im Vergleich zu van der Leeuw oder auch Eliade; vgl. Heilers Lob Ottos, der die eigene Forderung verwirklicht habe, „daß die vergleichende Religionsgeschichte die hohen mystischen und evangelischen Erfahrungen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen sollte, statt nur um das Verständnis der primitiven Begriffe wie Totem und Tabu sich zu bemühen" (Heiler, Die Bedeutung Rudolf Ottos, 15).

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meinen Bedingungen und Erscheinungsformen der Religion auch bis in ihre vornehmsten Gestaltungen diesen Sinn zu wecken sucht.59

Scholems Formulierung von den „vornehmsten Gestaltungen" verrät eine unterschwellige Wertung der größeren Komplexität nichtprimitiver Kulturen als höherstehende „Erscheinungsform der Religion". Scholem erklärt nie, was eigentlich „die Religion" ausmacht und nimmt auch nirgends ausdrücklich Stellung zur Möglichkeit, ihr Wesen zu bestimmen. Um so heftiger polemisiert er bekanntlich gegen den Wesensbegriff in seiner Anwendung auf das Judentum. Bevor ich aber auf diese Polemik eingehe, um daraus Rückschlüsse zu ziehen auf Scholems Einstellung zum Wesen der Religion und auch zum Wesen der jüdischen Mystik, sei noch eine seiner seltenen veröffentlichten Stellungnahmen zu Aufgabe und Ziel der Religionswissenschaft erwähnt, um die Untersuchung der wichtigsten direkten Äußerungen Scholems zur religionsvergleichenden Forschung abzuschließen.

4.1.4 Scholems Äußerungen über Religionsphänomenologie Es handelt sich um die Begrüßungsworte, mit denen Scholem im Namen des Organisationskomittees die Tagung der Internationalen Vereinigung der Religionswissenschaftler (I.A.H.R.) über Typen der Erlösung im Juli 1968 in Jerusalem eröffnet. Darin bezeichnet er die Arbeit der I.A.H.R, von allen tiefgreifenden methodologischen Unterschieden abgesehen, als den gemeinsamen Versuch, to understand these [religious] phenomena, the structure which gives each of them its special meaning, and their development in the proper historical context. It uses the methods of historical research, of phenomenological analysis, and last but not least of sociology and psychology in order to get an insight into what constitutes the varieties of religious experience.60

In methodologischer Hinsicht ist fur Scholem die einzige gemeinsame Basis dessen, was meist „allgemeine Religionsgeschichte, Religionsphänomenologie oder Vergleichende Religionswissenschaft genannt wird"61, das Bekenntnis zur 59 60 61

Scholem, Briefe 1,255. Opening Address, 6. Ebd. („what is often called history of religions, phenomenology of religions, or comparative religion"). Vgl. auch den synonymen Gebrauch von Systematik und Phänomenologie im Brief von 1933 (Briefe I, 255f.): „Die Problematik und Phänomenologie der

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

wertfreien Forschung im Unterschied zur Theologie. Dennoch nennt er die tiefgreifenden methodischen Differenzen nur „legitime Meinungsverschiedenheiten innerhalb eines gemeinsamen Rahmens" 62 . Man könnte dies als bloße rhetorische Floskel abtun, als diplomatische Würdigung der verschiedenen Ansätze der Religionswissenschaft, einschließlich der Phänomenologie, vor der I.A.H.R., über deren Zusammenkünfte er privat umso heftiger spottet Nach seiner Teilnahme am Kongreß der I.A.H.R. in Rom, im April 1955, kommentiert er die Veranstaltung Th.W. Adorno gegenüber kurz und bündig mit den Worten: „dummes Zeug". 63 Es ist keine Frage, daß Scholem die religionsgeschichtliche Erforschung der einzelnen Religionen für die sinnvollste und fruchtbarste Religionswissenschaft hält, allein schon, weil sie nicht (oder nicht so stark) der Gefahr des Dilettantismus ausgesetzt ist. Und doch sollte man darüber nicht vergessen, daß er vergleichender Religionswissenschaft nicht jeglichen Sinn und Wert abspricht und ihre Ergebnisse nicht prinzipiell für wertlos hält. Dies machen seine eigenen religionsübergreifenden Analysen ebenso wie die brieflichen Äußerungen mehr als

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religiösen Erscheinungen zu erörtern, und das Verständnis für die aus dieser Quelle ausgegangenen historischen Entwickungen zu wecken, scheint mir eine der vornehmsten spezifischen Aufgaben unserer Universität. [...] Statt der vertikalen Trennungen in judaistische, orientalische und allgemein-historische Fächer etwa [gemeint sind Bibel, Kabbala, jüdische Philosophie, Islam, griechisch-römische Antike — E.H.] würden horizontale Verbindungen treten, die von der systematischen Problematik eines fundamentalen Gebietes der Geistesgeschichte ausgehen." Opening Address, 7 („a matter of altogether legitimate differences of opinion within a common framework"). - Wie er bereits 1933 die Auffassung vertritt, daß „allgemeine Religionswissenschaft ohne bestimmte dogmatische Bindung und theologisch-praktische Zielsetzung zu lehren" sei (Briefe I, 255), so erklärt Scholem 1968 „the great virtue of reserving their judgement" als gemeinsame Grundlage aller „Religionswissenschaftler" (i.O. deutsch). Die ältere Formulierung erinnert an die Diskussion um Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Reägionsgeschichte (Harnack), als es primär um deren Ort als akademische Disziplin innerhalb der theologischen oder philosophischen Fakultät ging - eine Frage, die im Falle der Berufung Martin Bubers gegen den Widerstand orthodoxer Juden von größter Aktualität war. Der Ausdruck „Urteilsenthaltung" wiederum spielt auf den v.a. von G. van der Leeuw popularisierten epoché-ìitgàft an (vgl. die Kritik am Gebrauch des Husserlschen Terminus für das Absehen von theologischer Wertung bei Colpe, Zur Neubegründung, 133-139.141). Scholem, Briefe II, 35 (vom 1.5.1955). (Zur Tagung vgl. den Bericht von F. Heiler, VIII. Internationaler Kongreß für Religionsgeschichte in Rom 17. bis 23. April 1955, ThLZ 80, 1955, 683-691, der auch eine Bemerkung enthält zum Vortrag „G. Scholem[s], des Verfassers eines ausgezeichneten Werkes über die Geschichte der jüdischen Mystik, der die jüdische Gnosis behandelte" [692].)

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deutlich. Mit seiner Überzeugung von der Selbstverständlichkeit struktureller Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, der Berufung auf die allgemeine Religionsgeschichte und ihre Typen und der Hochschätzung der Schriftreligionen zeigt er sogar eine größere Affinität zur älteren vergleichenden Religionswissenschaft, als man gemeinhin wahrnimmt. Bezeichnend ist schließlich in diesem Zusammenhang auch der Briefwechsel mit Kurt Rudolph über dessen Schrift zur Religionsgeschichte an der Leipziger Universität aus dem Jahre 1962. In dieser forschungsgeschichtlichen Untersuchung übt Rudolph heftige Kritik an den Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule und den klassischen Religionsphänomenologen, deren theologische Religionsforschung die „gesunde Entwicklung der deutschen Religionswissenschaft"64, nämlich die streng historisch-philologische Richtung, durchkreuzt habe. Er bemängelt nicht nur die theologische Vereinnahmung der Religionswissenschaft zur Demonstration der Überlegenheit des Christentums seitens der unphilologisch-theologischen Richtung, sondern auch deren „idealistisch-romantische Religionsauffassung, die dann in Otto ihren vornehmlichen Apologeten finden sollte"65. Im Abschnitt über seinen Lehrer W. Baetke zitiert Rudolph zustimmend dessen Kritik an der „Verkennung des Gemeinschaftscharakters der Religion" in der religionsgeschichtlichen Schule und ihrer ,,psychologistisch-subjektivistische(n) Ausrichtung, das falsche Ausgehen von Erlebnis und Gefühl mit dem Ziel, das objektive Moment oder 'das Numinose' auf diese Weise zu erfassen".66 Scholem wendet nun seinerseits dagegen ein, „dass die Seiten, die Sie Rudolf Otto widmen, nicht ganz adäquat sind. Mit Kategorien wie Romantik, die neuerdings im absprechenden Sinn wieder einmal sehr beliebt sind, ist es doch nicht getan"67. Der Kabbalaforscher verteidigt das hohe Niveau der Ottoschen Arbeiten, welches das seiner Kritiker, auch wo deren Kritik berechtigt sei, weit übertreffe.68 Rudolph räumt daraufhin in seiner (unveröffentlichten) Antwort an Scholem ein, daß Otto auf dem Gebiet der Mystik kongenial gearbeitet hätte, was wohl die Einstellung des jüdischen Mystikforschers erkläre, betont aber noch einmal nachdrücklich die grundsätzliche Kluft, die ihn von Otto und der von ihm

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Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität, 52. Ebd., 53. Ebd., 165; vgl. W. Baetke, in: Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Weilige', bes. 364370. Scholem, Briefe II, 90 (Brief an K. Rudolph vom 27.12.1962). Er besteht außerdem auf der Differenzierung „zwischen Männern von bedeutendem Rang wie Otto und van der Leeuw und solchen offensichtlich minderwertigen Erscheinungen wie Mensching (war das nicht ein ex-Nazi?)" (ebd.).

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

abhängigen Religionswissenschaft trenne. Man spürt deutlich, wie schwer es Rudolph fallt, Scholems positive Haltung zu Otto nachzuvollziehen.69 Es scheint vor diesem Hintergrund um so plausibler, anstatt das Verhältnis des jüdischen Historikers zur Religionsphänomenologie stets in den Zusammenhang mit jungianischer Religionspsychologie zu stellen, vielmehr seinen Beziehungen zu den Vertretern der Allgemeinen Religionsgeschichte der Weimarer Republik auf die Spur zu kommen. Verräterisch scheint nicht zuletzt die oben zitierte Definition des gemeinsamen Ziels aUer vergleichender Religionsforschung, wie Scholem es vor der I.A.H.R. in Anlehnung an den berühmten Titel von William James formuliert, nämlich als die Einsicht in die Vielfalt der religiösen Erfahrung. Mit dieser Definition steht der jüdische Gelehrte ganz in der Tradition der klassischen Religionsphänomenologen, bildet doch gerade für diese die vielfältige religiöse Erfahrung tatsächlich den gemeinsamen „Kern" aller Religionen und den eigentlichen gemeinschaftsstiftenden Gegenstand aller Religionswissenschaft.70 Noch verräterischer aber ist Scholems Äußerung in einer von S.H. Bergman angeregten Besprechung von Kollegen der Hebrew University am 12.2.1950, in der man Einrichtung, Notwendigkeit und Programm eines religionswissenschaftlichen Instituts diskutierte; eine Äußerung, die allerdings nur aus zweiter Hand überliefert ist, nämlich in Bergmans Tagebuch, wo Scholems Diskussionsbeitrag mit den Worten kommentiert wird: „Scholem sprach sehr gut. Er bezweifelte, ob es eine Geschichte der Religion gibt, es sei vielleicht immer dasselbe Erlebnis. Was notwendig ist, ist Phänomenologie der Religion."71

4.1.5 Das Wesen des Judentums Im Vorwort zu seinem umfangreichen Werk über den frühen Sabbatianismus schreibt Scholem, er sei „kein Anhänger der Schule, die annimmt, daß es ein wohldefiniertes und unveränderliches "Wesen' des Judentums gäbe, ich bin es besonders dort nicht, wo historische Ereignisse zu bewerten sind". Er wendet sich gegen die „innere Zensur der Vergangenheit" aufgrund der „rationalistischen Sicht, die die historische Perspektive verengt und ein unvoreinge69

70

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Vgl. den Brief an Scholem vom 30.1.1963 im Scholem-Archiv JNULA 4° 1599/K. Rudolph. Vgl. Flasche, Religionsmodelle und Erkenntnisprinzipien, 262, sowie die Darstellung und Kritik der verschiedenen Religionsphänomenologien bei F. Wagner, Was ist Religion?, Gütersloh 1986, 305-333. Bergman, Tagebücher und Briefe II, 42.

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nommenes Verständnis solcher Phänomene wie der mystischen Bewegung im Judentum verhindert".72 Diese knappen, im Zusammenhang mit der sabbatianischen Häresie jedoch um so provozierenderen73 Bemerkungen wiederholte und ergänzte Scholem in den folgenden Jahren. Die wichtigsten direkten Äußerungen zum Wesen des Judentums sind seine Rede anläßlich der Verleihung des Rothschild-Preises im Jahre 1962, seine Gespräche mit israelischen Pädagogen über Ergebung %um Judentum von 1963, seine Stellungnahme zur Frage Who is a Jew? vor der Central Conference of American Rabbis (1970/71), das Interview mit Ehud Ben Ezer von 1970, das 1974 unter dem Titel Zionism — Dialectic of Continuity and Rebeläon publiziert wurde, seine Ansprache im Kolloquium über Die Wissenschaft des Judentums' in Deutschland und ihr Einfluß auf die moderne Forschung (1971) und ein Text mit der Überschrift Judaism, der 1987 postum veröffentlicht wurde, nach Aufzeichnungen von Gesprächen mit den Mitgliedern des Center for the Study of Democratic Institutions Santa Barbara. Pointe der wiederholten Kritik an einer Wesensbestimmung des Judentums ist stets die Dichotomie von lebendigem Organismus und dogmatischem Wesen: „I believe that Judaism is a living thing that is not amenable to a dogmatic definition"74, erklärt Scholem seinem Interviewpartner Ben Ezer. Das Judentum, heißt es in Judaism, „cannot be defined by or with any authority, or in any clear way, simply because it is a living entity, having transformed itself at various stages in its history"75. Der Begriff des Wesens steht bei Scholem für eine dogmatische Definition, die eindeutig („clear", „closed", „finite"76) und zugleich autoritativ ist. Autorität meint Normativität: „Wehe der Dogmatik als Wahrheitsmaß für die Erforschimg der Geschichte unseres Volkes"77, ruft Scholem in der Rothschild-Preisrede beschwörend aus. Neun Jahre später erklärt er, eines der beiden zentralen Probleme der jüdischen Historiographie von Zunz bis heute sei der Widerspruch zwischen der Auffassung des Judentums als einem lebendigen Organismus und seiner Defini72 73

74

Sabbatai Zwi, 17. Die Definition des Judentums war auch Gegenstand der Kontroverse mit R.J. Zwi Werblowsky (vgj. Scholems Briefentwurf vom 13.1.1958: Briefe II, 38-45, bes. 45). Zionism, 275 (i.O. kursiv); vgl. u.a. Devarim bego, 66 {„guf ώα/"); Judaism, 505 („living entity"); Who is a Jew?, 134 (,,an open, living, an undefined organism"), sowie die Rede zur Verleihung des Bialik-Preises vom Januar 1977, Od Davor, 45 {^uf chaj, mitchaddesh

umishtanneh").

75 76

77

Judaism, 505. Vgl. ebd.: .Judaism cannot therefore be regarded as a closed historical phenomenon whose development and essence came into focus by a finite sequence of historical, philosophical, doctrinal, or dogmatic judgements and statements."

Devarim bego, 66.

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tion als Begriffssystem und Maßstab für die Bewertung der historischen Ereignisse.78 Die Ablehnung einer dogmatischen Definition impliziert, daß es kein „apriorisches" Wesen gibt, das sich im Laufe seiner Geschichte entfaltet: „If Judaism cannot be defined in any dogmatic way, then we may not assume that it possesses any a prion qualities that are intrinsic to it or might emerge in it."79 Scholems Polemik gegen den Wesensbegriff wendet sich gegen sämtliche Vertreter der assimilierten „deutschjüdischen" Wissenschaft des Judentums, dem zentralen Objekt der Kritik seitens der sogenannten Jerusalemer Schule.80 In dem postum veröffentlichten Text erklärt Scholem ausdrücklich, er sei gegen Wesensdefinitionen, die das Judentum unter protestantischem Einfluß auf einige wenige geistige Äußerungen reduzierten — mit Moritz Lazarus, Hermann Cohen, Leo Baeck und Martin Buber als ausgewählte Beispiele für diese „Schule".81 Als weitere Zielscheibe seiner Kritik betrachtet Scholem im Jahre 1970 auch orthodoxe oder fundamentalistische Bestimmungen des Judentums im Sinne eines Religionsgesetzes, während er 1958 noch an Zwi Werblowsky schreibt, seine Klage im Vorwort von Sabbatai Zwi richte sich nur gegen sogenannte moderne Autoren und nicht gegen die Orthodoxie.82 Dogmatik, sei sie nun orthodox motiviert oder liberal und protestantisch beeinflußt, steht in jedem Fall auch für Reduktion, impliziert sie doch nach Scholem immer den Ausschluß zahlreicher unliebsamer jüdischer Bewegungen: „Nihil Judaeum a me alienum puto" 83 , deklamiert Scholem in seiner Rothschild-Preisrede und betont, dies gelte für Höheres und Niederes. Im Gespräch mit den Erziehern wie im Interview mit Ben Ezer empört er sich gegen diejenigen, who sift out only those manifestations that seem to promise future glory. Beyond such matters they forbid us to go, or even to select such phenomena which do indeed embody

[Ansprache,] in: M. Gilon (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Deutschland, Jerusalem 1971,48. 7 9 Judaism, 506; Hervorhebungen von mir. 80 Vgl. Biale, Counter-History, 7; Funkenstein, Charisma, 21; zur Problematik der Bezeichnung der „Jerusalem Scholars" als Schule vgl. Myers, 'Re-Inventing the Jewish Past', 8f.75f. 81 VgJ. Judaism, 506. 82 Vgl. Briefe II, 44. 83 Devarim bego, 66. „Mir ist nichts Jüdisches fremd", erklärt Scholem auch im Hessischen Rundfunk am 5.12.1967 (im Typoskript in der Scholem-Library, Teil 2, S. 13); auch hier spricht er vom „lebendigen Organismus" (ebd., 7.12). 78

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a manifestation of our historic essence, but have in the war of the generations been vanquished for some reason, not to speak of those that have been utterly suppressed.84

Beispiele fur solche unterdrückten lebendig-jüdischen Erscheinungen bietet das Judentum zur Zeit des zweiten Tempels. Scholem erwähnt konkret die Qumranrollen oder die Sadduzäer, also das Judentum, das sich aus christlicher Perspektive „zwischen den Testamenten" bewegt und dessen Vielfalt auch die christliche Forschung, angeregt vor allem durch die Qumranfunde, zu entdecken begann. Sie ersetzte die ältere Bezeichnung „Spätjudentum" nicht zuletzt deshalb durch andere Ausdrücke wie „antikes Judentum" oder „Frühjudentum", um den Abschied von der Eindimensionalität des durch die neuen Quellen endgültig widerlegten Bildes dieser Epoche jüdischer Geschichte zu signalisieren.85 Dogmatik bedeutet für Scholem schließlich auch Mangel an Offenheit für zukünftige Veränderungen des Judentums: „Judaism contains Utopian aspects that have not yet been revealed."86 Bereits in der Rede von 1962 erklärt Scholem, die jüdische Geschichte stelle nicht die Verkörperung einer einmal definierten Idee dar bzw. allenfalls die Verkörperung einer utopischen Idee, in dem Sinne, daß noch nicht alles Verkörperte offenbar sei.87 Nun enthält Scholems Kritik an dogmatischen Wesensbestimmungen nicht nur negative Aussagen. Zwar leugnet er die Notwendigkeit einer Definition überhaupt, versteht aber wenig später seine eigene Aussage, daß jede Generation das Judentum in je eigener Weise interpretiere, selbst als eine Definition: „a thoroughly anti-theological definition, contrary to the dogmatic trends I do not share in"88. Das Judentum ist nicht nur „a recognizable entity, a phenomenal fact"89, etwas, von dem man weiß, daß es existiert, auch wenn es schwer

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86

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Zionism, 276f.; vgl. Education for Judaism, 206f. (= Od davar, 106). Denn „das jüdische Erbe ist derartig differenziert worden, daß man jetzt nicht mehr von dem Judentum als einer fest umrissenen, einheidichen Größe zur Zeit des Neuen Testaments oder der frühen Kirche sprechen kann" (K. Rudolph, Das frühe Christentum als religionsgeschichtliches Phänomen, in: J. Irmscher/K. Treu [Hg.], Das Korpus der Griechischen Christlichen Schriftsteller, Berlin 1977, 31; vgl. auch z.B. J. Maier/J. Schreiner, Literatur und Religion des Frühjudentums, Würzburg 1973). Zionism, 276 (i.O. kursiv); vgj. Education for Judaism, 206 (= Od Davar, 107).

Devarim bego, 66.

Zionism, 275. Judaism, 505 („Indeed, for such a people to have endured for three thousand years as a recognizable entity, a phenomenal fact for which nobody has any truly sufficient explanation, is itself an enigma.").

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

zu definieren ist.90 Es gibt auch Kriterien, die entscheiden, was als Judentum gelten darf: The criterion must be: What are the living manifestations of the nation's strength that have existed throughout the generations and that are yet going to emerge and crystallize? What Judaism is - is not a definition by religion [...] In general, I believe that it is possible to define a historical phenomenon solely from within history. 91

Das Judentum wird also nicht durch die Religion definiert („What has the Judaism that existed at the time of Abraham or of Moses got to do with the Baal-Shem-Tov?"92 fragt Scholem rhetorisch), aber doch als Nation und durch die gemeinsame Geschichte. Nation möchte Scholem nicht in einem politischen, sondern in einem geistigen Sinne verstanden wissen: Das Judentum ist eine „national-geistige Erscheinung"93. Ich habe bereits oben im zweiten Kapitel darauf hingewiesen, daß Scholem der Geschichtswissenschaft eine identitätsstiftende Funktion zuweist, weil er die jüdische Identität vom gemeinsamen historischen Bewußtsein bestimmt sieht. Es ist die gemeinsame Geistesgeschichte, die seiner Meinung nach die Juden aller Orte und Zeiten zu einer einheitlichen Größe vereint. Nur auf dieser Basis kann Scholem zeitgenössische, sich als jüdisch verstehende Bewegungen in Israel, die unter Umgehung der rabbinischen Tradition zu einem vermeintlichen biblischen Judentum zurückkehren wollen, aus dem Judentum ausschließen — mit der Begründung, sie hätten die lebendige Verbindung mit dem Erbe der Generationen abgetrennt.94 Und nur so kann er für eine einheitliche Sicht der jüdischen Geschichte eintreten, gegen die bloße Zusammenstellung von Einzelvorgängen,

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Zionism, 273 („We all know that when we speak of Judaism we are speaking of something that exists, but which it is difficult to define."). Ebd., 276. Ebd.; vgl. Education for Judaism, 206 (= Od Davar, 107). Zionism, 277 (,,a national-spiritual phenomenon"); vgl. Education for Judaism, 206 (,,a spiritual-national phenomenon") = Od Davar, 107 (tofa'a ruchanit-k'umit), sowie Judaism, 506: Auch der Zionismus müsse berücksichtigen, daß das Judentum ein spirituelles und historisches, d.h. an Geschichte, Volk und Nation gebundenes Phänomen sei. Zionism, 277 („cutting the living tie with the heritage of the generations is educational murder"); vgl. ebd., 288-291; zum modernen „Kanaanismus" vgl. Krochmalnik, Neue Tafeln, 72f. Vgl. auch Scholems Kritik an Bubers - von Berdyczewski inspirierter „Interpretation eines großen (und wie mir scheint überaus problematischen und realiter unvollziehbaren) Sprunges" vom Zionismus zurück zur Bibel unter Umgehung des exilischen Judentums (Martin Bubers Auffassung des Judentums: Judaica 2, 144f.); dazu Biale, Counter-History, 100.

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die je für sich aus den besonderen Umständen der allgemeinen (nichtjüdischen) Geschichte zu erklären wären.95 Das Judentum ist historisch ein einheitlicher und umgrenzbarer Komplex, mag es innerhalb dieser Grenzen auch noch so lebendig und vielfaltig aussehen. Nur unter dieser Voraussetzung sind Aussagen möglich, die das Judentum generell charakterisieren. Angesichts der Tatsache, daß Scholem selbst vom „historischen Wesen" („historic essence")96 des Judentums spricht, liegt es nahe, von einem induktiven, historischen Wesensbegriff bei Scholem zu sprechen97, im Sinne einer Bestimmung des Judentums, die nicht deduktiv, sondern aus den historischen Gestalten des Judentums gewonnen ist (und nicht davon „abstrahiert98, wie Scholem an Martin Buber kritisiert) und die nicht dogmatisch ist, was bedeutet: weder eindimensional noch reduktiv noch unveränderlich, sondern offen für zukünftige, das Wesen selbst verändernde Entwicklungen.99

4.1.6

Scholems historischer Wesensbegriff und Ottos phänomenologische Wesensschau

Scholems Ablehnung eines dogmatischen Wesens und seine eigene Auffassung vom historischen Wesen des Judentums ist vielleicht weniger als Zurückweisung der modisch gewordenen Wesensbestimmung zu interpretieren, auch 95

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In: Gilon (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Deutschland, 48. Scholem sieht hierin den (anderen) zentralen Konflikt innerhalb der zeitgenössischen jüdischen Historiographie. S.o.Anm. 84. Vgl. Biale, Counter-History, 8f.: „Graetz proposed a definition of Judaism as the sum total of its historical manifestations. [...] He [Scholem] accepts Graet^'s historisiic definition of the 'essence' cf Judaism, but rejects the possibility of realizing it without a Jewish national homeland. He implicitly claims to complete Graetz's program by giving equal weight to the ¡nationalist factors in Jewish history which Graetz was compelled to ignore or denigrate." (Hervorhebung von mir). Biale, der den Begriff Wesen konsequent meidet, versteht Scholems „historistische" und „anarchistische Definition" des Judentums als dritten Weg zwischen Dogmatismus und pluralistischem Relativismus, weil sie weder apriorisch-deduktiv im Sinne H. Cohens, noch relativistisch, weil nicht rein induktiv sei: „He operates with a very clear a priori principle of vitality, even as he attempts to define Judaism according to all its historical sources." Irrationalismus aber sei ein „antidogmatisches Prinzip", das darum auch die Quellen nicht verzerre (ebd., 204f.). Scholem, Judaica 2,136. Ein Wesensbegriff also, der die Kategorien der Evolutio und der Epigenesis berücksichtigt, um mit Colpe zu sprechen (vgl. Colpe, Der Wesensbegnff Emst Troeltschs und seine heutige Anwendbarkeit auf Christentum, Religion und Religionswissenschaft, in: H. Renz/F.W. Graf [Hg.], Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1987,236.238).

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

wenn Scholem selbst es so darstellt. Die Erwähnung des protestantischen Einflusses, auf den Scholem die von ihm kritisierten Wesensdefinitionen generell zurückführt, läßt natürlich in allererster Linie an Adolf von Harnack denken, der 1900 seine vielbeachtete Vorlesung über Das Wesen des Christentums veröffentlichte, um „Bleibendes und Vergängliches, Prinzipielles und bloß Historisches zu unterscheiden"100. Drei Jahre später folgte Wilhelm Boussets „grandiose failure"101, das Wesen der Reügion und (im letzten Kapitel) das des Christentums zu bestimmen. Im selben Jahr publizierte Troeltsch seine Auseinandersetzung mit Harnack Was heißt Wesen des Christentums'? Dementsprechend meint etwa Gary Smith, der Herausgeber der jüngst veröffentlichten 95 Thesen über Judentum und Zionismus von 1918, die eine „oft qualvolle Suche nach dem Wesen des Judentums in den unerwartetsten Kontexten"102 seitens des 21jährigen bezeugen, Scholem habe dieses Unternehmen endgültig zurückgewiesen, nachdem die Wesenssuche infolge von Harnacks Einfluß zur Mode geworden sei.103 Man kann jedoch Scholems Argumentation auch als die - wie immer „dialektische" — Konsequenz dieser Suche deuten. Auf der Suche nach dem Wesen des Judentums in der Geschichte wird die Geschichte selbst zum Wesen erklärt: „Das Judentum ist die Historie selber"104, notiert Scholem in sein Tagebuch. Im Alter von 18 Jahren, als er seinen Begriff der Tradition zu entwickeln beginnt, der ihm die Rückkehr zum Talmud ermöglicht, erkennt er: „Daß es eine Überlieferung von Gott gibt, das liegt im Wesen des Judentums [,..]."105 Und rund dreißig Jahre später, in der Kontroverse um den Sabbatianismus, schreibt er an Isaiah Sonne, bei der Analyse der sabbatia-

100

Harnack, Das Wesen des Christentums, 9. Vgl. den Titel der Sammlung von Vorträgen F. Heilers: Das Wesen des Katholizismus, München 1920, sowie allgemein U. Tal, Die Polemik zu Anfang des 20. Jahrhunderts über das Wesen des Judentums nach jüdischen und christlichen Quellen, in: Gilon (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Deutschland, 6975.

101

R.J.Z. Werblowsky, Between Trimitive' and 'Modem': Comparative Religion, Culturecriticism and Culture-crisis, in: H.G. Kippenberg/B. Luchesi (Hg.), Religionswissenschaft und Kulturkritik, Marburg 1991, 143.

102

Smith, Annonce auf ein Lebenswerk, in: Schäfer/Smith (Hg.), Zwischen den Disziplinen, 282. Ebd., 285 Anm. 19. Tagebücher 1 9 1 3 - 1 9 1 7 , 4 0 9 (Notiz vom 16.10.16; i.O. kursiv). Ebd., 4 1 1 (Notiz vom 27.10.1916); vgl. auch die Notiz am 29.6.15, in dem er bereits den späteren Gedanken formuliert, daß es unmöglich ist, „über den Abgrund" der Geschichte bzw. der Tradition „hinwegzuspringen" (ebd., 123).

103 104 105

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

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nischen Ideen handle es sich „um sehr schwerwiegende Dinge für die Kenntnis unserer Vergangenheit und unseres Wesens" 106 . Paul Mendes-Flohr zieht eine Parallele zwischen Scholems „nonessentialistic view of Judaism" 107 und Troeltschs Kritik an Harnack: „Troeltsch declared that Christianity can be understood in its 'totality'; Christianity is its history." 108 Mendes-Flohr bezieht sich auf den Artikel über Die Oogmatik der 'religionsgeschichtächen Schulein dem Troeltsch erklärt, das Wesen des Christentums könne „nur verstanden werden als die jeweils jeder Gesamtlage entsprechende produktive Neudeutung und Neuanpassung der christlichgeschichtlichen Mächte. Das Wesen ist für jede Epoche ein anderes, aus der Gesamtheit ihrer Einflüsse sich ergebendes." 109 Zwi Werblowsky assoziiert seinerseits — „bombile dictrf'n(> — Scholems Historiographie insgesamt mit Troeltschs Was heiß Wesen des Christentums!}n „Die Wesensbestimmung", so das Fazit von Troeltschs Kritik an Harnack, „wächst aus Methode und Geist der empirisch-induktiven Geschichtsschreibung heraus, aber sie ist doch eine Aufgabe höherer Ordnung; sie liegt an dem Punkte des Übergangs der empirisch-induktiven Geschichte zur Geschichtsphilosophie." 112 So bedenkenswert die Beziehung zwischen dem „historischen Wesen" bei Scholem und Troeltschs Wesensbestimmung als Synthese aus empirischem und geschichtsphilosophischem Ansatz sein mag 113 , so proble106

Briefe I, 445 (Brief vom 25.1.1945). - Vgl. auch Johann Maiers Diagnose der Gegenüberstellung von rationaler Philosophie und irrationaler Mystik bei Scholem (und anderen) als „Symptom einer zu Beginn dieses Jahrhunderts Mode gewordenen Suche nach Definitionen des "Wesens' des Judentums" (J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, 2. Aufl., Freiburg 1992, 1924; vgl. ders., Intellektualismus und Mystik als Faktoren jüdischer Selbstdefinition, Kairos 27, 1985, 230-239).

107

Mendes-Flohr, The Spiritual ζΗιε5ζ 11 mit Anm. 26. Ebd. Troeltsch, Gesammelte Schriften IV, 511 (der Aufsatz erschien 1913 auf Engl, im Amen-

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can Journal of Theology).

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Werblowsky, Novum Pascha Novae Legis Phase Vêtus Terminât, in: Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, 280. Vgl. Werblowsky, Gedenkrede, 105f.; Troeltsch, Gesammelte Schriften IV, 386-451. Troeltsch, Gesammelte Schriften IV, 398; vgl. auch seine Überlegungen zum „Wesen der Religion und der Religionswissenschaft" (ebd., 452-499). Was nicht heißen soll, daß dies keine Probleme birgt, ist doch fur Troeltsch die Wesensbestimmung eine „systematisch-normative Aufgabe" (ebd., 450), sie „ist die Krone und zugleich die Selbstaufhebung der historischen Theologie, die Vereinigung des historischen Elementes mit dem normativen oder doch dem Zukunft gestaltenden der Theologie ..." (433). In dem Aufsatz über die „Dogmatik der religionsgeschichtlichen Schule" erklärt er es als sein Anliegen, von der Geschichte „her eine für uns normativ religiöse

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

matisch scheint jedoch die Haltung des Kabbalaforschers gegenüber der Wesensbestimmung im Sinne der klassischen Religionsphänomenologie114 — vorausgesetzt, man darf Scholems Äußerungen über das Wesen des Judentums auf das Wesen der Religion und auf das Wesen der Mystik übertragen. Nach Rudolf Otto besteht die Aufgabe der Religionsphänomenologie darin, das Wesen der Religion mittels phänomenologischer Kritik der empirischen Religionen zu erfassen, um es dann als Kriterium für die Bewertung seiner historischen Manifestationen, die einzelnen Religionen, nutzen zu können, als „Maßstab [...] für den Wert einer Religion als Religion"115. Seine Methode besteht in „kritischer Selbstbesinnung"116, im „Nach-Innen-Horchen": der Religionswissenschaftler soll „auf das unmittelbare Urteil aus religiösem Wahrheits-gefühl scharf achten, wie man es bei sich selber vernehmen kann"117. Nun scheint die Selbstverständlichkeit, die die sogenannten strukturellen Übereinstimmungen in den Religionen für Scholem besitzen, darauf hinzudeuten, daß es auch in seinen Augen ein solcherart evidentes Wesen der - ihrerseits als „phänomenale Tatsache" aufgefaßten - Religion sehr wohl geben könnte. Doch auch wenn der Kabbalaforscher den Einfluß von intuitiven Einsichten auf Selektion und Bewertung des historischen Bewußtseins nicht leugnet, so erklärt er doch mehr als ausdrücklich nicht diese Intuitionen, sondern die quellenkritische Erforschung der individuellen Religionen zum Dreh- und Angelpunkt der Erforschung der Religionsgeschichte. Insofern bleibt er bei der Religionsgeschichte stehen und verneint die Möglichkeit einer

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Ideenwelt aufzubauen" (ebd., 509). Werblowskys Ansatz läuft letztlich darauf hinaus, Scholem eine solche „religionsgeschichtliche Dogmatik" zu unterstellen. Die Differenzen zwischen Troeltsch und Otto betont bereits Wilhelm Bousset, der als Neufriesianer auf der Seite Ottos und der „Religionsphänomenologie" steht, in seiner Rez. von Otto: Kantisch-Friessche Religionsphilosophie, ThR 12, 1909, 427-436; vgl. auch H. Braeunlich, Das Verhältnis von Religion und Theologie bei Emst Troeltsch und Rudolf Otto, Diss. Bonn 1978, 171-181; sowie Schütte, Religion und Christentum, 41f. (wonach Bousset und Otto darum eine „polemisch vollzogene Wende gegen die religionsgeschichtliche Schule" vollzogen hätten). Das Heilige, 200; vgl. bereits Otto, Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909, 3: „Wir suchen ja heute wieder [...] nach dem religiösen a priori, Supernaturalismus und Historismus versagen, um Massstab [sie] und Prinzip des Wahren in der Religion abzugeben. Religionsgeschichte wächst ins Ungeheure. Aber wie will sie von blosser Religionen-Beschreibung zu Religionswissenschaft gedeihen, wenn sie nichts ist als Religionsgeschichte [...] Ja, wie kann sie auch nur Religionsgeschichte sein, wenn man nicht, wenigstens dunkel, zuvor ein Prinzip in sich hat, nach dem man auch nur den geschichtlichen Stoff auswählt, geschweige gruppiert." Otto, Das Heilige, 138; vgl. ebd, 8.10 u.ö. Otto, Das Gefühl des Überweldichen, München 1932,221.

Gershom Scholem als Phänomenologe der Kabbala?

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wissenschaftlichen Erfassung des überindividuellen Wesens als Methode der Religionswissenschaft. Darüber hinaus läßt sich der sogenannte apriorische118 und im Kern unveränderliche (also im Sinne Scholems unlebendige) Charakter des überhistorisch gültigen Wesens und besonders die normative Funktion eines solchen Aprioris zur Bewertung der empirischen Religionen schlecht mit Scholems Begriff eines „historischen Wesens" vereinbaren. Nicht minder problematisch ist darum aber auch die Bezeichnung von Scholems Charakterisierung der Mystik als „Phänomenologie der Kabbala". Vor dem Hintergrund seiner Ablehnung eines dogmatischen Wesensbegriffs wird verständlich, warum Scholem im Titel des ersten Kapitels seiner Einfuhrung in Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen nicht vom Wesen der jüdischen Mystik, sondern nur von ihren „Wesenszügen" spricht. Das eine im Kern unveränderliche, sich in der Geschichte entfaltende Wesen der jüdischen Mystik gibt es bei ihm nicht. Es ist offensichtlich, daß Scholem von Wesenszügen oder (an weniger exponierten Stellen) sogar vom Wesen einer Erscheinung spricht,119 weil er in irgendeiner Form mehr meint als nur das Allgemeine. Scholem selbst nennt einmal „die 'phänomenologische' Bereitschaft zur Sicht von Ganzheiten"120 eine notwendige Ergänzung zur historischen Analyse, den Ausdruck phänomenologisch wohlweislich in Anführungszeichen setzend. Doch wie immer man Scholems eigene Sicht der jüdischen Mystik als „Ganzheit" deuten will - versteht man Phänomenologie im Sinne Ottos und Heilers als das zur wissenschaftlichen Methode erhobene intuitiv-einfühlende Verstehen eines apriorischen, unveränderlichen Kerns der Religion oder einzelner religiöser Phänomene, der als Maßstab für die Bewertung der vielfältigen geschichtlichen Erscheinungsformen dieses Kerns dienen kann, so

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Zur Problematik der Verwendung des Kantischen (formalen) Begriffs des Apriori für das (empirische) numinose Erlebnis vgl. schon R. Bultmann, in: Schütte, Religion und Christentum, 135f.; sowie Feigel, in: Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, 399f.; S. Holm, Apriori und Urphänomen bei Rudolf Otto, in: Benz (Hg.), Rudolf Otto's Bedeutung, 72; Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 107; und A. Paus, Religiöser Erkenntnisgrund, Leiden 1966, bes. 10f.l97. Vgl. z.B. Judaica 1, 20: „Der jüdische Messianismus ist in seinem Ursprung und Wesen [...] eine Katastrophentheorie." Betrachtungen eines Kabbalaforschers, DU 15,1955, 64f.: „Auch Symbole sind gewachsen und von historischer Erfahrung gesättigt. Ihr Verständnis erfordert ebensosehr 'phänomenologische' Bereitschaft zur Sicht von Ganzheiten wie Fähigkeit zu historischer Analyse. Beide ergänzen und durchdringen sich und versprechen in solcher Vereinigung unendlich fruchtbare Resultate." Im Kreis der Forscher von Eranos, fugt er hinzu, „ist viel im Sinne dieser Vereinigung beider Haltungen getan worden".

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

ist Scholems Historiographie — oder auch Historiosophie — besser nicht einmal in Anfuhrungsstrichen als „Phänomenologie der Kabbala" zu bezeichnen. Möglicherweise liegt in der gefahrlichen Nähe zu phänomenologischer Wesensschau der Grund oder zumindest einer der Gründe, warum Scholem mit dem ersten Kapitel der Hauptströmungen seiner Ehefrau Fania zufolge zutiefst unzufrieden war. 121 Peter Schäfer und Joseph Dan erwähnen diese Unzufriedenheit in ihrer Einführung zur Publikation der Vorträge jener Tagung, die anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums von Scholems erstem Hauptwerk stattfand. Sie verstehen die Zehn unbistoriscben Sät^e über Kabbala als wichtigstes Beispiel für die genuin Scholemsche Behandlung von Schlüsselproblemen, die von ganz anderer, ja gegensätzlicher Art sei: Statt definitiver Formeln und Gewißheiten brächten sie alle Unsicherheiten, Zweifel, Ambiguitäten zum Ausdruck, die mit dem kabbalistischen Symbolismus verbunden seien. Die beiden Judaisten betonen, daß das erste Kapitel den einzigen und nie wiederholten Versuch darstelle, „to describe the 'identity-card' of Jewish mysticism".122 Es solle darum nicht als Grundlage für die Definition von Scholems Standort in der Mystikforschung allgemein benutzt werden. Dem möchte ich jedoch nicht uneingeschränkt zustimmen, denn auch wenn Scholem mit dem Kapitel insgesamt nicht zufrieden war, so formuliert es doch Anschauungen, die seinem Gesamtwerk zugrundeliegen und auch sonst immer wieder, sei es explizit, sei es implizit, zum Ausdruck kommen, ganz abgesehen davon, daß es zwar die einzige Auflistung von „Wesenszügen", aber nicht den einzigen Versuch darstellt, die jüdische Mystik als Ganzheit zu charakterisieren. Kürzere allgemeine Definitionen der jüdischen Mystik überhaupt bzw. ihrer „Bedingungen" (hebr. tena'im)11^ finden sich zum Beispiel auch in den hebräischen, in der Sammlung Devarim bego wiederabgedruckten Veröffentlichungen Vortrag über die Kabbala (1936), Die jüdische Esoterik und die Kabbala (1944) und Die Idee der Erlösung in der Kabbala (1944). Das allein läßt es auch als nicht besonders sinnvoll erscheinen, für Scholems „Phänomenologie der Kabbala" allgemein auf die Eranosvorträge zu verweisen oder sein Werk in historische und phänomenologische Arbeiten einzuteilen. Unter den von Alexander Altmann als „thematisch-phänomenologisch" bezeichneten Veröffentlichungen entpuppen sich viele bei genauerem Hinsehen als durchaus „philologisch-historisch". Sie klären einen Ausschnitt aus der kabbalistischen Lehre in seinem historischen Kontext, was mit be121 122 123

Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, 9 Anm. 38 Ebd., 9. Re'ajon ha-ge'ulLt ba-qabbah, in: Devarim bego, 191.

Die Wesenszüge der jüdischen Mystik

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stimmten Termini gemeint war, woher einzelne Motive stammen, wie sich die Lehre im Laufe der Geschichte der Kabbala weiterentwickelt usw. Den Untertitel des Artikels über den Davidstern: Die Geschichte eines Symbols könnte man durchaus auch unter viele andere Eranosvorträge setzen, die nicht mehr und nicht weniger „Phänomenologie" enthalten als Scholems sogenannte historische Arbeiten.124 Im folgenden will ich die mir am wichtigsten erscheinenden Wesenszüge zusammenfassen, wie sie Scholem der jüdischen Mystik in seinen diversen Schriften — nicht nur den Eranosvorträgen und nicht nur im ersten Kapitel der Hauptströmungen — zuschreibt.125 Erst im Anschluß daran sollen einzelne Aspekte der Scholemschen Historiographie herausgegriffen und auf Differenzen und Affinitäten zur Allgemeinen Religionsgeschichte untersucht werden. Beide Schritte, dies sollte nach dem bisher Gesagten deutlich geworden sein, verfolgen nicht das Ziel, Scholems Kabbaladeutung als phänomenologische Wesensbestimmung der jüdischen Mystik, wie sie die klassische Religionsphänomenologie definierte, auszuweisen. Nichtsdestotrotz ist zu erwarten, daß bestimmte Elemente seiner Historiographie — oder Historiosophie - vor dem Hintergrund der älteren Religionsforschung betrachtet ins (rechte) Licht gerückt werden können, ging doch der Kabbalaforscher sehr wohl davon aus, daß die allgemeine Religionsgeschichte auch den Philologen der jüdischen Mystik etwas zu lehren vermag.

4.2 Die Wesenszüge der jüdischen Mystik „Jüdische Mystik ist, nicht anders als griechische oder christliche Mystik, eine Gesamtheit bestimmter konkreter historischer Phänomene."126, heißt es im Einleitungskapitel der Hauptströmungen. Kurz vor der Publikation der ersten großen Synthese seiner Forschungen betont Scholem in einem Artikel zur 124 Vgl. z.B. Sabbatai Zwi, Kap. 1 (über die Ursachen des Sabbatianismus) oder diejenigen „rein historischen" Arbeiten, die von jüdischer oder kabbalistischer Gnosis handeln (und über Scholems Mythosbegriff Aufschluß geben): Das Buch Bahir; Qabbalot R. Ja'aqov weR. Ji^chaq-, Ursprung und Anfange; Hauptströmungen, Kap. 2; Jewish Gnosticism. 1 2 5 Die folgende Auswahl von vier Wesenszügen entspricht darum nicht der Scholems: So wird der von ihm erwähnte männliche Charakter jüdischer Mystik (vgl. Hauptströmungen, 40f.) vernachlässigt, weil er sonst in Scholems Werk keine Rolle spielt, während umgekehrt „Mystik als Produkt von Krisen" (Kap. 4.2.4) kein von Scholem als solcher bezeichneter Wesenszug ist. 1 2 6 Hauptströmungen, 7.

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Scholems Wesensbestinimung der jüdischen Mystik

Kabbala-Forscbung an der Hebräischen Universität (1937/38) die historische Vielfalt dieser Gesamtheit, die „keineswegs [...] eine ihrem Lehr-, ja auch nur ihrem Gefühlsgehalt nach durchaus einheitliche Bewegung" gewesen sei, wenn auch die Kabbalisten selbst sie „harmonistisch" als eine solche zu interpretieren versucht hätten.127 Zugjeich sieht er die Aufgabe einer Geschichte der Kabbala darin, „die Einheit dieser oft dramatischen Entwicklungen und Verwicklungen in ihrer historischen Bewegung und Dialektik aufzuzeigen".128 Aufgrund dieser Einheit der jüdischen Mystik faßt der Kabbalaforscher nicht nur rein formal in seinem ersten Hauptwerk verschiedene historische Bewegungen, Gruppen oder einzelne Mystiker, zu sieben „Hauptströmungen" der jüdischen Mystik zusammen, sondern stellt diese auch inhaltlich als eine kontinuierliche Abfolge, als einen großen Gesamtstrom dar. Scholem ist bemüht, sowohl die historische Kontinuität als auch das Alter der frühesten Strömung und also des Gesamtstromes überhaupt nachzuweisen, obwohl er dafür nicht unerhebliche Schwierigkeiten überwinden muß. Vieles ist heute umstritten: die Datierung der ältesten Hekhalotschriften bzw. der Anfange der Merkabamystik in das 4./5. oder gar das 2./3. Jahrhundert,129 die Linie von den Hekhalottexten über das Buch Bahir zur frühen Kabbala,130 die Beziehungen zwischen der lurianischen Kabbala und dem Sabbatianismus als dem akuten Ausbruch des angeblich popularisierten lurianischen Messianismus 131 sowie dem osteuropäischen Chassidismus als der Umdeutung des Lurianismus in Reaktion auf die katastrophal gescheiterte sabbatianische

Kabbala-Forschung, 28. Ebd., 31; vgl. auch Sicha 'al ba-qabbala, in: Devarim bego, 225f.; Ha-mistarin ha-jthudi aehaqabbala. ebd., 230-234 (dort 6 Hauptströmungen, weil ohne Abulafia); Re'ajon ha-gt'ulla. ebd., 191. 1 2 9 So noch Art. Kabbalah, 497-500. Vgl. P. Schäfer, Gershom Scholem Reconsidered, in: ders., Hekhalot-Studien, Tübingen 1988, 277-295, und den Gegenentwurf von D. Halperin, The Faces of the Chariot, Tübingen 1988; zur Diskussion überhaupt Hamacher, Die Sabbatopferlieder. 1 3 0 Scholem überbrückt die chronologische Lücke mit einer angenommenen „unterirdischen Tradition", unter Berufung auf die Legende von Aharon ν. Bagdad, von deren Wahrheitsgehalt - zumindest im Sinne eines historischen Kems - er überzeugt ist (vgl. Qabbalot R. ]a'aqov weK. Ji^chaq, 189ff.; Hauptströmungen, 44.91.llOf.; Ursprung und Anfange, 14f.85-109; Art. Kabbalah, 510ff.); zur diesbezüglichen Kontroverse vgl. Dan, Mystical Dimension, 186f. Anm. 50. 131 VgJ. bereits 1928 im Cardoso-Essay: Judaica 1, 120; zur Kritik: Idei, New Perspectives, 257ff.264ff. 127

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Die Wesenszüge der jüdischen Mystik

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Bewegung132. Um so stärker erinnert das Interesse an Einheit und Zusammenhang unwillkürlich an die einleitenden Worte, mit denen der christliche Mystikforscher Rufiis M. Jones seine Auswahl bestimmter, besonders schöpferischer Bewegungen für seine Studies in Mystical Religion kommentiert: „There has been a continous prophetical procession, a mystical brotherhood through centuries, of those who have lived by the soul's immediate vision."133 Es scheint, als habe der Philologe der jüdischen Mystik jene kontinuierliche Folge mystischer Traditionen im Judentum gesucht, energisch bemüht, die von Jones beschworenen mystischen Verbindungen durch historische Fakten zu ersetzen. Eine weitere Auffälligkeit von Scholems Charakterisierung der „Gesamtheit" der jüdischen Mystik bietet die unterschiedliche Gewichtung der Strömungen. Daß die frühe Bewegung der deutschen Chassidim und die prophetische Kabbala des Abraham Abulafia in Scholems Schriften insgesamt eher stiefmütterlich behandelt werden, ist oft bemerkt und kritisiert worden.134 Ferner ist auch die Unterscheidung von Merkabamystik und restlichen Strömungen wesentlich. Das Buch Bahir, die Schriften der frühen provenzalischen und geronensischen, der spanischen und schließlich der lurianischen Kabbalisten stellen die Quellen der eigentlichen theosophischen Kabbala dar, die Sabbatianismus und osteuropäischer Chassidismus jeweils verschieden umdeuten. Innerhalb der Kabbala, die „in ihren Originalquellen [...] ein mehr oder weniger einheitliches System mystischer Symbolik"135 verkörpert, nehmen wiederum das Buch Zohar und Isaak Lurias System eine herausragende Position ein; zwischen vor- und nachzoharischer sowie vor- und nachlurianischer Kabbala pflegt Scholem in seinen systematischen Darstellungen wenn nötig sorgfaltig zu unterscheiden. Vieles, was Scholem über die S.u. Abschnitt 4.2.4. Einen knappen Überblick über die Kritik bieten Rachel Elior in Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, 105-127, und Faierstein, Gershom Scholem and Hasidism; vgj. auch K.E. Grözinger, Scholems Darstellung des Hasidismus und seine Auseinandersetzung mit Martin Buber, FJB 1 2 , 1 9 8 4 , 1 1 0 . 1 3 3 R.M. Jones, Studies in Mystical Religion, London 1909, xxxvii. 134 Yg[ The Contribution of Abraham Abulafia's Kabbalah to the Understanding of Jewish Mysticism, in: Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, 117-143; Kiener, From Ba'al ha-Zohar to Prophet to Ecstatic, ebd., 145-159. Idei plädiert fur eine grundsätzlich andere Ordnung der jüdischen Mystik, die die Unterscheidung zwischen theosophisch-theurgischer und ekstatischer Kabbala nicht nur (wie Scholem) auf die mittelalterlichen „Schulen" des Zohars bzw. Abulafias, sondern auf die gesamte Geschichte der jüdischen Mystik bezieht (mit Hekhalotliteratur, aschkenazischem Chassidismus, Abulafia, Cordovero, Chaim Vital und dem osteuropäischen Chassidismus als Vertretern des ekstatischen Zweigs) (vgl. Idei, New Perspectives, xi-xvii). 132

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Alchemie und Kabbala, 1925, 15 = 1 9 7 7 , 2 3 .

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

allgemeinen Wesenszüge jüdischer Mystik schreibt, bezieht sich primär auf die theosophische Kabbala, die sich selbst qabbala 'ijjunit, „theoretische" oder „spekulative" Kabbala, nannte. Scholem begründet seine Konzentration auf diese Strömung nicht. Historisch rechtfertigen üeße sie sich aus seiner Sicht mit der These, daß jedenfalls seiner Meinung nach - die lurianische Kabbala rasch popularisiert und zur vorherrschenden Theologie des Volkes schlechthin wurde. Die Sefirotkabbala erweist sich damit als der „siegreiche Faktor" in der jüdischen Geschichte überhaupt.136 Der Historiker empfand aber seine Bevorzugung der Sefirotkabbala nicht als erklärungsbedürftige Selektion. Er präsentiert seine allgemeinen Wesensbeschreibungen der jüdischen Mystik selbstverständlich als Aussagen über ihre sämtlichen Strömungen.

4.2.1 Mystik als symbolische Auslegung der Tradition Der Wesenszug jüdischer Mystik, der sich am stärksten nur auf die theosophische Kabbala zu beziehen scheint, obwohl er für die gesamte Mystik gelten soll, ist der, daß sie auf eine spezifische, nämlich symbolische Weise die ihr vorgegebene religiöse Überlieferung interpretiert. Dies gilt, wie ausdrücklich gesagt wird, auch für andere Religionen, zumindest für die „traditionalistischen Religionsform[en]"137, die die Autorität einer Offenbarung anerkennen.138 Zugleich bestimmt dieser allen gemeinsame Zug aber auch die Besonderheit der je einzelnen Mystik einer bestimmten Religion, insofern sie eben Auslegung der jeweils eigenen Tradition ist. Im Falle der jüdischen Mystik bezeichnet Scholem dieses Charakteristikum symbolischer Auslegung, im

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Daher auch die Kritik an Buber: „Die Scheidung zwischen dem offiziellen Judentum [...] und einem unterirdischen, in dem die wahren Quellen rauschen, war naiv und konnte historischer Betrachtung nicht standhalten. Buber selbst ist später von ihr abgerückt." (Bubers Auffassung des Judentums, in: Judaica 2,149). Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in: Grundbegriffe, 90; vgl. auch ebd., lOOf. Konkret bezieht sich Scholem jedoch nur auf die katholischen und islamischen Mystiker und auch dies nur sehr allgemein (z.B. Religiöse Autorität und Mystik, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 15.21; Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten: ebd., 159); zur Verallgemeinerung dieses Wesenszugs vgl. auch die Bemerkung im Interview mit J. Drews zur symbolischen Weltauffassung, „die die Kabbalisten mit sehr vielen Mystikern anderer Religionen teilen" (,,... und alles ist Kabbalah", 5).

Die Wesenszüge dec jüdischen Mystik

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Hinblick auf die ( U m - ) D e u t u n g der traditionellen Gebote, auch als „Ideologie derHalacha"139. D e r W e s e n s z u g der symbolischen Auslegung ist nicht zu verwechseln mit dem theosophischen Charakter der Kabbala. I m Kabbalah-hrükd

der Ency-

clopedia Judaica scheidet Scholem deutlich den esoterisch-theosophischen v o n dem mystisch-symbolischen Charakter der K a b b a l a . 1 4 0 W ä h r e n d Scholem die symbolische Interpretation als Charakteristikum aller Mystik begreift, sieht er in d e m ausgeprägten theosophischen Interesse der Kabbalisten einen der beiden Hauptunterschiede zur nichtjüdischen Mystik, neben ihrer Abneigung gegen autobiographische Selbstzeugnisse. 1 4 1 Andererseits zählt er den Z o h a r wie J a k o b B ö h m e „zu den größten und radikalsten Vertretern der theosophischen Mystik in der Religionsgeschichte" 1 4 2 , d.h., er versteht darunter einen besonderen Typ v o n Mystik allgemein, der nicht nur für die jüdische Religionsgeschichte typisch ist. E r definiert T h e o s o p h i e unter Berufung auf B ö h m e als „ L e h r e v o n der Gottheit als O r g a n i s m u s " 1 4 3 : „Theosophie" heißt [...], im Sinn des alten guten Sprachgebrauchs, eine Lehre oder Tendenz, die ein verborgenes Leben der wirkenden Gottheit ahnen, erfassen oder beschreiben zu können glaubt, vielleicht sogar sich in es zu versenken für möglich hält, die ein Hervortreten der Gottheit aus der Verschlossenheit ihres Selbst zu solch geheimem Leben statuiert, und findet, daß die Geheimnisse der Schöpfung in diesem Pulsschlag des lebendigen Gottes gründen. 144

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V.a. in Hauptströmungen, 11 (Ideologie, als „Theorie der Mystik", sei generell in „der mystischen Religion" eine „Theorie der mystischen Erkenntnis Gottes und seiner Offenbarung, wie auch eine Theorie jenes Weges, der zu ihm fuhrt"). Art. Kabbalah, 490. Der Begriff der Kawwana, 492ff. Geheimnisse der Schöpfung, 29. Vulliauds Uebersetzung des Sifra di-Zeniutha, 452; für Scholem sind auch die Shi'ur ¿(«»^-Traditionen „offensichtlich theosophische Mysterien" (Ursprung und Anfange, 17). Geheimnisse der Schöpfung, 29f.; vgl. auch: Das Ringen zwischen dem biblischen Gott und dem Gott Plotins in der alten Kabbala, in: Grundbegriffe, 52, zur Dynamik in der Vorstellung von der lebendigen Gottheit, „deren verborgenes Leben als eine Bewegung des Unendlichen aus sich selbst und zu sich selbst gedacht wird" (nach F.J. Molitor): „Die Symbole der auf die Bibel zurückgreifenden Theosophie beschreiben den Vorgang in den dialektischen Bewegungen dieser Einheit selbst". Es handelt sich um jenen Dynamismus, den Idei später als das entscheidende Merkmal kabbalistischer Symbolik überhaupt gegen Scholem ins Feld fuhrt (vgl. Idei, New Perspectives, 231).

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

Seine Bestimmung der jüdischen Mystik als symbolische Auslegung der Tradition präzisiert Scholem, indem er deren zentrale Aspekte darstellt: das kabbalistische Verständnis von Offenbarung und Tradition als das Moment der Auslegung und die besondere Sprach- und Weltauffassung der Kabbalisten, die das Symbolische daran begründet. Kerngedanke der kabbalistischen Auffassung von Offenbarung und Tradition nach Scholem ist der, daß die in der Tora geoffenbarte Wahrheit in ihrer Absolutheit ausdruckslos ist und die Offenbarung selbst - als Ausdruck des Ausdruckslosen oder Bedeutunggebendes, aber selbst Bedeutungsloses - erst durch Interpretation bedeutsam oder anwendbar gemacht werden muß. Diese Interpretation, die Tradition, erfolgt durch den Kommentar der heiligen Texte, der im Gegensatz zum philosophischen System die jüdische „legitime Form [ist], unter der die Wahrheit entwickelt werden kann"145. Die kabbalistische „These von der unendlichen Sinnesfülle des göttlichen Wortes", nach der die Offenbarung das selbst bedeutungslose „Deutbare schlechthin"146 ist, stellt eine radikale Weiterentwicklung der allgemeinen, nicht spezifisch mystischen Auffassung dar. Diese behauptet zunächst nur die Existenz einer ein für allemal festgelegten Wahrheit, die der Gläubige im Kommentar, der heiligen Tradition über den Sinn der Offenbarung147, zu erschließen versucht. Entscheidend ist dabei „die unlösliche Verbindung des Begriffs der Wahrheit der Offenbarung mit dem der Sprache", die „wichtigste Erbschaft des Judentums an die Religionsgeschichte"148. Die den Juden in Bibel und Talmud gegebene Offenbarung ist göttliches Wort, also sprachliche, teils schriftliche, 145

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Offenbarung und Tradition, in: Grundbegriffe, 101; vgl. auch Hauptströmungen, 172f.224. Bereits in einem Brief an E. Burchhardt vom 26.10.1918 begegnet der Kommentar als „höchste Ordnung" des jüdischen Schrifttums (Scholem, Briefe I, 177), wie die frühen Briefe und Tagebücher überhaupt zahlreiche Überlegungen enthalten zum Begriff der Tradition als dem „einzigen, absoluten, Gegenstand der Mystik" (Briefe I, 149, im Brief an L. Strauß vom 24.3.1918) oder dem „Medium[J in dem sich etwas bricht und erscheint" (ebd., 195, an E. Brauer 28.2.1919). Vgl. auch den Brief an Adomo vom 4.6.1939 zum „Kommentar-Charakter" der kabbalistischen Einsichten (ebd., 275). Offenbarung und Tradition, in: Grundbegriffe, 109. Die Formulierung, das „absolut Konkrete" sei „das Unvollziehbare schlechthin" (ebd., 110) begegnet bereits im Offenen Brief an den Verfasser der Schrift Jüdischer Glaube in dieser Zeit' von 1937 (in: Scholem, Briefe I, 469; vgl. Biale, Counter-History, 250 Anm. 71); nach dessen Lektüre W. Benjamin an Scholem schreibt: „ich habe hier einen der Sätze gefunden, die am frühesten und tiefsten in Deinen Überlegungen angelegt gewesen sein mögen" (Benjamin, Briefe II, 564); vgl. dazu auch Scholem im Brief an Adomo vom 20.6.1965 (Scholem, Briefe II, 141). Vgl. Offenbarung und Tradition, in: Grundbegriffe, 99. Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: Judaica 3,7.

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teils mündliche (bzw. als mündlich definierte) Offenbarung. Die kabbalistische These von der unendlichen Sinnfülle des göttlichen Wortes findet darum ihren konkreten Ausdruck in Reflexionen über den vierfachen Schriftsinn des heiligen Textes (wörtlicher, aggadischer, allegorischer und esoterischer — nach Scholem: symbolischer - Sinn), deren Divergenzen bei den einzelnen Kabbalisten Scholem ebenso hervorhebt wie ihren engen historischen Zusammenhang mit christlichen und islamischen Ideen.149 Sie äußert sich auch in der kabbalistischen Vorstellung, daß jedes einzelne Wort, sogar jeder einzelne Buchstabe der Tora sechzig Gesichter oder Aspekte habe.150 Aus der sprachlichen Natur der jüdischen Offenbarung folgt eine Idee, die Scholem - neben der These von ihrer Sinnfülle — als eines der „Grundprinzipien" bezeichnet, „die in den kabbalistischen Vorstellungen über die wahre Natur der Tora eine Rolle spielen"151: die Idee nämlich, daß sich in der Tora der Name Gottes offenbart. Die Tora selbst gilt als eine einzige Entfaltung des Gottesnamens. Dieser Gedanke ist über die Auffassung vom Namen als der höchsten Konzentration göttlicher Kraft eng verbunden „mit einem Ideenbereich, der ursprünglich mit Magie zusammenhing"152. Die Entwicklungslinie verlief von der älteren Behauptung, daß die Tora aus (für magische Zwecke nutzbaren) Namen Gottes besteht, zur kabbalistischen Theorie von der Tora als dem einen Namen Gottes, der als solcher nicht aussprechbar ist. Diese „rein mystische" These „besagt, daß Gott sein transzendentes Sein in ihr zum Ausdruck gebracht hat, zum mindesten aber jenen Teil oder Aspekt seines Seins, der an die Schöpfung und durch die Schöpfung offenbart werden kann"153. Die kabbalistische Bedeutung der Rede vom Namen Gottes, ausführlich erläutert im berühmten Vortrag zur Sprachtheorie der Kabbala von 1970,154 ist das Moment, durch das die Scholemsche Theorie des jüdischen Offenbarungsund Traditionskonzeptes und seine Analyse der symbolischen Sprachauffassung der Mystiker miteinander verschränkt sind. Als „Auffassung vom symbolischen Charakter der Sprache" bezeichnet Scholem die Überzeugung, Der Sinn der Tora in der jüdischen Mystik, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 72-86. Ebd., 86ff. 1 5 1 Ebd., 55; das dritte der insgesamt 3 Prinzipien ist das der „Tora als Organismus" mit diversen Gliedern (vgl. ebd., 64-71). 1 5 2 Ebd., 56. 1 5 3 Ebd., 59. 154 vgl. 35 Jahre zuvor bereits: Geheimnisse der Schöpfung, bes. 35f., ganz zu schweigen von der Tagebuchnotiz vom 3.2.1917: „Grundgesetz der mystischen Sprachauffassung. Alle Sprache besteht aus Gottesnamen." (Tagebücher 1913-1917,472, Hervorhebung i.O.). 149

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daß Sprache mehr als „nur Zeichen, Kommunikation, Bedeutung und Ausdruck"155 ist. Das auch der Kommunikation dienende, etwas mitteilende „Wort" ist zugleich „Name", der nichts mitteilt außer sich selbst Nach Scholem ist dies die sprachtheoretische Folgerung aus dem Zusammenfall der Rede vom schöpferischen Wort Gottes in der Bibel und vom Namen Gottes als Agens der Schöpfung in der nachbiblischen Apokalyptik und Hekhalotliteratur. Der Vorstellung vom Namen als Schöpfungsmacht „liegt offenkundig noch die magische Auffassung von der Macht des Namens zugrunde, die sich wieder durchgesetzt hat," 156 nachdem sie in der Bibel zu unterdrücken versucht worden war. „Die schöpferische Kraft, die den Worten und Namen innewohnt, das unmittelbar Wirkende an ihnen,"157 nennt Scholem ihre Magie. Die Texte der frühen Merkabamystiker (mit ihrer Auflistung bzw. Beschwörung von Engel- und Gottesnamen) bewegen sich zwischen Magie und Mystik des Namens aufgrund ihrer engen, teilweise unlösbaren Verwandtschaft mit der Tradition vom Gebrauch der Tora (Shimmush ha-tora) in den magischen Texten seit hellenistischer Zeit.158 Der kabbalistischen Sprachtheorie liegt die Überzeugung von der Magie des Namens (der unmittelbaren Wirkung des Wortes als Kraft) zugrunde; daß sie aber eine mystische Theorie ist, begründet Scholem mit dem Wechsel von der Auffassung von Tora als Offenbarung vieler magisch nutzbarer Gottesnamen zu der von Tora als dem einen Namen, was besagen soll, daß sie primär Ausdruck göttlicher Kraft ist, nicht spezifischer Sinnübermitdung. Scholem betont also einerseits die „dialektische Beziehung von Magie und Mystik in der Theorie der Namen Gottes nicht weniger als in der überschwänglichen Macht, die dem reinen menschlichen Wort zuerkannt wird"159. Andererseits ist das eigentlich Entscheidende an der kabbalistischen Sprachtheorie und das, was sie zur Spnchmystik macht, die Überzeugung, daß der Name Gottes ein Absolutum ist, geoffenbart in der Tora als die absolute, nicht sprechbare Sprache des Gottesnamens. Die „konkreten Sinnesschichten der Tora" stellen „nur Relativierungen jenes einen Absolutum" des göttlichen Namens dar, sind nur dessen „Brechungen [...] in den unendlichen Medien der Schöpfung" 160 , d.h. im Bereich des kommunizierbaren Irdisch-Menschlichen 155 156 157 158 159 160

Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbaia, in: Judaica 3, 8. Ebd., 19. Ebd., 20f. S.o. zu Der Sinn der Tora in der jüdischen Mystik. Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: Judaica 3 , 1 0 . Ebd., 31.

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jenseits des unkommunizierbaren Absoluten. Die menschliche Sprache (bestehend aus kommunikablen Wertet,i) ist eine Reflexion der göttlichen Sprache (die nur aus Namen besteht); die Mystiker aber suchen eben diese göttliche Sprache in der Meditation wiederzufinden, in der Versenkung in die Dimension hinter den Worten, die über Mitteilung des Mitteilbaren hinausgeht.161 Im Bereich des Endlichen können die Momente des Göttlichen, die in Schöpfung und Offenbarung eingegangen sind, sich nur in Symbolen mitteilen. Den kabbalistischen Mystikern wird alles in der Schöpfung zum Symbol für eine dahinterliegende göttliche Dimension. Deshalb bezeichnet Scholem die der mystischen Sprachtheorie der Kabbalisten zugrundeliegende Anschauung als „symbolische" Sprachauffassung.162 Da es ihm aber im Sprachtheorie-Aufsatz um die Versuche der Mystiker geht, eben dieser geheimen Dimension — der Sprache als Abstraktum, als „Name" - auf die Spur zu kommen, wird die endliche Seite - irdische Sprache als Kommunikation in Symbolen — hier nicht eigentlich thematisiert. Nicht zufällig findet in dieser Abhandlung ausnahmsweise Abulafia ungjeich größere Beachtung als der Zohar: Scholem weist darauf hin, daß der Zohar mit sprachtheoretischen Äußerungen sehr viel zurückhaltender ist und mehr Vorliebe für die Sefirottheorie aufweist. Den Symbolbegriff behandelt Scholem an anderer Stelle, und zwar nicht in einem eigenen Aufsatz, sondern in zahlreichen allgemeinen Bemerkungen im Zusammenhang mit konkreten kabbalistischen Symbolen (vor allem der zoharischen und der lurianischen Kabbala) und im ersten Kapitel der Hauptströmungen, wo ihm die Gegenüberstellung von Symbol und Allegorie dazu dient, den Gegensatz zwischen jüdischer Mystik und Philosophie zu veranschaulichen.

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Mit der Idee eines Wandels von der magischen zur mystischen Sprachtheorie scheint Scholem - zumindest terminologisch - von Benjamin abzuweichen. Bei diesem meint „Magie der Sprache" offenbar die nach Scholem nicht mehr magische, sondern mystische Auffassung, nämlich jene Unmittelbarkeit, mit der sich in der Sprache, nicht durch sie, ihr „geistiges Wesen" kundtut, das unmittelbare Sich-Zeigen (Offenbarung im Sinne Hamanns) von etwas Unaussprechlichem als Ausdrucksqualität alles Sprechens (vgl. W. Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a.M. 1995, 26ff.). Scholems Verwendung des Ausdrucks Magie für den Glauben an die Wirkungsmacht des Wortes bleibt mehr im Rahmen der älteren religionsgeschichtlichen Magietheorie, z.B von F. Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie - ein „wertvolle(s) Buch" nach Scholem (Das Buch Bahir, 168). Diese ist nach Scholem Ausgangspunkt aller mystischen Sprachtheorien, nicht nur der kabbalistischen.

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Wesen des Symbols ist demnach163, daß es etwas sichtbar macht, „was jenseits aller Bedeutung steht", „was der Welt des Ausdrucks und der Mitteilung entrückt ist", während die Allegorie für „ein anderes Ausdrückbares" steht. Die Allegorie ist bloßes Zeichen; in ihr „verliert der Gegenstand, auf den sie angewandt wird, sein ihm eigenes Sein zugunsten eines anderen, dem er als Vehikel dient". Am Symbol dagegen, „in ihm selber, aus seiner eigenen Existenz heraus, erscheint [...] jene andere Wirklichkeit, die sich anders gar nicht mitteilen kann". Der Philosophie geht es darum, die konkrete Wirklichkeit des Judentums „allegorisch zu entziffern", sie will sie „in ein Allgemeines auflösen", wie Scholem in Anspielung auf das berühmte Zitat aus Goethes Maximen und Reflexionen formuliert, nach dem in der Allegorie „das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt"164. Die Tora erscheint in ihrer allegorisch-philosophischen Deutung „als ein Vehikel [...] für tiefgründige philosophische Wahrheiten". Für die Mystiker dagegen drücken die „Urkunden der Religion" noch eine „besondere Schicht religiöser Wirklichkeit" aus, was sich in ihrer symbolischen Deutung manifestiert. Die allegorische Interpretation spielt auch in ihren Schriften durchaus eine große Rolle, doch in den Symbolen der Kabbalisten zeigt sich ihr eigentliches Anliegen, das von dem der Philosophen Welten entfernt ist. Allegorie und Symbol stehen darum nach Scholem für zwei vollkommen verschiedene Geisteshaltungen oder „Weltanschauungen"165, für jenen fundamentalen weltanschaulichen Gegensatz von Mystik und Philosophie, der auch im Unterschied von (kabbalistischem) Kommentar und (philosophischem) System zum Ausdruck kommt — und der weit über die Feststellung einer „Polarität der mittelalterlichen jüdischen Welt" 166 hinausgeht.

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Alle Zitate im folgenden Absatz stammen aus: Hauptströmungen, 28-31; vgl. außerdem bereits Politik der Mystik, 10f.; Sicha 'al ha-qabbala, in: Devarim bego, 226f., sowie Ursprung und Anfange, 343.361f. Zitiert bei W. Benjamin, Gesammelte Schriften 1/1, Frankfurt a.M. 1980, 338; vgl. Hauptströmungen, 388 Anm. 25; Biale, Counter-History, 105; Rotenstreich, Symbolism and Transcendence, 606; Handelman, Fragments of Redemption, 106; und die Kritik von Idei, New Perspectives, 218, mit dem kuriosen Hinweis auf Biales angebliche Bezugnahme auf „Goethes Ursprung des deutschen Trauerspiels" (ebd., 381 Anm. 76) - „eine Quelle, über die selbst ein Benjamin sicherlich geschmunzelt hätte" (Smith, Zwischen den Disziplinen, 11 Anm. 4). Der Ausdruck „symbolische Weltanschauung" (hashqafat ha-'olam ha-stmäi) schon in den frühen hebräischen Schriften (Sicha 'al ha-qabbala, in: Devarim Re'ajon ha-ge'ulla, ebd., 203: ha-hashqafa ha-simbolii). VBnJ, 146.

begegnet bego, 226;

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Bei der Erörterung der symbolischen Weltanschauung im ersten Kapitel (Absatz 8) der Hauptströmungen bezieht sich Scholem nur auf die mittelalterliche Konkurrenz zwischen kabbalistischer und philosophischer Ideologie der rabbinischen Tradition, die jede „den alten Bestand zu retten unternimmt, indem sie ihn in der Interpretation verwandelt"167. Eindeutig gewinnt er dabei der kabbalistischen Ideologie einen ungleich positiveren Sinn ab als ihrem philosophischen Gegenüber, auch wenn er es nicht als „'antiphilosophische' Position" verstanden wissen will, die „Schwäche der mittelalterlichen jüdischen Philosophie zu konstatieren"168. Im Anschluß an die Definition von Allegorie und Symbol erklärt er ausfuhrlich, wie in der Haltung zu Halacha und Aggada die symbolische Deutung — indem sie die Halacha in ein Sakrament rückverwandelt und die Aggada produktiv weiterentwickelt - den „beiden wichtigsten gestaltenden Mächten des alten jüdischen geistigen Lebens"169 Lebendigkeit und Fortdauer garantierte. Die philosophische Umdeutung dagegen degradierte die Halacha zu „Allegorien von mehr oder weniger tiefsinnigen Ideen [...] oder als pädagogische Maßregeln" und brachte der Aggada „oft nichts als verhüllte Kritik" entgegen.170 Scholem nennt die kabbalistische „Rückverwandlung der Halacha in ein Sakrament" auch „mythische Reaktion im Herzen des Judentums selbst"171. Aufs engste mit der symbolischen Interpretation der Tradition verknüpft, ist dies ein prinzipiell davon zu unterscheidender, zweiter Wesenszug der jüdischen Mystik in ihrer Gesamtheit.

4.2.2 Die „Auferstehung des Mythos im Herzen des Judentums" Scholem bezieht auch die „Auferstehung des Mythos im Herzen des Judentums" (so die Uberschrift des elften Absatzes im ersten Kapitel der Hauptströmungen)172 offensichtlich auf die jüdische Mystik generell, obwohl er sie oft 167 168

169 170 171 172

Hauptströmungen, 25. So Scholem in einem Brief vom 3.4.1958 an H.L. Goldschmidt (Briefe II, 45). Dieser hatte in seiner Rezension der Hauptströmmgen Scholems Stellungnahme gegen die Philosophie „als Gegenschlag gegen die platte Vemünftelei einer jüngsten Vergangenheit" für verständlich erklärt, aber kritisiert, daß sie der Mystik selbst unrecht tue (in: Goldschmidt, Die Botschaft des Judentums, Werkausgabe III, Wien 1994, 69-76). Hauptströmungen, 30. Ebd., 32f. Ebd., 32; vgl. Art. Kabbalah, 506 („mythological reaction within Judaism itself"). Im Inhaltsverzeichnis: Hauptströmungen, XIII.

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als Charakteristikum nur der theosophischen Mystik darstellt: „Die theosophische Kontemplation des geheimen Lebens der Gottheit als der wesentlichsten religiösen Wirklichkeit", heißt es etwa im Vortrag über Mythos und Kabbala, „hat hier, mitten im Bereich der Mystik und der religiösen Erfahrung, eine neue Mythenwelt aufgerichtet [...]."173 Mythos ist neben Symbol zweifellos der wichtigste Schlüsselbegriff in Scholems Denken. Als solcher steht er nicht nur im Mittelpunkt der ersten drei Eranosvorträge über Mythos, Ritus und die Schechina-Symbolik in der Kabbala, sondern durchzieht das gesamte Werk des Kabbalaforschers. Dabei begegnet das Mythische in dreifacher Weise: in Gestalt bestimmter Motive, als gnostische Elemente oder ganzer gnostischer Mythos und schließlich in der Rede vom mythischen Denken. Die wichtigsten konkreten Motive, die als spezifisch mythisch gelten, sind die „Archetypik des Weiblichen"174, der Bereich sexueller Symbolik allgemein, wie zum Beispiel die Vorstellung von zeugenden statt schaffenden Göttern, 175 sowie solche Bilder, die „das echt Böse, das erfahrbar Böse,"176 als Realität gelten lassen und nicht spekulativ (das heißt vor allem nicht aristotelisch als Privation des Guten) auflösen. Noch konkreter definiert Scholem mythische Motive, wo seiner Meinung nach bestimmte Vorstellungen Erbe eines historisch greifbaren „uralten" Mythos sind. So entstammt seiner Meinung nach die Zeremonie des Lichterlöschens am „Fest des Lammes" der sabbatianischen Dönme dem „uralten heidnischen Kult der 'großen Mutter'" 177 oder die Vorstellung von sieben Dämonenkönigen der arabischen Tradition. Letztere gingen zweifellos auf die noch ältere babylonische Verehrung von Planetengottheiten zurück, was die Kontinuität von Mythologemen und mythologischer Produktivität in der magischen Tradition beweise.178 173 174

175 176

177

17

Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 133. Die Schechina-Symbolik erscheint oft als das Beispiel für Repristination des Mythos schlechthin; vgl. außer den Vorträgen über den Mythos und die Schechina z.B. auch: Ursprung und Anfange, 143f. Vgl. Hauptströmungen, 246-249. Sitra Achra, Gut und Böse in der Kabbala, in: Gestalt der Gottheit, 68; vgl. Hauptströmungen, 252.257-261. Judaica 5, 68f. mit Anm. 31. Scholem rückt später von der These einer möglichen historischen Verbindung zu jenem „uralten Mythos" (über „unterirdische" Kreise des orientalischen Judentums) ab, der er in dem frühen Essay Erlösung durch Sünde offenbar noch anhängt: vgl. Die krypto-jüdische Sekte der Dönme, 117f. (wo er die Entstehung der Zeremonie stattdessen mit der „logischen" Entwicklung des radikalen Messianismus, der stets in antinomistischen Libertinismus umschlägt, erklärt).

® Some Sources o f Jewish-Arabic Demonology, 2 mit Anm. 3; er widerspricht hier H.A. Winkler, dessen Werke er sonst sehr schätzt: „WlNKLER's studies ar the most valuable

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Ungleich wichtiger als diese nur vereinzelten mythischen Motive sind die sogenannten gnostischen Motive, die das Herzstück der These von der Repristination des Mythos in der Kabbala überhaupt bilden. Allerdings ist der Begriff des Gnostischen, was oft übersehen wird, dem des Mythischen untergeordnet. Man neigt dazu, nicht den Mythos, sondern die Gnosis als den eigentlichen Dreh- und Angelpunkt von Scholems „Phänomenologie" zu betrachten. Die Begriffe Mythos und Gnosis sind einerseits nicht voneinander zu trennen, andererseits nicht einfach synonym. Alle Gnosis ist mythisch oder mythologisch,179 aber nicht jeder Mythos ist gnostisch. Gnosis ist vielmehr nur „eine der letzten großen Manifestationen des Mythos im religiösen Denken"180. Die Berufung auf gnostische Motive macht den engen Zusammenhang deutlich zwischen der Theorie einer remythisierenden Mystik und der historischen Forschung Scholems, genauer seinen historischen Vermutungen bezüglich der Herkunft und mehr oder weniger kontinuierlichen Entwicklung der Kabbala als einer Mischung aus älterer Gnosis und mittelalterlichem Neuplatonismus. Nur aufgrund seiner (umstrittenen181) historischen Schlußfolgerungen kann Scholem mit der Auferstehung des Mythischen auch die konkrete Fortsetzung oder Wiederaufnahme alter mythischer Bilder meinen, nämlich über die Quellen der Merkabamystik oder über mutmaßliche andere „unterirdische" Traditionen aus dem Orient, von deren Existenz er überzeugt ist. Darüberhinaus definiert Scholem auch dort, wo er die Wiederkehr des Mythischen nicht aus historischen Quellen ableitet, als mythisch oft solche Bilder und Symbole, die in den Quellen der historischen (antiken) Gnosis begegnen. „Gnosis" ist bei Scholem historisch wie systematisch eine inhaltlich relativ genau bestimmbare Größe.182 Für die Definition der historischen Bewegung sind nach Scholem drei „fundamentale Charakteristika" entscheidend: published so far." Vgl. Scholems Rez. von Winkler, Salomo und die Karina, 1931, in: KS 10, 1933/34, 68-73. 1 7 9 Gnosis erscheint auch als reflektierte Version eines „ursprünglich" intuitiven Mythos (Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos, in: Judaica 1, 127f.); s.u. Kap. 5.2.4. 1 8 0 Hauptströmungen, 38. 181 vgl. idei, New Perspectives, 30ff.250-253, M.B. Sendor, The Emergence of Provencal Kabbalah: Rabbi Isaac The Blind's Commentary on Sefer Yezirah' (Diss. Harvard University 1994), Ann Arbor/Mich. 1995. 182 v g j dazu auch J. Dan, Jewish Gnosticism?, J S Q 2, 1995, 309-238, der seinerseits einen historischen und einen „typologischen" Gnosisbegriff bei Scholem unterscheidet und wohl ganz im Sinne seines Lehrers - betont, daß nicht nur der Zohar, Lurianismus und

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Scholetns Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

der Besitz einer Erkenntnis, die nicht durch gewöhnliche intellektuelle Mittel, sondern nur auf dem Wege einer Offenbarung und mystischen Erleuchtung zu gewinnnen ist, der Besitz einer Geheimlehre über die Ordnung der himmlischen Welten 183 und die Kenntnis der liturgischen und theurgisch-magischen Mittel, die den Zutritt zu ihnen eröffnen. 184 Das Vorhandensein dieser drei Merkmale in den Texten der jüdischen Merkabamystik rechtfertigt nach Scholem ihre Bezeichnung als Gnosis analog zur Bewegung der christlichen Gnosis, auch wenn sie keine (ausfuhrlichen) gnostische Mythen oder Äonen-Spekulationen bietet. 185 Das Gnostische in der Kabbala seit dem 12. Jh. besteht in verschiedenen konkreten Motiven, die darum gnostisch heißen, weil sie der obigen Definition entsprechen und in Scholems Augen genaue Parallelen zu christlichen oder jüdischen gnostischen Ideen darstellen. Im Bahir, dem ersten „Einbruch unverstellt mythischer Rede v o n Gott" 1 8 6 zählt Scholem dazu drei konkrete „Motive": den Ausdruck ha-malt' (analog zum Pleroma der gnostischen Texte), den Weltenbaum als Bild für diese Fülle, 187 und den gesamten Motivkomplex der 1 0 göttlichen Middot, deren viele Bezeichnungen und Beschreibungen mit Hilfe gnostischer Metaphern (wie Schätze, Gefäße u.a.) „die Sinnfulle und Sabbatianismus, sondern auch Bahir und gnostische Kabbala nur im typologischen Sinne gnostisch genannt werden können, da die (von Scholem) für möglich erachteten historischen Beziehungen zur älteren Gnosis unbewiesen bleiben. 183 Vgl. Hauptströmungen, 47; Art. Kabbala, 497.506, zur Parallele zwischen Merkaba und gnostischem Pleroma. 1 8 4 Ursprung und Anfange, 18; vgl. Jewish Gnosticism, 1. Die einzelnen Motive, die Scholem dort als „Parallelen" zur Gnosis anführt (die Tradition über den Himmel Ogdoas, das Löwengesicht des Jaldabaot und Elijas Begegnung mit dem Succubus) dienen wie die „Parallelen" zwischen Merkabatraditionen und Hekhalotliteratur dem Nachweis der Zusammengehörigkeit dieser beiden Quellengruppen und der Rechtfertigung für die frühe Datierung der Merkabamystik insgesamt, gehören aber nicht zu wichtigen oder gar unverzichtbaren Merkmalen eines gnostischen Systems. 1 8 5 Idei sieht darum eine Inkonsequenz im Gnosisbegriff, weil in der Merkabamystik der mythische Teil „nebensächlich" sei (Subversive Katalysatoren, 87). Dies ist er aber ja gerade nicht, versucht Scholem doch gerade trotζ des Fehlens ganzer gnostischer Mythen den gnostischen und also mythischen Charakter der frühen Mystik (im Sinne einer bestimmten Form religiösen Denkens) nachzuweisen. 1 8 6 Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 122. 1 8 7 In § 14 als ursprüngliches Bild, das in späteren Schichten (§§ 15.64-67.84.85) interpretiert wurde. Das Bild vom Baum, der die Wurzeln oben trägt, ist wiederum ein „mythisches Bild, zu dem viele Parallelen in allen möglichen Kulturkreisen bekannt sind" (Ursprung und Anfange, 66, unter Berufung auf A. Jacoby, Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 43, 1928, 78-85).

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Vielseitigkeit der Äonen in der gnostischen Mythologie wieder[spiegeln]"188. Kurz, so Scholem selbst: die neue (theosophische) Vorstellung von der Gottheit als Träger kosmischer Potenzen und die Bflderwelt bzw. Äonenspekulation machen das neue, gnostische Element des Bahir aus. In der Kabbala der kastilischen Brüder Jakob und Isaak Ha-Kohen aus dem 13. Jahrhundert, oft schlechthin als „die gnostische Kabbala" bezeichnet, findet Scholem die gnostischen Elemente vor allem in den Traktaten über die „linke Emanation" (d.h. der Emanation der bösen Kräfte neben der Emanation der zehn göttlichen Sefirot). Die dort niedergelegte Lehre von den „Welten" ( c olamim) und „Fürsten" (sarim) deutet er als erneute, stark veränderte, aber dennoch „der Gestalt der alten gnostischen System völlig treu(e)" Spekulation über „Äonen" und „Archonten".189 Eine andere Art von Gnosis in der Kabbala bieten die lurianische Kabbala und der auf ihr gründende Sabbatianismus. Hier sieht Scholem nicht einzelne Motive fortgeführt oder wiederaufgekommen, sondern einen gesamten gnostischen Mythos konstruiert. Es ist die gesamte „Dramatik"190 des von Luria erzählten Schöpfungs- (und Erlösungs-)Geschehens, die ihn an die antiken gnostischen Mythen erinnern. Wieder erscheint vor allem die Idee eines göttlichen Pieromas, nämlich die ungeheure Zahl von Emanationsstufen und göttlichen Lichtern, als das wichtigste Merkmal, in dem das Gnostische seinen Ausdruck findet. So schreibt Scholem in der Encyclopedia Judaica zur lurianischen Schöpfungstheorie, diese sei zwar auch von dem „philosophischen" System Cordoveros geprägt, mit der Idee des Tikkun ha-Par^uftm, der Wiederherstellung der sogenannten Gesichter Gottes, sei jedoch rasch jener Punkt erreicht, which is beyond the scope of intellectual perception. Here we are dealing with an extreme case of Gnostic reaction in the Kabbalah, which finds its expression in the placing of innumerable stages among the degrees of emanation, and the lights which sparkle in them. This Gnostic reaction, and with it the mythical tendency in the Kabbalah, reached its highest point in Luria while at the same time its relationship with the philosophical trends of Spanish Kabbalah and of Cordovero also was at its most tenuous. 1 9 1

188

Ursprung und Anfange, 71.

189

Qabbaht R. Ja'aqov weR. jisphaq,

190

21-26. Vgl. Hauptströmungen, 285. Art. Kabbalah, 547.

191

188; vgl. auch Zur Frage der Entstehung der Kabbala,

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Von der generellen Verwandtschaft des lurianischen Mythos zu den kosmologisch-psychologischen Dramen der Gnosis abgesehen erwähnt Scholem in den Hauptströmungen auch eine „genaue Parallele in dem System des Gnostikers Basflides" aus dem 2. Jahrhundert: Luria wie Basflides benutzen für die Idee des göttlichen Restes oder der Spur des göttlichen Lichts das Bild eines leeren Gefäßes, in dem der Rückstand von Öl und Wein (Luria) bzw. der Duft einer Salbe (Basilides) zurückgeblieben ist. Außerdem findet der Kabbalaforscher „einen frühen Prototyp des Zimyum", der Selbstverschränkung Gottes, die den Schöpfungsakt einleitet, in dem koptischen „Buch des großen Logos". 192 Nur sehr allgemein ist wiederum der Hinweis auf den manichäisch-gnostischen Charakter der lurianischen Psychologie und Anthropologie mit ihrer Lehre von den Seelenfunken, der für Scholem „evident"193 ist. Auch Sabbatai Zwis Prophet Nathan von Gaza gehört zu den herausragenden Vertretern kabbalistischer Gnosis, der vierte neben der Merkabamystik, der Kabbala der Kohen-Brüder und dem lurianischen Mythos. Als „genuin gnostische[r] Mythos" 194 erweist sich Nathans theologischer Entwurf durch sein neues dualistisches Moment und die Propagierung eines in die Welt und in das Böse gesandten Erlösers, beides Elemente, die weder bei Luria noch bei der gnostischen Kabbala noch im Falle der jüdischen Gnosis eine Rolle spielen. Was die letzte der Hauptströmungen betrifft, so verdankt sich die „Wiedergeburt eines neuen Mythos in der Welt des Chassidismus, auf die schon von manchen Autoren, besonders gerade von Buber, hingewiesen worden ist," 195 nach Scholem besonders dem „Ineinander von Mystik und Magie"196. Die chassidische Legende, als Erzählung von den magischen Fähigkeiten mythischer Helden, macht das Mythische im Chassidismus aus. Insofern kommt der Mythos auch im Chassidismus zu seinem Recht, was rechtfertigt, daß für Scholem die Wiederkehr des Mythischen ein Wesenszug der jüdischen Mystik überhaupt ist. Der Gnosisbegriff spielt dagegen im Kapitel der Hauptströmungen zum Chassidismus keine Rolle; erst im Rahmen der Kontroverse mit Martin Buber 192

193 194 195 196

Hauptströmungen, 290. Zur Kritik speziell an diesen Parallelen vgl. Mopsik/Smilevitch, Observations sur l'oeuvre de Gershom Scholem, Pardes 1, 1985, 7-30, bes. 18ff. (zu Scholems Auslegung der Basilides-Stelle, verglichen mit der Darstellung bei H. Leisegang, Die Gnosis, Leipzig 1924, 215-218). Hauptströmungen, 306; vgl. 308. Sabbatai Zwi, 330; vgl. Hauptströmungen, 296.353f. Hauptströmungen, 383. Ebd., 382.

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kehrt er wieder, wo es darum geht, daß der Chassidismus - als Fortsetzung der Kabbala — durchaus auch gnostische Theosophie lehrt und nicht nur Legenden vom Leben der Zaddiqim weitererzählt.197 Abgesehen davon, daß Scholems frühere Chassidismusdeutung anders als in den späteren Schriften noch stärker an Buber orientiert scheint (was er selbst allerdings nirgends eingesteht),198 zeigt die Vernachlässigung des Gnostischen im Chassidismus in den Hauptströmungen wieder, daß der eigentliche Wesenszug aller jüdischen Mystik für Scholem nicht primär ihr gnostischer, sondern ihr mythischer Charakter ist. Dieser Unterschied zwischen Mythos und Gnosis äußert sich nicht zuletzt auch darin, daß vorrangig der Begriff des Mythischen im abstrakten Sinne zur Bezeichnung der „Weltanschauung" dient, die mit und in der Wiederaufnahme mythischer und gnostischer Elemente der Kabbala zugrundeliegt. Im siebten Kapitel der Hauptströmungen heißt es: „Luria hat seine Ideen in Formen vorgetragen, die sehr lebhaft an gnostische Mythen der Antike erinnern. Nicht etwa, daß er sich solcher Beziehungen irgendwie bewußt gewesen wäre, aber die innere Struktur dieses Denkens weist ohne Zweifel engste Verwandtschaft mit der Gnosis auf."199 Wie Scholem sich die innere Struktur dieses gnostisch-mythischen Denkens vorstellt, erläutert er nicht nur ausdrücklich im ersten Kapitel der Hauptströmungen, wo er den Mythos als ein „Stadium des religiösen Bewußtseins" definiert, das den Stadien der Religion und der Mystik vorausgeht. Auch Scholems Äußerungen zum Verhältnis der Kabbala zur biblischen Religion geben Aufschluß darüber, denn die Bibel gilt 197

D a Buber Gnosis als ein „wisserisches Verhältnis zum Divinum" (Buber, Werke III, 951) ablehnte, betonte er die Differenz zwischen Chassidismus und Kabbala, deren Charakterisierung als Gnosis „in seinem Mund nicht länger ein Lobspruch ist" (Scholem, Judaica 1,172). 198 Vgl Grözinger, Jcholems Darstellung des Chassidismus; wobei ich allerdings keinen so krassen Bruch ausmachen kann, sondern nur eine Akzentverschiebung hin zur stärkenn Betonung des mangelnden Quellenwerts der Legenden und des elitären sowie theoretisch-innovativen Charakters der chassidischen „Gnosis" (mit Ausnahme weiterhin des „unintellektuellen" Beseht selbst), parallel zur immer deutlicher formulierten Kritik an Bubers Zuspitzung der Dichotomie Kabbala-Gnosis (vgl. Scholem, Judaica 2, 189f.). Schon am 15.10.1921 schreibt Scholem an Buber, es sei „doch nicht ganz ohne chiddush, was nun da in dieser Richtung im Chassidismus passiert ist", und verweist auf die Entschematisierung des Mysteriums als „nicht ganz untheoretische Tat" (Buber, Briefwechsel II, 86f.). In seinem Beitrag zu Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, erklärt Grözinger nicht Scholems eigene begriffsgeschichtliche Studien aus den fünfziger Jahren, sondern die 1968 erschienene Dissertation von R. SchatzUffenheimer zum Wendepunkt, wonach die früheren Studien auch für Grözinger noch auf der Linie der Hauptströmungen liegen müßten. 199

Hauptströmungen, 285.

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ihm als Manifestation des (monotheistischen) religiösen Bewußtseinsstadiums, das dem mythischen gegenübergestellt wird.200 Vor allem aber sind Magie und Ritual untrennbar mit dem Begriff des Mythos als Weltanschauung verbunden. Denn die kabbalistische Theosophie, die Symbolik der zehn Sefirot mit ihren mythischen Bildern und Motiven, ist nur die eine Seite der Auferstehimg des Mythos im Judentum. Das Wiedererstehen des Mythos in der Kabbala, schreibt Scholem in Mythos, sei am klarsten zu greifen vom Gottes- und vom Torabegriff her: einmal deute sie die Einheit Gottes als eine lebendige, erfüllte und dynamische, nämlich bestehend aus hypostasierten Potenzen, zum anderen remythisiere sie die Tora, die im rabbinischen Judentum von allem kosmischen Vollzug abgelöst worden sei: „Wenn überhaupt, so ist das Gesetz nur noch zum Teil im rein Historischen, dem Eingedenken begründet, aber nicht mehr aus der kultischen Repräsentation eines mythischen Vorgangs." 201 Auf diese „Re-Mythisierung der Tora" geht Scholem in seinem zweiten Eranosvortrag ausführlich ein, der dem Mythos-Vortrag unmittelbar folgt und das Verhältnis von Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten analysiert. Die Kabbala stellt die im Judentum abgelöste „Verbindung mit dem Mythischen, das im Ritus sich in Gesten oder dramatisch kompliziert zur Darstellung bringt", wieder her, den „Untergrund [...], der die Mutter des Rituals von jeher ist". 202 Mythos als Mutter des Rituals und das Ritual als dramatische Darstellung des Mythos sind unlösbar miteinander verbunden: „'Der Mensch und der Ritus' ist nur ein anderer, pragmatischer Aspekt jenes anderen Problems 'Der Mensch und der Mythos'." 203 Die kabbalistische Remythisierung des Judentums bezieht sich also auch auf das Verständnis der Erfüllung der biblischen Gebote: Die „heilige Handlung", stellt Scholem bezüglich Menachem Recanatis Gebotskommentar fest, erhält in dem Bezug auf die Sefirotwelt ihre „mystische Würde", die zugleich eine mythische ist, denn sie ist auf einen Schauplatz bezogen, wo es sich um göttliches Geschehen selber handelt und wo solches innergöttliche Geschehen [...] nun zur symbolischen Darstellung im Ritual

200 Yg| a u ß e r Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 118f., und Schechina, in: Gestalt der Gottheit, 135-142, auch Schi'ur Koma, in: Gestalt der Gottheit, 712; Farben und ihre Symbolik, in: Judaica 3, 98f. (im Zusammenhang mit dem biblischen Bilderverbot); dazu ausfuhrlich unten Kap. 5.2. 2 0 1 Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 127. 2 0 2 Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 162. 2 0 3 Ebd., 160.

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gelangt. [...] der rituale Vollzug rtpräsentiert nicht nur jenes in sinnlichen Symbolen erscheinende Leben, sondern zugleich exerziertet es. 204

Damit wird der symbolische Aspekt um den magischen ergänzt, „der nicht nur alles in allem erscheinen, sondern auch alles auf alles wirken läßt" 205 ; der rituale Vollzug im eigentlich mythischen Sinne ist ein „magischer Vollzug"206. Es ist die Magie, die die praktische Seite des Mythos ausmacht und wie er ebenfalls dem mythischen Stadium des religiösen Bewußtseins angehört bzw. dieses charakterisiert. Und wie im Falle der mythischen Motive sucht Scholem auch hinsichtlich magischer oder „okkulter" Traditionen (im weitesten Sinne, d.h. antike oder mittelalterliche Psychologie eingeschlossen), kontinuierliche historische Linien zu verfolgen, die von der Kabbala bis in den Alten Orient zurückreichen können. 207

4.2.3 Mystik als besondere religiöse Erfahrung Der Auferstehung des Mythos durch die symbolische Interpretation liegt eine besondere religiöse Erfahrung zugrunde, jene Erfahrung, die die Mystiker mit Hilfe der Versenkung im Gebet zu erlangen suchen. Auch dieser Wesenszug der jüdischen Mystik gilt nicht nur für die jüdischen Kabbalisten: „Mystiker", definiert Scholem ganz allgemein, „sind Menschen, die durch ihre eigene innere Erfahrung und ihre Spekulation über solche Erfahrung neue Schichten des Sinnes in ihrer überlieferten Religion entdecken."208 Bezogen auf die

204 205 206

207

208

Ebd., 167f. (Hervorhebung i.O.). Ebd., 166. Ebd. 163; vgl. Hauptströmungen, 32, zum ,,kosmische(n) Vollzug" der Ideologie der Halacha. Vgl. z.B. Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung, 285-290 (zu den Vorstellungen von Eigendämon und Astralleib). Der Sinn der Tora, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 49f. Oft schreibt Scholem, daß eine „Erleuchtung [...] am Ursprung stand" (Judaica 4, 133), daß die kabbalistischen Symbole oder Vorstellungen sich einer „ursprünglichen Vision" (Judaica 1, 21) verdanken, von Meditationen „hervorgebracht" (Judaica 3, 91) wurden oder „das ursprüngliche Wissen um eine bestimmte Schicht der göttlichen Realität, aus tiefer Kontemplation geboren", bezeugen. „Für die Welt des Sohar besitzt [...] der Bereich der Sefiroth noch jene ungebrochene Realität der mystischen Erfahrung"; je mehr es später zu (allegorisiertem) Buchwissen wurde, „desto mehr suchten produktive Geister unter den Kabbalisten zu einer neuen Schicht vorzustoßen, die sich ihnen in neuen Symbolen lebendig darstellte" (Hauptströmungen, 226). Auch der „klassische Chassidismus ist

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

Kabbala äußert sich dies vor allem darin, daß sie neben einer neuen Auffassung von Tora und Tradition auch eine neue Theorie und Praxis des Gebets entwickeln. „Die Kawwana leistete [...] für ein verwandeltes Verständnis der religiösen Aktion im Gebet [...] dasselbe, was auf einer andern Ebene und mit andern Mitteln das Symbol und die symbolische Exegese für ein verwandeltes Verständnis der Tora und der Quellen der Offenbarung überhaupt leistete"209, schreibt Scholem in seinem frühen Aufsatz über die kabbalistische Meditation. Das größte Problem bezüglich der mystischen Erfahrung im Judentum ist die Abneigung der Kabbalisten gegenüber ausführlichen Selbstzeugnissen, die Scholem zufolge neben dem ausgeprägten theosophischen Interesse die zweite Besonderheit der jüdischen im Vergleich mit nichtjüdischer Mystik ausmacht.210 Wenn überhaupt, geben die Quellen folglich weniger über das individuelle persönliche Erleben der Mystiker Auskunft als über die Theorie der mystischen Kontemplation — was aber nicht heißt, daß die mystische Praxis nicht zu den Wesenszügen jüdischer Mystik gehören würde. Der Kabbalaforscher verweist auch auf die geringe Zahl von zur Praxis anleitenden Handbüchern und Schriften über die „Technik der tieferen Stadien des mystischen Wegs" 211 , vermutet aber, daß es solche Bücher wohl gegeben hat und sie nur nicht gedruckt wurden.212 Die großen Ausnahmen sind Quntras Ha-Hitpa'alut des chassidischen Rabbis Dov Baer, dessen Titel etwa mit „eine Einführung in die Ekstase" zu übersetzen sei,213 sowie Abraham Abulafias ekstatische Kabbala. Scholem verwendet die Begriffe „ekstatisch" und „praktisch" bezogen auf die abulafianische Kabbala zu deren Unterscheidung von der theosophischen Kabbala, bei der die von Abulafia abgelehnte Sefirotsymbolik im Mittelpunkt steht. Abulafia selbst nennt seine Lehre prophetisch; der Ausdruck praktische Kabbala (hebr. qabbala ma'asit) war nach traditionellem Sprachgebrauch der Magie vorbehalten.214 Das Verhältnis der abulafianischen Kabbala zu magi-

nicht aus irgendwelchen Theorien geboren, auch nicht aus denen der Kabbala, sondern ganz natürlich aus einer unmittelbaren religiösen Erfahrung" (ebd., 381). 2 0 9 Der Begriff der Kawwana, 504f. 2 1 0 Vgl. ebd., 493; Hauptströmungen, 18; Art. Kabbalah, 631. 2 1 1 Hauptströmungen, 131. 212 Vgl ebd. (mit Hinweis auf den vierten Teil des Werkes Sha'art Qedusha von Chaim Vital Calabrese, der „eine allgemeinverständlich geschriebene kurze Anweisung zum mystischen Leben" enthalten habe, die in den Drucken fehle, in ein oder zwei Handschriften jedoch erhalten sei). 2 1 3 Ebd. 2 1 4 Alchemie und Kabbala, 1 9 2 5 , 1 6 Anm. 1; Hauptströmungen, 157.

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scher Praxis, so Scholem, war trotz des engen Zusammenhangs der Quellen (sie alle lehren in irgendeiner Weise den Umgang mit den außergewöhnlichen Kräften der göttlichen Namen) ausdrücklich negativ; Magie galt Abulafia als „Fälschung der wahren Mystik", während er selbst eine „Magie der Innerlichkeit" vertrat.215 Abulafias „Theorie der Ekstase" ist fïir Scholem „letzten Endes nichts anderes [...] als eine mit jüdischen Mitteln und Begriffen arbeitende Form jener alten spirituellen Technik, deren klassische Ausbildung die indische JogaDisziplin darstellt".216 Über das höchste Ziel dieser Technik, die siebte Stufe der Gottesliebe, die nach Moshe Idei ganz und gar der klassischen Unio mystica entspricht, schreibt Scholem: Es findet also in einem gewissen Maße tatsächlich eine Identifikation des Menschen mit seinem Herrn in der Ekstase statt, ohne daß doch eine wirkliche vollständige Identität erreicht oder von Abulafia auch nur angestrebt würde. Immerhin ist dies eine der radikalsten Formulierungen des Inhaltes der ekstatischen Erfahrung, die innerhalb des rabbinischen Judentums gewagt worden sind. 2 1 7

Die Ekstase wird auch als Begegnung mit dem eigenen Selbst beschrieben, ein Phänomen, das Scholem schon 1930 in einem eigenen Artikel untersucht.218 Die aufschlußreichste Quelle über die mystische Erfahrung, deren (unkommentierte) Übersetzung das Kapitel über Abulafia in den Hauptströmungen abschließt, hatte Scholem bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in Palästina in der Zeitschrift Kirjat Sefer veröffentlicht219 Es handelt sich um den autobiographischen Bericht eines Schülers des Kabbalisten, eingeschoben in die Erörterung dreier Wege des Fortschreitens von körperlicher zu immer vergeistigterer Wahrnehmung von Gegenständen.220 Hier werden ausführlich die sieben Stufen der kabbalistischen Versenkung beschrieben.221 Hauptströmungen, 158; Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: Judaica 3, 68. 2 1 6 Hauptströmungen, 151; vgl. die Kritik an diesem Vergleich von Idei, Abraham Abulafia und die mystische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1994, 55f. 2 1 7 Hauptströmungen, 154; im Inhaltsverzeichnis lautet die Überschrift für diesen Abschnitt: „Mystische Verklärung als das Wesen der Ekstase" (ebd., XIV); vgl. Idei, Abraham Abulafia, bes. 158-172. 2 1 8 Ebd., 154f.; vgl. Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung. 219 „Sha'art Zedeq"\ Hauptströmungen, 160-170. 2 2 0 Die Kabbala gilt nach diesem Text als die dritte Methode neben dem Weg der Muslime und dem der Philosophen, der im Fortschreiten von einer Wissenschaft wie Mathematik über Naturwissenschaft zur Theologie besteht und dessen Adept glaubt, „daß bestimmte 215

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Bei aller Betonung des Ausnahmecharakters der Kabbala Abulafias ist dieser nicht der einzige jüdische Mystiker, bei dem Scholem Hinweise auf „ekstatische" Praxis findet.222 Vor allem spielt die Ekstase ein große Rolle in Scholems Darstellung der frühen Merkabamystiker, steht sie doch seiner Meinung nach in der ältesten Thronmystik im Mittelpunkt. Im Gegensatz zu einigen Vertretern der neueren Forschung steht für den Pionier der Kabbalaforschung außer Frage, daß die Hekhalotschriften keine Midraschim sind, keine exegetischen Schriften, sondern Erfahrungsberichte. Sie legen Zeugnis ab von ekstatischen Visionen und erläutern die Technik zur Erlangung des ekstatischen Zustandes, ohne wie die spätere Kabbala eine mystische Theorie zu entfalten.223 Die Schilderung des Aufstiegs zur himmlischen Thronwelt ist eine „jüdische Abart" 224 der Himmelsreise der Seele hermetischer und gnostischer Mystiker. Bereits im Jahre 1901 hatte Wilhelm Bousset diesen Himmelsreisen, einschließlich der angeblich rabbinischen, eine kleine Arbeit im Archiv für Religionswissenschaft gewidmet und sie darin als „mystisch ekstatische Lehre [...] und eine daran sich anschliessende bestimmte Praxis der Ekstase"225 definiert. Wie Bousset behauptet auch Scholem den späteren Niedergang der ursprünglich ekstatischen Phantasien und Praxis, ihre Degradierung zu bloß literarischen (exegetischen) Motiven.226 Die Praxis der Merkabamystiker charakterisiert Scholem auch gern als Theurgie, wobei die Begriffe Theurgie und theurgisch bei ihm immer in

221

222 223

224 225

226

Dinge für ihn durch Prophetie enthüllt sind, obwohl er sich den wahren Grund dafür nicht klarmacht, sondern denkt, sie kämen von der Erweiterung und Vertiefung seines menschlichen Verstandes" (Hauptströmungen, 161). Nach Idei, Abraham Abulafia, 100, bietet der Text eine Synthese aus abulafianischer und Sefirotkabbala. Die 7 Stufen sind: 1) Reinhaltung des Körpers - 2) Reinigung der körperlichen und geistigen Haltung - 3) Freimachen des Geistes von allen Wissenschaften - 4) Meditation über das eigene Denken und Abstrahieren von jedem Wort („Springen", d.h. Assoziation) - 5) Versenkung (Loslösen der Worte vom Denken) - 6) der Grad, wo man weder spricht noch sprechen kann - 7) Selbstbegegnung, d.h. die Kundgebung des Innen im Außen: das Innen nimmt durch die Macht der reinen Imagination die Gestalt eines Spiegels an, was hinten war, tritt als ein V o m in Erscheinung und man sieht, „daß sein innerstes Sein etwas außerhalb des Selbst ist" (Hauptströmungen, 169). Vgl. Art. Kabbalah, 63If. Vgl. Hauptströmungen, 49; Jewish Gnosticism, 10; Ursprung und Anfange, 19; Art. Kabbalah, 499.501. Hauptströmungen, 52; vgl. Jewish Gnosticism, 18.59f. W. Bousset, Die Himmelreise der Seele, Darmstadt 1968, 5 (vgl. ebd., 14ff., zur PardesErzählung). Vgl. ebd., 58; Scholem, Hauptströmungen, 49.55.67.

D i e Wesenszüge der jüdischen Mystik

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Verbindung mit Magie oder magisch vorkommen. 227 Allerdings erscheint die „Metamorphose dieser Mystik in Theurgie", wenn nicht mehr die Herrschermacht Gottes auf dem Thron geschaut wird, sondern der Theurge selbst „solch herrscherliche Gewalt ausübt", als spätere Entwicklung. 228 Einerseits betont Scholem die Konkurrenz der theurgisch-magischen Prozeduren genauer die Zeremonie des „Anziehens des Namens" und die Beschwörung des Fürsten der Tora — zu den ekstatischen Praktiken, andererseits stellt er fest: „Vielfach berühren sich hier, in der Theurgie, Magie und Ekstase." 2 2 9 Bei den aschkenazischen Chassidim tritt nach Scholem das Gebet des Mystikers mehr oder weniger an die Stelle der Himmelsreise, 230 und es beginnt die Gebetsmystik. 231 Sie besteht zunächst in der Anwendung sogenannter zahlenmystischer exegetischer Techniken (wie Gematria, Notarikon, Ternura u.a.) auf die Texte der jüdischen Liturgie, speziell die beiden Stammgebete. Der Sinn dieser exegetischen Methoden (die nach populärer Vorstellung als typisch kabbalistisch gelten, obwohl gerade die klassische Kabbala sie selten praktizierte) bleibt nach Scholem letztlich unklar. Ob sie der Meditation dienten oder der Magie, wofür das „Bewußtsein der magischen Gewalt, die [dem Gebetswort] innewohnt," 232 spreche, wagt er nicht definitiv zu entscheiden. Dennoch hegt er keine Zweifel, daß die Chassidim auf jeden Fall Meditation übten und daß „die beschauliche und demütige Versenkung in das 227

Vgl. Hauptströmungen, 61.83; Jewish Gnosticism, 75; Ursprung und Anfange, 18; Art. Kabbalah, 500. Scholem gebraucht den Begriff stets, u m die N ä h e der Mystiker zur Magie z u m Ausdruck zu bringen (ganz im Sinne etwa von Th. H o p f n e r , Art. Theurgie, Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 2. Reihe, 11. Halbband, 1936, 258-270). Vgl. dagegen Idels Verwendung des Begriffs, um darauf aufmerksam zu machen, daß das Anliegen der Kabbalisten nicht nur ein theosophisches, sondern auch ein praktisches ist (wenn auch nicht im Sinne der Unio mystica der ekstatischen Kabbala). E r unterscheidet die Theurgie ausdrücklich von der Magie (Idei, N e w Perspectives, 140 Anm. 1.159.269), nicht anders als z.B. I. Tishby (The Wisdom o f the Zohar II, O x f o r d 1989, 684).

228

Hauptströmungen, 61; vgl. Art. Kabbalah, 508f.

229

Hauptströmungen, 84; vgl. auch ebd., 83.

230 v g l . ebd., 109f.; Art. Kabbalah, 515 (hier mit stärkerer Betonung, daß die „Theorie der M e r k a b a " weiterhin auch „ a practical guide toward the 'ascent to heaven'" bleibt). 231

D a f ü r , daß er der Umdeutung der Gebete einen wesentlich größeren Stellenwert einräumt als der der Gebott (vgl. D a n , Mystical Dimension, 184 Anm. 32), liefert Scholem selbst die Begründung: „ T r u e every commandment has its mystical aspect whose observance creates a bond between a world o f the Sefirot, but the full force o f spirituality can express itself far better in prayer." (Art. Kabbalah, 627). S.u. Kap. 5.3.4 z u m Gebet als dem genuinen Ausdruck sog. lebendiger „Religiosität"!

232

Hauptströmungen, 110.

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allgegenwärtige Unendliche"233 den Platz einnimmt, den bei früheren Mystikern die stürmischere ekstatische Schau innehatte. Außerdem heißt es von den exzessiven Bußübungen als nicht nur legendären, sondern „wirklich geübten Praktiken"234, daß sie die merkabamystische Wanderung durch die himmlischen Hallen ersetzen.235 Den weniger ekstatischen als kontemplativen Charakter der mystischen Praxis betont Scholem auch bezüglich der Kabbalisten,236 mit denen nun die eigentliche Theorie und Praxis der Kawwana des Gebets als einer Versenkungstechnik beginnt. Die Kabbala lehrte den verborgenen wahren Sinn des Wortlauts der Gebetstexte, die nicht mehr nur als Anrede an (bzw. Aussage über) den einen Gott im biblischen und rabbinischen Sinne aufgefaßt wurden, sondern als symbolische Anspielungen auf die mystische Gottheit in ihren zehn Wirkungsweisen. Anders als in der nichtkabbalistischen Literatur der Rabbinen bedeutet Kawwana nimmehr „nicht einfach Intensität und Gesammeltheit des Gebets überhaupt"237, sondern die konzentrierte Ausrichtung des Denkens auf diese geheimen Hinweise, auf die Welt der Sefirot. So verwandelte die kabbalistische Gebetsmystik das traditionelle jüdische Gemeindegebet, eine „Institution durchaus unmystischer Art" 238 , in einen „mystischen Vorgang" 239 . In seiner frühen Studie zur Kawwana von 1934 arbeitet Scholem ihren doppelten Charakter heraus, nämlich einerseits als Vorbereitung zum Gebet, andererseits als Vorgang im Gebet selbst. Als Vorbereitung besitze die kabbaEbd., 106. Ebd., 114. 235 Vgl. ebd., 113. Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich, ob Scholem die Chassidim wirklich nur einschätzte als „one of the major expressions of Jewish mystical and esoteric creativity, but he never described it as 'mystical' in the technical sense" (Dan, Mystical Dimension, 95) - ganz abgesehen davon, daß die Definition von „mystischer Kreativität" im Unterschied zu „'mystisch' im technischen Sinne" allein fragwürdig ist. 2 3 6 So bereits Das Buch Bahir, 60 (Anm. 2 zu § 60); Lyrik der Kabbala?, 64; vgl. Sabbatai Zwi, 38. 2 3 7 Der Begriff der Kawwana, 496. 2 3 8 Jüdische Mystik in Westeuropa im 12. und 13. Jahrhundert, in: Judaica 3, 86. 2 3 9 Ebd. 87; vgl. Art. Kabbalah, 628f.; Der Begriff der Kawwana; Ursprung und Anfänge, 349-357 (zum Streit um die frühe Popularisierung der Gebetsmystik, aus der zum Leidwesen Isaaks des Blinden ein Gebet an die Sefirot und also Götzendienst gemacht wurde); vgl. auch Ursprung und Anfänge, 202-210, zum möglichen Einfluß der Katharer und der sogenannten Waldenser. Die Frage, an wen Gebete sich richteten, stand im Mittelpunkt der geistigen Auseinandersetzungen im 12. Jh. überhaupt (vgl. J. Dan, The Emergence of Mystical Prayer, in: ders./F. Talmage [Hg.], Studies in Jewish Mysticism, Cambridge/Mass. 1982, 85-120). 233

234

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listische Kawwana „das charakteristische Moment der mystischen Sammlung zur Kontemplation [...]: die systematische Ablösung von den eigenen Affekten und Begierden und die ausschließliche Hinwendung zum höchsten Gut, dem 'himmlischen Licht', unter radikaler Ausschaltung der Sinnesempfindungen und der von ihnen genährten Vorstellungen"240. Als Vorgang beim Gebet zeichne sie neben dem kontemplativen auch ihr sprachlicher Charakter aus. Insgesamt betont Scholem vor allem ihre Eigenart als „voluntaristischer Akt", weil ihr Ziel der „Kurzschluß des Willens" ist, die Vereinigung des menschlichen mit dem göttlichen Willen.241 Dem Doppelaspekt der Kawwana entspricht der zwiefache Charakter der Devekut, den Scholem rund vierzig Jahre später in seinem EJ-Artikel zum „mystischen Weg"242 der Kabbala behandelt: Devekut, wörtlich das enge Haften an Gott, bedeute sowohl einen Prozeß als auch das Ziel der mystischen Kontemplation im Gebet.243 Die Begriffe Devekut und Kawwana verwendet Scholem nahezu synonym, wenn es um den „mystischen Weg" im allgemeinsten Sinne geht; in der Regel aber ist mit Kawwana die Technik der Meditation, mit Devekut dagegen deren Ziel gemeint, die höchste Stufe der mystischen Erfahrung, die Scholem zufolge selten „als wirkliche Vereinigung mit Gott empfunden worden"244 ist, sondern nur als sehr enge Gemeinschaft mit Gott: nicht als urtio, sondern als communio, wie seine berühmt gewordene Formel lautet 245

240 241 242

243 244 245

Der Begriff der Kawwana, 507. Ebd., 500f. „The Mystic Way" ist die Überschrift des Abschnitts über „Devekut. Prayer, Kawanah, and Meditation. Ecstasy" im Art. Kabbalah, 624-632, wie in dessen etwas kürzerem hebr. Pendant in der EH, dort Abschnitt 11: Darko shel ha-mistiqan, devekut, tefilla wekamiana, hitbonenut we'eqstasp (Art. Qabbah, 124-128), und bereits in der deutschen EJ 9, Berlin 1932, 7 1 1 - 7 1 7 , hier mit Anfuhrungsstrichen: „Der mystische "Weg' (Ekstase, Meditation und Gebet)". „The Mystic Way" lautet auch die Überschrift des zweiten Teils von Evelyn Underhills Mysticism (der die Phasen und Stufen der mystischen Zustände beschreibt), in Anlehnung an den klassischen, auf Dionysius Areopagita zurückgehenden Dreischritt chrisdicher Mystiker: via purgativa, via illuminativa und via unitiva. Vgl. Art. Kabbalah, 627. Hauptströmungen, 133. Zur Diskussion s.u. Kap. 6. Eine der seltenen, aber in Zukunft wohl zunehmenden Untersuchungen zur jüdischen Unio mystica ohne Bezugnahme auf Scholems Leugnung derselben bietet Charles Mopsik, Union and Unity in Kabbalah, in: H. Goodman (Hg.), Between Jerusalem and Benares, 223-242.

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

Abgesehen von der spezifischen Theorie und Praxis der Kawwana, als deren erster Vertreter Isaak der Blinde gilt und die im Laufe ihrer Entwicklung in der Kabbala immer komplexer wurde und allerlei Veränderung erfuhr, zählt Scholem auch die sogenannten Offenbarungen des Elija unter die mystischen Erfahrungen der Kabbalisten. Es bleibt offen, ob diese Revelationen, von denen spanische Traditionen seit etwa 1300 berichten, bewußt durch Meditation herbeigeführt worden sein sollen oder ob es sich um spontane Erleuchtungen während des kontemplativen Studiums der heiligen Texte gehandelt haben soll. Auf jeden Fall versteht der Kabbalaforscher sie als eine besondere „Kategorie" der „mystischen Inspiration", die einen Kompromiß zwischen der Autorität der traditionellen Offenbarung und der persönlichen Erfahrung des Mystikers anstrebt.246 Betont Scholem bei seiner Darstellung der frühen Thronmystik die zentrale Rolle der ekstatischen Praxis, so legt er in seinen Kapiteln zum Zohar den Nachdruck darauf, daß die Ekstase im heiligen Buch der Kabbala ganz zurücktrete, eine These, die nicht minder umstritten ist als seine Lesart der Hekhalotschriften.247 Doch auch wenn die für die Merkabamystiker typische Ekstase in der theosophischen Kabbala nicht „jene alles beherrschende, überragende Stellung einnimmt, die wir in solchen Schriften vielleicht erwarten"248, so fehlt sie doch nach Scholem nicht völlig: Die Himmelfahrt der Seele verschwindet selbstverständlich nicht ganz. Das visionäre Element in der Mystik, das einer bestimmten seelischen Veranlagung entspricht, bricht bei manchen Kabbalisten immer wieder durch. Aber die Meditationen und Kontemplationen der Kabbalisten nehmen einen innerlichen Charakter an. 249

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Ursprung und Anfänge, 30ff. (Zitate: 30); vgl. Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 31-34; Hauptströmungen, 129f. Nach E.R. Wolfson, The Hermeneutics of Visionary Experience, Religion 18, 1988, 311-345, muß dagegen der Akt des Textstudiums selbst als visionäre Erfahrung interpretiert werden, sei doch der Text dem mystischen Exegeten nichts anders als die Konfiguration des göttlichen Lichts: Offenbarung und Interpretation, Vision und Studium, so Wolfson, sind im Zohar intrinisch miteinander verbunden. Hauptströmungen, 132. Scholem erwähnt Andeutungen, z.B. bei der Schilderung des Hohenpriesters im Allerheiligsten, dessen „Erlebnisse [...] solchen ekstatischen Charakter" hätten (ebd., 410 Anm. 9). Eine solche Stelle (Zohar III 67a) ist nachzulesen bei Tishby, Wisdom of the Zohar III, 921ff. Hauptströmungen, 132.

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Scholem deutet an, daß im Zurücktreten des ekstatischen Charakters der zoharischen Devekut der mögliche Grund für den großen Erfolg dieser Schrift liegen könnte: Vielleicht ist es gerade diese Zurückhaltung, diese Verlegung des Akzentes auf andere Seiten des religiösen Lebens, die einer Disposition der jüdischen Seele entgegenkam und damit beitrug, den Sohar für das Bewußtsein so weiter Kreise in den Rang eines heiligen Buches aufsteigen zu lassen. 2 5 0

Er erwähnt dies in der Einleitung zum Kapitel über Abraham Abulafia, wo es um dessen Ausnahmestellung (als Verfasser der sonst so seltenen Anleitungen zur Ekstase) geht. Doch hinsichtlich der nicht minder erfolgreichen Kabbala Isaak Lurias stellt Scholem wieder einen engeren Bezug her zu Abulafias ekstatischer Mystik. Die lurianische Kawwana, das „Instrument für einen mystischen Aufschwung der Seele zu den Höhen der Gottheit", sei nämlich die „Anwendung der Theorie über die Meditation von Abulafia auf die neue Kabbala". 251 Auch sie sei eine Art „Magie der Innerlichkeit", indem sie Einfluß auf geistige Welten zu nehmen suche. Scholem bezeichnet den lurianischen Weg zur innersten Devekut auch als „Ekstase der stillen Versenkung".252 Auf jeden Fall verkörpert die „aktivere"253 Kontemplation der Kabbalisten in Safed (die mit ihren unzähligen Kawwanot und anderen Neuerungen die jüdische Liturgie zum Leidwesen der Wissenschaftler des Judentums nachhaltig beeinflußte254) die Weiterentwicklung der kabbalistischen Theorie der Kawwana bis zu ihrem Höhepunkt. Im osteuropäischen Chassidismus besteht das Besondere und Neue der mystischen Erfahrung nach Scholem im Enthusiasmus der unmittelbaren Gottesbegegnung, der in der Betonung der Immanenz Gottes gründe und seinen Ausdruck finde. Devekut und Kawwana seien nun „in erster Linie

250

Ebd., 133.

251

Hauptströmungen, 303f.

252

Ebd., 305; in der EJ bezeichnet Scholem die Kawwana überhaupt, auch die der älteren Kabbala (die er im Kanwana-KuhMz „voluntaristisch" nennt) als „inward magic" (Art. Kabbalah, 628, wie bereits in der deutschen EJ, Berlin 1932, 715).

253 254

Art. Kabbalah, 629. Im Druck verbreitet, „lernte man überall die neuen Gebete, die unverständlichen Konzentrationen (kawwanoi), die Fasten und Bußverordnungen kennen", bedauert Ismar Elbogen, und die „lurjanische Mystik mit ihren neuen gottesdienstlichen Einrichtungen breitete sich wie eine Krankheit rasch und weithin aus" (I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, 4. Aufl., Hildesheim 1962, 389).

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Gefühlswerte"255, was auf den Unterschied zur ausgesprochen intellektualistischen Theorie der Kawwana in der alten Kabbah anspielt. In der ausführlichen Analyse des chassidischen Begriffs der Devekut aus dem Jahre 1950, in der Scholem größeren Nachdruck auf die theoretischen Innovationen der chassidischen „Gnosis" legt256, stellt er das chassidische Konzept dem der älteren Kabbala gegenüber. Für diese sei die Devekut eine individuelle, persönliche Erfahrung, realisiert zwar innerhalb dieser Welt, aber durch Verneinung weltlicher Werte, als Wert des kontemplativen, nicht des aktiven Lebens. Im Chassidismus dagegen werde sie, obwohl weiterhin als Zustand des Rückzugs und der Isolation aufgefaßt, zu einer radikalen, von jedem zu verwirklichenden Entscheidung, die nun am Ausgang, nicht mehr am Ende des mystischen Weges steht.257 Wie bereits in den Hauptströmungen erklärt Scholem auch hier die chassidische Devekut vor allem als Realisierung der Immanenz Gottes, die allerdings nur im pani/rtheistischen Sinne aufgefaßt worden sei. Die Grenze zum Pantheismus wird seiner Meinung nach selbst von dem Maggid von Meseritz nicht überschritten, der die mystische Einigung sehr viel radikaler formulierte, was aber nicht blind machen dürfe für „the eminendy Jewish and personalistic conception of man" 258 im Denken des Maggid.

4.2.4 Mystik als Produkt historischer Krisen Scholem zählt zu den allgemeinen „Bedingungen" für Mystik nicht nur das symbolische Denken, das Wiedererwachen eines mythischen Bewußtseinsstadiums und ekstatische oder kontemplative religiöse Erfahrungen, sondern auch bestimmte, nämlich kritische, geistesgeschichtliche oder soziohistorische Umstände. Auch wenn er selbst in dieser Hinsicht nicht von einem Wesenszug spricht - es handelt sich ja nicht um innere Merkmale, sondern um Einfluß von außen - so gehört es doch zu seiner Wesensbestimmimg der jüdischen Mystik, wenn er ausdrücklich und allgemeingültig feststellt: „Mystik als ein historisches Phänomen ist ein Produkt von Krisen"259. Auf jeden Fall gilt dies

255 256 257

258 259

Hauptströmungen, 368. S.o. Anm. 198. Zur Kritik (von Tishby, Rapoport-Albert, Pierskarsz u.a.) vgj. Faierstein, Gershom Scholem and Hasidism, 228ff.; Elior, Hasidism - Historical Continuity and Spiritual Change, in: Schäfer/Dan (Hg.), Scholem's Major Trends, 307ff. Devekuth, 139. Der Sinn der Tora in der jüdischen Mystik, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 49.

Die Wesenszüge der jüdischen Mystik

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nach Scholem für Judentum, Christentum und Islam, wie aus Scholems Überlegungen über die Mystik in der heutigen Zeit hervorgeht: The time seems to be ripe for such a revelation, since, after all, this is an age of crisis and in religious history such periods tend to be conducive to those mystical inspirations and creativity which strongly influence the community. All the great mystical revelations in the monotheistic religions are associated with crises.260

Dasselbe gilt für die Entstehung nihilistischer Bewegungen, über die Scholem schreibt: Im großen und ganzen stellt die Religionsgeschichte die Metamorphosen dar, in denen, manchmal langsam, manchmal eruptiv, sich Veränderungen, Umwertungen solcher traditionell verfestigter Systeme vollziehen. An besonderen Krisenpunkten tritt aber unter ausgesprochen elitärer Akzentuierung der religiöse Nihilismus auf [ ·]·261

Die Grenze zwischen den „besonderen Krisenpunkten", aus denen nihilistische Mystik hervorgeht, und den für religiöse Metamorphosen allgemein fruchtbaren Zeiten scheinen fließend. Auch die Entwicklung des (noch nicht mystischen) Begriffs der religiösen Tradition innerhalb des frühen Judentums vollzog sich jedenfalls in Zeiten einer „ungeheuren Gärung, die [...] vor allem mit dem Einbruch der hellenistischen Welt die ursprünglich theokratische Gemeinde, die die Thora anerkannte, ergriff'. 262 Nicht ohne Grund bemüht sich Scholem um die Frühdatierung der Hekhalottexte, geht es doch nicht zuletzt um ihren „unmittelbaren Anschluß an die produktive Periode, in der das rabbinische Judentum sich in der großen religiösen Gärung jener Jahrhunderte herauskristallisiert und anderen Strömtingen gegenüber behauptet und durchgesetzt hat". 263 Mystik gilt Scholem nicht nur als Produkt religiöser oder gesellschaftlicher Krisen, sondern auch als Ursache derartiger Krisen, wie seine Deutung der Mystiker als potentielle Häretiker zeigt: „Die mystischen Erleuchtungen der Ungelehrten sind ja in allen Religionen stets eine Quelle von Gefahren und Häresien gewesen."264 Die Forderung nach rabbinischer Gelehrsamkeit eines Kabbalisten versuchte zwar vor diesen Gefahren zu schützen, aber es habe 260 261 262 263

264

Reflections on the Possibility of Jewish Mysticism, 45 (= Devarim bego, 74). Der Nihilismus als religiöses Phänomen, in: Judaica 4,134. Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in: Grundbegriffe, 94. Ursprung und Anfange, 16; vgl. Art. Kabbalah, 498 („an age of spiritual awakening and deep religious turmoil"). Hauptströmungen, 135.

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

doch viele ungebildete Kabbalisten gegeben. In solchen rabbinisch unausgebildeten oder zumindest weniger gebildeten „prophetischen und visionären Illuminaten"265 sieht Scholem offenbar die vorrangigen Träger von Häresien. Der Eranosvortrag von 1957 über Religiöse Autorität und Mystik, der sich mit dem Verhältnis von konservativen und revolutionären Aspekten von mystischen Bewegungen allgemein beschäftigt, ist die bekannteste Auseinandersetzung mit der Nähe der Mystik zur Krise, hier verstanden als Krise der offiziellen Religion. Aber auch sonst kehrt in seiner Geschichtsschreibung diese Verbindung zwischen Mystik und weltanschaulichen oder soziohistorischen Krisen regelmäßig wieder.266 So betont Scholem, daß der aschkenazische Chassidismus und die provenzalische Kabbala je an einem „Ort großer historischer Spannung" entstanden, nämlich in „irgendeinem, wenn auch nicht ohne weiteres durchschaubaren Zusammenhang" mit den Kreuzzügen von 1096 und 1147 bzw. mit den Bewegungen der Katharer und Waldenser.267 Den Frankismus deutet er als deutlichen Ausdruck der geistigen und gesellschaftlichen Krise des alten Judentums zwischen 1750 und 1800.268 Bekannter, bedeutsamer und breiter ausgeführt ist die Rolle der historischen Krise für die Genese der lurianischen Kabbala: die Vertreibung aus Spanien 265

266

Ebd. Nicht nur die Mystik provoziert gem Häresien; vor allem der Messianismus ist potentiell häretisch und „der große Katalysator im Judentum" (Die Metamorphose des häretischen Messianismus: Judaica 3, 199; vgl. Die Krise der Tradition im jüdischen Messianismus: ebd., 152-197) und als solcher einer der Bausteine für die „Counterhistory"-These von David Biale (vgl. Counter-History, 148-155); zur Kritik Moshe Idels an der Uberbewertung dieser Funktion des Messianismus s.o. Kap. 1.2.1. Das Wort „Krise" taucht in Scholems Schriften so häufig auf, daß es zu Recht von Robert Alter in seine Liste Scholemscher Schlüsselwörter aufgenommen wurde, wie vor ihm bereits von I. Rosenzweig, Qabbala umahpekha, 442f. (Letzterer verweist außerdem bereits auf die Grenze von Scholems sonst verdienstvoller Erforschung der „Dialektik von Ideologien", nämlich darin, daß er nie kläre, was er mit „historischen Bedingungen" meine und wie er sich ihr Verhältnis zu den Ideen [wer wen bewirkt usw.] vorstellt: vgl. ebd. 450.) Was ich hier als Merkmal von Scholems Wesensbeschreibung der Mystik verstehe, wird in der Regel zur Geschichtsphilosophie verallgemeinert; demnach betrachtete Scholem generell die Geschichte als Folge von Krisen (Alter, Scholem und die Moderne, in: Schäfer/Smith [Hg.], Zwischen den Disziplinen, 169) bzw. von apokalyptischen Brüchen (Biale, Counter-History, 155). Siehe auch unten Kap. 7.2.

Jüdische Mystik in Westeuropa: Judaica 3, 78; vgl. ebd., 79: „und wer möchte entscheiden, was hier von innen her kommt und was von außen, was aus der Sphäre der äußeren Geschichte der Judenverfolgungen und was aus der inneren Erregung, die von solchen Bewegungen in den Lebenskreis bedeutender jüdischer Menschen trat." 268 V g l D e r Nihilismus als religiöses Phänomen, in: Judaica 4, 188; Die Metamorphose des häretischen Messianismus der Sabbatianer, in: Judaica 3,208. 267

Die Wesenszüge der jüdischen Mystik

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von 1492. Diese, und nicht etwa der hurban, die Zerstörung des zweiten Tempels, erscheint in Scholems Werk als die „Standards" setzende Katastrophe für die jüdische Geschichte überhaupt.269 Aus den Versuchen, dieses neue Exil, das nicht nur das sefardische Judentum bis in seine Grundfesten erschütterte, theologisch zu bewältigen, gingen nach Scholem die kabbalistischen Systeme Isaak Lurias und seiner Nachfolger, der Mythos vom Exil Gottes selbst, hervor. Diese religiöse Antwort auf die Vertreibung erfolgte zwar erst fünfzig Jahre nach dem einschneidenden Ereignis, sei aber auf jeden Fall als unmittelbare Reaktion darauf zu verstehen.270 Es brauchte zwei Generationen, um den akuten Schock zu verarbeiten, erklärt Scholem in seinem Artikel über die Wissenschaft vom Judentum, wo er die historische Erfahrung aus dem 15. Jahrhundert zur unmittelbar erlebten Katastrophe im 20. Jahrhundert in Beziehung setzt. Auch die Folgen dieses ,,Blutverlust[s]"271, seine Auswirkungen im Geistigen, für die Wissenschaft, seien Ende der sechziger Jahre wegen der geringen Distanz zu dem Ereignis selbst noch nicht abzusehen. Eine spirituelle Krise aufgrund eines konkreten historischen Ereignisses ist schließlich auch zentral für die Entwicklung des Sabbatianismus. Diese Bewegung, betont Scholem, entstand infolge der großen messianischen Spannung, die die Ideen der lurianischen Kabbala hervorgerufen hatte. Die rasante Entwicklung der sabbatianischen Theologie aber verdankt sich dem Schock der Apostasie des vermeintlichen Messias, der wenige Jahre nach seiner Entdeckung zum Islam übertritt. Die durch Sabbatais Abfall vom Judentum verursachte Krise entspricht in diesem Sinne genau der Wirkung der Kreuzigung Jesu: Zwar sollten sich Historiker davor hüten, Theologie als nichts anderes denn eine Ideologie und das Produkt von Rationalisierung zu betrachten, aber es ist kaum zu bezweifeln, daß ohne den zusätzlichen Druck, auch die Verzögerung der Wiederkunft [Christi] Vgl. Rosen, Versions of catastrophe, 169. 270 Vgl. bereits Nach der Vertreibung aus Spanien; Hauptströmungen, 271-275; Re'ajon hage'ulla: Devarim bego, 201-215; Sabbatai Zwi, 40ff. Das Pathos von Scholems Worten dient hier zweifellos nicht nur als literarisches Stilmittel zur Veranschaulichung der Erschütterung der Kabbalisten, sondern legt Zeugnis ab für seine eigene Wahrnehmung der „Abgründe und Ängste solchen Lebens" im Exil, eines ,,Leben(s) in der Verbannung und im Widerspruch" (Hauptströmungen, 273; vgl. auch Devarim bego, 217-221); vgl. Pachter, Masters of Cultural History, 29; Wohlfarth, „Haarscharf an der Grenze ...", bes. 193.206f.; zur Kritik vgl. Idei, New Perspectives, 265f.; Alter, Jewish Mysticism in Dispute, 58. 2 7 1 Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt, in: Judaica 1,160. 269

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Scholems Wesensbestimmung der jüdischen Mystik

begründen zu müssen, das eindrucksvolle Gebäude der katholischen Theologie nie entstanden wäre. 272

Der tief verwurzelte Glaube einerseits und andererseits das ideologische Bedürfnis, den schmerzlichen Widerspruch zwischen der historischen Realität und dem Glauben zu erklären und zu rationalisieren, sind die Faktoren, die zwar nicht die Entstehung überhaupt, wohl aber die eigentliche Entfaltung der Theologie des häretischen Sabbatianismus und des Christentums bewirken.273 Die Apostasie Sabbatai Zwis besitzt nicht nur eine katalysierende Wirkung fïir die sabbatianische Theologie. Denn auch im Chassidismus will Scholem ausdrücklich dasselbe Phänomen wie in der lurianischen Mystik finden: die um einige Generationen verzögerte Reaktion auf das krisenhafte Ereignis als (Mit-) Auslöser für die Veränderung religiöser Ideen. Wie in Safed das Exil, so fungiert in Osteuropa das Scheitern des Sabbatianismus als die produktive Krise. Die chassidische Lehre von Gadlut und Kadnut (der eigentlichen Devekut und ihrer Vorbereitung) als den zwei Zuständen des Menschen, die den Abstieg um des Aufstiegs willen propagiere, sei eindeutig die Sublimierung einer antinomischen These, die chassidische Warnung vor den Gefahren dieses Abstiegs des Zaddiqs ein „echo of the Sabbatian turmoil"274. Das Beharren auf dieser Hypothese trotz Eingeständnis ihrer Probleme zeigt deutlich, wieviel Scholem daran liegt, nicht nur die Kontinuität zwischen den einzelnen Strömungen, sondern auch das Element der geistigen Krisenbewältigung in der Geschichte der jüdischen Mystik ausfindig zu machen.

272

Sabbatai Zwi, 875; vgl. die Aufnahme dieses Gedankens bei W.D. Davies, From Schweitzer to Scholem - Reflections on Sabbatai Svi, JBL 95, 1976, 529-559 (der Autor plädiert dafür, Scholems Analyse des Sabbatianismus fur die Betrachtung der apokalyptisch-messianischen Bewegung des Frühchristentums fruchtbar zu machen).

273

Vgl. bereits Erlösung durch Sünde: Judaica 5, 25f. Devekuth, 133; vgl. Hauptströmungen, 356-370; Gestalt der Gottheit, 119f.; The Neutralisation of the Messianic Element, bes. 46.48; Devarim bego, 74f. (mit Analogisierung von Lurianismus und Chassidismus). Der Begriff der „Neutralisierung" des Messianismus begegnet bzgj. der alten Kabbala bereits 1934 in: Nach der Vertreibung aus Spanien, 56.

274

5 Die „Stadien der Religionsgeschichte" 5.1 Vorbemerkung: Kabbalistischer Symbolismus als Herzstück der Scholemschen Kabbalaforschung Den Dreh- und Angelpunkt der Kabbalaforschung Scholems bilden zweifellos seine Darstellung und Deutung des mystischen Symbolismus der Kabbalisten. Der große Widerhall, den er damit bei seinen Lesern hervorrief, scheint die Einsicht des 76jährigen Gelehrten zu bewahrheiten, daß in der symbolischen Weltanschauung die Attraktivität der Kabbala für moderne Juden auch heute noch bestehe.1 Scholems Interpreten betonen immer wieder das leidenschaftliche Interesse des Historikers für sprachphilosophische Fragen, das in der Tat kaum zu überschätzen ist und auf die frühen Studienjahre zurückgeht, wie die Tagebücher bestätigen.2 Er selbst liefert die Hinweise auf die für ihn wichtigsten Quellen seiner Auffassung von Offenbarung und Tradition und ihrer symbolischen Auslegung. Außer der Sprachphilosophie deutscher Klassik und Romantik (W. v. Humboldt, J.G. Herder, F. Schelling und besonders J.G. Hamann)3 sowie der Trias Rosenzweig, Buber, Benjamin, mit deren Schriften

1 2

3

Vgl. With Gershom Scholem, 48; Reflections on Jewish Theology, 280. „Die Sprachtheorie der Kabbala hat bis heute keinen würdigen Bearbeiter gefunden, gleich der ganzen Kabbala selber. O, Gerhard Scholem, was hättest Du alles noch zu tun?", notiert Scholem am 3.2.1917 (Tagebücher 1913-1917,472). Sein Interesse begann bereits 1914 mit den ,,Versuche[n], eine Umschau zu gewinnen auf die Sehnsuchtsdichtung. Daher, warum ich [...] sogar einen Mauthner aufsuche. Die Sprachkritik hat sehr viel religiöse Sehnsucht nach etwas Neuem, Unerlebten, Unerhörtem [...] — nach einer neuen Synthese in sich. Deshalb werde ich jetzt auch einmal emster an die Philosophen herangehen müssen und ebenso an die Romantiker, vor allem muß ich Novalis lesen" (ebd., 52). Vgl. Tagebücher 1913-1917, 359f.361.420; GeF, 33; Briefe I, 205, zu Humboldt und Herder; Tagebücher 1913-1917,108; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 248; Judaica 3, 9, zu Hamann; Briefe I, 247; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 117, zu Schelling. Dazu jetzt auch Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala, 331-345, der - gestützt auf Scholems Tagebücher - das Augenmerk auf den bisher vernachlässigten Einfluß von Novalis auf den jungen Scholem lenkt.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

sich der Kabbalaforscher sein Leben lang auseinandersetzte, erwähnt Scholem vorzugsweise die Werke jüdischer Autoren wie Ludwig Steinheims „höchst bedeutendes und entsprechend absolut unbekanntes, sehr seltenes Buch"4 Die Offenbarung nach dem Lehrbegnff der Synagoge (1835-1865) oder Samson Raphael Hirschs Torakommentar5. Am häufigsten aber verweist er auf Franz Josef Molitor, dessen dreibändige Philosophie der Geschichte oder Über die Tradition (18341839) er außerordentlich schätzte, ungeachtet der „christologischen Umdeutungen dieses Autors, eines Schülers Schellings und Baaders"6. Er bezieht sich mehrfach auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten auf ihn.7 Keinerlei Bezug nimmt er dagegen auf Ernst Cassirer, obwohl sich eine Beziehung zu dessen Philosophie der symbolischen Formen schwerlich leugnen läßt und eine gründlichere Untersuchung verdiente. In jungen Jahren hatte Scholem den damaligen Privatdozenten in Berlin gehört, ihn jedoch — wie jeden Vertreter des zeitgenössischen Philosophiebetriebes - gemeinsam mit dem Jugendfreund Walter Benjamin heftig kritisiert.8 Die größte Aufmerksamkeit galt bisher der Affinität zwischen Scholems Sprachtheorie der Kabbala und Benjamins früher „Spracharbeit" (wie Scholem den Aufsatz Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen stets kurz nennt). Offenbleiben muß die vieldiskutierte Frage, ob ursprünglich Benjamin den „von den gleichen Fragen betroffenen Freund"9 beeinflußt hatte oder 4 5

6

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8

9

Briefe I, 205; vgl. ebd., 51.470; Tagebücher 1913-1917,436. Vgl. den Brief vom 12.11.1916 an Harry Heymann: „Vor allem studiere ich [...] S.R. Hirsch, besonders die 'Thora' von ihm, da ich zu der Erkenntnis der außerordentlichen Größe dieses Hirsch gekommen bin. Vor allem beschäftigt mich hier die Theorie der Sprache [...]" (Briefe I, 58). Vgl. auch Tagebücher 1913-1917, 406.414.419. - Auch Bialiks wenig beachteter Aufsatz über „Offenbarung und Verhüllung in der Sprache" (Essays, 5-14) dürfte für die frühe Beschäftigung mit Sprache von Bedeutung gewesen sein (vgl. Dan, Min ha-semel, 382; Alter, Scholem und die Moderne, 162). VBnJ, 132; vgl. GeF, 53; Briefe I, 47.53; Tagebücher 1913-1917, 404; Benjamin/ Scholem, Briefwechsel, 135; With Gershom Scholem, 17f.; sowie Scholem, Art. Molitor, EJ 12,1971,227f. Vg}. z.B. Kabbala-Forschung, 29; Hauptströmungen, 2.443 Anm. 51.445 Anm. 87; Gestalt der Gottheit, 103-106; Grundbegriffe, 52.93f.106; Judaica 3, 36.257f.; sowie Biale, Counter-History, 31f.; Ch. Schulte, „Die Buchstaben haben ... ihre Wurzeln oben". ,.Die Dozenten der Philosophie nahmen wir nicht sehr ernst, vielleicht allzu übermütig." (GeF, 32); vgl. VBnJ, 71f.; Tagebücher 1913-1917, 288.423.442f.448; Briefe I, 54; sowie Biale, Counter-History, 141: „Cassirer argued that myths are not allegories but symbols, an argument identical to Scholem's." B. Witte, Walter Benjamin, Reinbek 1985, 28 (es geht um Benjamins Spracharbeit als einem „Medium der Selbstbefragung und der Verständigung mit dem durch die gleichen Fragen betroffenen Freund").

Kabbalistischer Symbolismus

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umgekehrt dieser stärker den in kabbalistischer Sprachmystik eher unbedarften Literaten, dessen „ziemlich totale Unwissenheit in jüdischen Dingen"10 Scholem nicht verhehlt. Benjamin selbst bekannte sich offen zu dem „Abgrunde des Nichtwissens, den ich auf jenem Erdstrich [der Kabbala] besiedelt habe"11. Für einen Einfluß Scholems auf Benjamin spricht allerdings weniger Scholems Beschäftigung mit der historischen Kabbala, die nach eigenen Angaben 1916 noch in den Kinderschuhen steckte, als sein Zeugnis im Tagebuch vom 7.1.1917, er sei an Benjamins sprachphilosophischen Überlegungen „ja [...] nicht ganz unschuldig"12. Für die Beeinflussung Scholems durch Benjamin dagegen, die allgemein als wahrscheinlicher gilt, spricht der frühe Zeitpunkt von Benjamins Spracharbeit aus dem Jahre 1916 und die Tatsache, daß ihr Autor nichts über die Kabbala selbst zu wissen brauchte, um deren sprachmystische Begriffe, wie sie bei den Romantikern begegnen, aufzugreifen.13 In jedem Fall sind die sprachphilosophischen Ideen Scholems, allein sein Sprachgebrauch (Wort-Name, Offenbarung, Magie der Sprache) ohne Kenntnis von Benjamins frühen Schriften zur Sprache kaum wirklich zu verstehen und adäquat zu interpretieren. Während in neueren Arbeiten stärker die bei aller Verwandtschaft doch beachtlichen Differenzen zwischen den beiden Denkern berücksichtigt werden,14 legt David Biale in seiner relativ frühen Analyse der Scholemschen Symboltheorie den größten Wert auf deren Gemeinsamkeiten mit dem Denken Benjamins. Er nutzt diese Übereinstimmung vor allem, um die 10 11 12

13

14

VBnJ, 75; vgl. GeF, 92f. Benjamin, Briefe II, 561. Scholem, Tagebücher 1913-1917, 467; vgl. VBnJ, 130.132, und die Bemerkung vom 3.8.1917, daß „meine Überlegungen in genau dieselbe Richtung gingen wie die Benjamins [...]" (Briefe an Werner Kraft, 18); am 31.1.1918 schreibt er zu seiner Ubersetzung der Klagelieder: „Daß ich mich als Voraussetzung der Spracharbeit bediene, ist ja nur selbstverständlich" (ebd., 65). Menninghaus, Benjamins Theorie der Sprachmagie, 189f., spricht von der „zweiten Kabbala" als Benjamins Fundus: „eine zwar nicht historische, aber sprachphilosophische Vorstellung von der Kabbala als Paradigma und systematischer Konvergenzpunkt der thematisierten Spracherfahrungen" in „fast der gesamten sprachmystischen Tradition" (ebd., 192). Auch Biale, Counter-History, 103, geht von einer Beeinflussung Scholems durch Benjamin aus, ebenso Mosès, Der Engel der Geschichte, 225. Vgl. Handelman, Fragments of Redemption, 108f., zu Scholems „Theologisierung" des ontologisierten Symbols zu einem „agent of redemption" im Unterschied zu Benjamins philosophischer Rekonstruktion der Allegorie als „vision of the irremediable ruins of time and history in opposition to the unified, seamless, romantic theological realm of the symbol" (ebd., 117). Vgl. auch die Bemerkung von Smith, "Die Zauberjuden', 241, über die unterschiedliche Einschätzung des Mythos.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Differenz zu Martin Bubers „negativer" Sprachauffassung herauszuarbeiten. Gegen Bubers „Mystik des Schweigens", gegen seine Sprachskepsis, die nicht an die Symbolkraft der Sprache glaube, habe Scholem eine Theologie entwickelt, „in der Offenbarung und Tradition sprachliche Erfahrungen sind"15. Bereits in Nathan Rotenstreichs Aufsatz über Transcendence and Symbolism, der zwei Jahre vor Biales Dissertation erschien, zeichnet sich ab, was in den späteren Veröffentlichungen zu Scholems Werk immer stärker in Erscheinung tritt: Der sprachphilosophische Aspekt ist nicht nur wegen seiner Bezüge zu den unverändert aktuellen Schriften Walter Benjamins oder Martin Bubers von besonderem Interesse,16 sondern weil er ermöglicht, den Kabbalaforscher als negativen Theologen zu deuten, der um eine Beziehung zur religiösen (und zugleich literarischen) Überlieferung des Judentums vom Standpunkt ihres säkularen Deuters oder „Kommentators" aus ringt. Schon Rotenstreich, dem es nicht um Scholems Verhältnis zu anderen Sprachtheoretikern zu tun ist, bringt Scholems „Ontologisierung der Sprache"17 in Verbindung mit seiner „Phänomenologie der mystischen Erfahrung"18, nämlich mit seiner Behauptung, daß die jüdische Mystik keine wirkliche Unio mystica kenne. Danach tritt das Symbol völlig an die Stelle der immittelbaren Erfahrung mit dem Göttlichen. Das Transzendente bleibt nur mittelbar erreichbar, über die Sprache, über die sprachliche Überlieferung und ihre Interpretation, die aber als Medium des Göttlichen keineswegs degradiert, sondern aufgewertet wird. Wo die Möglichkeit direkter Erfahrung des Göttlichen geleugnet wird, kann die indirekte Verbindung mit ihm nicht zweitrangig sein. In der Deutung der Historiker der modernen jüdischen Geistesgeschichte, der Philosophen und

15

16

17 18

Biale, Counter-History, 86. Biales Betonung der Bedeutung Benjamins und Bubers wird durch die Publikation des Nachlasses bestätigt, z.B. im Brief vom 9.10.1916 an S. Lehmann: „Chassidische Worte haben eine Seele, und diese Seele ist irgendwie [...] mit der magischen Form der Sprache verbunden, und wird durch eine Ubersetzung im Zentrum gebeugt. [...] Uber den Zaddiq kam Hitlahabut nicht, als er in der Thora las 'Gott sprach', sondern als er las 'wajomer'." (Briefe I, 48; Hervorhebung i.O.) Letzteres bezieht sich auf ein Zitat aus Die Legende des baalschem (Buber, Werke III, 21). Vgl. auch Tagebücher 1913-1917, 404.466, gegen die „falsche bürgerliche Auffassung von Sprache, die auch Buber hat". Vgl. auch Breslauer, Buber on Myth, bes. 271ff. (wonach Bubers negative und Scholems positive Wertung der Sprache den klärenden Hintergrund für die Chassidismus-Kontroverse abgeben). Rotenstreich, Symbolism and Transcendence, 608. Ebd., 610f.; vgl. Mendes-Flohr, The Spiritual Quest, 10-14; Handelman, Fragments of Redemption, bes. xxii; auch Shaul Magid versteht die Sprachtheorie als „defining factor" der Einstellung Scholems zur religiösen Erfahrung (Scholem's Ambivalence, 246).

Kabbalistischer Symbolismus

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Literaturwissenschaftler erscheint letztlich das „Geheimnis in der Sprache" als das eigentlich Göttliche oder Transzendente bei Scholem — jenes Geheimnis, von dem der Kabbalaforscher im letzten Absatz seines Sprachtheorie-huiszxzts, spricht. Dort bescheinigt er den säkularen modernen Dichtern, daß sie die symbolische Sprachauffassung mit den Kabbalisten teilen, nämlich den ,,Glaube[n] an die Sprache als ein wie immer dialektisch aufgerissenes Absolutem, [...] an das hörbar gewordene Geheimnis in der Sprache"19. Allerdings war der Mystikforscher bei aller Hochschätzung der Dichter von einer großen Sorge getrieben um die „Würde der Sprache [...], aus der sich Gott zurückgezogen haben wird" 20 . Das verbreitete Bild von Scholems Auffassung von symbolischer und mittelbarer Beziehung zum Absoluten, von seiner Aufwertung der Sprache und Abwertung der unmittelbaren religiösen Erfahrung, im Sinne eines voroder unsprachlichen „Erlebnisses" von Transzendenz, stellt den Kabbalaforscher in einen radikalen Gegensatz nicht nur zu Martin Bubers früher Erlebnismystik, zum späteren religiösen Existentialismus und zur Lebensphilosophie, wie sie die Jugendbewegung Anfang des Jahrhunderts beeinflußte.21 Es impliziert auch eine fundamentale Kluft zu den meisten Vertretern der älteren Allgemeinen Religionsgeschichte und den Vätern der Religionsphänomenologie, für die die religiöse Erfahrung des Göttlichen oder des Transzendenten, das Erlebnis des Heiligen oder des Numinosen, das entscheidende Moment ist, das der Anwendung des Adjektivs religiös auf eine historische Erscheinung ihren eigentlichen Sinn verleiht. Dieser Eindruck eines tiefen Grabens zwischen Scholem und der klassischen Religionsphänomeno19 20

21

Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: Judaica 3, 70. Ebd.; vgl. Scholems frühes Bekenntnis über unsere Sprache, in: Mosès, Der Engel der Geschichte, 215-234; dazu auch Wohlfarth, „Haarscharf an der Grenze ...", 197f. Wie in Kap. 1 erwähnt vermutete bereits Th.W. Adorno in seinem Gruß an Gershom G. Scholem den Grund für Scholems Rückzug auf die Position des distanzierten Gelehrten „in der geisteswissenschaftlichen Situation, in der der Existentialismus, zumal dessen jüdische Variante, das subjektive Moment religiöser Erfahrung so sehr betonte. Nachgerade fiel es schwer, Theologie von purer Lebensphilosophie zu unterscheiden". Dabei ist vor allem H.J. Schoeps Scholems erklärter Gegner, der Adressat seines Offenen Briefes von 1937 (Briefe I, 466-471; vgl. Biale, Counter-History, 94-97; Scholem's Unhistorical Aphorisms, 87). Vgl. auch Handelman, Fragments of Redemption, 61: „The key question for Benjamin and Scholem was: Where could an authentic mode of concretion be found, and one that was not dangerous like the simplistic immediacy of Lebensphibsophie?" Auch E. Lévinas teilte mit beiden „this disapproval of Buber, like them he has a negative attitude toward desires for immediate experience, and a positive toward language as meditation and medium of revelation through time" (ebd., 20).

170

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

logie soll im folgenden hinterfragt werden, indem das Augenmerk einmal nicht auf die sprachphilosophischen, sondern die religionsgeschichtlichen Aspekte der Scholemschen Kabbaladeutung und ihre Zusammenhänge mit religionsgeschichtlichen Theorien gerichtet werden soll. Den Ausgangspunkt der Analyse soll die Scholems ganzes Werk durchziehende These bilden, daß die jüdische Religion durch die Kabbala lebendig gehalten wurde, weil sie mit ihrer symbolischen Deutung der religiösen Überlieferung das mythische Denken wiederauferstehen ließ.

5.2 Das mythische Denken

5.2.1 Mythos als Einheitsbewußtsein Die Idee einer symbolischen Auslegung der Tradition und die Theorie einer Repristination des Mythos in der Kabbala sind so eng miteinander verknüpft, daß Scholem gelegentlich die Adjektive symbolisch und mythisch synonym gebraucht. Dennoch scheint er aber grundsätzlich zwischen dem Begriff des Symbols und dem des Mythos zu differenzieren, etwa wenn er feststellt: Mythologie erscheint überall dort unausweichlich, wo die Realität in symbolischen Formen verstanden wird. Die Kabbalisten schufen nicht nur symbolische Bilder von den historischen Gegebenheiten, in denen sie lebten, sondern sie hauchten ihren Bildern auch die Vitalität genuiner Mythen ein. 2 2

Umgekehrt erklärt er einmal, die mythischen Bilder würden in der Esoterik zu mystischen Symbolen, indem sie mit mystischen Theologumena verbunden werden, wohingegen sie im Exoterischen nur als Metaphern geduldet würden.23 Es sind also nicht alle „Bilder von mythischem Gehalt" gleichzeitig auch Symbole, nämlich dann nicht, wenn sie nur metaphorisch verstanden werden, und nicht alle Symbole sind zwangsläufig mythische Bilder, sondern nur dann, wenn sie spezifische Motive aufgreifen. Im ersten Fall spricht Scholem auch von „zur Metapher gewordenen quasi-mythischen Rückständen"24. Alle Beispiele für wirkliche oder genuine mythische Motive, die oben (in Kap. 4.2.2) angeführt wurden, stammen aus der Religionsgeschichte. 22 23 24

Sabbatai Zwi, 44. Vgl. Schi'ur Koma, in: Gestalt der Gottheit, 11 f. Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 118.

171

Das mythische Denken

Was in späteren Mythostheorien moderne oder säkulare Mythen genannt wird,25 würde Scholem wohl eher profane Symbole nennen, sofern der Bezug zu aus der Religionsgeschichte bekannten Motiven fehlt.26 Dementsprechend verwendet der Kabbalaforscher die Ausdrücke „mythisches Denken" und „symbolisches Denken" nicht als Synonyme. Das mythische Denken ist ein Stadium des religiösen Bewußtseins, das auf symbolischer Weltanschauung basiert, aber nicht mit ihr identisch ist; es ist eine besondere, religiöse Form des symbolischen Denkens. So können säkulare Dichter, obwohl sie die theologischen Formulierungen der Kabbalisten verwerfen, die symbolische Sprachauflassung mit ihnen teilen; dies macht sie aber nicht zu Vertretern des mythischen Bewußtseins. So oft Scholem von Mythos oder mythischem Denken spricht, so selten erläutert er, was er eigentlich damit meint. Das zentrale Charakteristikum der romantischen Philosophie des Mythos, die Narrativität des sermo mythicus, das in Bibelwissenschaft und Religionsgeschichte früh Einzug gehalten hat und das in der jüngeren Religionswissenschaft von besonderer Bedeutung ist,27 erwähnt ausgerechnet der Sprachtheoretiker Scholem nur beiläufig, ohne es näher auszuführen. Gemeint ist die Anekdote zu Beginn des My/Ααί-Vortrags über den Jerusalemer Kabbalisten, der dem um Unterweisung bittenden jungen Mann das Fragen verbot. Scholem sieht hierin einen Hinweis auf den sich noch in spätesten Formen erhaltenden Gehalt erzählenden, aber nicht mehr

fragenden

Denkens,

einer, um

Schellings

Ausdruck

zu

gebrauchen,

'erzählenden Philosophie', wie sie dem großen Philosophen der Mythologie als Ideal erschien. 28

Funktion und Bedeutung der Urzeit und der wirklichkeitsetzenden Ursprungsereignisse, der Eliadeschen Archetypen oder „Archái", wie sie Kurt Hübner 25

Vg}. z.B. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964 (in erweiterter Fas-

26

Vgl. Das Davidschild, in: Judaica 1 , 7 7 , zur Symbolik von Hammer und Sichel.

sung zuerst unter dem Titel Mythologies, Paris 1957). 27

Vgl. C. Hartlich/W. Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, bes. 15f.29; für die neuere Religionsgeschichte vgj. W. Burkert, Mythisches Denken, in: H. Poser (Hg.), Philosophie und Mythos, Berlin-New York 1979, 16-39, oder F. Stolz, Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos, in H.H. Schmidt (Hg.), Mythos und Rationalität, Gütersloh 1988, 81-103.

28

Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 117 (der junge Mann ist, wie bereits oben in Kap. 2.1.5 erwähnt, Scholem selbst). Auch Bemerkungen über die bildhafte Sprache des Mythos (z.B. Oevarim bego, 231f.) werden nie weiter ausgeführt und erläutert.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

nach V. Gronbech nennt,29 spielen bei Scholem keine nennenswerte Rolle, auch nicht im Zusammenhang mit dem remythisierenden, vergegenwärtigenden Ritus der Kabbalisten. Nur nebenbei begegnet einmal die Analogie von Urzeit und Endzeit, im Zusammenhang mit dem utopischen Messianismus der Mystiker, die die zukünftige Endzeit als Wiederherstellung des Davidreiches und paradiesischer Verhältnisse erwarten; sie wird aber nicht als Merkmal des Mythischen thematisiert.30 Um so mehr Gewicht erhält die einzig explizite Definition des Mythos als „Stadium der Religionsgeschichte" im ersten Kapitel von Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, genauer als eines der drei Stadien Mythos, Religion und Mystik, deren Schauplätze der Begegnung zwischen Mensch und Gott je die Natur, die Geschichte und die Seele seien. Wörtlich heißt es hier: solange die Kluft zwischen dem Menschlichen und Göttlichen noch gar nicht als eine wirkliche, an die Seele greifende Tatsache sich aufgetan hat, kann Mystik nicht existieren. Das aber ist die Welt des Mythos, der Jugend der Völker. 3 1

Der Historiker nennt keine Quellen für seine alles in allem nur sehr kurz ausgeführten Überlegungen. Fast zwanzig Jahre später, im Vortrag über Mysticism and Society, bekundet er sein Einverständnis mit der Auffassung derer, die in der Mystik ein sekundäres Stadium der religiösen Entwicklung sehen.32. Insofern diese Bemerkung unmittelbar der Zustimmung zu Troeltschs Definition der Mystik als Streben nach unmittelbarer Erfahrung folgt, stellt sie ganz allgemein einen gewissen Bezug her zur Religionsgeschichtlichen Schule und klassischen Religionsphänomenologie, für die in der Tat die Mystik „immer etwas Sekundäres und etwas Absichtlich-Reflektiertes"33 ist. Ausführlicher bezieht Scholem sich im selben Vortrag auf Leo Baecks Unterscheidung eines romantischen und eines klassischen Stadiums der Religion34. Mindestens 29

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Vgl. K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 135-141; dazu die Kritik von Stolz, Der mythische Umgang mit der Rationalität, 89 Anm. 38. Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Grundbegriffe, 137. Hauptströmungen, 8. Vgl. Mysticism and Society, 3. Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 850; zur Definition der Mystik s.u. Kap. 5.3.4. Vgl. Mysticism and Society, 8. Biale verweist auf das Baeck-Zitat (ausschließlich), vermutet aber (wie später Davidowicz, Gershom Scholem und Martin Buber, 83), daß Scholem sein dreistufiges Geschichtsbild von Molitor übernommen habe. Problematisch scheint mir die Interpretation der ausdrücklich allgemein-religionsgeschichtlichen Stadien als „Periodisierung der jüdischen Geschichte" (Counter-History, 120f.). St.B. Smith, Gershom Scholem and Leo Strauss, 214, assoziiert Hegels Philosophie der

Das mythische Denken

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ebenso wichtig wie Troeltsch und Baeck, speziell für die Rede von „Stadien des religiösen Bewußtseins", dürfte aber auch das religionsphänomenologische Werk Die Mystik in der Fülle ihrer Erscheinungsformen von Georg Mehlis gewesen sein. Nicht ohne Grund wird Scholem diese Einführung, deren erste Auflage 1926 erschien, in die kurze Literaturliste seines ersten Hauptwerkes unter der Rubrik „Über Mystik im allgemeinen" aufgenommen haben.35 Mehlis' Buch will einfuhren in das „Urphänomen"36 der Mystik. Im ersten Kapitel beschreibt der Verfasser ausführlich ihr Wesen, auch Typus oder Idee genannt, in Unterscheidung von ihrer „historischen Gestalt" bzw. den konkreten Gestaltungen (von denen die christliche Mystik natürlich die reinste und höchste ist).37 Danach ist Mystik die „Religion der Seele" und als solche „eine Form des religiösen Bewußtseins, für welches die Irrationalität der Gottheit, die 'reine Seele' und der Einheitscharakter besonders bezeichnend sind"38 bzw. „in welcher die Überwindung der Trennung der irrationalen Gottheit und der reinen Seele schon in diesem Leben bis zur vollkommenen Wesensvereinigung ersehnt und gefordert wird"39. Sie verbindet sich, heißt es in nahezu wörtlicher Übereinstimmung mit Scholem, nie „mit der Jugend eines Volkes", denn „solange die Kluft zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen sich noch nicht aufgetan hat, solange kann auch von Mystik nicht die Rede sein"40. Mehlis betont den Gegensatz der Mystik zu anderen „Formen des religiösen Lebens", nämlich sowohl zur dogmatischen Religion41 als auch zum Polytheismus, wo die Kluft zwischen Gott und Mensch fehlt, die

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Geschichte; Schweid, Judaism and Mysticism, 25f., bemängelt nur allgemein die Unklarheit in der Beschreibung der Stadien; er sieht darin primär den Versuch, die Notwendigkeit von Mystik in jeder Religion, einschließlich der jüdischen, zu begründen. Ich zitiere im folgenden die Münchner Ausgabe von 1927 aus der Scholem Library. In Scholems Bibliothek findet sich vom selben Autor auch: Die deutsche Romantik, München 1922. Mehlis, Die Mystik, 26. Ebd., 12. Als „klassisch phänomenologisch" erweist sich Mehlis' Wesensbestimmung im einzelnen etwa durch die Definition von Mystik als religiösem Gefühl (21), die Betonung der „asozialen Grundeinstellung" (26) und des „Individualismus der Mystik" (19), die eine Sache des religiösen Genies (70) ist, den Gegensatz von dogmatischer Religion und Mystik (17ff.) oder auch die typologische Gegenüberstellung von Prophet und Mystiker (26). Ebd., 20. Ebd., 22. Ebd., 11. Vgl. ebd., 19: „Die Mystik lehrt den unmittelbaren Weg zu Gott, das Dogma lehrt die Fülle der Gnadenmittel, durch die der Mensch zu Gott gelangen kann."

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

zu überwinden wäre, und zur „philosophischen Religion der Griechen", die die unüberwindliche Distanz von göttlichem und menschlichem Wesen zum religiösen Vorstellungsinhalt erhob.42 Das zentrale Charakteristikum des mythischen Denkens ist bei Scholem wie bei Mehlis das Bewußtsein „der Einheit von Mensch, Welt und Gott", der „monistische Kosmos"43. Das Entscheidende - und Positive, weil Belebende an der Wiederauferstehung des Mythos in der Mystik ist für den Mystikforscher, daß sie diese Einheit von Menschlichem und Göttlichem wieder ins religiöse Bewußtsein kommen läßt, eine Einheit, die nun nicht mehr in der äußeren Erscheinungswelt, sondern im Innern des Menschen, in der Seele statthat. Diese Einheit wird tatsächlich „wiederhergestellt", auch wenn er betont, daß freilich nicht übersehen werden darf, daß ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen einer Einheit, die vor aller Entzweiung liegt, und einer Einheit, die in einem neuen Aufschwung des Bewußtseins wiederhergestellt wird.44

Das Einheitsbewußtsein des Mystikers ist nicht mehr das „unmittelbare Bewußtsein von der Verbindung von allem mit allem, einer Verbindung, die noch vor der Trennung hegt und von Trennung im Grunde noch nichts weiß"45. Die Art der Beziehung zwischen Mensch und Gott steht im Zentrum von Scholems Mythosbegriff. Dies wird besonders deutlich im Vergleich mit der Dichotomie von Mythos und Geschichte. In der bibelwissenschaftlichen Mythosdiskussion stellt die Verhältnisbestimmung zwischen mythischem und geschichtlichem Denken das Schlüsselproblem dar. Für den historischkritischen Exegeten der Bibel und ganz besonders den christlichen Exegeten des Neuen Testaments ist die seit Wilhelm Martin Leberecht de Wette immer wieder neu diskutierte Frage zentral, ob die Bibel als Mythos gelesen werden muß und also nicht als Bericht historischer Realität interpretiert werden kann.46 Scholem nimmt auf die Dichotomie sehr wohl Bezug, wenn er im 42 43 44 45

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Ebd., 25. Hauptströmungen, 8. Ebd., 9. Ebd., 8 (Hervorhebung i.O.). „Und zugleich", heißt es weiter, „ist es verständlich, daß gewisse Züge dieses Bewußtseins der Einheit aller Dinge der Mystiker auf anderer Ebene und verwandelt wiederkehren." Hartlich/Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffs, 92-96; typisch z.B. G. Stählin, Art. μύθος, ThWNT 4, 1942, 769-803, bes. 771; J. Schreiner, Mythos und Altes Testament, in: H.J. Bosch/H.M. Köster (Hg.), Mythos und Glaube, Essen 1972, 53-65; vgl. noch die erregte Diskussion um die Bibelexegese des katholischen Theologen Eugen Drewer-

Das mythische Denken

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Stadium der Religion den Schauplatz der Gottesbegegnung in der Natur mit dem in der Geschichte vertauscht sieht. Sie kehrt auch im Eranosvortrag über den Ritus der Kabbalisten wieder, wo die unmythischen jüdischen Riten geschichtlicher Erinnnerung der mythischen Vergegenwärtigung kabbalistischer Riten gegenübergestellt werden. Wie wenig es Scholem aber um die Beziehung von Mythos und „wahrer" Geschichte geht,47 zeigt sich nicht nur darin, daß er den Unterschied zwischen historischer und mythischer Zeitvorstellung und die Historizität des den Ritus stiftenden bzw. im Mythos erzählten Ereignisses nicht problematisiert. Noch aufschlußreicher sind seine Äußerungen zum Verhältnis von Bibel und Mythos, die sich verstreut in den Eranosvorträgen finden. Sie zeigen zugleich, daß Scholem, der in seinen späteren Schriften nicht mehr wie im ersten Kapitel Hauptströmungen vom Stadium des monistischen Einheitsbewußtseins spricht, der Sache nach seiner frühen Mythosdefinition weiterhin verpflichtet ist. In offener Polemik gegen Versuche seitens skandinavischer Alttestamender in den dreißiger und vierziger Jahren, aber auch gegen Hermann Gunkel, vertritt Scholem einerseits die These einer „Tendenz [...] zur Liquidation des Mythos"48 in der biblischen Prophetie. Andererseits zögert er nicht, Teile des Pentateuchs als mythisch zu bezeichnen, indem er beispielsweise vom „Mythos vom Baum der Erkenntnis"49 spricht — durchaus im Gefolge von

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mann, dessen Wahrheit „keine geschichtliche Offenbarungswahiheit mehr [war], sondern die ubiquitäre Wahrheit der menschlichen Seele" (G. Lohfink/R. Pesch, Tiefenpsychologie und keine Exegese, Stuttgart 1987,20). Ein Problem, das Scholem in seinem jugendlichen Kampf um die „Göttlichkeit der Bibel" noch stark beschäftigt hat, bis er die Einsicht in die Gegenstandslosigkeit der historischen Bibelkritik gewonnen hat (s.o. Kap. 3.1). Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 118; vgl. Schechina, in: Gestalt der Gottheit, 136; sowie Schweid, Judaism and Mysticism, 69-78; Mopsik, Une quérelle, 22; Idei, Rabbinism versus Kabbalism, 283. - Was Hermann Gunkel betrifft, fand dieser in der Tat überall mythische Urformen und Stoffe, und dies nicht nur in der Genesis: „Viel stärker als in der Urgeschichte tritt uns das Mythische entgegen bei atlichen Dichtem und in poetischen Stücken der Propheten." (H. Gunkel, Art. Mythus und Mythologie, RGG 2 IV, 1930, 385.) Trotzdem ist er - wie Scholem - der Meinung, daß Israel den Mythen ,.nicht günstig" gewesen ist (ebd.; 381; Genesis, XIV), und fuhrt dies zurück auf den Monotheismus (contra „Göttergeschichte"), die Verbindung von Religion und Sittlichkeit und die Ablehnung jenes „Verflochtensein[s] der Gottheit in die Natur" (Art. Mythus, 381), das Scholem „pantheistische All-Einheit" nennt. Sina Achra, in: Gestalt der Gottheit, 68. Andernorts verteidigt er die Rede vom „Mythos der Strafe im Alten Testament", obwohl „der Bruch mit der Welt der polytheistischen Mythologie in der biblischen Religion von so zentraler Bedeutung [war], daß die Rede von den Mythen des Monodieismus den Theologen einen gelinden Schrecken einjagte.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Gunkels Sagen der Genesis.50 Was Scholem eigentlich interessiert, ist auf jeden Fall, daß der ethische Monotheismus der biblischen Propheten den Versuch darstellte, gegen die pantheistische All-Einheit von Gott, Kosmos und Mensch im Mythos, gegen die Naturmythen der vorderasiatischen Religionen [...] einen Abgrund zwischen allen drei Sphären aufzureißen, der besonders zwischen dem Schöpfer und seiner Kreatur hier wesentlich unüberbrückbar blieb.51

Nicht das unterschiedliche Zeit- oder Geschichtsverständnis und auch nicht die Kluft zwischen Mono- und Polytheismus sind für die Verhältnisbestimmung von Bibel und Mythos bei Scholem entscheidend, sondern die Differenz zum „Pantheismus" orientalischer Naturmythen, d.h. zu eben jenem monistischem Einheitsbewußtseins des ersten Kapitels der Hauptströmungen. Monotheismus und Mythos sind darum für den Kabbalaforscher auch nicht prinzipiell unvereinbar, wie für die große Zahl der biblischen Theologen, die der Bibel insgesamt das Mythische absprechen. Nur der sogenannte philosophisch reine oder dogmatische Eingottglaube schließt in Scholems Konzept mythisches Denken aus, betont er doch wiederholt die Gegensätzlichkeit des unmythischen, aber philosophisch reinen Monotheismus der Propheten (und Rabbinen) zum lebendigen Gottesbild des Mythos, das der mythische Monotheismus der Kabbalisten bewahrte oder wiederbelebte. Biblische Hypostasierungen etwa der Weisheit, mögen sie auch mehr als nur poetische Personifizierung sein, sind für Scholem nicht wirklich mythisch, weil sie keine Kräfte oder Aspekte der lebendigen, dynamisch gedachten Gottheit selbst darstellen.52 Weniger die Vielzahl der Götter als die Dynamik und Lebendigkeit der Gottesvorstellung gilt als typisch mythisch.

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Ich glaube aber, wir dürfen uns über diesen Widerspruch hinwegsetzen, der philosophisch auf schwachen Füßen steht und der die verständige und durchsichtige Geistigkeit dieser Mythen, um mit einem bedeutenden Autor zu sprechen, als eine Instanz gegen ihren mythischen Charakter betrachtet." (Über Sünde und Strafe, 4 = On Sin and Punishment, 164) Mit dem bedeutenden Autor spielt Scholem offensichtlich an auf G. von Rad, Theologie des Alten Testaments I, 4. Aufl. München 1962,154f. VgJ. H. Gunkel, Genesis, 9. Aufl., Göttingen 1977, 26-40. Bekanntlich sah Gunkel bes. in Gen 1 schon seit Schöpfung und Chaos (1895) „immer wieder mythische Anklänge durchschimmern [...], die ja jenen Vergleich mit dem babylonischen Schöpfungsmythos erst in Gang brachten" (Klatt, Hermann Gunkel, 130). Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 118. VgJ. Schechina, in: Gestalt der Gottheit, 137f., Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 118, sowie Schi'ur Koma, in: Gestalt der Gottheit, 7-12; Farben und

Das mythische Denken 5.2.2

177

Das primitive Denken

Man kann sich vorstellen, daß Scholems erwähnte Unzufriedenheit mit dem ersten Kapitel der Hauptströmungen sich unter anderem der Definition des Mythos als träumerisches Stadium der Alleinheit von Gott, Mensch und Natur verdankt, bewegt er sich doch damit ganz in der Nähe von Martin Bubers Ideen zu einem „Monismus" als der „erlebten Einheit" der Welt 5 3 . Mit seinen wenigen Sätzen entwirft der Kabbalaforscher das Bild einer „mythischen Zeit, [...] jener kindheitlichen Zeit ursprünglichen, noch unzertrennten Daseins" 54 , wie sie der frühe Buber in seinen Reden über das Judentum beschwört — und wie es auch dem in der Religionsphänomenologie beliebten Postulat einer v o m „Gesetz der Teilhabe" 55 bestimmten mentalité primitive sehr nahe kommt. 5 6

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ihre Symbolik, in: Judaica 3, 99, zum Bilderverbot als „Revolution des Monotheismus" gegen die sinnliche Naturreligion seiner altorientalischen Umwelt. Bereits im GoldbergBrief von 1928 erscheint Scholem die „Todfeindschaft" zwischen Theologie und Mythos als „der welthistorische Kampf der Religionsgeschichte" (Briefe I, 239; vgl. auch GeF, 79). Vgl. Buber, Mit einem Monisten, in: Ereignisse und Begegnungen, Leipzig 1917, 22-36 (Zitate: 35f.); Scholem, Judaica 2, 153.158f., mit Hinweis auf Arthur Bonus, dessen Schriften „damals eine große Rolle" spielten; dazu die Notiz vom 4.1.1915 zu Bonus, „der die Lehre vom Mythos aufgestellt hat vor Buber" (Scholem, Tagebücher 19131917, I i i ) . Bonus, der den Mythos primär durch das „unmittelbare Erleben" charakterisiert (vgl. Bonus, Vom neuen Mythos, Jena 1911), ist einer der wichtigsten Repräsentanten der „Neuen Mystik", wie sie der Diederichs-Verlag zum Programm erhob (vgl. K. Hübinger, Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen-Diederichs-Verlags im Wilhelminismus, in: H. Renz/F. W. Graf (Hg.), Umstrittene Moderne, Gütersloh 1987, 103; G.L. Mosse, The Crisis of German Ideology, New York 1964, 53-66, dazu wiederum Scholem an Mosse am 12.1.1965: „I enjoyed especially your chapter on Eugen Diederichs." [Briefe II, 122]). Buber, Der Jude und sein Judentum, 23; vgl. Scholem, Tagebücher 1913-1917,69.106f. So der Titel des deutschen Auszugs von L. Lévy-Bruhl, Les Fonctions Mentales dans les Sociétés Inférieures, 5. Aufl., Paris 1912, 68-110, in: L. Petzold (Hg.), Magie und Religion, Darmstadt 1978, 1-26; vgl. E.E. Evans-Pritchard, Theorien über Primitive Religion, Frankfurt/M. 1968, 121-137. Vgl. auch Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, 256f. Scholems (und Mehlis") Einheitsbewußtsein ähnelt besonders der Charakterisierung der „unio magica" (als das vom Einheitserleben bestimmte „Lebensgefuhl" der Primitiven) bei C.H. Ratschow, Magie und Religion, Gütersloh 1947, noch mehr als G. v.d. Leeuws Phänomenologie der Religion (vgl. bes. 515-519, und den Art. Primitive Religion, RGG2, 1929, 1497). Ratschow hat noch 1991 (Art. Magie I, TRE 21, 691) nur lobende Worte fur Lévy-Bruhl übrig und vergleicht seine „unio magica" mit dessen Idee der Partizipation. Daß Scholem sich intensiv mit Lévy-Bruhl auseinandersetzte, bezeugt der

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Auf jeden Fall erscheint bei Scholem das mythische Bewußtsein - und noch mehr dessen praktisch-rituelles Pendant, die Magie - in bester klassischphänomenologischer Tradition als Ausdruck der primitiven und der volkstümlichen Religiosität; eine Weltsicht, die in den mythischen Religionen archaischer Zeiten und den Religionen sogenannter primitiver, „urzuständlicher" Völker vorherrscht und sich in den Schriftkulturen vor allem in der naiven Volksreligion erhalten hat. Gewiß will Scholem seine Stadien der Religionsgeschichte gewiß nicht an konkrete historische Daten gebunden wissen. 57 Man spürt aber deutlich eine innere Affinität zu den Restbeständen des religionsgeschichtlichen Evolutionismus, und zwar nicht nur im ersten Kapitel der Hauptströmungen, wo er von der „Jugend der Völker" spricht, sondern auch sonst, wenn er das archaische Alter, die „uralte" Herkunft eines mythischen Motivs behauptet wie im Falle der „orgiastischen Zeremonien des 'Verlöschens der Lichter"', in denen „uralte, versunken geglaubte Schichten der Seele"58 aufbrechen. Die „mythisch-magische Weltsicht" ist für den Kabbalaforscher die des naiven, „von tausend mythischen Ängsten gejagte[n] Mensch[en], der Hilfe sucht".59 Wiederholt erklärt er Mythos und Magie als primitive Form der Angstbewältigung und vertritt damit nichts anderes als das von Ethnologen jüngerer Generationen heftig kritisierte Bild des „in einer abergläubisch-mystischen Welt und in ständiger Furcht vor dem Übernatürlichen lebenden, dem Zwang einer unbegriffenen und übermächtigen Tradition unterworfenen Primitiven"60. Auf ebenso heftige Kritik stieß auch die Theorie eines primitiven Glaubens an die intrinsische Wirkung der Worte, die für

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Brief vom 27.12.1962 an K. Rudolph, den er auf Lévy-Bruhls Widerruf seiner Hauptthesen in den posthum veröffentlichen Tagebüchern hinweist (Briefe II, 90f.): „Diese Hefte verdienen grosse Aufmerksamkeit und die Gerechtigkeit, dies festzustellen muss ihm auch der Gegner entgelten lassen." Bezeichnenderweise fügt er (mit Bezug auf Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität, 29) hinzu: „Von Ihrer Erklärung dieser Theorien als ideologischem Ausdruck der Praxis des europäischen Kolonialismus bin ich gar nicht überzeugt." Vgl. Biale, Counter-History, 123 („His periodization of Jewish history is not chronological but conceptual, and is linked to his implicit rejection of linear progess in history.") mit Weiner, 9 1/2 Mystics, 74 (der die Stadien als Scholems „evolutionary programm" bezeichnet, das der Tendenz des 20. Jahrhunderts entspreche, religiöse Entwicklung als Fortschritt in Richtung Aufklärung zu begreifen). Zum Verständnis des Sabbatianismus, 39. Geheimnisse der Schöpfung, 47. K - Η . Kohl, Fetisch, Tabu, Totem, in: B. Gladigow/H.G. Kippenberg (Hg.), Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983, 69f.; vgl. Scholem, Judaica 1, 80; Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 134.207.

Das mythische Denken

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Scholem wie fur die religionsgeschichtliche Forschung unterschiedlichster Richtung - teilweise bis heute - völlig selbstverständlich ist. Als Ethnologen in den letzten dreißig Jahren diese Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen begannen, suchten sie die ältere Theorie durch diverse neue Konzepte zu ersetzen, denen bei allen Differenzen eines gemeinsam ist: Sie wollen nicht mehr von einer besonderen (und rückständigen) Sprachauffassung ausgehen, die nur den Menschen einer bestimmten Kulturstufe eigen ist.61 In den Hauptströmungen vergleicht Scholem den Volksglauben mit der „primitiven Denkweise"62 des Animismus: Am Erfolg der lurianischen Seelenwanderungslehre habe die historische (Exils-)Situation einen „mindestens ebenso großen Anteil [...], wie etwa das, was man eine allgemeine Disposition zum Animismus nennen könnte. Der Volksglaube neigt dazu, alles Seiende zu beleben und handeln zu lassen."63 Gerade dieses letzte Zitat erinnert sehr an ältere religionsgeschichtliche Darstellungen wie die von Wilhelm Bousset, der unter den eschatologischen Vorstellungen Piatons „uralte animistische Elemente eines volkstümlichen Gespensterglaubens" ausmacht.64 Für den Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule ist es ein unbestrittenes „allgemeines Gesetz religiösen Lebens", daß der uralte Geisterglaube aus der Anfangszeit der Religion, der den „tiefsten Urgrund alles religiösen Lebens" verkörpert, nie ganz überwunden wird, sondern in Gestalt magischer Dämonologie bei Brüchigwerden des

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Vgl. die Diskussion in der anthropologischen Zeitschrift Man Ende der 60er Jahre. Magische Formeln sollen demnach als wirksam gelten, nicht weil sie in sich eine besondere Kraft besitzen, sondern weil sie die Sprache der Dämonen oder der Mächte sprechen, die sie zur Wirkung auffordern; dahinter stehe also keine eigentümliche Vorstellung von mysteriösen Gesetzen, sondern die (sprachtheoretisch) völlig „normale" Auffassung, daß Expertenwissen sich in unverständlichen Termini ausdrückt, weil man mit besonderen Wesen in einer Fachsprache kommunizieren muß (vgl. S.J. Tambiah, The Magical Power of Word, Man 3, 1968, 175-208, bes. 177f.; H. Philsooph, Primitive Magic and Mana, Man 6, 1971, 182-203). Man begann, in der Interpretation magischer Formeln als performative Sprechakte (bzw. als Äußerungen mit illokutionärer Rolle im Sinne J.L. Austins) eine alternative Erklärung zu suchen, „the truth, that lies behind the old, and, as I think, often naive assumptions about the supposed savage reliance on the 'magical power of the words'" (R. Finnegan, How to do things with words, Man 4,1969, 550); dies wiederum fand später Eingang in religionswissenschaftliche Theorien des Gebets (vgl. S.D. Gill, Art. Prayer, ER 11,1987,490f.). Hauptströmungen, 312. Ebd., l l f . ; vgl. auch Ha-Mistorin Ha-Jebudi, in: Devarim bego, 231f., zur Verbindung von primitivem Mythos und Volksreligion. Bousset, Himmelsreise der Seele, 65.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

höheren Glaubens „aus den Tiefen der Volksseele" wieder hervorbricht. 65 Dasselbe „Gesetz" setzt Friedrich Heiler stillschweigend als selbstverständlich voraus, wenn er die katholischen Sakramente als „uralte Erbstücke der primitiven Religion" 66 bezeichnet. Dahinter steht letztlich die alte Theorie magischer „Ueberlebsel (survival) in der Cultur" 67 , wie sie der Evolutionist E.B. Tylor einst in seinen „Victorian arm chairs" 68 ersonnen hat. Die Religionsgeschichtliche Schule und die klassische Religionsphänomenologie lehnten evolutionistische Theorien zwar radikal ab, sofern sie die Entwicklung der Religion aus dem Animismus oder der Magie (und hin zur Wissenschaft) behaupteten. 69 Sie leugneten aber keineswegs eine Evolution innerhalb der Religion, im Sinne einer „echten Entwicklungslehre", die eine „echte Evolution potenzreicher Keime" 7 0 , nämlich aus dem von Anfang an genuin religiösen Keim, behauptet. So konnten viele Züge der älteren Theorien über primitiven Animismus und Managlauben überdauern, abgesehen davon, daß die Konzeption eines Numinosen überhaupt ohne die Annahme eines primitiven Glaubens an eine unpersönliche, ehrfurchtgebietende Mana-Kraft undenkbar wäre. 71

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Bousset, Religion des Judentums, 331; vgl. auch die Definition von Hypostasen als „Zwitterbildungen eines kindlichen, zur vollen Abstraktion noch unfähigen Denkens" (ebd., 336) oder die Überlegungen zur religiösen „Rückentwicklung" zum Aberglauben (ebd., 452). Heiler, Das Wesen des Katholizismus, 18. E.B. Tylor, Die Anfange der Cultur I, Leipzig 1873,134. J. Middleton, Theories of Magic, ER 9, 1987, 83. Vgl. Ottos Kritik von Wilhelm Wundt (Gefühl des Überweltlichen, Kap. IV; sowie ebd., 79f.). Wobei Otto anders als Bousset den Gespensterglauben als Abfall- oder Nebenprodukte betrachtet, die nicht (wie die Magie) Ausgang für die Idee eines wirklichen Numen seien (ebd., 47). Otto, Rez. v. W. Hauer, Die Religionen, Berlin 1928, ChrW 38,1924,437. Vgl. G. Widengren, Evolutionistische Theorien auf dem Gebiet der Vergleichenden Religionswissenschaft (1945), in: Lanczkowski (Hg.), Selbstverständnis und Wesen, 87113, bes. 104; Baetke, in: Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, 344-351; Rudolph, Die Religionsgeschichte, 18; Kippenberg, Rivalität in der Religionswissenschaft, 72-78. Daß auch Tylors Evolutionismus nicht „ungetrübt" war, betont Kippenberg (unter Berufung auf J.W. Burrow) in: Die Entdeckung der Religionswissenschaft, 89. Kippenberg sieht allerdings bei aller Kontinuität im Evolutionismus die survivalTheorie in der Religionsphänomenologie vollständig abgelöst von der „Auffassung von Religionsgeschichte, die das Vergangene als gegenwärtige Option ansah" (ebd., 193), was in bezug auf das numinose Erlebnis sicher stimmt, nicht jedoch hinsichtlich der primitiven magisch-mythischen Vorstellungen und Ideen, die nach Bousset, Otto oder

Das mythische Denken

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Die ältere Religionswissenschaft behandelt die magischen Überlebsel in den höher entwickelten Erscheinungsformen der Religion, speziell im katholischen Christentum, unter dem Stichwort Sakramentalismus. Auch Scholem spricht entsprechend von der „Rückverwandlung der Halacha in ein Sakrament"72. Es fallt allerdings auf, daß er insgesamt Ausdrücke wie Sakrament oder Sakramentalisierung eher meidet und viel öfter magisch-mythisch nennt, was Bousset, Otto oder Heiler als „mystisch-sakramental" bezeichnen würden. Der eigentliche Grund dafür mag darin liegen, daß der Begriff des Sakraments sowohl bei Martin Buber als auch bei Franz Rosenzweig eine besondere Rolle spielt. Buber verwendet den Begriff für den „Bund des Absoluten mit dem Konkreten"73 im „neuen Pansakramentalismus"74 des Chassidismus; Rosenzweig vertritt eine sakramentale Auffassung der jüdischen Riten und Gebote als Vorwegnahme der Erlösung.75 Wie Bubers Deutung der chassidischen Heiligung des Alltags stieß auch Rosenzweigs „kirchliches" (d.h. des apokalyptischen Stachels der Erlösungssehnsucht beraubtes) Judentum bei Scholem auf wenig Gegenliebe.76 Darüber hinaus aber verweist der seltenere Gebrauch von Sakrament auf Scholems Distanzierung von der klassischen religionsphänomenologischen Verhältnisbestimmung von Magie und Religion. Der Begriff des Sakramentalen dient ja vor allem dazu, die magisch anmutenden Seiten der höher entwickelten Religion - sei es des antiken Judentums und Frühchristentums in den Schriften Boussets, sei es des Katholizismus im Falle Heilers - von reiner oder echter Magie zu unterscheiden.

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Heiler in der höheren Religion allenfalls im religiös ungebildeten (bzw. unbegabten) Volk „überleben". Hauptströmungen, 32, s.o. Kap. 4.2.2; in der Religionsgeschichtlichen Schule gilt das Sakrament wegen seiner Verbindung zu den „untersten Stufen des religiösen Lebens" als „rocher de bronce religionsgeschichtlicher Forschung" (Bousset, Die Religionsgeschichte und das neue Testament, 315). Vgl. auch Otto, Sakrament als Ereignis des Heiligen (1917), in: Sünde und Urschuld, 96-122. Buber, Werke III, 838 (im 5. Abschnitt der ChasHdischen Botschaft, der auf einen Eranosvortrag von 1934 zurückgeht und den Titel tragt „Sinnbildliche und sakramentale Existenz"). Ebd., 841. „Der jüdische Mensch und das jüdische Gesetz - zwischen beiden spielt sich da nichts weniger ab als der gott-, weit- und menschumfassende Vorgang der Erlösung" (F. Rosenzweig, Stem der Erlösung, 457); vgl. Mendes-Flohr, Divided Passions, 351-354; Mosès, Der Engel der Geschichte, 76ff. Vgl. Judaica 1,232f.; With Gershom Scholem, 20.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Scholem geht mehrfach auf die Scheidung zwischen Magie und Religion ein, unter ausdrücklicher Bezugnahme auf phänomenologische Deutungen der Mystik, zu denen er seine Position im Gegensatz sieht: Ist doch im Grunde die Geschichte der Kabbala, von innen gesehen, eben die der nie beendeten Auseinandersetzung, freundlicher und feindlicher, zwischen diesen beiden Grundhaltungen des Mystikers und Magiers [...]. Die in vielen heute einflußreichen Werken über Mystik (wie denen von Evelyn Underhill und Georg Mehlis) behauptete absolute Scheidung dieser zwei Typen verfehlt für weite Gebiete der historischen Erscheinungsformen der Mystik, keineswegs für die Kabbala allein, durchaus die wirkliche Sachlage und kann nur mit großen Einschränkungen verwandt werden.77

Daher rührt möglicherweise die skrupellosere Rede von den magisch-mythischen Elementen in der Religion, die kein Ausweichen auf den Begriff des Sakramentalen nötig hat. Allerdings tut Scholem gerade Evelyn Underhill in gewisser Weise Unrecht an, hebt sie doch durchaus hervor, daß die Grenzlinien zwischen Mystik und Magie keineswegs scharf ausgeprägt seien und daß alle Religion mit Magie durchdrungen wäre; sie betont sogar den notwendig magischen Charakter der Riten und Sakramente, die „auf das menschliche Gemüt wirken wollen" und deren Anhänger die „Macht auserlesener Rhythmen, symbolischer Worte und Bewegungen über den menschlichen Willen anerkennen"78. Außerdem können Scholems kritische Worte über die tatsächliche Verschränkung von mystischer Religion und Magie in der historischen Realität nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr er der prinzipiellen phänomenologischen Scheidung verpflichtet ist. Wenn er zum Beispiel hervorhebt, in der Merkabamystik seien „tief religiöse Inbrunst und mystischer Aufschwung mit der Magie [...] eine unlösliche Verbindung eingegangen"79, oder die Behauptung eines Absturzes der voluntaristischen Kawwana in Magie sei widerlegt durch die Beobachtung heutiger Kabbalisten, die den „mystischen Charakter dieser Devotion"80 erkennen läßt, so stimmt er durchaus mit der älteren Scheidung der religiösen Grundhaltungen überein, wie sie mit unterschiedlichen Gottesbildern oder Gottesverhältnissen begründet wurde. Dem Magier fehlt das Gefühl der Demut gegenüber dem persönlichen und allmächtigen Gott, er wendet Formeln und Riten an, die aus sich selbst wirken und ihm, 77

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Der Begriff der Kawwana, 508; vgl. Hauptströmungen, 157ff., zur „Grenzscheide zwischen Mystik und Magie", die sich näher berühren, „als man meist annimmt". Underhill, Mystik, 217 (vgl. ebd., 200.203.208.218). Hauptströmungen, 55. Ebd., 305.

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dem wissenden Magier, die Macht verleihen, die eigentlich dem Gott allein zusteht.81 Auch bezüglich der Theurgie der Merkabamystiker konstatiert Scholem den häufigen Absturz „in pure Magie"82, was einen prinzipiellen Gegensatz zwischen der mystischen Praxis und der nicht mehr mystischen, reinen Magie impliziert. Der klassischen Scheidung entspricht auch die Ambivalenz der Wertung in den Schriften des Kabbalaforschers, die ja keineswegs von blindem Enthusiasmus für die primitive oder volkstümliche Magie getragen sind. Wie die Rede vom Absturz der Mystik in die Magie mit einer Degradierung des Magischen einhergeht, so schlägt Scholem gelegentlich einen negativen Ton an, wenn er schreibt, an den Stellen über das Böse spreche der von irrationalen Ängsten gejagte Mensch und „es verstummt der Mystiker in ihm, dem wir viel tiefe Schau verdanken"83, oder wenn er magische Rituale merkwürdig, seltsam, fantastisch, orgastisch oder als Gefahr für den Geist bezeichnet.84 Eine Ambivalenz in der Einschätzung der primitiven Weltsicht, speziell im Hinblick auf die Magie, kommt nicht zuletzt auch in Scholems Deutung der kabbalistischen Sprachauffassung zum Ausdruck. Einerseits sucht er das Wissen um das Geheimnis in der Sprache als Erfahrung der modernen Dichter der Gegenwart verständlich zu machen, was an das Wort Walter Benjamins erinnert, es bringe „nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden"85. Andererseits trennt Scholem jedoch, wie oben ausführlich erläutert wurde, die magische Sprachauffassung von der mystischen Sprachtheorie der Kabbalisten. Die genuin magische Auffassung, historisch verstanden, d.h. die der antiken Quellen, bleibt doch die der „primitiven" (und nicht alltäglichen) Weltsicht. Und die Kabbala wird - wieder ganz im Sinne der klassischen religionsgeschichtlichen Dichotomie — von der Magie weg zur (mystischen) Religion hingeführt.

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Vgl. zur älteren Allgemeinen Religionsgeschichte z.B. Söderblom, Das Werden des Gottesglaubens, Leipzig 1916, 186-223; Der lebendige Gott, 30-35; Petzold (Hg.), Magie und Religion. Hauptströmungen, 84. Geheimnisse der Schöpfung, 47. Vgl. z.B. Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 163.175f.; außerdem unten (Kap. 5.3.4) zur Gefahrdung der lebendigen Religiosität durch die magisch-mythische Reaktion bei Scholem wie Heiler. Benjamin, Gesammelte Schriften I I / l , 307.

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Daß Scholem den magisch-mythischen survivals mehr Sinn und Bedeutung abgewinnt, als daß er ihre Merkwürdigkeiten oder Gefahren für die Religion betont, gehört zu den Seiten seiner Historiographie, die ihm den Ruf des neoromantischen, rebellischen Bürgerschrecks eintrugen. Aufschluß darüber, was der Kabbalaforscher an dieser archaisch-primitiven Weltsicht so schätzt, geben vielleicht mehr noch als seine sporadischen direkten Definitionen von Mythos oder Magie seine Äußerungen zur Gnosis, der letzten großen Manifestation des mythischen Denkens in der Religionsgeschichte nach Scholem — jener Komplex seiner Forschung, der dem Kabbalaforscher den Titel „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule" eintrug. Die Untersuchung des Scholemschen Konzepts von Gnosis im Hinblick auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu dieser „Schule" zeigt wiederum, daß seine Bestimmung des mythischen Denkens als monistisches Einheitsbewußtsein im ersten Kapitel der HaKptströmungen nicht als Ausnahme oder Fremdkörper in Scholems Historiographie betrachtet werden kann.

5.2.3 Das gnostische Denken In der Regel wird Scholems Gnosisbegriff in engstem Bezug zu Hans Jonas' epochemachendem Werk Gnosis und Spätantiker Geist gesehen, genauer zu dessen erstem Band, Die mythologische Gnosis, der 1934 seine erste Auflage erlebte. Diesen Bezug stellt nicht nur David Biale her, der die Gemeinsamkeiten zwischen dem Heideggerschüler und Scholem als „Erben und Dissidenten"86 der Religionsgeschichtlichen Schule hervorhebt. Ganz allgemein betont etwa auch Moshe Idei, die Gnostifizierung der Kabbala sei in der intellektuellen Atmosphäre der dreißiger Jahre entstanden, auf die Hans Jonas besonderen Einfluß ausgeübt habe.87 Die Gnosisdeutungen von Scholem und Jonas weisen abgesehen von beider Faszination für diese religionsgeschichtliche Erscheinung eine auffallige Gemeinsamkeit auf, nämlich die Auffassung der Gnosis als einer umfassenden Weltanschauung, als „Weltgefuhl", das in seiner Eigenständigkeit gewürdigt werden muß. Jonas präsentierte seine Sicht als Revision der religionsgeschicht86

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Biale, Counter-History, 143. Zu Jonas' Kritik an der vorherigen (motivgeschichtlichen) Forschung, besonders an Bousset, vgl. Gnosis und Spätantiker Geist I, 9-12; 20-49. Idei, Kabbalah, 30; vgl. auch Bloom, Kabbala, 15. Die Studie von Magid, Scholem's Ambivalence Toward Mystical Experience, die Scholems Verhältnis zur mystischen Erfahrung vor dem Hintergrund von Jonas und Heidegger gewidmet ist, geht nicht auf Scholems Äußerungen zur Gnosis ein.

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liehen Deutung der Gnosis als Synkretismus aus den verschiedenen Religionen im spätantiken Mittelmeerraum. 1965 stellt er erfreut fest, „my original thesis, after all: that Gnosticism is a religion of its own, dominated by the idea of a tragic split within the Deity and the concept of the fallen God", sei inzwischen völlig selbstverständlich geworden. „Precisely this [...] was the view I expounded as early as 1934 [...] as a novel conception against the prevailing syncretistic views of Gnosticism."88 Scholem wendet den Begriff der Gnosis allerdings, wie auch David Biale bemerkt, bereits im Jahre 1928 auf ein nichtantikes jüdisches Phänomen an, auf die sabbatianische Theologie Abraham Cardosos.89 Jonas' Studie dagegen erschien nicht nur erst sechs Jahre später, sondern beschränkt die gnostische Weltsicht ganz auf die antike Gnosis als einer historischen Größe zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. Die zeitliche und lokale Begrenzung behält der Philosoph auch in seiner späteren Studie aus den sechziger Jahren bei, in der er den gnostischen (d.h. antiken) Antinomismus und Nihilismus mit dem existentialistischen (neuzeitlichen) der Heideggerschen Philosophie vergleicht.90 Ebenso Hans Leisegang, der immerhin vier Jahre vor Scholem und zehn Jahre vor Jonas in seinem Werk Die Gnosis das „gnostische Denken" als eigentümliche, nämlich „mythisch-mystische" Form des Denkens analysiert, die er dem rationalwissenschaftlichen Denken gegenüberstellt.91 Erst in der überarbeiteten zweiten Auflage von 1936 jedoch findet er diese „gnostische Weltanschauung" auch über die Grenzen der antiken Bewegung hinaus bei Hildegard von Bingen.92 Letztlich muß man weder Leisegang noch Jonas bemühen, um Scholems Abstrahierung und Verallgemeinerung des Gnosisbegriffs zu erklären. Sie läßt sich verstehen als eigenständiges und originelles Weiterdenken der älteren Anschauungen der Religionsgeschichtìer, die ihrerseits davon weniger weit entfernt waren, als es scheint. Immerhin bezeichnet schon Wilhelm Bousset die gnostische Bewegung als „Weltanschauung", und zwar bereits in seinen

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Gnosis und Spätantiker Geist II, 353 mit Anm. 12. Vgl. die Bestätigung von Jonas' Selbsteinschätzung durch K. Rudolph in seinem Vortrag in Messina (1966), wonach im Unterschied zur Ursprungsfrage die Wesensbestimmung als spezifische und nicht ableitbare Daseinshaltung seit Jonas als geklärt gilt (in: Rudolph [Hg.], Gnosis und Gnostizismus, 774). Vgl. Judaica 1, bes. 122.129ff.; Biale, Counter-History, 143. Wiederabgedruckt in: Gnosis und Spätantiker Geist II, 359-379. H. Leisegang, Die Gnosis, Leipzig 1924, 9-59 (= Kap. 2: „Das gnostische Denken"). Vgl. H. Leisegang, Die Gnosis, 5. (= 2.) Aufl. Stuttgart 1985, 20-25 (Zitat: 25).

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Promotionsthesen aus dem Jahre 1890.93 Scholem zieht letztlich nur die logische Konsequenz aus seiner mythologischen Deutung der Gnosis. Verweisen die Mythen allgemein auf ein mythisches, so der gnostische Mythos auf ein gnostisches Denken, das von seinen einzelnen Manifestationen losgelöst werden kann. Dies erklärt nicht nur die Abstraktion des Gnosisbegriffes von der antiken Bewegung, sondern zeigt auch die fundamentale Bedeutung, die der Deutung der Gnosis als Mythologie bei Scholem zukommt. In dieser Deutung unterscheidet sich der Kabbalaforscher erheblich von Jonas, für den die Mythologie keineswegs zum Wesen der gnostischen Weltsicht gehört. Das spezifisch Gnostische besteht nach Jonas im Erlebnis der Welt als eines entgötterten Zwangssystems, der „Entfremdung", wie Jonas das gnostische Grunderlebnis später vor allem nennt.94 Der Dualismus, die Entzweiung zwischen dem fernen, guten Gott und der von einem bösen Demiurgen geschaffenen Welt, ist das zentrale Wesensmerkmal, der „stiftende Urakt"95. Jonas betont auch das revolutionäre (anti-orthodoxe) Element dieser Gnosis, was Scholem in Erlösung durch Sünde sogar ausdrücklich aufgreift. Begeistert stimmt er hier Jonas' Analyse der libertinistischen „pneumatischen Moral" als dem „sinnfälligsten" Ausdruck des revolutionären Charakters der Gnosis zu — die jedoch völlig losgelöst erscheint von dem weltanschaulichen Dualismus im Sinne Jonas'. 96 Die Differenz zwischen Scholem und Jonas offenbart sich deutlich dreißig Jahre später. In seiner Stellungnahme zur damals hochaktuellen Kontroverse um die jüdischen Ursprünge der Gnosis wendet sich Jonas gegen Scholems Terminologie einer jüdischen Gnosis.97 Gerade Scholem („with his vivid appetite for the unorthodox and aberrant"98) habe nachgewiesen, daß es keine Belege für eine häretische jüdische Gnosis gebe. Die Bezeichnung der orthodoxmonotheistischen jüdischen Mystik als Gnosis verführe zur Nivellierung des radikalen Bruchs zwischen Judentum und Gnosis — deren entscheidendes

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Abgedruckt in: Graf/Renz (Hg.), Troeltsch-Studien, 298 (These 14); vgl. Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, Leiden 1979, 49. Jonas, Typologische und historische Abgrenzung der Gnosis (1966), in: Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, 631. Jonas, Gnosis und Spätantiker Geist 1,249. Scholem, Judaica 5, lOlf. Response to G. Quispel's „Gnosticism and the NT" (1965), in: Gnosis und Spätantiker Geist II, 346-359; ähnlich bereits D. Flusser, in seiner Rez. von Scholem, Jewish Gnosticism, JJS 11, 1960, 65; dazu auch Dan, Mystical Dimension, 42; Idei, Subversive Katalysatoren, 86. Gnosis und Spätantiker Geist II, 356.

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Merkmal für Jonas nach wie vor der häretische Dualismus von wahrem Gott des Lichts und gefallenem Gott der finsteren Schöpfung ist. Zudem sind Mythos und Philosophie bei Jonas die zwei „Logosbereiche" der Gnosis. Die Mythologie ist kein Wesensmerkmal, auch wenn ihr der gesamte erste Band gewidmet ist und die philosophische Gnosis bzw. die Gnosis als „mystische Philosophie" erst im zweiten Band behandelt wird (der erst 1954 erscheinen konnte).99 Nach dem Verfasser selbst besteht hierin ein wesentlicher Unterschied zwischen seiner und der bisherigen religionsgeschichdichen Deutung. Im einleitenden Teil seines ersten Bandes hebt er ausdrücklich hervor, er verstehe die mythologische Gnosis als nur eine Stufe des gnostischen Objektivationsbereiches neben bzw. vor der philosophischen Stufe; die Mythologie ist „gestaltgeschichtlich (nicht nur chronologisch) die Primärform der gnostischen Selbstdarstellung", aber „kein letztes Wesensmerkmal, sondern nur ein bestimmtes Phasenmerkmal [...] im Widerspruch zur geltenden Meinung der Wissenschaft"100. Insofern Scholem nicht nur von der orientalischen Herkunft der Gnosis überzeugt ist, sondern mit diesem Ursprung auch den mythologischen Charakter zu ihren unveräußerlichen Wesenszügen zählt, steht er der geltenden Meinung der Religionsgeschichtlichen Schule sehr viel näher als Hans Jonas. Zwar sucht Bousset die Wiege gnostischer Ideen vorzugsweise in Babylonien und Syrien,101 während Reitzenstein sich anfangs mehr auf Ägypten konzentriert102 und Scholem - unter Einfluß von Reitzensteins späteren Schriften anfänglich eher zur Annahme iranischer Ursprünge neigt, allzu sicheren

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Weil „mir angesichts dessen, was in Deutschland geschah, die Neigung, dort noch zu publizieren immer mehr entschwand. Mit den Synagogenverbrennungen war es vollends damit vorbei - mit der Bereitschaft ebenso wie mit der physischen Möglichkeit" (Gnosis und Spätantiker Geist II, VII). Gnosis und Spätantiker Geist I, 85. In Jonas' Vortrag in Messina (s.o. Anm. 94) ist der Mythos dagegen das zweite morphologische Merkmal. Bousset knüpft an Wilhelm Anz an, sieht jedoch „darin, daß ich den religionsgeschichtlichen Vergleich weiter ausdehne und hier mit viel mehr Möglichkeiten rechne, [...] einen Fortschritt über Anz' Arbeit hinaus" (Hauptprobleme der Gnosis, 8f.). Wobei er immer betont, daß er den Ursprung der Gnosis nie ganz nach Ägypten verlegen wolle (Reitzenstein, Poimandres, Leipzig 1904, 249). Erst seit dem Wechsel nach Göttingen (und dem Beginn eines regelmäßigen Austausches mit Iranisten) wandte er sich immer stärker dem „iranischen Erlösungsmysterium" zu, wiederum ohne daß er den „Iran als den letzten Ursprung der Dinge bezeichnet wissen wollte" (Colpe, Die Religionsgeschichtliche Schule, 42).

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Herkunftsthesen in jedem Fall sehr skeptisch gegenüberstehend.103 Grundsätzlich aber ist bei allen deutlich zu erkennen, daß sie die wie immer definierten orientalischen Wurzeln im Rahmen des hellenistischen Synkretismus für entscheidender halten als die griechischen und damit generell ein möglichst hohes Alter und den mythologischen Charakter verbinden.104 Die Gnosis erweist sich nicht nur als vorchristliches Phänomen, sondern auch als eine (motiv-)geschichtliche Verbindungslinie zu den „uralten" Mythen des Orients.105 Obwohl Scholem insofern entsprechend der „Komplementarität von Ursprungs- und Wesensbestimmung"106, wie sie für die Gnosisforschung allgemein als typisch gilt, auf der Seite der Boussets oder Reitzensteins steht, weicht sein Gnosisbegriff in bezeichnender Weise von der Definition der Religionsgeschichtlichen Schule ab. Wie später für Hans Jonas ist auch schon für Bousset (sowohl nach seinem Klassiker der Gnosisforschung, Hauptprobleme der Gnosis, als auch nach seinem zusammenfassenden Artikel für die Neubearbeitung des „großen Pauly" von 1912) die „entschlossene dualistische Gesamtanschauung"107 das erste und wichtigste Kennzeichen der gnostischen Weltanschauung. Ihre Genese erklärt sich Bousset durch die „Vermischung der genuin persischen Annahme zweier feindlicher [...] Gottheiten (Prinzipien) und der griechischen Anschauung von der Überlegenheit der geistigen idealen gegenüber der sinnlichen materiellen Welt"; d.h. „durch das Zusammenfluten zweier pessimistischer Weltanschauungen entstand der gesteigerte, absolut 103 vgl. Scholem, Qabbalot R. Ja'aqov iveR. Ji^chaq, 193; Zur Frage der Entstehung der Kabbala, 9. Die späteren Thesen Geo Widengrens über den iranischen Ursprung der Gnosis hat Scholem einem unveröffendichten Brief vom 14.2.1965 an Kurt Rudolph zufolge „nur mit grossen Kopfschütteln zur Kenntnis genommen" (JNULA 4° 1599/K. Rudolph). Vgl. Art. Kabbalah, 506f., zu den ebenfalls späteren Thesen einer vorchristlichen jüdischen Gnosis: „Although a fair number of these ideas are based on questionable hypotheses, nevertheless there is a considerable measure of truth in them. They point to the lack of Iranian elements in the early sources of Gnosis, which have been exaggerated by most scholars of the last two generations [...]". 104 Vgl R Haardt, Bemerkungen zu den Methoden der Ursprungsbestimmung von Gnosis, in: Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnostizismus, 657), der außerdem darauf hinweist, daß für Hans Jonas im Gegensatz zur Religionsgeschichtlichen Schule der orientalische Ursprung weder Voraussetzung noch Ergebnis seiner Deutung ist. 1 0 5 Daß das Mythos-Modell der Schule „de facto mit dem ganzen Anspruch archaischen Gewichtes belastet ist, als sei der gnostische Erlösermythus irgendwann in grauer Vorzeit entstanden, irgendwo im fernen weiten Orient," kritisiert bes. Colpe, Die Religionsgeschichtliche Schule, 191. 1 0 6 Haardt, ebd., 654; vgl. bereits Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, 40. 1 0 7 Bousset, Hauptprobleme der Gnosis, 328.

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trostlose Dualismus und Pessimismus der Gnosis".108 Dieser ist entscheidendes Wesensmerkmal, obwohl er sich „nackt und unverhüllt"109 als metaphysischer Dualismus erst in den späteren Systemen offenbart. Er ist die Grundlage für Anthropologie und Soteriologie, die „den eigentlichen Kern der gnostischen Religion" bilden: „Infolge ihres Dualismus ist die gnostische Weltanschauung in ganz besonderem Maße auf den Erlösungsgedanken angelegt."110 Denn Ethik und Kultus der Gnosis, dessen Mittelpunkt die sakramentale Praxis einer Himmelfahrt der Seele bildet, beruhen auf dem „Zentralgedanken" der ersten Gnostiker, nicht von den sieben finsteren Archonten abzustammen, sondern von der lichtvollen (Mutter-)Gottheit, nach der sie sich zurücksehnen.111 Aufgrund des Dualismus schließlich ist die Gnosis grundsätzlich heidnisch (vorchristlich) und antijüdisch.112 Scholems Definition der antiken jüdischen Gnosis, für die (nur) das durch mystische Erleuchtung gewonnene Wissen über das himmlische Pleroma und den Zugang zu dieser göttlichen Fülle charakteristisch ist, folgt nicht Bousset, sondern orientiert sich ausdrücklich an Wilhelm Anz.113 Dieses Wissen und die gemeinsamen „mythischen Motive", mit denen Gott, die himmlische Welt und der Zugang zu ihr beschrieben werden, sind der Grund für die Bezeichnung der Merkabamystik als Gnosis, nicht der gnostische Dualismus. Die Bezeichnung späterer Phänomene als gnostisch wird gerechtfertigt mit dem Vorhandensein einzelner gnostisch-mythischer Motive oder eines ganzen Mythos, sei es, daß er vom kosmischen Zimzum Gottes, sei es, daß er vom Fall des Erlösers berichtet. Es wird deutlich, wie sehr Scholem mit seiner vergleichsweise außenseiterischen Definition daran hegt, mythisches Denken und Motive in der Kabbala festzustellen und zwar bevorzugt über historische 108 109 110 111

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Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, 53. Hauptprobleme der Gnosis, 328. Religionsgeschichtliche Studien, 60. Wobei die Tendenz zur Theorie des Urmensch-Erlösermythus von Hauptprobleme der Gnosis zum Pauly-Artikel zunimmt; vgl. A. Verheule im Vorwort zu Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, 8f. Hauptprobleme der Gnosis, 324ff.; Religionsgeschichtliche Studien, 70. Der Antijudaismus veranlaßt Bousset zu einer der seltenen Bemerkungen, die sozio-kulturelle bzw. politische Interessen berücksichtigen: „In der antijüdischen Wendung aller Gnosis [...] zeigt sich die Erbitterung der Nachbarvölker gegen das mächtig sich ausbreitende, an Einfluß und Macht ständig wachsende, exklusive Judentum des makkabäischen und neutestamentlichen Zeitalters" (Hauptprobleme der Gnosis, 325). Vgl. Zur Frage der Entstehung der Kabbala, 8; Ursprung und Anfänge, 18; W. Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, Leipzig 1897, 55f.; zitiert bereits bei Biale, Counter-History, 130 Anm. 258.

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Verbindungslinien, womit sie sich als sehr alte und aus dem Orient stammende Motive erweisen.114 Dies scheint ihm wichtiger als jener Dualismus von gutem Gott und bösem Weltenschöpfer bzw. Kosmos, wie er nicht nur nach den meisten Gnosisforschern, sondern auch in der modernen Alltagssprache in aller Regel das genuin Gnostische (bzw. Manichäische) ausmacht.

5.2.4 Gnostisch-mythisches Denken als intuitive Welterkenntnis

Der orientalisch-mythologische Charakter der Gnosis ist in der Gnosisforschung der Religionsgeschichtlichen Schule untrennbar verbunden mit dem unmittelbaren Erleben des Göttlichen in der Schau des Gnostikers. In der Polemik gegen Adolf von Harnacks Deutung der Gnosis als „Hellenisirung des Christenthums"115 ging es Bousset nicht nur darum, daß die Gnosis als synkretistische Religionsbewegung keine christliche Sekte war, sondern er legte ebenso großen Wert darauf, daß es sich bei ihren Vertretern um „Mystagogen und Theosophen"116 und also nicht um Theologen und Religionsphilosophen gehandelt habe. Als Ausdruck unmittelbaren Erlebens, nicht rationaler Reflexion sei die Gnosis nicht nur antitheologisch, sondern auch gegen das Prinzip der Tradition. Statt Tradition propagiere sie neue Offenbarungen.117 Entsprechend ist auch für Richard Reitzenstein der Poimandres nicht „der Spekulation eines Philosophen" entsprungen, „sondern die Phantasie des Propheten und das Sehnen der Zeit hat die Lehre gestaltet"118. Kein „intellektuelles oder gar wissenschaftliches Erkennen", sondern „unmittelbares Erleben und Erfahren", verkörpert die Gnosis für den Altphilologen „so ziemlich das gerade Gegenteil von Philosophie oder selbst Religionsphilosophie"119. Diese Betonung des naiv-unmittelbaren Erlebens des Göttlichen in der Gnosis ähnelt wiederum der zentralen Bedeutung, die dem monistisch114

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Daher auch der Wunsch, Alter und orientalische Herkunft des Zohars nachzuweisen, wie er noch in: Zur Frage der Entstehung der Kabbala, 26, zum Ausdruck kommt. Zu Scholems großem Interesse am Ursprungsort Orient vgl. auch Mopsik/Smilevitch, Observations, 14. A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I, Darmstadt 1964,243-292, bes. 250. Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, 78. So in: Theologie und Geschichte von 1919, in: Religionsgeschichtliche Studien, 33f. Reitzenstein, Poimandres, 114. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, Darmstadt 1956, 66.69.

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pantheistischen „Einheitsbewußtsein" in Scholems Definition des mythischen Bewußtseins zukommt. Mit seiner Übernahme der mythologischen Deutung bei Vernachlässigung des metaphysischen Dualismus erweist sich der Kabbalaforscher als „Kind der Religionsgeschichtlichen Schule" gerade in dem Punkt, daß dem Gegensatz zwischen orientalisch-mythologischer Gnosis und griechisch-rationalistischer Philosophie die Nähe zum ursprünglichen Einheitsetleben des Mythos zugrundeliegt bzw. ihr Zentrum bildet. Was David Biale von einem Gespräch mit Scholem berichtet, bestätigt diesen Eindruck Danach kritisierte der Kabbalaforscher Jonas' Gnosisdefinition der Entfremdung von der Welt mit dem Einwand, es gebe viele solcher Definitionen, aber nur eine „gnostische Struktur des Denkens".120 Für diese Struktur des Denkens ist eben die dualistische Entzweiung weniger entscheidend als der Gegensatz zum griechischen Denken, jenem „griechischen Begriffsapparat", den Scholem in seinem Vortrag über das Problem des Bösen in der Kabbala mit der mythischen und der „biblischen Auffassung, die noch in ungebrochener Naivität weiß, woran sie mit Gut und Böse ist," konfrontiert.121 Wenn Scholem im Vortrag über das Gottesbild der alten Kabbala die „Begriffswelt der griechischen Philosophie" als „durchaus denkerische Anstrengungen, in denen das rein Religiöse Gegenstand begrifflicher Durchdringung wird", der Gnosis und einem der Gnosis ,,verwandte[n] Antrieb, der viel stärker religiös als philosophisch bestimmt war" 122 , gegenüberstellt, so erinnert dies sehr an Hans Leisegangs Bestimmung des sogenannten gnostischen Denkens.123 Dieses gründet auf Intuition statt logischer Abstraktion, sein Ursprung ist das mythisch-mystische Denken, seine Wurzel das ekstatische Erlebnis, die visionäre Schau. Die „mythisch-mystische Art des Ich- und Welterlebens", so Leisegang, läßt den Menschen die Welt „als einen

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Biale, Counter-History, 261 Anm. 42. Gestalt der Gottheit, 50; erst mit „Einbruch der griechischen Spekulation in die Welt der monotheistischen Religionen" verlor die Bibel diese ihre mythische Naivität, die noch die Realität des Bösen kennt, das man erfährt und nur im mythischen Bild ausdrücken kann (vgl. das Zitat oben Kap. 4.2 Anm. 176). Vgl. auch Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes, in: Grundbegriffe, 86, zur „Überwältigung des monotheistischen biblischen Denkens durch das griechische". Das Ringen zwischen dem biblischen Gott und dem Gott Plotins, in: Grundbegriffe, 15. Man beachte Scholems positive Rez. von Leisegangs Werk in Kirjat Sefer 1, 1924/1925, 206f.; es erscheint im Literaturverzeichnis der Hauptströmungen und wird von Scholem noch 1957 (bzgj. einer Detailfrage) zitiert (Die Vorstellung vom Golem, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 280 Anm. 13).

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großen lebendigen Organismus, zu dem er selbst als ein mit dem Ganzen organisch verwachsenes Glied gehört" betrachten: Für ihn gibt es keine unübersteigbare Scheidewand zwischen Mensch und Welt, Subjekt und Objekt, Mensch und Mensch, Mensch und Gott. Sein eigener Organismus lebt mit der Welt in organischem Zusammenhang und spiegelt die Welt in sich wider. [...] Mikrokosmos und Makrokosmos stehen in Wechselbeziehung zueinander; einer wird durch den andern erkannt, weil einer des anderen Leben atmet. Dem 'Ich denke' des Rationalisten stellt der Mystiker das 'Es denkt in mir' gegenüber; nicht 'Ich lebe', sondern 'Es lebt und webt in mir', und diesem Leben und Weben in mir muß ich lauschen, wenn ich das Leben außer mir begreifen will. 1 2 4

Leisegang charakterisiert das gnostische Denken als jene Welt der Entsprechungen, die im Jahre 1973 Thema der Eranostagung in Ascona ist und die Antoine Faivre „geistige Hermeneutik" genannt hat.125 Wie für Faivre diese durch und durch monistische Weltanschauung von der Idee der Polarität beherrscht wird, so erklärt sich auch für Leisegang aus dem mystischmythischen Weltbild „der Kampf der Gegensätze, der das gnostische Denken beherrscht," und damit auch der Zusammenhang zwischen den beiden wichtigsten Problemen, die es zu lösen suchte, dem der Weltschöpfung und dem der Erlösung. [...] Er [Gott] ist das vollkommen Gute, sie [die Welt] ist das radikal Böse. Zwischen beiden Gegensätzen sucht das Denken nach einer Beziehung; es stellt die Frage: Wie konnte der gute Gott diese böse Welt hervorbringen? 1 2 6

So gelingt Leisegang die Verbindung des gnostischen Dualismus' mit dem „mystisch-mythischen" Einheitserleben zu einer gnostischen „Erkenntnismethode"127, die Scholems Definition der Gnosis als letzter Manifestation des Mythos umso näher kommt, als auch Leisegang dieses intuitive Denken im Gegensatz zur rational-wissenschaftlichen, philosophischen Weltanschauung der Gebildeten in der Antike sieht, genauer als deren religiöse Ergänzung und Vertiefung. Nur daß er es anders als Scholem und die Religionsgeschichtliche Schule deshalb nicht als ungriechisch und orientalisch verstanden wissen will.128

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Leisegang, Die Gnosis, 1 9 2 4 , 1 8 f . 2 0 . A. Faivre, Mystische Alchemie und geistige Hermeneutik, EJB 42, 1973, 323-356. Leisegang, Die Gnosis, 1924, 26. Ebd., 20. Ebd, 5-8.

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Gewiß spricht Scholem nicht wie Leisegang, Bousset oder Reitzenstein von dem unmittelbaren Erleben der Gnostiker. Der Kabbalaforscher versteht das gnostische Denken — in der Antike wie später in der Kabbala - konsequent als reflektierten Mythos; das ungebrochene Einheitsbewußtsein, die unmittelbare Einheit von Gott, Mensch und Welt, kennt es nicht mehr. Dennoch wäre es falsch, den gnostischen Mythos, wie er in der jüdischen Mystik wiederaufersteht, als einen philosophischen Mythos zu bezeichnen.129 Die gnostische Kabbala ist nicht mehr ungebrochen naiv und unreflektiert, sie ist „vergeistigter", wie es bei Scholem oft heißt; sie ist deswegen aber nicht philosophisch. Sie ist weder Mythos im philosophischen Gewand noch Philosophie im Gewand des Mythos: Das Buch Bahir sei nichts weniger als die „Einkleidung philosophischer Ideen"130, schreibt Scholem in seinem Buch über die frühe Kabbala. Etwas anders ist, daß in der Kabbala Philosophie und Mystik „ineinander verschränkt und gegenseitig bedingt"131 sind, wie Scholem gegen Graetz' Deutung der Kabbala als nachträgliche Reaktion auf die Philosophie betont und hinzufügt: Erst allmählich sind sich vor allem die Kabbalisten eines Konfliktes bewußt geworden, der da besteht zwischen der reinen philosophischen Weltauffassung aus der Ratio und einer Welterkenntnis, die über das Rationale hinaus auf dem Wege der Kontemplation und Erleuchtung gewonnen wird. 1 3 2

Das mythisch-gnostische Element gehört auf jeden Fall auf die Seite der nichtphilosophischen Welterkenntnis. Im Aufsatz über Abraham Cardoso beklagt der Autor die Auswirkungen der ,,unheilvolle[n] Tendenz aller Gnosis zur reflektiven Verselbständigung und damit zur unendlichen Komplikation auch der ursprünglichsten Intuitionen" auf die lurianische Kabbala; er spricht von ihren „mythologischen Überwucherungen und Schematisierungen", die aber gerade nicht philosophisch-rationaler sind: „Vor unendlichen Mysterienwelten, deren nach wie vor, ja sogar stärker als je zuvor behaupteter Zusammenhang mit der Gottheit immer zweifelhafter wird, versagt jede Kontrolle der Ratio."133

129 130 131 132 133

So Biale, Counter-History, bes. 114.128. Ursprung und Anfange, 50. Hauptströmungen, 26. Ebd. Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos, in: Judaica 1 , 1 2 7 . Vgl. dagegen Leisegang, für den der „tiefere Grund für die unerquicklichen Auswüchse gnostischer Spekulation" gerade in der (typisch hellenistischen) Verbindung von mythi-

194

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Der Kabbbalaforscher übernimmt den Begriff der Schematisierung von Martin Buber, der damit den kabbalistischen Begriffsapparat zur Schilderung der göttlichen Mysterien bezeichnet.134 In aller Regel spricht Scholem, wenn er das theoretisch-reflektive Moment der antiken Gnosis oder der gnostischen Kabbala kennzeichnen will, von gnostischer „Spekulation" oder „Theorie" im Sinne des kabbalistischen cijjun135, und nie - oder allenfalls in Anführungsstrichen - von gnostischer oder mystischer Philosophie. Auch wenn er kein unmittelbares, naives Einheitserlebnis beschwört, verkörpert die mythologische Gnosis bei Scholem eine genuin religiöse Erkenntnisform, die er von der philosophischen Reflexion unterscheidet. Gnosis ist vor allem eine spezifisch religiöse, nämlich bestimmten „ursprünglichen Intuitionen" und nicht rationalen Einsichten entspringende Art und Weise von Erkenntnis; daher der Stellenwert, der in seiner Definition dem Erleuchtungswissen zukommt, der „Erkenntnis, die nicht durch gewöhnliche intellektuelle Mittel, sondern nur auf dem Wege einer Offenbarung und mystischen Erleuchtung zu gewinnen ist"136. Daß auch bei Scholem das gnostische Denken mit „religiösem Erleben" verbunden wird, zeigt sich vor allem dann, wenn Scholem die verjüngende Kraft der Erfahrung des lebendigen Gottes beschwört: Die Verjüngung des religiösen Bereiches findet ihren Ausdruck immer wieder gerade im Rückgriff auf ältestes Gut an Bildern und Symbolen, wie sehr diese auch vergeistigt und ins Spekulative transformiert erscheinen mögen. Und dabei läßt sich durchaus nicht sagen, daß gerade die spekulative Vergeistigung den nachhaltigsten Einfluß hätte. Wenn mir der kühne Ausdruck erlaubt sei: der alte Gott, den die kabbalistische Gnosis dem der

134

schem und wissenschaftlichen Denken liegt, durch die das mythische Denken „gewaltsam rationalisiert" wird (Die Gnosis, 1924, 51). Besonders die negative Variante „Entschematisierung des Mysteriums", bezogen auf den Chassidismus, preist Scholem wiederholt als „glücklichen Ausdruck" Qudaica 1, 128, und noch in Martin Bubers Auffassung des Judentums, in: Judaica 2, 189f.). Buber dürfte ihn Rudolf Otto verdanken, auch wenn seine Verwendung des Begriffs nicht mehr viel gemeinsam hat mit der Ottos, der darunter die notwendigen Verbindungen der irrationalen mit den rationalen Gefühlen in der Kategorie des Heiligen versteht (vgl. Otto, Das Heilige, 61ff., sowie die Kritik von Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 125 Anm. 93, und bereits Bultmann 1918, in: Schütte, Religion und Christentum, 134f.). Was er selbst meint, erläutert Buber nicht bzw. nur indirekt durch die Synonymie in der Bemerkung, es ginge dem Chassidismus nicht um „objektive, formulierbare, schematisierbare Erkenntnis" (Werke III, 847).

135 Vgl d¡e Bemerkung zum Doppelsinn des hebräischen Ausdrucks 'ijjun für Spekulation und Meditation in Alchemie und Kabbala, 1925,1. 1 3 6 S.o. Kap. 4.2.2 Anm. 184.

Mystik und lebendige Religion

195

Philosophen entgegensetzte, stellt sich, wo er als lebendig erfahren wird, als ein noch viel älterer heraus. 1 3 7

Der Kabbalaforscher schätzt die magisch-mythischen survivals in der Gnosis als dasjenige Element, das die Religion der gnostischen Kabbalisten jung und lebendig hält. Gerade das uralte ist das verjüngende Moment in der Religionsgeschichte. Wie viel jenes Moment mit der lebendigen religiösen Erfahrung zu tun hat, zeigt sich, wenn man sich den beiden übrigen „Stadien des religiösen Bewußtseins" zuwendet, dem Stadium der Religion und der Mystik, und der Frage nachgeht, wie und warum jenes durch dieses jung gehalten wird.

5.3 Mystik und lebendige Religion Der in Scholems Werk zentrale Gedanke, daß das Judentum durch das Wiedererstehen der mythisch-magischen Weltsicht in der Mystik lebendig gehalten wurde, wird stets - völlig zu Recht - im Zusammenhang mit der programmatischen Auffassung des Judentums als einem lebendigen, schöpferischen Organismus gesehen. Für Amos Funkenstein verkörpert sich hierin „jenes Spontaneitätsideal, das uns seit Leibniz und Kant, noch mehr aber seit der Romantik bekannt ist".138 Robert Alter führt den Nachdruck, den Scholem auf die Lebendigkeit des Sabbatianismus legt, auf den Nietzscheanismus in der modernhebräischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts zurück: „'Vitality' has been a great will-o'-the-wisp of Hebrew Literature at least since the time of [...] the first generation of Hebrew writers to be influenced by Nietzsche."139 Allerdings hätten die jüdischen Nietzscheaner das SchöpferischLebendige in den heidnischen Elementen des Judentums, den kanaanäischen Göttern gefunden, Scholem dagegen in innerjüdischen Bewegungen. Der Literaturwissenschaftler deutet diesen Aspekt im Lichte der geistigen Verwandtschaft des Kabbalaforschers mit der (literarischen) Moderne allge137

138

139

Tradition und Neuschöpfung im Ritus der Kabbalisten, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 160. Funkenstein, Charisma, 22; zu Biale, der hier das methodische Prinzip („a priori principle of vitality") der Gegengeschichte sieht, s.o. Kap. 4.1 Anm. 97; vgl. auch Perelmuter, Jewish Revolutionary, 83. Alter, Sabbatai Zevi, 68; vgj. Scholem seinerseits zum Einfluß Nietzsches auf Buber (in: Judaica 2, 140); zum jüdischen Nietzscheanismus um 1900 allgemein siehe Krochmalnik, Neue Tafeln; zu Kopp-Oberstebrinks Untersuchung der Nietzsche-Rezeption des jungen Scholem s.o. Kap. 1.1 mit Anm. 20.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

mein. Scholems Zustimmung zu Rufus Jones, der Mystik als „Religion in ihrer innerlichsten, tiefsten und lebendigsten Form"140 definiert, kommentiert Alter „Clearly, acuteness, intensity, and vitality have been among the great desiderata of the modern spirit against what has often seemed the dead and empty formalism of the cultural heritage."141 Er bezieht dies vor allem auf die Rebellion des Zionisten gegen das Diasporajudentum: auf den Wunsch, die Schranken einer institutionalisierten und erstarrten Tradition zu durchbrechen, und auf einen Hang zum Extremen als dem Moment, das die nötige Kraft freisetzt zur Überwindung der historischen Krise des Judentums.142 Die Definition der Mystik als Religion in ihrem lebendigsten Stadium begegnet allerdings nicht nur bei Rufus Jones, sondern ist auch typisch fur die klassische Religionsphänomenologie einschließlich der Religionsgeschichtlichen Schule. Mit seiner Vorliebe für das Lebendige ist Scholem in der religionsgeschichtlichen Forschung alles andere als ein Einzelfall.

5.3.1 Religion als leb endiger Organismus Allein die neoromantische Vorliebe für die Metaphorik des Organischen teilt der Kabbalaforscher mit der Allgemeinen Religionsgeschichte in der Weimarer Republik. Friedrich Heiler etwa versteht sein umfangreiches Werk über den Katholizismus als Wesensanalyse „des größten und kompliziertesten religiösen Organismus, den die Geschichte kennt"143. Auch für Wilhelm Bousset sind Religionen unbedingt als lebendige Organismen zu begreifen, schreibt er doch in der Einleitung zu seiner frühen Untersuchung Jesu Predigt in ihrem Gegensatz %um Judentum aus dem Jahre 1892: Der Gefahr, von dem ganzen Reichtum des lebendigen Lebens, wie es in der Erscheinung Jesu pulsiert nur noch einige unlebendige Formeln dogmatisch-metaphysischen Inhalts in der Hand zu behalten, [...] beugen wir am besten vor, indem wir lebendes an lebendem [sie] erkennen, den lebendigen Organismus mit lebendigen Organismen

140

141

142 143

So Scholem, Hauptströmungen, 4; vgl. Jones, Studies, xv: „religion in its most acute, intense, and living stage" (i.O. kursiv). Alter, History and the Abyss, 73f.; Alter verweist auf den häufigen Gebrauch des Ausdrucks shinnuj 'arakhim (Umwertung der Werte) in Scholems Sabbatai Zivi. Ahnlich auch Schweid, The Jewish World View, 133f. Heiler, Der Katholizismus, 596 (vgl. auch ebd., 5.622).

Mystik und lebendige Religion

197

vergleichen und so lernen, die einzelne Erscheinung in ihrer Mannigfaltigkeit wie auch in ihrer Eigentümlichkeit und Ursprünglichkeit zu erfassen. Vor dem Hintergrund der Behauptung, das Spätjudentum habe „keine dauernde Lebenskraft in sich" 1 4 5 , es sei „keine wirkliche lebendige Kraft, kein schöpferischer Geist" 1 4 6 , erscheint Scholems Geschichtsschreibung, die die Vitalität des jüdischen Organismus nachzuweisen sucht, als ein einziger großangelegter Versuch, Boussets These von dessen Kraft- und Leblosigkeit zu widerlegen. Bousset und Scholem teilen auch andere metaphorische Wendungen, vermischen allgemein gern Bilder aus der Biologie mit solchen aus Chemie und Physik, Magnetismus oder Elektrizität, um die Dynamik religionsgeschichtlicher „Prozesse" zu veranschaulichen. So ist häufig die Rede von religiösen Energien, Keimen oder Elementen, vom Aufbau und Abbau religiöser Strukturen, von Kristallisierungsprozessen und organischen Metamorphosen religiöser Ideen. 147 Das Bild der religiösen „Gärung", eines der Lieblingsworte Scholems für die krisengeschüttelten Zeiten, in denen Mystik entsteht, 148 begegnet außer bei Wilhelm Bousset 1 4 9 auch bei Hans Jonas. Der Bousset, Jesu Predigt, 9. „Wir haben in der Biologie und der Sprachwissenschaft jüngst gelernt, daß man einen Organismus nur als lebendigen wirklich verstehen kann", erklärt seinerseits A. von Harnack in: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte (Reden und Aufsätze II, 171). 1 4 5 Bousset, Jesu Predigt, 18. 1 4 6 Ebd, 38. 147 ygi ¡j.B. Bousset, Religion des Judentums, 493: Mit Jesus konnte „aus jenem gärenden Chaos wieder die Einheit und Lebendigkeit echter und wahrer Frömmigkeit entstehen. Aber lebendig geworden sind die neuen Gedanken, die Keime träumen unter der Oberfläche und harren des göttlichen Werde! Die Elemente, die notwendig sind für den grossen Gesundungs- und Lebenspmçess, liegen nebeneinander. Es muss nur der Kontakt hergestellt werden und der Prozess beginnt [...]. Das Judentum war die Retorte, in welcher die verschiedenen Elemente gesammelt wurden." Und Scholem, Der Nihilismus als religiöses Phänomen, in: Judaica 4, 134: „Die ungeheuren Energien, die in den Auftau religiöser Strukturen gingen, in denen die Erfahrung der Welt mit der der Transzendenz sich verbinden sollte, ließen keinen Raum für den Abbau dessen, was erst im Pro^eß der Kristallisation sich befand. Erst wo solche Prozesse zu voller Ausbildung der in ihnen angelegten Tendenzen gelangt waren, wo positive Offenbarungen höchsten Anspruches, wo Rituale, heilige Handlungen, die aus ihnen flössen, einen festen Rahmen geschaffen hatten, konnten auch Entwicklungen sich geltend machen, die auf deren Abbau hinausliefen. Im großen und ganzen stellt die Religionsgeschichte die Metamorphosen dar, in denen, manchmal langsam, manchmal eruptiv, sich Veränderungen, Umwertungen solcher traditionell verfestigter Systeme vollziehen." (Hervorhebungen von mir). 1 4 8 Vgl. die Zitate aus Grundbegriffe, 94; Ursprung und Anfänge, 16, in Kap. 4.2.4. 144

198

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Gnosisforscher verwendet das Bild in genau derselben Weise wie Scholem: Die gnostischen Mythologien, so Jonas, verdanken ihre Entstehung der ,,gärende[n] Erregung" im spätantiken Orient, die das neue Weltgefiihl, den originalen Impuls aller Gnosis, provozierte.150 Auch in der phänomenologischen Mystikforschung wird die Mystik als „organischer Lebensprozeß"151 oder der Einfluß fremder Ideen als „Hefe" 152 bezeichnet. Besonders beliebt ist bekanntlich das biologische Bild für die numinose Erfahrung als Keim oder Kern, in dem das sich entfaltende Wesen der Religion angelegt ist.153 Kritikern der Religionsphänomenologie zufolge handelt es sich bei derartiger naturwissenschaftlicher Terminologie um „Sprachmuster, die die Grenzen einer Metaphorik sehr schnell und unkontrolliert überspringen"154. Dies ist in der Tat der Fall, wenn etwa ein Wort wie Fluidum nicht mehr als bloße Metapher für das melanesische Mana bzw. die numinose Macht, sondern im Sinne einer Strömung „animalischer Elektrizität"155 aufgefaßt wird. Die Religionsgeschichtliche Schule und die Religionsphänomenologie aber, die allgemein den größten Wert auf die besondere Eigenart des Religiösen legten, überschritten diese Grenze sicher nicht. Zwar verbeugte man sich vor dem Siegeszug der exakten Naturwissenschaft und suchte das Geistige seinerseits auf wissenschaftliche Gesetze zurückzuführen. Doch wollte man religiöse Phänomene keineswegs auf natürliche Erscheinungen „reduzieren", die durch die streng kausalen Regeln und Gesetze der Naturwissenschaft erklärbar wurden. Scholems metaphorischer Sprachgebrauch steht in dieser Hinsicht ganz in der Tradition der allgemeinen Religionsgeschichte. Es geht um die Veranschaulichung der lebendigen Dynamik religiöser Phänomene, die als 149 150 151 152 153

Vgl. Bousset, Religion des Judentums, 54.493. Jonas, Gnosis und Spätantiker Geist 1 , 7 1 . Underhill, Mystik, 107. Inge, Christian Mysticism, 14. Vgl. bes. Das Heilige, 139f.; sowie Flasche, Religionsmodelle, 263.272f.; ders., Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, 166ff.; Kahlert, Der Held und seine Gemeinde, 55f.277.

154

B. Gladigow, Naturwissenschaftliche Modellvorstellungen in der Religionswissenschaft in der Zeit zwischen den Weltkriegen, in: Kippenberg/Luchesi (Hg.), Religionswissenschaft und Kulturkritik, 178 (es geht hier um Herkunft und Verselbständigung der Fluidum-Metapher fur die numinose [Mana-] Macht, die der romantischen Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts entstamme und eine Verschiebung der Interpretation religiöser Sachverhalte von einem historisch-sozialen zu einem quasi-naturwissenschaftlichen Kontext bewirke).

155

So der Ethnologe Richard Thornwald (ARW 27, 1929, llOf.), zitiert bei Gladigow, ebd.,

181.

Mystik und lebendige Religion

199

eigenständige und vielfaltige Komplexe ihren eigenen Rhythmen oder Gesetzmäßigkeiten, den sogenannten allgemeinen Gesetzen der Religionsgeschichte, unterworfen sind.

5.3.2 Denken und Leben Im Lichte der älteren Religionsforschung wird deutlich, daß hinter Scholems „Kult des Lebendigen" nicht nur der Einfluß modernhebräischer Literatur steht und nicht nur allgemein der Rückgriff auf romantische Sprach- und Denkmuster. Dahinter steht auch die direkte Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie, von der seine Tagebücher und Briefe Zeugnis ablegen und der Scholem mehr verpflichtet ist, als man wegen seines Ärgers über den „mißlungenen Erlebnis-Simmel" Meir Wieners wahrzunehmen geneigt ist.156 Während die Religionsphänomenologen die Entdeckung des ahnenden Erkenntnisvermögens durch Kants Blick in den gestirnten Himmel begrüßen157, entdeckt der junge Scholem beim Blick zu den Sternen im Sommer 1915 die „Größe der mechanischen Naturauffassung"158, die keineswegs materialistisch sei, sofern man sie nicht naturwissenschaftlich, sondern (in seinem sehr spezifischen Sinne) mathematisch versteht.159 Es ist die Zeit, da er seine „Beziehungen zum Himmel abgebrochen" hat.160 Er liest 156

157 158

159 160

S.o. Kap. 1.1.1. Die Bemerkung offenbart vielleicht weniger „Scholems Feindschaft gegenüber Bubers Lehrer, von dem dieser die Erlebnis-Kategorie übernahm" (so Biale, Counter-History, 245 Anm. 94), als seine Kritik an der mißlungenen Adaption von Wiener. Die „Feindschaft" gegen Simmel selbst, der Scholem tatsächlich — und sogar wiederholt - Ausdruck verleiht, bezieht sich auf Simmeis sog. Selbst-Auflösung „in ein terminologisches System", seine „Sublimierung der Sprache des Talmuds" (Tagebücher 19141917, 335f.) und seine Entfremdung vom Judentum, obwohl es Simmel „doch hätte auffallen müssen, daß die produktiven Geister, die auf seine Denkart ansprachen fast ausschließlich Juden waren" (VBnJ, 72; vgl. GeF, 24; Der Engel der Geschichte, 15; sowie Scholems Beitrag zum Vortrag von H. Liebeschütz in: Zur Geschichte der Juden in Deutschland, 67f.; vgl. auch die Verwunderung J. v. Kempskis darüber, daß Scholem in Deutsche und Juden ausgerechnet Simmel, der doch so wenig jüdisch gewesen sei, zu den verkannten Juden zählt: Kempski, Scholem und das deutsch-jüdische Gespräch, Merkur 28,1974, 696f.). Otto, Naturalistische und religiöse Weltsicht, 2. Aufl. Tübingen 1909, 57. Scholem, Tagebücher 1913-1917, 124. Scholem besucht im Sommersemester 1915 eine Vorlesung von Dr. Weinstein über die „Geschichte der mechanischen Naturauffassung" (nach dem Zeugnis der Berliner Universität im Scholem-Archiv: JNULA 4° 1599/7). Vgl. bes. „Allerlei vom mechanistischen Weltbild" (Tagebücher 1913-1917, 351-354). Ebd., 158.

200

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Henri Bergson 1 6 1 u n d beschäftigt sich intensiv mit d e m „Reich der Spontaneität, des Geistigen u n d Organischen" 1 6 2 , G e s e t z e in der Historie

163

mit d e m Problem

fehlender

, mit „'organischen' Weltauffassungen" 1 6 4

und

Theorien über den psychophysischen Dualismus oder die Heterogonie der Zwecke. 1 6 5 W i e intensiv sich die älteren Religionsforscher mit d e m Vitalismus in der zeitgenössischen Biologie u n d Philosophie beschäftigten, zeigt Rudolf O t t o s erste größere Studie über Naturalistische

und religiöse Weltansicht, die 1904 in

erster u n d 1909 (im selben Jahr wie seine Kantisch-Fries'sche Philosophie) in zweiter, verbesserter Auflage erschien. O t t o setzt sich hier auf seine idealistische Weise mit Problemen auseinander, die in der akademischen Landschaft allgemein i m G e f o l g e des Darwinismus als ungeheuer brennend e m p f u n d e n wurden u n d die ein Jahrzehnt später auch den jüdischen Mathematik- und Philosophiestudenten

in Berlin quälten: das Verhältnis v o n

naturwissen-

schaftlicher u n d religiös-geistiger Weltdeutung, v o n Erscheinung u n d W e s e n , Z w e c k u n d Freiheit der D i n g e . 1 6 6 V e h e m e n t verteidigt O t t o die „Selbstän161

L'évolution créatrice, Paris 1909; vgl. Scholem, Tagebücher 1913- 1917, 80.424Í; Briefe I, 6.13.338. Problematisch ist für Scholem (wie im Falle Simmeis) Bergsons Verhältnis zum Judentum (Briefe II, 35); vgl. dazu wiederum Bubers Auseinandersetzung mit Bergsons Neigung zum „christlichen Universalismus" (Der Jude und sein Judentum, 165-172). Vgl. auch den Kommentar von David Biale zu Scholems Sätzen über die Wissenschaft des Judentums, die den „dämonische [n] Riesen" der jüdischen Geschichte, „jenes gewaltige Geschöpf voller Sprengkraft, aus Vitalität, Bosheit und Vollkommenheit zusammengesetzt," zu einem ,,harmlose[n] Idiot[en]" schrumpfen läßt 0udaica 6, 36): „This Passage reads almost like a Nietzschean manifesto or a statement of Bergsonian vitalism" (Counter-History, 6).

162

Scholem, Tagebücher 1913- 1917, 352. Ebd., 142.258-261. Ebd., 127.351. Ebd., 129f.275f.422; die Faszination durch Wundt zeigt noch Scholems Bemerkung von 1956 im Zusammenhang mit den philosophischen und psychologischen Versuchen „aufzuzeigen, worin eigentlich die Spontaneität des Schöpferischen besteht: wie aus bekannten Elementen in einer rätselhaften Ήείειοηοπύε [sic] der Zwecke' (um mit Wilhelm Wundt zu sprechen) etwas ganz anderes herausspringt als die Elemente enthielten, aus denen das Schöpferische entsprang" (Grundbegriffe, 53). Vgl. Ottos Resümee: „1. Auch die unter Gesetze gebrachte Welt ist Geheimnis, nur formuliertes [...]. 2. Die unter Gesetze gebrachte Welt ist ebenso abhängig, bedingt und 'zufällig', wie eine andere [...]. 3. Gesetzmäßigkeit der Natur wird nicht verhindert sondern erfordert durch den Gottesglauben [...]. 4. Wahres Wesen und Tiefe der Dinge fassen wir nicht, und die Welt, die wir fassen, ist nicht das wahre Wesen sondern seine unzulängliche Erscheinung für uns [...] 5. In Gefühl und Ahnung weist Erscheinung über sich und das wahre Wesen hinaus [...]" (Naturalistische und religiöse Weltsicht, 27;

163 164 165

166

Mystik und lebendige Religion

201

digkeit und Freiheit des Geistes" (Kap. VI) gegenüber der reinen Naturgesetzlichkeit eines „psychophysischen Parallelismus" im Sinne Wundts. 1 6 7 Neben dem Antidarwinismus (Kap. IV) begrüßt Otto den „Neovitalismus" als Infragestellung der „mechanistischen Lebenslehre" (Kap. V): So leistet der geschilderte 'vitalistische' Rückschlag in der heutigen Lebenslehre der religiösen Weltansicht jedenfalls den Dienst, zu der Tiefe der Dinge zurückzufuhren, die sie notwendig braucht, um sich von der materialistischen Umschnürung zu befreien.168 Auch Evelyn Underhill begrüßt die zeitgenössische philosophische Strömung, die ihrer Meinung nach für die moderne Erforschung der Mystik fruchtbar zu machen ist. Im zweiten Kapitel ihres Werkes über das Wesen der Mystik, unter der Überschrift „Mystik und Vitalismus", erörtert sie nicht nur die gegenwärtige Aktualität und Attraktivität dieses Denkens, seine Ursprünge im Denken Heraklits 169 und seinen Zentralgedanken („Werden, nicht Sein"), der der gesetzlichen Logik das spontane, schöpferische Leben entgegenstelle. Sie erklärt auch ausdrücklich die „erste große Botschaft dieser vitalistischen Philosophie [...]: Höre auf, dich mit deinem Verstände zu identifizieren" 170 zur Grundlehre für den Mystikforscher, der die Psychologie der Mystik zu erfassen sucht. Weder Ottos Kantisch-Fries'scher Idealismus noch Underhills Faszination und ihre Verwertung lebensphilosophischer Ideen für die Mystikforschung 171 sollen hier auf Scholems Kabbalaforschung übertragen werden. Doch steht der jüdische Historiker der religionsphänomenologischen Dichotomie von

i.O. gesperrt). Vgl. das Lob von Kants Antinomien der Vernunft als „Durchbruch durch die Enge der naturalistischen Betrachtung" (ebd., 52) mit Bubers berühmtem Kanterlebnis (Autobiographische Fragmente, in: Schilpp/Friedman (Hg.), Martin Buber, 9f.; Schaeder, Hebräischer Humanismus, 15f.); auch Scholem wurde durch Kants Prolegomena „erschüttert", wie er 1917 Heymann berichtet (Briefe 1,132). 1 6 7 Vgl. Naturalistische und religiöse Weltsicht, 211.262-275; vgl. auch ebd., 238, und Gefühl des Uberweldichen, bes. 20.27.38.42 (zur Heterogonie-Theorie Wundts). 1 6 8 Otto, Naturalistische und religiöse Weltsicht, 210. 169 vgl. Scholems Kritik an der Bezeichnung Bergsons als „modemer Heraklit": „ein ganz entsetzliches Quatschwort, das gerade durch seine, oberflächlich gesehen, Richtigkeit um so scheußlicherwirkt" (Tagebücher 1913- 1917,424f.). 1 7 0 Underhill, Mystik, 43f. 1 7 1 Ihre Zustimmung gilt nicht einem „Vitalismus", der das Werden verabsolutiere wie die Metaphysik das Sein, sondern der „aktivistischen" Philosophie Rudolf Euckens, der das philosophische Problem des Gegensatzes von Sein und Werden durch die lebendige Erfahrung gelöst habe (vgl. ebd., 46-49).

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Denken und Leben 1 7 2 näher, als man es dem nüchternen und kritischen Philologen üblicherweise zutraut Selbst gewissermaßen die personifizierte Intellektualität, erwähnt Scholem nicht nur zustimmend den Psychologen G. Stratton, der „den essentiellen Konflikt zwischen religiösem Leben und Denken betont, der ja auch auftaucht, wenn es sich nicht um Mystik handelt". 173 In seinem Eranosvortrag über die Gottesidee der frühen Kabbala unterscheidet er das biblische Gottesbild und den G o t t Plotins, weil ersteres sich „lebendiger Erfahrung" verdanke, letzterer dagegen ein „Produkt des Denkens" sei. 174 Oder er betont, daß alles Lebendige in Symbolen spreche, weshalb die begriffliche Philosophie den Gottesbegriff v o m lebendigen G o t t entleere. 175 In ähnlicher Weise schreibt Underhill: Wo der Philosoph vermutet und argumentiert, lebt und schaut der Mystiker, und infolgedessen spricht er die schwer zugängliche Sprache der unmittelbaren Erfahrung, nicht die sorgfaltige dialektische Sprache der [philosophischen] Schule. Daher kommt es, daß, während das Absolute der Philosophen eine Konstruktion bleibt, unpersönlich und unerreichbar, das Absolute der Mystiker Liebe weckend, erreichbar und lebendig ist. 176

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Vgl. bes. Heiler zum Gebet, an dem „die abgründige Kluft erkennbar [wird], die zwischen der lebendigen chrisdichen Frömmigkeit und dem modernen Denken gähnt", was einer der möglichen Gründe für die Vernachlässigung des Gebets seitens der Theologie sein könne (Das Gebet, VII): „War es die bange Ahnung des unvermeidlichen Konfliktes mit der modernen Philosophie, die sie davor zurückschreckte? Besaß sie nicht den Mut, offen einzustehen für die irrationale Eigenart des Gebets, wider das Denken zu fechten für das Recht des Lebens?" VgJ. Hauptströmungen, 5; G. Strattone Psychology o/Rtägtous Life erschien 1911, im selben Jahr wie Underhills Mysticism. Grundbegriffe, 10. Bei Bousset führte die Ablehnung von Produkten des Denkens zu dem umfangreichen Versuch nachzuweisen, daß „der Kyrioskult [...] und die Verehrung des Gottes Jesus Christi bis zur fast völligen Ineinssetzung mit Gott dem Vater [...] sich beinahe ohne theologische oder gedankenmäßige Reflexion vollzogen" haben (Kyrios Christos, 259). Da er immer mehr zum Objekt der kultischen Verehrung wurde, habe man schließlich (im nachapostolischen Kyrioskult) empfunden, daß er Gott sein müsse. „Das ist allgemeines und volkstümliches Empfinden [...]. Darin steckt auch ein Stück monotheistischen Empfindens; Gott allein soll man anbeten und verehren. Diese von allen Reflexionen freie, urkräftige, religiöse Empfindung hat in der Geschichte des christologischen Dogmas wieder und wieder durchgeschlagen" (ebd., 247). Kabbala und Mythos, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 119f. Underhill, Mystik, 32. Nur der Gebrauch des Wortes Dialektik ist anders, das bei Scholem kein Spezifikum der rationalen Philosophie ist, sondern Merkmal der spekulativen Mystik (vgl. z.B. Hauptströmungen, 192).

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Verglichen mit dem griechischen Denker Plotin würdigt Scholem die Bibel als Vertreter eines lebendigeren Gottesbildes; vielleicht noch öfter aber stellt er wie im Zusammenhang mit der Liquidation des Mythos in der Bibel - den („philosophisch reinen") ethischen Monotheismus der biblischen Propheten und des nichtmystischen Judentums dem undogmatischen, lebendigen und dynamischen Gottesbfld der remythisierenden Kabbala gegenüber. Nicht nur „das griechische Denken", sondern auch die unmystische Religion ist das Gegenstück zur lebendigen Mystik. Vor allem im Zusammenhang mit der Bestimmimg dieses Verhältnisses von Mystik und nichtmystischer Religion177 zeigt Scholems Betonung der mystischen „Verinnerlichung und Verlebendigung des religiösen Prozesses"178, um mit Troeltsch zu sprechen, einige der älteren religionsgeschichtlichen Forschung durchaus verwandte Züge.

5.3.3 Mystik und prophetische Religion Im ersten Kapitel der Hauptströmungen charakterisiert Scholem Religion im Sinne eines unmythischen und unmystischen „Stadiums der Religionsgeschichte" durch das Bewußtsein der Kluft und der Mittelbarkeit aller Begegnung zwischen Mensch und Gott, vermittelt durch das göttliche Wort und das antwortende Gebet und Handeln des Menschen. Repräsentiert wird dieses Stadium durch die „großen monotheistischen Religionen"179, also prinzipiell die biblische Religion der israelitischen Propheten und das nichtkabbalistische rabbinische Judentum, die Religion der islamischen 'ulama ' und die Religion der katholischen und protestantischen Theologie, die sich alle auf „die Stimme Gottes, leitend und gesetzgebend in der Offenbarung"180 berufen. Scholem beschreibt hier den sogenannten Typus der monotheistischen Offenbarungsreligion, wie er in der älteren Forschung Gegenbegriff zur mystischen Erlösimgsreligion ist. Zuerst hat Nathan Söderblom „diese beiden Hauptrichtungen der individuellen Religion klar und scharf unterschieden", wie Friedrich Heiler im Gebet schreibt und hinzufugt: „Der

177

178 179 180

Vgl. Schweid, Judaism and Mysticism, und Idei, „Rabbinism and Kabbalism", denen es ausschließlich um eine Korrektur des Bildes vom nichtkabbalistischen Judentum geht (s.o. Kap. 1.2). Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 857. Hauptströmungen, 8. Ebd.

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Terminus Offenbarungsreligion' bedeutet hier keine metaphysisch-religiöse Wertung, sondern eine historisch-psychologische Charakteristik."181 Die Scheidung von prophetischer Offenbarungsreligion und mystischer Erlösungsreligion begegnet zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf vielfaltige Weise in den Werken zur christlichen, jüdischen oder allgemeinen Religionsgeschichte aus unterschiedlichsten Richtungen, nicht nur in der Religionsphänomenologie.182 Friedrich Heiler nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er Söderbloms Typologie in sehr spezifischer Form aufgreift und zum Kern- und Angelpunkt seiner eigenen Phänomenologie des Gebets macht. Er begründete die Unterscheidung von zwei Typen religiöser Erfahrung und legte den Grund für die „alte Streitfrage [...], ob prophetische Offenbarung und mystische Erfahrung identifiziert werden können oder sollen"183, mit der Scholem sich fast 20 Jahre nach Erscheinen der Hauptströmungen (im Eranosvortrag über Religiöse Autorität und Mysti/έ) auseinandersetzt. Heiler verbindet verschiedene Ideen aus der älteren Forschung. In Das Wesen der Religion begrüßt Wilhelm Bousset das prophetische Zeitalter im 9.-8. Jahrhundert v.Chr. als „die Zeit der großen Neubildungen im religiösen Leben", in Israel, im Iran und in Griechenland, in Indien und China: „ein merkwürdiges Zusammentreffen. Es ist, als wenn der Baum des religiösen Lebens der Menschheit gleichzeitig an verschiedenen Punkten neue Triebe ansetzt."184 Unabhängig davon scheidet der Religionsgeschichtler den persönlichen und den mystischen Gottesglauben: 15 Jahre vor dem Erscheinen von Martin Bubers Ich und Du setzt er der Mystik den christlichen Gott als den persönlichen, nahen Gott, der mit Du angesprochen werden darf, 181

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Heiler, Das Gebet, 248; vgl. N. Söderblom, Art. Communion with Deity, ERE III, 1910, 738ff.; Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte, Stockholm-Leipzig 1913, 84-105. Die wohl bekannteste Variante stammt von Max Weber, der Persönlichkeit, Transzendenz, Askese (als aktives, sei es innerweltliches, sei es weltablehnendes Handeln) und Unpersönlichkeit, Immanenz, Mystik (als weltflüchtiger kontemplativer Zustand) kontrastiert (vgl. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988, bes. 538; Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, Kap. V, § 10, bes. 329332). Dazu Kippenberg, Max Weber im Kreise von Religionswissenschaftlem, Z R G G 45, 1993, 358f.; ders., Rivalität in der Religionswissenschaft, 85ff., zur Herkunft dieser Typologie, die über Tiele auf Müller zurückgehe. Vgl. auch Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 855. Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 18; eine Frage, die „in der Tat unendlicher Diskussion fähig" sei. Zur Vergjeichenden Religionswissenschaft nach Heiler vgl. vor allem G. Mensching, Die Religion, Stuttgart 1959, 115-120. Bousset, Das Wesen der Religion, 102f.

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entgegen.185 Das Christentum gilt entsprechend als „Religion des Gebets"186 und nicht, wie die indische, als eine Religion der Meditation. Ein knappes Jahrzehnt später verbindet Rudolf Otto den Gedanken der „Achsenzeit"187 mit der Unterscheidung von persönlichem und mystischem Gottesbild. In seiner Darstellung von Parallelen und Konvergenzen in der Religionsgeschichte von 1917 diagnostiziert er jeweils in Griechenland und China zwei Entwicklungslinien: eine mystische und eine persönliche.188 Heiler macht nun, mit Bezug auf Boussets „Religion des Gebets"189, aus der Unterscheidung von persönlichem und mystischem Gottesbild die Unterscheidung von prophetischer und mystischer Frömmigkeit und verbindet sie auf seine Weise mit der Idee paralleler universaler religionsgeschichtlicher Entwicklungslinien. Er findet eine mystische Linie in Indien und Griechenland und eine prophetische Entwicklungslinie vom Alten über das Neue Testament zur Reformation.190 Neue Frömmigkeitstypen seien entstanden durch Kreuzung von prophetischer Offenbarungsreligion und mystischer Erlösungsreligion sowie von Mystik und Volksfrömmigkeit. Das Christentum verdanke der Verbindung der biblischen Religion mit der hellenistischen Mystik seine Fülle von Kombinationsmöglichkeiten, die seine Absolutheit und Einzigartigkeit beweisen.191 Heiler spricht

„Christlicher Gottesglaube ist immer und zu allen Zeiten, wo er kräftig und lebendig war, ein T)u'- und 'Ich'-Sagen gewesen, so klein und winzig auch das menschliche Ich dem allmächtigen Gott gegenüber sich erscheinen mag. Das Ziel eines vollkommenen, mystisch-quietistischen Aufgehens in Gott ist ihm im wesentlichen fremd geblieben." (Unser Gottesglaube, Tubingen 1908, 58; vgl. ebd., 12.16.26f.) 1 8 6 Ebd., 32. 1 8 7 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, bes. Kap. 1 (unter Berufung auf Lassaulx, Neuer Versuch einer Philosophie der Geschichte, 1856, und Viktor von Strauß' Laotse-Kommentar von 1870 als älteste Erörterungen dieser Achse). Auch für Jaspers beendet diese Achse das ,.mythische Zeitalter" (ebd., 21). 1 8 8 Otto, Gefühl des Überweltlichen, 286 (zuerst in Visnu-Nârâyana, Jena 1917, dort 142); die mystische Linie wird vertreten durch die Eleaten, Heraklit, Piaton bzw. Laotse, die persönliche durch Anaxagoras, Timäus, Aristoteles bzw. Konfuzius. 1 8 9 Unter Einbeziehung der ,,israelitisch-jüdische[n] Mutterreligion" (Heiler, Das Gebet, 431); vgl. auch Heiler, Die buddhistische Versenkung, bes. 3.62-69. 190 Vgl. Das Gebet, 233f. Die indische Linie verläuft von der Atman-Brahman-Mystik und den Upanishaden zum Vedanta bzw. über Yoga zum Buddhismus, die griechische von der (vielleicht aus Indien stammenden) orphitisch-dionysischen Mystik über Piaton, Philo und die Mysterienkulte zu Plotin. 1 9 1 Heiler stimmt darum (wie Söderblom) ausdrücklich Harnacks berühmter Formel zu: „Wer diese [die christliche] Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie samt ihrer Geschichte kennt, kennt alle." (Harnack, Reden und Aufsätze II, 168; vgl. Das Gebet, 236; Söderblom, Natürliche Theologie, 86. 185

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zwar von Typen der Religionsgeschichte, denkt aber bei Offenbarungsreligion nur an Bibel und Reformation als einzige Vertreter der prophetischen Entwicklungslinie; das Judentum (in seiner „späten" Phase, die nicht mehr der altisraelitisch-jüdischen Mutterreligion zugerechnet wird) und der Islam (mit Ausnahme des Sufismus) sind als Religionen des Gesetzesgehorsams eine Kategorie für sich. Ausführlich192 unterscheidet Heiler die beiden Kategorien nach dem jeweiligen psychischen Grunderlebnis und anderen psychologischen Charakteristika, nach ihrer Gottesvorstellung, der Wertung der Geschichte, der Stellung zur Autorität, zu Sünde und Heil, zu Ethik und Gemeinschaft, Kultur und Welt und schließlich hinsichtlich ihrer Jenseitshoffnung. Dabei verwendet er sämtliche Dichotomien der allgemeinen Religionsgeschichte und ordnet sie eindeutig den beiden Typen zu. So zeichnet sich Mystik psychologisch aus durch Weltflucht, außerordentliche Bewußtseinserlebnisse, Hang zur Reflexion und Methodik; die prophetische Frömmigkeit dagegen durch Weltzugewandtheit, Naivität und Spontaneität. Das Gottesbild der Mystiker ist unpersönlich, verneinend (Nichts, Abgrund, Leere) und statisch (Ruhe); der prophetische Gott dagegen reflektiert das voluntaristische Glaubenserlebnis, ist lebendige Willensmacht, wirksam und dynamisch, Richter und Barmherzigkeit. Mystik ist übergeschichflich, in der Prophetie ist Geschichte der Bereich der Offenbarung Gottes. Mystiker sind ambivalent gegenüber der religiösen Autorität, einerseits über sie erhaben, andererseits quietistisch-passiv gehorsam ihr gegenüber; die Prophetie vereint harmonisch die Beugung unter die Autorität seitens der Nachfolgenden mit der persönlichsten und lebendigsten Freiheit der wenigen, auserwählten Träger der Offenbarung. In der Mystik ist Sünde metaphysisches Verhängnis der Gottesferne, Ethik nur das letztlich zu überwindende Mittel zum Zweck der unio, die jenseits aller sittlichen Werte steht; in der Prophetie ist Sünde der ethische Abfall vom göttlichen Willen. Mystik ist darum extrem individualistisch, prinzipiell asozial und gleichgültig gegenüber allem Kulturschaffen; der Prophet besitzt dagegen ein soziales Sendungsbewußtsein und ist interessiert an der Harmonisierung der religiösen mit den Kulturidealen. Die mystische Erlösung ist die ewige individuelle unio, die prophetische Erlösimg ist das individuelle ewige Leben, aber auch überpersönliche Vollendung der Welt. Heiler beruft sich mit seiner Typologie zwar auf Söderblom, wendet sich aber nachdrücklich gegen dessen zu weit gefaßten Begriff der Mystik. Die Frömmigkeit der prophetischen Offenbarungsreligion sei nicht als „Sonder192

Das Gebet, 248-283 (Kap. F.II).

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form der Mystik, sondern als völlig selbständige Größe" zu behandeln, denn sie falle nicht unter die Wesensbestimmung der Mystik als „jene Form des Gottesumganges, bei der die menschliche Persönlichkeit sich auflöst, untergeht, versinkt in dem unendlichen Einen der Gottheit."193 Zwar ist seiner Meinung nach Mystik nur selten völlig konsequent durchgeführt worden; meist verliere sie unter dem Einfluß der prophetischen Erfahrung oder der Volksreligion ihren unpersönlichen Charakter. Dennoch besteht er auf der Unterscheidung zweier Typen von Religion, denen psychologisch unterschiedliche religiöse Erfahrungen zugrunde liegen. Er sieht sich in diesem Punkt als Vertreter der engen Mystikdefinition der Ritschlschule, „während die neuere evangelische Theologie ihn in einem weiteren Sinn anwendete".194 Eben diese neuere Theologie vertreten Wilhelm Bousset und Rudolf Otto. So oft Bousset die persönliche und die unpersönliche Frömmigkeit (der indischen Erlösungsreligionen) unterscheidet, so selten differenziert er prophetisch und mystisch, wenn es um ekstatische Erfahrungen Gottes geht, die alle „unmittelbar" und insofern immer irgendwie „mystisch" sind.195 Otto wiederum kritisiert ausdrücklich in seiner Rezension von Heilers Gebet dessen Unterscheidung, die zwar prinzipiell richtig sei, aber eher zwei religionsgeschichtlich wie religionspsychologisch zusammengehörende Pole desselben „religiösen Gemütsverhaltens" beschreibe. In seinen Aufsätzen das Numinose betreffend charakterisiert Otto seinerseits diese beiden „Pole eines einheitlichen Grundaktes"196, nämlich die persönliche und die mystische Weise des Verkehrs mit Numen. Einerseits seien Bezeichnungen wie Wesen, Person, Er oder Du „seltsam fremd, spröde und widerstehend gegen den Inhalt des Erlebnisses selber", weil dieses als unsagbar empfunden werde; andererseits werde die Erfahrung des Numinosen wie beim biblischen Jakob in Bethel unwillkürlich auf eine Gegenwart, „auf ein Etwas, wesenhaft und gegenwärtig und persönlich in seiner Wesenheit" gedeutet.197 Otto versteht dies als Ausdruck der Antinomie in der Idee des Göttlichen, „die

Ebd., 249 (Söderblom unterscheidet Offenbarungsreligion, persönlichkeitsbejahende Willens-, Berufungs- und Persönlichkeitsmystik von akosmischer Erlösungsreligion, verneinender Gefühls- und Unendlichkeitsmysük). 1 9 4 Das Gebet, 249. 195 Vgl Bousset, Religion des Judentums, Anhang zu Kapitel IV, 374-380, wo die ekstatischen Erlebnisse die Apokalyptiker als Fortsetzer des prophetischen Verkehrs mit Gott ausweisen sollen; die Seitenüberschrift lautet: „Das unmittelbare (mystische) Verhältnis des Frommen mit Gott" (374). 1 9 6 Otto, Gefühl des Überweltlichen, 273. 1 9 7 Ebd., 266.

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aus der Spannung ihrer mehr rationalen und ihrer mehr irrationalen Elemente entspringen kann"198. Dem Überpersönlichen im sensus numinis wird die Priorität zuerkannt, der Personalismus gilt als spätere Entwicklung der ursprünglich unpersönlichen Numina. Die personale Gottesvorstellung ist um dieses ursprüngliche Element ärmer, das aber in fast allen hohen Gottesvorstellungen wieder durchscheint, wo das Verhältnis des Gläubigen zu seinem Gotte nicht ausschließlich in der Form des Gegenüber und der Transzendenz erlebt wird],] sondern irgendwie als Ergriffenheit und Erfülltheit vom Gotte, d. h. wo der Gott mit sich selber oder einem Teil von sich eingeht in den Profeten oder den Frommen [...]. Damit tritt die Vorstellung aus dem Kreise der sozialen und personalen Bilderwelt heraus und durchbricht die Schranke des NurPersönlichen. Denn Personen können sich nicht im Ernste durchdringen, können nicht zur einschließenden Sfare füreinander werden, und solche Verhältnisse sind am Persönlichen gemessen durchaus irrationale. 199

In West-östliche Mystik stellt Otto einen Widerspruch fest zwischen dem Abhängigkeitsgefühl der „Religion als 'Theismus'" und der Mystik, die mit großer Kühnheit den Abstand zwischen Geschöpf und Schöpfer über das normalreligiöse Hochgefühl hinaus aufhebe.200 Allerdings sei dies nur ein scheinbarer Gegensatz, denn sowohl Eckhart wie Sankara diente die theistische Religion als notwendiger Unterbau.201 Das Ideal liegt in der Verbindung von beiden Elementen des Numinosen. Die Überlegenheit Eckharts zeigt sich nach Otto eben (unter anderem) darin, daß er das Irrationale der ursprünglichen numinosen Erfahrung mit dem lebendigen, persönlichen Gott, daß er die Idee der Immanenz und der Transzendenz vereint.202 Die prophetische GottesEbd. Ebd., 268f. 2 0 0 West-östliche Mystik (1. Aufl. Gotha 1926; hier und im folgenden zitiert nach der von Th. Siegfried und G. Mensching hg. dritten Aufl., mit übersetzten Zitaten, korrigierten Stellenangaben und Ottos Notizen aus einem nachgelassenen Handexemplar), München 1979, 116. Vgl. Mystische und gläubige Frömmigkeit, wonach die bloße Andacht des einfach, d.h. theistisch-persönlich gläubigen oder „normalreligiösen" Menschen „Analogon (ja Vorstufe) mystischer Erfahrungen" ist (in: Gefühl des Uberweltlichen, 145). 2 0 1 Notwendig in doppelter Hinsicht: Zum einen fehlte ihr sonst die Spannung, vergleichbar einer Sehne ohne Bogen, zum anderen braucht sie ihn als Basis: „Denn keine Mystik wölbt sich im Blauen, sondern jede über einem Grunde eigener Art [...] und zieht aus ihm ihre Säfte" (West-östliche Mystik, 118). 202 vgl bes. West-östliche Mystik, 144.154. In gewissem Widerspruch zur eigenen Definition von normalreligiöser Gläubigkeit als der persönlich-theistischen Form, findet Otto diese Spannung hier auch schon im „schlichten" Glauben, wo das Göttliche als 198

199

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erfahrunpj wie der Titel eines Aufsatzes von 1923 lautet, birgt die irrationalen und rationalen Elemente, „wie die religiöse Erfahrung sie gibt: ineinandergeflossen und vereint"203. Otto nimmt hier keinerlei Bezug auf das Verhältnis zur Mystik,204 nennt aber die prophetischen Geisterfahrungen „mystische Edebnisse". Dem entspricht, daß er in der Studie über die West-östliche Mystik innerhalb der Mystik weltverklärende und weltaufhebende, Persönlichkeitsund Unendlichkeitsmystik unterscheidet. Der Idealfall ist, mag es sich um biblische Prophetie oder Eckhartsche Mystik handeln, in jedem Fall die Synthese, die das rationale persönliche Gottesbild mit dem irrationalen Bild von etwas ganz anderem zum Bilde von dem Ganz Anderen verbindet. Vergleicht man Ottos und Heilers Äußerungen, so zeigt sich, daß das Verhältnis von Prophetie und Mystik jeweils an das zentrale Anliegen der Gelehrten überhaupt rührt. Geht es bei Otto um „das Heilige" als zusammengesetzte Kategorie, so bildet bei Heiler der Gegensatz von prophetischer und mystischer Frömmigkeit nicht nur das Zentrum seiner Phänomenologie des Gebets, sondern auch seiner sonstigen Schriften, in denen er sein Ideal der Evangelischen KathoBqtät darstellt: die Verbindung des mystischen Katholizismus mit der persönlichen Frömmigkeit des Evangeliums und des Protestantismus. Sein wichtigster Vordenker ist ja nicht zufällig Wilhelm Bousset (noch William James, Adolf Harnack oder einer der anderen Autoren, die er im Gebet erwähnt), sondern Nathan Söderblom, der sein großes Vorbild nicht nur in der Erforschung der Religionsgeschichte, sondern auch im Kampf um die sodale Person

203

204

und als dynamische Kraft des Lebens aufgefaßt werde, was zusammen den lebendigen Gott ergibt. Interessanterweise wird dabei die Dynamik dem abstrakten Gottesbild zugeordnet, während sonst Lebendigkeit dem persönlichen Gott eigen ist. Ahnliche Widersprüche finden sich bei Scholem, beschreibt er doch den persönlichen Gott der Bibel einerseits als den lebendigen im Unterschied zum plotinischen Gott, andererseits als den dogmatisch-unlebendigen im Unterschied zur mythisch-kabbalistischen dynamischen Gottheit. Sünde und Urschuld, München 1932, 62. Seit der vierten Auflage erschienen die Aufsätze dasNuminose betreffend getrennt in Teil I (Das ¿an^ Andere) und Teil II (Sünde und Urschuld}·, daß der Aufsatz über die Prophetie in Teil II erschien, zeigt das Uberwiegen des rationalen Elements. Es geht ihm um das Verhältnis der prophetischen Gottesidee zur älteren Vorstellung von El als etwas ganz anderem gegenüber dem Menschen, dessen Wesen numinoser Geist (Ruach) ist. Die ältere Idee zeichnet sich aus durch die „Momente eines entwickelteren sensus numinis überhaupt", ist aber noch unreflektiert. Ihr folgt die „höhere Intuition profetischer Gottesidee, die [...] völlig eigen, unvorhersehbar, unkonstruierbar neu aufbricht als 'schöpferisch neu hervorgebracht', wie der Religionsgeschichtler anerkennen muß, als eine 'revelatio specialis', wie der Theologe behaupten wird" (Sünde und Urschuld, 70).

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Die „Stadien der Religionsgeschichte"

christliche Ökumene ist. Die Vereinbarkeit der Religiositäten ist also für Heiler nicht nur möglich und nicht nur Folge der Vermischung in der Religionsgeschichte, sondern sogar das, was (aufgrund der Erkenntnis des Wesens aller Religion) erstrebenswert ist.205 Obwohl insofern auch Heflers Ideal die Verbindung von Mystik und Prophetie ist, stellt Otto zu Recht eine Differenz fest. Nach Otto sind die Erfahrung des Propheten und des Mystikers beide mystisch, weil unmittelbare Begegnung mit dem Numinosen; dennoch ist das numinose Erlebnis des Propheten rationaler, denn sein Gottesbild (nach Otto: das Numinose, das er fühlt oder erlebt) besitzt mehr rationale Elemente, zeigt die Züge des persönlichen (fordernden und erlösenden) Heiligen. Für Heiler dagegen handelt es sich zwar um unmittelbare, aber nicht um mystische Erfahrungen. Daran hält er auch später noch fest, mag er mystische und prophetische Gotteserlebnisse einander auch noch so annähern. Auf der Eranostagung von 1933 versteht er die biblische Prophetie einerseits als mystisch-kontemplatives Element im Alten Israel und Wurzel der späteren kontemplativen Mystik, hält aber an der alten Dichotomie fest, indem er sie als „Erlebnisse indirekter Gottesschau"206 bezeichnet. Noch 1954 scheidet Hefler zwei Klassen von Sehern, die zwar beide Gott unmittelbar erfahren, nicht abstrakt erdacht hätten; im Unterschied zum Propheten erlebten aber die Mystiker die „letzte und unmittelbarste Erfahrung", und dies auch erst nach langer mühevoller Vorbereitung.207 Auf den ersten Blick scheint Scholems Haltung zum Verhältnis von Prophetie und Mystik der Heilerschen Linie zu entsprechen. Er zählt die Propheten zur klassischen Form der Offenbarungsreligion, wo göttliche 205 y g) dazu a u c h Heiler, Im Ringen um die Kirche, München 1931, 13 (zur Vereinigung der beiden Extreme des dynamisch-lebendigen und des statisch-ewigen Gottes im altchristlichen trinitarischen Gottesbegriff). Allerdings sind die beiden Frömmigkeitstypen „nicht gleichwertig", wie Heiler mit Bezug auf Ottos Rez. von Das Gebet betont (Luthers religionsgeschichdiche Bedeutung, 26); die Mystik ist zwar „verborgener innerer Lebensquell des Katholizismus", aber Martin Luther eigne „wie den biblischen Genien eine religiöse Bedeutung für alle Zeiten" als Vorkämpfer des biblischen Typus, der der Mystik überlegen sei (ebd., 8). Dies wäre Heilers Kritikern entgegenzuhalten, die die „Engfuhrung der echten Religiosität in Richtung Mystik und Spiritualität" kritisieren und behaupten, Heiler betrachte die Mystik als „höchste und reinste Form diesseitiger Religiosität" (Flasche, Religiöse Entwürfe, 210f.). 206 Die Kontemplation in der christlichen Mystik, 247 (wobei er übrigens — 1933 in der Schweizl - besonders hervorhebt, daß dieses Element auch nachzittere „in der subtilen gnostischen Kabbala wie in der schlichten Frömmigkeit des Chassidismus. Die kontemplative Mystik ist keine Eigentümlichkeit der 'arischen' Religion, sondern universal."). 207 Der Gottesbegriff der Mystik, Numen 1,1954,12f.

Mystik und lebendige Religion

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Offenbarung sich in der Geschichte abspielt, und tritt bereits im ersten Kapitel der Hauptströmungen für die prinzipielle Scheidung von mystischer und prophetischer Religion ein. Man dürfe aus Rufus Jones' Definition der Mystik als unmittelbarer Erfahrung nicht etwa folgern, daß alle Religionen letzten Endes Mystik seien, was die historischen Grenzen verwische: Niemand wird im Emst die klassischen Formen der großen Offenbarungsreligionen als mystisch bezeichnen wollen oder etwa die großen Männer der biblischen Religion, Moses, den Mann Gottes, oder die Propheten, nur der Unmittelbarkeit ihrer religiösen Erfahrung wegen als Mystiker in Anspruch nehmen. 2 0 8

Zugrunde hegen beiden Erscheinungen also religiöse Erfahrungen, die beide - die des Propheten wie die des Mystikers - unmittelbare Erfahrungen sind. Darauf besteht er auch fast zwanzig Jahre später, wo er zwei „wesentlich verschiedene Kategorien von Erfahrung" ausmacht: „Und dennoch dürfte es niemandem in den Sinn kommen, zu leugnen, daß der Prophet eine unmittelbare Erfahrung des Göttlichen besitzt."209 Wie für Heiler handelt es sich auch nach Scholem naturgemäß nicht um völlig unvereinbare Phänomene, kann doch der Mystiker auch die eigentlich prophetische Rolle des Reformers übernehmen. Mit der für ihn typischen intellektuellen Redlichkeit weist der Kabbalaforscher auch auf die seiner Auffassung eigentlich widersprechende (in seinen Augen folglich paradoxe) mittelalterliche Theorie der Prophetie hin. Sowohl in der jüdischen als auch in der arabischen Philosophie wurde letztlich der Prophet mit dem Mystiker identifiziert. Trotzdem besteht er auf der Trennung zwischen prophetischer Erfahrung und mystischem Erlebnis, das vage, allumfassend, unartikuliert und gestaldos sei. Der Prophet dagegen vernehme - auditiv oder visuell — eine deutliche Botschaft, deutlich im Empfang wie im Gedächtnis; damit verbunden sei der direkte Anspruch auf Autorität. Betrachtet man Scholems Variante der Gegenüberstellung von Prophetie und Mystik vor dem Hintergrund der älteren religionsphänomenologischen Kontroverse, so fällt auf, daß Scholem seine Auffassung nicht mit dem Gottesbild begründet. Die ältere religionsgeschichtliche Forschung stimmt gerade darin überein, daß sie den persönlichen Gott der Prophetie, die unpersönliche Gottheit der Mystik zuordnet. Otto und Heiler sind sich einig in der Unterscheidung von persönlicher bzw. unpersönlicher Gottesvorstellung, wobei die persönliche als die in irgendeiner Form höherstehende Vorstellung 208 209

Hauptströmungen, 7. Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 19.

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Die „Stadien dec Religionsgeschichte"

gilt, sei es, weil sie rationaler, sei es, weil sie weltzugewandter und darum wärmer und lebendiger sein soll. Es entspricht dem gewohnten Bild von Scholem und seiner Betonung der Devekut als Kommunion, nicht völliger Einigung mit Gott, daß er der jüdischen Mystik die Erfahrung des persönlichen Gottes nicht absprechen will. Ebensowenig will er die Kabbalisten als weltflüchtige Mystiker verstanden wissen, die sich von Geschichte und Gemeinschaft abwenden, auch wenn er ihre Begegnung mit Gott in der Seele und nicht auf dem Schauplatz der Geschichte stattfinden läßt.210 Dagegen will es ganz und gar nicht zu diesem Bild passen, daß ausgerechnet Scholem nicht unterschiedliche Ideen, sondern die religiöse Erfahrung selbst zur Grundlage seiner Unterscheidung macht. Und mehr noch: daß er beide „Erfahrungstypen" ausdrücklich als unmittelbare Erfahrungen versteht — darin nun wieder völlig im Einklang mit der klassischen Religionsphänomenologie und der Religionsgeschichtlichen Schule. Obwohl des klassischen Gegensatzes persönlich-unpersönlicher Gotteserfahrung beraubt, erscheint bei Scholem der Gegensatz viel radikaler, während für Otto und Heiler das Ideal die Verbindung von beidem ist, sei es um einer wahren, ökumenischen Frömmigkeit willen, sei es wegen des rational-irrationalen Doppelaspektes des Heiligen. Im Grunde betont Scholem wesentlich stärker den Gegensatz von Mystik und prophetischer Offenbarungsreligion. Hierin scheint seinerseits das eigentliche Anliegen seiner Unterscheidung von mystischer und prophetischer Erfahrung zu hegen: den Gegensatz von mystischer und nichtmystischer Religion im Judentum in oder mit der Religionsgeschichte zu begründen, als einen Gegensatz jedoch, der nichts mit dem Charakter der Gottesidee oder gar der größeren Rationalität der prophetischen Gotteserfahrung zu tun hat.211 Nirgends spricht Scholem davon, daß unmittelbare religiöse Erfahrungen rational wären. So sehr es ihm um die Differenzierung zwischen prophetischer und mystischer Religion geht, so wenig haben beide mit Rationalität zu tun — die die Sache weder der Mystik noch der Prophetie, sondern der Philosophie und Theologie ist. Die unmystische prophetische Religion ist nur dann die rationalere (respektive „philosophischere"), sofern sie dogmatische Theologie ist, sie ist es nicht hinsichtlich ihrer religiösen Erfahrung. Die unmittelbare Erfahrung der prophetischen Offenbarungsreligion aber (mit ihrer deutlichen Botschaft und direkten Autorität) wird offensichtlich als eine Erfahrung charakterisiert, die der biblischen Vergangenheit angehört. So droht der nichtmystischen Offen-

210 211

Zu beiden Aspekten ausführlicher weiter unten Kap. 6 und 7.1. Auch bei Weber ist der (innerweltliche) Asket ein „Rationalist" im Unterschied zum irrationalen Mystiker ( vg}. bes. Wirtschaft und Gesellschaft, 329).

Mystik und lebendige Religion

213

barungsreligion die Gefahr, zur erfahrungs- und darum leblosen dogmatischen Theologie zu werden, zur ,,rationale[n] Theologenreligion" 212 , um mit Heiler zu sprechen.

5.3.4

Religion und Religiosität

Hinter Scholems Gedanken einer Verlebendigung der dogmatischen Religion durch die Mystik steht weniger die klassische Unterscheidung von prophetischer Offenbarungs- und mystischer Erlösungsreligion als die Dichotomie von Religion und lebendiger Religiosität, eine „Scheidung, die sich auf einen damals weitverbreiteten Sprachgebrauch stützte" 213 , wie Scholem in bezug auf Martin Bubers Rede über Jüdische Religiosität (von 1915) feststellt. Es handelt sich um die dritte der Reden über das Judentum für den Prager Bar KochbaVerein. Darin stellt Buber seinen Gedanken über die jüdische Religiosität einige Überlegungen über das Verhältnis von Religion und Religiosität allgemein voran. Zu den ersten Sätzen dieser Unterscheidung, nach denen Buber dann „in eine zweifelhafte Antithesen aufstellende, pathetische Rhetorik ausgleitet", schreibt Scholem:

212

213

Heiler, Der Katholizismus, Kap. IV; sie ist hier der vierte Haupttyp des Katholizismus und steht „in einer ganz anderen Sphäre" als der irrationale Glaube; sie „ermangelt des Sinnes für das unergründliche Geheimnis des Göttlichen" (355), dessen Welt sie nur eindimensional sieht (359) wegen der „Mißachtung des fundamentalen Gesetzes vom Symbolismus" (361). Es „erfahrt jedes einfache Weiblein, das in der Andacht eine Kerze vor dem Madonnenbild ansteckt, viel mehr von der göttlichen Wirklichkeit als jene klugen und scharfsinnigen Theologen, die aus der göttlichen Offenbarung ein rational faßbares dogmatisches System herausspinnen" (360). Vgl. auch Heilers Klage an Söderblom über das Studium in München: „nur tote Dogmatik" (Hügel/Söderblom/Heiler, Briefwechsel, 82). Judaica 2, 149; vgl. bereits Bubers erste Rede von 1911 (Der Jude und sein Judentum, 10) sowie Scholems Polemik gegen die Erlebnismystiker im Volksheim, „die so gar keinen Begriff vom Judentum haben, daß sie sich mit jüdischer 'Religiosität' (wie heißt das auf hebräisch??) die Zeit vertreiben und mit ihr vor Gojim und jungen Mädchen ästhetisieren" (Tagebücher 1913-1917, 398). - Zur Übernahme der Terminologie von Georg Simmel vgl. Schaeder, Hebräischer Humanismus, 34f.; Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, 83ff. In der religionsgeschichtlichen Schule waren Religiosität oder Frömmigkeit die Kampfbegriffe gegen die Dogmatik der Ritschlschule (vgl. Graf, Der "Systematiker", bes. 249, zu Boussets Bestimmung der Aufgabe neutestamentlicher Theologie als „Rekonstruktion gelebter Religiosität" schon in den Promotionsthesen).

214

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

Es ist nicht schwer zu sehen, daß Buber [...] wie immer man zu der hier verwandten Terminologie stehen möge, den Finger auf einen durchaus bedeutenden und für das Verständnis der Religionsgeschichte fruchtbaren Sachverhalt legt. 2 1 4

Diese Zustimmung bezieht sich auf Bubers Definition von Religiosität und Religion: Religiosität ist „das stets neu werdende, stets neu sich aussprechende und ausformende, das staunende und anbetende Gefühl des Menschen", das Verlangen nach Gemeinschaft mit dem „Unbedingten" und dessen Verwirklichung in der Welt durch Tun. Demgegenüber ist Religion „die Summe der Bräuche und Lehren". Wahrheit und Fruchtbarkeit der Religion sind gewährleistet so lang, als die Religiosität das Joch der Vorschriften und Glaubenssätze auf sich zu nehmen, sie doch [...] mit neuem glühenden Sinn zu erfüllen und zuinnerst zu verwandeln vermag, daß sie jedem Geschlecht erscheinen, als wären sie ihm selber heute offenbart [...]. Sind aber die Riten und Dogmen einer Religion so erstarrt, daß die Religiosität sie nicht zu bewegen vermag oder sich ihnen nicht mehr fügen will, dann wird die Religion unfruchtbar und damit unwahr. 2 1 5

Sieht man von der typisch (Früh-)Buberianischen Terminologie des Unbedingten und der Verwirklichung ab, findet sich hier sowohl klassisch phänomenologisches wie typisch Scholemsches Gedankengut. Der innerlichen Verwandlung der Riten und Dogmen bei Buber entspricht Scholems Beschreibung der Ideologie der Halacha, die „den alten Bestand zu retten unternimmt, indem sie ihn in der Interpretation verwandelt"216. Erinnert das staunende und anbetende Gefühl unmittelbar an Rudolf Ottos numinoses Moment des Mirum bzw. Stupendum, so begegnet bei Scholem zumindest das „lebendige Gefühl" und die lebendige Erfahrung. Der Gedanke einer Gemeinschaft mit dem Unbedingten läßt sich übersetzen in das Erlebnis des Heiligen bei Otto wie in die Communio mit dem Göttlichen bei Scholem. Denn wie das „Einheitsbewußtsein", die Unmittelbarkeit der Erfahrung des Göttlichen, das wichtigste Kennzeichen des Mythos ist, dessen Fordeben in Merkabamystik und Kabbala die Lebendigkeit des mystischen Judentums garantiert, so ist die mystische Erfahrung Gottes das Moment, das nach Scholem die Verlebendigung der Religion durch die Mystik bewirkt.

214

215 216

Judaica 2, 150f. (die Kritik bezieht sich auf die Anhäufung der Antithesen SchaffenOrganisation, Aktivität-Passivität, Ziel-Zweck, Erneuerung-Erhaltung). Buber, Der Jude und sein Judentum, 66 (zitiert bei Scholem, Judaica 2, 150). Hauptströmungen, 25 (s.o. Kap. 4.2.1).

Mystik und lebendige Religion

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Die Mystiker entdecken die Quellen der Autorität der traditionellen Religion von sich aus noch einmal neu, wie es in Religiöse Autorität und Mystik heißt: „Ihr Weg hat sie zu derselben Quelle zurückgeführt, aus der sie entsprungen ist."217 Derselbe Gedanke findet sich im Vortrag über Mystik und Gesellschaft, wo Scholem sich auf Leo Baeck beruft, unmittelbar nach der Zustimmung zu Troeltschs Definition der Mystik als the striving for immediacy, inwardness and presence of religious experience, as an awareness of the living experience of the Divine, vouchsafed to individuals living in institutionalized and traditional forms of religion. 218

Die Mystiker besitzen also „das Bewußtsein der lebendigen Erfahrung", die demnach in der Religion weniger lebendig, sozusagen unter allen Mitteln begraben ist. Diese Rückkehr zu den Quellen der lebendigen Erfahrung will Scholem nicht so verstanden wissen, als verlören sich die Mystiker völlig in die „'reine Innerlichkeit', nach einem Lieblingsausdruck der protestantischen Theologie"219. Er kritisiert damit die Deutung von Mystik als Rückzug aus der sozialen Umwelt, akzeptiert aber die Interpretation der Mystik als Verinnerlichung der institutionalisierten Religion. Dieser Gedanke der mystischen „Interiorisation"220 — so der von Scholem seinerseits bevorzugte Ausdruck begegnet immer wieder im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Merkabamystik oder Kabbala und dem rabbinischen Judentum. Wie in der älteren Religionsgeschichte hat der Konflikt zwischen Religion und lebendiger Religiosität, dem mystischen „Drang nach Verinnerlichung und Verlebendigung der objektiven Religion"221, auch bei Scholem zwei Seiten: 217 218

219

Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 15; vgl. Hauptströmungen, 10. Mysticism and Society, 2f.; vgl. Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 850: „Die Mystik im weitesten Sinne des Wortes ist nichts anderes als das Drangen auf Unmittelbarkeit, Innerlichkeit und Gegenwärtigkeit des religiösen Erlebnisses. Sie setzt die Objektivierung des religiösen Lebens in Kulten, Riten, Mythen oder Dogmen bereits voraus und ist entweder eine Reaktion gegen diese Objektivierungen, die sie in den lebendigen Prozeß wieder zurückzunehmen sucht, oder eine Ergänzung der herkömmlichen Kulte durch die persönliche und lebendige Erregung." Mysticism and Society, 5; vgl. Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 850: „Die religiöse Urproduktion selbst [...] ist [...] nie mystisch. Wohl aber wird die Lebendigkeit der religiösen Produktion gegenüber der objektivierten Religion leicht und oft zu mystischen Erscheinungen. Sie äußert sich als Enthusiasmus und Orgiasmus, als Vision und Halluzination, als religiöser Subjektivismus und Spiritualismus, als Konzentration auf das rein Innerliche und Gefühlsmäßige."

220

Judaica 3,71.199; vgl. Devarim btgo, 193 Ipenimijut chadasha).

221

Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 858.

216

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

sowohl das rationale Denken als auch institutionalisierter Ritualismus bedrohen das religiöse Leben. Sterben Glaubensvorstellungen, allen voran das Gottesbild, ohne die religiöse Erfahrung ab zu leblosen Denkprodukten, so verlieren religiöse Riten ihre Lebendigkeit, wenn sie zur institutionalisierten Pflichterfüllung werden. Ihren klassischen Ausdruck fand diese Doppelseitigkeit in Heilers Gebetsphänomenologie, die das rituelle und das philosophische Gebet (Typen bzw. Kap. Β u. C) dem Prototyp des spontanen, unreflektierten Bittgebets (A) gegenüberstellt. Das ideale Gebet ist das des unreflektierten, naiven Beters, denn es ist „der echte und unmittelbare Ausdruck dessen, was er erlebt"222; es wird nach Heiler in der mystischen und vor allem der prophetischen Religion lebendig erhalten. Demgegenüber wird im Gebetsideal der Philosophen das Gebet — nicht anders als nach Scholem die allegorisch gedeutete Halacha — zum bloßen, prinzipiell entbehrlichen ,,pädagogische(n) Hilfsmittel"223 der Ethik: Das rationale philosophische Denken bedeutet die Zersetzung und Auflösung des Gebets. Das Gebet wird einer Fremdgesetzlichkeit unterworfen, wird unter die Nonnen der philosophischen Ethik, Erkenntnistheorie und Metaphysik gezwängt [...]. Der Beter darf nicht aus tiefstem Herzen zu Gott reden [...]; die zur Gebetsaussprache drängenden Affekte und Wünsche müssen unterdrückt werden. Das philosophische Gebetsideal, das die philosophische Kritik dem lebendigen Beten gegenüberstellt, erscheint dem religiösen Menschen ebenso wie dem Religionspsychologen als ein kahles Abstraktionsprodukt [...]. Das philosophische Gebetsideal ist nur in den engen Kreisen einer philosophischen Schule, aber niemals in weiten Volkskreisen zur Gebetspraxis geworden. Es besaß keine Lebenskraft; es konnte nur auflösend und zerstörend wirken. 224

Die rituelle Gebetsformel wiederum ist die Folge eines Erstarrungs- und Mechanisierungsprozesses; hier

222 223 224

Das Gebet, 148. Das Gebet, 216. Ebd., 217ff. (vgl. z.B. auch den Vergleich mit dem mystischen Gebetsideal, das wie das Gebet der Philosophen das letzte Anheimstellen aller Wünsche an Gott bis zur wunschlosen Ergebung ins Schicksal kennt, jedoch nicht so frostig und unpersönlich ist, weil es nicht sittlichem Willen entspringt, sondern aus religiösem Edeben quillt ebd., 207).

Mystik und lebendige Religion

217

droht das Bewußtsein der Gegenwart Gottes und des Kontaktes mit ihm sich zu verlieren. Wo nicht mehr starke Gefühlsregungen wirksam sind, schwindet die innere Anteilnahme [...]. Das mechanische Beten ist Seelen-, gedanken- und stimmungslos. 225

Das Gebet wird, wie Heiler mit deutlichem Bezug zur Dichotomie MagieReligion schreibt, „zu einer sich selbst wertvollen und wirksamen Formel"226 und „sinkt zum Zauberspruch herab, wenn den Gebetsworten eine unfehlbare, immanent-magische Kraft zugeschrieben wird"227. Heiler verbindet die Kritik der Magie mit dem Gedanken, daß die Institutionalisierung zur offiziellen Religion alle freie Religiosität erstickt, wie im Falle der antiken Priesterreligionen: „Wo sich lebendige religiöse Kräfte in ihnen regten, erfolgte eine innere Loslösung von der offiziellen Kultreligion."228 Dies gilt nicht für das gottesdienstliche Gemeindegebet, solange es wie in der alten Kirche und alten Synagoge „frei von aller konventionellen Gebundenheit und allem steifen Formalismus und toten Traditionalismus"229 ist und „kräftiges, religiöses Kollektiverleben" bleibt, der „innerlich notwendige Ausdruck der gemeinsamen religiösen Erfahrung einer enge [sie] verbundenen Gruppe".230 Auch Scholem spricht vom lebendigen religiösen Gefühl als notwendige Voraussetzung füir die Erfüllung der vorgeschriebenen (rituellen und ethischen) Gebote der Religion. In Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen schreibt er über den grundsätzlichen Konflikt zwischen spontaner und rein pflichtgemäßer Erfüllung der Gebote: Aber dieser Konflikt liegt ja in jeder religiösen Pflichthandlung verborgen: das Vorgeschriebene soll doch zugleich aus Freiheit und unmittelbarem Antriebe quellen. [...] Diese Antinomie wird stets nur vom lebendigen religiösen Gefühl überwunden. 231

Dieses lebendige Gefühl (die Religiosität) bedroht weniger die Institutionalisierung der Religion als die mythisch-magische Reaktion in der Mystik - wegen der Gefahren eines 'theosophischen Schematismus' oder eines magischen Mechanismus wie es schon vor hundert Jahren Samson Raphael Hirsch formuliert hat - [...]. Es besteht

225 226 227 228 229 230 231

Ebd., 154. Ebd., 155. Ebd., 156. Ebd., 162. Ebd., 425. Ebd., 431. Hauptströmungen, 33.

218

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

die Gefahr, daß ein magischer Mechanismus in jeder einzelnen Handlung wirksam gedacht und damit gerade die Spontaneität der Handlung beeinträchtigt wird. 232

Im Eranosvortrag über den Ritus der Kabbaästen heißt es wiederum, daß die Kabbala wie alle Mystik, die traditionelle Formen benutze, wegen ihres Reichtums an rituellen Formen oft den Geist zu ersticken drohe.233 Wenn Scholem betont, daß die kabbalistische Ideologie der Halacha die Ausübung der rabbinischen Riten lebendig hielt, richtet sich das nicht gegen den Ritualismus im rabbinischen Judentum schlechthin, sofern das Gefühl noch lebendig ist. Über die rabbinischen Gemeindegebete schreibt Scholem zum Beispiel ganz im Sinne Heilers, sie „stellen keine individuellen religiösen Ergüsse des einzelnen dar, sondern sprechen das Fühlen der Gemeinde aus"234. Sie sind darum eine „Institution durchaus unmystischer Art" 235 , aber nicht unlebendig. Anders die philosophisch-theologischen Begründungen der Halacha im mittelalterlichen Judentum, dem die naive Selbstverständlichkeit der talmudischen Literatur abhanden gekommen ist. Die maimonidischen Gründe der Gebote schafften es nicht, „die Begeisterung für deren reale Ausübung, ihre unmittelbare Lebenskraft zu steigern".236 Dasselbe gilt in besonderem Maße für Liturgie und Gebet. Die Liturgie ist nach Scholem „jederzeit ja der lebendigste Spiegel religiösen Lebens"237. Das Gebet ist der Mystik wesensverwandt durch die Verbundenheit mit der lebendigen Erfahrung Gottes: Das Gebet ist das natürliche Medium, in dem der Gläubige mit seinem Gott in Verbindung tritt. So ist das lebendige Gebet, das Gebetsleben des Menschen der naturliche Träger möglicher mystischer Bewegungen. Das Gebet richtet sich auf irgend etwas, es kommt irgendwo nach Hause. Es kann also nicht verwundem, daß in diesem Bezirk Mystisches aufbricht. 238

Vergleicht man Scholems Äußerungen über Gebet und Liturgie mit Heilers Werk über das Gebet, lassen sich die Übereinstimmungen - daß Riten eigent2 3 2 Ebd., 32f. 233 vgl. Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 175f. Vgl. Heiler zum „Wüste des Zauberwesens", der die schöpferischen religiösen Kräfte in den antiken Priesterreligionen erstickte (Das Gebet, 162). 2 3 4 Judaica 3, 86. 2 3 5 Ebd. 2 3 6 Hauptströmungen, 31. 2 3 7 Ebd., 313. 2 3 8 Judaica 3, 86; vgl. Hauptströmungen, 35ff.

Mystik und lebendige Religion

219

lieh spontan, aus unmittelbarem Antrieb und Gefühl heraus ausgeführt werden müssen und das Gebet seinem Wesen nach lebendiger Verkehr mit Gott ist offenkundig dadurch erklären, daß beide das theologische Gedankengut ihrer Quellen, die sich in diesem Punkte ja letztlich einig sind, zur Grundlage ihrer Phänomenologie der Religion bzw. des Gebets machen. Die rabbinische Forderung nach Kawwana wie die lutherische Forderung nach „Aufhebung des Gemüts oder Herzens zu Gott"239 werden verabsolutiert zu Aussagen über das Gebet in der Religion.240 Die Gebets- und Gebotsauffassung ist so selbstverständlich, daß Scholem den Konflikt jeder Pflichthandlung umschreiben kann „mit einem berühmten talmudischen Paradox [...]: 'Größer ist der, der tut, was befohlen ist, als der, der tut, ohne einen Befehl empfingen zu haben.'"241 Daß Scholem ausgerechnet dieses Zitat wählt, dürfte nicht nur mit seiner Vorliebe für das Paradoxe zu tun haben, sondern auch mit der Provokation des Bildes vom Gesetzesjudentum. Für Heiler und seine christlichen Kollegen (wie auch für Martin Buber242) wurde ja das mechanisierte Pflichtgebet der institutionalisierten Religion durch das rabbinische Judentum und sein „Gesetz", seine Torafrömmigkeit, repräsentiert.243 In diesem Punkt aber entfernt sich Scholem ganz entschieden von der älteren Religionsforschung.

Zitiert bei Heiler, Das Gebet, 405. Auch bei Martin Buber begegnet der Gedanke, in der für ihn typischen Sprache seiner eigenen Theologie von 1921 anverwandelt (Werke III, 820): „Je unwillkürlicher das Gebet ist, je unmittelbarer es aus der naturhaften Tiefe des Menschen, aus der kosmischen Spontaneität dessen hervorbricht, der das Abbild des sphärenumfassenden Urmenschen trägt, um so wirklicher ist es." 2 4 1 Hauptströmungen, 33. 2 4 2 Scholem kritisiert an Bubers Dichotomie Religion-Religiosität, daß sie die Abwendung vom halachischen Judentum begründen soll: „Stets ist das Judentum hier ein Kampf zwischen dem Priester und dem Propheten, zwischen den Rabbinen und den [...] Ketzern, zwischen dem Gesetz der Hahcha und der volkstümlichen Aggada und der Welt der Mystik. Mit wachsender Einsicht ist Buber von der Radikalität dieser Antithesen, in denen er zwanzig Jahre lang schwelgte, abgerückt und hat hier und da eine gerechtere 'Verteilung der Akzente vorgenommen" (Judaica 2 , 1 5 2 ) . 243 vgl. Heiler, Das Gebet, Kap. J (dabei dient das Achtzehngebet als Beispiel sowohl für das lebendige altsynagogale Gemeindegebet als auch für das erstarrte Pflichtgebet der Gesetzesreligion: vgl. z.B. ebd., 444f. und 482). 239

240

220

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

5.3.5

Lehre und Leben

Innerhalb der klassischen Phänomenologie, deren Zentrum die religiöse Erfahrung bildet, ist die Dichotomie Religion/Religiosität mit ihren zwei Seiten - als Gegensatz von Denken und lebendiger Erfahrung einerseits und von Institutionalisierung und Spontaneität andererseits - völlig konsequent: Wenn religiöse Erfahrung ihrem eigentlichen Wesen nach sowohl irrational als auch spontan sein soll, so steht sowohl rationale Theologie als auch institutionalisierter Ritualismus diesem Wesen entgegen. Die Erfahrung ist das Primäre, theologisches Denken und ritualisiertes Handeln das Sekundäre, Uneigentliche. Heiler bezeichnet ausdrücklich das religiöse Erleben als die primäre Quelle seiner Untersuchung, philosophische Theologie, Riten und Ethik dagegen als sekundäre Phänomene. 244 Dagegen besteht ein grundlegender Widerspruch zu den für Scholems Phänomenologie zentralen Ideen über Offenbarung und Auslegung, Tora und Tradition, genauer zu seinem zentralen Credo der Vermitteltheit und notwendigen Auslegung aller religiösen Offenbarung. Die konkrete Offenbarung ist als göttliche zugleich das Absolute, dieses „absolut Konkrete" jedoch ist das Unvollziehbare schlechthin. Es muß gedeutet werden, um anwendbar zu sein. Auslegung ist prinzipiell notwendig und darum nicht etwa zweitrangig - und sie kann sehr wohl lebendig sein. Scholem spielt zwar Denken und Leben, Mechanik und spontanes Gefühl gegeneinander aus und stellt die Mystiker auf die Seite des Lebendigen, Spontanen und Schöpferischen 245 , weil sie die religiöse Erfahrung kultivieren. Er spricht jedoch nie wie die ältere Forschung von einem Konflikt zwischen Lehre und Leben. Nicht umsonst wendet sich Scholem energisch gegen Martin Bubers Variante dieser religionsgeschichtlichen Kategorisierung. Selbstverständlich erscheint sie auch bei Buber nicht in dem Sinne, in dem die christlichen Phänomenologen und Religionsgeschichtler sie verstanden. Danach galten Jesus und die Evangelien als Vertreter einer neuen kräftigen 244 245

Das Gebet, 21. Wobei Scholem sehr viel häufiger von lebendiger als von spontaner Erfahrung spricht. Scholems Lebendigkeitsideal ist nicht wirklich ein Spontaneitätsideal. Die Gefahr besteht im Verlust weniger des spontanen Charakters der religiösen Erfahrung als vielmehr ihrer schöpferischen Wirkung. Die lebendige Erfahrung garantiert die ständige (dialektische) Erneuerung des Überlieferten, die stets neue Vitalität (,,chijjunijut chadasha": Devarim bego, 234; vgl. ebd., 191f). Die schöpferische Erneuerung ist aber nie eine creatio ex nihilo im Sinne des Spontaneitäts- und Originalitätsideals, weil sie Deutung der schon vorhandenen Offenbarung ist.

Mystik und lebendige Religion

221

und lebendigen evangelischen Frömmigkeit, das Judentum dagegen als Repräsentant kraft- und lebloser Verkündigung und Befolgung von Lehre. Der berüchtigtste Vertreter dieser Auffassung ist Wilhelm Bousset mit seiner Stilisierung „des Volkskindes und des Laien" Jesu, dessen eigentlicher Gegner die „tote Gelehrsamkeit" der Schriftgelehrten ist, wie es in der kleinen Schrift Jesus heißt, erschienen in der Reihe der Religionsgeschichtlichen Volksbücher fär die deutsche und christliche Gegenwart.246 Für den christlichen Theologen ist bei Jesus alles „zunächst unmittelbares Leben und That, fast nichts Lehre und Theorie".247 Bezüglich der späteren Legendenbildung in der Gemeinde ist ihm wichtig, daß sie bei aller Dichtung „ein gutes Stück des echten und ursprünglichen Lebens bewahrt" 248 hat. Bei Buber erscheint ein ähnlicher Gegensatz im Rahmen seiner Deutung des Chassidismus, der keine Lehre, sondern eine „Lebenshaltung" sei. Folglich sei nicht von der Lehre auszugehen, wenn man die Bedeutung des Chassidismus für die jüdische und die allgemeine Religionsgeschichte erfassen will, denn Lebenshaltung sei keine Verwirklichung der Lehre, sondern „eher ist es umgekehrt die neue Lebenshaltung, die nach einem gedanklichen Ausdruck, nach einer theologischen Ausdeutung drängt"249. Auch die Zaddiqim verkündeten keine (kabbalistisch-gnostische) Lehre über Gott und die Welt, sondern: „Sie sind die Lehre". Eine Lehre, die hoch über das kodifizierbare Was des Tuns das nicht festzulegende Wie stellt, wird ihr Eigentliches nicht durch die Schrift übergeben können; immer wieder wird

246

Bousset, Jesus, Tübingen 1907, 31; vgl. Otto, Sünde und Urschuld, 23f. (zum „Glauben" bei Paulus und Luther als Aufhebung des Gesetzes, das Forderung, Belehrung und Zwang darstellt); ohne Bezug auf das Spätjudentum, z.B. bei Underhill, Mystik, 109f.

247

Bousset, Jesus Predigt, 5 1 ; vgl. 58: „Es ist ein schöpferisches neues urkräftiges Leben, das hier gelebt ist, dessen eigendiche Grösse und Kraft, wie die alles schöpferischen Lebens, mehr im unbewussten unausgesprochen liegt - Jesus hat nicht eine neue Religionsgemeinde gründen wollen, aber er gründete sie - , mehr in einer nicht zu Wort kommenden, aber das Leben mächtig beherrschenen Grundstimmung". Vgl. Religion des Judentums, bes. 136f.449f., zum epigonenhaften und unschöpferischen Charakter des Spätjudentums: „Der Glaube ist Buchweisheit, er ist nicht auf dem Wege schöpferischer persönlicher Offenbarung entstanden, er ist angeeignet und angelernt." Bousset, Kyrios Christos, 74. Buber, Die chassidische Botschaft: Werke III, 758.

248 249

222

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

es sich durch das Leben, von Führer zu Gemeinde, vornehmlich aber von Lehrer zu Schüler mitteilen. 250

Die chassidische Lehre ist nur die nachträgliche Ergänzung eines Lebens, das wirklich gelebt wurde.251 Scholem kritisiert diese Gedanken in seiner umfassenden Kritik an Martin Bubers Deutung des Chassidismus, die er als Begründung füir die Überzeugung, daß die Legenden, die Anekdoten aus dem Leben der Zaddiqim, als Hauptquelle zu bewerten seien, nicht gelten lassen will. Die Unterscheidung der Kategorien sei als methodisches Prinzip „überaus fragwürdig": Denn was ist eine 'Kategorie der Lehre' im Gegensatz zur einer des 'Lebens', wenn es sich um die Analyse eines historischen Phänomens handelt, dessen Lehre nicht etwa von dem Leben, das sie forderte, durch einen Abgrund getrennt, sondern mit diesem Leben unauflöslich verbunden ist? 252

Bezug nehmend auf Bubers Formulierung, nach der die Legende der „Text", die theoretische Literatur dagegen der „Kommentar" sei, schreibt er: Bubers Metaphern über Text und Kommentar sind irreführend und lassen den historischen Sachverhalt nicht erkennen, demzufolge der sogenannte Kommentar die erste und höchst autoritative Darlegung über die Bedeutung dieses Lebens war, lange bevor die Legende sich um es rankte. [...] Das Leben spiegelt sich sowohl in der Legende wie in der Lehre wider, aber es muß nachdrücklich gesagt werden, daß zwar die Entstehung dieses chassidischen Lebens selber tief von den Ideen beeinflußt und gestaltet wurde, die in der theoretischen Literatur niedergelegt sind, während es in seinem Ursprung sicherlich nicht von der Legende beeinflußt war. 253

Nach Scholem also ist „Kommentar", d.h. die kabbalistische Lehre der Chassidim, nicht sekundäre Deutung von Ideen anderen Ursprungs, sondern eben diese Lehren sind das Primäre und spiegeln das ursprüngliche Leben wider. Zu Bubers Antwort auf seine Kritik bemerkt Scholem, die Gedanken über „das Verhältnis von Lehre und Legende zum Leben der Gemeinde in der 250

251 252

253

Ebd., 813; vgl. Die Erzählungen der Chassidim: Werke III, 84: „Nicht die Lehre des Zaddiqs, sondern sein Dasein übt die entscheidende Wirkung." Vgl. Werke III, 78. Judaica 1, 177. Es geht hier auch um Bubers Selbstverständnis: vgl. Scholems Kritik an Buber, „der es sogar ablehnte, eine Lehre zu haben, die man übermitteln könne" (Judaica 2, 137). Scholem, Judaica 1, 177f.

Mystik und lebendige Religion

223

Religionsgeschichte"254 würden in ihrer Allgemeinheit kaum auf Widerspruch stoßen. Damit akzeptiert er Bubers Feststellung einer „Gefahr der 'objektiven' Verbegrifflichung"255 bei der Überlieferung des einst in einer konkreten Situation gesprochenen Wortes. Aber er wendet ein, daß Buber den bezüglich des Chassidismus entscheidenden Sachverhalt verkenne. Es gibt nach Scholem in den Quellen keinen Anhaltspunkt für einen Widerspruch zwischen der besonderen Eigenart des Gruppenlebens der ersten Gemeinde (bzw. der Lehrsprüche ihres Begründers) und den Begriffen, in denen es in den ältesten theoretischen Schriften formuliert wurde. In diesen Schriften, von den unmittelbaren Schülern des Baalschem und unter Benützung kabbalistischer Begriffe verfaßt, ist vielmehr „der ursprüngliche Antrieb, der hier wirksam war, zu unverstelltem Ausdruck gelangt"256. Hier zeigt sich, wie Scholem das Verhältnis von Lehre und Leben versteht: Allgemein in der Religionsgeschichte droht das ursprüngliche Leben mit der theoretischen Verbegrifflichung verlorenzugehen, im Falle der jüdischen Mystik aber gibt die mit Hilfe der kabbalistischen Begriffe entfaltete Lehre das ursprüngliche Leben uneingeschränkt wieder, gibt es die Kluft zwischen originalem Leben und nachträglicher Deutung nicht. Für Scholem besteht die Kluft zwischen Denken und Leben nur insoweit, als das Denken unkabbalistisch, unmystisch ist Theorie oder Theologie vermag der lebendigen Religiosität nur dann nicht gerecht zu werden, wenn sie sich dogmatischer oder philosophischer Begrifflichkeit bedient. Wie schon bezüglich des Gnosisbegriffs festgestellt wurde, ist in seiner Deutung die Kabbala - und der Chassidismus257 - sehr wohl spekulative, theoretische Lehre; sie sind es sogar so sehr, daß man Scholem die Vernachlässigung der „praktischen" Seite jüdischer Mystik (mit gewissem Recht) vorwerfen konnte. Wenn Scholem trotz seiner Theoretisierung der Kabbala die Dichotomie Denken und Leben bzw. lebendige Erfahrung in der Religionsgeschichte verwendet, steht sie offensichtlich nicht in solch krassem Widerspruch zu 254 255

256 257

E b d , 203. Buber, Noch einiges zur Darstellung des Chassidismus, in: Werke III, 998. Zur Bedeutung der „Gesprochenheit des Wortes" (Werke II, 1184) im Rahmen der dialogischen Philosophie vgl. Das Wort, das gesprochen wird (1960), in: Werke 1,442-453. Scholem, Judaica 1, 203. Vgl. auch den Briefwechsel über das Verhältnis zwischen Kabbala und Chassidismus (als deren Weiterentwicklung, was Buber verneint): die (von Buber so genannte) Entschematisierung des Mysteriums, schreibt Scholem am 15.10.1921, dürfe nicht einseitig von der „Lehre" getrennt werden, ist sie doch schließlich eine „nicht ganz untheoretische Tat" (Buber, Briefwechsel II, 88).

224

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

seinen sonstigen Ideen, wie man meinen könnte. Für Jonathan Smith beispielsweise handelt es sich um völlig unvereinbare Gegensätze. Die exegetische jüdische Tradition widerlegt seiner Meinung nach das „einflußreiche religionswissenschaftliche Modell", das das Spontane, Ursprüngliche und Direkte dem Fixierten, Abhängigen und Vermittelten vorziehe. Das Studium des Judentums stelle dieses Modell in Frage, indem es den Wert des Prosaischen, Expositorischen und Artikulierten in Erinnerung rufe, „the creativity of the 'exegetical ingenuity" as a basic constituent of human culture". Es führe zu der Einsicht „that, in culture, there is no text, it is all commentary; that there is no primordium, it is all history; that all is application."258 Bis zu einem erstaunlich hohen Grad aber verbindet Scholem das alte Modell mit seiner Theorie der Mystik als Auslegung der Tradition. Die Verbindung gelingt ihm mittels der Unterscheidung von exegetischhomiletischem Kommentar und philosophisch-theologischem System und von symbolischer und philosophischer Auslegung. In Gegenüberstellung zum systematischen Denken steht der exegetische Kommentar - die „autochthone Form echt jüdischen Denkens" 259 - für die lebendige Exegese. Lehre, d.h. Tora: die göttliche Offenbarung und ihre Exegese, bleibt vieldeutig und undogmatisch, wenn sie auf symbolischem Denken gründet; dann, und nur dann, bleibt sie auch lebendig und schöpferisch. Deutlich wird diese Synthese aus altem und neuem Modell zum Beispiel bei Scholems Charakterisierung des Zohars in Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Kabbalistische Gedanken, erklärt Scholem, wie sie der Zoharautor als Homiletiker in Kommentarform beschreibt, muten in systematischen Darlegungen wie dem etwas jüngeren Werk Ma'arekhet ha-TLlohut „unlebendig und abstrakt" an, wie ein Skelett ohne Fleisch und Blut.260 Der Zohar dagegen, als „Versuch [...], die Substanz des naiven Volksglaubens, der durch die rationale Theologie der Philosophen in Frage gestellt wurde, zu erhalten"261, offenbart Glut und Naivität; sein Verfasser lebt „von einer archaischeren 258

J.Z. Smith, No Need to Travel to the Indies: Judaism and the Study of Religion, in: J. Neusner (Hg.), Take Judaism, for example, Chicago 1983, 222f. (als Repräsentanten der religionswissenschaftlichen Auffassung zitiert der Autor A. Jensen). Ahnlich N. Rotenstreich, 'Al mussagim, 479f., der den „reflexiven" Charakter der jüdischen Religion generell betont.

259

Hauptströmungen, 224. Ebd., 173. Ebd., 225. Sein Autor „kam aus jener Welt der philosophischen Aufklärung, die er dann so nachdrücklich bekämpft hat" (ebd., 222).

260 261

Mystik und lebendige Religion

225

Schicht der Seele aus"262. Dennoch verkörpert dieses glutvoll-lebendige, weil ursprünglich-naive Werk nicht nur bzw. nicht ungebrochen diese Primitivität der mythisch-magischen Weltsicht, sondern zeugt auch von einer „tiefen Mystik und [...] Dialektik": Immer wieder überrascht die Abwechslung von Darlegungen, die aus einer ganz primitiven Seelenstimmung kommen, mit solchen, in denen sich die ganze Tiefe der kontemplativen Mystik, der er anhängt, enthüllt. Und beide vertragen sich gar nicht so schlecht miteinander, wie man meinen sollte. [...] wir haben es mit Spruch und Widerspruch eines sehr lebendigen und sonderbaren Menschen zu tun, in dem wie bei so vielen Mystikern Naivität und Tiefe dicht nebeneinander wohnen. 263

Damit steht der weniger naive, sondern tiefer „denkende" Mystiker aber nicht auf der Seite der philosophischen oder theologischen Denker im Sinne der phänomenologischen Dichotomie. Denn seine tiefsinnige Exegese ist als symbolische zu unterscheiden von der unlebendigen bzw. dogmatischen Auslegung der systematischen Philosophen und Theologen. Scholems Annäherung an die alte religionsphänomenologische Tradition geht aber noch weiter Denn die kabbalistische symbolische Theorie ist nur lebendiger, wenn oder weil ihr die tiefe Erfahrung der mystischen Schau zugrundehegt: Immer wieder ist da etwas, was wirklich gesehen ist und aus echter Einsicht geboren. Manchmal radebrecht der Autor nur notdürftig, aber dazwischen findet er wieder einen großartig klaren Ausdruck, ein profundes Symbol für die Welt, die er so tief erfahren hat. 264

Rund dreißig Jahre später, im Kabbalah-Axtskü der Encyclopedia Judaica, erklärt Scholem, es gebe zwei grundlegende Tendenzen innerhalb der Kabbala im Verlauf ihre gesamten Geschichte, nämlich eine dem Mythos nahestehende genuin „mystische" und eine der Philosophie stärker verpflichtete „spekulative" Tendenz: One has a strongly mystical direction expressed in images and symbols whose inner proximity to the realm of myth is often very striking. The character of the other is speculative, an attempt to give a more or less defined ideational meaning to the symbols. To a large extent this outlook presents kabbalistic speculation as a continuation of philo-

262 263 264

Ebd., 191. Ebd., 192. Ebd., 173f.

226

Die „Stadien der Religionsgeschichte"

sophy, a kind of additional layer superimposed upon it through a combination of the powers of rational thought and meditative contemplation. 265

Die „spekulative" Kabbala habe viele Ideen (z.B. die Kosmologie) von der neuplatonischen und aristotelischen Philosophie übernommen. Und doch: The original and additional feature, however, was the new religious impulse which sought to integrate itself into these traditions and to illuminate them from within. 266

Der originelle religiöse Impuls aber, der demnach die spekulativen Kabbalisten von den unkabbalistischen Philosophen unterscheidet, ist nichts anderes als eben jene tiefe und lebendige Erfahrung, von der in den Hauptströmungen die Rede ist. Scholem verbindet die ältere Phänomenologie, die die lebendige Erfahrung (bzw. Ursprünglichkeit, Naivität und Spontaneität usw.) gegen die „tote Theologenreligion" ausspielt, mit seiner Theorie der Mystik als symbolischer Auslegung, indem er Rationalität und Reflexion, rationales und „irrationales" Denken unterscheidet In der älteren Religionsgeschichte werden Begriffe wie Intellektualismus und Rationalismus, Spekulation und Philosophie, Lehre und Wissen, Reflexion, Tiefe und Ratio unterschiedslos für theologisches Denken gebraucht, das in Konkurrenz zum religiösen Gefühl steht.267 Bei Scholem dagegen denken nur Systematiker, philosophische Theologen rational, womit ausschließlich begrifflich-diskursiv gemeint ist.268 Die Kabbalisten repräsentieren dagegen ein unphilosophisches, irrationales Denken, das Reflexion, Spekulation, Abstraktion oder bis zu einem gewissen Grad auch „Ver-

265 266 267

268

Art. Kabbalah, 556. Ebd., 557. Vgl. z.B. Bousset, Kyrios Christos, 172; Otto, Sünde und Urschuld, 124ff.; Gefühl des Überweltlichen, 281; Underhill, Mystik, XIV, 31.57. Vgl. allerdings Troeltsch, Gesammelte Schriften I, 855f.: Mystik im Sinne einer Theorie und Technik zur Erlangung des mystischen Erlebnisses werde zu einem „Intellektualismus eigener Art, der [...] eine nur dem Religiösen verstandliche religiöse Logik an Stelle des gemeinen [...] Denkens setzt"; und ebd., 870f., zum prinzipiellen Gegensatz zwischen mystischem Spiritualismus und Rationalismus. Anders als bei Maier, Intellektualismus und Mystik, 231, der die Anwendung des Begriffs des Rationalismus auf das mittelalterliche Denken überhaupt als Anachronismus verurteilt und darum den Ausdruck Intellektualismus für die kabbalistische wie philosophische Reflexion im Mittelalter vorzieht. Maier geht es (gegen Scholem) gerade um die Verwandtschaft zwischen Kabbala und Philosophie hinsichtlich ihres Intellektualismus (vgl. ebd., 236).

Mystik und lebendige Religion

227

geistigung"269 genannt werden mag, auf jeden Fall aber nicht Philosophie oder dogmatische Theologie. So bleibt sie trotz ihrer Reflektiertheit lebendige Religion, die religiöse Erfahrung voraussetzt bzw. ihr gerecht wird, während in der philosophischen Religion im Konflikt zwischen Denken und Erleben das Denken gewissermaßen die religiöse Erfahrung überwältigt und dadurch seine Lebendigkeit verliert. Wie im Fall des Gnosisbegriffes macht die genauere Untersuchung des Verhältnisses von Religion und Mystik auf zwei miteinander eng verbundene Charakteristika der Scholemschen Historiographie aufmerksam: daß sie der Erfahrung des Göttlichen einen großen Stellenwert einräumt und daß die Intellektualisierung der Kabbala zu einer theosophischen Theorie - gerade im Fall der Hauptvertreter kabbalistischer Theosophie, der „mythischen" zoharischen und lurianischen Kabbala - keine „Verphilosophierung" bedeutet. Denn ihr Denken bleibt „unphilosophisch", weil ihm eine irrationale lebendige Erfahrung zugrundeliegt, der die kabbalistischen Denker gerecht zu werden suchen. Es ist diese religiöse Erfahrung, die den Gegensatz zur Philosophie ausmacht und die Religion lebendig hält.

269

„Vergeistigung" oder „Spiritualisierung" benutzt Scholem - synonym mit „Theologisierung" - auch als Schimpfwort für die dogmatischen Theologen oder rationalistischen Wissenschaftler, die die irrationale Seite des Judentums negieren (z.B. in: Judaica 6, 36).

6 Die mystische Erfahrung 6.1 Vorbemerkung: Zum allgemeinen Konsens in der Scholem-Rezeption Nachdem deutlich geworden sein dürfte, daß die lebendige religiöse Erfahrung eine recht große Rolle in Scholems Geschichtsschreibung spielt, auch wenn sie als solche nicht eigentlich thematisiert wird, sollen nun die Äußerungen untersucht werden, mit denen der Kabbalaforscher direkt zum Charakter derartiger Erfahrungen oder Erlebnisse1 Stellung nimmt. Es gilt jene Texte zu analysieren, die das Wesen und Ziel der mystischen Kontemplation in der Kabbala behandeln, insbesondere im Verhältnis zur Bestimmung von Mystik allgemein. Es sei daran erinnert, daß in der bisherigen Rezeption des Scholemschen Werks gerade in dieser Hinsicht ein weitreichender Konsens erkennbar ist. Spätestens seit Moshe Idels neuen Perspektiven gilt es als selbstverständlich, daß der Pionier der Kabbalaforschung die praktische, gewissermaßen die erfahrungstechnische Seite der jüdischen Mystik vernachlässigte, sei es, daß dies als einseitige Verzerrung kritisiert wird, sei es, daß man es mit dem besonderen Charakter der Kabbala rechtfertigt. Ob Feststellung oder Vorwurf - daß bei Scholems Konzentration auf die symbolische Theosophie, auf das Theoriegebäude der Kabbalisten, die praktische Seite der Kabbala zu kurz komme, ist alles andere als aus der Luft gegriffen. Den weitaus größten Teil seiner sogenannten phänomenologischen Arbeiten widmet Scholem der symbolischen Auslegung und nicht der praktischen Ausübung der traditionellen Rituale oder gar der mystischen Ich verwende die Begriffe Erlebnis, Erfahrung und Intuition je nach dem Sprachgebrauch der jeweils referierten Quellen und in allgemeinen Zusammenhängen als Synonyme, nicht anders als Scholem, der alle Ausdrücke gebraucht, im Englischen vorzugsweise „experience", im Hebräischen „nissajon" ebenso wie „chawajd'• Sein Sprachgebrauch läßt keine Systematik erkennen, geschweige denn eine konsequente Vermeidung des Eriebnisbegriffs, auch wenn er ihn an bestimmten Stellen in Anfuhrungsstriche setzt, was dann offensichtlich als Distanzierung vom (Pseudo-)Erlebnis der Buberianer zu verstehen ist (vgl. Biale, Scholem's Ten Unhistorical Aphorisms, 80).

230

Die mystische Erfahrung

Techniken. Sofern er überhaupt rituelle Dinge behandelt, geht es ihm um die Frage, wie die besondere meditative Praxis mit der mystischen Deutung legitimiert wird, und weniger darum, wie diese Praxis tatsächlich aussah. In seinem Vortrag über Drei Typen jüdischer Frömmigkeit definiert Scholem selbst drei Betrachtungsweisen von Religion: die Analyse der Theologien oder Dogmen, die Untersuchung von „Grundhaltungen" oder „idealen Menschentypen" und die von Ritual und Liturgie. Seine eigene Betrachtungsweise ist in jedem Fall die von Theologien oder Theorien. Auch wenn er sogenannte Menschentypen oder den kabbalistischen Ritus betrachtet, untersucht er die diesbezüglichen Vorstellungen und Ideen, wie sie in den schriftlichen Quellen zum Ausdruck kommen, im Falle des Ritus etwa die theologische (symbolische) Begründung eines Rituals oder die „Theorie des Ritus" generell und ihr Verhältnis zur traditionellen Ideologie. Spricht er überhaupt von mystischen Techniken, so bleibt es bei relativ allgemeinen Beobachtungen, insbesondere was Vergleiche mit Mystikern anderer Religionen betrifft (wie zwischen Abulafia und den Verfahren des Yoga). Bei alldem darf man jedoch nicht vergessen, daß der Kabbalaforscher selbst immer wieder darauf hinweist, daß nur wenige Texte zur Praxis der Kawwana überliefert sind, diese aber für den Historiker um so interessanter sind. Er ediert oder analysiert in den ersten Jahren seiner Forschungen wichtige Quellen2 und macht noch 1977 in einem kleinen, kaum beachteten Beitrag zur Festschrift Henri Corbins auf ein kabbalistisches Traktat über Kontemplation aufmerksam, das unbedingt eingehendere Untersuchung verdiene.3 Vor allem aber kritisiert er selbst in einem seiner letzten Vorträge die Defizite der christlichen Kabbalarezeption, in der die „Versenkung des Menschen in die Tiefe seines Selbst", die „streng persönliche Seite mystischer Praxis [...], gegenüber den objektiven, mitteilbaren Traditionen der Theosophie" zurückgetreten sei.4 Dem entspricht, daß gerade der schärfste Kritiker der Demystisierung der Kabbala dem Begründer der Scholemschule nur die einseitige Konzentration auf die theosophische Kabbala und ihr Theoriegebäude anlastet, die erst bei seinen Schülern und Rezipienten zur eigentlichen

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4

Vgl. „Sha'art qedeq" (1924); Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung (1930); Der Begriff der Kawwana (1934). A Note on a Kabbalistical Treatise on Contemplation, in: Mélanges offerts à Henry Corbin, hg. v. Seyyed Hossein Nasr, Tehran 1977, 665-670; hebr. in: Od Davor, 330-335. Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte, in: Judaica 4, 11. Sowohl dieses Zitat wie der Aufsatz von 1977 widersprechen Idels Konstruktion, nach der ein anfänglich größeres Interesse mit der Zeit nachgelassen habe.

Zum allgemeinen Konsens in der Scholem-Rezeption

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Eliminierung des mystischen Elements gefuhrt habe.5 Und schließlich gibt es doch immerhin genug Quellen für Scholems Auffassung über die mystische Erfahrung - angefangen von seiner Kampfschrift gegen Meir Wieners Edebnismystik bis hin zu den späten Lexikonartikeln über die Kabbala aus den siebziger Jahren, die je einen Abschnitt über den „mystischen Weg" aufweisen - , daß man dennoch von einer Art Theorie der mystischen Erfahrung bei Scholem sprechen kann.6 Der allgemeine Konsens hinsichtlich dieser Theorie geht weit über die Feststellung einer Vernachlässigung der mystischen Praxis hinaus. Scholems Konzentration auf die theosophische Symbolik wird in aller Regel zurückgeführt auf die Leugnung einer jüdischen Unio mystica, die als Dreh- und Angelpunkt seiner Beschreibung der kabbalistischen Erfahrung gilt und als das zentrale Charakteristikum jüdischer Mystik auch in allgemeinen oder vergleichenden Studien große Verbreitung fand. Aus dem Fehlen einer Einigungserfahrung schließt man auf den sekundären Rang der mystischen Erfahrung generell in der Kabbala bzw. der Scholemschen Geschichtsschreibung.7 Man geht sogar so weit, den Gebrauch des Begriffs Mystik, für den es kein wörtliches hebräisches Äquivalent gibt, als bloße Konzession an die wissenschaftliche Praxis außerhalb der Judaistik zu interpretieren.8 5

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8

Vgl. Idei, The Contribution of Abraham Abulafia's Kabbalah to the Understanding of Jewish Mysticism, in: Schäfer/Dan (Hg.), Gershom Scholem's Major Trends, 132. Selbst Nathan Rotenstreich betrachtet die „Phänomenologie der mystischen Erfahrung" [Symbolism and Transcendence, 610f.) sogar als eines der Hauptdiemen der jüdischen Mystik bei Scholem, wobei er sich (wie viele andere) nur auf das erste Kapitel der Hauptströmungen beruft. Ich beziehe mich im folgenden außerdem auf Scholems kürzere Bemerkungen in: Lyrik der Kabbala?; Das Buch Bahir; Ha-mistonn ha-jehudi acha-qabbah; Re'ajon ha-ge'uL'la, Ursprung und Anfange; Sabbatai Zwi; Jüdische Mystik in Westeuropa, Hirburim 'al efsharut shel mistiqa jehudit bimentc, sowie die ausfuhrlicheren Erörterungen in: Der Begriff der Kawwana, Eine kabbalistische Erklärung der Prophetie als Selbstbegegnung, Devekuth, Religiöse Autorität und Mystik, Mysticism and Society, und den (weithin übereinstimmenden) Kabbahb-Aitike\n in EJ und EH. Vgl. v.a. Idei, New Perspectives, 59f.; ders., Studies in Ecstatic Kabbalah, 3f.; Ross, Scholem, 114f.; Biale, Scholem's Unhistorical Aphorisms, 80; Wolfson, Forms of Visionary Ascent, 215ff.; J.B. Agus, Scholem's 'Kabbalah', JQR 66,1975/76,242. So Dan, Between History and Historiosophy, 31; vgl. auch Bloom, Kabbala, 43. (Dans Argumentation erinnert an die berüchtigte bibelwissenschaftliche These eines hebräischen Denkens, die den Hebräern, da ihre Sprache keine Abstrakta kenne, das abstrakte Denken absprach!) Scholem plante bereits in den zwanziger Jahren eine „Untersuchung der hebräischen Synonyma für "Mystik' und 'Mystiker'" (Alchemie und Kabbala, 1925, 16 Anm. 1); in der EJ listet er aber nur sämdiche Begriffe auf - ohne allerdings Dans weitreichende Folgerung zu ziehen (Scholem, Art. Kabbalah, 494f.).

232

Die mystische Erfahrung

Die Scheidung von kabbalistischer Devekut und christlicher Unio mystica bei Scholem soll sich nicht nur gegen die Möglichkeit unmittelbarer Erfahrungen richten, an deren Stelle der sprachliche Charakter aller Offenbarung und also ihre Vermitteltheit durch Tora und Tradition tritt, sondern auch der Individualisierung jüdischer Mystik dienen, oder umgekehrt: aus Scholems Ablehnung einer abstrakten Universalreligion folge seine Betonung der Unterschiedlichkeit mystischer Erfahrung.9 Als Vertreter der Gegenposition wird hier außer Martin Buber auch des öfteren Rudolf Otto genannt oder die ältere phänomenologische Mystikforschung überhaupt, repräsentiert durch Evelyn Underhill, Rufas M. Jones, Rudolf Otto und auch William James, die allesamt die Existenz eines unmittelbaren und universal gleichen mystischen Erlebnisses behaupten sollen.10 Der Vorrang der Hermeneutik gegenüber der mystischen Erfahrung11 in Scholems Kabbala wird gern mit der Auffassung von Steven T. Katz identifiziert oder zumindest assoziiert, nach der Erfahrung und Deutung nicht zu trennen seien und es folglich nur viele verschiedene Erfahrungen geben könne.12 Der kontextualistische Ansatz, wie er durch den Namen Katz repräsentiert und mit Scholems Haltung verglichen wird, besteht in drei Grundannahmen: Die mystische Erfahrung läßt sich nicht von ihrer Deutung trennen; sie ist immer abhängig (beeinflußt) vom religiösen und sozialen Kontext; folglich gibt es keine einheitliche, universal identische mystische Erfahrung.13 Es handelt sich hierbei naturgemäß um eine grobe Vereinfachung eines Ansatzes, dem zufolge die mystische wie jede Erfahrung durch äußerst komplexe epistemologische Prozesse organisiert (und greifbar) wird.14 Seit William T. Stace Anfang der sechziger Jahre dem Verhältnis von Erfahrung und Interpretation einen eigenen Abschnitt im Einleitungskapitel seiner Untersuchung von Mysticism and 'Philosophy widmete, sind in der neueren Mystikforschung 9

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11 12

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Rotenstreich, Symbolism and Transcendence, 6 1 1 ; Th. Friedman, Gershom Scholem, 76ff; Tirosh-Rothschild, Continuity and Revision, 166. Vgl. Biale, Counter-History, 89 mit Anm. 41; Tirosh-Rothschild, Continuity and Revision, 177. Vgl. Mendes-Flohr, The Spiritual Quest, 12. Vgl. Idei, New Perspectives, 61 mit Anm. 10; Tirosh-Rothschild, Continuity and Revision, 177; und Magid, Scholem's Ambivalence, der als einziger daraufhinweist, daß Katz „ultimately either rejects or misreads Scholem to imply that no unmediated experience exists" (ebd., 250). Vgl. auch die Zuspitzung der Positionen bei J.W. Forgie, Hyper-Kantianism in Recent Discussions of Mystical Experience, RS 21, 1 9 8 5 , 2 0 7 f f . St.T. Katz, Language, Epistemology, and Mysticism, in: ders. (Hg.), Mysticism and Philosophical Analysis, London 1978,22-74, 26.

Zum allgemeinen Konsens in der Scholem-Rezeption

233

äußerst komplexe Modelle für die wissenschaftliche Analyse der mystischen Erfahrung entwickelt worden. Dies gilt sowohl für diejenigen, die Ernst machen wollen mit der Einsicht, daß es reine Erfahrung nicht gibt, als auch fur ihre Kontrahenten, die die Möglichkeit der Unterscheidung dennoch anerkennen und darum die Analyse der (einheitlichen oder typologisch differenzierten) Erfahrungen) an sich für möglich halten.15 Schon Stace versuchte sich immerhin an einer Differenzierung von Ebenen der Interpretation, je nach ihrer Nähe zu bloßer Beschreibung,16 und Ninian Smart plädierte gleich darauf für die Berücksichtigung der unterschiedlichen Komplexität der Deutung („degree of ramification") und der Scheidung von Hetero- und Autointerpretation.17 Auch an vermittelnden Positionen fehlt es nicht, etwa dergestalt, daß man zwar eine gewisse Gemeinsamkeit aller „echten" mystischen Einheitserfahrung anerkennt und diese psychologisch als Erfahrung der IchEntgrenzung oder „absorptionsbedingten Entdifferenzierung" definiert, zugleich aber auch vom Einfluß des „motivationalen" und des „kognitiv-weltanschaulichen Kontextes" auf die Erfahrung selbst ausgeht, weil es keine „reine, das heißt kognitiv unvermittelte Erfahrung" gibt.18 Ganz allgemein möchte ich vorweg behaupten — und ich meine, die Analyse der Scholemschen Texte in diesem Kapitel stützt diese Behauptung - , daß der jüdische Mystikforscher sich allein durch seine Terminologie und die Art und Weise der Behandlung des Problems als typischer Vertreter der älteren Forschimg aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ausweist, auch wenn sein Werk die Theorien der jüngeren Generationen in der zweiten Hälfte vorbereitet haben mag. Wie die neueren Ansätze schwer auf einen Nenner zu 15

16

17 18

Stace hält diese Scheidung für möglich und notwendig, auch wenn sie nicht vollständig realisierbar sei und man nie zur völlig un interpretierten Erfahrung gelangen könne; analog zur Sinneserfahrung seien Erfahrung und Deutung „distinguishable though n o , : completely separable": „It is probably impossible in both cases to isolate 'pure' experience" (W. Stace, Mysticism and Philosophy, London 1961, 31). Katz sieht diese Einschränkung als leeres Bekenntnis an (vg). Katz, Language, 28; Forgie, HyperKantianism, 210). Vgl. Stace, Mysticism and Philosophy, 37. Er bezieht sich vor allem auf den Psychologen J.H. Leuba, der sich ausdrücklich auf diese Unterscheidung berufe, dies jedoch nur, um damit William James' Behauptung der Objektivität mystischer Erfahrung als unhaltbare Identifikation der 'reinen Erfahrung' mit ihren Deutungen zu entlarven. Stace kritisiert, daß Leuba selbst viel zu problemlos von reiner Erfahrung spricht (vgl. ebd., 35). Vgl. N. Smart, Interpretation and Mystical Experience, RS 1, 1965,75-87, bes. 79ff. B. Grom, Was ist Mystik?, Stimmen der Zeit 209, 1991, 816f.819; einen anderen Vermittlungsversuch bietet z.B. Ph.C. Almond, Mystical Experience and Religious Doctrine, Berlin 1982, Kap. 8.

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Die mystische Erfahrung

bringen sind, so nimmt auch die ältere christliche (und vergleichende) Mystikforschung keineswegs einen naiv-einfachen und einheitlichen Standpunkt ein, der mit dem Schlagwort zu kennzeichnen wäre: Einheitlichkeit der Erfahrung bei unreflektierter Trennung von Erfahrung und Deutung. Wie kompliziert das Problem auch für die Klassiker ist, zeigt am besten der Versuch Philip C. Almonds, die Mystikforschung auf eine überschaubare Zahl von Modellen zu reduzieren, Modelle der Haltung zum Verhältnis von Erfahrung und Interpretation und - aufs engste damit verknüpft — zur universalen Identität der mystischen Erfahrung.19 Selbst wenn man sich auf eine beschränkte Anzahl derartiger Modelle einigen könnte, wäre es kaum denkbar, daß man in der Zuordnung der einzelnen Mystikforscher zu solchen Ansätzen Einigkeit erreichen könnte.20 Im allgemeinsten Sinne sind sämtliche Vertreter der klassischen Mystikforschung und Religionsphänomenologie einem Modell zuzuordnen, das die Trennung zwischen mystischer Erfahrung und ihrer Interpretation für möglich und notwendig hält, gilt doch für die mystische Erfahrung dasselbe wie für die religiöse Erfahrung generell: Sie ist das Primäre, ihre Deutung dagegen sekundär, der Kategorie Reflexion, Theologie und Philosophie zugehörig. Darüber hinaus gilt es jedoch zu differenzieren, und zwar sowohl hinsichtlich der Überzeugung von der universalen Identität aller mystischen Erfahrung als auch in bezug auf die Problematisierung des Verhältnisses von eigentlicher Erfahrung und nachträglicher Deutung. Angesichts der Übermacht der herrschenden Pauschalurteile möchte ich mit einem etwas ausfuhrlicheren Umweg über den Rückblick auf die ältere Forschung beginnen, bevor ich mich Scholems Schriften selbst zuwende. Da es sich um das Herzstück aller Mystikforschung und den Dreh- und Angelpunkt der Bestimmung von Scholems Verhältnis zur klassischen Religionsphänomenologie handelt, scheint es nötig und sinnvoll, ein wenig auszuholen, die Positionen der vielzitierten Klassiker neu zu vergegenwärtigen und nicht zuletzt auf heute vielfach vergessene Autoren hinzuweisen, die die Diskussion in der älteren Forschung entscheidend beeinflußt haben.

19

20

Die prinzipielle Trennung der zwei Fragen (nach dem Verhältnis Erfahrung-Deutung und nach der Einheidichkeit aller Erfahrung) vertritt v.a. Forgie, Hyper-Kantianism, bes. 209ff. Vgl. z.B. die diesbezüglichen Einwände von McGinn, Die Mystik im Abendland 1,453f.

Die mystische Erfahrung in der älteren Mystikforschung

235

6.2 Die Einheit der mystischen Erfahrung und das Verhältnis von Erfahrung und Deutung in der älteren Mystikforschung 6.2.1 Einheit und Vielfalt der Mystik, unmittelbare Erkenntnis und Ideogramm nach Rudolf Otto In der Frage der Universalität aller Mystik vertritt Rudolf Otto keineswegs dieselbe Position wie Evelyn Underhill, Rufus M. Jones, William James oder auch Friedrich Heiler, bei dem trotz aller Typologisierungswut wegen der alles beherrschenden Gegenüberstellung zum prophetischen Erfahrungstyp die prinzipielle Einheitlichkeit der mystischen Erfahrung im Vordergrund steht. Rudolf Otto dagegen legt den Nachdruck auf die Vielfalt der Erfahrungstypen auch innerhalb der Mystik. Mit der Einheit der mystischen Erfahrung verhält es sich wie mit der Einheit der religiösen Erfahrung überhaupt, die nur hervorgehoben wird, wenn ihr Charakter als Phänomen sui generis, ihr Sondercharakter gegenüber nichtreligiösen geistigen, psychischen oder sozialen Phänomenen zur Diskussion steht. Ist jedoch gesichert, daß es um religiöse Phänomene geht, um die Religionsgeschichte als einen eigenen Bereich, dann betont Otto die verschiedenen Typen dieser Erfahrung, je nach Mischung bzw. Vorherrschen der einzelnen numinosen Momente.21 Die mystische Erfahrung übersteigert oder potenziert den Mysteriums- oder Mirumscharakter des Numinosen bis zum Paradoxen22 und Antinomischen23. Otto verteidigt den Sinn der mystischen Paradoxien, indem er sie als eine eigene Form von Logik erklärt: „Es ergibt sich hier die sonderbare 'Logik' der Mystik, die zwei Grundgesetze der natürlichen Logik ausschaltet: den Satz des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten."24 Von dieser mystischen Logik her „wandern die 'coinridentia oppositorum', die 'Identität der Gegen-

21

22 23

24

Vgl. Gefühl des Überweltlichen, 239.296 (zu „Typen der Religion" und „Parallelen und Konvergenzen in der Religionsgeschichte"); Sünde und Urschuld, 79-90 (zur Klasse der mystisch-pneumatischen Erlebnisse); Reich Gottes und Menschensohn, 267-276 (zum „charismatischen Typus"). VgJ. Das Heilige, 34ff.; Gefühl des Überweldichen, 231. Das Heilige, 36; zur Kritik an der Bestimmung von Mystik als „Siedepunkt", die diese unbegründet zum Ausdruck des Wesens der Religion erkläre, vgl. schon Feigel, in: Colpe (Hg.), Zur Diskussion um das Heilige, 390. West-ösdiche Mystik, 51 (Otto bezieht sich hier auf die Mystik der Einheitsschau).

236

Die mystische Erfahrung

sätze', und die 'dialektischen Begriffe' in die Wissenschaft hinüber"25. Als das eine Extrem, der irrationale Pol der einen numinosen Erfahrung, deren anderes Ende die prophetische Erfahrung verkörpert, stellt Mystik innerhalb religiöser Phänomene überhaupt eine universal einheitliche Erscheinung dar. In seiner detaillierten, religionsvergleichenden Studie zur Mystik thematisiert Otto die seltsame Übereinstimmung in den Urmotiven seelischen Erfahrens der Menschheit überhaupt, die, von Rasse, Klima, Zeitalter fast unabhängig, auf letzte geheimisvolle innere Einheiten und Übereinstimmungen des menschlichen Geistes hindeutet und uns zugleich berechtigt, von einem einheitlichen Wesen der Mystik zu reden. 26

Und doch versteht er es als „die andere ebenso wichtige Aufgabe" seines Religionsvergleichs, dieses einheitliche Wesen' in der Möglichkeit seiner mannigfachen typischen Besonderungen zu erfassen und damit das Vorurteil von der 'einen, immer gleichen Mystik' zu beseitigen [...] Erst in der Fülle seiner möglichen 'Besonderungen' tritt das Wesen der Mystik heraus. 27

Otto will zeigen, „daß die Behauptung, Mystik sei eben immer Mystik, sei immer und allenthalben ein und dieselbe Größe, falsch ist".28 Mehrfach widerspricht er der These einer Einheitlichkeit aller Mystik und ihrer Definition als Einheitstrieb oder Streben nach Unio mystica. Nicht das Gottesverhältnis (die Erfahrung der Immanenz oder die Wesenseinheit mit dem Göttlichen) mache zum Mystiker, sondern die irrationale unpersönliche „Wesensform" des „religiösen Beziehungsobjektes", der Charakter dieses Gottes als des „Ganz Anderen", aus dem die Art des Erlebnisses oder der Beziehung erst folgt.29 In Mystische und gläubige Frömmigkeit zählt Otto drei verschiedene Arten solcher Einigungserlebnisse auf (personale Einwohnung, impersonales Durchdringen und Einheitsschau des äußeren Wegs) und betont die Vielfalt mystischer Zustände „nach Inhalt und Sinn"30. 25

26 27 28 29 30

Ebd.; in einer Anmerkung (ebd., 264) stützt Otto sich auf die Feststellung des Mathematikers Brouwer, daß der Satz vom ausgeschlossenen Dritten seine Berechtigung nur in endlichen Bereichen habe. Ebd, VII. Ebd. Ebd., 2. Ebd., 162f.; vgl. Mystische und gläubige Frömmigkeit, in: Sünde und Urschuld, 140-144. Sünde und Urschuld, 144.

Die mystische Erfahrung in der älteren Mystikforschung

237

Wie weit Otto davon entfernt ist, eine Universalreligion Mystik zu verkünden, macht die jüngst erschienene Studie von Annette Wilke deutlich, die den Vergleich zwischen Eckhart und Sankara einer neuerlichen, sehr sorgfältigen Prüfung unterzieht und nicht nur die mystischen Quellen, sondern auch Otto von zur Gewohnheit gewordenen Pauschalurteilen befreit. So lenkt sie das Augenmerk unter anderem auf Ottos Anliegen, die Besonderheit der Eckhartschen Mystik aufzuzeigen, das ein letztlich theologisches Anliegen gewesen sei, im Dienste nämlich seines Reformierungsversuchs der lutherischen Theologie. Ihrer Meinung nach war Otto im Vergleich mit den späteren Interpreten [...] erstaunlich modem und differenziert. Er hat vorweggenommen, was in der heutigen Mystikforschung fast durchgängige Uberzeugung geworden ist und was Gershom Scholem auf den Nenner gebracht hat: 'Mystik als solche' gibt es nicht, vielmehr nur Mystik von etwas, d.h. sie tritt nur innerhalb des Zusammenhangs einer bestimmten Tradition auf [...]. Und wir können hinzufugen, daß es auch innerhalb des Christentums usw. mannigfaltige Spielarten gibt, eine Tatsache, die Otto ebenfalls bereits bedacht hatte. 3 1

Auch in der Begründung der Unterschiede innerhalb der Mystik, möchte ich hinzufugen, ist Otto wenn nicht modern, so doch „erstaunlich differenziert". So fordert er die Berücksichtigung der Unterschiede im Weg oder in der Methode32, zwischen dem „Inhalt" oder „intuitus mysticus" und seiner „Hülse", d.h. der zeitbedingten Spekulation, und schließlich in der mystischen Erfahrung selbst. Letztere teilt er wiederum in formale und inhaltliche (qualitative) Unterschiede.33 Die Unterscheidung von Form und Inhalt der ekstatischen Erfahrung erinnert an Wilhelm Bousset, der zwar kein Phäno31

32

33

Wilke, Keine Urmotive, nur Besonderungen, 46f.; vgl. auch K. Küssner (Hg.), Verantwortliche Lebensgestaltung: Gespräche mit Rudolf Otto über Fragen der Ethik, Stuttgart 1941, 262, zu Ottos Ablehnung bzw. Abwertung einer Universalreligion gegenüber der ,,tiefere[n] und typische[n] Religion", zitiert bei Rasche, Religiöse Wirkungen von Religionswissenschaftlem, 206f. Vgl. auch Heiler, „Die Bedeutung Rudolf Ottos", 21, zu Otto als „Meister der Einzelvergleichung". West-östliche Mystik, Kap. 3. Methodisch ähneln sich Eckhart und Sankara, nämlich darin, daß sie eigentlich keine Methode haben (im Gegensatz zu Yoga, Vita purgativa, illuminativa und unitiva, und zu ekstatisch-visionärer Mystik) bzw. darin, daß die Erkenntnis ihr Weg ist (im Unterschied zur emotionalen Mystik wie Bhakti, Krishnaund Brautmystik). Hiernach scheidet er Selbstversenkung und Einheitsschau als zwei verschiedene Formen mystischer Erfahrung und zwei verschiedene Spekulationen (Kap. 3, Abschnitt 8 und 9) sowie Uluminatenmystik, Empfindungsmystik und Naturmystik (kontrastiert zur „Geistesmystik") als je anderer Intuitus mysticus (Kap. 4).

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Die mystische Erfahrung

menologe der Mystik ist, aber dieselbe Dichotomie in seiner Untersuchung über die antike Himmelsreise anbringt, wo er das mystische Erlebnis des Paulus mit der vermeintlichen rabbinischen Schule vergleicht, die das Eintreten ins Paradies im Sinne einer ekstatischen Praxis geübt haben soll.34 Die inhaltliche Verschiedenheit nennt Otto auch „Besonderungen des Gefühls selber"; sie sei selbst so irrational wie das Erlebnis, „in Begriffen letztlich nicht angebbar und nur in der mystischen Erfahrung selber faßbar"35. Dies hindert ihn nicht, den Gehalt der Erfahrung Eckharts zu bestimmen; er zählt dazu etwa die Lebendigkeit und Dynamik des Eckhartschen Numinosen, den sogenannten gotischen Charakter des Hochgefühls als dem einen und die Demut als dem anderen Pol und schließlich den ethischen Gehalt. Daß diese Bestimmungen Aussagen zum Gottesbild, Charakterisierungen von emotionalen Befindlichkeiten und ethische Kategorien enthalten, bleibt ebenfalls nicht theoretisch untermauert, entspricht dies doch seiner Theorie der numinosen Erfahrung generell, wie er sie in Das Heilige darlegt. Otto faßt das Erlebnis des Numinosen ja nicht als rein psychische oder emotionale Größe, sondern als ahnende Form der Erkenntnis. Darum spricht er von „Gefühlen und Ideen" oder „Gefühlen und Vorstellungen", als handle es sich um Synonyme.36 Im Untertitel seines Buches ist von der „Idee des Heiligen" die Rede, im Text vom „Erlebnis", „Gefühl" oder auch von der „Erfahrung". Bereits das Numinose (nicht erst das Heilige, die zusammengesetzte Kategorie) soll in seinem Ursprung, in seiner Eigenart als religiöse Erfahrung selbst, eine Kombination aus empirisch-psychologischer und transzendentaler Kategorie sein, jene (nach Fries und Apelt) sogenannte unmittelbare Erkenntnis oder dunkle Vorstellung, die vor jeder begrifflichen Reflexion liegen soll.37 Der Gedanke an sich ist in der Mystikforschung nicht neu, begegnet er doch (unter anderem) schon bei Rufus M. Jones oder Evelyn Underhill, die beide Mystik 34

35 36 37

Vgl. Bousset, Himmelsreise der Seele, 16f.: Die Erfahrungen sind „der äusseren Form der ekstatischen Erlebnisse nach [...] von Paulus aus seiner rabbinischen Vergangenheit in sein neues Leben herübergenommen. Dabei soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden, dass bei Paulus die Auffahrt ins Paradies nicht tiefstes, innerlichstes und persönliches Erleben gewesen wäre; auch das mag gesagt sein, dass für die religiöse Glut und Innerlichkeit des Paulus solche Stunden ekstatischer Erhebung von anderem Inhalt waren als diejenigen seiner übrigen Zunftgenossen." Otto, West-östliche Mystik, 170. Vgl. bes. Das Heilige, l'ili. Vgl. außer Das Heilige auch Otto, Schlußbemerkung über das Gefühl, in: Gefühl des Uberweldichen, 327-333; dazu bes. die gründliche Analyse von Paus, Religiöser Erkenntnisgrund, der den Einfluß von E.F. Apelt, Fries' „zweifellos bedeutendste[m] Schüler" (ebd., 53), herausarbeitet.

Die mystische Erfahrung in der älteren Mystikforschung

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als spezifischen Erfahrungstyp auffassen, der weder nur Gefühl noch intellektuelle Erkenntnis sei. Wie bei Otto wird die „intuitive Erkenntnis" des Absoluten, das „Transzendenzbewußtsein"38, wie Underhill es auch nennt, auf eine besondere Fähigkeit oder ein spezifisches Organ, den Seelengrund in der Terminologie der Mystiker, zurückgeführt.39 Die sprachliche Bestimmung der mystischen Intuition (das, was William Stace Jahrzehnte später die Möglichkeit von „Beschreibungen" nennt) begründet Otto mittels seiner Theorie der Ideogramme, die der Erfahrung selbst so nahe wie möglich kommen sollen, auch wenn die reine Erfahrung unerreichbar und unbeschreibbar bleibe und als solche nur erlebt werden könne.40 Ideogramme sind bei Otto das einzige und adäquate Mittel, über das irrationale und paradoxe Numinose, also die Erfahrung selbst, etwas auszusagen. Es handelt sich um die Darstellung der vom Numinosen ausgelösten „Gefühlsbestimmtheit" durch Vergleich mit verwandten Gefühlen und durch analogische oder „symbolisierende Ausdrücke"41. Otto bezeichnet diese symbolischen Ideogramme auch als „Deute-Zeichen"42, „Ausdrucks-Symbole", die auf den Seelengrund „hinwinken", die nicht deuten, sondern „andeuten"43. Er spricht auch von erörternder Verdeutlichung oder davon, daß Gefühle zum „Anklingen" gebracht würden44, und stellt sich selbst die Aufgabe möglichst genauer ideogrammatischer Bezeichnung, um „schwärmerischefm] Gerede"45 Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit entgegenzusetzen.

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39

40 41 42 43 44

45

Im englischen Original „transcendental consciousness"; in der deutschen Ausgabe übersetzt mit „transzendentales Bewußtsein" (Underhill, Mystik, 100 = Mysticism, 89). Vgl. Jones, Studies, xxii; Underhill, Mystik, 58-92.121f.133. Underhill identifiziert diese besondere Fähigkeit („transcendental sense" oder „transcendental faculty" im englischen Original) mit dem „Gemüt" bei R. Eucken und J.A. Stewarts „Transcendental Feeling". Vgl. Stace, Mysticism and Philosophy, 37 u.ö. Otto, Das Heilige, 13. Ebd., 21. Ebd., 49.66.76. Ebd., 14. Zum Begriff der Erörterung bei Otto vgl. Paus, Religiöser Erkenntnisgrund, 145; sowie Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 119f., der die „partielle innere Unklarheit" kritisiert an der Stelle, „wo der Ubergang vom Gefühl zur Vorstellung des im Gefühl als präsent behaupteten Gehalts aufzuhellen ist" (ebd., 118); vgl. Geysers Einwand gegen die Behauptung der Priorität des Gefühls vor der Vorstellung, die unhaltbar sei wegen der psychologischen Unmöglichkeit, etwas zu fühlen, ohne es sich vorzustellen, in: Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, 305f. Otto, Das Heilige, 77.

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Die mystische Erfahrung

Man kann sich zweifellos darüber streiten, ob Ottos Theorien haltbar sind, seine Kategorie des Numinosen überhaupt46 wie seine Kategorien zur Unterscheidung der mystischen Erfahrung, ganz abgesehen von seiner „Erörterung" des „Gefühlsgehaltes" selbst; jedoch kann man ihm weder vorwerfen, daß er unqualifiziert alle mystische Erfahrung identifiziert, noch, daß er das Verhältnis von Erfahrung und Deutung sowie beider Beziehung zur gegebenen religiösen Tradition nicht reflektiert habe. Allenfalls bei Friedrich Heiler findet sich die unkritische Position, die der älteren Forschung schlechthin unterstellt wird. Er schließt in der Tat recht unbekümmert von den nachträglichen Aussagen auf die vermeintlich ursprünglichen Erlebnisse, und differenziert und identifiziert diese nach Gottesbild, Geschichtsauffassung, psychologischem Akt etc., ohne in dieser Mischimg von Aussagen über die Erfahrung selbst und Aussagen über theologische Reflexionen ein Problem zu sehen, das besondere Erörterung verdient. In seinem späten Aufsatz zum Gottesbegriff der Mystik von 1954 betont er die Unaussprechlichkeit der mystischen Erfahrung und erläutert zumindest kurz die ,,Ausdrucksform[en]47 oder „Formen der Rede"48 der Mystiker: Er zählt dazu Negation, Kontradiktion und Superlation, den Gebrauch der paradoxen Identitätsformel für die Unio mystica und der Emanation oder Eradiation für den Weltprozeß und schließlich das Nebeneinander von kühneren Abstraktionen und bildlichen Veranschaulichungen - beides „nur Hilfsmittel und Bilder"49, die letztlich transzendiert würden.

46

Die Kritik an der Auffassung des Gefühls als Organ der Objekterkenntnis steht im Zentrum der älteren Otto-Kritik; vgl. Geyser, in: Colpe (Hg.), Die Diskussion um das Heilige, bes. 312.317f.330f., Baetke, ebd., 355f., und schon R. Bultmann: „Die psychischen Zustande sind nicht Organ der Erfahrung, sondern vielmehr selbst Erfahrung. Und der Trieb ist erst recht keine Objekterkenntnis, sondern nur etwas aus der Erfahrung Erschlossenes, Hinzugedeutetes, das der Reflexion die Erfahrung verständlich macht [...]. Wenn die Reflexion rückschließend aus den Zuständen auf "Wirklichkeiten' schließt, so handelt es sich um das Gegenteil von Objekterfassung; vielmehr sind die vermeintlichen 'Objekte' in Wahrheit Produkte des numinosen Gefühls" (in: Schütte, Religion und Christentum, 132f.; Hervorhebung i.O.). Vgl. aber auch die spätere Kritik an dem Mißverständnis der älteren Kritiker, Otto habe das Kantische Apriori „psychologisiert", bei Paus, Religiöser Erkenntnisgrund, 11.

47

Heiler, Gottesbegriff der Mystik, 164. Ebd., 165. Ebd., 173.

48 49

Die mystische Erfahrung in der älteren Mystikforschung

241

6.2.2 Die Einheit der dualistischen Erfahrung und ihre Beschreibung durch Symbole bei Evelyn Underhill Verglichen mit Friedrich Heiler erscheint nicht nur Rudolf Otto, sondern auch Evelyn Underhills Ansatz als der reflektiertere, thematisiert sie doch immerhin das Verhältnis zwischen mystischer Erfahrung und Deutung in drei Kapiteln, nämlich im Zusammenhang mit den Beziehungen der Mystik zur Psychologie, zur Theologie und zur Symbolik. Hinsichtlich der mystischen Lehren betont sie deren Abhängigkeit von Temperament, Beobachtungsgabe und besonders der theologischen Bildung des Mystikers.50 Alle Deutungen der „Intuitionen des Geistes" gründen auf der jeweiligen Glaubensform. Darum seien die Mystiker weniger religiöse Anarchisten, wie sie gegen Rufus M. Jones zu bedenken gibt, als vielmehr „getreue Söhne der großen Religionen".51 Daß Scholem im ersten Kapitel der Hauptströmungen gerade diese Formulierung wörtlich zitiert52, um seiner Kritik an denjenigen, die Mystik zur abstrakten Universalreligion machen, Nachdruck zu verleihen, zeigt, wie sehr der Kabbalaforscher diese Überlegungen der christlichen Mystikforscherin geschätzt hat. Scholems wörtliches Zitat, das jeder Ironie entbehrt, wäre wenig plausibel, wenn er dessen Urheberin jener zuvor kritisierten Universalisierungstendenz zugerechnet hätte. Underhill definiert nicht nur die mystische Kontemplation als Durchgang zu einem Bewußtseinszustand, der das gewöhnliche Bewußtsein hinter sich läßt und so „Gott", das „Transzendente" oder „das Absolute berührt"53, sondern sie erklärt ausdrücklich, daß dieser besondere psychische Zustand von den späteren theologischen und philosophischen Deutungen unterschieden werden kann und muß. Sie möchte damit ihr weiteres Vorgehen begründen, die eigentliche und in erster Linie psychologische Aufgabe der Mystikforschung, die ihrer Meinung nach darin besteht, die Erfahrung selbst zu erforschen. Diese Aufgabe führt über die Darstellung des mystischen Weges und der mystischen Lehren, die sie als symbolische Aussagen über den „Inhalt" der Erfahrung verstanden wissen will. Danach gelte es, „soweit wie möglich die symbolische Hülle abzustreifen und eine Synthese dieser Lehren zu versuchen, die scheinbaren Widersprüche zu lösen [...] und endlich, wenn 50 51 52

53

Underhill, Mystik, 136. Ebd., 127. Scholem, Hauptströmungen, 7 (nicht als wörtliches Zitat gekennzeichnet). Es gilt auch zu bedenken, daß Scholem zuvor Underhills Werk zu den „ausgezeichneten Bücher[n]" zählt (ebd., 4). Underhill, Mystik, 73.

242

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wir es können, die wesentliche Einheit jenes Erlebens aufzuweisen, in dem die menschliche Seele bewußt in die Gegenwart Gottes eingeht"54. Die englische Mystikforscherin vertritt insofern jene Definition der Mystik als universal identischer Einheitstrieb, gegen die Otto anschreibt.55 Allerdings differenziert sie - unter Berufung auf den Zohar in der Übersetzung von E.A. Waite - zwei grundsätzliche Richtungen, nach denen sich das Bewußtsein des Mystikers entwickelt: einerseits das Wissen um das Einssein mit der Welt des Werdens (als Erscheinung Gottes), andererseits die Vereinigung mit dem transzendenten Sein; letzteres gilt als die entscheidendere, die „wirklich" charakteristische Eigenschaft der Mystiker.56 Emanation und Immanenz sind die beiden extremen Formen, unter denen die Mystiker Gott zu begreifen suchen und denen eine gute Philosophie der Mystik Raum zu geben versucht, um dem zwiefachen Charakter der einen mystischen Erfahrung gerecht zu werden. Metaphysische Theorien wie die der Immanenz und Emanation sind nach Underhill Symbole, „schwache Versuche, ein Erleben darzustellen, das immer das gleiche ist und dessen besondere Eigentümlichkeit seine Unaussprechlichkeit ist"57. Im Kapitel über das Verhältnis von „Mystik und Symbolik" erörtert Underhill ausfuhrlich die Tatsache, daß die Mystik eine neue, spezifische Symbolik auszeichnet, die über die traditionelle hinausgeht. Sie erklärt dieses Faktum mit dem besonderen Charakter der mystischen Erfahrung, dem Transzendenzbewußtsein, und führt Mißdeutungen mystischer Symbole, z.B. der geistigen Hochzeit als perverse Sexualität, auf das Fehlen der deutlichen Scheidung zwischen der eigentlichen Erfahrung, dem Inhalt, und der symbolischen „Ausdrucksform"58 zurück. Symbole sind eben nicht wörtlich zu nehmen, sondern indirekte Beschreibungen. Wie Otto seine Ideogramme charakterisiert Underhill die mystischen Symbole als „Orientierungskarten"59 oder „Diagramme"60, Andeutungen der besonderen Erfahrungen des mystischen Bewußtseins. Sie sind lebendig, bildhaft und nicht intellektuell, sondern 54 55

56 57 58 59 60

Ebd., 126. Underhill spricht vom „Trieb zum Absoluten" (ebd., 53) oder dem „eingeborene[n] Vedangen nach einer letzten Einheit" (ebd., 52). VgJ. Heilers Vermittlungsversuch (in: Die Bedeutung Rudolf Ottos, 21): „Während die Meisterin auf dem Gebiete der Mystikforschung, Evelyn Underhill, alle hohe Mystik als große Einheit schaut, arbeitet Rudolf Otto bei stärkster Betonung dieser übergreifenden Einheit die Besonderheit der christlichen Mystik heraus." Vgl. Underhill, Mystik, 48f. 128-139. Ebd., 134. Ebd., 106. Ebd., 165. Ebd., 166.

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poetisch, d.h. mit einem tieferen Sinn verbunden und suggestiv gemeint, an das Gefühl appellierend. Über ,,bloße[n] Schematismus oder bloße Allegorie"61 hinausgehend, sind sie unentbehrliches „Gewand"62 der mystischen Erfahrung.

6.2.3

Zur Theorie mystischer Symbolsprache: E. Récéjac

Man darf die Bedeutung der Ideogramm-Theorie für Otto und der Symboltheorie für Underhill, den Erklärungswert, den sie für die ältere Forschung in bezug auf das Problem von Erfahrung und Interpretation hatten, nicht unterschätzen. Erst in der späteren religionsphänomenologischen Forschung, angefangen mit Heiler, gelten Unaussprechlichkeit und Symboltheorie als so selbstverständlich, daß man sich nicht länger damit aufhalten muß. Für sie ist damit das Problem von Erfahrung und nachträglicher (eben symbolischer) Deutung erledigt. So erörtert etwa Georg Mehlis eingangs noch die symbolisch-bildhafte, nicht begriffliche Sprache der Mystik aufgrund des alogischen Gegenstandes der Mystik, die nach „Vereinigung mit der irrationalen Gottheit"63 strebe. Das Symbol diene als Mittel, Gott als das „absolut Formlose und Gestaltlose, als das Unbestimmte und Undifferenzierte"64 erfaßbar zu machen. Bei seiner Typologisierung der Mystik hält er es aber nicht mehr für erklärungsbedürftig, ob er - um mit Otto zu sprechen - Typen des Wegs, der spekulativen Hülle, der Form oder des Gehalts mystischer Erfahrung analysiert.65 Es fehlt auch jeder Hinweis auf die Abhängigkeit der Deutung von der jeweiligen religiösen Tradition.66 Es verwundert nicht, daß in der späteren Religionsphänomenologie die Namen derjenigen Gelehrten immer seltener begegnen, die Anfang des Jahrhunderts für die kritische Auseinandersetzung mit diesen Fragen standen, Autoren, auf die sich nicht nur Evelyn Underhill

61 62 63 64 65

66

Ebd.; zu den Merkmalen des Symbols vgl. bes. ebd., 104ff. Ebd., 104. Mehlis, Die Mystik, 16. Ebd., 15. Vgl. ebd., 38ff. Nach der Formulierung müßte er eigentlich unterschiedliche Formen der Deutung meinen, unterscheidet er doch je nachdem, wie die Kluft zwischen Gott und Mensch „gedacht" ist (38), wie die Beziehung zwischen Gott und Seele „gemeint" (38) ist, je nach „Auffassung" (39), „Deutung" (40) oder „Vorstellungswelt" (41). Nicht zu verwechseln mit dem Zusammenhang aller Mystik mit der Geschichte, d.h. mit der Tatsache, daß ihr „Wesen" nicht in Reinform vorkommt, die wohl thematisiert wird (vgl. ebd., 35).

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ausdrücklich beruft67, sondern die auch in der Scholem-Library (und der Literaturliste der Hauptströmungen) vertreten sind. Mit der Theorie mystischer Symbolik ist in der Forschung zu Anfang dieses Jahrhunderts vor allem der Name des französischen Mystikforschers E. Récéjac verbunden. Dieser widmete den gesamten zweiten Teil seiner philosophischen Kritik der mystischen Erkenntnis aus dem Jahre 1897 dem Symbol, „the only mental representation by which the Absolute can enter into our relative experience"68. Das mystische Symbol zeichnet sich aus durch Suggestivität, Einfachheit und Lebendigkeit („vivacity") des Ausdrucks, d.h. es ist nur mystisch, wenn es das Unendliche im Bewußtsein lebendig macht, „living or known of the heart", wie der Autor in Anlehnung an Pascal formuliert.69 Es ist außerdem synthetisch im Unterschied zum analytischen Diskurs (Récéjac spricht wörtlich von „verbal expression"70), der immer analytisch und darum dem mystischen Einheitsbewußtsein inadäquat sei. Und es ist subjektiv, bei Récéjac ein Synonym für „unkommunizierbar"71; um so größer daher die Notwendigkeit, zwischen der (fehlenden) Objektivität mystischer Phänomene und der (dennoch möglichen) Wahrheit der Symbole zu unterscheiden. Die Anerkennung des symbolisch vermittelten Charakters aller menschlichen Beziehung zum Absoluten ist Maßstab fur die Unterscheidung von Okkultismus: Mystik akzeptiert, „that the belief in direct intuition of a divine universal and infinite essence must be renounced."72 Die Notwendigkeit symbolischer Vermittlung wird nicht als Widerspruch zur behaupteten Unmittelbarkeit der mystischen Intuition empfunden. Scheidet letztere die irrationale Mystik von der rationalen und analytischen Erkenntnis in Naturwissenschaft und Philosophie, so trennt erstere die zwar irrrationale, aber dennoch mit Ratio zu vereinbarende Mystik von einem widervernünftigen Supranaturalismus. Mystik hat mit Übernatürlichem nichts zu tun, weil sie das

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68

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Vgl. Underhill, Mystik, XIII (zu Delacroix) und die Zitate von Récéjac (ebd., 21.27.108.115.120). Récéjac, Essay on the Bases of the Mystic Knowledge, London 1899, 3f. Ich zitiere nach der engl. Ausgabe aus Scholems Bibliothek. Ebd., 132ff. (zu Pascal vgl. ebd., 83.40-43.137). Ebd., 134. Ebd., 143. Ebd., 177; vgl. Ottos Kritik an der „unechten" Illuminatenmystik, die „ganz im Gegensatze des Supranaturalen zum Intranaturalen befangen" ist (West-östliche Mystik, 83; Hervorhebung i.O.).

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Absolute im Bewußtsein sucht, nicht in der natürlichen Welt der Erscheinungen.73 Die Berührungen zwischen Récéjacs spezifisch mystischer Weise, das Absolute mit dem Herzen zu erkennen, und Ottos ahnender Erkenntnis des Numinosen und Underhills Transzendenzbewußtsein sind ebenso augenfällig wie die Parallelen zur Charakterisierung der Ideogramme bzw. der mystischen Symbole. Ein weiterer Zeuge für den Einfluß des französischen Philosophen innerhalb der christlichen Mystikforschung, möglicherweise auch nicht unwesentlicher Vermitder zumindest zu Evelyn Underhill, ist Dean R. Inge, der Mystik mit Récéjac als den Versuch definiert, sich dem Absoluten mit Hilfe von Symbolen zu nähern. Der englische Theologe bezeichnet das Symbol unter Berufung auf Goethe und Kant als „sign and vehicle to something higher and better"74, mit einer realen und nicht nur konventionellen Affinität zum Symbolisierten,75 und Symbolismus allgemein als „a necessary mode of intuition"76: „The need of symbols to express or represent our highest emotions is intervowen with human nature."77 Die Definition der Mystik als besondere, nämlich nicht diskursive Intuition begegnet schließlich auch in den Etudes d'histoire et de psychologie du mysticisme von Henri Delacroix, der sich dabei auf die Terminologie der christlichen Mystiker selbst bezieht: „Le mysticisme commence lorsque cesse le discours, la pensée logique et réfléchie, l'action raisonnée, lorsqu'apparaît l'intuition".78 Im Gegensatz zum rationalen Diskurs bestehe die mystische Intuition im unmittelbaren Verstehen einer absoluten Realität außerhalb der Kategorien von Subjekt und Objekt.79

73 74 75 76 77

78

79

Vgl. Récéjac, Essay, 64ff. Inge, Christian Mysticism, 253. Vgl. ebd., 261. Ebd., 252. Ebd., 259; vgl. auch 253f. (über Sakramente, verstanden als symbolische Akte: „The need of sacraments is one of the deepest convictions of the religious consciousness"). H. Delacroix, Etudes d'histoire et de psychologie du mysticisme, Paris 1908, 360. Er beruft sich vor allem auf Teresa von Avila. Vgl. ebd., 360 („appréhendre d'un coup, sans idées et sans distinction, dans l'indétermination et l'indifférenciation, une réalité qui, exclusive de toute la relation à un object ou à un sujet, est donnée comme l'absolue").

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6.2.4 Die Diskussion über das Verhältnis von Erfahrung, Interpretation und Tradition (Delacroix, Coe, Jones) Die Studien des französischen Psychologen Delacroix sind von größerem Interesse in bezug auf das Verhältnis zwischen mystischer Erfahrung, ihrer Interpretation und der gegebenen religiösen Tradition des Mystikers. Rufus M. Jones, nach Scholem selbst Verfasser von „vortrefflichen Studien über mystische Religion"80, begrüßt das Werk darum als eines der wichtigsten Bücher über die Mystik der letzten Jahre. 81 Das Buch erschien 1908, im selben Jahr wie ein Aufsatz von George Albert Coe, der sich mit demselben Thema beschäftigt und in Hinblick auf Scholem nicht weniger wichtig ist, wird er doch noch 1957 im Eranosvortrag über Religiöse Autorität und Mystik zitiert (s.u.). Im selben Jahr erschien außerdem The Elements of Mystical Religion von Friedrich von Hügel, dem großen Lehrer und Vorbild Evelyn Underhills, dessen Name in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht fehlen darf. In seiner jüngst ins Deutsche übersetzten Forschungsgeschichte würdigt Bernard McGinn den Autor dieses ,,bedeutende[n] Buch[es]", dessen „vielleicht größte Einsicht [...] war, daß Mystik stets nur ein Teil oder Element einer konkreten Religion oder einer bestimmten religiösen Persönlichkeit ist."82 Gleichzeitig kritisiert McGinn die mangelnde Systematik des Werks; insbesondere „seine unsystematische und unklare Epistemologie ist für die Frage nach einer 'mystischen Erkenntnis' nicht sehr hilfreich."83 Im zweiten Band seiner umfangreichen Untersuchung, bei der Analyse der mystischen Erfahrung Katharinas von Genua, legt der Baron Wert darauf, daß die Frage nach der objektiven Wahrheit und dem geistigen Wert nicht aufgrund dieser Erfahrungen selbst, die er als besondere psycho-physische Zustände versteht, zu beantworten sei.84 Im folgenden Kapitel — unter der Überschrift „Interpretative Religion" - betont er, die subjektive Deutung der Erfahrung sei (wie alle Geistestätigkeit) abhängig von objektiven „Stimulationen", nämlich dem historischen und institutionellen Element der Religion. Auf die wechselseitige Abhängigkeit bzw. Durchdringung von Erfahrung und Deutung aufmerksam zu machen, ist das besondere Anliegen von Henri Delacroix, der dem Thema „Erfahrung, System und Tradition" ein eigenes 80 81 82 83 84

Scholem, Hauptströmungen, 4. Jones, Studies, xxvii Anm. 1. McGinn, Die Mystik im Abendland 1,14f. Ebd., 421. Vgl. F. von Hügel, The Mystical Element of Religion as studied in Saint Catherine of Genoa and her friends II, London-New York 1927,47-61.

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Kapitel widmet. Er geht aus von der Beobachtung, daß die in den mystischen Autobiographien beschriebene Erfahrung (mit ihrer Logik und der Ordnung in Stufen) wie ein erlebtes System erscheine, das in den theoretischen Schriften erörterte System dagegen als abstrahierte, verallgemeinerte und erklärte Erfahrung. Die mystische Erfahrung, wie sie sich den Mystikern darstellt, sei darum weniger „rein", als immer schon systematisiert, interpretiert und „von Lehre durchdrungen".85 Trotzdem möchte der Autor die Erfahrung nicht nur als Produkt nachträglicher Reflexion verstanden wissen: Mais il ne faudrait pas pousser à l'extrême les conséquences de ce fait. Nous croyons qu'on se tromperait gravement si l'on supposait ou bien que toute cette prétendue expérience n'est que l'arrangement de données confuses, qu'elle est tout entière le produit d'un ajustement après coup, ou bien qu'elle obéit à une systématisation intellectuelle préfotmée, qu'elle est dirigée par un système préalable et explicite.86

Delacroix beruft sich auf das Leben der Teresa, das sich allmählich und phasenweise entwickelte und an dessen Ende sich erst die „idée explicative de l'ensemble" formierte, sowie auf die Passivität der Mystiker („im élément essentiel du mysticisme"), ihre Überraschung über das, was ihnen widerfährt, und das lebendige Gefühl der Spontaneität und Originalität ihrer Erfahrung, die sich durch unvorhergesehene und unvorhersehbare Momente auszeichne.87 Darum erkläre die Tradition allein die Erfahrung nicht: „à chaque mystique, il y a commencement, invention"88. Obwohl Delacroix die Durchdringung von Tradition, Reflexion und Erfahrung behauptet, vertritt auch er prinzipiell die Trennung der Deutung (der „Erfahrung, wie sie sich den Mystikern darstellt") von dem psychischen Akt selbst. So scheidet er unter Berufung auf die Terminologie der Mystiker selbst die „Intuition" vom „Diskurs" (der Interpretation)89 und analysiert im letzten Kapitel seines Werkes diese Erfahrung an steh, nämlich, wie er selbst sagt, das „psychologische Wesen" der unaussprechlichen Intuitionen.90 Er bezeichnet diese Intuitionen auch als das, was die Mystiker das Göttliche nennen. Zu den Merkmalen dieses sogenannten Göttlichen zählt er die 85

86 87 88 89 90

Vgl. Delacroix, Etudes, 346 („L'expérience mystique, telle que se la représentent les mystiques, est bien moins une expérience brute, un pur fait, qu'une expérience déjà systématique, interpretée, pénétrée de doctrine.") Ebd., 353. Ebd., 355. Ebd., 357 (eine Ausnahme stellten die mystid minores dar, die nur nachahmen). Ebd., 359ff. Ebd., 369 (,Ja nature psychologique de ces intuitions").

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Erfahrung des Nicht-Ich (infolge der Trennung vom Normalbewußtsein), die von den Mystikern als Zeichen für den äußeren Ursprung des Erlebnisses gedeutet werde, sowie den affektiven und den aktiv-konstruktiven Charakter des „Inhalts" der Erfahrung. Delacroix untersucht zunächst die psychologischen Mechanismen der Identifikation der Intuitionen mit dem christlichen Gott, um dann zu ihrem eigentlichen psychologischen Wesen zu kommen, das er als Zustand der Bewußtseinssteigerung definiert. Er analysiert ferner das Gefühl der Passivität, das die unbewußte, innere Arbeit des Mystikers ignoriere, und schließlich die Systematisierung und Methodik der Stufen als unbewußte Organisation, die sich entsprechenden pychologischen Bedingungen verdanke. Sein Anliegen, so Delacroix zum Abschluß seiner Untersuchung, sei nicht eine Reduktion der Mystik auf eine mentale Übersetzung bestimmter physiologischer Wirkungen. Man dürfe nur nicht vergessen, daß ihre großartigen Konstruktionen zum Teil auf diesen zerbrechlichen Fundamenten ruht.91 Radikaler kritisierte und provozierte G.A. Coe92 die Mystikforschung seiner Zeit mit der These, Mystik sei nur die Deutung von durch Selbsthypnose hervorgerufenen Trance- oder bewußtseinsverändernden Zuständen in den je vertrauten Denkkategorien („thought-terms") der jeweiligen Religion des Mystikers. Für Coe ist sie darum keine besondere, gar universal identische Kategorie von religiöser Erfahrung, sondern unbewußte oder zur Gewohnheit gewordene Autosuggestion. Er wendet sich ausdrücklich gegen die Theorie der Einheit aller mystischen Erfahrung, wie sie sein Kollege William James vertrete: Zum einen habe James (unbeabsichtigt) ausgewählte Fälle verallgemeinert, zum anderen seien gerade Mystiker besonders beeinflußbare oder unkritische Persönlichkeiten, die mit besonderer Gewißheit als wirkliche Erfahrung behaupteten, was in Wahrheit nur die Deutung der Erfahrung ist. Der Eindruck universaler Übereinstimmung verdanke sich den formalen physiologischen und psychologischen Umständen der durch Selbst-Hypnose hervorgerufenen Zustände (wie Verlust der Persönlichkeit und Körperempfindung, Einheit von Subjekt und Objekt etc.), die sie noch nicht zu außergewöhnlichen religiösen Erfahrungen machten. Außer James kritisiert Coe auch die nicht minder einflußreichen zeitgenössischen religionspsychologischen Theorien (von Starbuck, Pratt u.a.), nach denen das Gefühl der Realität spiritueller Dinge die Quelle der religiösen Ideen und eigentliche Grundlage der Religion sei. Zwar verkörpert auch für Coe das 91 92

Ebd., 426 („bases fragües"). G. A. Coe, The Sources of Mystical Revelation, Hibbert Journal 6, 1908, 359-372.

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Gefühl der Gewißheit den Ursprung der Religion, aber seinen Inhalt verdanke dieses an sich inhaltsleere Gefühl gewachsenen Ideen und sozialen Traditionen. Das Gefühl sei eher eine „praktische Haltung" (nämlich die Entscheidung, die überlieferten Ideen für gewiß zu halten). Entsprechend hält Coe die mystische Erfahrung nicht für eine unmittelbare Intuition, für keine alternative, unmittelbarere Quelle als Dogmen oder Ideen; vielmehr seien es immer Ideen, die sich selbst behaupten — einmal als Glaub ens Vorstellung („belief) und einmal als Intuition oder Erfahrung. In der Einleitung zu seinen Studien über die Mystik setzt sich Rufus M. Jones kritisch mit den Thesen von Coe auseinander. Bezug nehmend auf Henri Delacroix stimmt er zunächst der Ablehnung einer vom Umfeld des Mystikers unabhängigen Erfahrung nachdrücklich zu: There are no 'pure experiences', i.e. no experiences which come wholly from beyond the person who has them [...] the most exalted spiritual experience is party product of the social and intellectual environment in which the personal life of the mystic has formed and matured. 93

Jones versteht die Wechelbeziehung bzw. Übereinstimmung („correspondence") zwischen innerer Erfahrung und äußerer Umgebung des (potentiell anarchistischen) Mystikers als Schutz vor der Loslösung von der allgemeinen Menschheitserfahrung, von der Geschichte bisheriger Erfahrungen; eine Isolierung, die stets in moralischem und spirituellem Bankrott zu enden drohe.94 Auch Delacroix spricht von einer Art Kontrollfunktion, wo er einen der psychologischen Mechanismen beschreibt, aufgrund derer der Mystiker seine Intuition mit der Erfahrung Gottes identifiziert, nämlich die Tatsache, daß die mystischen Zustände sich in ein christliches Leben einfügen; das Handeln des Mystikers gelte als Folge der Intuitionen und als ihre Früchte, an denen der mystische Zustand beurteilt wird. Ohne diese innere Kontrolle und diese natürlichen Dispositionen, so Delacroix, könne die Unbestimmtheit der Intuition, wie die Geschichte beweise, in eine heterodoxe Dogmatik und Moral münden.95

93 94

95

Jones, Studies, xxxiv. „To sever one's roots in history [...], 'to build all inward' and to have no light but what comes 'pure' by the inward way, is to suffer shrinkage, and to run the tremendous risk of ending in moral and spiritual bankruptcy" (ebd., xxxv). S.u. zur Diskussion um die soziale Dimension bzw. „reine Innerlichkeit" der Mystik. Delacroix, Essay, 375f.

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Obwohl Jones den Einfluß der Tradition auf die nicht völlig reine Erfahrung akzeptiert, lehnt er jedoch Coes Deutung der mystischen Erfahrung als unbewußte Autosuggestion ab. Selbst wenn sie nur Autosuggestion sei, erkläre dies nichts, behauptet der Mystikforscher, der seine Position mit Hilfe des Evolutionsbegriffes veranschaulicht und zu stützen versucht. Wie die Evolution nur die Methode der Erschaffung der Welt beschreibe - und damit die religiöse Theorie göttlicher Schöpfung nicht in Frage stelle — so könne Autosuggestion nur eine andere Art sein, zu sagen, daß Gott und Mensch vereinigt seien. Jones formuliert damit letztlich dieselbe Kritik, wie sie Evelyn Underhill ihrerseits an Henri Delacroix übt. Zwar habe der Franzose ihre eigene Forschung beeinflußt, doch seine Schlüsse könne sie nicht akzeptieren, insofern er „rein als Psychologe spricht und der mystischen Offenbarung, die er ausschließlich zu dem normalen Inhalt des Unterbewußtseins rechnet, jeden transzendentalen Wert abspricht".96

6.3 Scholems Theorie mystischer Erfahrung 6.3.1 Die dualistische „Urerfahrung" und ihre „Ausdrucksformen" In seinem Kabbalah- Artikel in der Encyclopedia Judaica, der mit dem Hinweis auf die Einzigartigkeit der Kabbala beginnt, scheint Scholem dem Großteil der jüdischen Mystik eine besondere universale mystische Erfahrung abzusprechen: Definiere man Mystik als das tiefe Verlangen nach direkter menschlicher Kommunion mit Gott durch Annihilierung der Individualität, heißt es dort, dann könnten nur wenige Manifestationen der Kabbala als Mystik bezeichnet werden. Sie sei nur mystisch zu nennen, wenn man damit das Streben bezeichne, Gott und die Schöpfung durch nicht rationale und intellektuelle Mittel, vor allem Kontemplation und Erleuchtung, zu verstehen. Spezifisch kabbalistisch sei daran wiederum die Betonimg der Übereinstimmung zwischen diesem mystisch zu nennenden Wissen mit dem der jüdischen Uberlieferung, „a paradoxical emphasis on the congruence between intuition and tradition". Er unterscheidet dann zwei Elemente der Kabbala: das theosophisch-spekulative und das mystische Element. Letzteres - also das Element, das die Kabbala mit anderen „Arten von Mystik" teilt — ist das Bewußtsein der Transzendenz und Immanenz Gottes, „this dual and 96

Underhill, Mystik, 143.

Scholems Theorie mystischer Erfahrung

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apparently contradictory experience o f the self-concealing and self-revealing God". 9 7 Allgemein oder universal mystisch ist demnach in der Kabbala eine „Intuition", die ihrer Gott- und Welterkenntnis zugrunde liegt und die eine „Erfahrung" des verborgenen transzendenten und des sich offenbarenden immanenten Gottes zugleich ist Im Vortrag im Berliner Wissenschaftskolleg (1981/82) heißt es ganz ähnlich: [...] wie andere Formen der Mystik gründet sich auch die Kabbala auf das lebendige Bewußtsein des Mystikers vom zwiefachen Aspekt Gottes, nämlich seiner Transzendenz und zugleich doch Immanenz im wahren religiösen Leben, welches ja in jeder seiner Facetten eine Offenbarung Gottes darstellt, wie sie besonders klar durch Versenkung des Menschen in die Tiefe seiner selbst erlangt wird.98 Scholem beschreibt damit denselben „wesentlichen Dualismus in der mystischen Erfahrung" 9 9 , den auch Evelyn Underhill für ein typisches Merkmal aller Mystik hält. In anderen Veröffentlichungen, und zwar von den Anfangen seiner Laufbahn bis in die sechziger Jahre, zeigt der Kabbalaforscher weniger Skrupel, diese Gotteserfahrung der Kabbala mit der einen spezifisch mystischen Erfahrung zu identifizieren. Anders als im EJ-Artikel beginnt er nicht mit der Besonderheit der jüdischen Mystik, sondern mit ihrem typisch mystischen Charakter, den er sehr wohl in einer unmittelbaren oder direkten Gotteserfahrung findet. Ausdrücklich und unzweideutig vertritt er dabei die Auffassung, daß diese mystische Erfahrung prinzipiell von ihrer Deutung zu trennen ist und universal dieselbe ist. 100 In seiner Analyse der kabbalistischen Gebetsmystik aus dem Jahre 1934 schreibt er: 97

98 99 100

Art. Kabbalah, 490; vgl. Reflections on the Possibility of Jewish Mysticism, 43f. = Devarim bego, 72. Die Stellung der Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte, in: Judaica 4,11. Underhill, Mystik, 143. Wohl aufgrund der weiten Verbreitung von Devarim bego und des EJ-Artikels (in der Ausgabe Kabbalah, Jerusalem 1974) scheint man alle übrigen Äußerungen zu ignorieren oder umzudeuten — typisch z.B. Agus' Bemerkung, daß Scholem sich in Kabbalah „präziser" ausdrücke als in den Hauptströmungen (Agus, Scholem's 'Kabbalah', 242). Moshe Idei erwähnt die „vorsichtigeren Formulierungen" von Mysticism and Soaety, jedoch ohne daraus Konsequenzen für seine Scholem-Interpretation zu ziehen (Studies in Ecstatic Kabbalah, 3f.). Andere diagnostizieren eine „ambivalente, widersprüchliche oder dialektische Haltung" (Wolfson, Forms of Visionary Ascent, 216), insofern der mystische Aspekt der theosophischen Kabbala einerseits zur Kenntnis genommen („duly noted"), andererseits marginalisiert und wegrationalisiert werde (vgl. auch TiroshRothschild, Continuity and Revision, 179 mit Anm. 24). Auch Shaul Magid sieht darin

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Die mystische Erfahrung

Es ist ja keineswegs so, daß die religiöse Erfahrung der Kabbalisten nichts von all dem gewußt hätte, was die Erfahrung der Mystiker überall ausgemacht hat. Die lebendige Erfahrung Gottes im eigenen Seelengrund oder wie immer man jenes Ziel des mystischen Verlangens bezeichnen mag, hat als eine Urerfahrung des Menschen im 'rabbinischen' Judentum genauso existiert wie irgendwo. Was wirklich verschieden ist, von allen speziellen jüdischen oder nichtjüdischen Ausdrucksformen solcher Erfahrung abgesehen, das ist der Wille zum Ausdruck und zur literarischen Mitteilung dieser Erfahrung überhaupt. 1 0 1

Man kann diese Aussage nicht anders verstehen denn als Ausdruck der Überzeugung von einer einheitlichen „Urerfahrung", die prinzipiell zu unterscheiden ist von den speziellen „Ausdrucksformen". Diese Ausdrucksformen sind zwar jeweils besondere, doch nicht dies ist es, was die Besonderheit der jüdischen Mystik ausmacht - denn in Bezug auf die Ausdrucksformen unterscheiden sich sowohl die jüdischen Mystiker untereinander wie die Mystiker anderer Religionen, die ihre je eigenen Ausdrucksformen besitzen. Das eigentlich Unterscheidende („was wirklich verschieden ist") ist nicht die Besonderheit der Deutung der mystischen Erfahrung, sondern vielmehr die Tatsache, daß die kabbalistische Literatur eine ausgesprochene Scham und Zurückhaltung gerade da zeigt, w o andere Mystiker am gewaltigsten stammeln — im Autobiographischen und in den Versuchen zur begrifflichen Bestimmung der religiösen Vorgänge [...]. 102

Die Scheu, von der Erfahrung selbst zu reden, und das ausgeprägte theosophische Interesse, die Konzentration auf die Beschreibung der innergöttlichen Dynamik, sind Scholem zufolge die zwei spezifischen Merkmale jüdischer Mystik, jedoch nicht die Deutung der mystischen Erfahrung als Devekut im Unterschied zur christlichen Unio mystica. Nichts anderes ist auch im ersten Kapitel der Hauptströmungen zu lesen, wo nahezu dieselbe Formulierung begegnet wie in dem Aufsatz von 1934. An die Stelle der „lebendigen Erfahrung Gottes im Seelengrund" tritt die „ekstatische Erfahrung, die Begegnung mit dem absolut Seienden im Grunde der eigenen Seele", doch auch von

1ύ1 102

einen Widerspruch, daß Scholem die Erfahrung durch ihre Objektivierungen ersetze, sie aber dennoch anders als Katz als unmittelbar und vom sozialen und ideologischen Kontext unabhängig verstehe (Scholem's Ambivalence, bes. 250.255). Scholem, Der Begriff der Kawwana, 493. Ebd.

Scholems Theorie mystischer Erfahrung

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dieser heißt es, sie habe „als Urerfahrung des Menschen im rabbinischen Judentum genau so existiert wie irgendwo".103 Was die unterschiedlichen Ausdrucksformen für diese Urerfahrung betrifft, sagt Scholem hier ausdrücklich, daß Unio mystica - als der Name, unter dem die allgemeine Religionsgeschichte das Wort kenne — „nur ein Wort" sei und daß dieselbe Erfahrung von den jüdischen Mystikern „in Bildern, die ihrem Aaschauungskreis gemäß waren", beschrieben worden sei. Als Beispiel für solch eine anderslautende Beschreibung dient hier, was gern übersehen wird, nicht etwa die kabbalistische Devekut, sondern die Merkabamystik, in der jene Erfahrung als Aufstieg der Seele und ekstatische Schau der Majestät Gottes und der himmlischen Thronwelt geschildert wird. Diese Deutung der Erfahrung wird mit der des (Berditschewer) Chassid Levi Isaak verglichen, der von der Schau des Nichts unter Verlust der Realität des Intellekts spricht. Diese beiden (innerjüdischen) Formulierungen trenne ein weiter Weg, aber „dennoch ist es letzten Endes dieselbe Erfahrung"104. Nur deshalb, wegen der letztlichen Identität der mystischen Erfahrung, gibt es „etwas Einheitliches"105 in allen historischen mystischen Phänomenen. Nicht weniger deutlich ist Scholem in seinem Eranosvortrag über Religiöse Autorität und Mystik aus dem Jahre 1957, der in diesem Zusammenhang zwar gern zitiert wird, jedoch in dieser seiner Bedeutung und Konsequenz nicht ernst genommen zu werden scheint Scholem begründet hier den konservativen Aspekt aller Mystik mit der Gestaltlosigkeit oder amorphen Natur aller mystischen Erfahrung. Anders als in seiner frühen Polemik gegen Meir Wieners Lyrik der Kabbala betont er hier gerade diese Gestaltlosigkeit und ordnet die exakt bestimmbare Audition der Prophetie zu.106 Die mystische Erfahrung wird beschrieben als „Abbau der formhaltigen Seinsstrukturen der Erfahrungswelt" mit gleichzeitigem „Aufbau mystischer Strukturen"107. Ihr „Gegenstand transzendiert seiner Natur nach jene Kategorien von Subjekt und 103

Hauptströmungen, 16; auch hier spricht er dann von der „Abneigung [...], von diesen im strengsten Sinne mystischen Vorgängen ausdrücklich zu handeln und zu berichten", die die den Eindruck erwecke, „als ob ein Gefühl der Scham, eine besondere religiöse Keuschheit sie zurückhielte" (ebd., 17). 104 Hauptströmungen, 6. 105 Ebd. 106 Yg[ Lyrik (j er Kabbala?, 60, und oben zu Prophetie und Mystik. Vgl. auch Biale, Counter-History, 88, dessen Scholem-Interpretaöon sich auf die frühen, gegen Erlebnismystik (und Schoeps' Existentialismus) polemisierenden Schriften sowie die Vorträge über Tradition, Kommentar und Sprache stützt und Äußerungen zur amorphen mystischen Erfahrung in den späteren Vorträgen völlig ignoriert. 107 Religiöse Autorität und Mystik, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 16.

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Objekt, die jede Definition voraussetzt"108. Als Erfahrung einer „letzten Realität [...], die in ihrem Urgrund immer wieder als gestaltlos, amorph, erscheint"109, kann sie „in mannigfachster Weise gedeutet, das heißt mit Sinn bekleidet werden", und dies „notwendigerweise innerhalb eines Rahmens konventioneller Symbole und Ideen"110. Der amorphe Charakter begründet nun aber nicht nur die Vieldeutbarkeit, sondern zugleich auch die letztliche Einheitlichkeit aller mystischen Erfahrung, wie Scholems Antwort auf die berühmte Frage zeigt, warum „eigentlich ein christlicher Mystiker immer wieder christliche Visionen und nicht die eines Buddhisten" sehe: Die Antwort ist natürlich, daß der Ausdruck ihrer Erfahrungen sich sofort in traditionelle Symbole aus ihrer eigenen Welt umsetzt, auch wenn die Objekte dieser Erfahrung im Grunde dieselben and und nicht etwa, wie von manchen Erforschem der jüdischen Mystik, besonders von katholischer Seite gern angenommen wird, wirklich im Grunde gans^ verschiedene-111

Dies richtet sich ausdrücklich, nach der von Scholem selbst hinzugefugten Anmerkung, gegen „die Bestreitung der Einheit des Gegenstands der mystischen Erfahrung" in der „katholisch inspirierten" Mystikforschung der letzten dreißig Jahre und vor allem gegen „das jüngst erschienene, ungemein anregende und zum Widerspruch einladende Werk" von R.C. Zaehner, Mysticism: Sacred and Profane, das 1957 erschien.112 Gegen dessen Theorie von drei phänomenologisch verschiedenen Einheitserfahrungen betont Scholem die Einheitlichkeit der Erfahrung selbst, „ob wir sie nun als unio mystica oder als 'bloße' communio mit dem Göttlichen zu deuten unternehmen".113 Scholems Standpunkt wird noch deutlicher in Mysticism and Society, wo er ähnliche Probleme behandelt wie in Religiöse Autorität und Mystik. Einleitend 108 109 110 111

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Ebd., 15. Ebd., 17. Ebd., 16; vgl. auch Der Nihilismus als religiöses Phänomen, in: Judaica 4,134f. Religiöse Autorität und Mystik, in: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 26f. (Hervorhebung von mir). Ebd., 263 Anm. 11. Ebd., 20. (Mit der Scheidung von panenhenischer Naturmystik, monistischer und theistischer Mystik geht es Zaehner, der aus seiner religiösen Überzeugung keinen Hehl macht, vor allem um die Besonderheit und Überlegenheit der chrisdich-theistischen Erfahrung, die sich als einzige einer rein psychologischen Deutung entziehen soll. Motiviert wurde sein Werk in erster Linie von Aldous Huxleys Identifikation der durch Meskalin hervorgerufenen Erfahrungen mit der Unio der Mystiker. Dem setzt Zaehner entgegen, daß Huxleys Erlebnisse tatsächlich nur der Kategorie der psychologisch erklärbaren panenhenischen Erlebnisse angehören und mit monistischer oder gar theistischer Mystik nichts zu tun haben.)

Scholems Theorie mystischer Erfahrung

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rechtfertigt der Kabbalaforscher eine allgemeine Erörterung des Problems von Mystik und Gesellschaft, obwohl er kompetent nur über mystische Phänomene im Judentum sprechen könne: But however important we may deem the differences between the forms mysticism has taken in various religions, we still should be able to formulate at least questions applicable to all of them.114 In diesem Vortrag aus dem Jahre 1966 (gehalten auf einem Symposion des Frank Weil Instituts im Hebrew Union College Cincinnati) nennt Scholem keine Namen aus der zeitgenössischen Mystikforschung. Dennoch liest es sich wie eine Anspielung auf die aktuelle Diskussion um das Verhältnis von Erfahrung und Deutung 115 und die universelle Übereinstimmung aller mystischen Erfahrung, wenn er schreibt: I shall not enlarge here on the question of whether there is a difference between the type of mysticism that seeks mystical union as its aim and that which seeks 'only' communion with God. I am not at all convinced that this distinction is of sud) far-reaching importance as is often claimed (especially in treatises on Christian mysticism), and particularly with regard to the impact of mysticism on society. I maintain that the definition of the ulämate aim of mysticism is largely a matter of interpretation and already tinged by historical and theological considerations. The Jewish mystics used the term devequtb to denote this ultimate aim. The term [...] conveys a markedly cautious tone while it still can embrace very different shades of meaning. The necessity to compromise with medieval Jewish theology dictated this terminology, not the act itself, which may or may not include a state of mystical union.116

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Scholem, Mysticism and Society, 2. Für dessen Problematisierung stehen bis heute vor allem W.T. Stace und N. Smart, wobei Zaehners bereits erwähnte Kritik an der These einer einzigen mystischen Erfahrung als eine Art Katalysator der Diskussion fungierte; man warf ihm vor, jenes Verhältnis gar nicht oder zu wenig berücksichtigt zu haben. Stace, dessen Mysticism and Philosophy 1961 erschien, betont die Scheidung und benutzt sie, um die universale Ubereinstimmung der Erfahrung selbst und schließlich ihre Objektivität oder Realität zu verteidigen. Smart wiederum formulierte seine prinzipiellen Überlegungen 1962 und 1964 (s.o. Kap. 6.1 Anm. 17), um Zaehners Trennung zwischen monistischer und theistischer Erfahrung zu widerlegen. Scholem, Mysticism and Society, 16 (Hervorhebungen von mir). Zum notwendigen Kompromiß vgl. auch S.H. Bergmans Tagebuchnotiz vom 29.5.1940 über die Debatte nach einem Vortrag Bubers zur Stellung des Chassidismus in der Religionsgeschichte (der betonte, daß dieser im Gegensatz zum Zen bei aller Ekstase nie die Grenze zwischen Gott und Mensch verwische, so daß aus dem Dialog nie ein Monolog würde). Nach Bergman bemerkte Scholem dazu u.a., es gebe „in den theoretischen Büchern aus

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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ausgerechnet Scholem eine solche Kritik formuliert, ist er doch der Gewährsmann für jene Theoretiker der Mystik, die den besonderen Charakter der jüdischen Mystik hervorheben, weil sie nur eine Kommunion und keine Unio kenne. 117 Wenn Scholem im Anschluß an das obige Zitat die sozialen Implikationen der Devekut behandelt, so geht es um das „Konzept" 118 , um die „Lehre" („doctrine")119 oder „Theorie der Devekut" 120 , und nicht mehr um den „Akt selbst". Die Erfahrung selbst, die er 1957 amorph nannte, definiert er hier als Annihilation oder Reduktion der Vielheit von Formen, Bildern und sinnlichem Inhalt, gipfelnd in der „Begegnung mit dem Göttlichen". Der Mystiker generell, heißt es wörtlich, does not build up his personality but tends to annihilate it, or at least to reduce progressively the multitude of forms and images which fill his soul, to devoid it of sensual content and to break through to a point (whether outside or inside of him is a matter of controversy) where he confronts the One, Oneness, the Divine root of Being. But this confrontation with the Divine, which tends to tum into communion or even into a state of union, does not leave him poorer for that; on the contrary, in this encounter he acquires a new quality of his being, whatever the different theological explanations of this new quality may be.121

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den Anfangen des Chassidismus [...] genug Stellen, wo die Einheit zwischen Gott und Mensch betont wird und durchaus nicht jener Dialog, von dem Buber spricht. Was Buber als charakteristisch für den Chassidismus angeführt habe, sei nur Anpassung des Chassidismus, Konzession aus Gründen der Strategie oder Propaganda, aber in sich sei der Chassidismus ebenso von der Einhut von Gott und Mensch durchdrungen wie die anderen mystischen Religionen. [...] Scholem erzählte auch, daß in den theoretischen Büchern des Chassidismus stehe, der Mensch 'Adam' sei zunächst nur "Dam', ein Stück Fleisch, und erst durch die Vereinigung mit dem Einen ÇK), werde er ein Mensch. So weit also seien Gott und Mensch eins, in der religiösen Ekstase" (Bergman, Tagebücher und Briefe I, 525, Hervorhebung i.O.)l Ganz zu schweigen von der Ironie, daß bei William Stace ausgerechnet Martin Buber als Ausnahme gilt, der (nach Bubers Zeugnis in Zwiesprache, vgl. Werke I, 197f.) die echt mystische, aber Scholem zufolge unjüdische Erfahrung gemacht habe; er habe sie nur aufgrund der Selbstzensur als Jude nicht als Einheitserfahrung deuten können (vgl. Stace, Mysticism and Philosophy, 155f.204; dagegen wiederum R.C. Zaehner, Mystik. Harmonie und Dissonanz, Ölten - Freiburg i. Br. 1980, 240). Scholem, Mysticism and Society, 16. Ebd, 17. Ebd., 20. Ebd., 5 (vgl. auch ebd., 6: „mystical encounter with the Divine").

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Bezieht sich in Scholems Vortrag eine Aussage auf diese mystische Erfahrung an sich oder auf ihre typischen Merkmale, die sich bei so gut wie allen Mystikern finden, so spricht Scholem immer zusammenfassend von „communion with God or even union with Him"122, „ecstasy or contemplation"123, „contemplatio infusa, unitive life, or, as the Jewish mystics called it, devequth'