Germanische Altertumskunde im Wandel: Archäologische, philologische und geschichtswissenschaftliche Beiträge aus 150 Jahren 9783110563061, 9783110561852

The 100th volume of the series Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Ergänzungsbände presents 18 papers from ove

289 80 6MB

German Pages 403 [404] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Germanische Altertumskunde im Wandel: Archäologische, philologische und geschichtswissenschaftliche Beiträge aus 150 Jahren
 9783110563061, 9783110561852

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung
Zur Einrichtung der Texte
I Etablierung (ca. 1850 bis 1900)
Zur Deutschen Verfassungsgeschichte
Zeitbestimmung unserer Alterthümer
II Verfestigung (um 1900)
Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland
III Neuansätze und ihr Fortwirken (1930er bis 1950er Jahre)
Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst
Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfassungsentwicklung
Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte
IV Neue Akzente (1970er und 1980er Jahre)
Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes
Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Zur Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials
V Neuausrichtungen (1990–2010)
Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: eine forschungsgeschichtliche Perspektive
Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung
Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes
The Fading Power of Images. Romans, Barbarians, and the Uses of a Dichotomy in Early Medieval Archaeology
Nachweis der Originalpublikationen

Citation preview

Germanische Altertumskunde im Wandel

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Band 100/1

Germanische Altertumskunde im Wandel Archäologische, philologische und geschichtswissenschaftliche Beiträge aus 150 Jahren Herausgegeben von Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold Teil 1: Einleitung, archäologische und geschichtswissenschaftliche Beiträge

ISBN 978-3-11-056185-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056306-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056197-5 ISSN 1866-7678 Library of Congress Control Number: 2020947328 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold ‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung Zur Einrichtung der Texte

1

37

I Etablierung (ca. 1850 bis 1900) Georg Waitz Zur Deutschen Verfassungsgeschichte (1845) Kommentar 70

41

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit Zeitbestimmung unserer Alterthümer (1848) 75 Kommentar 85

II Verfestigung (um 1900) Gustaf Kossinna Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland (1895) Kommentar 104

III Neuansätze und ihr Fortwirken (1930er bis 1950er Jahre) Hans Zeiß Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst (1937) Kommentar 122

111

Heinrich Dannenbauer Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfassungsentwicklung (1941) 127 Kommentar 174 Walter Schlesinger Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte (1953) 179 Kommentar 221

91

VI

Inhaltsverzeichnis

IV Neue Akzente (1970er und 1980er Jahre) Reinhard Wenskus Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (1961) 227 Kommentar 239 Heiko Steuer Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Zur Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials (1979) Kommentar 281

243

V Neuausrichtungen (1990–2010) Walter Pohl Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: eine forschungsgeschichtliche Perspektive (2004) 287 Kommentar 304 Jörg Jarnut Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung (2006) 307 Kommentar 316 Hubert Fehr Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes (2008) 319 Kommentar 351 Philipp von Rummel The Fading Power of Images. Romans, Barbarians, and the Uses of a Dichotomy in Early Medieval Archaeology (2013) 355 Kommentar 393 Nachweis der Originalpublikationen

397

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung Vorspann Was der Begriff ‚germanisch‘ bezeichnet und welche Vorstellungen sich mit Germanen verbinden, das hat sich immer wieder verändert. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die deutsche Philologie, die Geschichte und die Archäologie gerade erst, sich als wissenschaftliche Disziplinen im heutigen Sinne zu etablieren. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert aber waren dann schon etliche jener Institutionen gegründet, die noch bis heute für die Fächer von Bedeutung sind. Es entstanden nicht nur spezialisierte Lehrstühle und Universitätsinstitute für die Geschichte und die Philologien des Mittelalters, sondern auch die verschiedenen Historischen Kommissionen, auf Dauer angelegte Großunternehmen wie die „Monumenta Germaniae Historica“ (ab 1826), die „Regesta Imperii“ (ab 1839) oder das „Grimmsche Wörterbuch“ (ab 1854), Institutionen wie das Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz (1852) oder das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (1852), zentrale Publikationsorgane wie die „Zeitschrift für deutsches Altherthum“ (ab 1841), die „Historische Zeitschrift“ (ab 1859), die „Zeitschrift für deutsche Philologie“ (ab 1869), außerdem diverse Handbücher und Fachlexika. Als einen Teil dieses Institutionalisierungsprozesses kann man auch den „Hoops“ begreifen, der in den Jahren 1911 bis 1919 erschien:1 jenes umfassende „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“, das ab 1968 in einer zweiten Auflage überarbeitet wurde2 und seit 2011, nunmehr elektronisch, als „Germanische Altertumskunde Online“ stetig aktualisiert und ergänzt wird.3 Seit 1986 wird das Reallexikon zudem von einer Buchreihe begleitet: Diese „Ergänzungsbände“ bieten vor allem Raum, um spezifische Einzelthemen des Feldes in Monographien oder Sammelbänden abzuhandeln. Immer wieder sind in Ergänzungsbänden aber auch der Zuschnitt, die Ausrichtung und die Grenzen der Germanischen Altertumskunde selbst diskutiert worden. Das vorliegende Buch bildet nun den 100. Band dieser Reihe. Wir möchten den Anlass nutzen, um im historischen Rückblick zumindest einen kleinen Ausschnitt aus der langen Geschichte der Germanischen Altertumskunde seit Mitte des 19. Jahrhunderts anschaulich zu machen – und damit zugleich beizutragen

1 Reallexikon der germanischen Altertumskunde, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrten hrsg. Johannes Hoops, Bd. 1–4 (Straßburg 1913–1919). 2 Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, begründet von Johannes Hoops, 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage, Bd. 1–35 sowie 2 Registerbände (Berlin, New York 1968–2008). 3 Vgl. https://www.degruyter.com/view/db/gao https://doi.org/10.1515/9783110563061-001

2

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

zur aktuellen Diskussion über die Inhalte und den Zuschnitt dieses Feldes insgesamt. Wir haben dafür philologische, geschichtswissenschaftliche und archäologische Beiträge aus rund 150 Jahren Forschungsgeschichte ausgewählt, die wir hier erneut abdrucken. In kurzen Kommentaren verorten wir diese Beiträge jeweils in ihrem historischen Kontext und umreißen ihre Bedeutung für die Entwicklung des Forschungsfeldes. Was wir damit bieten, ist von vornherein nicht als umfassendes Kompendium gedacht: Kein einzelnes Buch dieser Art kann für sich in Anspruch nehmen, die Fülle der internationalen Forschungen aus rund eineinhalb Jahrhunderten wissenschaftlicher Arbeit angemessen abzubilden. Uns war es jedoch wichtig, nicht nur die aktuelle, sehr internationale Diskussion zu bündeln, sondern weit ins 19. Jahrhundert hinein zurückzublicken. Denn ein Gutteil auch noch der jüngeren Debatten kreist um Annahmen, die schon sehr früh, teils schon im Zuge der Verwissenschaftlichung der beteiligten Disziplinen selbst kanonisiert worden sind – und wohl gerade deshalb auch so erstaunlich lange haben wirkmächtig bleiben können. Statt ein auf Vollständigkeit ausgerichtetes Handbuch der Geschichte der Altertumskunde bieten wir also nur Schlaglichter auf einen langen und komplexen Forschungsprozess. Manche der hier wiederabgedruckten Beiträge wird man zweifellos als Meilensteine der Germanischen Altertumskunde bezeichnen dürfen; sie sind immer wieder zitiert worden und füllen noch immer die wissenschaftlichen Apparate einschlägiger Publikationen. Andere Beiträge sind dagegen mittlerweile fast vergessen. Sie bilden jedoch Zeittypisches ab, das zunächst durchaus wichtig war, auch wenn es heute kaum mehr eine Rolle spielt. Bei der Auswahl haben wir uns vor allem eine harte Grenze gesetzt: Der Band beschränkt sich auf die deutschsprachige Forschung. Selbstverständlich ist die Diskussion über Germanen und ihre Kultur schon früh auch international geführt worden. Doch ist der Raum eines einzelnen Bandes beschränkt, und es erschien uns wichtiger, das hohe Alter und die erstaunliche Wirkmacht mancher Grundannahmen des 19. Jahrhunderts innerhalb der deutschsprachigen Forschung anschaulich zu machen. Wir haben deshalb Beiträge ausgewählt, die miteinander in einer gewissen Beziehung stehen – und gar nicht erst versucht, die Vielstimmigkeit der internationalen Forschung anzudeuten, die in einem solchen Rahmen ohnehin nur in Ansätzen abzubilden gewesen wäre. Dass die Auswahl subjektiv ist, dass sich auch andere Akzente hätten setzen lassen, dass die Fülle der Forschung in diesem Buch bestenfalls angedeutet ist – all das gestehen wir von vornherein ein. Dennoch hoffen wir, dass der Band nicht ohne Nutzen sein wird. Er kann Studierenden und Doktoranden helfen, sich einen ersten Eindruck von wesentlichen Etappen in der Erforschung jener Gesellschaften zu verschaffen, die man im 19. Jahrhundert wie selbstverständlich als ‚Germanen‘ bezeichnete. Da die Forschung in diesem Feld aber schon seit ihren Anfängen ebenso interdisziplinär ausgerichtet gewesen ist wie der „Hoops“ in seinen drei Auflagen, sind wir optimistisch, dass die Zusammenschau von philologischen, archäologischen und geschichtswissenschaftlichen

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

3

Forschungsbeiträgen aus 150 Jahren auch für manchen Kenner noch interessante Einsichten bereithalten kann. Für die Struktur des Bandes haben wir fünf Zeitschnitte gesetzt und uns bemüht, aus allen drei Disziplinen jeweils einen paradigmatischen (oder doch zumindest zeittypischen) Beitrag zusammenzustellen. Allein aus Gründen des Umfangs und der Arbeitsorganisation finden sich die – besonders eng aufeinander bezogenen – archäologischen und geschichtswissenschaftlichen Beiträge in einem ersten Teilband, die philologischen in einem zweiten. Den ersten Schnitt haben wir um die Mitte des 19. Jahrhunderts angesetzt, als die Etablierung der ‚Germanischen Altertumskunde‘ als wissenschaftliches Feld gerade erst begann. Einen zweiten Zeitschnitt stellen die Jahre um 1900 dar; damals waren viele Thesen und Annahmen bereits kanonisiert und konnten sich daher nun in großen Handbüchern und Fachlexika zu disziplinärem Grundwissen verfestigen. Die 1930er/1940er Jahre bildeten dann eine Zeit, in der sich unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland ein Paradigmenwechsel vollzog, unter dessen Oberfläche freilich manche Kernannahmen des 19. Jahrhunderts kraftvoll weiterwirkten. Während das Jahr 1945 wissenschaftlich in diesem Feld kaum einen Einschnitt bedeutete und die Leitperspektiven der 1930er/1940er Jahre zunächst ohne tiefen Bruch weiterbestanden, lässt sich seit den 1960er Jahren erneut ein Wandel beobachten. Nun wurde, wenn auch an Diskussionen der 1930er Jahre anknüpfend, die Existenz germanischer Stämme und Völker nicht mehr als immer schon gegeben vorausgesetzt, sondern deren Werden und Wandel unter dem Begriff der ‚Ethnogenese‘ erforscht. Unser letzter Zeitschnitt schließlich führt bis in die jüngste Vergangenheit: Auch hier haben wir bewusst keine ganz aktuellen Forschungsbeiträge versammelt, bilden aber doch Teile jener Diskussion ab, die um 2000 dazu führte, dass der Begriff des ‚Germanischen‘ selbst – jedenfalls als analytischer Begriff der Forschung – in je eigener Weise in Archäologie und Geschichtswissenschaft fragwürdig wurde. Wir hoffen, dass das Buch mithilfe dieser Zeitschnitte die Wirksamkeit mancher Grundfragen und Vorannahmen in allen drei Disziplinen sichtbar machen kann, zugleich aber auch fächerübergreifende Rezeptionsprozesse und Phasenverschiebungen veranschaulicht, bis hin zu Brüchen, Spannungen und Missverständnissen im interdisziplinären Austausch. Um die historische Kontextualisierung wie auch den Vergleich der einzelnen Beiträge zu erleichtern, stellen wir im Folgenden die einzelnen Zeitschnitte noch etwas ausführlicher vor.

I. Etablierung (ca. 1850 bis 1900) Als sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin im heutigen Sinne zu etablieren begann, hatten die Vertreter des jungen Fachs meist (auch) Jura studiert. Das Interesse der Historiker war auf die Geschichte des Rechts, der Verfassung und der politischen Strukturen gerichtet. Mit dem Blick

4

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

zurück in die Antike und das Mittelalter suchte man Antworten auf die großen politischen Fragen der eigenen Gegenwart. Dazu gehörte zum einen die nationale Frage: Warum hatte die Nation der Deutschen nicht (wie jene der Franzosen und der Engländer) schon im Mittelalter in einem eigenen Staat zusammengefunden? Wieso hatte sich stattdessen das vielgliedrige – und ungeliebte – Gebilde des Alten Reiches entwickelt? Nicht minder virulent war die Frage nach der künftigen Verfassungsstruktur des ersehnten Nationalstaats: Welche Rolle sollten hier Wahlen, welche Rolle ein Parlament in der politischen Ordnung spielen? Und wer sollte wen wählen dürfen? Der weite Blick zurück in die Zeit der Germanen verhieß den Zeitgenossen hierzu Aufschluss. In der fernen Vergangenheit suchten Historiker und Philologen ein Vorbild für die künftige Ausgestaltung ihrer eigenen politischen Struktur: Georg Waitz, einer der wichtigsten Mediävisten seiner Zeit, war beispielsweise 1848/49 wie Jacob Grimm im Parlament der Frankfurter Paulskirche tätig; und wie Waitz engagierten sich auch zahlreiche seiner Kollegen aktiv in den politischen Diskussionen ihrer Gegenwart. Paul Roth etwa gelang es, mit seiner „Geschichte des Beneficialwesens“ im Jahr 1850 gegen damals verbreitete Vorstellungen zu erklären, dass die feudalen Institutionen (und damit weithin als ‚mittelalterlich‘ verhasste Formen der Abhängigkeit) tatsächlich erst mit den Karolingern und damit aus nicht-deutschen Regionen westlich des Rheins in die fränkische Geschichte Einzug gehalten hatten:4 Auf Roth geht wesentlich die These zurück, dass das Lehnswesen erst im 8. Jahrhundert entstanden und eben keine alte, germanische Institution gewesen sei. Diese These war unter Roths Zeitgenossen keineswegs unumstritten, setzte sich aber rasch durch und bildete fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch Handbuchwissen über das Mittelalter.5 Noch weit engagierter allerdings verlief die Debatte über die Deutung der ältesten Quellenzeugnisse zu Germanen – im „Gallischen Krieg“ Caesars und in der „Germania“ des Tacitus. Dass es Germanen immer schon gab, dass sie die ersten Deutschen waren und dass Caesar und Tacitus ihr „Wesen“ beschrieben hatten, all das war um die Mitte des 19. Jahrhunderts unstrittig. Weit schwieriger war es dagegen, die knappen Quellentexte (die noch dazu von römischen Autoren stammten) für die Interessen der eigenen Gegenwart auszuwerten: In immer neuen Publikationen bemühten sich Historiker und Philologen, aus den lapidaren Angaben dieser frühen Quellen ein umfassendes Bild von der politischen Organisation, dem Recht und der Verfassung, der Kultur und der Vorstellungswelt der Germanen zu gewinnen. Da die frühesten Schlüsseltexte allerdings viele Fragen unbeantwortet ließen, hing bei diesem Unterfangen viel einerseits von den vorgängigen Modellen im Kopf 4 Paul Roth, Geschichte des Beneficialwesens von den ältesten Zeiten bis ins zehnte Jahrhundert (Erlangen 1850). 5 Vgl. François Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen? (Darmstadt 1983); Steffen Patzold, Das Lehnswesen (München 2012).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

5

des Wissenschaftlers ab, andererseits von den weiteren Quellenstellen, die man zum Vergleich und zur Interpretation heranzog: Das wissenschaftliche Ziel war es, das germanische „Wesen“ zu erfassen; eben deshalb konnten auch etliche spätere Texte in die Diskussion miteinbezogen werden – seien es solche, die den Zustand in Germanien (also östlich des Rheins) in späteren Jahrhunderten beleuchteten, seien es Quellen aus Skandinavien, England oder Island (die ja ebenfalls als von Germanen besiedelt galten). Gestützt auf eine solche Basis, dabei aber in heftigen Kontroversen über die Bedeutung einzelner Formulierungen und Wörter, entwarfen Historiker im 19. Jahrhundert immer neue Bilder von der Verfassung der Germanen schlechthin. Georg Waitz und andere mehr plädierten in diesen Diskussionen dafür, im Adel der Germanen keinen qua Geburt abgeschlossen eigenen Rechtsstand mit eigenen Privilegien zu sehen, sondern nur eine Gruppe besonders angesehener Persönlichkeiten. Die politische Führung hatte aus dieser Sicht nicht etwa der Adel inne, sondern vom Volk gewählte Vertreter (principes). Wahlberechtigt – und damit politisch involviert – waren im Wesentlichen die rechtlich freien Grundbesitzer. Aus diesem Vorbild ließen sich dann ganz unmittelbar Vorstellungen für die ersehnte liberale politische Ordnung der eigenen Gegenwart ableiten.6 Strittig war in der Debatte um die Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings durchaus, welche der rechtlichen und politischen Institutionen, die sich in den Quellen fassen ließen, eigentlich in ihrem Ursprung germanisch und welche letztlich römisch gewesen seien: So konnte Heinrich von Sybel etwa behaupten, das Königtum sei römischen Ursprungs gewesen und von den Germanen erst nach ihrem Kontakt mit Rom von dort übernommen worden.7 Für die Unterscheidung zwischen ‚römisch‘ und ‚germanisch‘ spielte der Untersuchungsraum eine gewichtige Rolle: Östlich des Rheins und in Skandinavien, so nahm man an, hatte sich das „germanische Wesen“, da unbeeinflusst von Kontakten mit Rom, in besonders reiner und urtümlicher Form erhalten. Die Anfänge einer wissenschaftlichen Germanistik – unter Einschluss aller germanischen Sprachen und Literaturen – reichen bis an die Schwelle zum 18. Jahrhundert zurück. Als Gründungsväter gelten vor allem Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859). Beiden Gelehrten sind ebenso grundlegende wie monumentale Werke zur Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte zu verdanken,8 die zuvorderst

6 Besonders einflussreich war: Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte 1. Die Verfassung des deutschen Volkes vor der Zeit der großen Wanderungen (Kiel 1844); vgl. kritisch dazu (aber in seinem Mittelalter-Bild selbst nicht minder in seiner Zeit verhaftet) Ernst Wolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder. Schriften zur Verfassungsgeschichte 1 (Berlin 1961). 7 Heinrich von Sybel, Die Entstehung des germanischen Königthums (Frankfurt a. M. ²1881). 8 Jacob Grimm, Deutsche Grammatik 1–4 (Göttingen 1822–1837); Registerband posthum (1865); Deutsche Rechtsalterthümer (Göttingen 1828); Deutsche Mythologie (Göttingen 1835); Weisthümer

6

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

einer positivistischen Bestandsaufnahme dienten, bis heute in mannigfacher Weise als Bezugspunkt der germanistischen und altertumskundlichen Forschung präsent sind und vor allem in forschungsgeschichtlichem Kontext immer wieder zitiert werden. Einen Schwerpunkt bildeten zunächst die philologischen Bemühungen um eine zuverlässige Dokumentation von Zeugnissen der älteren germanischen Sprachen. Auch wenn man dabei die Edition altnordischer Texte – die Lieder-Edda ausgenommen – überwiegend Skandinaviern überließ, so wurden diese mittelalterlichen Quellen Skandinaviens doch zugleich als ‚deutsch‘ bzw. ‚germanisch‘9 vereinnahmt: unsere denkmäler sind ärmlicher aber älter, die ihrigen jünger und reiner; zweierlei festzuhalten, daran war es hier gelegen: daß die nordische mythologie echt sei, folglich auch die deutsche, und daß die deutsche alt sei, folglich auch die nordische.10

Dass die germanisch sprechenden Stämme und Gruppen über die Sprache hinaus durch gemeinsame religiöse, rechtliche und weltanschauliche Vorstellungen verbunden waren, galt in dieser frühen Phase als gegeben. Exemplarisch zeigt dies im Bereich der Rechtsgeschichte die berühmte, hier erneut abgedruckte Antrittsvorlesung Karl von Amiras: Gleichheit der Sprache ist dann der Maßstab für’s gegenseitige Verständniß der Menschen, und zwar auch im Rechtssinn, wenn das Recht wie das altgermanische wesentlich Volksrecht ist. Je näher sich in einem solchen Zeitalter die Völker ihrer Sprache nach stehen, desto lebendiger muß das Gefühl der Verwandtschaft und der Verkehr unter ihnen, insbesondere auch der gegenseitige Austausch von Rechtsbegriffen, desto gleichartiger also müssen auch ihre Rechte selbst gewesen sein.11

Zugleich betonte von Amira aber auch den Wandel durch den Kontakt mit der mediterranen Welt. Er führe allerdings zu „Verfall des alten Glaubens“ und störe „die Einheit der germanischen Cultur“.12 Hier wird bereits deutlich ein Dekadenzmodell im Sinne einer Entwicklung von der Einheit zur Zersplitterung, vom Reinen zum

1–4 (Göttingen 1840–1863); 5–6 und Registerband posthum (1866–1878); Wilhelm Grimm, Deutsche Heldensage (Göttingen 1829). Bis auf die „Weisthümer“ erschienen diese Werke noch zu Lebzeiten der Grimms in weiteren Auflagen. Ihre abschließende Form erhielten sie allerdings erst posthum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Deutsche Grammatik 1–4. 2. Ausgabe, neuer vermehrter Abdruck besorgt durch Wilhelm Scherer (1–2), Gustav Röthe/Edward Schröder (3–4) (Berlin 1870– 1898); Deutsche Rechtsalterthümer 1–2. 4., verm. Ausg. besorgt durch Andreas Heusler/Rudolf Hübner (Leipzig 1899); Deutsche Mythologie 1–3. 4. Ausg. besorgt von Elard Hugo Meyer (Gütersloh, Berlin 1875–1878); Die Deutsche Heldensage. 3. Auflage von Reinhold Steig (Gütersloh 1889). 9 Zur synonymen Verwendung von ‚deutsch‘ und ‚germanisch‘ vgl. den Tagungsband: Zur Gleichung „germanisch – deutsch“, hrsg. Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer/Dietrich Hakelberg. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 34 (Berlin, New York 2004). 10 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie 1 (Göttingen 21844) IX. 11 Karl von Amira, Über Zweck und Mittel der germanischen Rechtsgeschichte, Antrittsvorlesung vom 15. 12. 1875 in Freiburg i. B. (München 1876) 26. 12 Von Amira, Über Zweck und Mittel (wie Anm. 11), 14 f.

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

7

Vermischten, vom Ursprünglichen zum Verderbten sichtbar, das die Debatten noch lange bestimmen sollte. Mit seiner Antrittsrede distanzierte sich von Amira zugleich von der herrschenden Lehrmeinung, für die „alle Wissenschaft des Rechts doch wesentlich Erkennen des zu ihrer Zeit geltenden Rechts“ bezweckte13 und daher nur die Nabelschau einer „vaterländische[n] Rechtsgeschichte“ anerkenne.14 Aufgabe der Rechtsgeschichte sei es vielmehr, die rechtlichen Verhältnisse vergangener Epochen um ihrer selbst willen zu erforschen und dabei auch den vergleichenden Blick über den Tellerrand des deutschen Rechts hinaus zu wagen.15 In der Archäologie, deren Verwissenschaftlichung etwas später einsetzte als diejenige von Geschichte und Philologie, rang man im 19. Jahrhundert dagegen kräftig darum, das ‚Germanische‘ in den Bodenfunden überhaupt als solches zu identifizieren. Wichtig war die Archäologie hier vor allem deshalb, weil sie die Kenntnisse über die Germanen zu erweitern versprach: Denn die Berücksichtigung der Archäologie – oder im Sprachgebrauch der Zeit: der „Vorgeschichtsforschung“ – bedeutete sowohl eine Verbreiterung der Quellenbasis als auch eine Horizonterweiterung voran in nichtschriftliche Zeiten. Allerdings war dieses Vorhaben während des gesamten 19. Jahrhunderts umstritten. Denn lange Zeit schien unsicher, was unter den zahlreichen Bodenfunden als ‚germanisch‘ gelten könne. Gustav Friedrich Klemm (1802–1867) hatte in den 1830er Jahren noch die vielen Zweifel beiseiteschieben wollen, indem er erklärte, angesichts der Bedeutung der Entscheidung solle man sich nun über die vielen Zweifel hinwegsetzen und „keck“ das Germanische vom Slawischen trennen.16 Allerdings blieben diese Zweifel während des 19. Jahrhunderts virulent. Das hatte damit zu tun, dass es die Prähistorie als eigenständiges Fach noch nicht gab und dass ihre methodischen Grundlagen noch lange strittig blieben. Relative und absolute Chronologie wurden allmählich entwickelt und besaßen mit dem ‚DreiPerioden-System‘ eine zunehmend akzeptierte Basis, doch gab es bis in die 1890er Jahre fundamentale Kritik daran, auch wenn dessen ungeachtet inzwischen die einzelnen Perioden der Stein-, Bronze- und Eisenzeit weiter unterteilt wurden.17 Solange dies so blieb, war auch mit der Frage nach der Unterscheidung von Kelten, Germanen, Römern und Slawen wenig voranzukommen, hatten diese doch zu unterschiedlichen Zeiten Teile Europas bevölkert; sie ließen sich also erst anhand der Funde identifizieren, wenn man diese in die entsprechende Zeit datieren konnte.

13 Von Amira, Über Zweck und Mittel (wie Anm. 11), 5. 14 Von Amira, Über Zweck und Mittel (wie Anm. 11), 18. 15 Von Amira, Über Zweck und Mittel (wie Anm. 11), 19 f. 16 Gustav Friedrich Klemm, Handbuch der germanischen Alterthumskunde (Dresden [1835] 1839) xiii–xiv. 17 Bo Gräslund, The birth of prehistoric chronology. Dating methods and dating systems in nineteenth-century Scandinavian archaeology (Cambridge 1987).

8

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Erst um die Jahrhundertwende hatten sich Vorstellungen und Konzepte dessen verfestigt, was eine ‚Germanische Altertumskunde‘ ausmachen sollte. So hatte Karl Müllenhoff (1818–1884) seit 1870 seine „Deutsche Altertumskunde“ publiziert, der damit eine systematische Grundlegung des Forschungsfeldes anstrebte.18 Dabei holte er sehr weit aus und begann bei Phöniziern und Griechen. Wie bei den von Müllenhoff verehrten Grimms vor ihm und noch bei zahlreichen Forschern lange nach ihm wurden hier die jüngeren Überlieferungen des nordischen Mittelalters ohne weiteres für die ‚deutsche‘, sprich germanische Altertumskunde vereinnahmt. Des grundsätzlichen Problems, dass hier älteres und jüngeres Quellenmaterial zur gegenseitigen Erhellung zusammen gesehen wurden, war sich Müllenhoff zwar bewusst, doch schien es ihm durch Quellenkritik überwindbar: die deutsche philologie […] hat in der überlieferung auch der spätesten jahrhunderte und vor allem in der sprache eine quelle entdeckt, die was jenen nachrichten [= die nachrichten der alten – W. H.] abgeht, zu ersetzen im stande ist, und nur auf der von ihr gewiesenen bahn, wenn wir durch kritik und methodische vergleichung das neu gewonnene material zu den nachrichten der alten ins rechte verhältnis setzen lernen, wird es möglich auch den zusammenhang des äußern und innern lebens unserer vorzeit nach allen seiten hin auszuweisen.19

Nicht nur an Müllenhoff, sondern ebenso an den Autoren anderer Handbücher des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird deutlich, dass die Germanische Altertumskunde nun primär von Sprach- und Literaturwissenschaftlern betrieben und vorangetrieben wurde.20

II. Verfestigung (um 1900) Gegen 1900 schien die Zeit gekommen, nach langen Debatten zu bilanzieren, was man erreicht hatte.21 Zugleich war der Boden bereitet, um neue Richtungen einschlagen und bestehende Perspektiven erweitern zu können. In der Geschichtswissenschaft ist unter dem Primat der Rechts- und Verfassungsgeschichte um 1900 eine gewisser Verfestigung und Erstarrung der Diskussionen zu beobachten: Heinrich Brunner etwa legte 1887 den ersten Band seiner „Deutschen Rechtsgeschichte“ vor, der den bezeichnenden Bandtitel „Systematisches Handbuch der deutschen

18 Karl Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 1–5 (Berlin 1870–1920). 19 Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde (wie Anm. 18), Bd. 1, XXVII. 20 Vgl. Friedrich Kauffmann, Deutsche Altertumskunde 1. Von der Urzeit bis zur Völkerwanderungszeit; 2. Von der Völkerwanderungszeit bis zur Reichsgründung (München 1913; 1923); Hoops, Reallexikon (wie Anm. 1). 21 Ludwig Lindenschmit, Handbuch der deutschen Alterthumskunde. Übersicht über die Denkmale und Gräberfunde frühgeschichtlicher und vorgeschichtlicher Zeit 1. Die Alterthümer der Merovingischen Zeit (Braunschweig 1880–1889).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

9

Rechtswissenschaft“ trug und mit zahlreichen Auflagen für viele Generationen von Historikern eine wesentliche Arbeitsgrundlage darstellen sollte.22 Interessanterweise waren es um 1900 nicht mehr so sehr Historiker, die die Germanische Altertumskunde innovativ vorantrieben; sie hatten ihre grundlegenden Vorstellungen bereits Jahrzehnte zuvor entwickelt. Es waren vielmehr zwei Germanisten, die sich dabei hervortaten und die deshalb mit zwei ausgewählten Texten hier vertreten sind. Beide waren um 1860 geboren worden und schillernde Persönlichkeiten, die sich für ‚das Germanische‘ begeisterten und diese Begeisterung öffentlich vertraten. Für beide stellten Sprache und Kultur die beiden grundlegenden Kriterien dar, um den frühen Germanen auf die Spur zu kommen. Dahinter lassen sich der politische Hintergrund des deutschen Kaiserreiches und dessen nationalstaatliches Ideal erkennen. Andreas Heuslers (1865–1940) Einfluss ist bis heute in der Germanistik und Nordistik allenthalben spürbar. Er genießt bei seinen Bewunderern als feinsinniger Ästhet und eigenwilliger Stilist bis heute Kultstatus. Und zweifellos ist es ebenso die zwingende Kraft seiner in sich geschlossenen Konzepte, die ihm den Nachruhm sicherten. Dabei zeigt sich Heusler nicht zuletzt als begnadeter Vereinfacher, wenn er die ‚Germanische Heldensage‘ in ihrer Ursprünglichkeit auf Heldenlieder im Umfang „etwa zwischen 80 und einigen 200 Langzeilen“ reduziert23 oder die Geschichte des deutschen Verses von den Anfängen bis zur Gegenwart rigoros auf das Prinzip des musikalischen Taktes zurückführt.24 Gleiches gilt für sein Konzept des ‚Altgermanischen‘: „Altgermanisch ist uns ein Kulturbegriff ohne Jahresgrenzen: das von Kirche und antiker Bildung nicht greifbar bestimmte Germanentum, dessen dichterische Spuren bis tief ins Mittelalter hinabreichen.“25 Heuslers Ansatz beruht aber letztlich auf unbeweisbaren Annahmen. Dazu gehört die Vorstellung, Leerstellen der Überlieferung ließen sich durch die hochmittelalterlichen Isländersagas als „Zeugnisse germanischer Volksart“ füllen.26 All diesen Konzepten liegt letztlich die Vorstellung eines „germanischen Formgefühls“ zugrunde, das kontinuierlich durch

22 Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 1. Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft (München 1887). 23 Andreas Heusler, Die Altgermanische Dichtung (Wildpark-Potsdam 1926) 147. 24 Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte. 3 Bde. Grundriss der germanischen Philologie 8 (Berlin, Leipzig 1925–1929); vgl. Paul Gerhard Völker, s. v. Heusler 2) Andreas. In: Neue Deutsche Biographie 9 (Berlin 1972) 49–52, hier 50. 25 Heusler, Altgermanische Dichtung (wie Anm. 23), 8. Zu Heuslers Begriff des Altgermanischen siehe Julia Zernack, Altertum und Mittelalter bei Andreas Heusler. In: Germanentum im Fin de siècle. Wissenschaftsgeschichtliche Studien zum Werk Andreas Heuslers, hrsg. Jürg Glauser/Julia Zernack. Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel N. F. 3 (Basel 2005) 120–145, hier 126–136. 26 Andreas Heusler, Die Isländersagas als Zeugnisse germanischer Volksart. Deutsche Rundschau 43/6, 1917, 375–395.

10

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

die Zeiten bis in die Gegenwart wirke. Mangels belastbarer Fakten bleibt dies jedoch wie viele andere Kontinuitätskonzepte davor und danach eine Chimäre. Gustaf Kossinna (1858–1931) war in Germanistik promoviert worden,27 machte aber als prähistorischer Archäologe von sich reden. Er verstand sich als MüllenhoffSchüler und sah, dass eine Germanische Altertumskunde allein auf archäologischem Wege zu den Anfängen würde vordringen können. Dies veranlasste ihn umzusatteln. Denn es hatte sich abgezeichnet, dass die Prähistorie ein sicheres chronologisches Gerüst entwickelt hatte, auf dessen Basis sich nach vorgeschichtlichen Siedlungsräumen Ausschau halten ließ. Dafür war ein methodisch begründetes Vorgehen zu erarbeiten; Kossinna machte sich daran und schuf damit die Basis für ausgiebige Forschungen während des 20. Jahrhunderts.28 Dazu trugen viele andere bei und gelangten schließlich zum Konzept der ‚archäologischen Kultur‘ – eine Art der Klassifikation archäologischer Befunde im Raum (und in der Zeit).29 Bis heute nicht selten übersehen wird dabei eine entscheidende Tatsache: Was Archäologen für ihre Forschungen und Fragestellungen als wichtig erachten, wird zur Grundlage der analytischen Klassifikation – sie bietet deshalb für sich genommen keinen Hinweis auf einstige Wahrnehmungen und Zuordnungen. So musste Kossinna letztlich den Beweis dafür schuldig bleiben, dass die von ihm rekonstruierte materielle Kultur in Bronze- und Eisenzeit einzig und allein den Germanen zuzurechnen sei. Ungeachtet der fächerübergreifenden Entwicklungen blieb das Feld der Germanischen Altertumskunde auf verschiedene Disziplinen aufgeteilt. Germanisten, Historiker und Archäologen waren einerseits mit ihren jeweiligen Themen beschäftigt, und der Anspruch war andererseits so umfassend, dass Versuche der Integration des Wissens eine immense Aufgabe darstellten. Als Ziel seines enzyklopädischen „Reallexikons der Germanischen Altertumskunde“, das den Anspruch erhob, den kurz nach 1900 erreichten Stand zusammenzufassen, formulierte der Anglist Johannes Hoops (1865–1949) 1913 die „Gesamtdarstellung der Kultur der germanischen Völker von den ältesten Zeiten bis zum Ende der althochdeutschen, altniederdeutschen und altenglischen Periode“.30 Dabei konnte „das angestrebte Ideal einer organischen Verknüpfung von Vorgeschichte und Geschichte, von Archäologie,

27 Gustaf Kossinna, Über die ältesten hochfränkischen Sprachdenkmäler. Ein Beitrag zur Grammatik des Althochdeutschen (Straßburg 1881). 28 Heinz Grünert, Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Vorgeschichtliche Forschungen 22 (Rahden 2002). 29 Hans-Peter Wotzka, Zum traditionellen Kulturbegriff in der Archäologie. Paideuma 39, 1993, 25–44; Studien zum Kulturbegriff in der Vor- und Frühgeschichtsforschung, hrsg. Rolf Hachmann. Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 48 (Bonn 1987); Sebastian Brather, s. v. Kulturgruppe und Kulturkreis. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 17 (Berlin, New York 2001) 442–452. 30 Johannes Hoops, Vorwort. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 1 (Straßburg 1911–1913) V–IX, hier V (Hervorhebung im Original).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

11

Ethnographie und Sprachwissenschaft in dem vorliegenden Werk nur zum Teil erreicht“ werden, wie Hoops freimütig einräumte.31 Zu unterschiedlich waren die Quellen, Methoden und Interpretationen, als dass eine der klassischen Altertumswissenschaft vergleichbare Einheit umzusetzen gewesen wäre. Außerdem machte Hoops darauf aufmerksam, dass die einseitig isolierende Betrachtung der Germanen zu vielerlei Fehlschlüssen führen muss. Die noch vielfach beliebte Methode aber, in der Schilderung des germanischen Altertums entweder nur den alteinheimischen, echt germanischen Kulturerscheinungen nachzugehn und die römischen und christlichen Einschläge zu vernachlässigen, oder umgekehrt die mittelund nordeuropäischen Gebiete nur als Provinzen des römischen oder des christlichen Weltreichs zu betrachten, scheint mir ein schiefes Bild von den wirklichen Kulturzuständen der germanischen Länder in frühmittelalterlicher Zeit zu geben.32

Damit war ein fundamentales Problem angesprochen, das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Anders ausgedrückt: Lassen sich die verschiedenen Quellen überhaupt zu einem stringenten Bild eines germanischen Altertums zusammenfügen, lässt sich also eine Germanische Altertumskunde überhaupt betreiben?33

III. Neuansätze und ihr Fortwirken (1930er bis 1950er Jahre) In den 1930er und 1940er Jahren vollzog die deutsche Frühmittelalterforschung einen Paradigmenwechsel. Zwar blieb vieles gleich: Nach wie vor war man davon überzeugt, dass es ein römisches und ein germanisches Wesen gegeben habe, die sich hinreichend voneinander unterschieden, um als solche auch wissenschaftlich erkennbar zu sein. Nach wie vor stützte man sich auf die gleichen, möglichst alten Schriftquellen, die man im Prinzip auch mit vergleichbaren Methoden auswertete. Und nach wie vor waren Historiker fest davon überzeugt, dass die Geschichte der Germanen handlungsleitende Vorbilder für ihre eigene Gegenwart bereithalte. Allerdings hatten sich unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland gewissermaßen die Beweisziele verändert: Nun sollte die germanische Geschichte nicht mehr die Sehnsucht nach einer liberalen Verfassung für ein geeintes Deutschland legitimieren, sondern vielmehr das NS-Regime historisch vorwegnehmen. So änderte sich im Zuge der so genannten Neuen deutschen Verfassungsgeschichte34 das bisher etablierte Bild von Grund auf: An die Stelle einer 31 Hoops, Vorwort (wie Anm. 30), VII. 32 Hoops, Vorwort (wie Anm. 30), VII–VIII. 33 Vgl. Zernack, Altertum und Mittelalter (wie Anm. 25). 34 Vgl. aus der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur dazu vor allem Michael Borgolte, Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit. Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 22 (München 1996) 37–48; konzise: Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung (Darmstadt 1999) 174 f.; zeitnah aus italienischer

12

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Welt, in der freie grundbesitzende Germanen ihre politischen Anführer wählten, trat nun eine germanische Welt, die durch einen privilegierten Adel dominiert wurde, der durch kriegerische Gefolgschaften (und damit seine Fähigkeit zur Gewaltausübung) gekennzeichnet war und von Burgen aus über die übrigen Menschen Herrschaft ausübte.35 Diese Herrschaft wurde bewusst als ihrem Wesen nach germanisch begriffen: Sie galt als gleichförmig, abgeleitet aus der Sphäre des Hauses und der Führerschaft im Krieg. Wenn man im 19. Jahrhundert gemeint hatte, privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Sozialbeziehungen zwischen Menschen unterscheiden zu können, so galt diese Unterscheidung nunmehr als „modern“ und daher wissenschaftlich inadäquat, um die Stellung des Königs und des Adels zu erfassen.36 Das Germanische konnte dabei – eben weil es als an ein inneres Wesen gebunden konzipiert wurde – in merkwürdiger Weise entzeitlicht und enträumlicht werden: Als ihrem Wesen nach germanisch konnten Vorstellungen, Institutionen und Praktiken ganz unabhängig von Zeit und Raum gedacht werden. Bemerkenswerterweise konnten gleichzeitig Wissenschaftler wie Franz Petri dennoch das Germanentum auch zur Legitimation von politischen Grenzziehungen ihrer Gegenwart nutzen: Petri versuchte in den 1930er und 1940er Jahren, aus historischen Sprachgrenzen und „Volkstumsgrenzen“ politische Ansprüche auf den Verlauf der Westgrenze Deutschlands abzuleiten.37 Der Germanistik verschaffte die Zeit des Nationalsozialismus durch das öffentliche Interesse an allem, was irgendwie mit den Germanen verbunden war oder zu

Sicht: Giovanni Tabacco, La dissoluzione medievale dello stato nella recente storiografia. Studi medievali, serie terza 1, 1960, 397–446 (bes. 426–440); aus amerikanischer Perspektive: Benjamin Arnold, Count and Bishop in Medieval Germany. A Study of Regional Power, 1100–1350 (Philadelphia 1991) 1–9. 35 Vgl. Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems. Mittelalter-Forschungen 17 (Ostfildern 2005) 34–69. 36 Grundlegend waren die Arbeiten von Otto Brunner, vgl. ders., Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter (Darmstadt 1973, ND Wien 5 1965), zuerst 1939 (die Ausgaben der Nachkriegszeit sind deutlich gegenüber den Ausgaben von 1939 und 1941 verändert); früh programmatisch auch ders., Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters. Vergangenheit und Gegenwart 27, 1937, 404–422; zu Brunner und seiner intellektuellen wie politischen Verbindung zum Nationalsozialismus vgl. unter anderem Karl Kroeschell, Führer, Gefolgschaft und Treue. In: Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, hrsg. Joachim Rückert/Dietmar Willoweit. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 12 (Tübingen 1995) 55–76, bes. 73–75; Gadi Algazi, Otto Brunner – ‚konkrete Ordnung‘ und Sprache der Zeit. In: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, hrsg. Peter Schöttler (Frankfurt a. M. 1997) 166–203; jüngst: Hans-Henning Kortüm, Otto Brunner über Otto den Großen. Aus den letzten Tagen der reichsdeutschen Mediävistik. Historische Zeitschrift 299, 2014, 297–333. 37 Franz Petri, Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich. Die fränkische Landnahme und die Bildung der westlichen Sprachgrenze (Bonn 1937).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

13

sein schien, wenn nicht eine staatstragende Aura, so doch zumindest ein gesteigertes Prestige. Nicht wenige Wissenschaftler erwarteten sich davon einen persönlichen Karriereschub bzw. eine verbesserte Ausstattung ihrer Lehrstühle und sprangen – aus ideologischer Überzeugung oder aus Opportunismus – auf den Zug des Nationalsozialismus auf. Dabei konkurrierten unterschiedliche Konzepte der Germanen und des Germanischen um die Deutungshoheit. Nach wie vor einflussreich war das von Heusler überkommene Germanenbild, das die Germanen nach dem Vorbild der Isländersagas als einen nüchternen bäuerlichen Menschenschlag beschrieb, der allem Religiösen weitgehend indifferent gegenüber gestanden habe und der von einer „gesunden Herrenethik“ geprägt gewesen sei.38 Bei Bernhard Kummer (1897–1962) ist der Germane dagegen ein friedliebender und sittenreiner, der Scholle verhafteter und in Sippenverbänden lebender Edelmensch.39 Beiden Auffassungen erteilte Otto Höfler (1901–1987) eine radikale Absage. Er setzte dagegen als Idealbild des Germanen den in Kultverbänden lebenden Krieger, der in Ekstase die Grenzen des Individuums durchbreche, zugleich aber eingehe in die überindividuelle Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten.40 Höflers einschlägiger Schlüsselbegriff ‚Kontinuität‘41 beruht auf der Annahme eines ‚roten Fadens‘, der Altertum, Mittelalter und Neuzeit durchzieht und es möglich macht, Zeugnisse dieser Epochen zu ihrer wechselseitigen Erhellung heranzuziehen. War es bei den

38 Andreas Heusler, Die Herrenethik in der isländischen Saga. In: ders., Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der Germanen (Heidelberg 1934) 63–77; vgl. Heinrich Beck, Andreas Heuslers Begriff des ‚Altgermanischen‘. In: Germanenprobleme in heutiger Sicht, hrsg. Heinrich Beck. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 1 (Berlin, New York 1986) 396– 412; Hermann Engster, Germanisten und Germanen. Germanenideologie und Theoriebildung in der deutschen Germanistik und Nordistik von den Anfängen bis 1945 in exemplarischer Darstellung. Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 16 (Frankfurt a. M., Bern, New York 1986) 71 ff.; Klaus von See, Andreas Heusler in seinen Briefen. In: ders., Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen (Heidelberg 1994) 261–282, hier 270 ff. 39 Bernhard Kummer, Midgards Untergang. Germanischer Kult und Glaube in den letzten Jahrhunderten. Veröffentlichungen des Forschungsinstituts für Vergleichende Religionsgeschichte an der Universität Leipzig 7 (Leipzig 1927); vgl. Engster, Germanisten (wie Anm. 38), 76 ff.; Klaus von See, Kulturkritik und Germanenschwärmerei zwischen den Weltkriegen. In: ders., Barbar (wie Anm. 38), 185–206, hier 204; ders., Das Schlagwort vom ‚nordischen Menschen‘. In: ders., Barbar (wie Anm. 38), 207–232, hier 214, 225 f. 40 Vgl. Wilhelm Heizmann, Germanische Männerbünde. In: Geregeltes Ungestüm. Bruderschaften und Jungbünde bei indogermanischen Völkern, hrsg. Rahul Peter Das/Gerhard Meiser. Veröffentlichungen zur Indogermanistik und Anthropologie 1 (Bremen 2002) 117–138, hier 120. 41 Vgl. Jan Hirschbiegel, Die ‚germanische Kontinuitätstheorie‘ Otto Höflers. Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 117, 1992, 181–192; Julia Zernack, Kontinuität als Problem der Wissenschaftsgeschichte. Otto Höfler und das Münchner Institut für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde. In: Kontinuität in der Kritik. Zum 50jährigen Bestehen des Münchener Nordistikinstituts. Historische und aktuelle Perspektiven der Skandinavistik, hrsg. Klaus Böldl/Miriam Kauko. Rombach Wissenschaften. Reihe Nordica 8 (Freiburg i. Br. 2005) 47–72.

14

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Grimms die Annahme eines die Zeiten umspannenden „Volksgeistes“,42 der die spätere Überlieferung des Mittelalters und sogar der Neuzeit (Sagen, Märchen, Weistümer) zum Verständnis ältester Überlieferung heranzuziehen erlaubte, und bei Heusler der „germanische Formwille“, so bei Höfler die Vorstellung, alle „volkhafte Gemeinschaftsbildung“ der Germanen sei sakral bestimmt gewesen und hätte aus der heroisch-ekstatischen, ethisch streng verpflichtenden Verbundenheit der Lebenden mit den verehrten Toten ihre eigentliche staats- und geschichtsbildende Kraft bezogen.43 Diese entfalte nicht nur in altgermanischer Zeit ihre Wirkung, sondern ebenso im christlichen Mittelalter und in der Neuzeit: in Adelsgilden, Zünften, Kriegerverbänden, Kaufmannsbünden und bäuerlichen Genossenschaften.44 Höfler wandelt hier auf den Spuren der von seinem Lehrer Robert Much (1862–1936)45 begründeten Wiener Schule der Ritualisten, die mit Namen wie Lily Weiser[-Aall] (1898–1987),46 Richard Wolfram (1901–1995)47 und Robert Stumpfl (1904–1937)48 verbunden ist.49 Dass bei all der Germanomanie auch weitgehend ideologiefreie Forschung möglich war, lässt sich überraschender Weise im Bereich der Runenkunde belegen. Zwar wurden gerade die Runen auf pervertierte Weise im Nationalsozialismus

42 Vgl. Karin Raude, Jacob Grimm und der ‚Volksgeist‘. In: Romantik und Recht. Recht und Sprache, Rechtsfälle und Gerechtigkeit, hrsg. Antje Arnold/Walter Pape. Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft 1 (Berlin, Boston 2018) 15–35. 43 Otto Höfler, Kultische Geheimbünde der Germanen 1 (Frankfurt a. M. 1934) VIII. 44 Höfler, Geheimbünde (wie Anm. 43), 341. 45 Hermann Reichert, s. v. Rudolf Much. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 20 (Berlin, New York 2002) 273–279; Germanische Altertumskunde. Quellen, Methoden, Ergebnisse. Akten des Symposiums anlässlich des 150. Geburtstags von Rudolf Much, hrsg. Hermann Reichert/ Corinna Scheungraber. Philologica Germanica 35 (Wien 2015). 46 Lily Weiser, Altgermanische Jünglingsweihen und Männerbünde. Ein Beitrag zur deutschen und nordischen Altertums- und Volkskunde. Bausteine zur Volkskunde und Religionswissenschaft 1 (Bühl/Baden 1927); vgl. Christina Niem, Lily Weiser-Aall (1898–1987). Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde. Zeitschrift für Volkskunde 94, 1998, 25–52. 47 Richard Wolfram, Schwerttanz und Männerbund 1–3 (Kassel 1936–1938). 48 Robert Stumpfl, Kultspiele der Germanen als Ursprung des mittelalterlichen Dramas (Berlin 1936); vgl. Dietrich Jäger, Kämpfe als Spiele. Dramaturgie als Ausdruck des Machtwillens und der Daseinsleere, der Lebensfülle und des Formniveaus. Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik 25 (Würzburg 2008) 30 ff. 49 Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann/Andreas C. Bimmer, Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte. Sammlung Metzler 79 (Stuttgart 1985) 95 ff.; Olaf Bockhorn, Von Ritualen, Mythen und Lebenskreisen. Volkskunde im Umfeld der Universtäten. In: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hrsg. Wolfgang Jacobeit/Hannsjost Lixfeld/Olaf Bockhorn/James R. Dow (Wien, Köln, Weimar 1994) 477–526, hier 477–488; Karl Pusman, Die „Wissenschaften vom Menschen“ auf Wiener Boden (1870–1959). Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die anthropologischen Disziplinen im Fokus von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts- und Verdrängungspolitik. Austria. Universitätsgeschichte 1 (Wien, Berlin 2008) 190–194.

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

15

instrumentalisiert,50 doch zeigen sich die seinerzeit miteinander konkurrierenden Hauptvertreter der deutschen Runologie Helmut Arntz (1912–2007)51 und Wolfgang Krause (1895–1970)52 wenig kompromittiert. In den führenden Handbüchern zur Runologie53 hatte Ideologie keinen Platz. Auch wenn Arntz wissenschaftlich gesehen mit Krause nicht mithalten konnte, so erwies sich doch die in den „Einheimischen Runendenkmälern des Festlandes“ erstmals erfolgte Einbeziehung der Archäologie als zukunftsweisend. Wolfgang Krause folgte diesem Vorbild in der zweiten Auflage der „Runeninschriften im älteren Futhark“, zu der Herbert Jankuhn den archäologischen Teil beitrug.54 Die Archäologie veränderte in den 1930er Jahren ebenfalls ihren Blickwinkel. Einerseits folgte man zwar Vorstellung und Konzept ‚archäologischer Kulturen‘, wie sie von Gustaf Kossinna und Vere Gordon Childe entwickelt worden waren. So gliederte Rafael von Uslar (1908–2003) den Fundstoff zunächst typologisch und blieb die (ethnische) Interpretation betreffend eher zurückhaltend: „In stammeskundlichen Fragen erschien es angebracht, möglichste Zurückhaltung zu üben.“55 In der Folge wurden dennoch aus den „westgermanischen“ Fundgruppen Mitteleuropas unversehens die „Rhein-Weser-Germanen“.56 Weiterhin verstand man also, wie weitere Beispiele zu Südwestdeutschland57 oder Spanien58 zeigen, regional definierte „Kulturen“ als typisch für bestimmte „Stammesverbände“. Dies gilt auch für die

50 Dazu grundlegend: Ulrich Hunger, Die Runenkunde im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus. Europäische Hochschulschriften 3/227 (Frankfurt a. M. u. a. 1984); vgl. auch Klaus Düwel, Runenkunde (Stuttgart, Weimar 42008) 222 ff. 51 Hunger, Runenkunde (wie Anm. 50), 42–70. 52 Vgl. Hunger, Runenkunde (wie Anm. 50), 70–95; Klaus Düwel, Einführung. In: Wolfgang Krause. Schriften zur Runologie und Sprachwissenschaft, hrsg. Heinrich Beck/Klaus Düwel/Michael Job. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 84 (Berlin, Boston 2014) 3–19. 53 Helmut Arntz, Handbuch der Runenkunde. Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe, Nr. 3 (Halle a. S. 1935, ²1944); ders./Hans Zeiss, Die einheimischen Runendenkmäler des Festlandes. Gesamtausgabe der älteren Runendenkmäler 1 (Leipzig 1939); Wolfgang Krause, Runeninschriften im älteren Futhark. Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse, 13. Jahr, Heft 4 (Halle a. S. 1937). 54 Wolfgang Krause, Die Runeninschriften im älteren Futhark. Mit Beiträgen von Herbert Jankuhn, 1. Text, 2. Tafeln. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse. 3. Folge, Nr. 65 (Göttingen 1966). 55 Rafael von Uslar, Westgermanische Bodenfunde des ersten bis dritten Jahrhunderts nach Christus aus Mittel- und Westdeutschland. Germanische Denkmäler der Frühzeit 3 (Berlin 1938) 5. 56 Vgl. Westgermanische Bodenfunde. Akten des Kolloquiums anlässlich des 100. Geburtstages von Rafael von Uslar am 5. und 6. Dezember 2008, hrsg. Gabriele Rasbach. Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 18 (Bonn 2013). 57 Walther Veeck, Die Alamannen in Württemberg. Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit 1 (Berlin 1931). 58 Hans Zeiß, Die Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich. Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit 2 (Berlin, Leipzig 1934).

16

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

DDR-Archäologie, die ungeachtet mancher theoretisch-methodologischer Bemühungen59 dem traditionellen Paradigma verbunden blieb.60 Andererseits trat nun eine stärker auf Einzelbefunde konzentrierte Sicht der Archäologie hinzu. Zwar kam es weiterhin darauf an, große Siedlungsräume zu charakterisieren und abzugrenzen, doch veränderten sich Vorgehen und Argumente. Nicht mehr die bloße Verbreitung bestimmter ‚Typen‘ stand im Mittelpunkt, sondern deren spezifische Bedeutung als ‚ethnische Marker‘. Insbesondere Fibeln der Frauenkleidung wurden in dieser Sicht zu Elementen einer „allen Volksgenossen gemeinsamen Tracht“,61 die in Spätantike und Frühmittelalter „germanische Sitte“ und damit ethnisch-politische Zugehörigkeit ausgedrückt und demonstriert hätten. In gewisser Weise trafen sich hier Archäologie und Geschichtswissenschaft: Objekte einerseits, Vorstellungen, Praktiken und Institutionen andererseits galten als ihrem Wesen nach germanisch – und konnten deshalb, wo immer man sie nachwies, als Beleg für ethnische Zugehörigkeit begriffen werden. Bei alledem gilt es freilich auch hier aus der historischen Rückschau die mehr oder minder feinen Unterschiede nicht zu verwischen: Zum einen betraf der hier skizzierte Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft fast ausschließlich die Mittelalterforschung, nicht dagegen die Alte Geschichte; wie sehr sich die beiden Teilfelder des Faches damals auseinanderentwickelt haben, wird bis heute in starken Unterschieden in der jeweiligen wissenschaftlichen Terminologie augenfällig – vor allem dort, wo die Alte Geschichte mittlerweile bis weit in das 7. Jahrhundert hinein ausgreift und Mediävisten bis in das 3. Jahrhundert zurückblicken. Zum anderen gab es in der deutschen Mittelalterforschung der 1930er und 1940er Jahre, so sehr sie auch aus dem Rückblick insgesamt durch das NS-Regime beeinflusst erscheint, doch gewichtige Unterschiede, die für die Zeitgenossen ohne weiteres sichtbar und von Bedeutung waren. Wir haben hier bewusst darauf verzichtet, jene Teile der Germanischen Altertumskunde mit abzubilden, die die Rassenlehren ihrer Gegenwart ganz und gar ungebrochen für die Analyse der „germanischen

59 Karl-Heinz Otto, Die sozialökonomischen Verhältnisse bei den Stämmen der Leubinger Kultur in Mitteldeutschland. Ethnographisch-archäologische Forschungen 3/1 (Berlin 1955); Joachim Herrmann, Archäologische Kulturen und sozialökonomische Gebiete (Überlegungen zur historischen Potenz archäologischer Forschung). Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 6, 1965, 97–128. 60 Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa. Ein Handbuch in zwei Bänden, hrsg. Bruno Krüger 1. Von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung; 2. Die Stämme und Stammesverbände in der Zeit vom 3. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Vorherrschaft der Franken. Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 4 (Berlin 51988; ²1986); Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch, hrsg. Joachim Herrmann. Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 14 (Berlin 1985). 61 Zeiß, Die Grabfunde (wie Anm. 58), 138.

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

17

Geschichte“ propagierten.62 Während etwa die Neue deutsche Verfassungsgeschichte (deren starke Beeinflussung durch das NS-Regime mittlerweile außer Frage steht) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Forschung höchst wirkmächtig blieb,63 sind die offen biologistischen und rassistischen Teile der Germanischen Altertumskunde mit Kriegsende rasch wieder verschwunden. Gelegentlich wirkten allerdings Vorstellungen morphologischer Besonderheiten dennoch nach, wenn etwa weiterhin „langköpfige“ Reihengräberschädel diagnostiziert wurden; allerdings blieb dies weitgehend auf die physisch-anthropologische Forschung beschränkt.64

IV. Neue Akzente (1970er bis 1980er Jahre) Seit den 1970er Jahren lässt sich in der geschichtswissenschaftlichen Mediävistik in gewisser Weise eine Aushöhlung des Modells der Neuen deutschen Verfassungsgeschichte beobachten: Zum einen verschob sich der Schwerpunkt der deutschen mediävistischen Forschung allmählich von den Germanen und den Anfängen des Frühmittelalters eher fort und in das Hochmittelalter hinein. Zum anderen zeigten Studien – etwa zur Grafschaft und zu den liberi homines – die Grenzen des neuen Modells auf;65 die nun bereits etablierte Terminologie der deutschen Mittelalterforschung blieb

62 Prototypisch wurden entsprechende Arbeiten bereits in den 1920er Jahren produziert; man vgl. etwa die Zeitschrift „Volk und Rasse“, an der mit die Prähistoriker Gero v. Merhart (1886–1959), Ernst Wahle und Gustav Schwantes (1881–1960), der Ethnologe Richard Thurnwald (1869–1954), die Rassenanthropologen Karl Walter Scheidt (1895–1976) (zugleich „Schriftleiter“) und Eugen Fischer (1874–1967), die Siedlungsgeographen Rudolf Gradmann (1888–1962) und Robert Mielke (1863–1935), der Germanist Rudolf Much (1862–1936) u. a. beteiligt waren. 1927 lag die „Schriftleitung“ in den Händen des Rasseanthropologen Otto Reche (1879–1966) und des Prähistorikers Hans Zeiß (1895–1944). 63 Vgl. dazu Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970 (Göttingen 2005); wichtig für die Popularisierung der „Neuen deutschen Verfassungsgeschichte“ in der Nachkriegszeit war etwa Karl Bosl: vgl. ders., Die alte deutsche Freiheit. Geschichtliche Grundlagen des modernen deutschen Staates. In: ders., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt (München, Wien 1964) 204–219, bes. 205–207; vgl. außerdem den an Geschichtslehrer adressierten Beitrag von Karl Jordan, Herrschaft und Genossenschaft im deutschen Mittelalter. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 12, 1961, 104–115. 64 Friedrich Wilhelm Rösing, Die fränkische Bevölkerung von Mannheim-Vogelstang und die merowingerzeitlichen Germanengruppen Europas, rer. nat. Diss. (Hamburg 1975); vgl. Andreas Lüddecke, Rassen, Schädel und Gelehrte. Zur politischen Funktionalität der anthropologischen Forschung und Lehre in der Tradition Egon von Eickstedts. Europäische Hochschulschriften 3/880 (Frankfurt a. M. u. a. 2000). 65 Johannes Schmidt, Untersuchungen zu den Liberi Homines der Karolingerzeit. Europäische Hochschulschriften 3/83 (Frankfurt a. M., Bern 1977); Hans K. Schulze, Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins. Schriften zur Verfassungsgeschichte 19 (Berlin 1973).

18

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

freilich trotz aller Einzelkritik insgesamt bestehen; die Begriffe, die sich mit Wörtern wie „Herrschaft“, „Gefolgschaft“, aber auch „Adel“ oder „Treue“ verbanden, wurden allerdings zunehmend ihres Sinns enthoben und entwickelten sich zu mehr oder minder leeren Floskeln. Eine wichtige Zäsur in der Germanischen Altertumskunde bildete die Habilitationsschrift von Reinhard Wenskus, die im Jahr 1961 zuerst im Druck erschien.66 Wenskus argumentierte, dass die germanischen Stämme keine urwüchsigen, stabilen Einheiten waren, sondern erst einmal Phänomene der Ideengeschichte: Was einen Stamm zusammengehalten habe, sei nicht die gemeinsame Abstammung gewesen, sondern lediglich der Glaube an eine solche gemeinsame Abstammung – wie er sich etwa im Stammesnamen, in Stammes- und Herkunftssagen oder in langen Königsgenealogien niederschlage. Damit wurde die so genannte Ethnogenese zum Forschungsprogramm: Angesichts der Wanderungen und der durch sie bedingten immer neuen Aufnahme und Abstoßung einzelner Gruppen in einen Stamm, so meinte Wenskus, müsse man einen Traditionskern voraussetzen, der den Glauben an die gemeinsame Herkunft und die Besonderheiten des eigenen Stammes dauerhaft bewahrte – eine von Wenskus durchaus elitär gedachte Gruppe von Sängern, Dichtern, Aristokraten und Angehörigen der königlichen Familie. Die Diskussion über die Ethnogenese wurde in den 1970er bis 1990er Jahren in der Geschichtswissenschaft zu einem bedeutenden, vielleicht sogar zum zentralen Feld der Germanischen Altertumskunde.67 Und auch in der prähistorischen Forschung setzte sich zunehmend die Auffassung durch, Kulturen und Völker als historisch geworden zu verstehen und es mit der Kontinuität nicht zu übertreiben – das Ethnogenesemodell bot hier eine vielversprechende Alternative. Für das Paradebeispiel der Goten zeigte Rolf Hachmann mit einer subtilen und zugleich umfänglichen Studie, dass Verbindungen zwischen südlichem Ostseeraum und mythischem Herkunftsraum Skandinavien in der vorrömischen Eisenzeit zwar existierten, aber nichts zur Rekonstruktion der Ethnogenese beitragen konnten.68 Dennoch blieb auch für ihn die Frage virulent, woher die Goten kamen – und nicht, wann sie wo entstanden. Im Zuge der weiteren Forschung wurde das Modell, das Wenskus vorgeschlagen hatte, allerdings kräftig differenziert: Insbesondere Herwig Wolfram und seine 66 Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln 1961). 67 Vgl. etwa aus der Vielfalt: Frühmittelalterliche Ethnogenese im Alpenraum, hrsg. Helmut Beumann/Werner Schröder. Nationes 5 (Sigmaringen 1985); Jörg Jarnut, Aspekte frühmittelalterlicher Ethnogenese in historischer Sicht. In: Entstehung von Sprachen und Völkern, hrsg. P. Sture Ureland. Linguistische Arbeiten 162 (Tübingen 1985) 83–92; Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, hrsg. Herwig Wolfram u. a. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse Denkschriften 201/204 = Veröffentlichungen der Kommission für Frühmittelalterforschung 12/13 (Wien 1990). 68 Rolf Hachmann, Die Goten und Skandinavien. Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 158/N. F. 34 (Berlin 1970).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

19

Schüler zeigten zum einen, dass sich bei vielen gentes der Spätantike entscheidende Prozesse der Ethnogenese nicht in den Weiten germanischer Wälder, sondern schon im Rahmen der römischen Welt selbst vollzogen. Zum zweiten argumentierte man, dass ethnogenetische Prozesse bei ein und demselben Volk nicht nur einmal, sondern mehrfach und immer wieder neu stattfinden konnten, ja im Grunde offenblieben und niemals ganz zum Abschluss gelangten. Zum dritten arbeitete man nun an einer immer feineren Differenzierung zwischen den einzelnen gentes: Statt Arbeiten zu den Germanen rückten so in der Forschung zunehmend Studien zu einer einzelnen ethnisch denominierten Gruppe in den Mittelpunkt: Herwig Wolframs Buch zu den Goten, in der ersten Auflage 1979 erschienen, ist der Klassiker schlechthin in diesem Feld.69 Und viertens schließlich ist es wichtig, dass die Frage der Ethnogenesen und der historischen Ethnographie nun nicht mehr allein auf als ‚germanisch‘ klassifizierte Verbände angewendet wurde, sondern auch auf andere. Walter Pohls Untersuchung zu den Awaren war in dieser Hinsicht ein Meilenstein.70 Parallel dazu etablierten sich nun Ansätze und Fragestellungen, die die Unterschiede zwischen einzelnen germanischen gentes zentralstellten: Von „Germanen“ insgesamt war vor allem noch für die Kaiserzeit die Rede, spätestens für die Zeit ab dem ausgehenden 4. Jahrhundert standen dagegen einzelne gentes im Blickpunkt. Durchaus typisch etwa war der Versuch von Jörg Jarnut und anderen, nach einer gentilspezifischen Namengebung für die Zeit des Übergangs zwischen Antike und Mittelalter zu fragen.71 Das Ende des Zweiten Weltkrieges und der Zusammenbruch Deutschlands bedeutete für die Germanistik einen weit geringeren Einschnitt als man vielleicht erwarten sollte. Selbst ideologisch kompromittierte Wissenschaftler wurden häufig als Mitläufer eingestuft und waren bald wieder in Amt und Würden. Auch inhaltlich wurde kurzzeitig Liegengelassenes bald wieder weitergeführt. Noch in der zweiten Auflage der durchaus verdienstvollen „Altgermanischen Religionsgeschichte“ von Jan de Vries72 wurde der problematische Begriff ‚altgermanisch‘, der in Kombination mit ‚Religion‘ bzw. ‚Religionsgeschichte‘ zuerst um die Wende zum 20. Jahrhundert auftaucht,73 beibehalten. Und nach wie vor wurde die mittelalterliche Überlieferung

69 Herwig Wolfram, Geschichte der Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie (München 1979, ²1980, ³1990). 70 Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr. (München 1988; ²2002; ³2015); vgl. jetzt die grundlegend überarbeitete englische Neufassung: The Avars. A Steppe Empire in Europe, 567–822, Ithaca 2018. 71 Horst Ebling/Jörg Jarnut/Gerd Kampers, Nomen et gens. Untersuchungen zu den Führungsschichten des Franken-, Langobarden- und Westgotenreiches. Francia 8, 1990, 687–745. 72 Jan de Vries, Altgermanische Religionsgeschichte 1–2. Grundriss der Germanischen Philologie 12, 1–2 (Berlin ²1956–1957). 73 Vgl. etwa Friedrich Kauffmann, Texte und Untersuchungen zur altgermanischen Religionsgeschichte. Texte 1–2 (Straßburg 1899, 1903); Untersuchungen 1 (Straßburg 1902); ders., Altgermanische Religion. Archiv für Religionswissenschaft 8, 1904, 115–128.

20

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

des Nordens, wenngleich nicht mehr vorbehaltlos,74 herangezogen, um die dürftigen Gerüstfakten der antiken Quellenzeugnisse mit dem Fleisch dieser jüngeren und umfangreicheren Quellenzeugnisse zu versehen. Allerdings folgte de Vries nun geradezu bedingungslos den indogermanischen Rekonstruktionen Georges Dumézils.75 Weitgehend obsolet wurde dagegen bei de Vries und ebenso den jüngeren Darstellungen zur germanischen Religion das sog. ‚volkskundliche‘ Material. Schon in der ersten Auflage von 1935–1937, die noch ein umfangreiches Kapitel zur Volkskunde enthielt, hatte de Vries gegen den Zeitgeist durchaus skeptische Positionen bezogen und vor einer Überschätzung dieses Materials gewarnt. Die Neuauflage des „Hoops“ blieb von solchen Überlegungen allerdings noch unberührt. Mit Kurt Ranke war ein ausgewiesener Erzählforscher als Herausgeber beteiligt, und bis zum letzten Band gab es Beiträge von volkskundlicher Seite. Die in den 1960er Jahren einsetzende und insbesondere von Volkskundlern angestoßene Kontinuitätsdebatte hat hier mittlerweile zu Veränderungen geführt.76 Aus altertumskundlicher Sicht richtete sich der germanistische Fokus auf die Zeugnisse der Heldensage sowie der Mythologie. Neben dem Nibelungenlied als einer Art deutschem Nationalepos gehörte dazu insbesondere auch die isländische Lieder-Edda.77 Sie gipfelte in der Edda-Ausgabe durch Gustav Neckel,78 für deren bis heute maßgebliche Form Hans Kuhn sorgte.79 Kuhn führte 1962 das „demokratische

74 „Aber auch hier gilt es den Wert dieser Traditionen [= der nordgermanischen Überlieferungen – W. H.] genau zu prüfen, weil sie sehr ungleichartig sind und deshalb für die germanische Religion manchmal nur mit großem Vorbehalt benutzt werden können.“ (Bd. 1, S. 34). 75 Rüdiger Schmitt, s. v. Dumézilsche Dreifunktionentheorie. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 6 (Berlin, New York 1986) 276–280; vgl. auch das Themenheft „George Dumézil“ der Zeitschrift für Religionswissenschaft 98 (2), 1998, sowie die kritische Diskussion der Dumézilschen Thesen durch Bernfried Schlerath, Georges Dumézil und die Rekonstruktion der indogermanischen Kultur. Kratylos 40, 1995, 1–48, und ebd. 41, 1996, 1–67. 76 Vgl. dazu: Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem, hrsg. Hermann Bausinger/Wolfgang Brückner (Berlin 1969). 77 Ferdinand Detter/Richard Heinzel (Hrsg.), Sæmundar Edda mit einem Anhang, 1. Text, 2. Anmerkungen (Leipzig 1903); Hugo Gering (Hrsg.), Die Lieder der Edda, 1. Text. Germanistische Handbibliothek 7:1 (Halle a. S. 1906); Hugo Gering, Die Lieder der Edda, 2. Vollständiges Wörterbuch zu den Liedern der Edda. Germanistische Handbibliothek 7:2 (Halle a. S. 1903); Hugo Gering/Berend Sijmons, Kommentar zu den Liedern der Edda 1–2. Germanische Handbibliothek 7:3,1–2 (Halle a. S. 1927–1931). 78 Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern, 1. Text, 2. Kommentierendes Glossar, hrsg. Gustav Neckel. Germanische Bibliothek, 2. Abt. Untersuchung und Texte 9 (Heidelberg 1914–1927). 79 Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern 1. Text, hrsg. Gustav Neckel/ Hans Kuhn; 2. Kurzes Wörterbuch von Hans Kuhn, Dritte umgearbeitete Auflage des Kommentierenden Glossars. Germanische Bibliothek, Neue Folge 4 (Heidelberg 51983; 1968).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

21

Mehrheitsprinzip“ in die Edda-Philologie ein.80 Als weiteres Glanzstück der deutschen Eddaforschung kann der jüngst abgeschlossene achtbändige Edda-Kommentar Klaus von Sees und Beatrice La Farges gelten,81 der die Texte in ihrer handschriftlichen Form ernst nimmt: Grundlage des Kommentars ist der Text in seiner überlieferten Form […] Die vornehmliche Aufgabe des Kommentars wird es […] sein, die Stimmigkeit dieser überlieferten Fassungen herauszuarbeiten, sie als Ausdruck eines bestimmten kulturellen, sozialen und literarischen Milieus zu begreifen und nicht als bloßes Abfallprodukt ihrer nichtüberlieferten Vorgeschichte.82

Aus dieser Perspektive wäre die Lieder-Edda aus dem Corpus der für die Germanische Altertumskunde relevanten Texte auszuscheiden. Glücklicherweise hält sich der Kommentar selbst nicht konsequent an diese Vorgabe, denn es gibt sehr wohl eine rekonstruierbare Vorgeschichte.83 Hierbei kommt der Bildüberlieferung eine zentrale Rolle zu. Die Bildforschung hatte sich lange vor allem auf das Dokumentieren, Typologisieren und Datieren verlegt,84 wofür hier stellvertretend die wegweisende Arbeit Bernhard Salins über den Tierstil genannt werden soll.85 Zur Deutung der Bildinhalte trugen diese Arbeiten indes wenig bei. Als Pioniere einer auf inhaltliches Verständnis gerichteten Forschung können erst Hans Zeiß und sein Schüler Joachim Werner gelten. Ersterer übertrug den Begriff ‚Heilsbild‘ auf die figürliche germanische Kunst und eröffnete damit den Blick über die ästhetische Dimension

80 „Wo normiert wird [= die Schreibung – W. H.], soll das demokratische Mehrheitsprinzip regieren; die stärkste Schreibung wird durchgeführt“; Hans Kuhn, Zur Grammatik und Textgestaltung der älteren Edda. Zeitschrift für deutsches Altertum 90, 1960/61, 242–268, hier 247. 81 Klaus von See/Beatrice La Farge et al., Kommentar zu den Liedern der Edda 1–7 (Heidelberg 2019, 1997, 2000, 2004, 2006, 2009, 2012). 82 Klaus von See/Beatrice La Farge/Eve Picard/Claudia Hess, Skírnismál. Modell eines Edda-Kommentars (Heidelberg 1993) 9. 83 Vgl. Wilhelm Heizmann, Die mythische Vorgeschichte des Nibelungenhorts. In: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art of the Early Medieval Period, hrsg. Victor Millet/Heike Sahm. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 87 (Berlin, Boston 2014) 305‒337. 84 Vgl. Alexandra Pesch, Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik. In: Altertumskunde, Altertumswissenschaft, Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, hrsg. Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 77 (Berlin, Boston 2012) 633–687, hier 634 ff. 85 Bernhard Salin, Die altgermanische Thierornamentik. Typologische Studie über germanische Metallgegenstände aus dem IV. bis IX. Jahrhundert, nebst einer Studie über irische Ornamentik (Stockholm, Berlin 1904; ND Stockholm 1935); vgl. dazu Evert Baudou, s. v. Salin. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 26 (Berlin, New York 2004) 348–350; Hermann Ament, s. v. Tierornamentik, Germanische §§ 1–6. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 30 (Berlin, New York 2005) 586–597.

22

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

dieser Bilder hinaus auf eine kultisch-religiöse.86 Joachim Werner will die zoologisch identifizierbaren Fibel- und Ornamenttiere als Attributtiere bestimmten germanischen Gottheiten zuordnen.87 Karl Haucks ikonographische Studien setzten nicht nur neue Qualitätsmaßstäbe bezüglich der wissenschaftlichen Dokumentation der untersuchten Bilddenkmäler.88 Er entwickelte darüber hinaus eine auf den methodischen Überlegungen der Warburgschule gegründete Kontextikonographie zur Entschlüsselung der Bilderwelt der Goldbrakteaten.89 Zudem beförderte er das Verständnis zahlreicher weiterer Bilddenkmäler und Denkmälergruppen des frühen Mittelalters und inspirierte eine ganze Generation jüngerer Wissenschaftler zu eigenen Projekten. Wenngleich nicht unumstritten und auch nicht frei von Irrtümern, öffnete er damit den Zugang zum Verständnis der weitgehend schriftlosen Kultur des germanischsprachigen Barbaricums. Seit den 1980ern gewann ein Bereich der Sprachwissenschaft, für den sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff ‚Wörter und Sachen‘ eingebürgert hatte, unter weiterentwickelten methodischen Prämissen neues Interesse.90 Untersucht werden sollte die wechselseitige Beziehung zwischen den Wörtern und den von

86 Hans Zeiß, Das Heilsbild in der germanischen Kunst des frühen Mittelalters. Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, 1941:2, 8 (München 1941); vgl. Heiko Steuer, Heilsbild. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 14 (Berlin, New York 1999) 233–236; Pesch, Fallstricke (Anm. 84), 683 f. 87 Joachim Werner, Das Aufkommen von Bild und Schrift in Nordeuropa. Sitzungsberichte der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, 1966:4 (München 1966); vgl. auch Ruth Blankenfeldt, Fünfzig Jahre nach Joachim Werner: Überlegungen zur kaiserzeitlichen Kunst. In: Bilddenkmäler zur germanischen Götter- und Heldensage, hrsg. Wilhelm Heizmann/Sigmund Oehrl. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 91 (Berlin, Boston 2015), 9–81, bes. 17 f. 88 Karl Hauck in Zusammenarbeit mit Morten Axboe/Urs Clavadetscher/Klaus Düwel/Herbert Lange/Lutz von Padberg/Heike Rulffs/Ulrike Smyra/Cajus Wypior, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Ikonographischer Katalog, 1.1 Einleitung, 1.2 Text, 1.3 Tafeln, 2.1 Text, 2.2 Tafeln, 3.1 Text, 3.2 Tafeln. Münstersche Mittelalter-Schriften XXIV/3.1–2 (München 1985–1989). 89 Siehe insbesondere die 63, von 1972 bis 2002 unter dem Reihentitel „Zur Ikonologie der Goldbrakteaten“ vorgelegten Einzelstudien (bibliographisch erfasst unter der Adresse https://www. uni-muenster.de/fruehmittelalter/projekte/brakteaten/index.html). 90 Ruth Schmidt-Wiegand, Neue Ansätze im Bereich ‚Wörter und Sachen‘. In: Geschichte der Alltagskultur, hrsg. Günter Wiegelmann. Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 21 (Münster 1980) 87–103; Wörter und Sachen im Lichte der Bezeichnungsforschung, hrsg. Ruth SchmidtWiegand. Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 1 (Berlin, New York 1981); „Wörter und Sachen“ als methodisches Prinzip und Forschungsrichtung 1–2, hrsg. Ruth Schmidt-Wiegand et al. Germanistische Linguistik 145/146 147/148 (Hildesheim u. a. 1999); Heidrun Kämper, Kulturwissenschaftliche Orientierung in der Lexikographie. In: Sprache, Kultur, Kommunikation. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft/Language, culture, communication. An international handbook of linguistics as a cultural discipline, hrsg. Ludwig Jäger et al. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft/Handbooks of linguistics and communication science 43 (Berlin, Boston 2016) 737–747, hier 739 f.

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

23

ihnen bezeichneten Gegenständen und Sachverhalten. Zwar wurde dieses Konzept seit den 1970er Jahren von Seiten der Germanistik zunehmend kritisch beurteilt,91 doch stand dem ein intensiviertes Interesse von Seiten der Volkskunde92 und der Archäologie gegenüber. Dies zeigt sich in Herbert Jankuhns erstem Band der „Deutschen Agrargeschichte“ ebenso93 wie an Kolloquien der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ an der Göttinger Akademie der Wissenschaften.94 Neue Impulse verdankt das Konzept der Germanistin und Rechtshistorikerin Ruth Schmidt-Wiegand, die mit ihren Mitarbeiterinnen den Fokus auf die volkssprachigen Wörter der spätantiken und frühmittelalterlichen Leges richtete.95 In dem hier erneut abgedruckten Aufsatz zeigt sie den Gewinn einer interdisziplinären Verbindung von Philologie, Geschichtswissenschaft, Volkskunde und Archäologie. In der deutschen Frühmittelalterarchäologie entwickelten sich seit den 1960er und 1970er Jahren zwei Richtungen. Auf der einen Seite gelangte auch hier die Binnendifferenzierung germanischer ‚Stämme‘ und ‚Stammesverbände‘ zu neuer Aufmerksamkeit. Eine Reihe von Arbeiten befasste sich mit Kleidungsbestandteilen

91 Vgl. Lexikon der Germanistischen Linguistik, hrsg. Hans Peter Althaus/Helmut Henne/Herbert Ernst Wiegand (Tübingen 1973) 133. 92 Sigfrid Svensson, Einführung in die europäische Ethnologie (Meisenheim/Glan 1973) 78–90; Günter Wiegelmann/Matthias Zender/Gerhard Heilfurth, Volkskunde. Eine Einführung (Berlin 1977) 25 f., 74, 100. 93 Harald Jankuhn, Sprachzeugnisse zur frühesten Geschichte der Landwirtschaft. In: Herbert Jankuhn, Deutsche Agrargeschichte, 1. Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit (Stuttgart 1969) 263–277. 94 Wort und Begriff „Bauer“, hrsg. Reinhard Wenskus/Herbert Jankuhn/Klaus Grinda. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 89 (Göttingen 1975); Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters, Siedlungsform, wirtschaftliche Funktion, soziale Struktur, hrsg. Herbert Jankuhn/Rudolf Schützeichel/Fred Schwind. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 101 (Göttingen 1977); Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Untersuchungen zu Grabraub und „haugbrot“ in Mittel- und Nordeuropa, hrsg. Herbert Jankuhn/Hermann Nehlsen/Helmut Roth. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 113 (Göttingen 1978); Haus und Hof in ur- und frühgeschichtlicher Zeit, hrsg. Herbert Jankuhn/Heinrich Beck/Heiko Steuer. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 218 (Göttingen 1997). 95 Gabriele von Olberg, Freie, Nachbarn und Gefolgsleute. Volkssprachige Bezeichnungen aus dem sozialen Bereich in den frühmittelalterlichen Leges. Europäische Hochschulschriften 1/627 (Frankfurt a. M., New York 1983); dies., Die Bezeichnungen für soziale Stände, Schichten und Gruppen in den Leges barbarorum. Die volkssprachigen Wörter der Leges barbarorum 2. Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 11 (Berlin, New York 1991); Dagmar Hüpper-Dröge, Schild und Speer. Waffen und ihre Bezeichnungen im frühen Mittelalter. Germanistische Arbeiten zur Sprache und Kulturgeschichte 3 (Frankfurt a. M., Bern, New York 1983); Annette Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges. Eine wort- und sachkundliche Untersuchung. Die volkssprachigen Wörter der Leges barbarorum 3. Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 12 (Berlin, New York 1983).

24

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

und anderen Metallarbeiten, um zwischen Franken und Alemannen, Goten und Langobarden zu unterscheiden und damit eine politische Geschichte zu skizzieren.96 Die nach 1945 gegenüber ethnischen Deutungen geübte Zurückhaltung begann nachzulassen und erneuerten Überlegungen zu weichen, auch wenn es methodische Kritik gab. „Diese Betrachtungsweise“, so formulierte es Joachim Werner, „die manchem Außenstehenden als eine phantasievolle Überforderung der Aussagemöglichkeiten des archäologischen Materials erscheinen könnte, ist ganz im Gegenteil ein methodisch gut fundiertes neuartiges Vorgehen bei der Interpretation des stark angewachsenen Fundstoffes aus den merowingerzeitlichen Reihengräberfeldern.“97

Es ging darum, mit Historikern auf Augenhöhe zu debattieren, und die einzige Brücke schienen die Namen von ‚Stammesverbänden‘ darzustellen.98 Auf der anderen Seite gewann aber auch die Analyse sozialer Strukturen an Interesse und Bedeutung – man fragte nach der Verfassung frühgeschichtlicher Gesellschaften zwischen Bronze- und Wikingerzeit, nach ihrer Binnenentwicklung und ihren Dynamiken.99 Diese Perspektive bemühte sich um zeitlich und räumlich weitreichende Vergleiche, um der Vereinseitigung germanischer Verhältnisse zu entgehen, und sie unterschied zwischen kultureller Praxis und normativen Regelungen sowie politischen Verhältnissen, die beide archäologisch kaum zu erfassen sind. Im Nachhinein sind beide wissenschaftlichen Entwicklungen schematisch als die Münchner und die Göttinger bzw. Freiburger ‚Schule‘ gegenübergestellt worden, die sich um Joachim Werner und Herbert Jankuhn bzw. deren Schüler Volker Bierbrauer und Heiko Steuer geschart hatten. Joachim Werner selbst hatte die

96 Volker Bierbrauer, Die ostgotischen Grab- und Schatzfunde in Italien. Biblioteca degli studie medievali 7 (Spoleto 1975); ders., Die Landnahme der Langobarden aus archäologischer Sicht. In: Ausgewählte Probleme europäischer Landnahmen des Früh- und Hochmittelalters. Methodische Grundlagendiskussion im Grenzbereich zwischen Archäologie und Geschichte, hrsg. Michael Müller-Wille/Reinhard Schneider. Vorträge und Forschungen 41 (Sigmaringen 1993) 103–172; Ursula Koch, Die fränkischen Gräberfelder von Bargen und Berghausen in Nordbaden. Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 12 (Stuttgart 1982); Frauke Stein, Franken und Romanen. Aufsätze aus 25 Jahren Forschung. Anlässlich ihres 75. Geburtstages ausgewählt und hrsg. Rolf Hachmann/Rudolf Echt. Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 88 (Bonn 2011). 97 Joachim Werner, Stand und Aufgaben der Frühmittelalterlichen Archäologie in der Langobardenfrage. In: Atti del 6° Congresso Internazionale di studi sull’alto medioevo 1978 (Spoleto 1980) 27–46, hier 40. 98 Volker Bierbrauer, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse in den germanischen Staaten am Mittelmeer (Westgoten, Ostgoten, Langobarden) aus der Sicht des Archäologen. In: Atti del 6° Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo 1978 (Spoleto 1980) 89–105. 99 Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge 128 (Göttingen 1982).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

25

Abgrenzung hervorgehoben und die vermeintliche Überlegenheit seines Ansatzes betont: Zur Debatte stehen nicht archäologische Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, sondern der ethnische Aussagewert archäologischen Fundstoffs, den man auch beim Anlegen strengster Kriterien prinzipiell nicht in Abrede stellen kann.100

Diese Vereinfachung auf zwei ‚Schulen‘ übersieht allerdings, dass auch anderenorts und in anderen wissenschaftlichen Kontexten Arbeiten entstanden – im Rheinland101 oder in Süddeutschland beispielsweise.102 Als 1986 ein Band die „Ethnogenenese europäischer Völker aus Sicht der Anthropologie und der Vor- und Frühgeschichte“ behandelte,103 wirkte dies wie aus der Zeit gefallen. Die Beiträge der Festschrift für die Anthropologin Ilse Schwidetzky fragten nach der „Herkunft“ von Griechen und Illyrern, Thrakern und Dakern, Italikern und Iberern, Kelten und Germanen, Slawen, Balten und Finno-Ugriern, indem sie körperliche Konstitution und materielle Kultur bis zu ihren „Anfängen“ bzw. Differenzierungen zurückverfolgten. Dass beides kaum etwas mit Sprache, Identitäten oder politischen Kontexten verband, blieb unbeachtet und der Band auch ohne Wirkung.

V. Neuausrichtungen (ca. 1990–2010) Von den tiefgreifenden politischen Veränderungen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts blieben auch die historischen Wissenschaften nicht unberührt. Ihre Themen und Blickwinkel begannen sich zu weiten, und man suchte angesichts der aktuellen Entwicklungen nach ähnlichen Wandlungsprozessen in der Vergangenheit wie nach Möglichkeiten, die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart zu erklären. Es verwundert daher nur auf den ersten flüchtigen Blick, dass auf der einen Seite die erwarteten Zukunftsaussichten der Europäischen Union eine internationale Perspektive auch in den historischen Wissenschaften beförderten und auf der anderen Seite eine nachholende nationale Perspektive neue Anhänger fand.

100 Joachim Werner, Einführung. In: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Aktuelle Probleme in historischer und archäologischer Sicht, hrsg. ders./Eugen Ewig. Vorträge und Forschungen 25 (Sigmaringen 1979) 9–23, hier 15. 101 Etwa Hermann Ament, Fränkische Adelsgräber von Flonheim in Rheinhessen. Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit B 5 (Berlin 1970). 102 Rainer Christlein, Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes (Stuttgart 1978). Vgl. auch Max Martin, Das fränkische Gräberfeld von Basel-Bernerring. Basler Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte 1 (Basel 1976). 103 Ethnogenese europäischer Völker aus Sicht der Anthropologie und der Vor- und Frühgeschichte, hrsg. Wolfram Bernhard/Anneliese Kandler-Pálsson (Stuttgart, New York 1986).

26

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Das internationale Großprojekt „The Transformation of the Roman World“ zielte Mitte der 1990er Jahre darauf, mit dem neutralen Transformationsbegriff den früheren heftigen und unlösbaren Antagonismus zwischen ‚Zerstörung der römischen Zivilisation‘ einerseits und weitreichenden ‚Kontinuitäten‘ andererseits zu entschärfen und darauf aufbauend neue Interpretationsansätze zu entwerfen. Die Ergebnisse der Untersuchungen und Tagungen wurden in 13 Bänden vorgelegt und übten über die Disziplingrenzen hinweg Einfluss aus, indem neue kritische Ansätze bisherige Interpretationsmodelle und Leiterzählungen herausforderten.104 Zeitgemäß verzichtete das Projekt darauf, eine neue große Erzählung zu etablieren: Stattdessen zeigte es, wie notwendig es ist, die gesamte Mittelmeerwelt in den Blick zu nehmen – und wie unterschiedlich die historischen Entwicklungen in den verschiedenen Räumen und Zeiten verliefen. Zugleich brachte das Projekt eine wichtige Internationalisierung der Forschungsdebatte, was sich befruchtend auswirkte, indem Chancen und Probleme verschiedener nationaler Wissenschaftstraditionen im Vergleich deutlicher wurden. Aus philologischer Sicht sollen hier drei Themenbereiche herausgegriffen werden, in denen weiterführende und zukunftsweisende methodische Ansätze erkennbar werden. Seit 2010 ist bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen ein runologisches Großprojekt angesiedelt, das die runische Schriftlichkeit in den germanischen Sprachen systematisch, überregional und zeitlich umfassend untersucht. Dabei werden im Bereich der Runologie erstmalig sowohl der mediale Aspekt der Schriftlichkeit mit dem Verhältnis von Phonie und Graphie (runische Graphematik) als auch der konzeptionelle und funktionale Aspekt (runische Textgrammatik und Pragmatik) betrachtet.105 Neben der Corpusarbeit wird als Kernstück des Projekts eine Datenbank mit Basisdaten zu Art, Inhalt und Kontext der europäischen Runenfunde erstellt.106 Auch im Bereich der älteren germanischen Literaturen hat sich nicht zuletzt im Gefolge der unter dem Begriff ‚New Philology‘ gebündelten Kritik am traditionellen Umgang mit den überlieferten Texten des Mittelalters mehr und mehr die Ansicht durchgesetzt, die mittelalterlichen Texte seien gerade in ihrer überlieferten Form zu akzeptieren und in ihrem zeitgenössischen geschichtlichen, rechtlichen, sozialen und religiösen Kontext zu interpretieren. Dieser in der älteren philologischen Forschung oft sträflich vernachlässigte Aspekt erschließt neue Zugänge und öffnet den Blick auf bislang unbeachtete Perspektiven. Es gibt nicht nur die Dimension des in den Handschriften materialisierten Jetzt-Zustands von Texten, vielmehr trägt jeder Text in sich ebenso die Dimension des Gewordenen. So lässt sich zeigen, dass sich

104 Ian N. Wood, Report: The European Science Foundation’s programme on the Transformation of the Roman World and emergence of Early Medieval Europe. Early Medieval Europe 6, 1997, 217–227. 105 https://adw-goe.de/forschung/forschungsprojekte-akademienprogramm/runische-schriftlich keit-in-den-germanischen-sprachen/ (3.9.2020). 106 https://www.runesdb.de/ (3.9.2020).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

27

die Isländersagas nicht nur als Zeugnisse ihres christlichen Zeithorizonts des 13. und 14. Jahrhunderts verstehen lassen, sondern in ihnen relikthaft und z. T. unverstanden Dinge, Motive und Vorstellungen eines älteren Weltbilds transportiert werden.107 Zu den konstituierenden Elementen dieses Weltbilds zählen Konzepte von Raum und Zeit, Seelen und Jenseits sowie Opfervorstellungen. Sie sind durch den deutenden, manipulierenden, transformierenden und integrierenden Zugriff der Sagaschreiber nicht durchgehend eliminiert, sondern oftmals als Bestandteile einer vorgefundenen oralen Überlieferung bei der Verschriftlichung übernommen worden. Zumindest aus deutscher Perspektive ganz unerwartet, zeichnet sich in der skandinavischen Forschung gegenwärtig eine Art von ‚revival‘ ab, was die Einbeziehung rezenten folkloristischen Materials betrifft. Als Pionier kann hier der in Reykjavík tätige Folklorist Terry Gunnell genannt werden, der in seinem 1995 erschienenen Buch „The Origins of Drama in Scandinavia“ offenbar unberührt von der Diskussion in Deutschland ganz unbefangen folkloristische wie antike Überlieferungen zur Rekonstruktion des mittelalterlichen Dramas im alten Skandinavien heranzieht.108 Inzwischen befassen sich Tagungen mit „Retrospectice Methods“, und es gibt ein „Retrospective Methods Network“.109 Das Thema Kontinuität ist zwar insofern obsolet geworden, als es an ideologische Konstrukte wie ‚Volksgeist‘, ‚germanischer Formwille‘ oder ‚germanisches Wesen‘ geknüpft war. Grundsätzlich aber gibt es sehr wohl Phänomene, auf die der Begriff Kontinuität zutreffen kann, im Bereich der Magie und den ihr zugrundeliegenden Wirkprinzipien110 ebenso wie in agrarischen Riten.111 Diese Formen von Kontinuität sind weder an geographische, sprachliche, kulturelle, religiöse noch ethnische Grenzen gebunden. Daneben gibt es aber auch deutlich kleinteiligere und begrenztere Formen. Dies betrifft etwa im Bereich der Bildüberlieferung bestimmte Motive, die sich von der Völkerwanderungszeit bis ins Mittelalter nachweisen lassen, oder im Bereich der Religion die Wesen der so genannten Niederen Mythologie, die selbst den Religionswechsel überdauerten. In der Archäologie entwickelte sich in kurzer Zeit eine lebhafte Debatte um die ethnische Deutung. Seit Kossinna war sie stets aufs Neue kritisiert und infrage gestellt worden, doch dessen ungeachtet blieb sie ein wichtiger, häufig thematisierter

107 Klaus Böldl, Beiträge zum Weltbild der Eyrbyggja und anderer Isländersagas. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 48 (Berlin, New York 2005). 108 Terry Gunnell, The Origins of Drama in Scandinavia (Cambridge 1995). 109 New Focus on Retrospective Methods. Resuming Methodological Discussions: Case Studies from Northern Europe, hrsg. Eldar Heide/Karen Bek-Pedersen. Folklore Fellows’ Communications 307 (Helsinki 2014). – Vgl. den Newsletter: https://www.helsinki.fi/en/networks/retrospective-me thods-network. 110 Vgl. Monika Schulz, Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung. Beiträge zur europäischen Ethnologie und Folklore 5 (Frankfurt a. M. u. a. 2000). 111 Carlo Ginzburg, Hexensabbat: Entzifferung einer nächtlichen Geschichte (Berlin 1990); italienische Originalpublikation: Storia notturna: una decifrazione del sabba. Biblioteca di cultura storica 176 (Torino 1989).

28

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Aspekt insbesondere der Frühmittelalterarchäologie. Der zugrunde liegende Gedanke war von Hans Jürgen Eggers formuliert und von anderen wiederholt worden: Die Vorgeschichte würde sich als historische Wissenschaft selber aufgeben, würde sie nicht immer und immer wieder den Versuch machen, auch das Problem der ethnischen Deutung zu lösen.112

In Westeuropa zeigten verschiedene Studien deutlicher als zuvor, auf welch tönernen Füßen manche bisherige Auffassung stand und dass es plausiblere Alternativerklärungen gab, als bestimmte Gegenstandstypen oder Grabformen einem bestimmten Stamm oder Volk zuzuweisen.113 Um diesem Problem zu begegnen, führten die Kritisierten die Kombination verschiedener Elemente der Sachkultur an – das Zusammentreffen steigere die Wahrscheinlichkeit ethnischer Zuschreibungen. In Freiburg entwickelte der DFG-Sonderforschungsbereich „Identitäten und Alteritäten“ neue Blicke auf dieses Thema und kritisierte ebenfalls die Einseitigkeit vorliegender Thesen.114 Darüber hinaus wurden mitunter die Ausgangsannahmen geteilt, nämlich die Ethnizität bestimmter Elemente des Habitus und der Sachkultur, doch die Kriterien verändert: Frank Siegmund stellte – statt Fibeltypen – die relative Häufigkeit bestimmter Grabbeigaben in den Mittelpunkt.115 Kritik an diesen Neuansätzen wiederum ließ nicht lange auf sich warten, und sie fiel ebenso massiv wie grundsätzlich aus. Hatte Alexander Koch noch in den späten 1990er Jahren schlicht behauptet, „[k]eine Fränkin [habe] […] ostgotische, thüringische oder langobardische Bügelfibeln getragen […], sofern sie nicht durch besondere Umstände dazu gezwungen wurde“,116 so legten andere Autoren ihre Argumente nun offen. Volker Bierbrauer betonte wie Frauke Stein die grundsätzliche Differenz zwischen einem „romanischen“ und einem „germanischen Kulturmodell“ 112 Hans Jürgen Eggers, Einführung in die Vorgeschichte (³München 1986) 200; Volker Bierbrauer, Zum Stand archäologischer Siedlungsforschung in Oberitalien in Spätantike und frühem Mittelalter (5.–7. Jahrhundert). Quellenkunde, Methode, Perspektiven. In: Genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa und seinen Nachbarräumen, hrsg. Klaus Fehn/Klaus Brandt/Dietrich Denecke/Franz Irsigler (Bonn 1988) 637–659, hier 637 f.; ders., Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert aus archäologischer Sicht. Vom Kaukasus bis Niederösterreich. Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. Abhandlungen N. F. 131 (München 2008) 6. 113 Vgl. etwa Guy Halsall, Early medieval cemeteries. An introduction to burial archaeology in the post-Roman west (Glasgow 1995); Frans Theuws, Grave goods, ethnicity, and the rhetoric of burial rites in Late Antique Northern Gaul. In: Ethnic constructs in antiquity. The role of power and tradition, hrsg. Ton Derks/Nico Roymans. Amsterdam Archaeological Studies 13 (Amsterdam 2009) 283–319. 114 Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 42 (Berlin, New York 2004). 115 Frank Siegmund, Alemannen und Franken. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 23 (Berlin, New York 2000). 116 Alexander Koch, Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich 1–2. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 41 (Mainz 1998) 537.

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

29

des Begräbnisses, die am Beginn des Mittelalters nicht nur ethnisch, sondern zugleich überwiegend religiös bestimmt gewesen seien – christliche Römer versus heidnische Germanen.117 Außerdem argumentierte Volker Bierbrauer, dass er sich nicht bloß auf spezifische Funde stütze, sondern auf „hochrangige Kriterien“: 1. die „Grabsitte“ (auch „Totenritual“), 2. die „Beigabensitte“, 3. die „(Volks-)Tracht“. „Hochrangig“ seien diese Kriterien, weil sie „langfristig mit dem Totenritual […] verbunden […] sind“118– wogegen sich grundsätzlich einwenden lässt, dass Bestattungen wesentlich sozial und kulturell bestimmt sind und sich an lokale Gesellschaften richten, weshalb sie Fremdheit eher nicht betonen. Ursula Koch konzentrierte sich dagegen weiterhin auf innergermanische Unterschiede und stellte heraus, wie wichtig aus ihrer Sicht die Trennung verschiedener „Stämme“ – Franken, Alemannen, Thüringer, Langobarden, Goten – sei.119 Das zentrale Argument, ethnische Deutungen zu rechtfertigen, lautete, nur mit ihnen ließe sich ein interdisziplinärer Diskurs mit der Geschichtswissenschaft führen – und ohne sie gäbe es ihn nicht, weil ihm die Basis zur Verständigung fehle.120 Die Praxis hat dieser Auffassung inzwischen deutlich widersprochen, denn gerade die klare innerarchäologische Methodendiskussion hat Historikern deutlich machen können, wie lebendig und methodenbewusst das Fach ist und wie viele Untersuchungsfelder die Archäologie einer integrierten Frühmittelalterforschung jenseits bloßer ethnischer Unterscheidungen zu bieten hat. Text- und Sachzeugnisse führen heute in der Kombination zu erheblich breiteren, komplexeren und plausibleren Rekonstruktionen des Frühmittelalters, als es die Disziplinen einzeln vermögen.121

117 Bierbrauer, Ethnos und Mobilität (wie Anm. 108); Frauke Stein, Kulturelle Ausgleichsprozesse zwischen Franken und Romanen im 7. Jahrhundert. Eine archäologische Untersuchung zu den Verhaltensweisen der Bestattungsgemeinschaft von Rency/Renzig bei Audun-le-Tiche in Lothringen. In: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 41 (Berlin, New York 2004) 274–310. 118 Bierbrauer, Ethnos und Mobilität (wie Anm. 108), 8. 119 Ursula Koch, Von den Randgebieten des Merowingerreiches bis in den Rhein-Neckar-Raum. Beobachtungen zum Miteinander und Nebeneinander von Familien aus unterschiedlichen Kulturkreisen. In: Das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von Kulturen. Zur Archäologie und Geschichte wechselseitiger Beziehungen im 1. Jahrtausend n. Chr., hrsg. Babette Ludowici/ Heike Pöppelmann. Neue Studien zur Sachsenforschung 2 (Stuttgart 2011) 154–165; dies., Die weibliche Elite im Merowingerreich. Königinnen, Hofherrinnen und Töchter. In: Königinnen der Merowinger. Adelsgräber aus den Kirchen von Köln, Saint-Denis, Chelles und Frankfurt, hrsg. Egon Wamers/Patrick Périn (Regensburg 2012) 37–58. 120 Bierbrauer, Ethnos und Mobilität (wie Anm. 108), 6. 121 Vgl. etwa Grenzen, Räume und Identitäten. Der Oberrhein und seine Nachbarräume von der Antike bis zum Hochmittelalter, hrsg. Sebastian Brather/Jürgen Dendorfer. Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 22 (Ostfildern 2017); Recht und Kultur im frühmittelalterlichen Alemannien. Rechtsgeschichte, Archäologie und Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, hrsg. Sebastian Brather. Reallexikon der Germanischen

30

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Darin liegt zugleich eine Rechtfertigung für ihre unabhängige Existenz und Alimentierung. Im Zuge dieser jüngeren Forschung ist auch der Begriff der ‚Ethnogenese‘ mittlerweile nicht mehr forschungsleitend; stattdessen fragen Walter Pohl und andere umfassender und in einer geweiteten Perspektive nach sozialer Identifikation und Kohäsion.122 Die ethnische Zugehörigkeit ist dabei nur ein Aspekt unter vielen. Während Reinhard Wenskus noch davon ausging, dass eine Ethnogenese in einem bestimmten Moment der Geschichte abgeschlossen sei, meint die historische Forschung heute nicht mehr, dass ein Volk jemals fertig entwickelt ist. Heute wird soziale Identität als Momentaufnahme ständigen Wandels und kontinuierlicher Aushandlung begriffen – eine Stammesbildung besitzt daher weder Anfang noch Ende, und es gibt eigentlich keine Ethnogenese. Eine wesentliche Rolle für den Austausch zwischen Archäologen und Historikern spielt Wien. Walter Pohl bildete mit seinem Team an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften einen Ort der interdisziplinären wie internationalen Diskussion – in Forschungsprojekten ebenso wie mit zahlreichen Konferenzen.123 Auf diese Weise entwickelte sich eine neue Debatte zwischen den mediävistischen Disziplinen. Sie stützt sich wesentlich darauf, dass sowohl die jeweils eigenen methodischen Grundlagen sowie Interpretationsansätze einschließlich ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen offengelegt werden als auch spezifische Fragen und Erwartungen an die anderen gerichtet werden. Davon ausgehend, haben sich inzwischen Spätantike und Frühmittelalter als besonders fruchtbare

Altertumskunde, Ergänzungsband 102 (Berlin, Boston 2017); Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hrsg. Hubert Fehr/Irmtraud Heitmeier. Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1 (St. Ottilien 2012). 122 Strategies of identification. Ethnicity and religion in early medieval Europe, hrsg. Walter Pohl/ Gerda Heydemann. Cultural encounters in Late Antiquity and the Early Middle Ages 13 (Turnhout 2013). 123 Vgl. etwa: Grenze und Differenz im frühen Mittelalter, hrsg. Walter Pohl. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 1 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 287 (Wien 2000); Integration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter, hrsg. Walter Pohl/Maximilian Diesenberger. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 3 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 301 (Wien 2002); Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hrsg. Walter Pohl. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 322 (Wien 2004); Die Langobarden. Herrschaft und Identität, hrsg. Walter Pohl. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 329 (Wien 2005); Das Reich der Vandalen und seine (Vor-)Geschichten, hrsg. Guido M. Berndt/Roland Steinacher. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 13 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 366 (Wien 2008); Archaeology of identity. Archäologie der Identität, hrsg. Walter Pohl/Matthias Mehofer. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 17 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 406 (Wien 2010) 25–49.

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

31

Forschungsfelder erwiesen, weil die Veränderungen dieser Zeit und die Kargheit der Überlieferung einen interdisziplinären Ansatz geradezu erfordern – aber auch deshalb, weil damals entscheidende Grundlagen für das mittelalterliche Europa gelegt wurden. Der Begriff des ‚Germanischen‘ ist heute für die Archäologie und die Geschichtswissenschaft zunehmend unscharf geworden.124 Er stellt keine fixe Größe mehr dar, wie man früher angenommen hat. Je genauer man hinsah, desto deutlicher wurde, wie sehr die jeweilige historische Umwelt die germanische Welt (die es auch nur in der Außenperspektive der römischen Kaiserzeit gab) geprägt hatte125 und wie differenziert sie selbst gewesen war. Außerdem lässt sich der Germanenbegriff nicht ohne zeitliche Eingrenzungen verwenden, wenn er nicht zur leeren Hülle werden soll. Das bedeutete einerseits, ihn nicht vor die erste verlässliche Nennung zurückzuprojizieren: Vor Caesar lässt sich schlecht von Germanen sprechen, auch wenn sprachliche Entwicklungen weiter zurückreichen und Bevölkerungs- wie Kulturkontinuitäten kaum bestritten werden können. Aber Germanen als Bezeichnung für die mitteleuropäischen Bevölkerungen kannte zuvor niemand. Als sich im 4. Jahrhundert spezifischere Begriffe wie Franken, Alemannen usw. durchsetzten, verlor der Germanenbegriff seine politische Bedeutung und wurde zu einer geographischen Kategorie. Ob man ihn daher für das frühe Mittelalter dennoch verwenden sollte, ist Gegenstand der aktuellen Diskussion unter Archäologen und Historikern.126 Im Zuge dessen hat auch der Begriff der ‚Germanische Altertumskunde‘ an Konturen verloren. Zwar besitzt die Philologie klare Kriterien, um germanische Sprachen definieren und abgrenzen zu können und um auf diese Weise sprachliche und literarische Zeugnisse zu bestimmen.127 Doch Archäologen und Historikern ist diese Selbstverständlichkeit inzwischen abhandengekommen. Was wo und zu welcher Zeit ‚germanisch‘ ist und ob dies überhaupt eine analytisch hilfreiche Klassifikation darstellt, erweist sich heute als offene methodische und interpretatorische Frage.128

124 Germanenprobleme in heutiger Sicht, hrsg. Heinrich Beck. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 1 (Berlin, New York 1986, ²1999). 125 Patrick J. Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen (München 1996) 7. 126 Kontra: Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Leges, Gentes, Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schriftkultur bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hrsg. Gerhard Dilcher/Eva-Marie Distler (Berlin 2006) 69–78; pro: Walter Pohl, Vom Nutzen des Germanenbegriffs zwischen Antike und Mittelalter. Eine forschungsgeschichtliche Perspektive. In: Akkulturation. Probleme einer germanisch-römischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 41 (Berlin, New York 2004) 18–34. 127 Germanische Altertumskunde (wie Anm. 45). 128 Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 68 (Berlin, New York 2010); Philipp von Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und

32

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Statt den Blick auf Germanen zu begrenzen, erscheint eine vergleichende und integrierende Betrachtung von Regionen und Kulturen, Gesellschaften und Zeiträumen weiterführender. Verflechtungen und Kulturtransfers verdienen Aufmerksamkeit und zeigen, wie viel eine isolierte Betrachtung möglicherweise übersieht. Ähnliches lässt sich für zwei andere Großgruppen feststellen, die ebenso wenig ein ethnisches Selbstverständnis besaßen, sondern gleichfalls erst durch kategorisierende Fremdbenennungen griechischer Ethnographen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bzw. byzantinischer sowie westlicher Beobachter seit dem 6. Jahrhundert n. Chr. konstituiert wurden: für Kelten und Slawen. Letztere waren, unterstützt durch den politischen Zusammenschluss der sozialistischen Länder Ost(mittel)europas, bis in die 1990er Jahre Gegenstand einer ‚Slawischen Archäologie‘, die – international organisiert in der Union International d’Archéologie Slave mit großen Kongressen im 5-JahresRhythmus zwischen 1965 und 1996 – eine ältere ‚Slawische Altertumskunde‘ fortsetzte, aber nun in ihrer gegenständlichen wie politischen Begrenzung überholt und aufgegeben ist.129 Auch Bemühungen um eine eigenständige ‚Keltische Altertumskunde‘130 genügen heutigen Ansprüchen nicht mehr recht. Neue Gesichtspunkte ergeben sich gegenwärtig durch weiterentwickelte naturwissenschaftliche Verfahren. Von ihnen wird – auch in der breiteren Öffentlichkeit – nicht selten erwartet, dass sie endlich Antworten auf seit langem gestellte Fragen liefern. Interessanterweise sind dies vor allem diejenigen Fragen, die bereits vor Jahrzehnten im Mittelpunkt der Forschung standen, heute aber deutlich an Bedeutung verloren haben: Migrationen sind angesichts gegenwärtiger Entwicklungen wieder aktuell und politisch relevant, und gerade deshalb bedarf es hier sorgfältiger und abwägender Betrachtung. Historische Parallelen unserer Gegenwart etwa zur Völkerwanderungszeit erweisen sich auf den zweiten Blick als schwierig; und eine isolierte Betrachtung allein von Migration führt nicht weiter, sondern gehört in den größeren Rahmen von Mobilität, räumlich wie sozial und ökonomisch.131 Die neuen Möglichkeiten der Isotopenanalyse liegen primär in der Rekonstruktion der Ernährung und versprechen hier grundlegend neue Einsichten.132 Und die Genetik dürfte vor allem

Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 55 (Berlin, New York 2007). 129 Welt der Slawen. Geschichte, Gesellschaft und Kultur, hrsg. Joachim Herrmann (Berlin 1986). 130 Helmut Birkhan, Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur (Wien 1997, ²1997, ³1999). 131 Mischa Meier, Die „Völkerwanderung“. Aus Politik und Zeitgeschichte 26/27, 2016, 3–10; ders., Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr. (München 2019). 132 Gisela Grupe, Stable isotope sourcing in physical anthropology. Application of mixing models. Post-classical archaeologies 3, 2013, 25–40; Andrea Czermak, Soziale Stratifizierung im frühen Mittelalter. Aussage- und Nachweismöglichkeiten anhand von biologischen Indikatoren, Diss. rer. nat. (München 2011) (https://edoc.ub.uni-muenchen.de/14241/).

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

33

Aufschlüsse zur Populationsgeschichte geben, die jedoch keine kulturhistorischen Erklärungen bedeuten.133

Ausblick Man könnte die Geschichte, die sich aus der fächerübergreifenden Zusammenschau ergibt, zweifellos als eine Geschichte des Verlusts nationaler Sinnstiftung erzählen. Im 19. Jahrhundert und bis 1945 durften deutsche Wissenschaftler verschiedener Disziplinen voraussetzen, dass ihre eigenen Zeitgenossen die alten Germanen vorbildlich und nachahmenswert fanden – sei es nun politisch, gesellschaftlich oder kulturell. Dieser Vorbildcharakter gründete in drei Axiomen der Forschung: nämlich erstens in der selbstverständlichen Vorannahme, dass die Germanen die historischen, wenn nicht sogar die biologischen Vorfahren der Deutschen gewesen seien; zweitens in der Überzeugung, dass es – wie bei allen Völkern – so auch bei den Germanen eine gemeinsame Kultur, ja geradezu ein überzeitliches Wesen gebe, das wissenschaftlich objektiv ermittelt werden könne; und drittens in dem Glauben, dass gerade die ursprünglichen, noch nicht durch Fremdkontakte überformten Zustände des eigenen Volkes besonders rein und gut gewesen seien und folglich gerade sie der Gegenwart als Vorbild dienen sollten. Diese Form geradliniger nationaler Sinnstiftung durch Germanische Altertumskunde trägt in unserer Gegenwart nicht mehr. Wissenschaftlich verloren gegangen ist uns jener Essentialismus, der es überhaupt erst erlaubt hatte, einem Volk eine eigene Wesensart zuzuschreiben – und folglich wissenschaftlich fachübergreifend nach dem germanischen Wesen zu fahnden. Stattdessen fragen wir heute danach, wie solche Zuschreibungen von Wesenszügen an Völker eigentlich in der Geschichte entstanden: Welche Diskurse und Praktiken generierten derlei Überzeugungen? Und wie konnten sie sich so verfestigen und zugleich in ihrer Historizität selbst verbergen, dass sie den historischen Akteuren geradezu natürlich erschienen? Außerdem interessieren wir uns dafür, wann und warum Menschen es im Laufe der Geschichte überhaupt wichtig fanden, ihre Mitmenschen in Völker einzuteilen und

133 Iosif Lazaridis et al., Ancient human genomes suggest three ancestral populations for presentday Europeans. Nature 513 (7518), 2014, 409–413 (doi: 10.1038/nature13673); Patrick Geary, unter: https://www.ias.edu/ideas/2013/geary-history-genetics; Carlos Eduardo G. Amorim/Stefania Vai/ Cosimo Posth/Alessandra Modi/István Koncz/Susanne Hakenbeck/Maria Cristina La Rocca/Balazs Mende/Dean Bobo/Walter Pohl/Luisella Pejrani Baricco/Elena Bedini/Paolo Francalacci/Caterina Giostra/Tivadar Vida/Daniel Winger/Uta von Freeden/Silvia Ghirotto/Martina Lari/Guido Barbujani/Johannes Krause/David Caramelli/Patrick J. Geary/Krishna R. Veeramah, Understanding 6thCentury Barbarian Social Organization and Migration through Paleogenomics; https://www.bio rxiv.org/content/early/2018/02/20/268250 (https://doi.org/10.1101/268250).

34

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

ethnisch zu differenzieren. Tatsächlich sind ja ganz andere Ordnungen denkbar (etwa religiöse). Abhandengekommen ist uns außerdem die Idee, wir könnten mit unseren eigenen Ordnungskategorien das Handeln der Akteure in der Geschichte quasi lückenlos erklären. Wir nehmen stattdessen die Vorstellungen, Überzeugungen und Begriffe ernst, mit denen die Akteure selbst ihrer Welt Sinn zuschrieben (und die Grundlagen ihres eigenen Handelns erst schufen). Da Historikerinnen und Historiker heute Völker nicht mehr als natürliche, quasi zeitenthobene Akteure der Geschichte begreifen, sondern die Vorstellungen der Zeitgenossen selbst berücksichtigen, ist für sie der Befund zentral, dass das Wort Germani spätestens seit dem 4. Jahrhundert selten gebraucht wurde und zudem etwas ganz anderes meinte als deutsche Historiker des 19. und früheren 20. Jahrhunderts, wenn sie von „Germanen“ sprachen. Zumindest Teile der Geschichtswissenschaft und der Archäologie sind deshalb heute überzeugt: Wenn die Vandalen, Burgunder, Goten oder Franken der Spätantike und des Frühmittelalters gar nicht wussten, dass sie Germanen waren, konnten sie auch ihr Handeln nicht an einem Germanentum ausrichten. Die Interessen, Wünsche, Sehnsüchte, Ziele, Motive – nichts von dem, was die Menschen damals antrieb, können Archäologen oder Historiker dadurch besser verstehen oder erklären, dass sie diese Menschen nachträglich als ‚Germanen‘ klassifizieren. Innerhalb des Kreises der Herausgeber der „Germanischen Altertumskunde Online“ hat dies immer wieder zu einer lebendigen und bereichernden Diskussion geführt. Germanisten können im ‚Germanischen‘ zunächst einmal einen seit langem in der Forschung eingebürgerten Verständigungsbegriff sehen – vielfach unscharf, aber eben auch praktisch. Jenseits der Frage nach Wissen und Wahrnehmung der damaligen Zeitgenossen selbst können Germanisten außerdem aus der Tradition ihres Faches heraus auch fragen, ob es nicht genauso auch Hinweise auf kulturell Gemeinsames und Verbindendes gibt. An erster Stelle steht hierbei die Sprache: Vandalen, Burgunder, Goten und Franken, aber auch Angelsachsen und Skandinavier konnten sich bis weit in die Mitte des ersten Jahrtausends nach Christus hinein problemlos verständigen. Zur Sprache aber kommen weitere Gemeinsamkeiten hinzu: Zentrale Göttergestalten wie Óðinn, Þórr und Frigg wurden nicht nur im Norden verehrt. Sie sind vielmehr nach Ausweis zahlreicher historischer, literarischer und epigraphischer Quellen gleichermaßen bei den Angelsachsen in Britannien und bei anderen Verbänden auf dem Kontinent bezeugt. Zu den Gemeinsamkeiten zählt ferner die Heldensage, an deren Überlieferung alle älteren germanischen Literaturen Anteil haben. Dem Prozess der ‚Transformation of the Roman World‘ lässt sich darüber hinaus spätestens seit der frühen römischen Kaiserzeit als Pendant eine nicht minder folgenreiche, aber bislang nie systematisch erforschte ‚Transformation of the Germanic World‘ gegenüberstellen. Das römisch Reich bescherte seinen Nachbarn im Norden nicht nur einen gewaltigen Zustrom an materiellen Gütern. Zugleich stimulierte die Begegnung mit dem Imperium eine intensive intellektuelle Auseinandersetzung

‚Germanische Altertumskunde‘ im Rückblick. Einführung

35

mit zentralen Ideen, Erscheinungsformen und Kulturtechniken der mediterranen Hochkultur. Diese wurden eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen entsprechend aufgegriffen und der eigenen Kultur anverwandelt. So wurde beispielsweise auf der Basis der lateinischen Kapitalisschrift im Bereich des heutigen Dänemark spätestens seit dem 2. Jahrhundert mit den Runen ein eigenständiges Schriftsystem entwickelt, dessen Überlieferung sich bis etwa 700 erstreckt. Die Runenschrift verbreitete sich in kurzer Zeit über einen enormen geographischen Raum (von Burgund bis zur Ukraine, vom Balkan bis nach Skandinavien) ausschließlich bei germanisch-sprechenden Gruppen; und sie blieb in Anbetracht der zeitlichen und räumlichen Erstreckung sowie der politischen Instabilität der Epoche insgesamt erstaunlich konservativ. Obwohl nur spärlich überliefert, werden in den Runeninschriften bald erste Zeugnisse einer germanischen Dichtersprache greifbar. Auf Inschriften vom 2. bis 5. Jahrhundert sind poetische Stilmittel überliefert, die in ausgebildeter Form erst von der Jahrhunderte später bezeugten altenglischen Dichtung und in komplexester Form von der Skaldendichtung (heiti und kenningar) verwendet werden. Bald nach der Zeitenwende lässt sich zudem die Herausbildung einer reichen eigenständigen Bildüberlieferung beobachten. Das Erstaunliche an diesen künstlerischen und intellektuellen Meisterleistungen ist nicht nur die Tatsache ihrer Existenz. Nicht weniger überrascht, dass sich bestimmte Erscheinungen wie die Runen, der Tierstil oder auch die Goldbrakteaten rasch über weite Bereiche der germanisch-sprachigen Welt ausbreiteten. Dieses Phänomen ist nur vor dem Hintergrund weit gespannter Kommunikationsnetze verständlich, von deren Existenz wir in den schriftlichen Quellen nur ausnahmsweise Mitteilung erhalten. Als Initiatoren und Mediatoren der genannten kulturellen Innovationen muss eine qualifizierte Schicht von Spezialisten vermutet werden, die in der Lage war, hochkulturliche Phänomene wie Schrift und Bild der eigenen Kultur anzuverwandeln, um ihrer eigenen Weltsicht Ausdruck zu verleihen. Diese Spezialisten stellen offenbar eine stabile autoritative Instanz dar, die über größere räumliche und zeitliche Distanzen hinweg Deutungshoheit über religiöse, kultische und kulturelle Fragen beanspruchen und durchsetzen konnte. Neben dem Trennenden auch das Verbindende zu erforschen ist daher nach wie vor gerade aus Sicht der Germanistik eine legitime Aufgabe der germanischen Altertumskunde. Was diese Befunde im Einzelnen für die Fragen nach der Selbstbeschreibung der historischen Akteure, nach deren Wahrnehmung von Zusammengehörigkeiten und darauf fußenden Intentionen und Handlungen bedeuten, darüber diskutieren die Herausgeber dieses Bandes untereinander interdisziplinär, leidenschaftlich und mit Gewinn: Wissenschaft lebt von der Debatte! Selbst dann aber, wenn wir die wissenschaftliche Ordnungskategorie des ‚Germanischen‘ nicht nur für die Klassifikation von Sprachen, sondern auch von anderen Formen kultureller Praxis beibehalten wollten, wäre diese wissenschaftliche Kategorie heute sicher nicht mehr ungebrochen geeignet für nationale Sinnstiftung: Das enge Gehäuse des Nationalstaats löst sich zunehmend auf; als Ideal und

36

Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold

Endpunkt aller historischen Entwicklung hat der Nationalstaat ohnehin ausgedient. In der Europäischen Union und im Zuge der Globalisierung taugen Germanenbilder bestenfalls noch für Freunde des Reenactments als Vorbilder (und in jenem rechten Spektrum, für das die Gegenwart politisch wie wissenschaftlich zu komplex geworden ist). Kein seriöser Politiker wird dagegen heute auf die Idee verfallen, man müsse die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland an Grundprinzipien der Verfassung der Germanen zur Zeit des Tacitus orientieren – wie es Georg Waitz als Mitglied des Verfassungsausschusses des Frankfurter Parlaments wünschte. Statt als Verlustgeschichte könnte man den Prozess, der in den hier zusammengestellten Beiträgen aufscheint, genauso gut auch als Geschichte einer Befreiung schreiben: Es tut ja wissenschaftlich gut, dass jene Verbände und Gruppen der Antike und des Frühmittelalters, die in der Neuzeit als ‚germanisch‘ klassifiziert worden sind, uns heute nicht mehr als Vorbild gelten müssen, dem wir politisch nachzueifern hätten. Das öffnet den Blick für viele andere Aspekte der Geschichte und Kultur jener Verbände und Gruppen (wie auch ihrer Zeitgenossen): Die gewaltige historische Umbruchsphase von der Antike zum Mittelalter, in der diese Menschen lebten, ist für Philologen, Archäologen und Historiker ein Laboratorium, in dem sie historische Prozesse beobachten können, die auch andernorts (und teils auch in unserer Gegenwart) wirksam werden. Das Spektrum interessanter Themen ist breit: Es reicht von Migration und Mobilität über den sozialen Auf- und Abstieg von Individuen und ganzen Gruppen bis hin zu inner- und interreligiösen Konflikten und zu der tiefgreifenden Umwandlung einer höchst ausdifferenzierten Rechtsund Schriftkultur.

Zur Einrichtung der Texte Sämtliche Texte werden in der ursprünglich veröffentlichten Fassung geboten. Daher wurden auch die jeweilige Manuskriptgestaltung und Zitierweise beibehalten und nicht vereinheitlicht. Die originalen Seitenumbrüche sind markiert und durch Angabe der entsprechenden Seitenzahl bezeichnet: |35|. Allerdings wurden wegen des angeglichenen und nunmehr einheitlichen Layouts die Fußnoten eines Textes durchnummeriert. Vereinheitlicht wurden außerdem sämtliche Hervorhebungen, die nun kursiv erscheinen. Aktualisiert haben wir des Weiteren interne Verweisungen, die sich auf nun neue Seitenzahlen oder Abbildungsnummern beziehen. Stillschweigend und behutsam korrigiert wurde zweierlei: einerseits offensichtlich irrige Angaben und andererseits orthographische Fehler.

https://doi.org/10.1515/9783110563061-002

I Etablierung (ca. 1850 bis 1900)

Georg Waitz

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte Seit ich den ersten Band meiner Deutschen Verfassungsgeschichte geschrieben und öffentlich vorgelegt habe, sind die politischen Zustände der Deutschen in älterer Zeit mehrfach der Gegenstand wissenschaftlicher Behandlung gewesen. Es haben gleichzeitig auch Andere diesen Zeiten und Verhältnissen ihre Studien zugewandt, und sie sind zum Theil zu denselben, theilweise jedoch auch zu sehr abweichenden Resultaten gelangt. Ich fühle mich, ehe ich in meiner Arbeit vorschreite, gedrungen über diese Leistungen mich auszusprechen, das Verhältniss meiner Untersuchungen zu den hier gegebenen festzustellen, die Resultate die ich gefunden gegen die abweichenden Ansichten zu vertreten. Meine Absicht ist keineswegs, diese Bücher einer umfassenden, auf alles Einzelne eingehenden Beurtheilung zu unterwerfen, ebenso wenig sie empfehlend bei dem Publicum vorzuführen, sondern ich nehme das Recht in Anspruch von meinem Standpunkt aus diese Arbeiten zu betrachten und zu besprechen. Mit meinem Urtheil werde ich nicht zurückhalten können; in wie weit es ein richtiges ist, auf Zustimmung Anspruch machen kann, wird sich anderwärts ergeben müssen. Der Wissenschaft kann eine vielfache lebendige Discussion nur förderlich sein, und gilt es der Sache, nicht den Personen, so wird dieselbe auch einen entschiedeneren Ton annehmen dürfen, ohne dass darin eine Gefahr gefunden werden kann. Ich glaube dass unsere historische Kritik im Ganzen zu zahm und ängstlich auftritt; ich kann keinen Anstoss daran nehmen, wenn sie einmal schärfer als gewöhnlich gegen |7| mich oder gegen einen Andern sich richtet, ich finde es nur zu beklagen wenn jemand darin den Anlass findet, seinerseits alle Achtung gegen die Wissenschaft und gegen das Publicum bei Seite zu setzen, wie es neuerdings in bedauerlicher Weise geschehen ist. Hier meine ich jedoch solcher Schutzrede nicht zu bedürfen; ich habe Arbeiten vor mir, die alle von dem regsten Interesse für die Sache, alle wenigstens auch von dem Fleiss und der Gelehrsamkeit ihrer Verfasser zeugen. Im Weitern sind sie freilich sehr verschieden und bieten nur wenig Anlass zu Vergleichungen dar. Auch das Urtheil über Anlage und Ausführung wird wohl sehr verschieden ausfallen müssen. Doch auch wo es am wenigsten zustimmend lauten kann, wird es gern anerkennen, dass auch auf diese Weise die wissenschaftliche Erforschung unsers Alterthums gefördert worden ist. Herr Justizrath Professor Molbech in Kopenhagen hat in einer längern Abhandlung die ältesten Verfassungsverhältnisse der Germanen erörtert: Indledning og Udkast til en Skildring af den germanisk-skandinaviske indvortes Forfatning, med Hensyn til dens agrariske og offentlige Forhold i Oldtiden (im 5ten Bande der Historisk Tidskrift udgivet af den danske historiske Forening, 1843. 8. S. 369–522).

https://doi.org/10.1515/9783110563061-003

42

Georg Waitz

Ohne gerade tiefeingehende eigene Forschungen anzustellen, hat der Verf. doch im Ganzen seine Aufgabe mit viel Geschick und Glück behandelt; er hat die Resultate neuerer Untersuchungen gut combinirt, namentlich aber, wie es seine Stellung mit sich brachte, die nordischen und die eigentlich deutschen Verhältnisse passend mit einander verglichen, diese aus jenen erläutert, dagegen dem was der skandinavische Norden zeigt aus der Vergleichung der deutschen Verhältnisse ein höheres Alter und ursprünglich nationale Eigenthümlichkeit vindicirt. Die Abhandlung war schon vor dem Erscheinen meiner deutschen Verfassungsgeschichte gedruckt, doch ist sie mir durch Zufall erst später zu Gesicht gekommen, auch in Deutschland meines Wissens noch nicht beachtet |8| worden. Um so mehr wird es mir vergönnt sein, den Gang der Untersuchung anzugeben und einige zustimmende oder abweichende Bemerkungen daran zu knüpfen. Der Verf. geht von den Verhältnissen des Ackerbaus und des Grundbesitzes bei den Germanen aus; er legt die Nachrichten des Caesar und besonders die des Tacitus zu Grunde, und erläutert sie, nach dem Vorgange Olufsen’s und Hanssen’s, aus den agrarischen Verhältnissen, wie sie sich lange im Norden erhalten haben, und in sehr bestimmten Zeugnissen späterer Zeit sich erkennen lassen. Da ich jedoch denselben Weg eingeschlagen, so habe ich nur die Uebereinstimmung zwischen dieser Ausführung und den ersten Abschnitten meines Buches hervorzuheben. Molbech geht freilich viel mehr ins Detail der Sache ein als es für eine deutsche Geschichte passend erscheinen kann, er bleibt nicht bei den ältesten Nachrichten, den einfachen Verhältnissen stehen, sondern erläutert auch die spätern, wie sie besonders in dem Jütischen Gesetz dargelegt werden. Ich lasse dies zur Seite, und hebe nur hervor, wie auch ihm der Ackerbau und die ländlichen Verhältnisse schon zu des Tacitus Zeit eine bedeutende Ausbildung erlangt zu haben scheinen, da auch er glaubt sie als Grundlage der Verfassung betrachten zu müssen. Er stellt besonders die Verhältnisse die aus der Feldgemeinschaft hervorgingen sehr deutlich dar, wie diese wohl in gewisser Weise das volle Eigenthumsrecht der Einzelnen aufhob, aber nur in gewisser Weise und demselben doch auch zugleich „eine eigenthümliche Festigkeit und Stätigkeit gab, die den in der Familie erblichen und ursprünglich gewiss auch ungetheilten Besitz der Landstücke oder Boele begründete“ (S. 388). Die letzte Annahme lässt sich freilich nicht erweisen, wie S. 429. 442 ausdrücklich zugegeben wird, und ich finde auch dass wir ihrer nicht bedürfen, dass wir so gut in ältester wie in späterer Zeit die Möglichkeit der Theilung zugeben können, da wir deutlich sehen, dass sie immer verhältnissmässig selten vorgekommen ist und man durch Ausbauen und Ausziehen die damit nothwendig verbundene Störung der Verhältnisse abzuwehren gewusst hat (vergl. S. 442). |9| Der Verf. erwägt dann den Einfluss den die Geschlechtsverbindung auf die rechtlichen und politischen Zustände der Deutschen gehabt habe. Auch hier begegne ich fast ganz den Grundsätzen die ich selbst ausgeführt habe. Nur wahre, wenn auch sehr ausgedehnte Verwandtschaft wird als die Grundlage der Geschlechtsverbindung angesehen, ihre Bedeutung wird auf privatrechtliche Verhältnisse beschränkt. Hier hatte sie einen weiten Spielraum und zeigte sich in vieler Beziehung sehr wichtig, sie

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

43

übte freilich ihren Einfluss auch auf Manches in der politischen Organisation, doch beruhte diese selbst auf andern Momenten, am wenigsten hing sie unmittelbar von der Geschlechtsverbindung ab. Ich glaube, dass jede unbefangene historische Forschung zu diesem Resultate kommen muss, besonders dann, wenn sie die Entwickelung im Norden, wo sich die Verhältnisse viel länger in ihrer Ursprünglichkeit erhalten haben, mit der deutschen vergleicht, die allerdings gewaltsamer durchbrochen worden ist und wo die spätere Verfassung nicht mit Sicherheit auf die ältere zurückschliessen, sondern an und für sich die Möglichkeit mehr als einer Grundlage bestehen lässt. – Auf die Bemerkungen des Verfs. über die Art und Weise, wie sich aus den Geschlechtern nach und nach Stämme und zuletzt Völker bildeten (S. 419), nehme ich hier weiter keine Rücksicht; sie beziehen sich auf eine Zeit, die man als vorhistorisch bezeichnen muss, auch ist der Verf. wohl weit davon entfernt, eine solche Umbildung in die Zeit nach Tacitus zu setzen; er erkennt vielmehr an, dass sich damals der Begriff des öffentlichen Friedens bereits gebildet hatte, dass wir es wahrhaft mit politischen Gemeinheiten bei den Deutschen zu thun haben (S. 433). – Doch hat er sich nicht ganz von den Rogge’schen Vorstellungen über das Wesen des Rechts und besonders des Strafrechts bei den Germanen losgemacht. Er opponirt ihnen freilich und tritt auch Möser’s Ansichten entgegen (S. 454 n. 70); aber unvermerkt üben dieselben doch einen gewissen Einfluss auf die Auffassung dieser Seite aus. Der Verf. ist nicht Jurist genug, um selbstständig den rechten Weg zu finden, Wilda’s Strafrecht der Germanen war |10| ihm wohl bekannt geworden, doch ist es nicht hinreichend benutzt, und so zeigt sich eine gewisse Unbestimmtheit und Unklarheit in der Auffassung des rechtlichen und daher auch des staatlichen Elements bei den alten Germanen. Es hängt damit zusammen, dass die Abhandlung über die Form der Verfassung, die sich unmittelbar daran schliesst, nicht überall zu bestimmten und sichern Resultaten gelangt, obschon auch hier manche treffende Bemerkungen sich finden. Von den Volksversammlungen ist nach Tacitus und andern deutschen Quellen mit Vergleichung nordischer Nachrichten gut gehandelt. Der Verf. unterscheidet zwischen der Versammlung des Gaus und der Hundertschaft1, er weist nach, dass die Harden in einigen nordischen Ländern eben den Hundertschaften in Schweden und bei den deutschen Völkern entsprechen. Mehre Hundertschaften zusammen bildeten einen Gau, gehörten zu einem Lande, wie es im Norden hiess2, aus deren Vereinigung sich erst später die grossen Reiche gebildet haben. Indem der Verf. von den verschiedenen Versammlungen dieser grössern und kleinern Territorien handelt, führt er aus (S. 469 ff.), dass schon die Dörfer besondere Vorsteher hatten, freilich nach spätern Zeugnissen, doch in einer Art und Weise, dass ich mehr noch als 1 Wegen seiner Zweifel über die Bedeutung des Worts centeni bei Tacitus (S. 464. n. 75 und S. 465. n. 76) darf ich auf meine deutsche Verfassungsgeschichte S. 33 n. und S. 113. n. 5 verweisen. 2 Das Wort Syssel, vielleicht auch diese ganze Eintheilung, sieht er als später eingeführt an, S. 473. n. 90.

44

Georg Waitz

früher geneigt bin das Vorhandensein derselben auch in ältester Zeit bei den Deutschen anzunehmen. Dagegen wird von den Vorstehern der Hundertschaften und Gaue nur in unbefriedigender Weise gesprochen; es bleibt sogar unentschieden, wer eigentlich unter den principes des Tacitus zu verstehen sei, die Vorsteher der Harden oder die Oberhäupter der Stämme (S. 467). Auch anderswo werden Häuptlinge eines Geschlechts oder einer Gemeinde genannt (Hodinger for en Slagt eller Menigbed, S. 460), ohne dass angegeben wird, was wir uns unter der ersten Bezeichnung zu denken haben. |11| Weiter wendet der Verf. sich zu den Verhältnissen, die wie er sich ausdrückt als eine Modification der demokratischen Verfassung betrachtet werden müssen, und handelt da von der Verschiedenheit der Stände und von der königlichen Macht, ohne dass doch der Gegensatz zwischen der Verfassung ohne Könige und der königlichen Herrschaft bestimmt und deutlich hervorgehoben würde. Dass es einen Adel unter den Germanen in ältester Zeit gegeben, darin stimme ich ganz mit ihm überein, und habe mit Interesse die Ausführung gelesen, wie das was von den Deutschen gilt auch bei den Skandinaviern nachgewiesen werden soll (S. 497 ff.). Sehr wohl wird zwischen principes und nobiles bei Tacitus und andern Schriftstellern unterschieden (S. 488); Molbech findet Savigny’s Erklärung von Germania c. 12, dass aus dem Adel Einzelne ausgewählt werden um Recht zu sprechen, wenigstens zweifelhaft, und hält sich frei von den Irrthümern, die damit zusammenhängen. Er sagt (S. 488), und ich stimme auch damit überein, es sei sehr wahrscheinlich, dass wenn nicht das Recht so doch die Sitte oder andere Umstände es mit sich brachten, dass das Volk bei der Wahl sich vorzüglich an die ausgezeichneten Männer von hohem und adligem Geschlechte hielt. Nur kann ich den Grund der hinzugefügt wird nicht für treffend halten: „besonders da Vermögen und Reichthum, d. h. bedeutender Grundbesitz, fast nur mit dem Adel verbunden war.“ Ich meine vielmehr, dass wenn auch jenes factische Verhältniss sich bei den Wahlen der Gaufürsten zeigen mochte, schon die nicht grosse Zahl der Adelsgeschlechter uns zu der Annahme nöthigen wird, dass bei den Vorstehern der Hundertschaften nicht auf Adel Rücksicht genommen werden konnte, und dass vollends bei den Vorstehern der Dörfer, die doch vielleicht auch unter die principes des Tacitus mitzubegreifen sind, alle auch rein factische Beziehung zum Adel wegfallen musste. – Näher auf die Verschiedenheit unter den Fürsten ist der Verf. aber nicht eingegangen. Ueber ihr Recht ein Gefolge zu halten finden sich die gewöhnlichen Ansichten. Savigny’s Meinung, |12| als sei es ein Standesvorzug des Adels gewesen, findet Beifall, wenn auch nicht unbedingte Annahme (S. 488). Ich verweile noch einen Augenblick bei dem letzten Abschnitt, der von den Königen handelt. Könige findet der Verf. in ältester Zeit bei den Skandinaviern, Sage und Geschichte kennen hier keine andere Form der Regierung – wenn wir uns dieses Ausdrucks hier bedienen dürfen. Wären Erinnerungen anderer Art irgend vorhanden gewesen, wie hätten die freiheitsliebenden Isländer sie nicht begierig auffassen und wiedergeben sollen? Das Königthum scheint hier mit den Anfängen des staatlichen Lebens gegeben zu sein, allein, wie natürlich, trägt es auch selbst den Charakter solchen

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

45

Anfangs an sich; wie der ganze Zustand, so ist auch das Königthum noch unentwickelt, und nur die Keime zu der spätern Ausbildung sind vorhanden. Der Verf. hat gewiss Recht, dass der Begriff des Königthums und der Königsmacht sich schwer genau bestimmen lässt, dass der Name ohne Rücksicht auf die Ausdehnung der Herrschaft gebraucht wurde, bald von dem Herrn eines grössern bald eines kleinern Gebiets. Aber er vergisst nicht hinzuzufügen, dass ein Unterschied zwischen Königen und Jarlen war, auch die mächtigsten Jarle sind doch noch keine Könige, sie konnten die Macht derselben erlangen, nicht leicht die Würde oder den Namen. Nur das bestimmte Geschlecht gab den Anspruch, in den nordischen Reichen die Möglichkeit zum Königthum. Und wir finden doch sehr analoge Verhältnisse auch anderswo. So mächtig auch die majores domus im fränkischen Reiche waren, es fehlte ihnen doch noch unendlich viel um Könige zu sein; der entscheidende Schritt war nicht ohne fremde Hülfe zu thun, die Heiligkeit die ihrem Geschlechte fehlte musste ersetzt werden durch die Sanction welche ihnen die Kirche verlieh. Ueberall finden wir das Princip der Erblichkeit aufs engste mit dem Königthum verbunden. Man bemüht sich wohl dasselbe auch bei der fürstlichen Würde nachzuweisen, und kommt auf diese Weise dahin, den eigentlich charakteristischen Unterschied zwischen beiden aufzuheben, da doch dieser Unterschied jederzeit so entschieden gefühlt, so be|13|stimmt bezeichnet worden ist, dass wir an eine Gleichstellung beider Herrscherwürden durchaus nicht denken können. – Wo eine grössere Vereinigung unter den deutschen Völkerschaften sich bildete, sagt Molbech (S. 510), da machte sich ohne Zweifel auch eine mehr monarchische Verfassungsform geltend, deshalb weil sie dann nothwendig war. Er ist nur mit sich selbst in Widerspruch, wenn er mit Barth und Löbell annimmt, dass bei den Deutschen schon vor Zeiten Königsherrschaft gegolten habe und nur später bei einigen Stämmen abgeschafft worden sei (S. 509), und doch auch wieder das Königthum als einen Fortschritt in der Verfassungsentwicklung der Deutschen ansieht (S. 513). – Wie dieser Schritt geschehen sei, danach fragt der Verf., doch gelangt er zu keiner bestimmten Antwort. Weder die deutsche noch die nordische Geschichte bietet sie dar. Ich hebe zum Schluss noch folgende Bemerkungen aus, mit denen Molbech seinen Aufsatz beschliesst (S 522): Man hat keinen Grund zu behaupten, dass eins von den skandinavischen Reichen sich unmittelbar nach dem Vorbild der alten Welt oder der Angelsachsen, Franken oder irgend eines andern deutschen Volkes gebildet habe. Man findet bei diesen dieselben ursprünglichen Elemente, dieselbe Theilung der Stände – Königthum neben Volksfreiheit – und zwischen beiden die ebenso alte Adelsmacht: das sind die organischen Hauptkräfte, welche die ganze skandinavische Geschichte hindurch gewirkt haben. Ich setze hinzu, nicht die Principien sind jemals umgestossen, verändert, sondern nur ihre Entwicklung ist durch verschiedene äussere Einflüsse mehr oder minder befördert worden. Eine ganz andere Ansicht aber tritt uns entgegen in dem Buche des Herrn Professors von Sybel: Entstehung des deutschen Königthums. Frankfurt a. M. 1844. 8. 268 S. Es ist das gewiss eine der interessanteren Erscheinungen auf dem Gebiete der deutschen Geschichte überhaupt, der Verfassungsgeschichte insbesondere. Eins der wichtigsten

46

Georg Waitz

Verhältnisse, eben dasjenige, auf dem die Fortbildung |14| des germanischen Staatslebens aus den frühern mehr unentwickelten Gestalten zu den späteren festeren Formen beruht, ist hier zum Gegenstand einer umfassenden gelehrten Untersuchung gemacht; es ist versucht, dasselbe in neuer sehr eigenthümlicher Auffassung darzustellen und von diesem Punkt aus auch über andere weitere Gebiete der deutschen geschichtlichen und politischen Entwicklung Licht zu verbreiten. Es kann nicht fehlen, dass die Untersuchungen die hier mitgetheilt sind sich mannigfach mit denen kreuzen, die ich gleichzeitig angestellt und etwas früher öffentlich vorgelegt habe; diese hier umfassen nicht das ganze Gebiet der ältesten deutschen Verfassung, doch berühren sie wenigstens alle wichtigeren Punkte; sie gehen auf der andern Seite allerdings weit über die Periode hinaus, die ich bisher behandelt habe, ja ihre eigentliche Aufgabe ist eben die Darstellung dieser spätern Entwicklung; doch kommt am Ende auf die Auffassung der ältesten Verhältnisse das meiste an, alles spätere beruht darauf und muss, grossentheils wenigstens, mit derselben stehen und fallen. Auf meine Arbeit hat der Verf. keine Rücksicht nehmen können. ln manchen und nicht unwichtigen Punkten treffen die Resultate unserer Forschungen zusammen, in anderen aber sind sie so abweichend, dass es, wenn nicht an aller wahren Erkenntniss auf diesem Gebiete verzweifelt werden soll, einer Entscheidung bedarf wo das Rechte sich findet. Es versteht sich von selbst, dass ich dieser Entscheidung hier in keiner Weise vorzugreifen gedenke; aber auszusprechen, warum ich meine Ansicht nicht aufgeben, die Resultate der Sybel’schen Untersuchung nicht für richtig anerkennen kann, dazu halte ich mich berechtigt, in gewissem Sinne verpflichtet. Die Ansicht des Verfs. ist in der Kürze diese. Der älteste politische Zustand der Deutschen war eine Geschlechtsverfassung, die nur sehr beschränkten Verhältnissen angemessen, keiner lebendigen Weiterentwicklung fähig war. Damit ein Fortschritt in der politischen Entwicklung der Germanen stattfinden konnte, mussten sie in Verbindung mit den Römern kommen; erst dadurch sind sie zu dem Begriff eines |15| wahren Staatslebens gelangt; indem sie Anfangs Verbündete der Römer, Glieder des römischen Staats wurden, dann freilich die Hoheit desselben von sich warfen, aber die Institute desselben beibehielten, entstand ein wahres Königthum, was dem Verf. hier ziemlich gleichbedeutend ist mit dem Begriff eines rechten Staates. Es fand also kein Zusammenhang zwischen dieser späteren Staatsbildung und den ursprünglichen politischen Zuständen der Deutschen statt; jedenfalls nur sehr wenig ist auf den späteren Stufen der Entwicklung von jenen beibehalten worden, die Verbindung ist gewaltsam unterbrochen, und von ganz anderen Grundlagen ist man später ausgegangen. – Ich glaube die Ansicht des Verfs. so bestimmt und scharf bezeichnen zu müssen; er spricht es auch selber aus, wie er sich von der Ansicht Grimm’s von der Continuität der deutschen Zustände habe lossagen müssen; an mehr als einer Stelle hebt er hervor, wie der eigentliche Grund und das Fundament der Verfassung in den späteren deutschen Reichen in römischen und keltischen Elementen gesucht werden müsse, welche die Germanen in den eroberten Ländern vorfanden und

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

47

sich aneigneten. Wenn er sich daher S. 160 und 161 gegen Missverständnisse seiner Ansicht verwahrt und zum Schluss bemerkt, dass weder die germanische Geschlechtsverfassung noch freilich auch das römische Kaiserthum die Quelle des deutschen Staates sei, sondern die Vermischung beider und die Befruchtung der germanischen Natur durch die römische Bildung: so wird man freilich diesen Worten gern seine Zustimmung schenken, aber von den Worten wohl unterscheiden müssen den Sinn, welchen der Verf. damit verbindet. Fragen wir nun wie der Verfasser dies Resultat gewonnen hat, so finden wir, dass er den politischen Zustand der Deutschen in ältester Zeit so beschränkt und kleinlich als möglich darstellt; dass er alle Nachrichten hervorzieht, welche einer solchen Auffassung das Wort zu reden scheinen, zugleich aber die entgegenstehenden Zeugnisse auch der kundigsten Verfasser, nicht grade abweist, aber doch wenig be|16|achtet; dass er die Resultate neuerer Untersuchungen begierig ergreift so weit sie seiner Ansicht entsprechen, dagegen der Forschungen wenig oder gar nicht achtet, welche den Germanen eine ganz andere Stufe der Verfassung vindiciren als er zuzugeben geneigt ist; wir finden weiter, dass er die Kluft zwischen dem spätern Zustand und dem früheren so gross darstellt wie irgend möglich, und uns zu überreden denkt, es sei unmöglich, dass die Deutschen mit eigener Kraft dieselbe überschritten hätten. Er bemüht sich sodann Aehnlichkeiten zwischen den politischen Verhältnissen der spätern germanischen Staaten und denen zu finden, die im Römerreiche bestanden oder möglicher Weise bei den keltischen Völkern bestehen konnten, und wo er sie entdeckt, da ist es ihm gewiss, dass die Deutschen entlehnt, nachgeahmt haben. Mit ihrer alten Verfassung war nicht mehr auszukommen, sie bedurften einer neuen, und nur bei den Besiegten konnten sie sie finden. Ich drücke mich stark aus, vielleicht stärker als der Verf. mir das Recht zugestehen wird; doch muss ich wiederholen, sein Verfahren hat den Eindruck auf mich gemacht den ich angebe; aber ich glaube gern, dass er sich dessen selbst nicht bewusst geworden ist. Um seinen Gedanken durchführen zu können, musste er so zu Werke gehen, und ihm mag wohl als gerechte wohlbegründete Kritik erscheinen, was wir als gewaltsames Durchgreifen, als ungerechtfertigte Willkür bezeichnen müssen. Der Verfasser beruft sich in der Vorrede auf die Ausführungen Löbell’s und Wilda’s und meint, dass er besonders von ihnen angeregt worden sei; offenbar haben aber die Ansichten Palgrave’s, Leo’s und Anderer, die schon seit längerer Zeit, nicht ohne Schein und auch nicht ohne Wahrheit, aber doch in einer gewissen Einseitigkeit, bemüht gewesen sind den Einfluss des römischen und keltischen Elements auf die germanischen Staatsbildungen des 5ten und 6ten Jahrhunderts nachzuweisen, einen viel grössern Einfluss auf seine Auffassung geübt. Was von ihnen angebahnt worden ist, hat Sybel weiter führen, was dort im Einzelnen nachgewie|17|sen worden ist, als Grundlage des ganzen spätern Zustandes aufzeigen wollen. lch glaube, dass schon jene zu weit gegangen sind, und wie es zu geschehen pflegt, einen neuen Gedanken und eine glückliche Entdeckung mit zu grossem Eifer und über das rechte Maass hinaus verfolgt haben, Glöden, wenn er ausschliesslich römisches Recht und römische

48

Georg Waitz

Einrichtungen im ostgothischen Reiche anerkennen will, weniger vielleicht Palgrave, ganz besonders aber Leo, wenn er mit der Leidenschaft die ihm eigen ist, alle auch die eigenthümlichsten Ueberlieferungen des deutschen Volks auf keltischen Ursprung zurückzuführen gedenkt. Fast noch mehr aber ist es bei unserm Verf. der Fall, der das was bisher doch nur in wenigen bestimmten Fällen behauptet worden ist, nun im weitesten Umfang geltend zu machen sucht, der nicht bloss diese und jene Seite des spätern deutschen politischen Lebens oder eine und die andere bisher für deutsch gehaltene Erscheinung, sondern die ganze staatliche Entwicklung der deutschen Nation auf fremde Elemente zurückführen will. Ich kann nicht umhin hier an J. Grimm’s Worte in der Mythologie zu erinnern (Zweite Auflage, Vorrede S. XXIII): „Unsere Gelehrsamkeit, dem Vaterland abspenstig, an Pracht und Ausbildung der Fremde gewohnt, mit auswärtiger Sprache und Wissenschaft beladen, in der heimischen armselig, war bereit die Mythen unserer Vorzeit griechischen und römischen, als höheren, stärkeren, unterzuordnen und die Selbstständigkeit deutscher Poesie und Sage zu verkennen, gleich als dürfe auch in der Grammatik das deutsche ist geleitet werden aus est und έστι, statt die Ansprüche dieser drei Formen völlig gleichzustellen. Jene wunderbare und erfreuende Uebereinkunft fahren lassend, deren Uranfang weit zurückgesucht werden musste, strebte man, so gezwungen es nur angehen wollte, irgend Anlässe jüngerer Entlehnung aufzuspüren, damit der Heimath alle Kraft und Sehne des Hervorbringens abgeschnitten würde.“ Eine Ansicht, die hier überwunden und abgethan ist, beginnt |18| jetzt sich auf dem Gebiete der politischen Geschichte geltend zu machen. Wenn man in Frankreich darnach strebt den Einfluss des Germanischen auf die Entwicklung der romanischen Nationen herabzusetzen und meint, nur schädliche Einflüsse desselben entdecken zu können, so will man jetzt auch auf deutschem Boden die Entwicklungsfähigkeit der germanischen Zustände, die Lebens- und Zeugungskraft des deutschen Wesens in Abrede stellen, und nicht zufrieden jene folgen- und segensreiche Befruchtung durch die Macht des antiken und christlichen Geistes hervorzuheben und wie sich gebührt geltend zu machen, müht man sich nachzuweisen, wie so gar nichts Eigenes das des Nennens werth sei die aus der Heimath fortgezogenen Deutschen bewahrt, wie sie nur geeilt hätten Fremdes sich anzueignen, und wie dann alle weitere Bildung nicht auf das zurückzuführen sei was sie in der Heimath hegten, in sich trugen, sondern was sie draussen fanden und nun zuerst für sich selber, dann auch für die in den alten Wohnsitzen zurückgebliebenen Stämme nutzbar machten. Man stellt die Deutschen den Schwarzen gleich, die jeder eigenthümlichen Entwicklung unfähig erscheinen, und nur in den Formen, mit den Elementen europäischer Civilisation hier und da zur unabhängigen Herrschaft gelangt sind. – Ich denke keinen falschen Patriotismus zu hegen, und durch ihn gegen die Wahrheit mich verblenden zu lassen, wenn ich behaupte, dass die germanischen Staaten auf römischem Boden ein Anderes waren im Verhältniss zur alten Welt, als die Neger- und Mulattenstaaten Amerika’s Europa gegenüber sich darstellen. Die Behauptungen Sybel’s erscheinen mir aber ganz geeignet eine solche Vergleichung zu veranlassen; und Jedem der an dem Gedeihen unserer Wissen-

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

49

schaft Interesse nimmt und zum deutschen Vaterlande Liebe hat, glaube ich, wird es obliegen, solchen Ansichten entgegenzutreten, einem Missbrauch historischer Wahrnehmungen, einem Spiel mit kühn gefassten, zum Theil begründeten, aber jedenfalls nur halb richtigen Gedanken zu wehren, so weit er dazu im Stande ist. Und ganz besonders dann, wenn so tüchtige Kräfte, so reiches Talent, wie es hier |19| der Fall ist, auf solchem Irrwege – ich kann es nun einmal nicht anders nennen – gefunden werden. Ich habe nun jedenfalls die Pflicht auch im Einzelnen nachzuweisen, was ich in entschiedener, vielleicht schroffer Weise ausgesprochen habe. Da kann ich aber doch nicht den ganzen reichen Inhalt des Buchs besprechen und den Verf. auf dem nicht kurzen Wege der Untersuchung Schritt für Schritt begleiten. Es wird das jedoch auch nicht Noth thun, theils weil Vieles sich findet, was mit den Hauptansichten des Verf. nur lose zusammenhängt und wo einzelne Verhältnisse des germanischen Alterthums scharfsinnig und oft sehr glücklich erläutert worden sind, theils auch weil ich auf früher Gegebenes oder bald zu Veröffentlichendes hinweisen kann. Jenes mag ich hier nicht wiederholen, diesem nicht mehr als durchaus nothwendig ist vorgreifen. Der Verf. beginnt damit auszuführen, die älteste Verfassung des deutschen Volks sei eine Geschlechtsverfassung gewesen. Er sagt in der Vorrede, er glaube und wünsche nicht hier etwas Neues gesagt zu haben, und fügt hinzu: „Es sind seltene Fälle, bei einem vielfach durchforschten Gegenstande fast unmögliche, wo ein neu entdecktes Princip auf neu gefundenem Stoffe sich zu einem haltbaren und umfassenden Systeme ausarbeiten lässt.“ Mir ist der Sinn der letzteren Aeusserung nicht ganz deutlich geworden, aber so viel sehe ich, dass die Auffassung des Verfs. eine durchaus neue ist, nur dass er dasjenige was auf andern Gebieten der historisch-politischen Entwicklung als geltend nachzuweisen versucht ist, nun auch in dem deutschen Alterthume wiederzufinden sucht, so neu, dass ich glaube es hätte der genauesten Durchführung, des strengsten Erweises bedurft, um uns zu überzeugen, dass es wirklich so gewesen wie er sagt. Er fährt fort: „Hier ging mein Streben dahin, einen Gesichtspunkt festzustellen, von welchem aus es möglich wäre, zwischen den regellos umherliegenden Bruchstücken deutscher Alterthümer, ohne Schädigung des Vorhandenen, einen gebahnten Weg zu finden.“ Ich stimme bei, dass allerdings von einem geordneten Ganzen, von gebahnten Wegen hier bisher |20| nicht die Rede sein konnte; allein so ganz trümmerhaft scheint mir nun doch auch die Ueberlieferung nicht zu sein, dass man darauf verzichten müsste, das was gewesen in wissenschaftlicher Betrachtung zu reconstruiren, dass man nach weiter nichts zu streben hätte als einen Weg hindurch zu finden – um sich so bald als möglich auf andere, fremde Gebiete zu versetzen. Am wenigsten aber kann ich zugeben, dass der Weg den der Verf. eingeschlagen, zu einer deutlichen Uebersicht über das Vorhandene führt; auch scheint er mir nur zu sehr die vorhandene Ueberlieferung verletzt und geschädigt zu haben. Ich muss endlich auch widersprechen, wenn er weiter die Meinung ausspricht, dass die beste Hülfe in der Vergleichung anderer Urgeschichten zu finden sei. Ich glaube im Gegentheil, dass eine

50

Georg Waitz

solche oft und ganz besonders unsern Verfasser in die Irre geführt hat. Man versuche nur, wie weit man mit dem gelangt, was uns von echter Kunde von den heimischen Zuständen erhalten ist, und wenn man unbefangen und treulich forscht, wird man finden, dass es weit mehr ist als man gedacht hat, dass man auch ohne weitschweifende Vergleichung und kühn wagende Vermuthung Ordnung und Zusammenhang in die wohl auf den ersten Blick regellos scheinenden Verhältnisse zu bringen vermag. Unser Verf. hat, um zur Einsicht in die ältesten deutschen Zustände zu gelangen, nicht die Germania des Tacitus, sondern die zusammenhangslosen und abgerissenen Nachrichten des Cäsar zum Ausgangspunkt gewählt. Sie betreffen eine Zeit die 150 Jahre früher ist als jene die Tacitus schildert, sie sind geschrieben als man in Rom die erste Kunde von den Deutschen erhielt, zum ersten Mal mit ihnen in feindliche Berührung kam, während Tacitus seine inhaltsreiche Schrift verfasste, als über ein Jahrhundert lang der mannigfachste feindliche und friedliche Verkehr zwischen den beiden Völkern stattgefunden hatte. Auch ein Fortschritt in der Entwicklung der Deutschen wird sich in einer so langen Zeit nicht in Abrede stellen lassen, und es ist wohl möglich, dass uns Cäsar noch ältere Verhältnisse als Tacitus erkennen lässt, |21| es ist kaum zu bezweifeln, dass er Manches bei den in Gallien und am Rhein in kriegerischer Bewegung befindlichen Stämmen anders fand, als es jener bei den sesshaften, in Vertheidigung ihres Grundes und Bodens tapfer ausharrenden Völkern wahrnahm. Auf solche Unterschiede haben wir hinzuweisen, aber wir haben nicht den späteren, besser beglaubigten Bericht dem ältern nur halb verbürgten nachzustellen, nicht jenen aus diesem zu deuten, sondern eher umgekehrt wo es geht das Missverständniss des einen aus den genaueren Angaben des andern zu berichtigen. – Was Sybel gleich zu Anfang sagt, um Cäsar’s Nachrichten einen höhern Werth zuzutheilen, ist haltungslos und durch nichts zu rechtfertigen, seine Behauptung, die Nachrichten desselben über den Ackerbau der Deutschen müssten zum Ausgang aller Untersuchung gemacht werden, jedenfalls sehr gewagt. Ich finde in der Ausführung die hier gegeben wird nichts was mich von der Ansicht abbringen könnte, die ich S. 23–25 ausgesprochen habe. Dass Cäsar nicht bloss mit den Sueven, auch mit den vor ihnen fliehenden Usipiern verkehrt hat, kann doch nicht zum Beweise dienen, dass er die Verhältnisse aller Germanen in den heimathlichen Sitzen gekannt und getreu geschildert habe. Ich habe mich ebenso, wie Sybel S. 6 es thut, gegen die Unterscheidung zwischen Sueven und Nichtsueven erklärt, wie sie einigen Forschern der neuern Zeit gefallen hat; aber ich meine, dass wir deshalb noch nicht berechtigt sind, das was von den Sueven zu einer Zeit da sie in unruhiger Bewegung, in gewaltsamem Vordringen gegen Südwesten sich befanden, ausgesagt wird, für das regelmässig bei allen Deutschen damals und noch später lange Zeit hindurch Geltende zu halten, sondern dass wir im Gegentheil die Zeiten friedlicher Ansiedelung auch bei diesen Stämmen von den Verhältnissen welche Cäsar schildert, unterscheiden sollen; ich glaube dann hinreichend dargethan zu haben, dass des Tacitus Nachrichten nichts mit denen des Cäsar gemein

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

51

haben, dass man ihnen in keiner Weise, weder nach der einen noch nach der andern Seite hin, Gewalt anzuthun, sondern sie nur scharf und genau aufzufassen hat, |22| und dass dann ein ganz anderes Bild uns entgegentritt als das, welches Sybel entworfen hat. Nach ihm sollte man denken, dass Tacitus nur den Cäsar in Allem bestätige, ihn vielleicht nur ausgeschrieben habe. – Er beruft sich dann auch auf die neuern Untersuchungen über die Agrarverhältnisse des Nordens, namentlich auf den Aufsatz Hanssen’s (S. 9), und meint hier eine Bestätigung seiner Ansicht zu finden. Allein ich muss glauben, dass er dieselben völlig missverstanden hat. Wohl sagt er mit Recht, dass die Feldgemeinschaft, von der jener handelt, nichts mit nomadischer Weise zu thun hat; allein ich muss hinzusetzen, sie hat auch mit den Nachrichten des Cäsar, wenigstens mit der Auffassung Sybel’s3 nichts gemein, und ebenso wenig steht sie mit der Geschlechtsverfassung in irgend welcher Verbindung, so dass wir berechtigt wären, aus dem Vorkommen der einen auf die andere zu schliessen. Jene Feldgemeinschaft, auch in ihrer strengsten, nicht als allgemein nachweisbaren Form, hat sich vertragen und verträgt sich wo sie besteht noch jetzt mit jeder Art der politischen Verfassung, vielleicht die der neuesten Zeit allein ausgenommen; sie ist kein Beweis von dem mangelhaften Zustande des Ackerbaus im Allgemeinen, sondern setzt wenigstens eine Regelmässigkeit in den Verhältnissen des Grundbesitzes und Ackerbaus voraus. Wenn wir die Nachrichten der Alten von dem Ackerbau der Deutschen mit der Feldgemeinschaft vergleichen und aus ihr erklären, so muss uns grade deutlich werden, dass wir dieselben nicht gebrauchen oder vielmehr nicht missbrauchen dürfen, um die Stufe ihrer politischen und culturhistorischen Entwicklung als eine so niedrige zu bezeichnen. Es muss wenigstens aus der Vergleichung der nordischen und ähnlicher deutscher Verhältnisse deutlich werden, dass ein solcher Wechsel der Aecker |23| nicht auch ein Wechsel der Wohnsitze (S. 7) ist, dass die ganze Einrichtung gar nicht ohne eine weitere Ordnung der grundbesitzlichen Verhältnisse, ohne eine Dorfverfassung möglich ist. Dass der Verf. das Wesen der Sache nicht richtig aufgefasst hat, erhellt auch daraus, dass er nahe daran ist die Möglichkeit eines Erbrechts an Grund und Boden von dem Besitz eines Sondereigens, also dem Aufheben der Feldgemeinschaft, abhängig zu machen. Er giebt freilich am Ende zu, dass es denkbar sei, dass das Nutzungsrecht an der Quote Gegenstand der Succession habe werden können. Es ist das aber nicht bloss denkbar, sondern immer so gewesen, mochte nun der Antheil des Einzelnen ein für allemal bestimmt oder wirklich jährlich neu angewiesen werden. Dass dies letztere häufig nicht geschehen, der gesetzliche Wechsel nicht stattgefunden, wird hier angenommen; es lässt sich aber überhaupt nicht darthun, dass die Feldgemeinschaft ursprünglich überall eine solche Bedeutung 3 Er selbst sagt auch nur S. 9, es sei derselbe Zustand wie in der Taciteischen Zeit; ganz richtig, wenn man eben diesen von der Schilderung des Cäsar unterscheidet, was Sybel eben nicht thut. Denn dass er den Wechsel bei Tacitus für einen bloss facultativen, wie er sich ausdrückt (S. 8), bei Cäsar für einen wirklichen hält, möchte der Wahrheit am wenigsten entsprechen.

52

Georg Waitz

gehabt hat. Ein sorgfältiges Studium der Abhandlungen Olufsen’s und Hanssen’s würde den Verf. gewiss vor manchen Missgriffen bewahrt haben; ich wage zu hoffen, dass ihn meine Darstellung oder die ausführlichere Molbech’s selbst davon überzeugen werde. Schon aus dem Angeführten wird erhellen, wie wenig die Ausführung des Verfs. der Art ist, dass sie uns nöthigte die Ansicht von einer Ortsverfassung bei den Deutschen in ältester Zeit fahren zu lassen; die Zeugnisse die dafür sprechen werden nicht berücksichtigt, also auch nicht widerlegt. Es wird nur noch bemerkt, wie die gewöhnliche Auffassung der grossen Wanderung deutscher Stämme eine irrige sei, das Gefolgewesen nicht als Erklärungsgrund derselben hingestellt werden könne. Ich stimme damit ganz überein, und freue mich, dass auch der Verf. entschieden und lebhaft diese Ansicht bekämpft; aber ich sehe nicht recht, wie es zunächst mit dem zusammenhängt was hier gegeben werden soll. Sybel meint wohl, eine Ortsverfassung angenommen und die gewöhnliche Ansicht vom Gefolgewesen aufgegeben, lasse sich die Wanderung nicht erklären. Ich denke aber, dass er darin Unrecht hat. |24| Halten wir uns aber zunächst an dasjenige was nach dem Verf. bei den deutschen Völkern wirklich bestand: es ist, sagt er, eine Verfassung nach Geschlechtern. Die Geschlechtsverbindung ist nicht allein das Princip des rechtlichen und politischen Lebens, sie ist überhaupt das einzig Bestehende; es giebt nichts Anderes, nichts Höheres als sie. Angeführt werden die Stellen, wo Cäsar und Tacitus der Verwandtschaft und der Geschlechter gedenken; es wird behauptet, vorausgesetzt, es sei da nicht blosse Verwandtschaft, sondern Gentilität in dem besonders seit Niebuhr festgestellten Sinne des Worts gemeint. Diese Sache zunächst ist nicht leicht zur Entscheidung zu bringen; man wird das Eine und das Andere annehmen können, nur dass Gründe sind die uns zu der letztern Annahme nöthigten, muss ich entschieden in Abrede stellen. Ich habe mich überhaupt gegen das Vorhandensein von gentes, verschieden von eigentlichen Familienverbindungen, bei den Deutschen ausgesprochen (S. 220 ff.), und ich muss sagen, dass mich die entgegenstehenden Behauptungen Sybel’s, die nirgends zu Beweisen werden, eines andern nicht überzeugt haben. Die Wahrheit vieler allgemeiner Bemerkungen räume ich bereitwillig ein, aber ich bestreite ihre Anwendbarkeit auf deutschen Boden, und ich sehe nicht was mich davon abbringen könnte. – Denn alles was der Verf. im Einzelnen vorführt, lässt sich mit Fug und gutem Grund auf die wahre und natürliche Familie beziehen, oder es gehört späteren Zeiten an und zeigt sich als künstliche Nachbildung der ursprünglichen, im Untergang begriffenen Zustände, wie die angelsächsischen Verhältnisse, von denen S. 20 ff. die Rede ist, und die der Verf. selbst nur als Ersatz der Gentilität ansieht, ich sage als Ersatz der blutsverwandtschaftlichen Verbindung; oder endlich es erweist nicht das Dasein der Gentilität, sondern setzt dieselbe voraus, und erklärt dann durch diese Voraussetzung einige weniger deutliche Nachrichten. Gewiss zeigt sich hier der Scharfsinn und die Gelehrsamkeit des Verfs. an mehr als einer Stelle. Aber kann auf solche Weise eine so wichtige Sache zur Entscheidung gebracht werden? Man wird erwidern, ein weiterer Be|25|weis sei in keinem Falle denkbar, und es müsse genügen, dass alle oder doch die

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

53

meisten Erscheinungen auf diese Weise erklärt werden. Allein ich kann auch dies nicht zugeben. Nur wenn das Vorhandensein der Gentilität nachgewiesen wäre, könnte man sich entschliessen die sui in einer Stelle der Lex Salica emendata hierauf zu beziehen. Und auch dann noch würde ich grosses Bedenken tragen, die vicini in einigen unserer Quellen ebenso zu erklären. Grade auf dieses Wort ist von den entschiedensten Anhängern der Ortsverfassung das grösste und wie ich glaube viel zu grosses Gewicht gelegt worden; man wird aber nun doch dem Verf. nicht das Recht zugestehen können, ohne Weiteres aus den Angaben des Cäsar von der Vertheilung des Landes an Geschlechter zu folgern, dass immer die Gentilen sich zusammen angesiedelt hätten, und dass noch 5 Jahrhunderte später, wenn von den Nachbarn die Rede ist, an jene gedacht werden müsse. – Der Verf. aber, obschon er selbst zugesteht, dass das Dasein der Geschlechtsverbände nur errathen werden könne (S. 31), ist doch so überzeugt von der Wahrheit der Sache, dass er kein Bedenken trägt, im Wesentlichen alles was über die Bedeutung der Hundertschaften in neuester Zeit festgestellt worden ist zu acceptiren, zugleich aber die Gentilität als das auch hier zu Grunde Liegende, oder doch als in voller Bedeutung Fortbestehende zu behaupten. Der Verf. bestreitet die gewönliche Ansicht von der Gesammtbürgschaft nicht weniger als ich es gethan habe, wenngleich, wie mir wenigstens scheint, nicht mit ganz ausreichenden Gründen;4 aber er giebt ihr doch auch wieder Raum, und indem er nun die Verpflichtung auf gentes überträgt, diese gentes aber mit den Dörfern (vicis) zusammenfallen und die Hundertschaften eben aus ihnen zusammengesetzt sein sollen, |26| ruft er doch die erst bestrittene Ansicht, nur in etwas anderen Beziehungen, wieder ins Leben. Die ganze Behandlung dieses Gegenstandes gehört zu dem Unbefriedigendsten was sich in dem Buche findet; es fehlt dem Verf. der rechte Boden, die klare Einsicht in die Verhältnisse von denen er spricht, und er müht sich ab mit allgemeinen Bemerkungen und Betrachtungen ins Reine zu kommen, die historischen Verhältnisse mit seiner Hypothese in Einklang zu bringen. Es drängt hier eine Vermuthung die andere, und so oft der Verf. auch meint ein Resultat aus dem Bisherigen ziehen, ein bestimmtes Bild der allgemeinen Entwicklung hinstellen zu können, so ist es doch nur eine Wiederholung dessen, was von Anfang an vermuthet und errathen worden ist. Und selbst wenn der Verf. Recht hätte in allem was er ausführt, so bezöge es sich doch einzig und allein auf privatrechtliche Verhältnisse, mit den politischen Ordnungen des Volks hat es so gut wie gar nichts zu schaffen. Es ist sehr möglich, ja wahrscheinlich, dass die Ansiedelung der Deutschen nach Geschlechtern, ich meine nach natürlichen Geschlechtern, stattgefunden hat (vgl. Molbech S. 387. 432 ff.), es ist gewiss, dass das Princip der Verwandtschaft noch lange bedeutende Geltung hatte; aber es beherrschte nicht die ganze Entwicklung, und die geschlechtliche Verbindung ist in 4 Seine Ansicht, die teothungs der Gilden, die allgemeinen Bürgschaftsordnungen und die Bestimmungen über die fridborg in den Gesetzen Edwards Confessor fielen zusammen, wird er kaum jetzt noch festhalten wollen! Allerdings geht dasselbe Princip hindurch, allein es zeigt sich in sehr verschiedenartiger Anwendung und stufenweiser Ausbildung in dem einen und andern.

54

Georg Waitz

jedem Fall der Örtlichen sehr bald gewichen, in diese auf- und untergegangen. Aber wir könnten dem Verf. auch noch mehr zugeben. Die Vertheilung des Grundbesitzes nach Geschlechtern, selbst der Wechsel desselben in bestimmter Ordnung und Reihenfolge, die Verpflichtung des ganzen Geschlechts (einer gens im Sinne des Verfs.) wäre denkbar, ohne dass daraus das Mindeste für die politische Ordnung der Gemeinden folgte. Allerdings hingen privatrechtliche Verhältnisse und öffentliche in jener Zeit enger zusammen als es später bei ausgebildeterer staatlicher Entwicklung der Fall ist, aber sie sind nicht identisch; jene Verhältnisse sind, wie die Geschichte es erweist, mit ganz andern politischen Formen als der Verf. sie annimmt, verträglich. Es ist mehr als zweifelhaft, dass sie bestanden haben; es ist aber die kühnste An|27|nahme die sich denken lässt, dass sie das allein Bestehende waren, dass sie alle, auch die rein politischen Zustände beherrschten, dass sie, wie der Verf. es glauben machen will, jede weitere und höhere politische Entwicklung aufgehalten und gehindert hätten. Diese Einrede möchte vielleicht als eine ungerechte bezeichnet werden, da in dem zweiten Abschnitte unter der Ueberschrift: „die Herrschaft der Aeltesten“ auch die politische Verfassung dieser ältesten Zeit, wo die Gentilität herrschend gewesen sein soll, geschildert werde. Allein diese Schilderung stützt sich eben auf die Voraussetzung die ich oben bezeichnete, sie stützt sich sodann auf ein Wort, auf das Wort ealdor oder der Aelteste, mit dem in angelsächsischen und hier und da ähnlich auch in andern Quellen der Inhaber einer obrigkeitlichen oder herrschaftlichen Gewalt verschiedenen Umfangs und Inhalts bezeichnet wird. Es ist ein Mangel meiner Arbeit, dass ich die Bedeutung des Ausdrucks ealdorman nirgends erläutert habe; ich glaube, dass es die deutsche Bezeichnung für denjenigen war, den Tacitus princeps nennt, wenigstens bei den sächsischen Stämmen, und dass das Wort sich deshalb später in verschiedener Anwendung bei den Völkern die diesen angehören erhalten hat;5 allein ich meine auch, dass seine Bedeutung eben keine andere war als die, welche wir dem Worte princeps bei Tacitus beilegen müssen, dass das deutsche Wort allerdings auf eine Zeit zurückweist, wo die Familienverhältnisse Vorbild, um nicht zu sagen Grundlage der politischen Vereinigungen waren, dass wir aber in keiner Weise berechtigt sind, aus der spätern Anwendung des Ausdrucks auf ein Fortbestehen weder der reinen Familienverhältnisse, noch einer künstlichen Gentilverfassung zu schliessen, dass wir überhaupt bei der Frage nach der Bedeutung und Stellung des princeps oder Aldermanns von dem Wortsinne absehen und uns an bestimmte historische Zeugnisse halten müssen. |28| Auch der Verf. beginnt mit ihnen und zwar wieder mit den Nachrichten des Cäsar. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn er sie nur nicht etwas gewaltsam behandelte, wenn er nicht die genaueren und späteren Angaben des Tacitus zurücksetzte. Ob die magistratus bei Cäsar die Herzoge bedeuten oder mehr eine unbestimmte Bezeichnung

5 Im Norden bezeichnet Olderman den Dorfvorsteher; Molbech S. 470 n. 85.

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

55

der vorhandenen obrigkeitlichen Personen sind, will ich dahin gestellt sein lassen, obschon das Wort selbst gewiss für die letzte Erklärung spricht; ebenso kann man wohl zweifeln, ob die principes regionum et pagorum identisch sind mit denen qui jura per pagos et vicos reddunt, am wenigsten aber kann man zustimmen, wenn Sybel die regio und ebenso den vicus für den Bezirk eines Geschlechts hält, und keiner glaube ich wird ihm zugeben, dass durch diese Interpretation das Vorhandensein von Geschlechtsvorstehern erwiesen sei. Dass regio als Uebersetzung des deutschen Gau in den Glossen gebraucht wird, habe ich S. 111. n. 5 bemerkt; ich habe ebendort vermuthet, dass dem Tacitus, als er jene Stelle schrieb, die Worte des Cäsar in Erinnerung gewesen seien, ich glaube aber freilich nicht, dass man auf solche Weise den einen aus dem andern erklären, oder vielmehr in beide Stellen etwas ganz Fremdartiges hineininterpretiren dürfe. Der Gang des Verfs. ist folgender: Die vicini in einer Stelle der Lex Salica können Gentilen sein, vicini ist also identisch mit gens, Geschlecht, auch bei Tacitus ist das Wort so zu verstehen (obschon Tacitus sagt: vicos locant, und überall aufs deutlichste den räumlichen Begriff eines Dorfs andeutet6), Tacitus spricht von principes qui jura reddunt per pagos vicosque, also giebt es Vorsteher der Geschlechter und diese versteht Cäsar unter den principes regionum. Kann man kühner zu Werke gehen? heisst das aus dem Cäsar bestimmte Thatsachen entnehmen? – So scheint der Verf. aber die Sache zu betrachten, da er fortfährt, die Nachrichten des Tacitus ständen mit diesem Ergebniss nicht in Widerspruch; Cäsar’s Ansicht (d. h. Sybel’s Ansicht) werde freilich nicht durch neue Beweise verstärkt, aber auch nicht |29| widerlegt; wir seien vollkommen befugt, auch in der Germania das Collegium der principes für die Versammlung der Gauvorsteher und Geschlechtsbeamten zu halten (S. 50. 51). Ich weiss gegen eine solche Ausführung nichts zu sagen als was oft gesagt ist, dass auf solche Weise Alles bewiesen werden kann, und dass alle historische Forschung ihren Werth verliert, wenn sie in solcher Weise nur bemüht ist, vorgefassten Ansichten scheinbare Stützen zu verschaffen. Alles was der Verf. dann in allgemeiner Betrachtung geistreich und hübsch über die ältesten Zustände der Deutschen hinzufügt, hängt in der That nur sehr lose mit dieser Geschlechtsverfassung zusammen; ich sehe nicht was uns hindern könnte auch von einem ganz andern Standpunkte aus im Wesentlichen dem hier Gesagten beizutreten. Auch der Verf. opponirt den Rogge’schen Ansichten, auch er findet den Begriff des Staats doch viel weiter ausgebildet als es von Andern angenommen worden ist; auch er erkennt jetzt Verhältnisse an, die mit der Geschlechtsverfassung in gar keinem Zusammenhang stehen. Wo der Verf. aber aufs Einzelne eingeht, übt jene vorgefasste Ansicht doch ihren Einfluss in hohem Maasse aus; er ist eben durch sie gehindert das Wahre zu erkennen und herauszustellen. Zunächst sucht er die principes als Richter von den Vorstehern der Hundertschaft und der Gemeinde zu unterscheiden – gegen alle Analogie und gegen alle

6 Sybel wird sagen: das Dorf sei eben der Wohnsitz einer gens.

56

Georg Waitz

Zeugnisse. Es geschieht auch bloss um „das Bild des Ealdordomes, wie wir es aus allgemeinen Grundsätzen und des Cäsar’s Nachrichten bis hierhin gewonnen“, nicht modificiren zu müssen (S. 73). Nur die allgemeinen Grundsätze können nach dem was ich angeführt habe in Betracht kommen; ich für meine Person aber muss diesen alle Bedeutung auf dem Gebiete einer solchen Forschung absprechen. Die Untersuchung, die den princeps als Richter mit dem Asega der Friesen zusammenstellt und ihn als Urtheilsfinder im Gegensatz gegen die den Bann habende Volksgemeinde auffasst, muss gewiss als scharfsinnig anerkannt werden; aber sie überzeugt doch am Ende nicht, |30| und was die Hauptsache ist, sie trägt für die Frage im Allgemeinen wenig aus. Denn eine Verschiedenheit dieser Richter von den Vorstehern der Hundertschaften lässt sich doch nicht darthun; grade der Bericht des Tacitus weist sehr bestimmt auf jene hin; und hat sich später eine solche besondere an dem Urtheil theilnehmende Behörde gebildet, wie sie sich in dem judex bei den Alamannen und Baiern zeigt, so gewährt uns dies doch über die Verhältnisse des princeps in ältester Zeit keinerlei Aufschluss. Auch der Verf. sieht es als eine wesentliche Aenderung der reinen Geschlechtsverfassung an; eigentlich gegen seine eigene Behauptung, dass diese Geschlechtsverfassung keiner weitern Entwicklung fähig gewesen sei; er setzt dieselbe in die Zeit zwischen Caesar und Tacitus; allein ich wiederhole, der Bericht des letztern giebt uns nirgends Anlass eine solche Unterscheidung anzunehmen, und alles was der Verf. aus Cäsar gewonnen, hat er eben nur mit Hülfe des Tacitus gefunden. – Der Verf. wünscht sich der Nachrichten über die Wählbarkeit der principes entledigen zu können. Eine solche Geschlechtsverfassung fordert Erblichkeit der Würde, und eigentümlich genug wird diese hier ausgemalt: „Das Ealdordom des Geschlechts war geknüpft an eine bestimmte Familie, welche aus ihren Mitgliedern den Würdigsten erkieste: derselbe Hergang fand dann auf der höhern Stufe statt, indem ein bestimmtes Geschlecht vorzugsweise befugt war, der Hundertschaft den Aeltesten zu geben“ (S. 81). Es wird hinzugefügt: „Dass dieser Grundsatz rein und vollständig nirgends in germanischer Geschichte ausgesprochen wird, brauche ich kaum zu erwähnen.“ Wir dürfen statt dessen sagen: dass es von einer solchen Ernennung eines Vorstehers oder Fürsten in der deutschen Geschichte keine Spur giebt, ist bekannt genug und jede Widerlegung solcher Ansicht als blosser Zeitverlust zu betrachten. – Es liegt aber hierin zugleich der Grund zu weiterem Irrthum, wie ich meine. Denn indem der Verf. wenigstens eine, wenn auch sehr eigenthümliche, Erblichkeit für die Würde des princeps behauptet, verwischt sich ihm der Unterschied zwischen dem princeps |31| und dem König, und die Untersuchung geräth dann in eine Unsicherheit und Unklarheit wie an keiner andern Stelle des Buchs. Sie ist über die principes und nobiles bei Tacitus durchaus nicht ins Reine gekommen, und die Vernachlässigung dieses Autors rächt sich hier ganz besonders. Ich scheue mich nicht auf das zu verweisen, was ich über diesen Gegenstand gesagt habe, und finde es nicht nöthig, der Ausführung des Verfs., die da meint die Identität der nobiles und principes, wenn auch in etwas anderer Weise als gewöhnlich, zu sichern, eine ausführliche

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

57

Erörterung entgegen zu stellen. Der Begriff des Adels verflüchtigt sich ihm zu einer blossen Geschlechtsgenossenschaft, und die wunderlichsten Ansichten treten uns nun (S. 89 ff.) mit fast naiver Unbefangenheit entgegen. Es giebt nach meiner Meinung keinen schlagendern Beweis von der Unrichtigkeit des Grundgedankens, von dem der Verf. ausgeht, als die Consequenzen zu denen er durch denselben geführt wird, die mit aller geschichtlichen Ueberlieferung, ja mit aller Geschichte, wir mögen blicken wohin wir wollen, in Widerspruch stehen. Allen Grund aber haben wir näher auf die Ansichten des Verfs. einzugehen, wo er sich zu den Verhältnissen des Königthums wendet. Er sucht nun nachzuweisen, auch die principes, jene Aeltesten, hätten Könige heissen können, und die Könige die in ältester Zeit vorkämen seien eben nichts als solche principes gewesen. Man kann diesen Behauptungen wenigstens theilweise zustimmen ohne die Resultate daraus zu ziehen, die der Verf. gewinnt. Dass in den Berichten der Alten von deutschen Fürsten mitunter der Königstitel gebraucht wird, wo nur principes gemeint sind, lässt sich nicht in Abrede stellen. Dehnt der Verf. diesen Grundsatz auch etwas weiter aus als ich grade verantworten möchte, so schadet das der Sache wenig; es hat ihm Anlass gegeben die älteste deutsche, besonders die fränkische und gothische Geschichte einer scharfen aber lehrreichen Kritik zu unterwerfen, wofür wir ihm, auch ohne die Resultate völlig zu acceptiren, nur dankbar sein können. Wenn er aber nun auf diese Weise allen Unterschied zwischen dem Principat |32| und dem Königthum das sich hier findet aufzuheben gedenkt, so kann man freilich nicht zustimmen; auch sieht er sich selbst genöthigt Ausnahmen zuzulassen, in einzelnen Fällen ein wahres Volkskönigthum, wie er sagt, unter den alten Deutschen einzuräumen; und der Streit ist am Ende nur der, ob im einzelnen bestimmten Fall ein solches anzunehmen ist oder nicht, ob also einige Beispiele mehr oder weniger sich finden; was für die Feststellung des Princips doch ganz gleichgültig ist. Das Wesentliche ist: die Deutschen kannten auch in ältester Zeit ein Königthum. Freilich lässt der Verf. nun auch dies Volkskönigthum wieder im Wesentlichen mit dem Principat zusammenfallen. Allein dagegen muss ich den lebhaftesten Widerspruch erheben. Der Unterschied ist dem Tacitus völlig deutlich, er hebt ihn bestimmt hervor, und der Verf. selbst kann nicht umhin diese Stelle in ihrer Bedeutung anzuerkennen (S. 116); des Unterschiedes waren auch die verschiedenen deutschen Stämme sich jederzeit wohl bewusst, wie ich es bereits früher ausgeführt habe. Hier und da in den Nachrichten römischer Schriftsteller kann eine Verwechselung der Ausdrücke und auch der Begriffe vorgekommen sein; in der That aber bestand ein wahrer und lebendiger Unterschied zwischen Königthum und Fürstenthum, und es ist unsere Aufgabe nicht denselben künstlich zu verhüllen, sondern ihn herauszustellen so weit es möglich ist. Die grosse Verschiedenheit, dass das Königthum einem Geschlecht zustand, auf den Elementen der Erblichkeit beruhte, hat der Verf. verkannt und schon dadurch den rechten Standpunkt zur Auffassung der Sache verloren. Was sich weiter allerdings mehr vermuthen als mit voller Sicherheit ermitteln lässt, entgeht ihm deshalb, weil er allen Zusammenhang zwischen diesem ältern Volkskönigthum und der späteren Königsherrschaft läugnet. Allein hier geräth er wieder in die willkühr-

58

Georg Waitz

lichsten Annahmen und Distinctionen. Ein Volkskönigthum und Heerkönigthum (oder dauerndes Herzogthum), ein legitimes und nicht legitimes, werden unterschieden und allen das spätere Königthum der Deutschen entgegengesetzt. Das sogenannte Volkskönigthum entsteht ihm dadurch, dass eine |33| Hundertschaft mit ihrem Führer sich an die Spitze anderer stellte; das herrschende Geschlecht betrachtet er gewissermaassen als ein Volk für sich, das andere Völker sich unterworfen hat und nun aus seiner Mitte den König setzt. Der Beweis soll darin liegen, dass der Name Asdingi nicht bloss das Königsgeschlecht der Vandalen, auch einen Theil dieses Stammes selbst bezeichnet; was ausserdem aus der langobardischen und fränkischen Geschichte angeführt wird, ist ganz unerheblich; jenes aber erklärt sich einfach daraus, dass nicht selten der Name des herrschenden Geschlechts zur Bezeichnung des Volkes dient, zum Volksnamen wird, wie die zum Theil schon früher auch vom Verf. angeführten Beispiele besonders in der angelsächsischen Poesie vorliegen. Der Verf. verirrt sich, nur durch die unglückliche Consequenz seiner Grundansicht getrieben, zu so wunderlichen Behauptungen, wie sie S. 134 sich finden: in diesem Volkskönigthum haben erst die Mitglieder der gens, dann die der Centene, zu der der König gehörte, Anspruch auf die Nachfolge; denn die Centene, aus der der König hervorgegangen, müsse den nächsten Bezug zu dem Adel des Volks haben (beim Verf. heisst es: „zum allgemeinen Ahnherrn und damit zu dem adal des Volkes überhaupt haben“), d. h. doch wohl bilde einen Adel, dem dann aber freilich alle weiteren Vorrechte abgesprochen werden. Es ist unmöglich mit dem Verf. über solche Behauptungen zu streiten, da sie jederzeit völlig in der Luft schweben und die oft so treffliche Kritik der thatsächlichen Verhältnisse doch wahrlich nie zu solchen Resultaten führt. Das ganze Verfahren des Verfs. ist der Art, dass er nicht seine Ansicht den historischen Zeugnissen und Thatsachen entnimmt, sondern sich nur negativ gegen diese verhält und nachzuweisen sucht, dass sie nicht in Widerspruch mit seinen Ansichten stehen, welche selbst nicht auf einzelnen Beobachtungen und Wahrnehmungen beruhen, sondern von aussenher hinzugebracht werden. Auch tritt der Widerspruch doch aller Orten hervor, und der Verf. weiss ihn nicht anders los zu werden als dadurch, dass er ihn unter die Rubrik der exceptio|34|nellen Zustände bringt, und ausserdem die Berücksichtigung der skandinavischen Verhältnisse bei jeder Gelegenheit von der Hand weist, da doch diese allein schon ihn von der Unrichtigkeit seiner ganzen Auffassung hätte überzeugen müssen. Wie viel einfacher und naturgemässer, darf ich sagen, stellt sich die Sache, wenn wir, die grosse Mannigfaltigkeit in den deutschen Zuständen schon der ältesten Zeit beachtend, eine allmählige und verschiedenartige Umbildung der Verfassung annehmen, wenn wir die Entstehung des Königthums wie als einen Grund so auch als ein Zeichen dieser Veränderung betrachten, wenn wir dann untersuchen, so weit es die Quellen verstatten und wozu die schönsten Beiträge in dieser Arbeit Sybel’s sich finden, was Alles darauf Einfluss geübt und wie weit dieselbe in jedem einzelnen Falle stattgefunden hat. Ich glaube man wird dann anerkennen müssen, dass bei einzelnen deutschen Stämmen schon in sehr früher Zeit eine Abweichung

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

59

von der rein demokratischen Verfassung sich zeigt, dadurch dass aus Einem Geschlecht der Herrscher über den ganzen Stamm oder über einen Theil des Stammes hervorgeht, womit die freie Wahl eines princeps, in der höchsten Bedeutung des Worts, ein Ende hat; dass allerdings auch eine solche Herrschaft wieder Unterbrechungen erleidet, namentlich dann wenn ein Volk aus den bisherigen ruhigen Verhältnissen herausgeführt wird, sich auf der Wanderung gewissermaassen auflöst und in seine Theile zersetzt; dass auf der andern Seite aber auch sehr oft eine solche Wanderung, das Verlassen der alten Sitze und Lebensverhältnisse, den Anlass zu der Einführung königlicher Herrschaft gegeben hat. Die Bedeutung des Königthums in ältester Zeit lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit angeben, wir mögen es wohl dem heroischen Königthum vergleichen, das sich im Anbeginn der griechischen Geschichte und auch bei andern Völkern findet; Bedeutung und Macht desselben sind auch keineswegs immer dieselben, sondern die Persönlichkeit des Herrschers und die besondern historischen Verhältnisse, in denen sein Volk und er selber stehen, üben darauf den wesentlichsten Einfluss aus. Im Laufe der Zeit aber |35| steigern und heben sich Ansehen und Macht des Königthums, und die Umstände die darauf einwirken lassen sich mit ziemlicher Bestimmtheit erkennen und angeben. Hier ist es wo die Eroberungen der Deutschen im römischen Reiche und in andern europäischen Ländern in Betracht kommen; hier wird auch der Einfluss den das Vorbild des römischen Staats auf die Entwicklung der deutschen Verfassung ausübte zu würdigen sein. Aber aufs entschiedenste muss ich mich nun dagegen erklären, wenn der Verf. diesen Einfluss für so bedeutend ansieht, dass er fast die ganze spätere Entwicklung davon abhängig macht, wenn er wiederholt, und offenbar in Widerspruch mit manchem was er vorher selbst ausgeführt hat, die Behauptung aufstellt, die deutsche Verfassung, die er sich noch immer als Geschlechtsverfassung denkt, sei keiner rechten Weiterbildung fähig gewesen, die Elemente zu einer neuen Ordnung der Dinge, zu einer neuen und wahren Staatsbildung hätten von aussen hergeholt werden müssen. Die Entwicklung stand allerdings ganz unter dem Einfluss der römischen Elemente die von den meisten deutschen Staaten aufgenommen wurden, aber sie beruhte keineswegs ganz oder auch nur vorzugsweise auf denselben. Eine wahre Bemerkung findet sich S. 160, es müsse wohl beachtet werden, dass die Gründung der neuen Staaten von kräftigen Individuen ausgegangen sei. Gewiss das Auftreten grosser Persönlichkeiten ist hier von der grössten Bedeutung; aus ihrem Wirken, ihrem Erobern, erklärt sich Vieles in der folgenden Geschichte; auf der Person des Königs beruhte die Macht, die Freiheit der Reiche, wie sie nun seit der Völkerwanderung erscheinen. Wenn der Verf. aber hinzusetzt, diese hätten „aus Motiven römischer Art“ (ich muss öfter die etwas pretiösen Ausdrücke des Verfs. beibehalten) die Theile der nachherigen Völker um sich versammelt, so ist das, so viel ich sehe, nicht zu rechtfertigen. Um es darzuthun, wird bei der Betrachtung

60

Georg Waitz

der gothischen, fränkischen und angelsächsischen Reichsgründung (die langobardische schliesst der Verf. selbst aus) alles Gewicht darauf gelegt, dass die Füh|36|rer jener Stämme einmal in ein Verhältniss der Abhängigkeit zum römischen Staate oder einem einzelnen Kaiser getreten seien. Nicht als Eroberer, sondern als Verbündete, als Söldner der Römer seien die Deutschen auf römischen Boden gekommen. Es ist eine gewisse Wahrheit darin, die heut zu Tage einseitig hervorgehoben und weit übertrieben dargestellt wird, obschon die ganze Sache nach meiner Meinung wenig oder nichts austrägt. Dass die schwachen und ohnmächtigen Römer sich der Deutschen, die durch ganz andere Verhältnisse in unruhige Bewegung gekommen waren und gegen die römischen Grenzen andrängten, auf diese Weise zeitweise zu versichern, zu bedienen suchten und wussten, ist bekannt genug; dass die Germanen von der Idee, der Bedeutung des imperium lebhaft ergriffen, man kann sagen geblendet wurden, tritt uns an vielen Orten entgegen; nicht ohne weiteres, oft erst ziemlich spät, stellen sie sich dem Reich als solchem feindlich entgegen, und wagen was bis dahin Römisch gewesen zu einem Deutschen umzugestalten. Aber es folgt doch daraus nicht, dass nun die ganze Eroberung und Reichsgründung als ein Werk, wie soll ich sagen? – römischer Auffassung, als eine Fortsetzung gewissermaassen römischer Geschichte, zu betrachten sei. So viel Mühe sich der Verf. anfangs giebt, ein Verhältniss der Abhängigkeit zu Rom für alle einzelnen deutschen Stämme nachzuweisen, so muss er doch am Ende zugestehen, dass das Wesentliche was geschieht, nicht in diesem vorübergehenden Zustande, sondern eben in dem Aufheben desselben, darin liegt, dass die Deutschen sich zuletzt einer solchen Abhängigkeit entschlagen und offen feindlich dem römischen Reich gegenüber treten (S. 167. 174. 184). Er meint freilich, es habe das nur deshalb jetzt geschehen können, weil sich nun schon mit Hülfe römischer Formen das neue Königthum gebildet hatte, er geht so weit zu behaupten, dasselbe wurzele seiner Entstehung und seinem Begriff nach nicht in germanischen Principien, sondern in römischen Verhältnissen. Er sagt S. 169: „Jene Barbarenkönige haben mit dem Imperator den Dienstvertrag geschlossen, dadurch sind sie die Monarchen ihrer |37| Gefolge, ihrer Geschlechter und Stämme geworden“; S. 185: „Es zeigt sich der Ursprung aller dieser Herrschaften so entschieden von der Verbindung mit Rom abhängig, dass die Bewältigung der Provinzen den Franken am schwersten wird, weil hier die Provinzen sich schon früher von Rom losgesagt haben.“ Man kann nicht einseitiger den geschichtlichen Thatsachen entgegentreten als es hier geschieht. Allen Boden aber verliert der Verf., wenn er um die Consequenz zu retten nun dasselbe auch von den Angelsachsen aussagt, wenn er auch hier den Vertrag mit dem Brittenfürsten Wortigern, der die Stelle der römischen Imperatoren einnehmen muss, als das entscheidende Moment in der Niederlassung dieser deutschen Stämme bezeichnet, als dasjenige, was nicht etwa blos die Berechtigung, sondern auch den Grund zu den neuen Reichsgründungen verleihen soll. – Ich müsste ja ein Buch gegen das Buch schreiben, wollte ich Schritt für Schritt den Verf. bei diesen Ausführungen begleiten; ich muss mich begnügen auch hier die oft scharfsinnige und glückliche Behandlung einzelner Fragen anzuerkennen, im Ganzen aber gegen

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

61

ein Verfahren wie es hier geübt wird Protest einzulegen, und andern sei es fremden sei es eigenen Darstellungen die nähere Widerlegung überlassen. Es zeigt sich hier aber und noch mehr im Folgenden, wo von den einzelnen Verfassungszuständen der neuen Reiche die Rede ist, wie gefährlich es werden kann einen und denselben Grundsatz gleichmässig in verschiedenen historischen Verhältnissen geltend zu machen. Es ist keine Frage, auch seit lange anerkannt, neuerdings aber schärfer hervorgehoben, dass die gothischen Stämme früh und leicht auf römische Einrichtungen eingegangen sind, dass sie, wie sie in nähere Beziehungen zu den römischen Kaisern treten, so auch in Provinzen wo sie sich ansiedelten mit den römischen Einwohnern bald zusammenschmolzen, von den bestehenden Einrichtungen das meiste aufrecht erhielten und zum Theil auch auf sich selbst anwandten. Allein gewiss sehr Unrecht hat man nun die Entwicklung im fränkischen oder gar im angelsächsischen Reiche nach dieser Analogie zu beurtheilen, da |38| hier das germanische Element viel reiner und ungestörter zur Herrschaft und Entfaltung gekommen ist. Solche wenig begründete Vergleichungen, ja Gleichstellungen erlaubt sich der Verf. aber aller Orten; von den Gothen geht er aus, und nach dem was bei ihnen sich findet glaubt er dann die Verhältnisse der andern Staaten beurtheilen zu dürfen (vergl. S. 230 ff. 237 ff.). Bei den Angelsachsen lässt sich freilich eine solche Einwirkung römischer Herrschaft und Einrichtungen nicht behaupten, weil sie in Britannien bereits verschwunden waren als jene die Insel besetzten; aber da kommt der Verf. zu der Annahme, es hätten hier die keltischen Zustände ganz denselben Einfluss geübt wie dort römische, und im Ganzen dieselben Resultate seien auf diese Weise entstanden. Da soll nun die Bedeutung die der Grundbesitz in den neuen Staaten hat, ausserdem sollen alle wichtigeren Befugnisse der Könige, das Recht des Heerbanns, das Recht öffentliche Abgaben und Dienste zu verlangen, die Gerichtsbarkeit, die besondern Privilegien der königlichen Güter, alles dies und mehr als dies, der Begriff und das Wesen der neuen Königsgewalt, soll aus dem römischen Staate und seinen Einrichtungen übernommen sein, und wo solche nicht mehr bestanden, sollen keltische denselben Einfluss geübt haben. Gewiss ist auch in diesem Theil der Arbeit eine Fülle gelehrter Kenntniss und manche scharfsinnige Bemerkung niedergelegt worden; allein nur zu oft hat der Verf. sich mit allgemeinen Worten über nicht geringe Schwierigkeiten hinweggeholfen, und wie mir wenigstens scheint, ist das Wesen des neuen Königthums und sein Zusammenhang mit dem alten ganz verkannt worden. Die Heiligkeit die demselben beigelegt wurde, die Ableitung der herrschenden Geschlechter von den Göttern oder doch die Verbindung ihrer Geschichte mit mythischen Elementen, zeigt uns, dass in der Ansicht des Volks das Recht der Könige in ganz andern Verhältnissen als in ihrer Verbindung mit den römischen Imperatoren wurzelte; und so sehr der Verf. den Werth der späteren Genealogien anfechten mag, ihre Beweiskraft für die Volksanschauung wird er so wenig hier als bei den Sagen|39|geschichten des fränkischen und gothischen Stammes wegläugnen können, wird nimmermehr darthun, dass beide bloss erfunden seien, um den spätern Herrschern zu schmeicheln, wie er es bei den Amalern we-

62

Georg Waitz

nigstens behaupten möchte (S. 124). Welch’ ein Unterschied auch zwischen der Königsmacht im fränkischen und angelsächsischen Reich und den Begriffen von der Gewalt der römischen Kaiser die als Vorbild für jene gedient haben sollen! Die Rechte des Volkes, der Volksgemeinden dauern grossentheils fort, der König gewinnt wenigstens zunächst nicht ihnen neue Rechte ab, sondern er gewinnt nur persönlich höhere Autorität und Macht, und überträgt diese erst nach und nach auf die Würde die er inne hat. Und alle jene einzelnen Verhältnisse, in denen die Veränderung der alten Verfassung sich zeigt, sie hängen doch noch mit den alten Zuständen zusammen, und den vom Verf. versuchten Beweis, dass sie alle aus römischen oder keltischen Einflüssen zu erklären sind, kann ich keineswegs für ausreichend gelten lassen. Aber wäre es auch der Fall, so müsste man doch blind sein gegen alle historische Wahrheit, wenn man darum dem deutschen Königthum seinen eigenthümlich deutschen Ursprung abstreiten, wenn man verkennen wollte, dass es eine eigenthümlich unterschiedene Bedeutung das ganze Mittelalter hindurch, ja bis auf den heutigen Tag behauptet hat, so dass es völlig unmöglich ist, demselben eine andere Herrschergewalt gleichzustellen, geschweige denn es aus einer solchen abzuleiten. Grade die Verbindung von Volksfreiheit und Königthum ist ächt germanisch, findet sich bei den nordischen Germanen so weit die Geschichte zurückgeht, bildet sich bei den Deutschen zum Theil in historisch erkennbaren Zeiten aus, und erhält sich in allem Wechsel der besondern Erscheinungen, erhält sich in und unter der feudalen Gliederung die später entsteht, und muss in ihrer Herrschaft über den Westen Europa’s als eins der wichtigsten Resultate der grossen Bewegung betrachtet werden, die wir die Völkerwanderung nennen7. |40| Ich muss es hier bei diesen freilich nur allgemeinen, doch schon sehr ausführlichen Bemerkungen bewenden lassen. lch werde in dem 2. Bande der Verfassungsgeschichte Anlass haben diese Ansichten weiter auszuführen, und nicht unterlassen können, dort für das fränkische Reich die Ausführung Sybel’s wie im Allgemeinen dankbar zu benutzen, so im Einzelnen mannigfach zu bekämpfen. Ich mache nur noch darauf aufmerksam, dass der Verf. nicht bloss die skandinavischen Germanen, sondern auch die in Deutschland zurückgebliebenen Deutschen vergessen oder doch unbeachtet gelassen hat, da doch sie und ihre Verhältnisse für den Fortgang der Geschichte nicht weniger wichtig geworden sind als die Auswanderer und Eroberer.

7 Auch Molbech stellt das deutsche Königthum dem römischen Wesen und Staat entgegen. Das Eigenthümliche, sagt er S. 513, an diesen germanisch skandinavischen Ideen und Grundsätzen wird uns fast durch nichts so deutlich, wie durch die Vergleichung mit der römischen Verfassung in der Kaiserzeit. Hier wurde weder das Erbrecht eines Herrschergeschlechts noch wurde die Freiheit des Volks, seine Selbstständigkeit und seine Theilnahme an der Staatsmacht und der Gesetzgebung anerkannt. Die Macht war concentrirt in dem einen Weltstaat; der Inhaber der Legionen war auch der der Monarchie; eine militärisch despotische Verfassung erhielt sich durch Eroberungen, durch einen alten und festen inneren Organismus, eine hoch ausgebildetet Staatskunst und lange unerschöpfliche Hülfsquellen.

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

63

Oder meint er etwa, von dem fränkischen Reiche in Gallien aus seien die Principien des neuen Staats auch über das ganze Deutschland wie später über das langobardische Reich verbreitet worden? von dem fränkischen Reiche aus, wo doch die Grundsätze, denen der Verf. die grösste Wichtigkeit beilegt, auf dem Continent am wenigsten zur Geltung kamen, und dessen historisch bedeutende Könige ganz auf dem eigentlich deutschen Boden stehen. Sollen sie etwa den Alamannen und Baiern, den Thüringern und später den Sachsen alle jene neuen ursprünglich römischen Einrichtungen zugebracht und durch die Macht ihrer Herrschaft zur Anerkennung gebracht haben? Der Verf. verschweigt uns wie er darüber denkt. Ich fürchte, er hat vergessen sich selbst deutlich zu machen, wie die grosse Um|41|bildung die er annimmt, für Deutschland, das nicht ohne Weiteres mit dem fränkischen Reiche zusammenzuwerfen ist, hat stattfinden, wie auch hier der Geschlechterstaat, an den er denkt, so plötzlich hat verschwinden und den ganz neuen und fremden Begriffen von Königthum und Staat Raum machen können. Die Geschichte weiss nichts von einer so grossartigen Revolution, von den gewaltsamen Kämpfen von denen sie gewiss begleitet sein musste. Ich habe schon bemerkt, dass er uns ebenfalls den Nachweis schuldig geblieben ist, wie denn später, wie er sagt, nach deutschem Vorbild, Aehnliches auch im skandinavischen Norden geschehen ist. Ich wende mich zu dem ausführlichen Buche von Sachsse: Historische Grundlagen des deutschen Staats- und Rechts-Lebens. Heidelberg 1844. 8. 604 S. Eine kleinere Abhandlung des Verfs. habe ich schon früher benutzt (observatio de territoriis civitatum earumque partibus ex regimine quod vocatur Gauverfassung). Sie ist nicht ohne Scharfsinn und voll eigenthümlicher Gelehrsamkeit, und beide Eigenschaften finden wir auch in diesem Buche wieder. Aber der Scharfsinn hat sich ein ganz besonderes Gebiet ausgewählt auf dem er sich mit Vorliebe bewegt, die Gelehrsamkeit des Verfs. hat etwas Unzusammenhängendes, Buntscheckiges an sich. Es finden sich die richtigsten Ansichten und Gedanken in dem Buche, aber die Weise wie sie ausgeführt und verfolgt werden kann uns nicht befriedigen. Wenn ein Vergleich mit dem Buche von Sybel zulässig ist, so muss man sagen, dass in diesem eine beschränkte Aufgabe in sehr umfassender Weise behandelt worden ist und Anlass zu den weitgehendsten Erörterungen gegeben hat, dass der Grundgedanke nichts weniger als glücklich, dagegen die Ausführung fast immer lehrreich und interessant ist, während Sachsse sich hier die grossartigste Aufgabe wunderlich beengt, selbst wohl von richtigen Ansichten ausgeht, aber in der Entwicklung derselben Mangel an Geschmack wie an wahrer Wissenschaftlichkeit mehr als einmal zu Tage legt. |42| Das Buch zerfällt in zwei wesentlich verschiedene Theile; der erste handelt von den Eintheilungen der Länder, der zweite von den Eintheilungen, oder wie der Verf. sagt den Ständen, des Volks. Aber unter diesen beiden Rubriken ist nun freilich auch sonst alles Mögliche zur Sprache gebracht, sei es im Text, sei es in den zum Theil sehr ausführlichen Noten, von denen einige als Excurse, fast als kleine Monographien über einen Gegenstand betrachtet werden können. In der ersten

64

Georg Waitz

Abtheilung wird nun der Gedanke ausgeführt, dass alle germanischen Reiche oder Länder, seien sie nun grösser oder kleiner, regelmässig in vier Abtheilungen oder Provinzen, oder in 12 kleinere Districte oder Syssel eingetheilt waren. Jeder solcher District hatte wieder 3 Harden und 12 Hundertschaften, so dass das Land ursprünglich aus 144 Hundertschaften bestand. 144 aber sei nach dem strengen Duodecimalsystem = 100 (12 × 12 = 10 × 10). Der Nachweis der tetrarchischen Haupteintheilung nimmt bei weitem den meisten Raum ein (bis S. 246); denn der Verf. sucht hier in einer ausführlichen Besprechung der Landeseintheilungen in den verschiedenen germanischen Ländern, den scandinavischen wie den eigentlich deutschen, die Geltung jenes Princips darzuthun, wo es geht auch das Vorhandensein der 12 Syssel oder Gaue zu zeigen. So findet er 12 Gaue im Bunde der Catten (S. 79), der Cherusker (S. 111) und Markomannen (S. 114), 12 Gaue unter den Teutonen (S. 121). In den Reichen nach der Völkerwanderung treten freilich meist nur die 4 Provinzen entgegen, doch fehlt es auch hier nicht an Spuren der Zwölfzahl (S. 183. 190. 195). Ich will es nun in keiner Weise in Abrede stellen, dass der Verf. hier grosse Belesenheit und nicht gewöhnlichen Scharfsinn, dabei den entschiedensten Eifer für seine Sache zu Tage legt; es fehlt auch nicht an einzelnen glücklichen Bemerkungen, z. B. über die zwei Tetrarchien der Angelsachsen (S. 217); ich gebe zu, dass eine solche Viertheilung etwas sehr oft und gewiss nicht bloss zufällig Wiederkehrendes ist, ebenso dass die Zwölfzahl auch in diesen Verhältnissen eine Rolle spielt, und dass es wohl der Mühe werth ist, den verdunkelten Spuren ihrer Geltung |43| nachzugehen; allein ich muss doch sagen, dass der Verf. meistentheils so willkürlich zu Werke geht, dass man ihm unmöglich folgen kann, dass er Combinationen macht und Resultate findet, die aller wahren Begründung entbehren. Ich muss vor allem darauf aufmerksam machen, dass in dem geographischen Theile, in der Bestimmung der alten Völker und Ortschaften sich eine Behandlung zeigt, für die ich kaum ein Wort habe. Der Verf. geräth da in ein Etymologisiren, das wahrhaft erschrecklich ist; die zufälligsten Namensähnlichkeiten und Anklänge werden zur Bestimmung der Wohnsitze alter Völker benutzt, die sprachwidrigsten Ableitungen der alten Namen versucht mit einer Naivität, die allen Glauben übersteigt. Ich habe keinen Beruf hierauf näher einzugehen und würde es vielleicht ganz mit Stillschweigen übergehen, wenn es nicht den etwas verjährten wissenschaftlichen Standpunkt des Verfs. auch in andern Beziehungen bezeichnete,8 wenn nicht ausserdem jene Etymologien nur zu oft benutzt würden, um andere Combinationen darauf zu gründen.

8 Einzelne Beispiele aber muss ich anführen, damit mein Urtheil nicht ungerecht erscheine. Sie finden sich auf allen Seiten. Man sehe was S. 20–23 über die Namen der alten deutschen Stämme gesagt wird, die Ableitung von Ares, Herakles und Hermes aus deutschen Wurzeln S. 35. Die Endung – λχος ist nach S. 138 aus dem deutschen lutke entsprungen! Den grammatischen Standpunkt des Verfs. zeigt die. Note S. 42 n. 22. Einige höchst wunderliche geographische und zugleich etymologische Bestimmungen sind: S. 54 die Naharvalen = Norweger, S. 146 die vielen mit König zusam-

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

65

Es freut mich sagen zu können, dass in dem Abschnitt, wo von den Unterabtheilungen der Länder, den Sysseln, Gauen, Hundertschaften u. s. w. die Rede ist, viel weniger solcher Missgriffe sich finden. Es ist dies eigentlich nur eine etwas vermehrte Bearbeitung der oben angeführten Dissertation. An |44| manchen glücklichen Zusammenstellungen fehlt es nicht; das reiche Material das zusammengebracht worden ist, muss dankbar benutzt werden; aber den Ansichten des Verfs. wird man doch auch hier nur sehr bedingt seine Zustimmung schenken können. Eine so regelmässige Durchführung des Duodecimalsystems, wie der Verf. sie annimmt, lässt sich nicht nachweisen; Einzelnes findet sich hier, Anderes da; man ist aber nicht berechtigt, wie der Verf. es thut, alles zerstreut im hohen Norden und im fernen Süden, wo nur jemals Deutsche und Normannen hingelangten, Vorkommende zu combiniren und daraus ein System zu bilden, das eigentlich das überall herrschende gewesen sei. Gegen manche Einzelheiten, wie die Unterscheidung der Hundertschaften und Harden, der Versuch eine bestimmte Verschiedenheit zwischen pagus und comitatus nachzuweisen (S. 268–275), das allgemeine Vorhandensein der Zehntschaften habe ich mich schon früher erklärt und finde hier nichts wesentlich Neues. Ganz in die Irre geht aber der Verf., wo er zuletzt in modernen Ortsnamen Spuren der alten Zehntschaften aufzuweisen unternimmt (S. 291. 306–308). Auf einem ganz andern Gebiete befinden wir uns in der zweiten Abtheilung, wo nicht bloss von den Ständen des Volks gehandelt wird, sondern die innern Verfassungsverhältnisse überhaupt dargestellt oder doch gelegentlich behandelt werden. Der Verf. stützt sich im Ganzen auf Möser’sche Ansichten, hat ihnen aber oft eine eigenthümliche Anwendung und Ausführung gegeben. Auch hier begegnen uns manche hübsche und beachtungswerthe Bemerkungen; doch im Ganzen bin ich wenigstens durch diesen Abschnitt nicht mehr als durch den ersten befriedigt worden. Der Verf. geht hier wie in der ersten Abteilung von der richtigen Ansicht aus, dass der Grundbesitz die Basis aller politischen Verhältnisse und Berechtigungen war; er erkennt auch Anfangs nur Einen Stand, den der gleichberechtigten freien Grundbesitzer an, und lässt sowohl den Adel (S. 434) als die Hörigkeit (S. 453) später entstehen. Nur die Mitglieder der Herrschergeschlechter lässt er in ältester Zeit für Adel gelten (S. 429); |45| im Uebrigen ist dieser ihm dadurch entstanden, dass die Aemter und Beneficien erblich wurden; dabei hat er die eigenthümliche Ansicht, dass es darauf angekommen sei, dass das Beneficium sich in Eigenthum verwandelt, die Dienstpflicht aufgehört habe, und er sucht darzuthun, wie dies oft der Fall gewesen sei. Die Hörigen oder liti sind persönlich frei (S. 454. 457. 499 n. 31), aber ihre Freiheit ist eine schlechtere als die der grundbesitzenden Gemeindeglieder, die allein politische Rechte haben. Im Einzelnen

mengesetzten Ortschaften in Böhmen möchten von dem Stamm der Kohgner ihren Namen haben. – Jene plumpe Erfindung einer Abschwörungsformel des Heidenthums; Hilken maktik Koning Karelo etc. hält der Verf. für ächt, S. 303, und gebraucht sie als Beweis für das Vorhandensein der Tausendschaften unter den Sachsen. – Die wenigen Citate aus Grimm’s Büchern verschlagen wenig. Nur vor 50 Jahren hätte man dies und Aehnliches entschuldigen können.

66

Georg Waitz

kommen hier aber neben richtigen auch sehr wunderliche Ansichten vor, und die eigentümliche Art der Darstellung trägt nicht wenig dazu bei, dass man auch da unbefriedigt bleibt, wo man zustimmen muss. Was zuletzt über Gesammtbürgschaft und Gilden gesagt wird, kann wohl am wenigsten befriedigen. Nach dem Verf. ist der Friborg (so schreibt er) nichts als eine Gilde, und wo von Bürgschaft oder Gilden die Rede ist, sei immer dieselbe Sache, die Einrichtung der Friborg gemeint. Diese Friborg oder Gilden seien aber nur für die geringeren schutzbedürftigen Freien dagewesen, während die schöffenbar Freien, die Grundbesitzer, unmittelbar an den Zehntschaften Theil nahmen, und an und für sich alles hatten, was jene erst durch künstliche Einrichtungen erlangen mussten.9 Es zeigt sich hier eine ziemlich arge Verwirrung und Mangel an tiefer eingehenden Studien. Da wird die angebliche wargilda des Capit. Sax. noch mit den Bargilden, diese mit den Pfleghaften; und dies alles wieder mit den Gilden und mit der Gesammtbürgschaft zusammengebracht. Der Verf. sucht dann im letzten § noch auszuführen, wie die fränkische Lehnsverfassung diesen alten Zuständen entgegengearbeitet und sie zerstört habe. Er hat sich aber über|46|haupt keineswegs ganz auf dem Boden der ältesten Verfassung gehalten, sondern in mehren Capiteln einige spätere ganz mit der Lehnsverfassung zusammenhängende Verhältnisse erörtert, z. B. die Eintheilung der Heerschilde, die er freilich in ziemlich früher Zeit nachzuweisen gedenkt. Auch hier fehlt es nicht an Willkürlichkeiten. Ganz besonders aber scheint mir der sonst fleissige und gelehrte Abschnitt über die Compositionen (S. 312–404) daran zu leiden. Wilda’s ausführliche und kritische Untersuchungen haben dabei wohl nicht mehr benutzt werden können, und ich muss sehr daran zweifeln, dass neben diesen das hier Gegebene noch von wesentlichem Belang sein werde, so viel Mühe sich Sachsse auch giebt, die Zahlverhältnisse in den einzelnen Gesetzen zu erläutern und zum Theil zu berichtigen. An diesen arithmetischen Verhältnissen hat der Verf. ein besonderes Gefallen, überall wo sie ihm in der Geschichte entgegentreten, ergreift er sie mit Vorliebe, zergliedert und verfolgt sie nach allen Seiten hin. Er zeigt ein grosses Talent scheinbar incongruente Angaben zu vereinigen und ein Gesetz in allen Zufälligkeiten nachzuweisen, eben wie er auch aus den verschiedensten Gegenden, wo nur jemals Germanen sesshaft gewesen sind, Analogien für diese oder jene Verhältnisse zu finden weiss. Aber der Sinn für die Ergründung und scharfe Auffassung des Einzelnen geht ihm ab, und so viel ich sehe, ist es ihm nicht gegeben das Wesen eines Volks, das innere Leben desselben, wie es sich auch in der Verfassung ausspricht, aufzufassen und darzulegen. Seine Studien haben etwas autodidaktisches an sich, sie hängen nur lose mit dem zusammen was gleichzeitig geforscht worden ist; so viel

9 S. 339 heisst es: Denn zunächst gehörten zur Decurie und Cenlen nur diejenigen Freien mit ihren Familien, die das zur Schöffenbarkeit erforderliche Grundeigenthum besassen. Doch vermittelst des Friborgs war ebendiese Bürgschaft auch auf solche ausgedehnt, denen die nöthigen Besitzungen fehlten, und die deshalb als die Aermeren oder Inhaber kleinerer Güter in den Capitularien und dem sächsischen Landrechte genannt werden.

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

67

der Verf. auch gelesen, im Ganzen hat er doch für sich allein gearbeitet, ist seinen eigenen Weg gegangen, und dieser hat ihn oft, sehr oft in die Irre geführt. Jedoch mehr als es meine Absicht war, bin ich hier zu einer eigentlichen Beurtheilung des Buchs gekommen; es schien mir zu genügen den Standpunkt des Verfs. zu bezeichnen, und ich darf glauben einer Discussion der einzelnen Fragen überhoben sein zu können. – Da ich eben die|47|sen Aufsatz schliessen will, erhalte ich Gaupp’s umfassende und jedem Forscher deutscher Geschichte gewiss sehr erwünschte Arbeit. Die germanischen Ansiedlungen und Landtheilungen in den Provinzen des römischen Westreichs in ihrer völkerrechtlichen Eigentümlichkeit und mit Rücksicht auf verwandte Erscheinungen der alten Welt und des späteren Mittelalters dargestellt, Breslau 1844. 8. 612 S. Ich kann es nicht unterlassen einige Worte darüber hinzuzufügen. – Die Darstellung trifft in Manchem mit Sybel’s Buch zusammen; doch nimmt sie einen ganz andern Gang, richtet sich auch zunächst auf ganz andere Verhältnisse. Ich werde später Gelegenheit genug haben, auf diese Untersuchungen näher einzugehen; hier interessirt mich die in dem vierten Abschnitt gegebene Uebersicht über die älteste deutsche Verfassung. Ich habe in meinem Buche an mehr als einer Stelle die früher von Hrn. Prof. Gaupp ausgesprochenen Ansichten bekämpft; doch hat er, wie er bemerkt, darauf noch keine Rücksicht nehmen können, und ich habe daher nur das hier Gegebene mit dem zu vergleichen, was bisher vorlag. Da ist hervorzuheben, dass der Verf. seine Ansichten doch wesentlich modificirt hat. Er legt nicht mehr so grosses Gewicht auf den Unterschied zwischen Sueven und Nicht-Sueven, er sieht vor Allem nicht mehr die Gefolgschaft als das Grundprincip des germanischen Staatslebens nach der Völkerwanderung an, sondern giebt zu, dass andere Elemente sicher vorhanden waren und sich später lebendig erhielten. Die älteste Verfassung der Deutschen scheint ihm aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen zusammengesetzt, und will man diese Ausdrücke der antiken Welt einmal gebrauchen, so wird nichts Wesentliches dagegen einzuwenden sein. Aber ich muss es freilich für besser halten, sich dieser Allegorien, die allerdings eine ewige Wahrheit haben aber doch zunächst aus den griechischen Verhältnissen abstrahirt worden sind, bei der Betrachtung der germanischen und überhaupt mittelaltrigen Verfassungszustände ganz zu entschlagen. – Das monarchische Element findet der |48| Verf. nun natürlich in dem alten Königthum und Fürstenthum, und da ist es gewiss sehr erfreulich, dass er die Ansicht aufgegeben hat, der Ursprung des germanischen Königthums sei in den Gefolgschaften zu suchen. Statt dessen erkennt er an, dass es, freilich meistens in vorhistorischer Zeit, durch Wahl des Volks ursprünglich entstanden, später aber an das Geschlecht gebunden gewesen sei (S. 100); und wenn er auch hervorhebt, dass das germanische Königthum erst durch die Erbschaft des römischen Kaiserthums recht gekräftigt worden sei (S. 99), so ist er doch weit entfernt den engen Zusammenhang zwischen dem ältern und spätern Königthum in Abrede zu stellen. Dagegen unterscheidet der Verf. nicht genug zwischen Fürsten und Königen, indem er auch die fürstliche Würde als erblich betrachtet, das Vorhandensein fürstlicher Geschlechter

68

Georg Waitz

behauptet (S. 147). Alle Mitglieder eines solchen, meint er, seien principes gewesen, nur aus ihnen habe der eigentlich regierende Fürst gewählt werden können, auch habe jedes Mitglied desselben das Recht gehabt, ein Gefolge zu halten (S. 148). Hierin und überhaupt in Allem was die Fürsten und das Gefolgewesen betrifft, weichen meine Ansichten auch von dem was der Verf. jetzt ausführt, wesentlich ab. Er giebt dem letzteren noch immer eine viel zu grosse und aus den Quellen nicht zu rechtfertigende Bedeutung; er lässt auch jetzt allen eigentlichen Adel nur aus dem Gefolge entstehen und findet den Anfang zu diesem Adel schon in den Verhältnissen wie sie Tacitus schildert (S. 140 ff.) Wie der Ausdruck princeps, so sei auch das Wort nobiles beim Tacitus schwankender Bedeutung. Ich hoffe nachgewiesen zu haben, dass das nicht der Fall ist, und dass es nur einer genaueren Interpretation bedarf, um solche Vorwürfe abzuweisen, dass dann auch die Verhältnisse selbst in besserm Zusammenhange erscheinen, als wenn man beliebig diese oder jene Bedeutung dem Worte des Schriftstellers leiht. Was der Verf. S. 116 ff. über die Entstehung des Adels aus den Gefolgschaften sagt, bezieht sich alles auf die Zeiten nach der Völkerwanderung, und ich bin hier im Allgemeinen seiner Ansicht nicht entgegen; dass man aber Un|49|recht hat, diese Verhältnisse in ältere Zeit zurückzuversetzen, muss doch am Ende der Verf. wohl selbst zugeben, da er S. 152 die Frage aufwirft, wie sich aus dem persönlichen Verhältniss der comites zum Fürsten ein erblicher Standesvorzug, also ein wahrer Adel, gebildet habe. Diese Bildung wird aber doch schwerlich schon in die Taciteische Zeit gesetzt werden sollen, obschon das angenommene Princip, ein adliges Geschlecht sei dann vorhanden gewesen, wenn schon die dritte Generation sich im Gefolge eines Königs oder Fürsten befand, ja allerdings auch schon damals hätte zur Anwendung kommen können, – wenn es überhaupt vorhanden gewesen wäre. Denn dagegen sprechen denn nun doch alle Zeugnisse der Geschichte. Auf Einzelheiten mag ich hier nicht weiter eingehen; sonst wäre über das königliche Geschlecht des Italicus, über die centeni comites, die als wahres Gefolge aufgefasst werden (S. 145. 148), mancherlei zu sagen. Den übrigen, bei weitem bedeutenderen Inhalt des Buchs lasse ich hier ganz zur Seite. Um so weniger kann ich daran denken andere Arbeiten auf dem Gebiet der deutschen Verfassungsgeschichte, die hauptsächlich mit den Zuständen der spätern Zeit sich beschäftigen, in diese Betrachtung hineinzuziehen. Unger’s Geschichte der deutschen Landstände, Ilse’s Geschichte des deutschen Steuerwesens, auch Dönniges deutsches Staatsrecht und die Reichsverfassung gehören hierher. Auch diese Bücher sind wohl von sehr verschiedenem Werthe; doch müssen jene beiden als sehr dankenswerthe Leistungen auf einem Gebiete bezeichnet werden, wo es allerdings der Einzeluntersuchungen noch sehr bedarf, damit eine zusammenhängende und umfassende Darstellung ungehemmter ihren Weg fortsetzen kann. Diese wird nicht immer mit den Resultaten solcher Untersuchungen sich begnügen können, sie hat die Aufgabe selbstständig und unabhängig von ihnen, wie das Ganze so auch das Einzelne ins Auge zu fassen. Doch wird sie immer die Pflicht haben, auf dieselben die möglichste Rücksicht zu nehmen.

Zur Deutschen Verfassungsgeschichte

69

Unter den Lebenden wird auf dem Gebiete von dem wir handeln keiner mehr geleistet und gefördert haben als Eich|50|born, dessen Staats- und Rechtsgeschichte epochemachend gewirkt hat. Sie liegt nun in der fünften Auflage vor uns, und man könnte sich wundern, wenn ich ihrer mit keinem Worte gedächte. Aber gegen neuere Forschungen verhält sie sich meistens nur abwehrend und vertheidigend; selbst wo dem Verf. die Stützen seiner Behauptungen durch neuere Kritik entzogen sind, hält er an den Behauptungen selber fest. – Die Forschung wird umfassender, die Kritik schärfer. Es gelingt freilich nicht immer die Wahrheit ganz und in vollem Umfang zu finden, unzweifelhafte Resultate festzustellen. Doch wer könnte läugnen, dass unsere Erkenntniss zunimmt, dass die Wissenschaft auch auf diesem Gebiete vorwärts kommt. – Kiel, im October 1844.

70

Georg Waitz

Kommentar Um die Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich das Fach Geschichte als eigene Wissenschaft an deutschen Universitäten. Einer der Gelehrten, die diese Verwissenschaftlichung wesentlich mittrugen, war Leopold von Ranke. Er hatte selbst von 1814 bis 1818 Theologie und Philologie in Leipzig studiert, war dann zunächst als Lehrer tätig gewesen, bevor er an der Berliner Universität erst als außerordentlicher, dann seit 1834 auch als ordentlicher Professor lehrte.1 Einer seiner Schüler dort war Georg Waitz. Er hatte zuerst noch Jura studiert, wechselte dann aber 1835 in die Philosophische Fakultät und wurde hier auch im Jahr darauf promoviert – mit einer quellenkritischen Arbeit zu einer mittelalterlichen Chronik. Ihm stand eine glänzende Karriere bevor: Schon 1842 wurde er, der in Flensburg geboren war, an die Kieler Universität berufen; ab 1848 lehrte er in Göttingen, 1875 wurde er Präsident der Monumenta Germaniae Historica in Berlin, für die er unter Leitung von Georg Heinrich Pertz schon seit den frühen 1840er Jahren an Quelleneditionen gearbeitet hatte.2 An seinem wissenschaftlichen Hauptwerk begann Waitz bereits als junger Mann zu schreiben: Der erste Band seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte“ erschien 1844;3 damals war Waitz knapp 31 Jahre alt. Er führte dieses Werk in den kommenden Jahrzehnten von der Germanenzeit in acht Bänden bis in das 12. Jahrhundert hinein fort; der letzte Band erschien 1878.4 Man darf ohne Übertreibung sagen, dass es sich dabei um eines der „Hauptwerke“ der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts handelt:5 Waitzens Apparat war quellengesättigt; seine Argumentation suchte er streng an den Aussagen der Quellen zu orientieren; und sein Gegenstand war die „Verfassung“ der „Deutschen“ im weitesten chronologischen wie sachlichen Sinne. Die Abhandlung setzte zeitlich bei den Germanen ein und führte bis in die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches der Stauferzeit; unter „Verfassung“ verstand Waitz dabei die „Verfasstheit“ des deutschen Volkes nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht.

1 Zu Rankes Werdegang und Werk vgl. Helmut Berding, Leopold von Ranke. In: Deutsche Historiker 1, hrsg. Hans-Ulrich Wehler (Göttingen 1971) 7–24; Ulrich Muhlack, Leopold von Ranke (1795–1886). In: Klassiker der Geschichtswissenschaft 1. Von Edward Gibbon bis Marc Bloch, hrsg. Lutz Raphael (München 2006) 38–63. 2 Zu Waitzens Person vgl. Robert Louis Benson/Loren J. Weber, Georg Waitz (1813–1886). In: Medieval Scholarship. Biographical Studies on the Formation of a Discipline. 1: History, hrsg. Helen Damico/Joseph B. Zavadil. Garland reference library of the humanities 1350 (New York 1995) 63–75. 3 Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (Kiel, Berlin 1844). 4 Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte 8 (Kiel, Berlin 1878). 5 Vgl. Jürgen Weitzel, Georg Waitz (1813–1886). Deutsche Verfassungsgeschichte. In: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hrsg. Volker Reinhardt. Kröners Taschenausgabe 435 (Stuttgart 1997), 707–710.

Kommentar

71

Im Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes seiner „Deutschen Verfassungsgeschichte“ veröffentlichte Waitz im dritten Heft der damals frisch begründeten Zeitschrift für Geschichtswissenschaft den langen Artikel, den wir hier wieder abdrucken: Darin besprach er gewissermaßen Konkurrenzerscheinungen zum ersten Band seiner Verfassungsgeschichte – nämlich vier Bücher, die zwar die Verfassung der Germanen abhandelten, aber Waitz bei der Abfassung seines eigenen Werks entweder noch nicht zur Kenntnis gelangt oder zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht veröffentlicht waren. Die Werke der Historiker Molbech,6 Sachsse7 und Gaupp8 sind heute bestenfalls noch Spezialisten der Geschichte der Geschichtswissenschaft näher bekannt. Heinrich von Sybel aber, dessen Buch9 Waitz besonders ausführlich und kritisch besprach, wurde für die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft nicht weniger wichtig als Waitz selbst: Er war nur drei Jahre jünger als Waitz, hatte – sogar parallel mit Waitz – seit 1834 bei Ranke studiert und erhielt eben in dem Jahr 1845, in dem Waitz sein Buch über die Entstehung des Königtums recht skeptisch rezensierte, einen Ruf auf eine Professur an der Universität Marburg.10 Man wird nun sicher nicht behaupten können, dass Waitzens Sammelbesprechung zu den immer wieder zitierten Klassikern der Geschichtswissenschaft oder der interdisziplinären Altertumskunde gehört. Vielleicht lohnt sich gerade deswegen aber hier ein Wiederabdruck: Die „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ war ihrerseits erst 1844 begründet worden; sie bildete eine wichtige Etappe jener Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft, die dann mit der „Historischen Zeitschrift“ (die Sybel 1859 mitbegründete) einen bis heute sichtbaren Ausdruck finden sollte. Waitzens Artikel in der noch jungen Zeitschrift zeigt in eindrucksvoller Weise, wie intensiv und fein ziseliert, zugleich aber auch wie offen und methodisch grundsätzlich die Debatte über die Germanen in jener fernen Zeit der Etablierung der Geschichtswissenschaft geführt wurde. Viele der Themen, die auch noch die wissenschaftlichen Diskussionen des 20. Jahrhunderts dominieren würden, finden sich hier bereits angesprochen; und es sollte noch bis zur Wende zum dritten Jahrtausend dauern, bis einige der unhinterfragten Dichotomien, die diese frühe Diskussion strukturierten, mit Nachdruck wissenschaftlich in Zweifel gezogen wurden.

6 Christian Molbech, Indledning og Udkast til en Skildring af den germanisk-skandinaviske indvortes Forfatning, med Hensyn til dens agrariske og offentlige Forhold i Oldtiden. Historisk Tidskrift udgivet af den danske historiske Forening 5, 1843, 369–522. 7 Carl Robert Sachsse, Historische Grundlagen des deutschen Staats- und Rechts-Lebens (Heidelberg 1844). 8 Ernst Theodor Gaupp, Die germanischen Ansiedlungen und Landtheilungen in den Provinzen des römischen Westreiches in ihrer völkerrechtlichen Eigenthümlichkeit und mit Rücksicht auf verwandte Erscheinungen der alten Welt und des späteren Mittelalters (Breslau 1844). 9 Heinrich von Sybel, Entstehung des deutschen Königthums (Frankfurt/M. 1844). 10 Zu Sybels Person vgl. Hellmut Seier, Heinrich von Sybel, In: Deutsche Historiker, hrsg. Hans-Ulrich Wehler (Göttingen 1971) 132–146.

72

Georg Waitz

Für Waitz wie auch für jene vier Autoren, deren Werke er besprach, waren mindestens fünf Annahmen geradezu selbstverständlich: 1) Es bestehe eine Kontinuität zwischen Germanen, Deutschen und Völkern in Skandinavien (so dass Waitz und seine Zeitgenossen auch Germanen der Zeit Caesars mühelos als „Deutsche“ bezeichnen konnten). 2) Es gebe fundamentale Unterschiede zwischen „den“ Germanen, „den“ Römern und „den“ Kelten, die sich als ein je eigenes „Wesen“ des Germanischen, Römischen und Keltischen aus den Quellentexten der Untersuchungszeit objektiv erfassen lassen. 3) Für die Erkenntnis des „Wesens“ könne, ja müsse der Historiker gegenwärtige Kategorien verwenden, zumal solche der Rechtswissenschaft. 4) Um das „Wesen“ eines Volkes zu erkennen, sei es zudem insbesondere notwendig, die Ursprünge möglichst genau zu erforschen, weil das Wesen hier in besonders reiner Form existiert habe. 5) Diese historisch-kritisch aufzuzeigende Wesensart eines Volkes sei auch noch für die Gegenwart relevant, ja solle möglichst sogar konkret für die Gestaltung der Verfassung als Vorbild genutzt werden. Sowohl Waitz als auch von Sybel engagierten sich sehr handfest auch politisch: von Sybel war Mitglied des Vorparlaments in Frankfurt im Frühjahr 1848, später saß er im preußischen Abgeordnetenhaus; Waitz war Mitglied des Paulskirchenparlaments und arbeitete dort bezeichnenderweise im Verfassungsausschuss mit. So erklärt sich die wissenschaftliche Kritik, die Waitz in seinem Besprechungsartikel von 1845 vor allem an dem Buch von Sybel, sanfter auch an den Werken der anderen drei Autoren vortrug. Waitz selbst sah die frühe Verfassung der „Deutschen“ ganz wesentlich getragen von freien Grundbesitzern. Er konnte es zwar akzeptieren, dass es auch Adlige (nobiles) gab, die sich gegenüber dem Volk in ihrem Rang und Ansehen auszeichneten. Aber es war ihm sehr wichtig, dass dieser Adel nicht zugleich qua Geburt auch die politische Führung innehatte, sondern alle grundbesitzenden Freien ihre Anführer (principes) wählten. Und ihm lag viel daran, dieses Prinzip möglichst früh, also schon in einer ursprünglichen, reinen, noch nicht von römischen Einflüssen überwucherten „Entwicklungsstufe“ der Germanen nachweisen zu können, also möglichst schon anhand der frühesten Quellennachrichten bei Caesar und Tacitus. Denn gerade die ursprüngliche Verfassung der alten „Deutschen“ schien ihm am ehesten geeignet als Vorbild für die Verfassung der Deutschen seiner eigenen Gegenwart. Genau deshalb aber hielt Waitz auch Sybels Buch über die Entstehung des Königtums in seiner Kernthese für schlichtweg falsch: Sybel hatte den Germanen der taciteischen Zeit nur eine niedrige Entwicklungsstufe zubilligen wollen. Ihre politische Verfassung habe zunächst ganz und gar auf Geschlechtern beruht, in denen Sybel noch zudem nicht etwa durch Blutsverwandtschaft konstituierte Familien sehen wollte, sondern ein Äquivalent zu den römischen gentes. Für die gesamte politische Struktur war aus Sybels Perspektive die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht – und das heißt: die Geburt! – weit wichtiger als die Wahl und die Bindung qua Grundbesitz an einen Ort. Alle weiteren, komplexeren politischen Strukturen (und darunter prominent auch das Königtum) wollte Sybel dann auf römischen Einfluss und römische

Kommentar

73

Vorbilder zurückführen. Das war eine zweite schwere Zumutung für Waitz: Wie hätte die Verfassung der frühen „Deutschen“ der Zeit Caesars und Tacitus’ für ihre Nachfahren des 19. Jahrhunderts vorbildhaft werden können, wenn sie auf einer so niedrigen Stufe der „culturhistorischen Entwicklung“ angesiedelt war?11 „Ich denke“, so kommentierte Waitz, „keinen falschen Patriotismus zu hegen, und durch ihn gegen die Wahrheit mich verblenden zu lassen, wenn ich behaupte, dass die germanischen Staaten auf römischem Boden ein Anderes waren im Verhältniss zur alten Welt, als die Neger- und Mulattenstaaten Amerika’s Europa gegenüber sich darstellen.“12 Das Verhältnis der sogenannten Germanen zur römischen Welt sollte auch die wissenschaftliche Diskussion des 20. Jahrhunderts noch kräftig dominieren. Im Laufe der Zeit sollte allerdings Sybels Grundposition an Anhängern gewinnen: Die Geschichte der Germanen ist seit den 1980er Jahren immer stärker als das Produkt ihres Kontakts mit der römischen Welt gesehen worden. Und Stefanie Dick publizierte im Jahr 2008 in den Ergänzungsbänden zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde ihre Dissertation über den „Mythos vom ‚germanischen‘ Königtum“. Ihre Kernthese ist zwar erheblich komplexer und auf anderer erkenntnistheoretischer Ebene angesiedelt als die Diskussion zwischen Sybel und Waitz. Der Sache nach aber steht sie Sybels Ansicht bemerkenswert nahe: Das Königtum, so argumentiert Stefanie Dick, sei keine germanische Institution, sondern eine römische Kategorie, mit der römische Autoren und römische Militärführer die Welt der Barbaren politisch zu ordnen suchten.13 St. P.

11 Waitz, oben, 51. 12 Waitz, oben, 48. 13 Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 60 (Berlin u. a. 2008).

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

Zeitbestimmung unserer Alterthümer Nachdem die Gleichartigkeit der Selzer Alterthümer mit verschiedenen andern namhaften Todtenlagern herausgestellt ist, bleibt nur noch übrig, dieser Aller Zeit und Nationalität zu bestimmen. Die Gräber von Bel-Air wurden von Hrn. Troyon, als er den Fund zuerst veröffentlichte (Description des tombeaux de Bel-Air; Lausanne 1841), |30| für keltisch angesehen; bald jedoch von dieser Ansicht zurückgekommen, mit Hinblick auf die analogen Fundstücke in der Sammlung zu Lausanne und der daselbst aufbehaltenen deutschen Namen Nasualdus Nansa etc., nimmt er sie jetzt für burgundisch. Derselben Ansicht huldigte Hofrath Thiersch, der (Nr. 27, Beilage zur Allg. Zeitung, 1844) in einem archäologischen Ueberblicke die betreffenden Gegenstände, wie auch die Nordendorfer Nekropole, als germanisch und zwar auf der Gränze zwischen Christenthum und Heidenthum, erkennt. Die wegen ihres wohlerhaltenen Holzwerkes so merkwürdigen Gräber von Oberflacht gelten Hrn. Wolfg. Menzel für alemannisch. Die Ascherader Alterthümer werden von Hrn. Kruse den Warägern zugeschrieben. Die eisenhaltigen Gräber von Ebringen und Bühlingen und die Hügel bei Wiesenthal sind von Hrn. Pfr.Wilhelmi als alemannisch erklärt. Die ihrem Gehalt nach gleichartige Ausbeute von Fridolfing wurde jedoch von Baron Koch-Sternfeld für norisch-keltisch, d. h. mit Nachdruck für nicht deutsch angenommen und in einer Art von Entrüstung jeder Gedanke an ein deutsches Kriegerbegräbniss hinweggewiesen. Noriker sind seine Leute1. Und von demselben Gesichtspunkt ausgehend, hat auch Hr. M. Koch das Nordendorfer Leichenfeld für die keltische Nationalität in Anspruch genommen. Während er die Ansicht von Hofrath Thiersch bekämpfte, glaubte eine dritte Behauptung die römische Spur verfolgen, und einen Rest römischer Niederlassungen nachweisen zu können. Um diese Widersprüche zu versöhnen und alle Parteien zu befriedigen, entschied sich der historische Verein von Schwaben in Neuburg dahin, dass, wegen der verschiedenen römischen Münzen und Gefässe Nordendorfs, ein Theil der dortigen Todten als Römer, ein anderer Theil, in Bezug auf die Bronzegeräthe, als keltische Ureinwohner (?) und ein dritter Theil, mit Rücksicht auf die Zeitepoche, als alemannische Sieger möchten betrachtet werden können. Es scheint, dass, wenn ein slavischer Gelehrter an der Diskussion sich betheiligt hätte, auch noch für slavische Gäste unter den geduldigen Todten Raum wäre gefunden worden. Hr. M. Koch hat indessen die Sache durch eine „letzte Entscheidung“ über die Nordendorfer Grabstätten in keltischem Sinne zu erledigen gesucht, nicht bedenkend, dass er selbst erst kürzlich die Salzburger Keltendenkmale als 1 Wer waren übrigens die Noriker? Die alten Schriftsteller, welche der Sache noch näher standen, als unsre modernen Etymologen und in Betreff der Nationalität unbefangene Augenzeugen waren, rechnen die Noriker nirgends als Kelten, wohl aber zählen mehrere der Alten sogar die Alpen noch zu Germanien. https://doi.org/10.1515/9783110563061-004

76

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

phönizisch nachwies, die Kelten als Phönizier darlegte und dadurch den ganzen Keltismus der Neuzeit in Frage stellte. Die hier verkündete „letzte Entscheidung“ drückt indessen ein für die Forschung ungünstiges Element aus, nämlich die Ungeduld und den parteiischen Eigensinn, zwei Dinge, die mit wahrer Wissenschaft unvereinbar sind. Wenn wir ehrlich sein wollen, so kann von einer evidenten Ge|31|wissheit über die nationellen Bestimmungen unserer Gräbermonumente wohl noch nicht die Rede sein. Die kurze Zeit, worin die Aufmerksamkeit auf diesen Zweig der Forschung gerichtet ist, hat uns wohl den Sachverhalt ziemlich deutlich vor Augen gerückt und zwar ganz anders, als man von gewisser Seite her ihn darzustellen sich bemüht; allein zu einer allseitigen Beweisführung lässt sich, da noch mancherlei Zwischenfälle denkbar bleiben, im Augenblick nicht schreiten. Dem einen Theil wird es wenig helfen, durch scheinbare Sicherheit einer Meinung vorübergehenden Anhang zu verschaffen, und von der andern Seite hat man nicht nöthig, sich in weite Polemik zu vertiefen, wenn man Zeit und Mühe lohnender und schlagender auf Beischaffung des Stoffes zu verwenden weiss. Für die grosse Frage der neueren Wissenschaft über die alten Völker Europa’s mag, wir geben es zu, im Historischen das Material beisammen und der Aktenbündel geschlossen sein, auch im Linguistischen dürfte die Spruchreife nicht mehr allzulange auf sich warten lassen; allein es kann ein Verdikt erst dann gefällt werden, wenn auch die Archäologie mit festem Systeme sich ihre Beweismittel gebildet hat. Wer daher jetzt schon mit „letzter Entscheidung“ hervorstürzt und seine Geduld nicht noch auf die wenigen Jahre, deren wir noch benöthigt sind, ausdehnen kann, der dürfte kaum als Freund der Wahrheit zu betrachten sein. Gegenwärtig, im Begriff einen einzelnen Beitrag zur Beweiskraft der Archäologie zu liefern, müssen wir uns zuvörderst über die misslungenen Versuche in System und Prinzipien der Grabforschung aussprechen. Man hat es unternommen, die Gräber nach deren äusserer Gestalt an verschiedene Nationen, d. h. Kelten und Slaven, zu vertheilen. (Die Germanen haben nach diesen Systemen kaum einen Platz in Deutschland gefunden.) Man wollte sie, in Kegel- und Halbkugelgräber geordnet, einander gegenüberstellen, als wenn nicht Baumwuchs, Ackerpflug und Regenwasser das, was heute einem Kegel gleicht, in wenig Jahren zur Halbkugel und bald hernach wieder zum Kegel machen könnten. Ferner sind viele darauf bestanden, in den verschiedenen Strukturen des innern Grabes die Spuren eben so vieler verschiedener Völkerstämme oder ganzer Nationen zu erkennen. Allein wo ist die Gränzlinie oder Trennungsberechtigung zwischen dem vielgestaltigen Uebergange von dem einfachen Erdgrabe bis zu der vollkommen geschlossenen Steinkiste, wie sie bald in gleichartigen, bald in gemischten Gruppen, gehügelt2 und im flachen Boden, über ganz Deutschland zerstreut sind? Eine

2 Ueber Christengräbern haben sich bis jetzt noch keine Hügel finden lassen.

Zeitbestimmung unserer Alterthümer

77

Trennungsberechtigung würde sich |32| vielleicht Anerkennung verschaffen, wenn die eben berührte Verschiedenheit der Struktur gleichen Schritt hielte mit der Verschiedenheit des Inhalts, was sich aber keineswegs herausstellt. Man hat nämlich nicht unterlassen, auch die Stoffe der Geräthe zu Kennzeichen für drei Nationen stempeln zu wollen, für die römische, die keltische und endlich die deutsche, insofern man nicht lieber die slavische bedachte; denn im Osten unseres Vaterlandes hat man das, was von Westen her den Deutschen übrig gelassen wurde, für die Slaven in Anspruch genommen, so dass also unsere Vorfahren ziemlich enterbt dastehen. Es ist allemal schlimm, wenn eine mit Hitze behauptete Sache aufgegeben werden muss, und diese schlimme Wendung trat in Bezug auf die Vertheilung der Alterthümer gar bald ein. Man musste wechseln und so misslich die erste Aenderung des mit voreiliger Bestimmtheit aufgestellten Systems war, ebenso gewiss steht jetzt eine abermalige Umgestaltung vor der Thüre, oder sie ist vielmehr, wie sich aus Hrn. M. Koch’s Bewegungen schliessen lässt, schon eingetreten. Zuallererst nahm man in den Steinwaffen die Geräthe der Urbewohner an, welche Kelten (Phönizier?) zu nennen man nun einmal entschlossen ist; die Bronzewelt galt, das was sie auch ist, für römisch und das Eisen wurde den Germanen überlassen (was ihnen jedoch von den Slaven sollte entrissen werden). Als man, aus gewichtigen Gründen, die Vertheilung umwechselte und den Germanen die Steinwaffe zugestand, erhielten die Kelten die Bronze und die Römer wurden mit dem Eisen entschädigt. Um den Kelten, es koste was es wolle, das Recht der Urbevölkerung zu wahren, verkündete man der staunenden Welt, das Erz sei älter als der Stein. An zahlreichen Klippen scheiternd, bereitet sich aber jetzt die Theorie vom nationalen Unterschiede der Gräber in Deutschland zu einer dritten Verwandlung, welche das Eisen den Römern abnehmen und den Kelten wird zuweisen wollen. Wir haben also hier das seltsame Schauspiel einer alle Sättel probirenden, vorgefassten Meinung, die, durch das Schwinden ihrer Prämissen ungestört, nicht erröthet, einer Wetterfahne gleich, den ganzen Kreis der Windrose zu durchlaufen. Sowie es aber ein Kardinalsatz der Baukunst ist, dass ein Fehler im Fundament nie wieder gut gemacht werden kann, so geht auch der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit jeder Theorie verloren, die, fertig gebaut vom Boden bis zum Gipfel, ihre Fundamente erst nachträglich suchen muss, in Thatsachen, die sie noch nicht kennt. Wie oben bemerkt, läuft die Stoffverschiedenheit mit den Abwechslungen im Gräberbau nicht parallel, denn es finden sich Stein-, |33| Erz- und Eisengeräthe bald in Steinhäusern und Steinpyramiden, bald in Erdgräbern mit und ohne Hügel. Wollte man annehmen, dass bisweilen die Slaven oder Kelten, aus Lust an der Veränderung, auf germanische Weise ihre Leichen bestatteten, so müsste auch der umgekehrte Fall zugegeben werden, ein Germane habe sich manchmal auf slavisch oder keltisch begraben lassen, und somit entbehren die hier besprochenen Merkmale ihre unterscheidende Kraft.

78

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

Wir schweigen von den willkürlich getauften „slavischen Ringwällen“, die mit derselben Bestimmtheit von den Keltisten in Anspruch genommen werden, von den „keltischen Korallen“, den „keltischen Streitmeisseln“ und andern Usurpationen, deren Anerkennung man voraussetzt, als wenn sie sich von selbst verstände. Unausbleiblich brachte ein derartiges Verfahren das Studium der Ausgrabungen in den Schein vollkommener Unzuverlässigkeit bei den strengen Priestern der übrigen Wissenschaften, was diesen auch nicht zu verübeln ist. Da aber sonst die Archäologie den Grabmonumenten eine heilige Wichtigkeit beilegt, so ist an deren Misskredit in Deutschland nur die fehlerhafte Behandlung Schuld. Es ist zu bemerken, dass die bisherigen ungereimten Systeme nur von einer Seite ausgegangen sind. Diejenigen Männer, welchen die Untersuchung deutscher Alterthümer am Herzen liegt, haben ihr Gutachten nur auf einzelne gegebene Fälle beschränkt und sich mit deutscher Redlichkeit bis jetzt gehütet, ein allgemeines System aufzustellen. Auch mit Herausgabe der Gräber von Selzen soll durch die Beleuchtung einer einzelnen Periode kein allgemeines System, wohl aber ein Beitrag zu den Prinzipien an’s Licht gestellt werden, wodurch man der ungebundenen Vermuthungswillkür Schranken und Regeln zu setzen und für die Forschung festen Boden zu gewinnen hofft. Diese Prinzipien betreffen die Aufstellung verlässiger Kennzeichen, welche, wenn sie übereinstimmen, uns vor trügerischen Schlüssen schützen. I. Die Knochenbildung ist wohl für Jeden, der diesen Zweig der Ethnologie gründlich studirt hat, das sicherste Kennzeichen, ob wir es mit der reinen weissen, d. h. germanischen Raçe zu thun haben oder nicht. Es ist hier nicht der Ort, das Detail auseinanderzusetzen, weil hiezu ein eigenes Buch erforderlich ist. Nur so viel sei bemerkt, dass die Sicherheit dieses Kennzeichens in der unveränderten Gleichheit besteht, womit es, wie wir sehen, bei der deutschen Raçe bis auf unsere Tage fortlebt. Die deutsche Hüften-, Knöchel- und Schädelbildung blieb sich gleich, was bei der Sprache weniger der Fall war. Hier ist ein Punkt, den die Phantasie nicht verwischen kann, denn wir haben die Vergleichung alle Tage zur Hand. Schärft euer Auge dafür nur mit halb soviel Uebung, als womit der Künstler |34| den Feder- und Pinselstrich an Schriften und Gemälden zu unterscheiden vermag, und ihr werdet finden, dass dieses Kennzeichen nur dann zu verachten ist, wenn es materiell verstümmelt vorliegt3. Es ist hiermit, um bei dem Gleichniss des Schreibens zu bleiben, wie mit dem nationalen Kennzeichen der Schriftzüge. Wenn wir deutsche Handschriften vergleichen, so finden wir so viele Abweichungen als es Individuen gibt, was mit der

3 So hörte ich von Schädeln eines Schlachtfeldes bei Bingen sprechen, die fast ohne Oberkopf seien. Als ich sie sah, da war es ein Stück Stirnbein, ohne Jochbein, ohne Nasenbein, ohne Oberkiefer, ohne Schädeldach, das man also mit der Hand beliebig senkrecht oder flach in die Luft stellen konnte. – Nachbildungen ohne Genauigkeit und Verständniss, sowie oberflächliche Beschreibung beweisen ebenfalls nichts.

Zeitbestimmung unserer Alterthümer

79

naturhistorischen Entdeckung parallel bleibt, dass es nicht zwei Thiere gibt, bei welchen die eine Hälfte eines Thieres zu einem andern, z. B. der erste Flügel eines Maikäfers zu dem zweiten eines andern, passt. Allein diese Ungleichheiten verschwinden, wenn man die Maikäferflügel zu denen der Hirschkäfer hält. Ebenso unterscheidet sich alle deutsche Schrift von der lateinischen und die deutsche Physiognomie von der italienischen. Gewiss, sowie manche Völker, aus konventionnellen Ursachen, die gleiche oder ähnliche Schrift gebrauchen, so auch tritt uns, aus historischen Gründen, gar manche Aehnlichkeit in Nordfrankreich, Norditalien, England und den slavischen Landen entgegen; denn es ist uns ja bekannt, dass sich dort ganze Völkersäulen ineinander ergossen. Es gibt ferner auch schlecht geschriebene Handschriften, welche absolut unlesbar sind. Mischlinge also und Abnormitäten gehören mit in die Betrachtnahme, denn selbst im Mutterleibe und während der Geburten treten letztere zahlreich, namentlich in die Kopfbildung, ein. Die echte, ungemischte Raçe lässt sich indess, da, wo sie positiv und konsequent auftritt, als unverkennbares Merkmal deutschen Blutes ansehen. Wir sagen des Blutes, nicht aber der Sprache. Deutsche Bauern gehen nach Amerika, ihre Kinder sprechen englisch; so gingen deutsche Kolonieen im vorigen Jahrhundert nach Spanien, man kennt sie noch, sie sprechen spanisch wie die Gothen, die vor 1200 Jahren dort noch gothisch sprachen; mit germanischen Elementen waren das alte Gallien, Britannien, Belgien, Oberitalien und die Alpen angefüllt; sie sprachen schon früh nicht mehr deutsch. Ebenso verhält es sich mit Russland und den slavischen Landen, woher es denn auch nicht fehlen konnte, dass manche Aeusserlichkeiten (sogar blondes Haar und blaues Auge) und Aehnlichkeiten im Schädelbau bei allen diesen Nationen sich hin und wieder finden, ohne dass sie jedoch die reine Originalität besitzen. Auch nehmen diese Aehnlichkeiten, die in alten Zeiten grösser waren, täglich mehr ab. II. Schrift ist das zweite reelle Erkennungszeichen. Wo Schrift gefunden wird, da ist auch ein Zeugniss für die Sprache. Schrift ist selten in unsern Gräbern, allein sie kam schon vor und kann noch öfters vorkommen. |35| III. Der Kunstgeschmack an den Geräthen und Denkmalen, sowie er sich etwas über die ganz rauhe und ganz allgemein-menschliche Einfachheit erhebt, gewährt Merkmale nationaler Individualität. Sowie alle Menschenköpfe, ja sogar die Thiere, ihre Nase mitten im Gesicht und die Ohren zu beiden Seiten tragen, so auch haben alle Völker gewisse Urformen von Werkzeugen und Waffen gemein. Es ist aber z. B. die durch Leibeigene oder barbarische Lehrlinge ausgeführte Nachahmung klassischen Kunststyles bei Zusammenstellungen und Vergleichungen deutlich zu trennen von dem erwachten, selbstständigen, ungeübten Kunsttrieb einer Nation. Die eine Hälfte der gallischen Münzen legt Zeugniss ab für die Kolonisation von Seiten der Griechen, der Phönizier und der Römer; die andere Hälfte dokumentirt den nordisch gebornen Theil der Gallier; der Styl ihrer Thiergestalten und Menschen (den Plankenmännern unserer Knaben ähnlich) und jene eigenthümlichen Verschlingungen ihrer Zierrathen reihen sich an die Arbeiten der germanischen Scandinavier des

80

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

Mittelalters und viele Werkstücke aus den Gräbern der Völkerwanderung. Die alten, zum Theil in Aschenurnen gefundenen Giessgefässe aus Thiergestalten stimmen mit dem Styl des germanischen Mittelalters, nicht mit dem römischen. Dieser Nationalgeschmack konnte nicht ohne Einfluss bleiben, selbst auf die Fabrikwaaren und Handelsartikel der früheren und späteren Zeit, welche der Kenner ebenfalls als solche in’s Auge zu fassen hat. Die Merkmale römischer Technik hieran sind ebenfalls vollkommen sicher, indem uns hier im Rheinland, z. B. unser altes Maguntiacum hinlängliche Belege der verschiedenen Altersfolge dieser Fabrikarbeiten liefert4. Die kurzen, scharfen Bronzestosswaffen der Römer und die grossen Angriffsgeräthe der Germanen, meist zum Hieb, sprechen noch heute den Charakter und Geschmack beider Menschengattungen aus. IV. Die Münzen sind eine unwiderlegbare Zeitbestimmung, in der Art, dass die Vergrabung eines Fundes nie älter als die beigegebenen Münzen sein kann. Hier ist ein lrrthum nicht denkbar. V. Die Geschichte, d. h. die geschriebene, übereinstimmende und unparteiische Ueberlieferung der Vorzeit, ist ein unentbehrlicher Leitfaden, den die Archäologie nie verlassen darf, um auf eigene Faust Entdeckungen zu suchen, gleich dem abenteuerlichen Schatzgräber, der, statt nach den Regeln der Geologie mit Schacht und Stollen den Erzadern zu folgen, viel mehr auf die schnellbereichernde Wünschelruthe vertraut, Mit gier ’ger Hand nach Schätzen gräbt Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.

Auch die Geologie hat ihre dunkeln Punkte, allein sie lehrt uns |36| doch, dass wir in einem Block von vulkanischer Lava nicht nach den Resten von Schalthieren suchen dürfen. Die selbstgemachten Voraussetzungen, womit Einzelne das, was die Ueberlieferung Vieler zusammengebaut hat, umzuwerfen meinen, gleichen der abenteuerlichen Wünschelruthe; Glimmererz und Koboldkuchen sind der Erfolg. Es treten Fälle ein, wo sich gleichartige Alterthümer in mehreren Ländern finden, wovon das eine durch gemischte Völker, das andere aber durch diejenige Nation bewohnt wird, die, so weit die Geschichte zeugt, unverändert und unvermischt geblieben. Gemeinsame Alterthümer müssen alsdann in bewegliche und unbewegliche getheilt werden. Die transportablen Alterthümer unterliegen immerhin ohne Weiteres der Möglichkeit, als Handelsartikel, Tauschmittel oder Kriegsbeute in die Hände wilder Völker gerathen zu sein, wie denn die ganze lndianerwelt heutzutage mit englischen und französischen Stahl- und Feuergewehren versehen ist5. Was aber die

4 Siehe mein Schriftchen über die ehernen Streitmeissel gegen Hrn. Schreiber. 5 Dennoch ist man schon so weit gegangen, sogar nach gefundenen Geldstücken auf die Anwesenheit dieses oder jenes Volkes schliessen zu wollen. Die kufischen und byzantinischen Münzen an

Zeitbestimmung unserer Alterthümer

81

unbeweglichen Monumente anbelangt, so glauben wir, dass eine vernünftige Schlussfolge lieber annehmen müsse: diese Alterthümer könnten dem ursprünglichen, noch reinerhaltenen Geschlechte angehören6 oder höchstens auf eine Nachahmung durch zurückgekehrte Reisende deuten, als dass sie, gegen das Gewicht der unparteiischen Geschichte, mit Beiseitesetzung der hier aufgestellten Möglichkeit, die Gemischtheit eines Volkes durch frühere Einwohner beweisen müssten. Wenn wir z. B. die Ringwälle betrachten, welche über ganz Europa, vom schwarzen Meer bis Schottland, verbreitet sind und welche von den Slavisten sowohl, wie von den Keltisten, als Beweise für die Priorität ihrer Lieblingsnationen in Europa benutzt werden wollen, so würde ein exakter, wissenschaftlicher Richter, ehe er den Rechtsstreit entschiede, zu fragen haben, ob eine der beiden Parteien durch eine historische Urkunde ihre Ansprüche belegen könne? Die Antwort würde alsdann dahin ausfallen, dass weder die eine, noch die andere der streitenden Parteien, sondern nur eine dritte, geschichtliche, unparteiische, von Fremden aufgezeichnete Zeugnisse für ihre Niederlassungen in ganz Europa beibringen kann, wodurch die Ansprüche der Nebenbuhler unrettbar zerfallen; denn doppelt schwach ist ein Anspruch, wenn sein Zweck sowohl, als seine Mittel, an der Geschichte zum Feinde werden. Allein schon an und für sich sind die archäologischen Thatsachen, wie sie bis jetzt vorliegen, nicht der Art, einen Widerspruch zu bilden gegen die Möglichkeit, dass die „Germania magna, indigena, sincera, propria et tantum sui similis, minimeque aliis, aliarum nationum connubiis infecta“, nach ihren verschiedenen Altersstufen, nach der Laune ihrer Stämme, der wechselnden Generationen und dem örtlichen Material, in abwechselnden |37|

den Ostseeküsten würden dann freilich für ein byzantinisches oder orientalisches Reich des Mittelalters an der Ostsee zeugen. (!!) 6 Eben so wenig, wie durch Hypothesen, kann die redende, gleichsam aktive Geschichte durch die passiven Wahrscheinlichkeiten der Assonanz und Etymologie umgestossen werden. Die Assonanz von Ortsnamen etc. führt oft genug irre, da wo es sich von den ganz sicher verbrieften historischen Fakten handelt, um wieviel mehr also, wenn man damit Hypothesen unterstützen will. Wenn slavisch sein sollende Worte in deutschen Namen erscheinen, an Orten, wo die redende Geschichte nur deutsche Völker kennt, so beweist dies Erscheinen keineswegs die Priorität slavischer Völker an jenem Ort, sondern vielmehr umgekehrt das Vorkommen deutscher Elemente im Slavischen, was denn ebenfalls geschichtlich feststeht (z. B. schon bei den Bastarnen). Dasselbe gilt vor dem Keltischen, und wir behaupten, dass wenn z. B. Melibodium unläugbaren Zusammenhang hat mit dem deutschen Melo, Melibocus und Melobaudus etc., dass alsdann Letztere dadurch nicht keltisch, sondern vielmehr jenes Melibodium deutsch werde, aus dem einfachen Grund, weil eine Wanderung dahin von Germanien aus historisch begründet ist, nicht aber ein gallischer Zug von der Elbe über den Rhein. Der Einwand, dass Melo unserer Sprache jetzt nicht mehr angehört, würde, selbst wenn dies wahr wäre, ohne Gewicht sein, weil wir fast ein Drittheil unserer alten Wörter verloren haben. Die Wortforschung wird in Bezug auf die Priorität der Völker durch den unbezweifelten Zusammenhang aller europäischen Sprachen bis zur Ohnmacht entkräftet; tiefes Mitleid jedoch flössen vollends jene Weisen ein, welche, durch den zufälligen Besitz einiger Lexiken, über Nacht zu Kennern der siamesischen, keltischen, kamtschadalischen, korjakischen, eskimonischen und aleutischen Sprachen werden.

82

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

Umwallungs- und Grabstrukturen sich ergangen und ihre Todten zuerst mit Steingeräthen und schwachen Metallversuchen, dann, zur Römerzeit, mit fremden Bronzefabrikaten und zuletzt mit selbstgeschmiedetem Eisen ausgestattet habe. Wir glauben, durch die eben aufgestellten Regeln, bestmöglichst die unverlässigen Kennzeichen von den verlässigen zu trennen und, wenn wir nach diesen die Ausgrabungen von Selzen beurtheilen, so ergibt sich vor Allem, dass die Körperbildung der Todten nicht das geringste Zeichen fremden Blutes, sondern auffallend das deutsche Gepräge an sich trägt. Es ist ferner bekannt, dass bei den gleichartigen Fundstücken am Genfersee die Schrift deutscher Namen, wie auch im Grabe König Childerichs der Name desselben, gefunden worden ist. Der Styl der Bronzearbeiten fällt in den Charakter jener Zeit, wo sich die Nachahmung klassischer Formen an die selbstständige Thätigkeit eines erwachenden, neuen Geschmackes anreiht, und die Münzen endlich bestimmen das Alter nicht höher als das der letzten abendländischen Kaiser, sogar bis unter das von Justinian herab. Selbst die Art ihrer Erscheinung in unsern Gräbern ist für diese Epoche bezeichnend, denn die Thatsache des Vorkommens heidnischer Gebräuche in Grabstätten einer bereits christlichen Zeit ist schon früher hinlänglich beobachtet und festgestellt worden, namentlich in Trier, wo sich in unzweifelhaft christlichen Steinsärgen Münzen als Beigaben der Todten fanden7. Was uns die Geschichte von den Bewohnern dieser Gegenden meldet, betrifft nur Germanen und Römer, welche Letztere hier nicht in Betracht kommen können. Die Urbevölkerung dieser Gegend war, so weit die Geschichte reicht, germanisch; Vangionen8 sassen hier, wie die Nachrichten melden; sie blieben hier, als die Römer das Land besetzten, in demselben Verhältniss, wie auch die Bataver und die Mattiachen, Mainz gegenüber. Diese leisteten Kriegsdienste und wurden

7 In dem „Jahrbuch des Vereins von Alterhumsfreunden im Rheinlande“, VII, S. 83 und 84, heisst es bei Gelegenheit der Ausgrabung von christlichen Grabstätten aus dem 4. Jahrhundert: „Das Vorkommen von Münzen bei christlichen Todten überraschte anfangs, doch da diese Erscheinung in jedem neuen Sarge sich wiederholte und die Abfassung der Grabschriften: „hic quiescit“, oder: „hic jacet in pace“ etc., sowie die häufig unter denselben befindlichen Tauben mit dem Oelzweige und dem Christus-Monogramm jeden Zweifel über ihre Christianität beseitigen mussten, so liess sich nur daraus folgern, dass die Christen des 4. Jahrhunderts den heidnischen Gebrauch, den Todten Münzen mitzugeben, noch nicht aufgegeben hatten, und es liegt in der Beibehaltung dieser heidnischen Sitte ein Mangel an Vertrauen auf Christus und seine Verheissungen. Die Furcht vor dem Orcus der Heiden war noch nicht von den damaligen Christen gewichen, und man wählte daher diesen Ausweg, um sich beide Fälle zu sichern, wobei es noch bemerkenswerth bleibt, dass sich unter den aufgefundenen Münzen keine einzige von einem heidnischen Kaiser befand. Annehmen zu wollen, dass diese Münzen von heidnischen Verwandten den Todten beigelegt worden wären, ist unstatthaft, da auf den meisten Grabschriften die Kinder oder die Aeltern als diejenigen genannt werden, welche dieselben besorgten (qui titulum posuerunt).“ – Sicherlich haben demnach auch die neubekehrten Germanen jene bei ihren romanischen Glaubensgenossen noch übliche heidnische Vorsicht als eine gebräuchliche Ceremonie mit der neuen Religion angenommen. 8 „Vanga“ heisst Feld mit der Nebenbedeutung von Elysium. Ulfilas übersetzt das Paradies mit Vanga. Vangio ist deutscher Mannsname.

Zeitbestimmung unserer Alterthümer

83

dafür mit Abgaben und Steuern verschont, so dass sie, wie Tacitus sich ausdrückt, „einzig zum Zwecke der Schlacht gespart, einen Wall für das Reich bildeten“. Sie waren jene „tumultuariae catervae Germanorum cis Rhenum colentium“, welche als Hülfsschaaren den Germanicus an die Weser begleiteten. Noch als Konstantin der Grosse mit empörender Grausamkeit die beiden fränkischen Häuptlinge zu Trier im Schauspielhause von den wilden Thieren zerreissen liess, wurden unter den deutschen Völkern, welche zur Rache aufstanden, von Nazarius auch die Vangionen genannt. Andere Urbewohner in dieser Gegend sind nicht bekannt, und was die keltistische Etymologie in Bezug auf einige Ortsnamen vorbringt, ist zu kraftlos und zu widerstreitend mit |38| sich selbst, um ins Gewicht zu fallen. Die Endungen in Mounus und Moenus sind nicht keltisch, sondern ganz veraltete Endungen aus der tuskischen und tyrrhenischen Sprache9. Das spätere Main weist auf ein altes Magin, als volle unverdorbene Form, hin. Die Noth der Vangionen erfuhr Julian, als er an den Rhein kam, den siegreichen Alemannen und Franken Einhalt zu thun10. Den Untergang der vangionischen Bevölkerung erzählt Hieronymus11, bei Gelegenheit des Einbruchs der Burgunden, Vandalen und Alemannen. Aus dem inneren Deutschland nahmen zuerst bleibende Sitze bei Mainz, die Burgunden, welche, den Main herabkommend, dreiundzwanzig Jahre lang, bis 435, das linke Rheinufer, von hier an bis in die Vogesen, behaupteten. Nach ihrem Abzug weiter gen Süden, mochten auf kurze Zeit die Alemannen wieder nach der, durch zweihundertjähriges unaufhörliches Morden, Plündern und Verbrennen öde und menschenleer gewordenen Gegend die Hand ausgestreckt haben; allein zu der Zeit, wo der gothische Geograph Athanarit schrieb, der Langres und Besançon, Askafa und Uburziburch den Alemannen zutheilt, werden doch auch die Flüsse Main und Neckar fränkisch und Mainz eine fränkische Stadt genannt, ein Beweis, dass die Nachrichten wegen Kürze der Besetzung schwanken und der Wormsgau früh schon fränkisch war. Nach Chlodwigs grossem Siege wurden die Franken für immer Meister der Gegend, bis über Speier hinauf. Sie bevorzugten diesen Theil des Rheingebietes so sehr, dass zur Zeit der Karolinger neun königliche Schlösser in unserm Gaue standen. Mainz gegenüber, an jenem Ufer, wo einst Valentinian mit dem Alemannenhäuptling Friede schliessen musste, erhebt sich das sanft ansteigende Hügelland (hinter Kastel), das Koningishundra oder Königsgau hiess. Dort wurden die Könige gekrönt und es war daselbst ein hoher

9 Die Tubanten und Turonen, deutsche Völker, sind Anwohner des Maines. Ihre Namen bedeuten dasselbe, was Tusci und Tyrrheni. (Vgl. hier auch die Form Rhenus.) Ueber die Verwandschaft der Urteutonen oder des Volkes TU mit den Tuskern, siehe die „Räthsel der Vorwelt“ von Lindenschmit. 10 Amm. Marc. XVI, 2. „Julianus audiens … Argentoratum, Tabernas, Salisonem, Nemetas et Vangiones et Magontiacum civitates barbaros possidentes, territoria eorum habitare (nam ipsa oppida, ut circumdata retiis busta, declinant).“ 11 „Vangiones longa obsidione deleti, Nemetae, Argentoratus translate in Germaniam.“

84

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

Königstuhl erbaut, von dem man tagereisenweit den Rhein auf- und abwärts blicken konnte. Nach diesen geschichtlichen Berichten über den Wechsel der Bewohner müssen wir schliessen, dass das Volk, welches auf dem von uns geöffneten Todtenlager in Selzen begraben ist und, dem Zeugniss der Münzen zufolge, noch nach Justinian dort wohnte, dem fränkischen Stamme angehörte. Um dies noch genauer zu erläutern, und auch jenes alten Mannes wegen, der bei der Ausgrabung so gerne wissen wollte, wo „diese Schwerter Blut vergossen“, wollen wir die Geschichte der Gegend uns deutlich in’s Gedächtniss rufen.

Kommentar

85

Kommentar In der Mitte des 19. Jahrhunderts gewann die Ur- und Frühgeschichtsforschung endlich klarere Konturen. Jahrzehnte zuvor hatte es zwar bereits vielfältige Bemühungen gegeben, doch die Debatten drehten sich letztlich im Kreis. Zwei Felder wurden diskutiert: einerseits die Unterscheidung antiker Völker wie Kelten, Germanen, Römer und Slawen sowie andererseits die Chronologie der zahlreich entdeckten Objekte. Ohne verlässliche zeitliche Einordnung der zahlreich bekannten Funde, d. h. ohne ein chronologisches Gerüst, blieb aber auch jede historische Interpretation ohne festen Grund. Ob die ‚Altertümer‘ als keltisch, germanisch, römisch oder slawisch anzusehen wären, bot daher hinreichend Möglichkeiten zum Streit.1 Dieser besaß umso mehr Heftigkeit, je mehr Bedeutung dieser Unterscheidung aus ‚vaterländischer‘ Sicht beigemessen wurde. Während der 1820er Jahre begann sich die Vorstellung zu etablieren, die Werkstoffe Stein, Bronze und Eisen seien in der Urgeschichte aufeinander gefolgt. Damit war das ‚Drei-Perioden-System‘ vorbereitet, das zuerst der Kustos der ‚Altnordischen Sammlung‘ des Kopenhagener Nationalmuseums, Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865), gedruckt vorlegte.2 Damit waren entscheidende Grundlagen bereitet, um zukünftig den Anspruch auf historische Relevanz der Bodenfunde einlösen zu können. Im nationalen Wettbewerb reklamierten später auch Deutsche diese methodologische ‚Erfindung‘ für ihre Nation – namentlich genannt wurden der Schweriner Altertumsforscher Georg Christian Friedrich Lisch (1801–1883)3 sowie der Altmärker Johann Friedrich Danneil (1783–1868).4 Ungeachtet des ‚Prioritäten-Streits‘ lag diese ‚Entdeckung‘ in der Luft, und sie wurde in der internationalen Debatte rasch publik. Allerdings sah sich die Dreiteilung der Urgeschichte noch lange vehementer Skepsis gegenüber, wobei die eine oder andere methodische Unzulänglichkeit oft nur

1 Sebastian Brather, „Sind die Urnen-Begräbnisse […] slavischen oder deutschen Ursprungs?“ Vaterländische Altertumskunde im Bereich der Germania Slavica. In: Archäologie und Nation. Kontexte der Erforschung „vaterlaendischen Alterthums“. Zur Geschichte der Archäologie in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1800–1860, hrsg. Ingo Wiwjorra/Dietrich Hakelberg (Nürnberg im Druck). 2 Christian Jürgensen Thomsen, Ledetråd for nordisk oldkyndighed (Kjöbenhavn 1836) = Leitfaden zur nordischen Alterthumskunde (Kjöbenhavn 1837). – Svend Hansen, Von den Anfängen der prähistorischen Archäologie. Christian Jürgensen Thomsen und das Dreiperiodensystem. Prähistorische Zeitschrift 76, 2001, 10–23. 3 G. C. Friedrich Lisch (1801–1883). Ein großer Gelehrter aus Mecklenburg, hrsg. Thomas Lehmann/Hildegard Gräfin von Schmettow. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns 42 (Lübstorf 2003). 4 Josef Beranek, Johann Friedrich Danneil. Seine Verdienste um die Heimat- und Urgeschichtsforschung in der Altmark. Wissenschaftliche Beiträge Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1969,7 (Halle 1969).

86

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

als Vorwand für grundsätzliche Kritik diente. Zu den beständigen Kritikern gehörte etwa der Mainzer Kunstmaler und Altertumsforscher Ludwig Lindenschmit (1809– 1893),5 der mit Thomsen wissenschaftlich korrespondierte.6 Seine private Altertümersammlung bildete 1852 den Grundstock für das durch den Gesamtverein der deutschen Altertumsverbände ins Leben gerufene Römisch-Germanische Zentralmuseum in Mainz, das der ‚heidnischen Vorzeit‘ gewidmet war und das der ältere Ludwig Lindenschmit jahrzehntelang leitete – während das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg sich mit den Zeugnissen des christlichen Mittelalters befassen sollte.7 Letzteres ging ebenfalls auf eine Privatsammlung zurück – die des Freiherrn Hans von und zu Aufseß (1801–1872).8 Ludwigs älterer Bruder Wilhelm (1806–1848), ebenfalls Kunstmaler etwa für die Fresken in Schloss Hohenschwangau, teilte die Interessen seines Bruders und bekämpfte seine wissenschaftlichen Kontrahenten mit einigen Verbalinjurien. Mit der Publikation des „Todtenlagers von Selzen“ (heute Kr. Mainz-Bingen) durch die Brüder Lindenschmit verbanden sich zwei grundlegende Fortschritte in der mittel- und westeuropäischen Frühmittelalterarchäologie – wenn sie nicht sogar ihren eigentlichen Beginn markieren. Zum einen gab es zum ersten Mal einen verlässlichen chronologischen Anhaltspunkt. Da zwei der 22 entdeckten Gräber Münzen enthielten und deren Umschrift eindeutig war, ließ sich eine Datierung in die Zeit Justinians und damit in den Beginn des Mittelalters begründen. Die beiden Autoren verkündeten dieses Ergebnis selbstbewusst bereits auf dem Titelblatt ihres Buches: „Die Gräber mit Eisenwaffen stammen aus der Zeit der Völkerwanderung“! Und der hier gebotene Ausschnitt aus der Selzen-Publikation verdeutlicht die seinerzeitigen Argumente. Mit der chronologischen Präzisierung war zum anderen die ‚ethnische‘ Zuordnung der Gräber entschieden: angesichts dieser zeitlichen Einordnung konnten sie nicht mehr den Kelten zugeschrieben werden, wie ‚Keltomanen‘ bis dahin behauptet hatten. Dass es sich auch nicht um Römer handelte, wurde aus den durchaus

5 Tanja Panke, Altertumskunde zwischen Fortschritt und Beharrung. Ludwig Lindenschmit d. Ä. (1809–1893) in seiner Zeit. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 45, 1998, 711–773. 6 Jørn Street-Jensen, Christian Jürgensen Thomsen und Ludwig Lindenschmit. Eine Gelehrtenkorrespondenz aus der Frühzeit der Altertumskunde (1854–1864). Beiträge zur Forschungsgeschichte. Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Monographien 6 (Mainz 1985). 7 Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg 1852–1977. Beiträge zu seiner Geschichte, hrsg. Bernward Deneke/Rainer Kahsnitz (München 1978); Das Germanische Nationalmuseum. Gründung und Frühzeit, hrsg. G. Ulrich Großmann (Nürnberg 2002). 8 Dietrich Hakelberg, Adliges Herkommen und bürgerliche Nationalgeschichte. Hans von Aufseß und die Vorgeschichte des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. In: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch – deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hrsg. Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer/Dietrich Hakelberg. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 34 (Berlin, New York 2004) 523–576.

Kommentar

87

anders aussehenden antiken Gräbern des Rheinlands und anderenorts abgeleitet. Eine Rolle spielte aber auch die nationale Perspektive, die einen wesentlichen Antrieb für die Altertumsforscher darstellte. Zwar äußern sich die beiden Autoren durchaus ironisch, wenn sie andere Auffassungen anführen und gar spotten, es ließe sich bei entsprechenden Bemühungen sicher auch Raum für Slawen unter den „geduldigen“ Toten finden, doch war es ihnen und anderen sehr ernst mit diesen Zuschreibungen. Für die Lindenschmits stand der ‚germanische Charakter‘ der Grabfunde unumstößlich fest. Die bis heute anhaltende Wirkung des Buches und seiner Thesen beruht auch darauf, dass es um 1850 verbreitete Themen und Fragestellungen bündelte.9 Ausgehend von der verbreiteten Idee des Nationalstaates schien es 1. prinzipiell plausibel, dass die Sachkultur – wie sie aus Bodenfunden immer umfassender bekannt wurde – charakteristisch für ein bestimmtes Volk gewesen sei. Charakterisierte man also frühmittelalterliche ‚Kunststile‘ bzw. den ‚Kunstgeschmack‘ entsprechend und grenzte sie von anderen ab, so ließen sie sich als ‚typisch germanisch‘ erklären. Damit war 2. die Vorstellung einer harschen Konfrontation zwischen Römern und Germanen verbunden, die durch ‚Besatzung‘ und ‚Fremdherrschaft‘ zu einer fast vollständigen Verdrängung der einheimischen Bevölkerung geführt habe. Dieser vermeintliche ‚Antagonismus‘ beschäftigt die Forschung noch heute. Unterstützend zogen die Lindenschmits antike Schriftquellen heran, die in ihren Augen den ‚Untergang Roms‘ und den Aufstieg der Germanen behandelten; beides sah man nicht nur seinerzeit in einem engen Wechselverhältnis. Überraschend sind 3. die biologischen Vorstellungen der beiden Lindenschmits. Sie gleichen bereits rassenanthropologischen Konzepten, wie sie allgemein erst dem späten 19. Jahrhundert zugerechnet werden. Für die Lindenschmits jedoch stellte die ‚Knochenbildung‘ bereits ein eindeutiges ‚Rassemerkmal‘ dar. An den Skeletten und vor allem den Schädeln sei die Zuweisung der Reihengräberfunde zur ‚weißen Rasse‘ der Germanen eindeutig abzulesen. Und diese ändere sich auch nicht mit der Zeit, sondern bleibe sich stets gleich und sei deshalb stets unterscheidbar. Noch deutlicher als in dem hier herangezogenen Kapitel äußerte sich Wilhelm Lindenschmit in einem zwei Jahre zuvor erschienen Buch mit der Suggestivfrage „Sind die Deutschen eingewandert?“, in dem gar ‚Idealbilder‘ jüdischer und deutscher Knaben kontrastiv einander gegenübergestellt wurden, um die ‚rassischen‘ Unterschiede zu verdeutlichen.10 Seine wissenschaftliche Fortentwicklung fand die Idee einer spezifischen ‚Knochenbildung‘ in Alexander Eckers (1816–1887) Konzept des ‚Reihengräbertypus‘ – eines

9 Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 68 (Berlin, New York 2010) 177–208. 10 Wilhelm Lindenschmit, Die Räthsel der Vorwelt, oder: Sind die Deutschen eingewandert? (Mainz 1846) 6.

88

Ludwig Lindenschmit und Wilhelm Lindenschmit

angeblich ‚typisch germanischen Langschädels‘.11 Lange und schmale Köpfe der Germanen hätten sich von den runderen der Römer unterschieden, was gelegentlich noch heute in Publikationen nachklingt.12 Allerdings ist die grundsätzliche ‚Verrundung‘ der Schädel im Verlauf des frühen Mittelalters13 mehr als nur ein Hinweis darauf, dass es andere Erklärungen für die Schädelform und deren Anpassungen geben muss. S. B.

11 Alexander Ecker, Crania Germaniae meridionalis occidentalis. Beschreibung und Abbildung von Schädeln früherer und heutiger Bewohner des südwestlichen Deutschlands und insbesondere des Grossherzogthums Baden. Ein Beitrag zur Kenntniss der physischen Beschaffenheit und Geschichte der deutschen Volksstämme (Freiburg 1865). – Zur Schädelsammlung vgl. Daniel Möller, Die Geschichte der Anthropologischen Sammlung Freiburg. Entstehung, Zusammenführung, Verlust (Marburg 2015). 12 Manfred Kunter/Ursula Wittwer-Backofen, Die Franken. Anthropologische Bevölkerungsrekonstruktion im östlichen Siedlungsgebiet. In: Die Franken (Mainz 1996) 653–661, hier 659. 13 Ilse Schwidetzky, Rassengeschichte von Deutschland. In: Europa V. Schweiz, Deutschland, Belgien und Luxemburg, Niederlande. Rassengeschichte der Menschheit 7 (München, Wien 1979) 45–101, hier 74 Abb. 8.

II Verfestigung (um 1900)

Gustaf Kossinna

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland1 Wenn ich den Versuch wage, die vaterländische Archäologie mit der Geschichte in Verbindung zu bringen und den durch die Arbeit unseres Jahrhunderts aufgesammelten reichen Funden aus heimischem Boden gleichsam ihre Subjektlosigkeit zu nehmen, so hat mich dazu nicht zum mindesten der Umstand veranlasst, dass die Archäologen der Keltenfrage, die wie alle ethnographischen Fragen und Ausdeutungen in ihren Kreisen ein Vierteljahrhundert geflissentlich und mit gutem Grunde beiseite gesetzt worden war, sich neuerdings wieder energischer zuwenden. Die Rückseite der Keltenfrage ist für Deutschland die Germanenfrage. Wir fragen darum allgemeiner: Wo haben wir es im heutigen Deutschland in vorgeschichtlicher Zeit mit Germanen, wo mit Nichtgermanen zu thun? Gleich bei Begründung der vorgeschichtlichen Archäologie als Wissenschaft, da man sie noch kurzsichtig in das Prokrustesbett der litterarisch überlieferten Geschichte einzwängte, wies man jeder der drei geschichtlich bezeugten Nationen Deutschlands, Kelten, Germanen, Slawen, ihre bestimmte Kultur zu, sei es die Steinzeit oder die Bronze- oder die Eisenzeit, wobei die mannigfachsten Kombinationen aufgestellt werden konnten und auch aufgestellt wurden. Es war dies das berüchtigte Spektakelstück in drei Aufzügen, wie es Hostmann einmal zutreffend bezeichnet hat. Und damit auch das Zwischenspiel nicht fehle, verpflanzte man noch die Römer sogar bis in den äussersten Nordosten unseres Landes. So stand es noch zu Anfang der siebziger Jahre bei uns und in noch höherem Masse in Skandinavien, dem Mutterlande der Archäologie: ich nenne nur die Namen Worsaae und Hildebrand. Gegen diese voreilig historisierende Richtung trat dann die streng auf Beobachtung des Tatsächlichen sich beschränkende naturwissenschaftliche Betrachtungsweise auf und gewann das Feld. Gleich|2|zeitig wurde der Gedanke, Kulturwechsel bedeute ohne weiteres Bevölkerungswechsel, überhaupt verworfen, zuerst von dem Pfahlbautenforscher Ferdinand Keller, dann auch von einigen Skandinaviern. Montelius und Zinck erwiesen für Schweden und Dänemark den ganz allmählichen Übergang vom Steinzum Bronzealter, Vedel und Montelius denjenigen vom Bronze- zum Eisenalter. Für Deutschland geschah dasselbe namentlich durch Undset, für Mecklenburg insbesondere später durch Beltz. Zusammenfassend hat dann Montelius die Einwanderungsund Bevölkerungsfrage behandelt und gezeigt, dass Vorfahren der Skandinavier, also Germanen, bereits zu Beginn der neolithischen Zeit in Skandinavien gesessen haben müssen. Und mit diesem Resultat stimmen auch die Ergebnisse der anthropologischen

1 Dieser Vortrag wurde am 9. August 1895 bei der Anthropologenversammlung in Kassel gehalten und hat hier nur geringe Änderungen und Zusätze erfahren. https://doi.org/10.1515/9783110563061-005

92

Gustaf Kossinna

Untersuchung der vorzeitlichen Schädel und Skelettreste Skandinaviens wenigstens insofern überein, als der indogermanische Typus mit Sicherheit nachgewiesen wurde. Montelius hatte aber gleichzeitig den Fehlschluss gethan, die mit der nordischen doch nur entfernter verwandte ungarische Bronzekultur für südgermanisch auszugeben. Nicht gerade infolge dieses Fehlschlusses, aber doch zeitlich hier beginnend bildete sich ein Misstrauen aus, wie früher gegen die ethnographische Aufteilung verschiedener sich ablösender Kulturperioden eines Landes, so jetzt gegen die ethnographische Verwertung der räumlichen Ausdehnung einer einzelnen Kultur. Man sagte: Vorgeschichtliche Kulturen wären das Ergebnis von Kulturströmungen, also geographisch, nicht ethnographisch bedingt. Man vergass dabei nur, dass auch die Völkerbildungen der Urzeit geographisch bedingt sind, jener scheinbare Gegensatz also wieder aufgehoben wird. Man verwies dann auf die Tene-Kultur, die Kelten und Germanen gleicherweise angehöre. Und doch ist diese Kulturperiode bei Kelten und Germanen durchaus nicht dasselbe. Die Tene-Kultur wurde Eigentum der Kelten wohl erst im Norden der Balkanhalbinsel, der zu Anfang des vierten Jahrhunderts v. Chr. von ihnen erreicht wurde. Bei den Germanen aber erscheint sie nicht nur im Ganzen später, sondern auch weit weniger glänzend und stets mit dem älteren Grabgebrauch des Leichenbrandes, während bei Kelten damals Skelettgräber herrschend sind und erst im letzten Jahrhundert der Tene-Zeit der Leichenbrand üblich wird. Schlagende Beispiele aber von ethnographisch streng umgrenzten Kulturen sind die germanische Kultur der Völkerwanderung, d. h. des fünften und sechsten Jahrhunderts, und die slawische Kultur des siebenten und der folgenden Jahrhunderte. Ja, die Hinterlassenschaft dieser beiden Kulturen ist das einzige Mittel, das uns helfen kann: einmal die durchaus verschwommenen Nachrichten über die Auswanderung der ostelbischen Germanen zu ergänzen und zu berichtigen, dann auch über die räumliche Ausdehnung der späteren slawischen Besiedlung in Ostdeutschland und Österreich ins Reine zu kommen. |3| Mit Unrecht verschanzen daher Philologen und Geschichtsforscher ihre Nichtachtung der Prähistorie hinter methodische Bedenken. Auch Eduard Meyer macht sich in seiner mit Recht berühmten „Geschichte des Altertums“ die Rechtfertigung dieses Standpunktes zu leicht. Er sagt: wie ein Wechsel der Kultur nicht einen Wechsel der Bevölkerung bedeute, so sei auch bei völlig sprungloser Entwicklung, also innerhalb einer und derselben Kultur, oft Bevölkerungswechsel anzunehmen. Diese Sätze kann ich trotz ihrer Allgemeinheit nur bedingt anerkennen. Denn nicht jeder Kulturwechsel, sondern nur der in allen Stücken ganz allmählich sich vollziehende zeigt Dauer der Bevölkerung an. Andererseits ist innerhalb einer geschlossenen Kulturperiode nur ein Wechsel kulturell völlig identischer Völker denkbar, d. h. nur ein Wechsel von Teilen eines grösseren ethnographischen Ganzen, von Stämmen eines und desselben Volkes. Ganz abzuweisen ist Meyers Hinweis auf die Geschichte Italiens und namentlich der italienischen Baustile. Meyer fragt, woran man in Italien die germanischen

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland

93

Eindringlinge archäologisch erkennen solle? Nun, jeder Archäologe kennt die sogenannten merowingischen Altertümer Italiens. Und jedermann weiss auch, dass die Kunststile in Italien sich ganz allmählich ablösen und dass dieselben Stile zwar in ganz Europa verbreitet, aber überall national geschieden sind. Sie würden also in die Vorzeit versetzt weder für Italien einen Wechsel der Bevölkerung noch für ganz Europa ein einheitliches Volk erweisen, sondern beide Male das Gegenteil. Die historischen Parallelen Meyers sprechen also nicht für, sondern gegen ihn. Immerhin gehört zur Verbindung von Archäologie und Geschichte das höchste Mass kritischer Vorsicht, wie es z. B. Bertrands neues Buch über die „Kelten am Po und Donau“ nur zu sehr vermissen lässt. Dieser Forscher findet „Galater“ sogar in Mecklenburg, Holstein, Jütland, ohne auch nur den Schatten eines Beweises, am wenigsten eines archäologischen hierfür zu erbringen. Ebenso dachten übrigens zwei historische Forscher, Wilhelm Arnold und Albert Duncker, beides Hessen. Sie liessen die Kelten etwa im sechsten, die Germanen im vierten Jahrhundert direkt von Asien nach Norddeutschland und Hessen gelangen. Damit kommen wir auf die unglückselige Hypothese von der Einwanderung der Indogermanen aus Asien. Sie verdankt ihr Dasein der unklaren Vermischung zweier Fragen: erstens, wo stammt die europäische Kultur her? zweitens, wo stammen die Völker Europas her? Stützen der asiatischen Hypothese waren weiter zwei schwere Grundirrtümer: erstens, dass Sanskrit die älteste, wo nicht gar die Mutter der indogermanischen Sprachen sei; zweitens, dass alle Völker die drei aristotelischen Wirtschaftsstufen des Jägers, Nomaden und Ackerbauers durchgemacht hätten und dass die Urindogermanen im besonderen auf der Stufe der Nomaden gestanden hätten. Für dies angebliche Nomadentum lieferte aber gerade Asien die schönsten Beispiele, bis auf den heutigen Tag. |4| Zwar nicht mehr die asiatische Hypothese, aber die Nomadentheorie findet sich noch in Otto Schraders bekanntem Buche „Sprachvergleichung und Urgeschichte“. Schrader ist der Hauptvertreter der sogenannten indogermanischen Altertumskunde, jener Wissenschaft, welche die Sprachvergleichung zur Ermittelung der Urzeit verwendet. Sie nennt ihr Verfahren, kokettierend mit den Naturwissenschaften, das einer „linguistischen Paläontologie“. Dieser Wissenschaft bringe ich das allertiefste Misstrauen entgegen. Wie ist denn ihre Methode? Findet sich in den beiden asiatischen Sprachen oder in einer von ihnen ein Wort, das auch in einer oder besser in mehreren europäischen, namentlich südoder westeuropäischen Sprachen, erscheint, so gehört dies Wort und der dadurch ausgedrückte Begriff der als einheitliches Ganze angenommenen indogermanischen Urkultur an. Gegen diese Art Aufstellung von Wörterstammbäumen lassen sich allgemein kulturgeschichtliche und besondere sprachgeschichtliche Bedenken schwerster Art geltend machen. Kulturgeschichtliche: erstens stehen sich die indogermanischen Einzelvölker in historischer Zeit kulturell schon viel zu fern, als dass ihr Sprachgut ohne weiteres verglichen werden könnte. Zweitens vollziehen sich die Kulturfortschritte der Völker fast nie in geraden Linien, die stammbaumartig

94

Gustaf Kossinna

auf einen Punkt zurückweisen, sondern es giebt da stets unzählige kreuzende Linien, kreuzende Kulturfaktoren. Drittens liegt die Urzeit viel zu weit zurück hinter den frühesten geschichtlichen Überlieferungen, selbst bei Griechen und Indern mehrere Jahrtausende, und die Zwischen-stufen sind gänzlich unbekannt. Parallel mit diesen kulturgeschichtlichen gehen die sprachgeschichtlichen Bedenken. Zunächst können wir nie mit einiger Sicherheit feststellen, was ein Wort in der Urzeit bedeutet haben mag, da doch die Begriffe sich oft so schnell und so stark verändern. Ein Beispiel ist die Unsicherheit der Bedeutung der Metallnamen sogar noch in den ältesten Litteraturdenkmälern: bedeutet hier ein Wort2 Metall schlechtweg oder Kupfer oder schon Bronze oder gar Eisen? Jede Veränderung der Kulturverhältnisse eines Volkes gestaltet auch den Inhalt seines Wortschatzes um. Ganz besonders wird bei der Auswanderung in fremde Gebiete mit anderen Lebensbedingungen eine Umdeutung vieler Worte eintreten. Dieselbe Umdeutung können andererseits Worte erleiden, die von einem Volke zu einem anderen wandern. Beispiele hierfür sind die gotischen Wörter ulbandus und peikabagms. Ulbandus entspricht lateinischem elephantus, bedeutet aber nicht Elephant, sondern Kameel; peika-bagms entspricht lateinischem ficus, bedeutet aber nicht Feigen-, sondern Palmbaum. Im letzteren Falle ist der Übergang von der ersten Bedeutung zu der anderen wohl durch das Zwischenglied „Dattelpalme“ vermittelt worden. |5| Hier wissen wir nun, dass wir es mit Lehnworten zu thun haben. Sobald wir aber zu älteren Zeiträumen hinaufsteigen, für das Germanische etwa zu dem Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr., eine Zeit, deren Kulturzustand durch die Archäologie völlig klar gelegt worden ist, so fehlt uns bis jetzt jede Möglichkeit, Lehnworte dieser Zeit mit den Mitteln der Sprachforschung als solche zu erkennen. Wir kommen so zu der zweiten Frage: Ist ein scheinbar urindogermanisches Wort nicht vielmehr ein Eigentum nur einer der indogermanischen Einzelsprachen und in den anderen ein späteres, wenn auch immer noch vorhistorisches Lehnwort? In solchem Falle entfällt natürlich die Berechtigung, es der Urzeit zuzuschreiben. Wir müssen uns aber ebenso wohl hüten, zu viel Worte in die Urzeit hinaufzurücken, als zu wenig, und damit kommen wir zu dem dritten sprachgeschichtlichen Bedenken, das sich darauf gründet, dass wir keine Ahnung von dem Umfange des zweifellos sehr grossen Verlustes haben, den der urzeitliche Sprachschatz innerhalb jeder Einzelsprache erlitten hat. Jede aus der Fremde eingeführte, vielleicht recht unwesentliche Veränderung eines Gegenstandes konnte ein Urwort zum Aussterben bringen und ein Fremdwort dafür einführen. Dieses Fremdwort nimmt dann der „linguistische Paläontologe“ zum Beweise einer Lücke im voraufliegenden Kulturleben, während es thatsächlich nicht in eine Lücke getreten ist, sondern heimisches Gut verdrängt hat. So sind die Worte „Kupfer“ und „Pferd“ spätrömische Lehnworte. Pferde gab es aber als Haustiere bei den Germanen nachweislich schon in der jüngeren Steinzeit, und das Kupfer wurde ihnen bereits am Ende der Steinzeit bekannt. Für die

2 Ich denke hierbei an skr. ayas und griech. χαλκός.

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland

95

sogenannte indogermanische Urzeit aber versagt naturgemäss das Kontrollmittel der vorgeschichtlichen Archäologie. Alle diese Bedenken füren mit Notwendigkeit zu dem Schlusse: die linguistische Paläontologie ist für die Konstruktion der Urgeschichte so gut wie unbrauchbar. Seit O. Schrader ist es nun bei den Sprachvergleichern Brauch, ihre blassen, kurzlebigen Urgeschichtskonstruktionen mit der blühenden Farbe der archäologischen Realitäten aufzufrischen. Schrader selbst ist dabei nichts weniger als glücklich gewesen. Er zeigt sich vielmehr als völliger Laie, wenn er noch neuestens mit Viktor Hehn die Steinzeit der Schweizer Pfahlbauten ins sechste Jahrhundert verlegt, während sie bereits mehr als ein Jahrtausend früher ihren Abschluss erreicht hatte, oder wenn er noch immer in Lindenschmits Anschauungen über die Unmöglichkeit einer nordeuropäischen Bronzekultur befangen ist, und dies nicht etwa aus archäologischen Gründen, sondern aus – sprachlichen Erwägungen über die Verwendung der Metallbezeichnungen bei Bildung der germanischen Personennamen! Auch seine Gleichstellung der Kultur der rätischen, also nichtindogermanischen Steinzeitpfahlbauer mit der urindogermanischen Kultur ist etwas durchaus künstlich Gemachtes, indem die Pfahlbauer einfach das |6| Muster sind, wonach sich die Urindogermanen zu richten haben3. Eine solche Verwertung der Archäologie ist durchaus unzulässig. Die Sprachvergleichung kann eben aus sich heraus in der Urgeschichte nichts entscheiden, sie kann hier nur lernen. Im Gegensatz zur Sprachvergleichung mit ihren unfruchtbaren Wörterstammbäumen steht die Geschichte der Einzelsprachen, die zwar nicht für die Urzeit, wohl aber für den Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte von allerhöchstem Werte wird, wenn sie mit Hilfe von alten Völker-, Gebirge- und Flussnamen vorhistorische Lautübergänge chronologisch und lokal derart festzulegen vermag, dass ethnographische Schlüsse gezogen werden können. Dies ist der Fall bei einigen der ältesten keltischen Namen in Deutschland, die vor der sogenannten germanischen Lautverschiebung von den Germanen an ganz bestimmten Orten übernommen wurden und demnach die Anwesenheit der Kelten und die Nachbarschaft der Germanen an jenen Orten für die genannte Zeit erweisen. Nachdem die germanische Sprache Jahrtausende lang in ihrem Konsonantensystem sich nicht sehr erheblich von den anderen indogermanischen Sprachen unterschieden hatte4, erfuhr sie im Laufe des vierten Jahrhunderts vor Chr., offenbar infolge der starken Ausbreitung über anderssprachige Nachbargebiete, die während des sechsten und fünften Jahrhunderts namentlich in Ostdeutschland, während des vierten

3 Dieser Vorwurf trifft besonders die erste Auflage des Werkes, während die zweite, je strenger sie allein auf sprachlicher Grundlage die Urkultur aufbaut, desto weniger mit den gesicherten Ergebnissen der Prähistorie und Ethnologie in Einklang zu bringen ist. 4 Die Germanisten pflegen die der Lautverschiebung voraufliegende Zeit „vorgermanisch“ zu nennen und lassen die germanische Sprache mit dem Vollzug der Lautverschiebung aus der indogermanischen Ursprache gleichsam erst geboren werden: eine gänzlich falsche Anschauung.

96

Gustaf Kossinna

ebenso in Westdeutschland erfolgt war, eine durchgreifende Änderung in ihrem konsonantischen Lautstande, ähnlich wie später nach Abschluss der Völkerwanderung die zweite, sogenannte hochdeutsche Lautverschiebung eintrat. Bis dahin hatte der in unserem „Dach“ und „Decke“ enthaltene urgermanische Stamm genau wie im griechischen und lateinischen teg gelautet: im 4. Jahrhundert wurde daraus pek (thek): ebenso wurde urgermanisch podus „Fuss“ = griech. ποδ, lat. ped- damals zu fotus, urgermanisch dekum „zehn“ = griech. δέκα, lat. decem damals zu techum. Es wurde also unter anderem t zu þ, p zu f, k zu h (χ); ruhte aber der Accent des Wortes auf der diesen Konsonanten folgenden Silbe und waren sie nicht mit s oder t verbunden (hs, ht; fs, ft), so wurden die neuen þ, f, h weiter zu den tönenden Spiranten d, b, ǥ erweicht. So musste also der Name *’Perkúnia, womit die Kelten den Hauptzug der deutschen Mittelgebirge, namentlich aber die böhmischen Randgebirge bezeichneten, im Germanischen zu Fergúnia werden. Da nun die Kelten |7| spätestens im fünften Jahrhundert die aus der Urzeit ererbten p verloren haben, wodurch Perkunia zu Erknnia (’Ερκύνια, Hercynia) wurde, die germanische Entlohnung aber nicht nur vor der Lautverschiebung stattfand, sondern auch vor dem Verluste der keltischen p (germanisch f aus urgermanisch p = keltisch p), so sind spätestens im fünften Jahrhundert vor Chr. Germanen und Kelten am Erzgebirge Nachbarn gewesen. Ebenso erweist der Name Walchen, der in allen germanischen Sprachen die Verschiebung von k zu ch aufweist, dass die mährischen Volken (Volcae), denen die Germanen die Bezeichnung für die Gesamtheit der Keltenstämme entlehnten, spätestens um 400 vor Chr. sich mit den Germanen an den Sudeten berührt haben müssen. Umgekehrt können wir mit Sicherheit behaupten, dass die Gegenden, wo keltische Namen im Germanischen unverändert geblieben sind, erst nach Abschluss der germanischen Lautverschiebung germanische Bevölkerung bekommen haben können. Die bis heute noch unverschobenen niederdeutschen Flussnamen, die auf -p auslauten, dem Reste der ehemaligen keltischen Endung -apa (= lat. aqua, gotisch ahva), und im Verein mit den im hochdeutschen Gebiete auf -f auslautenden gleichen Flussnamen etwa von der Leine aus südwärts bis zum Main, westwärts bis über den Rhein sich erstrecken, bezeugen neben manchen anderen Anzeichen das spätere Eindringen der Germanen in Westdeutschland. Soviel zur Erläuterung des Wertes der Sprachgeschichte, deren Ergebnisse wir dort, wo uns die Archäologie, sei es aus Mangel an Material, wie namentlich in Westdeutschland, sei es aus sonstigen Gründen, keine klare Antwort auf ethnographische Fragen gibt, zu Rate ziehen müssen. Die Fehlerquellen, die, wie wir gesehen haben, die Methode der Sprachvergleichung bei der Ermittelung der sogenannten Urzeit so unzuverlässig machen, fliessen nun nirgends reichlicher als bei den uns hier am meisten angehenden Versuchen, die Urheimat der Indogermanen zu ermitteln. In dieser Frage ist die linguistische Paläontologie über ein Herumraten bisher nicht hinausgekommen. Selbst ein Schwärmer für Asien, wie Max Müller, verzweifelt an der Möglichkeit sprachvergleichender Beweise. Ähnlich Johannes Schmidt, doch war dieser es gleichzeitig, der, gestützt auf Beobachtungen über das Zahlsystem, den unglücklichen Gedanken hatte, Babylonien oder

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland

97

seine Nachbarschaft als Urheimat zu empfehlen. Ebenso wenig kann uns Schraders südosteuropäisches Steppenland, Hirts südöstliche Ostseeküstenländer, oder gar Penkas Skandinavien annehmbar erscheinen. Wenn wir uns überhaupt auf die Ermittelung der indogermanischen Urheimat einlassen wollen, können wir das nur als Kulturhistoriker thun. Die früheste zu ermittelnde Verbreitung der Indogermanen zeigt ihre Hauptmasse im östlichen Mitteleuropa. An der mittleren Donau war also vielleicht ihre Urheimat, von der aus sie sich baumkronenartig nach allen Richtungen verzweigten, als durch die Einführung der Viehzucht und die |8| Verwendung des Zugstieres beim Ackerbau unzählige bisher beim Hackbau verwendete Menschenkräfte frei wurden. Es erfolgte offenbar ruckweise das Ausschwärmen einerseits der Kelten die Donau aufwärts und den Rhein abwärts, andererseits der Slawen nach den Gegenden des oberen Dniestr und der oberen und mittleren Weichsel. Inmitten beider Schwärme gingen die Germanen zwischen Oder und Elbe abwärts. Spätestens zu Beginn des dritten Jahrtausends v. Chr. sassen Germanen in Südschweden, Dänemark, Schleswig-Holstein, Mecklenburg. Hier setzt nun die Archäologie ein. Wir gehen jedoch nicht von dieser Urzeit aus vorwärts, sondern als richtige Seiler lieber rückwärts, indem wir den Faden möglichst an die Enden der Geschichte und Sprachforschung anknüpfen. Die geschichtlich frühesten Sitze der Germanen kennen wir durch die Forschungen des letzten Jahrzehnts, namentlich durch Müllenhoffs, Rudolf Muchs und meine eigenen Arbeiten. Danach sind zur Zeit des Kimbernkriegs Germanen über den Main gezogen und haben in Süddeutschland die Sitze eingenommen, die im zweiten Jahrhundert vor Chr. Helvetier und Bojer inne hatten: erstere zwischen Main und Bodensee, letztere östlicher nach Böhmen hin und in Böhmen selbst. Diese, Süddeutschland besetzenden Germanen, die den Namen Markomannen erhielten, waren eine Ausscheidung der nördlich des Mains sitzenden Mainsweben, gegen die später Cäsar seine Rheinübergänge richtete. Um 90 v. Chr., also bereits vor Ariovist, wurde auch die Rheinpfalz und das Elsass von Germanen besetzt, während in der linksrheinischen Rheinprovinz und in Ostbelgien Germanen schon um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts eingedrungen waren. Westlich des unteren Rheins haben wir also in der mittleren und späten Tenezeit eine germanisch-gallische Mischbevölkerung und Mischkultur, in Süddeutschland aber ist erst die jüngste Tene-Zeit germanisch. Rechtsrheinisch sassen in Nassau die Ubier bis zum Jahre 38 v. Chr.: ihnen, und nicht den Chatten, wie Tischler meinte, gehören die reichen Nauheimer Spät-Tenefunde an. Die Chatten wohnten damals noch um die obere Eder, Ruhr und Lippe, also nördlich von den Ubiern, während als Ostnachbarn der Ubier längs des Mains die erwähnten Mainsweben sassen, ein Spross der märkischen Ursweben, die sich Semnonen nannten. Von diesen Semnonen aus hatten sich die Mainsweben über Thüringen allmählich bis zu den Ubiern ausgebreitet, zogen dann aber samt den Markomannen um 9 v. Chr. von der römischen

98

Gustaf Kossinna

Grenze und dem Rheine ostwärts fort bis nach Böhmen und Mähren, welche Länder damit zuerst germanisch wurden. Ob die Anfänge der berühmten vorgeschichtlichen Station auf dem Burgstall zu Stradonic, die bis in die jüngste Tene-Zeit zurückreichen, noch keltisch oder bereits germanisch sind, bleibt also zweifelhaft. |9| In Norddeutschland unterhalb des Gebirges, das für Undset Kelten- und Germanengrenze bedeutete, sollen nach Tischler nur mittlere und späte Tene-Formen erscheinen. Man könnte also weiter schliessen, dass wo die reine Eisenzeit erst mit der mittleren Tene-Kultur eindringt, germanische Bewohner anzunehmen sind. Allein diese Aufstellung ist nicht richtig, denn in sicher germanischen Gegenden, wie Hannover, Brandenburg, Provinz und Königreich Sachsen, Schlesien zeigt sich auch Früh-Tene. Für die Tene-Zeit müssen wir daher neben der Archäologie noch die germanisch-keltische Sprachgeschichte zu Rate ziehen. Dass Nordwestdeutschland zwischen Rhein einerseits und Leine, Werra, Thüringerwald andererseits seine germanische Bevölkerung erst seit etwa 300 v. Chr. erhalten hat, habe ich vor kurzem dargelegt5. Eine Linie von Köln nach Eisenach schneidet die Südwesthälfte dieses Gebietes ab, in der die keltischen Münzfunde noch für einen Teil der mittleren Tenezeit, also bis etwa zum Jahre 200 v. Chr., keltische Bevölkerung bezeugen. Die berühmteste vorhistorische Station dieses Gebietes ist wohl der kleine Gleichberg bei Römhild, der sich durch seine Skelettgräber, die gläsernen Armringe, die wunderschönen Ringglasperlen, deren Grün und Blau mit Weiss und Gelb gemischt ist, sowie durch den roten Furchenschmelz am Eisengerät als entschieden keltisch erweist. Markomannen haben diese Bojerburg wohl um Christi Geburt bei ihrer Auswanderung vom Rhein nach Böhmen zerstört. Das einst ganz keltische Thüringen wurde, wie ich festgestellt habe, etwa bis zur Unstrut spätestens um 400 v. Chr., südlich der Unstrut frühestens um 300 v. Chr. germanisch. Die Tene-Skelettgräber bei Ranis gehören noch den Kelten an. Dass auch im Königreiche Sachsen und in Schlesien nördlich des Gebirgsrandes einst Kelten gesessen haben müssen, zeigt der alte Name „Fergunna“ (Erzgebirge), die lautgesetzliche Weiterbildung von keltisch Perkunia, sowie der Name „Walchen“. eine germanische Weiterbildung des Namens der mährischen „Volken“ (Volcae), eines keltischen Stammes (s. oben S. 95 f.). Beide Namen zeigen zugleich durch ihre Lautgestalt, dass spätestens um 400 v. Chr. Germanen am Gebirgsrande gesessen haben müssen. Aber noch zu Tacitus’ Zeiten kennen wir in Oberschlesien den germanischen Stamm der Narvalen, der einen keltischen Namen trägt, also einst keltische Nachbarn gehabt haben muss.

5 Vgl. meine Abhandlung über den „Ursprung des Germanennamens“ (Beitrage zur Geschichte der deutschen Sprache 20, 297 ff.). – Nur die Meeresküste nördlich einer Linie von Bremen nach Amsterdam zeigt weit ältere germanische Besiedelung; siehe auch S. 100.

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland

99

Noch weiter östlich an den Weichselquellen müssen seit mindestens 300 v. Chr. germanische Bastarnen gesessen haben, denn bereits um 200 v. Chr. erscheinen Ausläufer von ihnen an der unteren Donau, sowie |10| am schwarzen Meere. Bastarnen waren spätestens um 300 v. Chr. die Vermittler skythischer Goldsachen bis nach Deutschland hin, wie wir sie aus dem berühmten Vettersfelder Goldfunde kennen. Sehen wir von den längs den Karpaten in Galizien wohnhaften Bastarnen ab, so ist zu Cäsars und Augustus Zeiten die Weichsel die Ostgrenze für Germanen und gleichzeitig für die Tene-Kultur. An der unteren Weichsel liegen zwar die Tene-Stationen Rondsen und Willenberg schon rechts des Stromes, aber doch unmittelbar am Ufer. Und wenn Tischler noch an drei Punkten des archäologisch reichen Samlandes schwache Tene-Spuren entdeckt hat, so zeigt doch der Umstand, dass sie sich nur in Nachbestattungen am Rande von älteren Hügelgräbern fanden, nicht aber in Urnenfeldern, wie überall bei den Germanen, dass in Samland damals keine Germanen wohnten. Zwischen Weichsel und Leine, sowie zwischen Ostsee und Harz, Unstrut, Erzgebirge und den schlesischen Gebirgen ist also zu Beginn der Tene-Periode, im 4. Jahrhundert v. Chr., germanischer Boden. In der Provinz Westpreussen haben wir nun genau dieselbe Ostgrenze wie für Tene-Kultur, so für die voraufgehende Periode der Gesichtsurnen, sogar mit denselben beiden Orten rechts der Weichsel, bei Graudenz und Marienburg. Südwärts reichen die Gesichtsurnen über Posen bis nach Schlesien; in Posen und Mittelschlesien haben wir gleichzeitig die bemalten Gefässe. Es besteht kein Grund, in dieser letzten Periode der Bronzezeit einen Bevölkerungswechsel anzunehmen. Doch um für die ganze Bronzezeit den richtigen Standpunkt zu gewinnen, müssen wir vor allem das sicher germanische, sogenannte nordische Bronzegebiet näher betrachten. Ich schliesse mich hier in der Chronologie an Montelius an, mit den für Norddeutschland nötigen Änderungen, wie sie Beltz und Lissauer getroffen haben. Danach haben wir 1. eine frühe (1600–1400 v. Chr.); 2. eine ältere (1400–1000); 3. eine jüngere (1000–600); 4. eine jüngste Bronzezeit (600–350) zu unterscheiden. Es gilt jetzt, den Umfang dieses nordischen Bronzegebiets in Norddeutschland festzulegen. In der frühen Bronzezeit haben wir im Norden fast gar keine eigenen Typen; nur der Schwertstab ist rein nordisch, erscheint in Norddeutschland und Schonen, genügt aber nicht zu einer sicheren Umgrenzung eines eigenen Bronzegebietes. Dagegen bietet die ältere nordische Bronzezeit ganz eigene Typen in Rand- und Hohlkelten, Schwertern, Messern, Hals- und Brustschmuck, Hals- und Armringen, Tutuli, Doppelknöpfen, Schmuckdosen. Östlich dehnt sich dies Bronzegebiet kaum über die Oder aus, westlich überschreitet es die Elbe nur an ihrer Mündung. Die Südgrenze geht längs der Aller, der Havelseen und auf einer Linie von Berlin nach Stettin. |11|

100

Gustaf Kossinna

Nach allen Seiten weiter reicht das jüngere nordische Bronzegebiet: westlich geht es an der Meeresküste bis etwa zur holländischen Grenze6, östlich über die Oder hinaus bis etwa zum 34° östlich von Ferro, dann südlich bis an die Netze, hierauf diese und die Warte abwärts, dann auf einer Linie von Küstrin nach Halle a. S. und über den Harz an die Aller, schliesslich über die untere Weser zur unteren Ems. Die Ost- und Westgrenze stimmt genau mit der Ost- und Westgrenze der Goldspiralen aus Doppeldraht, die in Norddeutschland nach Olshausen nur zwischen Aller und Persante vorkommen. Für die jüngste nordische Bronzezeit fehlt bei Montelius die Angabe ihres Gebietes. Die Ausbreitung der spezifisch nordischen Bronzekultur ist zugleich die Ausbreitung der Germanen. Ich wende mich nochmals gegen die Meinung, dass hier lediglich eine Kulturströmung vorliege, da die Bronze sich von Süden nach Norden und dann nach Osten verbreitet habe. Denn erstens breitet sich das nordische Bronzegebiet mit seinen ganz eigentümlichen Stilformen auch nach Westen und Süden aus und zweitens fand es mitten zwischen Elbe und Weser oder gar mitten zwischen Oder und Weichsel keine geographischen Hindernisse der Weiterverbreitung. Hier ist nur eine ethnographische Grenze denkbar. Prüfen wir nun das östlich der Germanengrenze liegende Gebiet links der Weichsel. In Westpreussen zeigt die ältere Bronzezeit eine recht spärliche Hinterlassenschaft, dazu keinen einzigen eigenen Typus, keine Gussform. Es bestand dort also gar keine Bronzeindustrie, nur Einfuhr von Bronzen, hauptsächlich aus dem westbaltischen, d. h. nordischen Bronzegebiet. Unverändert besteht dies Verhältnis auch in der jüngeren Bronzezeit. Ganz anders aber in der jüngsten Bronzezeit, für die wir vorher bereits Germanen bis zum linken Weichselufer festgestellt haben. Neben allgemein nordischen oder nur ostdeutschen Typen (wie die Spiral- und Schwanenhalsnadeln, die Schleifen- und Nierenringe) haben wir nun auch besondere westpreussische Lokaltypen: die Schieberpincetten, die achtkantigen Halsringe, die spiralförmigen Fussringe, die schildförmigen Ohrringe und die Ringhalskragen, letztere beiden Typen auch an den durchaus lokalen Gesichtsurnen nachgebildet. Ganz ähnlich liegen die Dinge in Posen, dessen Norden archäologisch zu Westpreussen, dessen Süden zu Mittelschlesien gehört. In Schlesien nun hat die gesamte Bronzezeit nicht einen einzigen Lokaltypus geschaffen. Die früher „schlesisch“ genannte Ösennadel ist allgemein ostdeutsch und kommt zudem in Ostpreussen häufiger vor als irgendwo anders. Schlesien zeigt in seinem unbedeutenden Bronzebestande |12| in der älteren Bronzezeit nordische, in der jüngeren vorwiegend Hallstatt-, auch ungarische Typen: alles ist Einfuhr. Erst die jüngste Bronzezeit zeigt auch hier grösseren Reichtum, sogar Gussformen und Schmelzstätten.

6 Archäologie und Sprachgeschichte stimmen in dem Erweis dieser Thatsache aufs schönste überein, vgl. oben S. 98, Anm.

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland

101

Neben südlichem Import, wie ungarische Doppelspiral-, Schlangen- und Certosafibeln, sind aber nur die allgemein ostdeutschen Typen, wie Schwanenhals- und Spiralnadeln hier zu finden. Wir müssen also die einheimische Bronzeindustrie wie die germanische Besiedelung in Schlesien noch später ansetzen, als in Westpreussen, etwa in den Beginn des 5. Jahrhunderts. Die Besiedelung dieser ostdeutschen Lande westlich der Weichsel und um die obere Oder, deren Bewohner in historischer Zeit in einem Gegensatz zu den Westgermanen und in naher Verwandtschaft mit den Skandinaviern stehen, fand zweifellos von Südschweden und Ostdänemark aus statt. Das zeigen auch die Völkernamen dieser Ostgermanen, die sich entweder in Jütland oder Südschweden oder Südnorwegen wiederfinden und auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt zurückweisen. Zu diesen Namen gehören diejenigen der Wandalen, Warinen, Burgundionen, Rugen, Goten. Auch der von den Slawisten in seinem Ursprung als unslawisch bezeichnete, weil aus dem Slawischen nicht zu erklärende Name „Danzig“ scheint mit dieser nordischen Einwanderung zusammenzuhängen7. Vor der Einwanderung der Skandinavier sassen zwischen Weichsel und Oder im Norden wohl Angehörige der lettischen Sprachfamilie, im Süden sicher Slawen, wie aus Herodots Nachrichten über diese Gegenden, die bis ins sechste Jahrhundert hinaufreichen, hervorgeht. Auch der Name der Weichsel scheint nach allem, was wir wissen, letto-slawischen Ursprunges zu sein. Zwischen 600 und 500 vor Chr. wurden die Letten bis zur Weichsel von den Germanen überwältigt, die Westslawen aber, die bei Herodot Neuroi heissen, nach Südosten hin verdrängt. Und die Germanen stiessen ihrerseits um 400 v. Chr. oder etwas früher am Nordrande des Gebirges auf Kelten, die von Südwesten aus hier angelangt waren. Ethnographisch schwer bestimmbar sind die Urnenfelder vom sogenannten Lausitzer Typus, die von Mittelschlesien bis an die mittlere Saale und über das südliche Brandenburg sich erstrecken. Die Bronze erscheint auch hier spät, aber doch schon in der jüngeren Bronzezeit (seit etwa 1000 v. Chr), freilich ziemlich ärmlich. Indessen es bestehen doch Verbindungen nach Süden (Böhmen, Mähren), bald auch nach Norden, zudem ist hier das Gebiet der glänzendsten Keramik von ganz Nordeuropa. So kann es sich wohl nur um Germanen oder Kelten handeln. Wo aber hier in der jüngeren und jüngsten Bronzezeit beide Nationen grenzten, bleibt fraglich. |13| Im Westen fehlt uns noch ein Gebiet zwischen der Leinegrenze vom Beginn der Tene-Periode und der Allergrenze vom Ausgang der jüngeren Bronzezeit. Dies Stück zwischen Aller und Leine muss also Erwerb der jüngsten Bronzezeit sein.

7 Nähere Ausführungen über die hier ausgesprochenen Behauptungen denke ich in einer besonderen Schrift zu bringen. Doch will ich gleich hier dem möglichen Missverständnis vorbeugen, als wäre nach meiner Meinung der Name „Danzig“ mit dem Namen „Dänen“ in Verbindung zu bringen.

102

Gustaf Kossinna

So sehen wir, wenn wir rückwärts gehen, wie das Gebiet der Germanen sich stetig verengt und nach Norden zurückzieht. Die der Bronzeperiode voraufgehende Kupferperiode hat nicht lange genug gewährt, um eine Hinterlassenschaft zu erzeugen, die für unsere Zwecke neue Aufschlüsse bringen könnte, denn mehr noch als die frühe Bronzezeit besteht die nordische Kupferzeit nur durch den Import. Wohl aber thut dies die Steinzeit, die von Montelius chronologisch eingeteilt, von Tischler in ihrer lokalen Ausdehnung näher bestimmt worden ist. Tischler scheidet ein ostbaltisches Steinzeitgebiet vom Ladogasee längs der Ostseeküste bis an die Oder, und ein westbaltisches von der Oder beginnend in den Ländern südwestlich und nördlich der Ostsee. Leitmotive für Tischler waren das sogenannte echte Schnurornament8 und der geschweifte Becher. Beide kommen im Ostbaltikum vor, sowie in Thüringen, Böhmen, Schweiz, Frankreich, England, Holland, sollten aber im Westbaltikum fehlen. Später aber zeigte sich, dass der Becher auch in Hannover, Oldenburg, Schleswig-Holstein und Dänemark vorkomme. Auch die Verbreitung des echten Schnurornaments ist zweifelhaft geworden. Tischler leugnete noch in den letzten Lebensjahren sein Vorkommen im Norden, obwohl Voss es in Dänemark kennen wollte und demgemäss nur Nordwestdeutschland westlich einer Linie Stettin-Dessau als das Gebiet freistehender Dolmen und des vorwiegenden Stichornaments in der Keramik aussonderte. Unzweifelhaft bewährt aber hat sich Tischlers Einteilung, wenn wir den Bernsteinschmuck der Steinzeit betrachten, wobei wir im Westbaltikum nicht die rohen Arbeiten der Moor- und Erdfunde, wie der ältesten Dolmen, sondern die kunstvolleren Stücke der jüngeren Ganggräber vergleichen. Diese haben neben zahlreichen mit dem Ostbaltikum gemeinsamen Typen als Besonderheit durchbohrte Knöpfe, hammerförmige und amazonenaxtförmige (doppelaxtförmige) Perlen; das Ostbaltikum dagegen hat undurchbohrte Knöpfe, besondere End- und Mittelhängestücke, sowie massenhafte Knöpfe mit V oder Winkelbohrung. Letztgenannte Knöpfe kommen zwar auch im Westbaltikum vor, aber nur sehr vereinzelt und dann bereits in der ältesten Bronzezeit. Von hervorragender Bedeutung für die Scheidung von Ost- und Westbaltikum in der Steinzeit sind schliesslich die Megalithgräber, deren älteste Gestalt die freistehenden Dolmen sind, denen dann die Ganggräber, |14| endlich die grossen Steinkammern zunächst mit freier, später aber mit vom Erdhügel verdeckter Steindecke folgen. Östlich der Oder zeigen sich diese Megalithgräber, wie Voss im Jahre 1877 nachwies, nur noch unmittelbar an der Oder im Kreise Kammin. Obwohl man östlich der Oder dasselbe Geschiebematerial zur Verfügung hatte, erscheinen dort keine westbaltischen Megalithgräber, sondern die ganz eigenartigen Formen der

8 Nach dem heutigen Stande der Forschung und der Terminologie muss man eigentlich sagen: echtes Schnurornament im engeren Sinne.

Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland

103

Trilithen und der sogenannten cujavischen Gräber, die eine langgezogene dreieckige Steinsetzung zeigen. Es ist klar, dass hier eine ethnographische Grenze vorliegt, zumal noch die älteste Bronzezeit an derselben Stelle, der Oder, gleichfalls eine Volksgrenze aufweist. Nach Süden und Westen haben wir in der Steinzeit keine archäologisch erkennbare Volksgrenze. Da wir aber die Germanengrenze bisher stetig zurückweichen sahen, werden wir nicht fehl gehen, wenn wir ihre älteste Heimat in Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Jütland, den dänischen Inseln und Südschweden erkennen. Dieser Urzustand der germanischen Verbreitung reicht bis in den Anfang des dritten Jahrtausends v. Chr. hinauf. Sehen wir die Inder im Pendschab um 1500 v. Chr. ihre Veden dichten, weisen Homers Gesänge auf die mykenische Kultur etwa derselben Zeit zurück, sind also diese Völker nicht etwa als Indogermanen, sondern als volle Inder und Griechen 1300 Jahre v. Chr. in ihren historischen Sitzen gewissermassen litterarisch bezeugt, so haben wir nicht den geringsten Grund uns zu wundern, dass Germanen ein Jahrtausend vor dieser Zeit an der Ostsee wohnten. Deutsches Volkstum und deutsche Kultur haben in ihrer kraftvollen Überlegenheit es nicht nötig, zur Stütze weiterer Ausdehnung oder gar zur Sicherung ihres Bestandes auf die Besitztitel vorgeschichtlicher Jahrtausende zurückzugreifen, wie das andere Nationen nicht ohne Vergewaltigung der geschichtlichen Thatsachen gethan haben. Uns Deutsche und mit uns alle anderen Glieder germanischen Stammes kann es aber nur mit Stolz erfüllen und bewundern müssen wir die Kraft des kleinen nordischen Urvolkes, wenn wir sehen, wie seine Söhne in Urzeit und Altertum ganz Skandinavien und Deutschland erobern und im Mittelalter über Europa, in der Neuzeit über ferne Erdteile sich ausbreiten.

104

Gustaf Kossinna

Kommentar Erst in den 1880er Jahren fand das prähistorische Drei-Perioden-System – nach einem halben Jahrhundert heftiger Debatten – allgemeine Akzeptanz. An der grundsätzlichen Abfolge war angesichts zahlreicher Neuentdeckungen und Ausgrabungen nun nicht mehr zu zweifeln. So bot sich Gelegenheit, einen genaueren Blick auf die Kulturentwicklung zu werfen und zu versuchen, die allgemeine archäologische Chronologie weiter zu verfeinern. Nach langen Vorarbeiten und intensiven Diskussionen legte 1885 Oscar Montelius (1843–1921) seine Chronologie der skandinavischen (‚Nordischen‘) Bronzezeit vor, womit er einen entscheidenden Beitrag leistete. Ungeachtet der Bezeichnung ‚typologische Methode‘, die sehr an evolutionistische Typenabfolgen erinnerte und Anlass zur Methodenkritik bot (zugleich aber wohl bewusst das Renommee der modernen Naturwissenschaften in Anspruch nahm), stützte sich Montelius auf den ‚geschlossenen Fund‘, d. h. die Kombination von Fundgegenständen in Gräbern und Depots.1 Dieses Konzept erlaubte es ihm, die gleichzeitige Verknüpfung verschiedener Fundobjekte zur Grundlage einer zeitlichen Ordnung zu machen. Die offenbar ‚bruchlose‘ Entwicklung der Kultur vom Neolithikum über die Bronze- in die Eisenzeit schien ein hinreichendes Argument zu sein, eine kontinuierliche Besiedlung Skandinaviens über Jahrtausende anzunehmen. An dieser Tatsache ist auch nicht zu zweifeln. Historisch gewendet, bedeutete sie aber die Möglichkeit, die seit Cäsar bekannten Germanen weit in die schriftlose Zeit der Vorgeschichte zurückzuverfolgen. Damit war der Anspruch verbunden, die ‚Geschichte‘ nach vorn zu verlängern und der prähistorischen Forschung höheres Ansehen bei den historischen Nachbardisziplinen und in der breiteren Öffentlichkeit zu verschaffen. Dass Besiedlungskontinuität und Kulturentwicklung nicht unmittelbar mit politischen Verhältnissen zusammenhängen, blieb dabei aus heutiger Sicht unreflektiert und vernachlässigt, stellte im 19. Jahrhundert aber kein Problem dar. Es war mit Gustaf Kossinna (1858–1931) ein Germanist, der sich die archäologische Suche nach den Ursprüngen der Germanen zur Lebensaufgabe machte.2 In der Erkenntnis, dass Geschichts- und Sprachwissenschaft dazu nicht in der Lage waren, arbeitete sich der – häufig von seinem Dienstherrn beurlaubte und von den lästigen Pflichten entbundene – Bibliothekar durch Lektüre und Museumsreisen gründlich in die Vorgeschichtsforschung ein, sah er doch in den Bodenfunden zu recht weiterführende historische Quellen. Sein überaus langer und Zuhörern zufolge ermüdender ‚Kasseler Vortrag‘, auf den er immer wieder als ‚Initialzündung‘

1 Evert Baudou, s. v. Montelius. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 20 (Berlin, New York 2002) 204–207; Bo Gräslund, The birth of prehistoric chronology. Dating methods and dating systems in nineteenth-century Scandinavian archaeology (Cambridge 1987). 2 Heinz Grünert, Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Vorgeschichtliche Forschungen 22 (Rahden 2002).

Kommentar

105

zurückkam und der hier nochmals abgedruckt wird, entfaltete bereits sein späteres Programm. Es bedeutete zugleich die Begründung des ‚ethnischen Paradigmas‘ der prähistorischen Forschung, das Kossinna später so formulierte: „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerstämmen“.3 In dieser apodiktischen Formulierung lagen Attraktivität der Interpretation des Modells und seine methodische Fragilität dicht beieinander. Im Grunde setzte Kossinna zwei Prämissen. Zum einen ging es ihm um Kontinuitäten. Kossinnas Ziel war es, die Germanen möglichst weit zurückzuverfolgen und ihnen damit eine lange, zumindest eine längere Geschichte als bislang allgemein vorausgesetzt und anerkannt zu verschaffen – und sie über die sonst oft vorausgesetzte Überlegenheit des antiken Ostens und Südens zu erheben. Über Ähnlichkeiten und Entwicklungen der Sachkultur gelangte Kossinna bis in das Neolithikum. Seiner Auffassung zufolge hätten sich die Germanen damals aus der ‚Vermischung‘ zweier Elemente entwickelt: aus dem bäuerlichen Element der einheimischen Bevölkerung Europas und aus dem kriegerischen der von Osten einströmenden, ‚indogermanischen Streitaxtleute‘. Diese weitreichenden Kontinuitätspostulate, seinerzeit von vielen Zeitgenossen geteilt, wurden von Kossinna auch politisch genutzt und in Gebietsansprüche der Nationalstaaten ‚übersetzt‘, indem daraus ein ‚Prioritätsanspruch‘ abgeleitet wurde.4 Zum anderen fanden nun räumliche Beziehungen verstärkte Aufmerksamkeit. Wo die Germanen wann gelebt hatten, wurde zu Kossinnas wichtigster und einziger Forschungsfrage. Es kam also darauf an, Grenzen in der Verbreitung von Elementen der Sachkultur zu ermitteln und auf diese Weise möglichst ‚distinkte‘ Räume zu unterscheiden. Dafür gab es noch keine hinreichenden methodologischen Überlegungen, weshalb nicht selten eklektisch verfahren wurde. Dass „verzierte Eisenlanzenspitzen“ ein „Kennzeichen der Ostgermanen“ gewesen sein,5 wie Kossinna programmatisch formulierte, erschließt sich beispielsweise kaum und ist längst überholt. Aber jede auf diese Weise ‚ermittelte‘ Grenze stellte in Kossinnas Augen eine ‚ethnische‘ dar – die grundlegende, aber ausschließlich geographisch ‚begründete‘ Annahme des ‚ethnischen Paradigmas‘. Verschiebungen solcher Grenzlinien konnte es nur von Norden nach Süden geben, so Kossinna; sie entsprachen nämlich der vermeintlichen ‚Expansion‘ der Germanen über Jahrtausende. Waren dennoch einmal Vorbilder im Süden nicht zu bestreiten, lautete die Erklärung dennoch anders: es handelte sich dann lediglich um ‚Einflüsse‘, aber keinesfalls um ‚Wanderungen‘.

3 Gustaf Kossinna, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie (Berlin 1911) 3. 4 Gustaf Kossinna, Das Weichselland. Ein uralter Heimatboden der Germanen (Danzig 1919). 5 Gustaf Kossinna, Über verzierte Eisenlanzenspitzen als Kennzeichen der Ostgermanen. Zeitschrift für Ethnologie 37, 1905, 369–407.

106

Gustaf Kossinna

Waren Verfahren zur chronologischen Einordnung nun etabliert und wurden bereits Phasenmodelle für sämtliche prähistorischen Epochen entworfen, bedurfte es für die Interpretation räumlicher Strukturen neuer methodischer Überlegungen. Kossinna lenkte mit seinen Publikationen die Forschung in eine recht einseitige Richtung, auch wenn sie damit lange Erfolg in der eigenen Zunft, den Nachbarwissenschaften sowie der interessierten Öffentlichkeit zu haben schien. Methodische Unzulänglichkeiten veranlassten den australisch-britischen Archäologen Vere Gordon Childe6 (1892–1957) seit den 1920er Jahren dazu, das Konzept der ‚archäologischen Kultur‘ (weiter) zu entwickeln.7 Zunächst noch in den ‚ethnischen‘ Bahnen Kossinnas argumentierend, plädierte Childe für die Kombination von Merkmalen ‚aus verschiedenen Lebensbereichen‘ – Gräber, Siedlungen, Depots –, um die Rekonstruktionen nicht zu sehr zu verzerren; denn eine auf Gräber beschränkte Untersuchung würde nur die Bestattungen erfassen und damit die ‚Kultur‘ insgesamt verfehlen. Erst in den 1960er Jahren zeigte David Leonhard Clarke (1937–1976) mit seinem ‚polythetischen‘ Konzept, dass alle Grenzziehungen unscharf bleiben sowie allein analytischen Wert besitzen – von den Beteiligten also nicht wahrgenommen werden konnten.8 Kossinna, seit 1902 ao. Prof. an der Berliner Universität, gehörte zu den prägenden Figuren der Ur- und Frühgeschichtsforschung in Deutschland im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, und er legte damit ein Fundament für spätere Generationen. Doch gab es neben ihm weitere herausragende Prähistoriker, die der Forschung andere Wege wiesen, ganz abgesehen von der grundsätzlich international ausgerichteten Altsteinzeitforschung. Denn gegenüber einer allzu ‚nationalen Wissenschaft‘ und Germanenbegeisterung regte sich in einem eher liberalen Milieu deutliche Skepsis und Ablehnung. Sie war wesentlich methodologisch begründet, denn viele Behauptungen blieben unbestätigt. Kossinna etwa legte nie Fundkataloge oder -listen vor, die seine Karten und Thesen erläutert hätten. Fachkollegen in Archäologie wie Germanistik bemerkten zwar methodische Unzulänglichkeiten in der eigenen Disziplin, vertrauten aber gutgläubig auf die Expertise im jeweils anderen Feld. Von Theodor Mommsen (1817–1903) bis zu Moritz Hoernes (1852–1917) reichte die Phalanx der Gegner, die angesichts solcher Behauptungen zu Spott und Ironie griffen.9 Und Hoernes 6 Ulrich Veit, Gustaf Kossina und V. Gordon Childe. Ansätze zu einer theoretischen Grundlegung der Vorgeschichte. Saeculum 45, 1984, 326–363. 7 Sebastian Brather, s. v. Kulturgruppe und Kulturkreis. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 17 (Berlin, New York 2001) 442–452. 8 David Leonhard Clarke, Analytical archaeology (London 1968). 9 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum [1880]. In: Der Berliner Antisemitismusstreit, hrsg. Walter Boehlich. Sammlung Insel 6 (Frankfurt/M. 1965) 210–225, hier 211, meinte in der Auseinandersetzung mit Heinrich von Treitschke, es werde wohl „bald so weit sein, daß als vollberechtigter Bürger nur derjenige gilt, der erstens seine Herstammung zurückzuführen vermag auf einen der drei Söhne des Mannus, zweitens das Evangelium so bekennt, wie der pastor collocutus es auslegt, und drittens sich ausweist als erfahren im Pflügen und Säen“.

Kommentar

107

erwartete süffisant von der „‚germanischen‘ Prähistorie […, dass] der deutsche Stammbaum […] nächstens bis in die paläozoische Formation zurückverfolgt werden“ würde.10 Nichtsdestotrotz fanden Kossinnas Ideen aufgrund ihrer Einfachheit und ihrer Entsprechung in der Nationalstaatsidee über lange Zeit viele Anhänger. S. B.

10 Moritz Hoernes, Die Hallstattperiode. Archiv für Anthropologie N. F. 3, 1905, 233–281, hier 238 Anm. 1. – Vgl. Sebastian Brather, s. v. Hoernes, Moritz. In: Germanische Altertumskunde Online (2017); https://www.degruyter.com/view/GAO/GAO_79.

III Neuansätze und ihr Fortwirken (1930er bis 1950er Jahre)

Hans Zeiß

Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst Vortrag, gehalten auf dem 19. Deutschen Historikertag in Erfurt am 5. Juli 1937 Vorbemerkung: Der Vortrag ist hier ohne die Kürzungen wiedergegeben, die zur Einhaltung der festgesetzten Rededauer notwendig waren. Auf eine Beigabe von Abbildungen wurde verzichtet, da eine notwendigerweise beschränkte Auswahl keine befriedigende Lösung gewesen wäre. Das schönste Bildwerk über den Schmuck der Völkerwanderungszeit ist W. v. Jenny und F. Volbach, Germanischer Schmuck des frühen Mittelalters (Berlin 1933). Zusammenstellungen wichtiger Funde bringt N. Åberg, Vorgeschichtliche Kulturkreise in Europa (Kopenhagen 1936). Denkmäler aus allen Kreisen sind ferner bei G. Kossinna, Germanische Kultur im 1. Jahrtausend nach Christus (Leipzig 1932) wiedergegeben. Eine gewisse Anschauung vermitteln auch drei leicht erreichbare Bildersammlungen kleineren Umfangs von F. Behn: Altgermanische Kunst, 2. Aufl., München 1930 (Behn I); Altgermanische Kultur, Leipzig 1935 (Behn II); Germanische Stammeskulturen der Völkerwanderungszeit, München 1937 (Behn III). Im nachfolgenden werden jene Abbildungen nachgewiesen, welche in engerem Zusammenhang mit den unten behandelten Fragen stehen (l. = links, r. = rechts, o. = oben, u. = unten). |370| Gotischer Kreis: Behn I Taf. 14 (Szilágy-Somlyó), 15 (Pietroassa), 23 l. (Cesena), 28. o., 33 (Pietroassa), 34 (Guarrazar); Behn II Taf. 13 l., 15 (u. r. Haßleben), 16 o., 17 (u. l. Cesena), 68 (Pietroassa), 73 (Haßleben), 74–76; Behn III Taf. 10 (Pietroassa), 11, 12 (Cesena), 13, 20, 21 (Haßleben), 22. Fränkisch-langobardischer Kreis: Behn I Taf. 16. o., 17 (Wittislingen), 18, 24 (ohne r.), 28 u., 29, 30; Behn II Taf. 8 u., 12, 13 (ohne l.), 16 u., 17 o. (r. Mölsheim), 44, 77, 79 (Wittislingen); Behn III Taf. 16 o., 23, 24, 31, 32, 33 (Wittislingen). Nordgermanischer Kreis: Behn I Taf. 16 u., 19–21, 25, 31, 37–39; Behn II Taf. 58, 88 u. l.; Behn III Taf. 1–4. Angelsachsen: Behn III Taf. 26 o., 28. Es ist das Verdienst von F. A. von Scheltema, den inneren Zusammenhang der vor- und frühgeschichtlichen Kunst des Nordens eindringlich dargestellt zu haben (Die altnordische Kunst, 1. Aufl. Berlin 1923); er hat seine Anschauung nunmehr auch in kürzerer Fassung bekanntgemacht (Die Kunst unserer Vorzeit, Leipzig 1936). Die Völkerwanderung bedeutet den Beginn der großen Neugestaltung Europas, aus der die Staaten des Mittelalters und der Neuzeit hervorgegangen sind. Über diese Zeit lebhttps://doi.org/10.1515/9783110563061-006

112

Hans Zeiß

hafter Bewegung und Auseinandersetzung unterrichten eine Anzahl zeitgenössischer Quellen, deren Wert wir an dieser Stelle nicht zu erörtern haben. Mittelbare Schlüsse gestatten in gewissem Maße der Vergleich älterer und späterer Zustände, ein Verfahren, das dem Geschichtsforscher immer vertrauter geworden ist. Ferner liegt ihm dagegen die Heranziehung der schriftlosen Altertümer, die wir ohne Rücksicht auf ihre Größe als „Denkmäler“ zu bezeichnen gewohnt sind. Daß aber auch diese für das Gesamtbild einer Zeit auszuwerten sind, bedarf nach dem Aufbau der deutschen Vor- und Frühgeschichtswissenschaft durch M. Ebert, G. Kossinna, L. Lindenschmit, P. Reinecke, C. Schuchhardt, K. Schumacher, H. Seger, D. Tischler und andere keiner besonderen Begründung mehr. Wir verstehen unter „Völkerwanderungskunst“ alle „Denkmäler“ künstlerischen Schaffens der germanischen Stämme aus dieser Zeit. Sie sind in deutschen und ausländischen Sammlungen in Menge vorhanden, und zwar entstammen sie zumeist Gräbern. Es handelt sich also im wesentlichen um Gegenstände der Kriegsausrüstung oder der Frauentracht, die nach uralter Sitte mit dem Toten der Erde übergeben worden sind; freilich bleiben organische Stoffe, wie Holz und Gewebe, nur ausnahmsweise bewahrt. Wichtig ist, daß solche Fundzeugnisse von der Krim bis nach Spanien und von Italien bis nach Skandinavien vorliegen, also einen gleichmäßigen Überblick über das gesamte Germanengebiet gestatten. Diesen Vorzug hat keine andere Denkmälergattung, die sich aus der Völkerwanderungszeit erhalten hat. Vom Schiffbau etwa kennen wir nur ver|371|einzelte, an sich freilich bedeutsame Beispiele, wie das Nydamboot des 4. Jahrhunderts, das wohl als Vorbild der angelsächsischen Erobererschiffe gelten darf, und sodann erst aus späteren Jahrhunderten einige Wikingerfahrzeuge, von denen das mit Schmuckwerk verzierte und mit reicher Tracht beladene Osebergschiff am bekanntesten ist. Wir bedürfen aber eines über alle germanischen Reiche verbreiteten Fundstoffes, wenn wir eine Gesamtanschauung der Völkerwanderungskunst erlangen wollen. Nur die Grabbeigaben sind so allgemein vertreten, daß nach ihrem Zeugnis der weite von Germanen besiedelte oder beherrschte Raum in untereinander verschiedene Kreise von ausgeprägter Eigenart gegliedert werden kann. Die nachfolgenden Erörterungen werden zeigen, daß dies eine wesentliche Voraussetzung ist, um zu einem geschichtlichen Verständnis der Völkerwanderungskunst als Gesamterscheinung zu gelangen. Gerade dazu aber sollen unsere Darlegungen den Weg weisen. Dagegen verzichten wir in diesem Rahmen bewußt darauf, zu zeigen, daß die Denkmäler für Siedlungs- und Verkehrsgeschichte und für andere Fragen wertvolle Quellen abgeben, was übrigens aus unseren Ausführungen auch ohne besondere Unterstreichung hervorgehen wird. Soweit einzelne Altertümer herangezogen werden – und dies wird in ausgiebigem Maße der Fall sein –, dienen sie lediglich zur Kennzeichnung der allgemeinen Entwicklung. Die Denkmäler der Völkerwanderungskunst lassen sich in drei Hauptkreise einteilen: in einen gotischen, einen fränkisch-langobardischen und einen nordgermanischen. Unter ihnen ergeben sich mannigfache Unterschiede in der Form und der Verzierung der Schmucksachen. So fällt etwa rein äußerlich auf, daß bei allen germanischen Stämmen eine durch ein Zierstück nach außen verdeckte Sicherheitsnadel,

Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst

113

die Bügelfibel, weit verbreitet ist, daß aber in jedem der Kreise andere Formen bevorzugt werden. Wir nennen als solche aus dem gotischen Kreis die Blechfibel, aus dem fränkisch-langobardischen die Fünfknopffibel mit halbrunder Kopfplatte, aus dem nordgermanischen die Fibel mit rechteckiger Kopfplatte und die kreuzförmige Fibel. Von den Verzierungsarten ist die Tierornamentik im engeren Sinn eine Schöpfung eines bestimmten Kreises, an der die anderen nicht oder nicht gleichmäßig Anteil haben. Allgemeiner verbreitet sind Zelleneinlagen und Filigranverzierung sowie antikes Pflanzenornament und Umstilisierung naturnaher Bilddarstellungen. Das verschiedene Verhalten zu diesen von außen übernommenen Anregungen läßt die Eigenart der einzelnen Kreise deutlich erkennen. Wenn die Beispiele, die dafür gegeben werden, auch nur eine |372| kleine Auswahl aus dem ungemein zahlreichen Fundstoff darstellen, so wird doch die Herausarbeitung des Unterschiedes den Hauptteil unserer Ausführungen ausmachen. Erst auf Grund der damit gewonnenen Unterlagen können wir sodann im Schlußabschnitt die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst zusammenfassend würdigen. Das Vorrücken der Goten an die untere Donau und das Schwarze Meer im 3. Jahrhundert hat der germanischen Kunst Anregungen gebracht, deren Wirkung durch die gesamte Völkerwanderungszeit zu verspüren ist. Sie kamen dort in Berührung mit Werkstätten, in denen Bügelnadeln der Latènezeit eine besondere Weiterbildung („Fibel mit umgeschlagenem Fuß“) gefunden hatten; diese gelangt nunmehr durch Vermittlung der Goten nach Mittel- und Nordeuropa und gibt die Grundlage für eine reiche Entwicklung germanischer Bügelnadeln. Bedeutungsvoll wird ferner die Bekanntschaft mit der Steinverzierung Südrußlands, einem Ableger alter orientalischer Kunstübung, deren rasche Ausbreitung unter anderem durch das Fürstengrab von Haßleben (um 300) bezeugt wird. Eine besonders starke Welle südöstlicher Einflüsse macht sich nach dem großen Hunnenvorstoß von 376 bemerkbar. Die großen Schatzfunde von Pietroassa und Szilágy-Somlyó zeigen ausgezeichnete Arbeiten pontischer Werkstätten in germanischem Fürstenbesitz, darunter neben lockerer Steinauflage Zellenwerk, das späterhin ein bevorzugtes Kunstmittel der germanischen Goldschmiede wird. Die Hauptform der Bügelnadeln von Szilágy-Somlyó, die „Blechfibel“, erhält sich in der Tracht der gotischen Stämme in Italien, Südfrankreich und Spanien bis ins 6. Jahrhundert und in abgewandelter Form auf der Krim noch länger in Gebrauch, während sie zwar einen gewissen Einfluß auf die Entwicklung im Norden ausübt, aber weder dort noch im fränkischen Gebiet in den geläufigen Typenschatz übernommen wird. Im gotischen Bereich herrscht die „Blechfibel“ samt ihren Abwandlungen vor, so lange dort überhaupt Bügelnadeln getragen werden. Auch die großen Adlerfibeln in Zellenwerk, von denen das Germanische Museum in Nürnberg ein oft abgebildetes schönes Stück (aus dem Cesena-Fund) besitzt, sind eine gotische Besonderheit, die auf östliche Vorbilder zurückgeht. Wenn also tiergestaltige Schmuckstücke dem gotischen Kreis nicht fremd sind, so ist um so mehr zu beachten, daß ihm Tierornamentik im Sinne der nordgermanischen Entwicklung völlig fehlt. Als Zierrat an Bügelnadeln und Beschlägplatten verwendete Vogelköpfe sind

114

Hans Zeiß

nicht Tierornamentik in der engeren Bedeutung des Wortes und im Grunde nichts Neues gegenüber den tierförmigen Gerätenden u. dgl., die |373| auch in der älteren Kunst vorkommen. Vogelkopfverzierung in gotischer Art, gern mit Steineinlage verbunden, verrät gelegentlich bei anderen Germanenstämmen eine Einwirkung des gotischen Kreises, gewinnt aber nur vorübergehend Bedeutung. Es ist anzunehmen, daß die Vorliebe für diese und andere Tierformen in der Skythenkunst wurzelt, aus der indessen die nordgermanische Tierornamentik nicht abzuleiten ist. Zu dem Formengut der älteren Wanderzeit tritt bei den Goten im Laufe des 5. Jahrhunderts eine große rechteckige Beschlägplatte, die gern als „gotische“ Schnalle oder Beschlägplatte schlechthin bezeichnet wird. Die ältere Abart mit Spiralverzierung verrät den engen Zusammenhang des Typs mit den weitverbreiteten spätrömischen Kerbschnittschnallen, die vielleicht über die als Föderaten dienenden Goten auf die herkömmliche Tracht einwirkten. Im Laufe des 6. Jahrhunderts entwickelt sich bei den Westgoten eine völlig andersartige Verzierung der rechteckigen Platte mit dem beliebten Zellenwerk, wozu Vorstufen aus dem italischen Ostgotenreich bekannt sind. Dagegen bewahren die Werkstätten auf der Krim die spätrömische Spiralverzierung, wenn auch entstellt, bis ins 6. Jahrhundert und passen sie nur durch Steinauflagen und Vogelkopfenden der eigenen Geschmacksrichtung etwas an. Es ist bezeichnend, daß im Gebiet des kleinen nach Osten abgedrängten Gotenrestes auf der Krim frühzeitig eine gewisse Erstarrung bemerkbar wird, während es bei den Hauptvölkern zu stärkerer Umformung des entlehnten Typs kommt. Wenn der Vorgang bei den Ostgoten nicht zum folgerichtigen Abschluß gelangt ist, so mag daran das frühe Ende des Theoderichreiches (552) die Schuld tragen. Für die Westgoten bezeugt die Abwandlung des Typs das Festhalten an der eigenen Entwicklungsrichtung noch in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Erst an dessen Ende verschwinden die allmählich entarteten gotischen Trachtstücke, der Blechfibeltyp wie die „gotische“ Beschlägplatte, aus den spanischen Funden, deren Gepräge seitdem überwiegend von Mittelmeereinflüssen bestimmt ist. Die letzte Ursache dieses Wandels liegt in der Verschmelzung von Westgoten und Romanen, die durch die gesetzliche Eheerlaubnis unter König Leowigild (568–586) sanktioniert und durch den Übertritt der Westgoten zum katholischen Bekenntnis (589) besonders gefördert worden war. Die spanische Gebrauchsware des 7. Jahrhunderts, insbesondere die Gruppe der rankenverzierten Beschlägplatten, steht fremdartig neben den Funden aus den stärker germanisch gebliebenen Reichen. Es fällt schwer, die Hofkunst, d. h. die prächtigen Weihekronen von Guarrazar, in den Vergleich einzubeziehen, da in der Hauptstadt mit weit aus |374| der Ferne gerufenen Arbeitern und mit vielseitigen Stileinflüssen zu rechnen ist; am ehesten dürfen trotz mancher Beziehungen zu Goldschmuck byzantinischer Art in diesem Schatz Steineinlage und Zellenwerk als ein Erbe gotischer Tradition gelten. An sich ist zu erwarten, daß Stücke des 7. Jahrh. in einem germanisch-romanischen Mischgebiet gewissermaßen das Ergebnis eines Ausgleichs zwischen Völkerwanderungskunst und Mittelmeerkunst darstellen; ist dieser zum Abschluß gekommen, so mögen einzelne Züge auf die ursprüngliche Herkunft deuten, aber das Ganze ist doch ebenso neu und eine in sich geschlossene

Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst

115

Einheit, wie jeder der jüngeren Völker, die aus der Durchdringung der Alten Welt durch die Germanen hervorgegangen sind. Unser knapper Überblick hat erkennen lassen, daß der gotische Kreis am meisten in der frühen Völkerwanderungszeit bedeutet hat. Wenn auch diese Anregungen noch zu einer Zeit nachwirkten, zu der die angestammte Tracht bei den Goten im Süden bereits verschwunden ist, so wird doch die jüngere Völkerwanderungskunst weit nachhaltiger durch neue Kräfte bestimmt, die im verkleinerten gotischen Bereich des 7. Jahrhunderts nicht mehr spürbar sind: in erster Linie durch die Tierornamentik (im engeren Sinne) und durch die Flechtbandornamentik. Auch in der Auseinandersetzung mit der darstellenden Bildkunst des Mittelmeergebietes spielt der gotische Kreis, soweit wir sehen, keine Rolle. Er ist seit langem abgetrennt vom germanischen Kerngebiet und ohne Zusammenhang mit den lebendigen Strömungen innerhalb anderer germanischer Gruppen. Was das westgotische Spanien etwa im 6. und 7. Jahrhundert an Vergleichsstoff zum Fränkischen oder Langobardischen bietet, beschränkt sich auf Allerweltstypen einfacher Form (z. B. Schnallen und Beschläge). Allerdings nehmen auch die übrigen germanischen Länder nicht gleichmäßig an der jüngeren Entwicklung teil, wie im nächsten Abschnitt deutlich hervortreten wird. Dem gotischen Kreis verdankt der fränkisch-langobardische, zu dem neben den beiden großen Reichen einige benachbarte Gebiete wie Kent, Westfalen, Böhmen und vereinzelte Gruppen im mittleren Donaugebiet zu rechnen sind, die Bekanntschaft mit der Steinverzierung in Zellenwerkart, für welche die Ausrüstung des in Doornik (Tournay) bestatteten Frankenkönigs Childerich († 481) so ausgezeichnete Belege bietet. Unter den Zellenarbeiten des 5./6. Jahrhunderts, aber auch in anderer Technik sind jene Tierformen geläufig, deren gotische Herkunft bereits oben festgestellt worden ist. Schwieriger ist zu beurteilen, ob auch die schönen engzelligen Stücke meist jüngerer Zeitstellung unmittelbar aus der gotischen Technik abzuleiten sind, oder ob z. B. die ausgezeichnete Gruppe in Kent neue An|375|regungen aus den Werkstätten des Ostens erhalten hat, aus dem jedenfalls Einfuhrgut verschiedener Art nach England gelangt ist. Wie dem auch sei, der fränkisch-langobardische Kreis hat auf dem Gebiet des Zellenwerks selbstständige, den gotischen Vorbildern ebenbürtige Leistungen aufzuweisen. Andererseits ist bereits in der älteren fränkischen Hauptgruppe, die seit Beginn des 6. Jahrhunderts immer stärker anwächst, neben dem gotischen Einschlag ein nicht unwichtiger von seiten der spätrömischen Kunst zu erkennen, der auf die Entwicklung der wichtigsten fränkischen Bügelnadelarten (vor allem die „Fibel mit gleichmäßig abgeschnittenem Fuß“) einwirkt. Auch dieser Kreis übernimmt mit dem Kerbschnitt die antike Spiralranke, die indessen entsprechend der uralten geometrischen Richtung der germanischen Kunst rasch umgebildet und ausgestoßen wird, ein Vorgang, der sich in gewissem Maße auch, wie erwähnt, im gotischen Bereich beobachten läßt. Für die jüngere Entwicklung ist das dem Abbau verfallende spätrömische Formengut ohne Bedeutung, von um so größerer aber der Zustrom aus dem Bereich der Tierornamentik und der Flechtbandornamentik. Dabei verhält sich der fränkisch-langobardische Kreis, der überhaupt weniger geschlossen als der gotische oder nordgermanische erscheint, keineswegs einheitlich. Soweit

116

Hans Zeiß

Formen des Stils I der frühen Tierornamentik (Stil I im Sinne Salins) aus dem Norden Eingang finden, werden sie, besonders in Süd- und Westdeutschland, nach-, aber nicht weitergebildet; wie die Ranken antiker Herkunft verschwinden sie rasch. Weit bedeutenderen Anteil hat das Festland an der zweiten Stufe der Tierornamentik, an Stil II, dessen Ausbildung unter Einwirkung von Flechtbandmotiven erfolgt ist, wenngleich der Vorgang im einzelnen noch nicht genügend geklärt scheint. Es fällt auf, daß besonders gute Arbeiten in Stil II unter den tauschierten Beschlägplatten aus dem alten Burgunderreich vorliegen, welche auch gute Beispiele für reine Flechtbandornamentik abgeben. Vielleicht hat dieses künstlerisch regsame Gebiet auf den fränkisch-langobardischen Kreis und darüber hinaus in stärkerem Maße gewirkt, als heute von der Forschung angenommen wird. Seine Bedeutung in der Zeit von Stil II tritt besonders bei einem Vergleich mit den übrigen heute romanisch sprechenden Landschaften des Merowingerreiches hervor, in denen die germanische Tierornamentik nie recht Boden gefaßt hat. Die Werkstätten Burgunds sind offenbar von stärker germanischen Kräften getragen gewesen, als die des inneren und auch des nördlichen Gallien. Das langobardische Italien weist Stil II in guten Beispielen auf, und es ist ihm sogar schon eine tiefere Einwirkung |376| auf diese Stufe der Tierornamentik zugeschrieben worden. Süddeutschland und insbesondere das Rheingebiet machen die Entwicklung mit, ohne dabei eine maßgebende Rolle zu spielen; dagegen bekunden hier die durchbrochenen Zierscheiben, und zwar sowohl die geometrischen Muster wie die stilisierten Gestalten, das Fortleben alten germanischen Stilgefühles, das in den heute romanisierten Landschaften des fränkisch-langobardischen Kreises, abgesehen von Burgund, nicht in gleichem Maße zur Entwicklung kommt. In solchen Fällen scheint der Entwicklungsgang der Kunst die spätere Scheidung von Germanentum und Romanentum anzukündigen. Gegenüber dem gotischen Kreis umschließt der fränkisch-langobardische eine ungleich größere Zahl verschiedener Schmuckformen bei reicherer Abwechslung in den technischen Mitteln. Da aus der Fülle der Erscheinungen hier nur wenige wichtige Züge herausgearbeitet werden können, soll nach den bisher behandelten Fragen vor allem noch das Verhalten zu gewissen Anregungen der Mittelmeerkunst erörtert werden, die etwa gleichzeitig mit der Flechtbandornamentik den germanischen Werkstätten zugeflossen sind. Dazu gehören die auf Beschlägplatten erscheinenden figürlichen Darstellungen biblischer oder altorientalischer Art (z. B. Daniel zwischen den Löwen, Flügelpferdpaar am Brunnen), die auf dem Rhoneweg Burgund erreichten und in Einzelfällen bis Nordfrankreich und an die obere Donau vordrangen. Soweit innerhalb dieser Gruppe eine Entwicklung stattfindet, wird das naturnahe Bild der Mittelmeerkunst in ähnlicher Weise umstilisiert, wie im Kreis der oben erwähnten Zierscheiben. Aus dem Mittelmeergebiet kommt ferner eine neue Art von Ranken- und Palmettenornamentik auf vereinzelten byzantinischen Beschlägplatten, wohl auch auf Stoffen; aber obgleich gerade in Südfrankreich mit antiker Werkstättentradition zu rechnen ist, bleibt dieses Formengut hier ohne Nachwirkung, während es auf der Pyrenäenhalbinsel von größerem Einfluß gewesen ist. Wichtiger wird für das germanische Kunsthandwerk die Übernahme der Goldblechbro-

Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst

117

sche, deren früheste Formen in den mittelitalischen Langobardengräbern erscheinen; mit ihr gelangt eine neue Welle antikisierenden Spiralornaments (in Filigrantechnik) über die Alpen. Ob Burgund diesen Typ von Italien oder unmittelbar aus der byzantinischen Kunst übernommen hat, sei dahingestellt. Im Verlaufe der Weiterbildung wird das Spiralornament auch in diesem Fall abgebaut und die Zierfläche durch Einfügung bunter Einlagen (Steine oder Glas) in ähnlicher Weise belebt, wie dies im Zellenwerk erstrebt wurde. Es setzt sich also eine Stilrichtung durch, welche an die ältere gotische Steinverzierung erinnert, j377| ohne daß der neue Typ unmittelbar aus dem gotischen Kreis herzuleiten wäre. Man darf die Goldblechbroschengruppe nicht nach den zahlreichen Arbeiten aus Werkstätten minderen Ranges beurteilen; sie umfaßt auch kleine Kunstwerke wie die Vierpaßbrosche von Mölsheim, aus der ein auf klar abtrennende Ordnung der Einzelteile gerichtetes, romanisch anmutendes Formgefühl spricht, während Stücke von der Art der Rundbrosche von Wittislingen gleich den Zierscheiben vom germanischen Rhythmus ununterbrochen fortlaufender Bewegung erfüllt sind. Es läßt also gerade diese Gruppe innerhalb des fränkisch-langobardischen Kreises ein verschiedenes Verhalten gegenüber den Anregungen der Mittelmeerkunst erkennen, die bald selbstständiger, bald weniger selbständig aufgenommen werden. Wenn dabei in Süddeutschland stärker als anderswo dem Lehnsgut eigenes Gepräge aufgedrückt wird, so entspricht dies durchaus dem Überwiegen des Germanentums im Siedlungsvorgang. Umgekehrt scheint im langobardischen Gebiet der byzantinische Einschlag die Entwicklung immer stärker zu bestimmen, was auf ein Erlahmen der germanischen Kunstüberlieferung schließen läßt und an den frühen Untergang der langobardischen Volkssprache erinnert. Wie der fränkisch-langobardische Kreis hat auch der nordgermanische manche Anregungen aus der Ferne erhalten, so die allgemein verbreitete Grundform der Bügelnadel und die ältere, dem Fürstengrab von Haßleben gleichzeitige Steinverzierung. Neben römischen Jagdszenen auf Glasbechern und Bronzeeimern finden etwa im 3. Jahrhundert „pontische“ Tierfiguren Eingang, aber nur beschränkte Weiterbildung. Die bedeutendste Leistung der nordgermanischen Kunst, die Tierornamentik im Sinne der von Salin herausgearbeiteten Stilentwicklung, knüpft an keine dieser Gruppen an, und auch die gelegentlich vorkommenden Tierformen „gotischer“ Art sind im Norden von ganz untergeordneter Bedeutung. Um die Zeit der großen Schatzfunde von Pietroassa und Szilágy-Somlyó ist die wichtigste Bügelnadelart des Nordens (jene mit rechteckiger oberer Zierplatte) ausgebildet worden, deren späteres Erscheinen in England und auf dem Festland stets eine Beziehung zum nordgermanischen Kreis verrät. Die Ausgestaltung dieses Schmucktyps geschah in deutlicher Anlehnung an die Gruppe der spätrömischen Kerbschnittschnallen, deren Spiralornamentik uns schon öfter beschäftigt hat; aber hier wurden nicht nur die Spiralen nachgeahmt und im Laufe der Zeit als wesensfremd ausgestoßen, sondern die sogenannten Randtiere der Vorlagen zum Ausgangspunkt einer selbständigen Entwicklung gemacht. Die |378| Eigenart dieser Entwicklung fällt um so mehr auf, wenn man bedenkt, daß für die Ausschmückung der gleicharmigen Bügelnadeln Sach-

118

Hans Zeiß

sens und Englands derselbe Ornamentschatz Anwendung fand, ohne daß es zu einer Umbildung der unaufhaltsamem Abbau verfallenden Randtiere kam. In Westskandinavien dagegen wurden die antiken Tiere zu mannigfachen neuen Gebilden umgeformt, von denen die einen stärker die Tiergestalt bewahren, die anderen als dünne Linienbündel die Zierfläche überspinnen, so daß im neuen Gesamteindruck die dem forschenden Auge erkennbaren Körper und Glieder durchaus zurücktreten. Dieser Kunst ist die Tiergestalt nur der Anstoß, um ihren Schaffensdrang in eine bestimmte Richtung zu leiten; sie geht nicht auf Darstellung, sondern auf den Ausdruck der inneren Bewegung aus, von der sie getrieben ist. Es ist verständlich, daß die Auflösung der festen Form in bewegtes Linienspiel allmählich zu einer Erschöpfung führt, und daß dann gern ein neues Vorbild ergriffen und nach dem gleichen Gesetz weitergebildet wird. So kommt es unter Anlehnung an das seit alters im Mittelmeergebiet heimische Flechtband zu einer neuen Art von Tierornamentik, zu Stil II, und zu einer Zeit, da die Entwicklung des gotischen und des fränkisch-langobardischen Kreises bereits abgelaufen war, zu Stil III, dem die mannigfachen Erscheinungen der Wikingerzeit folgen; es sei nur an die Kunst des Osebergfundes und an den Jellingestil erinnert, in welchem sich von neuem die Übernahme südlicher Tierbilder mit dem Ergebnis der Verwandlung wirklichkeitsnaher Formen in abstraktes Ornament verfolgen läßt. Im Norden bleibt das Gesetz der Entwicklung noch auf Jahrhunderte hinaus gleich; die Unterschiede im einzelnen, etwa zwischen unendlich fortlaufender Reihung und Verwendung abgesonderter, häufig gerahmter Tierfiguren, sind hier nicht weiter darzulegen. Wir wollen am Schluß nur festhalten, daß diese Entwicklung mit Stil I in Westskandinavien einsetzt, und daß nach und neben ihm in gewissem, von der Forschung nicht einheitlich beurteiltem Abstand Stil II in Ostskandinavien (Valsgärde, Vendel) seine Blüte erlebt. Mag auch die Art der Entstehung von Stil II und insbesondere der Anteil des Festlandes daran heute noch ungeklärt sein, jedenfalls findet die Tierornamentik im engeren Sinne sich am frühesten im Norden, wo sie durch Jahrhunderte immer wieder erneut wird, während auf dem Festland bereits zur Zeit von Stil III eine neue Kunst, die karolingische, auf ausgesprochen südlicher Grundlage erwächst; nur in vereinzelten Einfuhrstücken, wie dem Thassilokelch, und in Handschriften ist daneben der angelsächsisch-irische Zweig der Tierornamentik vertreten. |379| Notwendigerweise muß die Tierornamentik bei der Erörterung des nordgermanischen Kreises an der Spitze stehen. Andere Erscheinungen, die im gotischen oder im fränkisch-langobardischen Kreis stärker hervortreten, wie Zellenwerk mit geometrischem Muster und Filigranverzierung, sind im Norden seltener, wenn auch gelegentlich mit ausgezeichneten Leistungen (Goldhalskragen) vertreten. „Gotische“ Tierformen spielen, wie erwähnt, eine geringe Rolle; durchbrochene Zierscheiben nach süddeutscher Art scheinen in der Hauptsache nur auf Gotland vorzukommen. Manche Entwicklungsreihen, wie die prächtigen gotländischen Bildsteine, würden allzuweit über die Zeitgrenze dieses Vortrages hinausführen. Von anderen Fundgattungen verdient mindestens die eigenartige Gruppe der Goldbrakteaten noch eine kurze Besprechung.

Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst

119

Seit dem 4. Jahrhundert sind den Germanen römische Medaillons mit Kaiserbild und figurenverzierter Rückseite bekannt geworden, die alsbald zu Nachbildungen und sodann zur Entstehung der einseitig geprägten, vorwiegend im Norden vorkommenden Brakteaten Anlaß gegeben haben. Auch in dieser Gruppe vollzieht sich die bezeichnende Umwandlung der naturnahen Darstellung in stilisierte Gestalt, und zwar um so folgerichtiger, als nicht, wie gelegentlich auf dem Festland, der ursprüngliche Sinn bewahrt oder gar durch eine Umschrift (INVICTA ROMA) betont wurde. Besonders bemerkenswert ist die Ausgestaltung mancher prächtiger Brakteaten zu Scheiben weit über Medaillongröße, deren verkümmertes Mittelbild von reichgemusterten Bändern umschlossen und nicht mehr Hauptsache, sondern untergeordneter Teil der Gesamtkomposition ist; ein gutes Beispiel, wie diese Kunst ihr nicht gemäße Darstellungen nur als Unterlage für die Entfaltung eigener, ganz anders gerichteter Kräfte übernimmt. Die Entstehung der Brakteatenprägung ist unabhängig von der Entwicklung von Stil I auch in technischer Hinsicht und anscheinend in einem anderen Gebiet vor sich gegangen. Ein Vergleich hinsichtlich der künstlerischen Leistung fällt zugunsten der Werkstätten aus, welche die Tierornamentik geschaffen haben. Von den germanischen Ländern der Völkerwanderungszeit widerspricht nur ein einziges einfacher Zuweisung an einen der Kreise, die wir bisher betrachtet haben: England. Der fundreichste Bezirk, Kent, schließt sich allerdings der fränkisch-langobardischen Entwicklung in so starkem Maße an, daß er bereits oben mehrfach Erwähnung gefunden hat; für Kent haben bislang die folgenden Bemerkungen nur eingeschränkte Geltung. |380| In der frühen Völkerwanderungszeit hat das altsächsische Gebiet an der Nordseeküste mit dem skandinavischen Kreis eine Abart der Bügelnadel, die kreuzförmige Fibel, gemeinsam, die in England eine eigentümliche Weiterbildung erfährt. Aus der alten Heimat haben die Angelsachsen ferner u. a. gleicharmige Bügelnadeln und Schalenbroschen mit antikem Spiralornament mitgebracht. Wenn auch, wie schon erwähnt, die aus der spätrömischen Kunst entlehnten Randtiere der gleicharmigen Bügelnadeln hier keine schöpferische Umbildung nach Art von Stil I erfahren, so kommt die Tierornamentik in Gestalt des nordgermanischen Stiles I in England doch zu einer gewissen Entfaltung, während der schwer erklärbare Mangel an altsächsischen Grabfunden des 6. und 7. Jahrhunderts ein sicheres Urteil über die weitere Entwicklung auf dem Festland nicht zuläßt. Auffällig ist, daß die Grabfelder in Westfalen und Südhannover sich durchaus in den benachbarten fränkischen Kreis einfügen, ohne daß ein Einfluß wahrnehmbar wäre, der auf eine selbständige sächsische Gruppe zu schließen gestattete. Wenn man in England, aber nicht auf dem Festland, eine gewisse Fortsetzung altsächsischer Anfänge beobachtet, so liegt die Vermutung nahe, daß der starke Wanderungsverlust auch die Entwicklung der heimischen Kunst beeinträchtigt hat. Die Angelsachsen schöpfen in der Folge aus Anregungen vom Süden wie vom Norden; während Kent geradezu eines der ersten Gebiete des fränkisch-langobardischen Kreises wird, entwickelt sich andererseits eine besondere angelsächsisch-irische Tierornamentik, die gleich der nordischen die Zeit des festländischen Stils II überdauert.

120

Hans Zeiß

Das Bild wird außerdem durch einen Einschlag altkeltischer, auf den britischen Inseln zäh festgehaltener Ornamentik belebt; wie die Bevölkerung Englands verschmilzt auch die Kunst aus verschiedenartigen Teilen zu einem neuen Ganzen. Wir müssen uns an dieser Stelle darauf beschränken, diese für den Vergleich besonders wichtigen Züge der Entwicklung im Angelsachsengebiet hervorzuheben, um nun zur Zusammenfassung zu kommen. Unsere Umschau in den verschiedenen Kreisen hat die Beantwortung der Hauptfrage vorbereitet, die uns heute beschäftigt. Wir sehen in der Völkerwanderungskunst ein Teilgebiet des germanischen Lebens und Schaffens, auf dem mannigfache Auseinandersetzungen der eigenen Kräfte mit fremdem Lehngut erfolgt sind. Die Wanderungen und die durch sie ausgelösten Strömungen haben den germanischen Handwerkern vielerlei Anregungen stofflicher und technischer Art zugeführt, die sich keineswegs überall in gleicher Weise ausgewirkt haben. Allgemein ist die Ablehnung |381| von Formengut, das der eigenen Entwicklungsrichtung nicht gemäß war; die spätantike Spiralranke ist wohl in den drei Hauptkreisen weithin übernommen, aber alsbald umgebildet und ausgestoßen worden, und die byzantinischen Ranken und Palmetten haben noch im 7. Jahrhundert in Burgund und Süddeutschland wenig Nachahmung gefunden, während ihr Erscheinen auf der Pyrenäenhalbinsel und in gewissen Fundgruppen Italiens mit dem Nachlassen der germanischen Kräfte zusammentrifft. Ein Zeichen des Beharrens in den Überlieferungen der vorgeschichtlichen Kunst ist auch das Verhalten gegenüber dem naturnahen Bildnis des Südens, das in der Regel ins Abstrakte umstilisiert worden ist, wofür namentlich die nordischen Brakteaten, die süddeutschen Zierscheiben und die burgundischen Beschlägplatten angeführt werden können. Besonders bemerkenswert ist das Schicksal der sogenannten Randtiere der spätantiken Zierkunst, die nicht nur eine Umstilisierung erfahren, sondern der Ausgangspunkt einer neuen, im bewegten Linienspiel sich von der plastisch empfundenen Vorlage völlig frei machenden Ornamentik werden. Wenn eine jüngere Entwicklungsreihe unter dem Einfluß südlicher Flechtbandmuster steht, so weiß sie doch in Wirbel- und Wellenmotiven dem sie durchpulsenden Gefühl unendlicher Bewegung lebendigen Ausdruck zu verleihen. Gerade solche Stücke bekunden eine innere Verwandtschaft mit germanischen Arbeiten der Bronzezeit, deren Kunstschaffen Scheltema mit Recht zum Vergleich herangezogen hat. Eine Schöpfung, die so sehr den Stempel germanischen Wesens trägt, verdankt der Vorlage nicht mehr als eine Dichtung, die eine fremde Fabel auf den Kräften der eigenen Überlieferung gestaltet. Ebenso ist nicht die Entlehnung etwa von Zellenwerk und Filigranverzierung das Entscheidende, sondern die Handhabung der neuen Fertigkeiten: bei allem Zusammenhang mit der Kunst des Ostens und des Südens sind die Waffen Childerichs, die Adler vom Cesena-Typ, die Schmuckstücke von Mölsheim und Wittislingen eigene Leistungen. Kurz zusammengefaßt, ergibt sich als Schluß: die Völkerwanderungskunst ist in ihren besten und bezeichnenden Erscheinungen nicht einfache Fortsetzung der älteren Kulturen, sondern Auseinandersetzung und neue Gestaltung. Sie bewahrt, solange sie blüht, wesentliche Grundzüge der vorgeschichtlichen Kunst des Nordens; auf dieses Gebiet des geistigen Schaffens übt also der Süden keinen beherrschenden

Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst

121

Einfluß aus. Wir denken unwillkürlich daran, daß in die gleiche Zeit die Anfänge der Heldendichtung zurückgehen, die sich ganz nach ihrem eigenen Gesetz entfaltet hat. |382| An der Völkerwanderungskunst haben jedoch nicht alle germanischen Gebiete in gleichem Maße Anteil. Die Tierornamentik ist eine Schöpfung des nordgermanischen Kreises und einem Teil der festländischen Germanen nicht wirklich vertraut geworden oder überhaupt fremd geblieben. Die Einverleibung des südlichen Lehngutes ist nicht überall in gleich selbständiger Weise erfolgt; in Spanien und zum Teil in Italien gewinnt im 7. Jahrhundert der ungermanische Einschlag in der Zierkunst sogar die Oberhand. Offenbar besteht eine Beziehung zwischen der Stärke des Germanentums in den einzelnen Reichen und der Eigenart des Kunstschaffens; deshalb tritt in den weiten Gebieten zwischen dem Norden und dem Süden hier germanische, dort nichtgermanische Art stärker hervor, als Ergebnis einer Entwicklung, in der das Germanentum sich nicht überall auf die Dauer zu behaupten vermocht hat. Die Schilderung der einzelnen Kreise hat dies zur Genüge dargetan. Hinter den mannigfachen Erscheinungen der Völkerwanderungskunst spüren wird das Wirken der gleichen Kräfte, aus deren Ringen die germanisch-romanische Welt des Mittelalters und der Neuzeit hervorgegangen ist. Damit berühren wir das sogenannte Kontinuitätsproblem, das seit der bahnbrechenden Arbeit von Dopsch die Geschichtsforschung so lebhaft beschäftigt hat. Auf dem Gebiet, das wir heute erörtert haben, kann in zweifacher Hinsicht von Kontinuität gesprochen werden: In äußerlicher Betrachtung, wenn man an die zahlreichen Vorlagen und die mannigfachen technischen Fertigkeiten aus dem Erbe der Antike und des unklassischen Osten denkt, und in einem tieferen Sinne, wenn man als das wahre Wesen der Völkerwanderungskunst die Umgestaltung des Lehnguts im Geiste der älteren germanischen Zierkunst erkennt. Es wird eine wichtige Zukunftsaufgabe der Forschung sein, diese Linien weiter zu verfolgen und damit die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst immer klarer hervortreten zu lassen.

122

Hans Zeiß

Kommentar Zu den Kritikern der verbreiteten ‚ethnographischen Methode‘ Kossinnas, die überall vermeintlich ethnische Kennzeichen entdeckte und für die Germanen in Anspruch nahm, gehörte auch Hans Zeiß (1895–1944).1 Er hob in einer Besprechung zweier Arbeiten Hermann Preidels zu Markomannen und Langobarden hervor, dass nicht jedes (!) Kulturelement ethnische Bedeutung besessen haben könne – eine in die entsprechende Richtung gehende Interpretation also eher die Ausnahme in der Archäologie darstellen müsse, als dass man grundsätzlich und gewissermaßen a priori so verfahren könne. Doch auch wenn „sich in den besprochenen Fällen der Versuch der Stammeszuweisung von Bodenfunden als verfehlt erwiesen hat“, sollte „die Möglichkeit ethnischer Deutung von frühmittelalterlichen Funden“ nicht grundsätzlich „angezweifelt werden“.2 Zeiß war 1930 erst seit kurzer Zeit archäologisch tätig; zunächst hatte er Geschichte studiert und war mit einem spätmittelalterlichen Thema promoviert worden.3 Doch sehr schnell wurde er 1931 Zweiter Direktor der Römisch-Germanischen Kommission des Archäologischen Instituts des Deutschen Reiches und 1935 Ordinarius für Vorund Frühgeschichte in München. Damit hatte er sich an entscheidender Stelle in der frühgeschichtlichen Archäologie etabliert. Zu Zeiß’ Reputation trug insbesondere sein ‚Westgotenbuch‘ bei, die gedruckte Fassung seiner Frankfurter Habilitationsschrift.4 In ihr legte der Autor anhand der „Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich“ erstmals dar, wie er sich die ethnische Unterscheidung archäologischen Materials des frühen Mittelalters vorstellte und zu begründen dachte. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil Zeiß‘ Überlegungen einerseits auf die Landes- und Volksgeschichte etwa bei Franz Steinbach (1895–1964) und Franz Petri (1903–1993) einwirkten und andererseits die Nachkriegsarchäologie in Deutschland wesentlich prägten. Dazu trug bei, dass Zeiß die archäologischen Unterscheidungen in ein umfassenderes historisches Szenario einbettete – und dass Joachim Werner (1909–1994) seit 1946 dessen Münchner Ordinariat vertrat und 1948 sein Nachfolger wurde. Als charakteristisch für die Goten und damit ihre Wanderung galten der Archäologie seit den vorausgegangenen Studien von Nils Åberg (1888–1957)5 sogenannte 1 Hubert Fehr, Hans Zeiß, Joachim Werner und die archäologischen Forschungen zur Merowingerzeit. In: Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995, hrsg. Heiko Steuer. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 29 (Berlin, New York 2001) 311–415. 2 Hans Zeiß, Zur ethnischen Deutung frühmittelalterlicher Funde. Germania 14, 1930, 11–24, hier 20. 3 Hans Zeiß, Reichsunmittelbarkeit und Schutzverhältnisse der Zisterzienserabtei Ebrach vom 12. bis 16. Jahrhundert, phil. Diss. (München 1926). 4 Hans Zeiß, Die Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich. Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit 2 (Berlin, Leipzig 1934). 5 Nils Åberg, Die Franken und Westgoten in der Völkerwanderungszeit (Uppsala 1922); ders., Die Goten und Langobarden in Italien (Uppsala, Leipzig 1923).

Kommentar

123

‚gotische‘ Schnallen und ‚gotische‘ Blechfibeln, die in idealtypischer Weise definiert waren.6 Allerdings hatten sie sich gegenüber ihren Vorbildern bereits verändert und nahmen verschiedene Einflüsse auf, bevor sie im späten 6. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel „allmählich entarteten“, wie Zeiß meinte. Doch auch auf der Krim waren die Schnallenbeschläge nicht ‚rein‘ germanisch, sondern bewahrten „die spätrömische Spiralverzierung, wenn auch entstellt, bis ins 6. Jahrhundert und passen sie nur durch Steinauflagen und Vogelkopfenden der eigenen Geschmacksrichtung etwas an“.7 Dennoch musste es einen grundlegenden, quasi ‚natürlichen‘ Gegensatz geben: „in der fließenden Bewegung des einen Stückes […] und in der etwas starren Symmetrie des anderen [bekunden] sich dieselben Kräfte […], die etwa in der Zeit der Gotik auf deutschem und französischem Boden so verschiedene Schöpfungen hervorgebracht haben: also ein mehr germanisches und ein mehr romanisches Kunstempfinden“.8 Angesichts der vielen Einflüsse und Bezüge fällt es heute schwer, wie Zeiß ‚germanische‘ und ‚romanische‘ Kunst als Gegensatz aufzufassen – eher werden die vielfältigen Zusammenhänge deutlich, die zeigen, dass von einer primär zeittypischen, spätantik-frühmittelalterlichen ‚Kunst‘ auszugehen ist. Von grundlegender Bedeutung war die Formulierung des Konzepts der ‚Tracht‘, wie sie Zeiß für die Frühmittelalterarchäologie vornahm. Wurde dieser Begriff in der archäologischen Forschung und nicht nur dort bereits lange verwendet und meist als Synonym zur Kleidung verstanden, so unterschied Zeiß nun in spezifischer Weise die ‚Tracht‘ von der Kleidung. Für ihn – ganz im Stil der Zeit – stellte sie das „allen Volksgenossen gemeinsame Gewand“ dar.9 Damit wurde im konkreten Fall eine Homogenität der Goten und ihre prinzipielle Unterscheidbarkeit von den ‚Romanen‘ suggeriert. Die Übertragung in die Archäologie bedeutete, die metallenen Kleidungsbestandteile als entscheidende Elemente anzusehen – Textilien sind zu selten erhalten, um sie zur Rekonstruktion einer ‚Tracht‘ heranziehen zu können.10 Mit dieser

6 Florian Gauß, Völkerwanderungszeitliche „Blechfibeln“. Typologie, Chronologie, Interpretation. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 67 (Berlin, New York 2009). 7 Hans Zeiß, Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst. Vergangenheit und Gegenwart 27, 1937, 369–382, hier 373. 8 Hans Zeiß, Fränkischer Frauenschmuck aus Gräbern des Mosellandes. Trierer Zeitschrift 9, 1934, 63–68, hier 65. 9 Zeiß, Grabfunde (Anm. 4), 138. 10 Bis heute verbindet man in der deutschsprachigen Archäologie interessanterweise ‚Kleidung‘ mit Textil, während ‚Tracht‘ auf die metallenen Kleidungsbestandteile bzw. Schmuck bezogen ist; vgl. Johanna Banck-Burgess/Mechthild Müller/Inga Hägg, s. v. Kleidung. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16 (Berlin, New York 2000) 6103–625; Rosemarie Müller/Heiko Steuer/Ulrich Zimmermann/Günter Mansfeld/Biba Teržan/Margot Maute-Wolf/Hans-Jürgen Häßler/Kazimierz Godłowski/ Hans-Ulrich Voß/Jasper von Richthofen/Astrid Böhme-Schönberger/Lars Jørgensen/Klaus Düwel/Max Martin/Tania M. Dickinson/Egon Wamers/Torsten Capelle, s. v. Fibel und Fibeltracht II. Archäologisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 8 (Berlin, New York 1994) 412–607.

124

Hans Zeiß

archäologischen Anwendung des Trachtbegriffs und seine Verengung auf die „National-“ oder „Stammestracht“ hatte Zeiß den entscheidenden Schritt für die weitere Forschung vollzogen, auch wenn er ihn methodologisch nicht explizit machte. „König Leowigild, der sich als erster der Westgotenherrscher nicht mehr mit dem allen Volksgenossen gemeinsamen Gewand und Sitz begnügt, führt Thron und fremden (byzantinischen) Königsornat ein“.11 Mit dieser lapidaren Feststellung, die sich auf die Gotengeschichte Isidors von Sevilla bezieht und sie recht eigenwillig interpretiert, wurden sehr direkte Schlüsse gezogen: Vor dieser Handlung des Königs seien alle eingewanderten Goten gleich angezogen gewesen, und sie hätten sich damit grundlegend von den einheimischen ‚Romanen‘, d. h. der vorhandenen Bevölkerung auf der Iberischen Halbinsel, unterschieden, die nämlich ihre spezifische Kleidung trug. Derart suggestiv und holzschnittartig unterschieden, blieb kein Raum mehr für andere Interpretationen, etwa in Bezug auf soziale Differenzen innerhalb der Gesellschaften anhand von Qualitätsunterschieden der Kleidungsbestandteile – der ‚ethnische‘ Gegensatz war entscheidend und prägte den Habitus auf fundamentale Weise. Diese Sicht setzte sich durch und wurde insbesondere von Joachim Werner bekräftigt, der sich als Schüler Zeiß’ betrachtete.12 Auch Werner beschrieb Fibeln und Schnallen als „Bestandteile eines nationalen gotischen Frauenkostüms“,13 und er sah gleichfalls in „Beigabensitten und Trachteigentümlichkeiten“14 entscheidende Anhaltspunkte zur archäologischen ‚Identifizierung‘ von Goten. Zielten Zeiß und Werner hauptsächlich auf die Unterscheidung der (‚germanischen‘) Goten von den ‚Romanen‘, so wurde das Konzept im Lauf der Zeit zunehmend ausgeweitet, so dass schließlich alle ‚germanischen Stämme‘ spezifische Fibeln und damit ‚Trachten‘ besessen haben sollten – und sich daran unterschieden. Am deutlichsten hat diese Überzeugung noch in den 1990er Jahren Alexander Koch (1966–2019) formuliert: „Keine Fränkin wird ostgotische, thüringische oder langobardische Bügelfibeln getragen haben, sofern sie nicht durch besondere Umstände dazu gezwungen wurde.“15 Ein Argument für diese apodiktische These fügte er nicht hinzu. Doch zeigt auch der hier wieder abgedruckte Beitrag von Zeiß, dass er mit dem „gotischen“, dem „fränkisch-langobardischen“ und dem „nordgermanischen Kreis“ bereits in diese Richtung dachte, d. h. ‚innergermanische‘ Unterscheidungen beabsichtigte. Mittlerweile ist die Forschung – nach einer eher euphorischen Phase in 11 Zeiß, Grabfunde (Anm. 4), 138. 12 Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 68 (Berlin, New York 2010) 332–351. 13 Joachim Werner, Die archäologischen Zeugnisse der Goten in Südrussland, Ungarn, Italien und Spanien. In: I Goti in Occidente. Problemi. Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 3 (Spoleto 1956) 127–130, hier 129. 14 Werner, Zeugnisse (Anm. 13), 127. 15 Alexander Koch, Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich 1–2. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 41 (Mainz 1998) 536 f.; ebenso 563.

Kommentar

125

den 1970 und 1980er Jahren16– skeptisch geworden gegenüber solch strikten Antworten. Derart scharfe Trennungen erscheinen grundsätzlich problematisch, und gegenwärtige Erklärungen betonen eher die mediterrane Einbindung und sprechen von einer „mode danubienne“17 statt von einer gotischen ‚Tracht‘. Anders ausgedrückt: Kleidung demonstriert aus heutiger Sicht eher vertikale soziale Differenzen innerhalb von Gesellschaften.18 S. B.

16 Fehr, Germanen und Romanen (Anm. 12), 601–677. 17 Michel Kazanski, La diffusion de la mode danubienne en Gaule (fin du IVe siècle–début du VIe siècle). Essai d’interprétation historique. Antiquités Nationales 21, 1989 (1990), 59–73; Barbara Sasse, „Westgotische“ Gräberfelder auf der Iberischen Halbinsel. Am Beispiel der Funde aus El Carpio de Tajo (Torrijos, Toledo). Madrider Beiträge 26 (Mainz 2000). 18 Sebastian Brather, Von der „Tracht“ zur „Kleidung“. Neue Fragestellungen und Konzepte in der Archäologie des Mittelalters. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 35, 2007, 185–206.

Heinrich Dannenbauer

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfassungsentwicklung Die Welt des Mittelalters ist eine aristokratische Welt. Staat und Kirche und Gesellschaft werden vom Adel beherrscht. Eine Anzahl großer Familien, ausgezeichnet durch vornehme Geburt und weitausgedehnten Besitz, untereinander vielfach versippt, gebietet über Land und Leute. Der König selbst ist ihresgleichen, der erste Edelmann des Landes. Mit ihm zusammen regieren sie den Staat, Reichsfürsten in Deutschland, Barone in Frankreich, Lords in England, Granden in Spanien. Auf den Bischofsstühlen des Landes sitzen ihre Brüder, ihre Söhne und Vettern. Gemeinsam mit diesen erheben sie den König, umgeben ihn an seinem Hof, bestimmen seine Politik, unterstützen ihn in der Verwaltung und Rechtsprechung, begleiten ihn mit ihren Vassallen auf seinen Feldzügen oder liegen auch mit ihm in Fehde und setzen ihn wohl gar wieder ab, wie sie ihn eingesetzt haben. Die Säulen des Reiches, die Häupter des Staates nennen sie deutsche Geschichtschreiber im 11. und 12. Jahrhundert, und Heinrich V. wird das Wort in den Mund gelegt: der Fall des Königs könne wieder gutgemacht werden, die Erniedrigung der Fürsten sei der Untergang des Reiches. Allein regieren, aus eigener Machtvollkommenheit, nach eigenem Gutdünken kann kein mittelalterlicher König, weder in Deutschland noch in England noch sonstwo. Er braucht dazu, wie die deutsche Formel lautet, den „Rat und Willen“ seiner Großen; fehlt ihre Zustimmung bei wichtigen Verfügungen des Königs, so ist deren Rechtskraft sehr zweifelhaft. Sie stellen in ihrer Gesamtheit neben dem König „das Reich“ oder „das Volk“ dar. Die Taten und Untaten dieser weltlich-geistlichen Aristokratie machen die Geschichte jener Jahrhunderte aus, mit ihnen füllen die Chronisten der Zeit die Blätter ihrer Bücher. Von anderen Leuten ist nichts zu vermelden. Das Volk auf dem Land ist zum größten Teil abhängig, unfrei in mannigfaltigen Abstufungen. Es hat zu gehorchen, zu arbeiten und Abgaben zu entrichten. Zu sagen hat es nichts. Es hat im Grund keine Geschichte. In diese rein aristokratische Welt hat zwar seit dem späteren Mittelalter das Aufkommen des städtischen Bürgertums eine Bresche geschlagen, aber jahrhundertelang hat der dritte Stand sich neben dem herrschenden Adel mit einer bescheidenen Rolle begnügen müssen. In Staat und Gesellschaft gibt nach wie vor die Aristokratie den Ton an. Das Königreich Frankreich bis zur Revolution von 1789, das Deutsche Reich bis 1803 bewahren in ihrer Verfassung das |2| mittelalterliche Aussehen. Die Generalstände, der Reichstag sind in der Hauptsache immer noch die Versammlung der weltlichen und geistlichen Fürsten, die Städte haben wenig zu sagen, und auch im englischen Unterhaus stehen bis zu den Parlamentsreformen des 19. Jahrhunderts die Vertreter der Städte an Bedeutung weit hinter dem https://doi.org/10.1515/9783110563061-007

128

Heinrich Dannenbauer

Landadel zurück. Das Vorrecht, den König zu beraten, mit ihm das Land zu regieren, ist und bleibt dem Adel angeboren. Mit einer Zähigkeit und Unerschütterlichkeit, die nur ganz tief eingewurzelten Vorstellungen eigen ist, hat diese Ordnung des Staates und der Gesellschaft weit über ein Jahrtausend unwidersprochen bei den abendländischen Völkern geherrscht, seit dem 5. Jahrhundert, wo man sie zuerst im westgotischen, dann im fränkischen Reich in voller Lebenskraft zu Gesicht bekommt, bis die Französische Revolution sie in Trümmer geschlagen hat. Alle Reiche vom Tajo bis zur Weichsel tragen den gleichen Charakter, sind Aristokratien mit monarchischer Spitze, und alle sind sie aus der großen Völkerwanderung hervorgegangen, sind germanische Gründungen oder, wie Polen und Ungarn, in ihren staatlichen Einrichtungen von den benachbarten Germanen beeinflußt. Es kann nicht anders sein: wir haben hier die den Germanen eigene Staatsform vor uns1. Mit dem spätrömischen Kaisertum, der absoluten Herrschaft eines einzigen, der, gestützt auf das Heer und eine zentralisierte Beamtenschaft, despotisch regiert, hat sie nichts gemein. Von den Römern ist sie sicherlich nicht entlehnt, wenn man überhaupt glauben könnte, daß ein von Fremden entlehnter Staatsgedanke mit solcher Zähigkeit und Folgerichtigkeit Wurzel schlagen und das ganze Leben und Denken der abendländischen Völker beherrschen könnte. Adelsherrschaft ist der den germanischen Völkern gemeinsame Grundzug. Er durchdringt alles. Das Reich wird von den Fürsten regiert, die über ganze Territorien herrschen, und draußen im Land gebietet der Edelmann von seiner angestammten Burg aus über die umliegenden Dörfer. Er nennt nicht nur Grund und Boden sein eigen, er erhebt von den Bauern auch Abgaben, fordert Dienste. Dafür sorgt er in seinem Umkreis für das bescheidene Maß von Ordnung, Recht und Sicherheit, an dem die Zeit sich genügen läßt. Er ist der Herr, denn er ist vornehm und mächtig, und das Volk sieht darin die natürliche, die einzig mögliche Ordnung der Dinge. So ist es in Deutschland, so in Frankreich, in England, in Spanien. Unwillkürlich sucht man diese Zustände und Vorstellungen auch in der germanischen Zeit. Aber wenn man die klassischen Werke der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte aufschlägt, wird man enttäuscht. Das Bild, das sie von dem germanischen Leben ent|3|werfen, weist zwar wohl manche Unterschiede in der Abtönung auf, aber die Grundfarbe ist bei ihnen allen die gleiche. Sie zeigen uns ein Dasein, in dem das Schwergewicht nicht bei dem Adel liegt, sondern bei dem Stand, den sie die Gemeinfreien nennen. Der ist für sie der Kern des Volkes, nicht nur der Zahl nach, sondern auch nach seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung. Es sind Kleinbauern, die alle die gleiche Freiheit, gleiche Rechte und gleichen Besitz haben. Sie leben in Sippendörfern und Markgenossenschaften zusammen, wo

1 Es ist unnötig, den Leser ausdrücklich an die Ausführungen J. Hallers in seinen Vorträgen „Gesellschaft und Staatsform“ (1927, S. 5 ff.) und „Der Eintritt der Germanen in die Geschichte“ (Reden und Aufsätze, 1934, S. 41 f.) zu erinnern, wo das in lichtvoller Kürze dargelegt ist.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

129

jedem Genossen die gleichen Rechte an der gemeinen Mark zustehen. Sie bilden die Gerichtsversammlung, wo sie Recht sprechen und ihre Beamten wählen, sie bilden das Heer, in dem sie unter selbstgewählten Anführern kämpfen. Bei ihnen liegt das entscheidende Wort für die Geschäfte von Krieg und Frieden2. Hinter den breit und kräftig gezeichneten Gemeinfreien, die den ganzen Mittelgrund des Bildes ausfüllen, treten die Adeligen sehr in den Schatten. Wir vernehmen eigentlich nur von einigen Ehrenrechten, die ihnen zugebilligt werden: adelige Geburt gewährt höheres Ansehen und größeren Einfluß in der Volksversammlung, die Könige werden aus Adelsgeschlechtern gewählt, obgleich selbst diese Regel nicht ausnahmslos gelten soll. Das ist nahezu schon alles, was sie vor den Gemeinfreien voraushaben sollen3. Ob den Adeligen ein höheres Wergeld, das heißt eine größere Bußzahlung bei Tötung oder Verletzung, zugestanden hat, ist schon zweifelhaft, die meisten verneinen es. Nur zaghaft erwägt man den Gedanken, ob den Adel etwa größerer Grundbesitz ausgezeichnet haben könnte. Von abhängigen Leuten, über die er geboten hätte, wagt man kaum zu reden4. Offenbar weiß man mit dem germanischen Adel nichts Rechtes anzufangen. Mit ungewollter Drastik kommt das unverhüllt |4| zum Ausdruck in dem Satz, den man in einem neueren Abriß der Verfassungsgeschichte lesen kann: „Das erkennbarste Vorrecht, das man ihm einräumte, ist, daß er ob nobilitatem mehrere Frauen haben durfte“5. Kein Wunder, daß in alter und in neuer Zeit sich immer wieder Forscher fanden, die den Glauben an diesen germanischen Adel verloren, er war doch gar zu schattenhaft und unfaßbar, und ihn kurzerhand überhaupt aus der Geschichte strichen6.

2 G. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte I3, 1880, S. 149 ff. A. Heusler, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1905, S. 5 ff. H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I2, 1906, S. 133 ff. K. Th. v. InamaSternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte l2, 1909, S. 64 f. R. Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 19226, S. 26 ff., 32 ff., 54 f. CI. Frh. v. Schwerin, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 1934, S. 20. 3 Brunner 139, Schröder 56, Heusler 5, Inama 65, Schwerin 15. 4 Um nicht etwa der Übertreibung geziehen zu werden, zitiere ich ausdrücklich einige der klassischen Werke. Waitz, VG I3, 163: Unwahrscheinlich, daß die Unfreien zahlreich waren, größerer Grundbesitz in einer Hand offenbar nur vereinzelt. Brunner RG l2, 134: Zahl der Knechte und Liten gering, kein Raum für ausgedehnte Verwendung unfreier Arbeitskräfte. Wittichs These vom grundherrlichen Leben des Adels ausdrücklich als unhaltbar zurückgewiesen. Heusler, VG, S. 5: Die Adeligen Bauern so gut wie die Gemeinfreien. Von eigentlichen Vorrechten des Adels nichts zu finden. Inama-Sternegg, Wirtsch. Gesch. I2, 69: Adel wenig zahlreich, rasch abnehmend an Zahl und Bedeutung. Wenig Gelegenheit für Austeilung von Land an Unfreie, v. Schwerin, Grundzüge, S. 15: Zahl der Adeligen gering, die Gemeinfreien die Masse des Volkes. S. 14: „Großgrundbesitz und Grundherrschaft hat es nicht gegeben.“ 5 A. Meister, Deutsche Verfassungsgeschichte, 19223, S. 10. 6 Vgl. die bei Waitz I3, 169, A. 1 und A. Dopsch, Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung II2, 1924, S. 37. A. 203 zitierten älteren Schriftsteller. Neuerdings, von der Grundbedeutung des Wortes Adel ausgehend, wie schon Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, IV, 193 f., G. Neckel in den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 41, 1916, S. 385 ff. und Ph. Heck.

130

Heinrich Dannenbauer

Wundern kann man sich über diesen radikalen Entschluß nicht. Aber abgesehen davon, daß er sich mit den Nachrichten aus germanischer Zeit nicht leicht vereinigen läßt, rätselhaft bleibt dabei und wird nur noch rätselhafter: wo kommt die Adelsherrschaft dann her, die alle germanischen Völker des Mittelalters übereinstimmend von Anfang an besitzen? Die beliebte Erklärung: ein Dienstadel habe sich in fränkischer Zeit gebildet, will nicht verfangen. Nicht nur, daß Dienst und Adel ein Widerspruch in sich selbst ist7, der Adel ist |5| offenkundig älter als die aus dem Lehenswesen, der Vassallität erwachsene Rangordnung der Gesellschaft. Wenden wir uns den zeitgenössischen Zeugen zu. Man hat sie zwar schon tausendmal verhört und peinlich befragt. Aber die Möglichkeit wenigstens wird man zugeben, daß die Richter unter dem Bann vorgefaßter Meinungen ihre Aussagen mitunter falsch gedeutet oder auch in sie hineinverhört haben könnten, was sie gerne hören wollten8. Auch könnte sich vielleicht das eine und andere Zeugnis finden, auf das man nicht sonderlich geachtet hat, und das, verbunden mit anderen Aussagen oder mit Tatsachen, die früher nicht bekannt waren, an Wichtigkeit gewinnt.

7 Um ein naheliegendes Mißverständnis von vornherein auszuschließen: hier wie überhaupt durchweg im Folgenden ist grundsätzlich nicht von fränkischen Verhältnissen die Rede, sondern stets nur von innerdeutschen. Es scheint mir von entscheidender Bedeutung zu sein, die im fränkischen Reich erwachsenen sozialen und politischen Zustände säuberlich zu scheiden von denen der erst im 8. Jahrh. einverleibten rechtsrheinischen Stämme, die bis dahin so gut wie unberührt von fränkischem Wesen gelebt haben. Daß im fränkischen Gallien durch Königsdienst und Vassalität dienstbare Schichten zum Adel aufgestiegen sind, das zu bestreiten fällt mir nicht ein. Aber ich rede von den anderen Stämmen und wie man hier darüber gedacht hat, darüber gibt es deutliche Äußerungen. ln der sogenannten Weingartner Welfengeschichte (c. 4) ist eine alte, halb sagenhaft gefärbte Familientradition aufgezeichnet von einem Welfen im 9. Jahrhundert, der seinen Adel durch die Lehen, die sein Sohn vom Kaiser nahm, für unheilbar geschädigt hielt und sich in tiefem Schmerz von der Welt zurückzog. Noch im Jahre 1350 muß Karl IV. einen Rechtsspruch ergehen lassen, daß ein edler, von beiden Eltern freigeborener Mann durch den Empfang von Lehen oder Dienstgütern und den davon dem Herrn geleisteten Dienst nicht im Adel seiner Geburt gemindert wird. Böhmer-Huber, Regesten Karls IV. 1691. Auch in Deutschland ist dann im Mittelalter eine ganze Schicht durch Dienstbarkeit zum Adel aufgestiegen. Aber der wirkliche Adel hat sie niemals für ebenbürtig genommen. Der schwäbische Freiherr von Zimmern unterscheidet in seiner (1566 abgeschlossenen) Chronik sehr scharf zwischen seinen eigenen Standesgenossen, den „Herren“, und den Leuten, die, wie er sagt, „nur vom Adel“ sind und die er für nicht ebenbürtig ansieht. Immer wieder kommt das in seinem dickleibigen Buch zum Ausdruck (z. B. I 61. 396. 397. II 99. 160. 277. 365. 493. III 212, Ausgabe K. A. Barack, 2. Aufl. 1881). Mehrmals erwähnt er ehemalige Standesgenossen, die verarmt sind, den [S. 5] „Herrenstand verlassen“, sich mit einer Frau „nur vom Adel“ verheiratet haben und fortan „als Edelleute leben, sich unter den gemeinen Adel gemischt“ haben. Welche Klasse er unter der Bezeichnung „Adel, Edelleute“ versteht, kommt ganz klar heraus, wenn er einmal sagt, früher habe man die Edelleute edle Knechte genannt (I, 101). Der Herrenstand dagegen ist niemals dienstbar gewesen, er allein hat Herrschaften und Gericht (z. B. II 365), und zwar aus eigenem Recht, nicht als Lehen (I 41. 42). Eigentlich würde ich das umstrittene und vieldeutige Wort „Adel“ am liebsten ganz vermeiden und statt dessen durchweg von „Herren, Herrenstand“ sprechen. 8 Bei Waitz ist der Einfluß, den die Anschauungen seiner eigenen Zeit ausgeübt haben, offenkundig.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

131

Haupt- und Kronzeuge ist natürlich die Germania des Tacitus. Neben ihr kommen die anderen schriftlichen Nachrichten fast nur als Ergänzungen in Betracht9. Wiederholt spricht Tacitus in der Germania wie auch in seinen beiden großen Geschichtswerken von nobiles bei den Germanen. Die Frage ist: was will er mit diesem Wort seinen römischen Lesern sagen10? Bezeichnet das Wort nobilis nur ein gewisses gesellschaftliches Ansehen, das sich aber nicht scharf abgrenzen und genau definieren läßt? Etwa wie wir wohl von angesehenen Leuten, guten Familien sprechen, ohne daß wir genau angeben könnten, wo nun eigentlich die Grenze ist zwischen schon oder noch angesehen und nicht angesehen, weil wir den Ausdruck eben rein gefühlsmäßig anwenden11. Oder aber ist nobilis ein fester Begriff mit scharfen Grenzen, so daß jeder genau weiß, wer dazu gehört und wer nicht? So wie uns heute noch der Unterschied zwischen adeligen und nichtadeligen Familien geläufig ist. Auch wenn er rechtlich keine Rolle mehr spielt, so weiß doch jeder ohne weiteres Bescheid und hat keinen Zweifel darüber, ob er zu der einen oder der andern gehört. |6| Da steht nun fest, daß für Tacitus und seine Leser das Wort ein bestimmter, scharf umrissener Begriff ist, nicht ein schwer definierbares, verschwimmendes gesellschaftliches Ansehen. Mit nobilis kann man im damaligen Rom nicht einfach nach persönlichem Dafürhalten jemanden bezeichnen, den man zu den „besseren Leuten“ rechnet, ohne daß man genau sagen könnte, warum, oder warum ein anderer nicht so genannt wird. Sondern um nobilis zu sein, müssen ganz bestimmte Bedingungen erfüllt sein, und Tacitus, Mitglied einer der ältesten römischen Adelsfamilien, selber durch und durch erfüllt von Adelsstolz und Standesvorurteilen wie nur irgend ein blaublütiger Aristokrat, wäre der letzte, der mit diesem kostbaren Prädikat leichtfertig und freigebig umginge. Wenn er in seinen Geschichtswerken einen namhafteren Mann zu nennen hat, so vergißt er selten, seine Abstammung zu erwähnen, und mit fühlbarer Geringschätzung spricht er von Leuten, die keinen alten Stammbaum aufzuweisen haben, deren Vorfahren nur Ritter oder gar noch weniger gewesen sind. Wo er gesellschaftliches Ansehen meint, sagt er dafür decus, und für hervorragende persönliche Eigenschaften virtus. Aber nobilis, nobilitas ist etwas anderes. Das gebraucht er nur für den wirklichen Adel, das heißt für Familien, die entweder den alten großen Geschlechtern angehören, wie seine eigene, die Geburtsaristokratie, oder die durch die Führung der höchsten Staatsämter, der Prätur, der Censur, des Konsulats diesen ebenbürtig geworden sind. Diese Familien haben bestimmte Ehrenrechte, die andern

9 Vollständige, handbuchartige Aufzählung sämtlicher Quellenstellen und der kritischen (sowie unkritischen) Arbeiten dazu ist hier nicht meine Absicht. Der Leser, der eine Stelle oder einen Büchertitel vermißt, wolle darum noch nicht daraus den Schluß ziehen, sie seien mir unbekannt geblieben. 10 Waitz I3 170, A. 1, erklärt freilich: „Auf die Bedeutung des Wortes in Rom kommt wenig an.“ Da hat dann allerdings die Willkür weiten Spielraum. 11 „He was a respectable man.“ – „A good word; what does it mean?“ – „He kept a gig.“ (Englischer Prozeß im 19. Jahrhundert).

132

Heinrich Dannenbauer

nicht zustehen. Sie sind vor den andern für die hohen Würden des Staates geboren, Titel und Rangordnung bei feierlichen öffentlichen Gelegenheiten unterscheiden sie genau von den übrigen Leuten. Sie können ihre Ahnen aufzählen und die hohen Ämter, die sie innegehabt haben, und in ihrem Palast haben sie eine Galerie von Ahnenbildern, die bei der Leichenfeier den toten Nachfahren auf dem letzten Weg begleiten. Das also sind die nobiles des Tacitus, eine bevorrechtete, mächtige, sehr reiche, sehr selbstbewußte und exklusive Aristokratie, und wenn er sich dazu versteht, bei den Germanen ebenfalls von nobiles zu sprechen, dann müssen wir schon glauben, daß es sich um eine deutlich genug von den übrigen abgegrenzte Klasse handelt. Auch in seinen Geschichtswerken gebraucht er mehrere Male das Wort nobilis oder mitunter einen gleichbedeutenden Ausdruck wie claritate natalium insignis für einzelne germanische Männer und Frauen derart, daß man sieht, es handelt sich für ihn nicht lediglich um „bessere Leute“, sondern um einen richtigen Adel, einen Geburtsstand, der sich von dem übrigen Volk abhebt. Aus dem Adel, ex nobilitate, werden die Könige gewählt, wie er in der Germania sagt. Nun erfahren wir später bei verschiedenen Völkern, Goten, Vandalen, Angelsachsen, Franken, daß die Königsfamilien ihren Stammbaum auf Götter zurückführen. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Die germanistischen Forscher und die ihnen folgenden Rechtshistoriker haben zwar ganz gewiß recht, |7| wenn sie sagen, daß das germanische Wort adal, etheling einfach gute Geburt, gute Familie bedeutet, und daß alle freien Germanen sich in diesem Sinn als adelig, als Leute von guter Herkunft betrachtet und bezeichnet haben. Aber davon, daß jeder freie Mann seinen Stammbaum auf Götter zurückgeführt habe, davon kann doch keine Rede sein. Das kann sich nur auf eine bestimmte Anzahl von Familien beschränkt haben. Die hoben sich damit über alle andern weit hinaus. Und zweitens: der Kreis dieser Familien kann nicht sehr groß gewesen sein. Der germanische Uradel göttlicher Abstammung muß eine kleine Oberschicht gebildet haben. Von den Cheruskern erzählt Tacitus an einer bekannten Stelle (Ann. 11, 16) zur Zeit des Kaisers Claudius, sie hätten durch innere Kämpfe ihren gesamten Adel verloren, nur noch ein einziger Mann königlicher Abkunft war übrig, der Neffe des Arminius. Den verlangten sie zu ihrem König. Nicht wegen seines Ansehens; was er etwa leisten konnte, wußte man von ihm noch gar nicht, er lebte seit langem in Rom, war römischer Bürger und hatte einen römischen Namen angenommen. Aber das störte die Cherusker nicht. Worauf sie Wert legten und weshalb sie diesen Unbekannten haben wollten, war seine vornehme Abstammung, quando nobilitate ceteros anteiret12. Sonst scheint Tacitus in der Germania nicht eben viel über die nobiles zu sagen. Wir vernehmen noch, daß die Angehörigen der Adelsfamilien leichter das 12 In der Mitte des 6. Jahrhunderts denken die Heruler in Unterpannonien noch ebenso. Nachdem sie ihren König verloren haben, schicken sie nach Skandinavien nach Hause, um einen Nachkommen des königlichen Geschlechts herbeizurufen. Prokop, Bell. Goth. II, 14 f. (Zitiert nach K. Zeuß, Die Deutschen und die Nachbarstämme, 1837, S. 482.)

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

133

Ohr der Volksversammlung finden, und daß junge Leute von besonders vornehmer Abkunft in den Gefolgschaften etwas vor anderen voraushaben. Aber die Auslegung der letzten Nachricht ist sehr umstritten, und mit der ersten hat man auch nicht viel anzufangen gewußt, da man darauf beharrte, der „Staat“ der Germanen sei demokratisch aufgebaut und beruhe auf dem Grundsatz der Volkssouveränität13. Hier können uns ein paar Bemerkungen in den Geschichtswerken des Tacitus einige Lichter aufstecken. Kurz vor dem Aufstand des Arminius, der zu der Niederlage der Römer im Teutoburger Wald führte, gibt Segestes dem Varus den Rat, den dieser freilich zu seinem Schaden in den Wind schlägt, er solle den Arminius und die übrigen Vornehmen in Haft nehmen. Wenn sie beseitigt seien, dann werde das Volk keinen Aufstand wagen (Ann. 1, 55). Die Leute adeligen Geschlechts sind also die natürlichen Anführer des Volkes und entscheiden über sein Verhalten. Das Volk für sich allein – |8| plebs, sagt Tacitus, ein geringschätziger Ausdruck – macht keine großen Unternehmungen. Fast noch schärfer tritt die ausschlaggebende Rolle einzelner Adeliger bei zwei anderen Gelegenheiten hervor, die Tacitus beinahe mit den gleichen Worten berichtet. Die landsuchenden Ampsivarier, in der Mitte der fünfziger Jahre, werden von einem vornehmen Mann namens Boiocalus geführt, der sich seiner Treue gegen die Römer rühmt: Arminius habe ihn im Cheruskeraufstand fesseln lassen – also die gleiche Maßnahme, die Segestes vergebens den Römern angeraten hatte, und jedenfalls aus dem gleichen Grund –, und jetzt wolle er noch ein Weiteres tun, er wolle sein Volk der römischen Herrschaft unterwerfen (gentem suam dicioni nostrae subiceret. Ann. 13, 55). Etwa ein Dutzend Jahre später wird fast dasselbe von zwei Edeln der Tungrer erzählt, Campanus und Iuvenalis (Hist. 4, 66): sie gehen in einem kritischen Augenblick zu Civilis über und übergeben ihm ihr ganzes Volk (universam ei gentem dedicere). Um noch ein Beispiel aus späterer Zeit anzuführen: 375 entschuldigen die Quaden sich wegen Grenzzwischenfällen bei Valentinian damit, es sei nichts auf gemeinsamen Beschluß der Adeligen (ex communi mente procerum gentis, Ammian 30, 6, 2) geschehen. Man braucht diesen Berichten nichts hinzuzufügen, sie sagen deutlich genug, nicht beim Volk liegt die Entscheidung, sondern beim Adel. Worauf aber stützt sich diese Herrschaft des Adels? An Zahl ist er doch nur gering, darüber ist man sich allgemein einig. Vorrechte hat er angeblich auch keine, oder doch nur Ehrenvorrechte ohne ausschlaggebende Bedeutung. Soll es wirklich nur die fromme Ehrfurcht vor dem alten Geschlecht sein, vor Verdiensten der Väter in grauer Vorzeit, die den „Kern des Volkes“, die sogenannten Gemeinfreien, bei denen „die Summe der politischen Macht und das entscheidende Wort für die Geschäfte von Krieg und Frieden“ lag14, dazu bewegt, in so schwerwiegenden, folgenreichen Fragen 13 So neuerdings noch F. Genzmer, Staat und Gesellschaft, in der Germanischen Altertumskunde, hsg. von Herm. Schneider, 1938, S. 148, 158. Mit anderen Worten ganz im gleichen Sinn v. Schwerin, Grundzüge, 1934, S. 20. 14 Heusler 9.

134

Heinrich Dannenbauer

die Entscheidung einigen wenigen Vornehmen zu überlassen? Die Germanen stehen sonst doch nicht gerade im Ruf, übermäßig lenksam und diszipliniert zu sein. Cäsar schon weiß davon zu berichten, und Tacitus bekräftigt das15. Aber hier folgen sie anscheinend willig ihren Adeligen; fast möchte man sagen, wie eine Herde. Wenn die Vornehmen weg sind, wird die plebs nichts wagen, behauptet Segestes, der seine Landsleute doch kennen mußte. Daß der germanische Adel eine solche Stellung lediglich kraft eines unbestimmbaren moralischen Ansehens besessen und behauptet haben soll, ohne den Rückhalt irgendwelcher anderer Vorrechte, das stünde in der Geschichte wohl einzig da. Die Nachkommen des Tuisto würden sich damit von anderen Menschenkindern sehr bemerkenswert unter|9|scheiden, und sie hätten diese Eigentümlichkeit im weiteren Verlauf ihrer Geschichte entschieden abgelegt. Denn später braucht auch bei ihnen, wer sich durchsetzen will, Macht. Daß man dem Adel Reichtum zuzuschreiben hat, liegt nahe. Die Germania (c. 27) spricht auch von besonders Wohlhabenden, die sich durch gewähltere Kleidung auszeichnen. Doch damit kommt man noch nicht weit. Auf den rechten Weg führt die eben zitierte Stelle aus den Annalen (1,55). Segestes rät dem Varus, die proceres zu verhaften, ohne die principes werde das Volk nichts wagen. Principes und proceres sind also dasselbe16. Damit begeben wir uns freilich auf ein außerordentlich umstrittenes Gebiet, oder vielmehr die maßgebenden Werke der Rechts- und Verfassungsgeschichte sind sich durchaus einig in ihrer Auffassung. Sie wiederholen in der Hauptsache, was Waitz vorgetragen hat. Eine Ausnahme macht lediglich Brunner. Er sieht in den principes, den Fürsten, wie man sie allgemein heißt, Gaukönige und findet keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Königen und principes. Ihre Befugnisse unterscheiden sich weniger durch den Inhalt, als durch die Größe des Gebiets, in dem sie ausgeübt werden, hier nur ein Gau, dort das Gebiet eines ganzen Stammes oder Volkes. Aber mit dieser Ansicht steht Brunner so gut wie allein unter den Rechtshistorikern. Als Vertreter der communis opinio mag R. Schröders Lehrbuch gelten. Die Völkerschaft zerfällt nach ihm in Gaue, an der Spitze jedes Gaus steht ein „Fürst“. Der ist, wohlgemerkt, ein Beamter, vom Volk gewählt, dem Volk verantwortlich, vom Volk absetzbar. Für gewöhnlich wird er zwar aus dem Kreis der adeligen Geschlechter gewählt, aber unbedingt notwendig ist das nicht. Er ist Anführer der Gaumannschaft im Heer, Richter des Gaus, und außerdem hat er (Schröder S. 33) „die Leitung der agrarischen Gauangelegenheiten“. Was er da alles zu tun hatte, wird leider nicht gesagt. Mit etwas mehr Worten konnte man dasselbe schon

15 Cäsar Bell. Gall. 4,1: nullo officio aut disciplina assuefacti nihil omnino contra voluntatem faciunt. Tacitus, Hist. 4,76: Germanos non iuberi, non regi, sed cuncta ex libidine agere; Ann. 13,54: in quantum Germani regnantur. 16 Und proceres = nobiles, wie das Stellenverzeichnis im Lexicon Taciteum von A. Gerber und A. Greef, 1903, S. 1198, einem etwaigen Zweifler zeigen kann. In Germ. c. 38 werden die principes den ingenui gegenübergestellt.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

135

bei Waitz lesen, und so oder leise abgewandelt wiederholen es die anderen Handbücher17. Noch vor kurzem hat einer der namhaftesten Rechtshistoriker gegen den Versuch, eine andere Auffassung zu vertreten, mit Nachdruck erklärt: die |10| taciteischen principes seien „allbekanntermaßen Amtsträger und Amtsinhaber, Gaufürsten“ gewesen18. Aber die Frage wird doch erlaubt sein: Paßt denn solche Bürokratie in die germanischen Zustände hinein? Ein Kenner wie Karl Müllenhoff hat das im vorigen Jahrhundert schon aufs schärfste verneint19. Und gegen die Übersetzung von princeps mit Beamter oder Amtsträger erhebt sich ein gewichtiger Zeuge, dessen Aussage nicht überhört werden kann: das lateinische Lexikon. Nie und nimmer heißt princeps im klassischen Latein Beamter. Ist etwa der princeps senatus oder der princeps iuventutis20 ein Beamter? Hat sich nicht Augustus des Titels princeps eben deshalb bedient, weil das keine Amtsbezeichnung war, sondern ihn schlicht republikanisch nur als den ersten Bürger kennzeichnete21? Somit denkt Tacitus bei den germanischen principes nicht an Behörden und Beamte, auch nicht an Miniaturkönige, sondern er will damit besonders vornehme und einflußreiche Privatpersonen bezeichnen, die angesehensten und mächtigsten Leute, also etwas, was gar keinen staatsrechtlichen Begriff enthält. Wir können die Gegenprobe machen. Germ. c. 30 schildert er die Zustände bei den Chatten, die nach seiner Angabe festere Ordnungen als die übrigen Stämme ausgebildet haben, und er sagt: sie gehorchen den Männern, die sie durch Wahl an die Spitze gestellt haben. Aber gerade hier vermeidet er das Wort principes, sondern diese Leute nennt er praepositi. Tacitus aber ist kein Schriftsteller, der unbesehen hinschreibt, was ihm in die Feder kommt, bei ihm hat jedes Wort seine Bedeutung, und wenn er hier, wo er ausdrücklich von gewählten Vorstehern spricht, nicht das Wort principes gebraucht, dann hat er das mit Überlegung getan, es paßte hier nicht. Cäsar kann das bestätigen. Er setzt die principes in Gegensatz zu den magistratus. Im Krieg, so sagt er (Bell. Gall. 6,23), stehen magistratus an der Spitze; im Frieden nullus communis magistratus, sondern da sprechen principes regionum atque pagorum unter ihren Leuten (inter

17 ln v. Schwerins Grundzügen, 1934, der jüngsten Wiederholung der traditionellen rechtshistorischen Lehre, liest man auf S. 20 ebenfalls von gewählten, verantwortlichen und absetzbaren Beamten, die als Beauftragte der Gesamtheit walten und durch das Symbol des Amtsstabes ausgezeichnet sind. Befehlsgewalt mangelt ihnen jedoch (S. 21 f.). (Was konnten sie dann eigentlich ausrichten?) Dafür haben nach v. Schwerins Darstellung (S. 22) die gewählten Heerführer, die duces, unumschränkte Gewalt, auch über das Leben des einzelnen. Germ. c. 7 sagt ausdrücklich das Gegenteil. 18 Ulr. Stutz (gegen V. Ernst) in den SB. der Berl. Akad. 1937, S. 225. 19 Deutsche Altertumskunde, IV, 192: „Das reine Beamtentum, die Bürokratie bei den alten Germanen beruht einzig und allein auf der Einbildung der gelehrten Historiker.“ 20 Tac. Ann. 1,3 necdum posita puerili praetextata! 21 Vgl. Monum. Ancyr. 6,21: praestiti omnibus dignitate, potestatis autem nihilo amplius habui quam qui fuerunt mihi quoque in magistratu conlegae.

136

Heinrich Dannenbauer

suos) Recht. Folglich sind die principes keine magistratus, keine Beamte, keine politische Obrigkeit22. Was ist der princeps dann? Die einzige Stelle, die darüber Auf|11|schluß gibt, ist das 13. Kapitel der Germania, zusammen mit den beiden folgenden. Insignis nobilitas aut magna patrum merita principis dignationem etiam adulescentulis assignant; ceteris robustioribus ac iam pridem probatis aggregantur, nec rubor inter comites aspici. Ein vielgequälter Text, dessen Überlieferung zudem nicht ganz feststeht. Denn zwei gute Handschriften, und zwar die beiden besten, die vatikanische (B) und die Leidener (b), lesen dignitatem statt dignationem. Doch das kann hier im Augenblick beiseite gelassen werden und wird sich alsbald als unwesentlich erweisen. Die in der Literatur seit Waitz fast allein herrschende Auffassung nimmt dignatio als Anerkennung, Gunsterweisung, die der princeps, der Fürst, wie Waitz seinen Beamten immer nennt, dem jungen Mann zuteil werden läßt. Auch jungen Leuten, so übersetzt er etwa (S. 288), kann hohe Abkunft die Anerkennung oder die Gunst des Fürsten zuwenden, nämlich, daß er sie in sein Gefolge aufnimmt. Aber diese Übersetzung scheitert unweigerlich daran, daß dignatio, wie man aus der vollständigen Stellensammlung23 sehen kann, bei Tacitus niemals diese aktive Bedeutung hat. Sondern er gebraucht es gleichbedeutend mit dignitas, und die einzig mögliche Übersetzung ist Rang, Würde eines princeps24. Die kann schon ein junger Mann (adulescentulus ist man unmittelbar, nachdem man puer gewesen ist, etwa von 13 Jahren an) infolge seiner Abkunft bekommen. Bei einem Jüngling von nicht so vornehmer Familie wäre das nicht möglich. Aber junge Leute aus den vornehmsten Geschlechtern stellen sich den übrigen principes, die ihnen doch an Körperkraft und Erfahrung weit voraus sind, ohne weiteres an die Seite. Obwohl der adelige adulescentulus so jung ist, braucht sich doch niemand zu schämen, unter seinen comites zu sein25. Damit hat Tacitus das Ziel erreicht, auf das seine bisherigen Sätze zusteuern: die Gefolgschaft. Und es wird klar, was ein princeps ist: Ein Herr, der ein Gefolge hat. Tacitus sagt es gleich darauf noch einmal ausdrücklich: haec dignitas,

22 Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit, die diese ausführliche Darlegung kaum verdient. Daß princeps und magistratus für den Römer Gegensätze sind, und daß man zum princeps auch gar nicht gewählt werden kann, sondern es dank der eigenen Stellung ist, das hätte man ohne weiteres wissen können. Wären die taciteischen principes Beamte gewesen, dann hätte Tacitus sie eben magistratus genannt. 23 Im Lexicon Taciteum von Gerber und Greef. 24 Vgl. etwa Hist. 1,19 dignatio Caesaris, 1,52 imperatoris dignatio, Ann. 3,75 dignatio magistratus, 4,16 dignatio sacerdotum u. a. m. 25 Die Worte nec rubor usw. sind bisher immer falsch bezogen worden auf den vornehmen Jüngling, der sich, obgleich adelig, doch nicht für zu gut hält, in die Gefolgschaft eines „Fürsten“ zu treten. Daher die Vorliebe für die von Lipsius (1574) aufgebrachte Konjektur ceteri für ceteris. Zur Not könnte man den Satz auch allgemein auffassen: Gefolgsmann zu sein ist für niemanden eine Schande, und ihn dann mit dem folgenden verbinden: es gibt auch Rangunterschiede, höhere Stellungen in der Gefolgschaft.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

137

hae vires, nämlich immer von auserwählten Kriegern umgeben zu sein, ein Gefolge zu haben, diese Ehrenstellung, diese Macht, ist im Frieden ein decus, im Krieg ein praesidium. Sie macht dem Herrn nicht nur bei seinem eigenen Volk einen Namen und ein Ansehen, sondern auch bei den Nachbarn. So sehr, daß man sich mit Gesandtschaften an ihn |12| wendet, ihn mit Geschenken ehrt, und daß er Kriege oft durch seinen bloßen Ruf entscheidet. Die ältere rechtsgeschichtliche Literatur, Savigny, Eichhorn und ihre Zeitgenossen, hatten diese Stelle auch so verstanden. Dann wurde diese Auslegung fast völlig ausgerottet durch G. Waitz. Waitz berief sich für seine Auffassung auf innere Gründe. Denn er mußte zugeben, daß dignatio bei Tacitus sonst ausnahmslos die gleiche Bedeutung wie dignitas hat. Aber ihm war es undenkbar, daß jeder freie Germane nach Belieben hätte ein Gefolge halten können. Das könne und müsse nur für „Fürsten“ möglich gewesen sein, das heißt nach seiner Auffassung: für gewählte und beauftragte Vertreter des Staates und der Obrigkeit26. „Wie soll man sich ein Gemeinwesen mit gewählten Vorstehern denken“, sagt er, „wenn einzelne durch Macht und Ansehen hervorragende Personen eine Stellung erlangt hätten, daß sie, wie Tacitus sagt, selbst bei anderen Völkerschaften bedeutenden Einfluß übten, durch ihren bloßen Ruf Kriege niederschlugen, durch Gesandtschaften und Geschenke geehrt wurden, denen das Gefolge nicht bloß für kriegerische Unternehmungen zur Seite stand, sondern auch im Frieden Ehre und Auszeichnung gab? Es hätte die Ordnung des Staates durchbrechen, die Macht des persönlichen Einflusses über die des Gesetzes stellen, Freiheit und Ordnung gefährden, ja vernichten müssen. Von Kämpfen ehrgeiziger Parteiführer müßte die Geschichte erzählen“27 und so weiter. Daraus kommt er zu dem Schluß: Es hing nicht von Willkür oder persönlicher Geltung ab, ob einer ein Gefolge hatte, sondern es war ein Recht der „Fürsten“ (lies: Beamten), eine Folge ihrer amtlichen Stellung, ein Ausfluß der ihnen übertragenen Gewalt. Die Voraussetzungen, auf denen Waitz’ Anschauung beruht sind mit Händen zu greifen: Es ist der bürgerliche konstitutionelle Ordnungs- und Beamtenstaat, der ihm und seinen Zeitgenossen als Ideal vorschwebte. Den suchte er – und fand ihn darum natürlich auch – im germanischen Altertum. Darum wies er auch jeden Gedanken daran, daß der Adel kraft seiner Macht das Volk beherrscht habe, mit Entrüstung von sich28. Auf diesen Voraussetzungen ist seine ganze Verfassungsgeschichte aufgebaut29.

26 Verfassungsgeschichte I3, 282: „principes in der Bedeutung als Vorsteher des Volkes, die uns feststeht.“ 27 Tut sie das etwa nicht? Was ist der Gegensatz zwischen Arminius und Segestes anderes? Tiberius will die Cherusker und die anderen Stämme einfach ihren inneren Fehden überlassen (Ann. 2,16). 28 Verfassungsgeschichte I, 245 f. 29 „Als einen der wichtigsten Punkte in meiner Auffassung der altdeutschen Verfassung darf ich bezeichnen: daß nur der Fürst (d. h. der gewählte Vertreter des Volkes) oder, wo es einen König

138

Heinrich Dannenbauer

Aber alles das hängt vollständig in der Luft. Die Grundanschauung, |13| von der Waitz überall stillschweigend ausgeht, daß das, was er den germanischen Staat nennt, ein fest organisiertes politisches Gemeinwesen war, ein Staat der Freiheit, des Friedens und der Ordnung30, die ist eine völlig willkürliche Annahme. Politische Freiheit ist kein Naturzustand, wie die Aufklärer meinten, sondern das Erzeugnis langer, mühevoller Kulturarbeit. Das Natürliche, der Urzustand, ist die Herrschaft der Gewalt, einzelner Mächtiger. Freiheit – ja die gab es in Altgermanien, aber für die Starken31. Schutz der Kleinen und Schwachen? Auch das ist kein selbstverständliches, überall gültiges Naturgesetz, sondern ebenfalls ein Erzeugnis der Kultur, vor allem des Christentums. Frieden und Ordnung? Die hat, bei Licht betrachtet, erst das 19. Jahrhundert für den Normalzustand des Staates gehalten. Aber das ist eine sehr ungeschichtliche Anschauung. Wer sich in der Vergangenheit umsieht, der wird als Normalzustand den Krieg entdecken, den äußeren und den inneren32. Auch in Altgermanien. Man rühmt doch die Germanen immer als ein kriegerisches Volk. Und in der Tat, alles, was wir von ihrer Geschichte wissen, zeigt sie uns in fortgesetztem Krieg, bald mit Fremden, bald mit ihren Stammesverwandten. Kämpfen sie nicht mit den Römern, dann schlagen sie sich gegenseitig tot. Möchten sie das doch ständig tun, wünscht Tacitus, nachdem er erzählt hat, wie die Brukterer von ihren Nachbarn, den Chamavern und Angrivariern, so gut wie ausgerottet worden sind. Bei den Cheruskern sind alle Adeligen gefallen, zum Teil gewiß, wie Arminius, ermordet worden; einzig ein Neffe des Arminius ist von den vornehmen Familien noch übrig, und auch der nur, weil er sicher in Rom saß. Hat der eigene Stamm gerade keine Lust, Krieg zu führen, dann ziehen die kampflustigen jungen Leute zu anderen Stämmen, wo eben etwas unternommen wird, denn die Ruhe ist ihnen zuwider, sagt Tacitus. Man fühlt sich an die Landsknechte des 16. Jahrhunderts erinnert, die auch immer der Trommel nachlaufen, ganz gleich, worum es geht. Das ist offenbar ein uralter ererbter Charakterzug des Volkes. Was wir aus den Überresten der germanischen Heldendichtung erfahren, bestätigt das Bild, das Tacitus zeichnet33. Von geordnetem Staatswesen im Sinn des

gab, dieser berechtigt war, ein Gefolge zu halten.“ Waitz, Gesammelte Aufsätze, hsg. v. K. Zeumer, 1896, S. 120. (Die Verfassungsgeschichte begann 1844 zu erscheinen.) 30 Das behauptet auch noch v. Schwerin, Z. f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 57, 1937, S. 495. 31 Auch U. Kahrstedt, Nachr. d. Gött. Ges., 1933, S. 282, erklärt die germanischen Gemeinwesen, wie die keltischen, für sehr lockere Gefüge, in denen einzelne feudale Große, gestützt auf ihre Hintersassen, Politik machen. 32 Vgl. H. Taine: „Nous ne savons plus aujourd’hui ce que c’est que la nature; nous gardons encore à son endroit les préjugés bienveillants du dix-huitième siècle; nous ne la voyons qu’humanisée par deux siècles de culture, et nous prenons son calme acquis pour une modération innée. Le fond de l’homme naturel, ce sont des impulsions irrésistibles, coléres, appétits, convoitises, toutes aveugles.“ (Histoire de la littérature anglaise I, 458). 33 Vgl. auch Herm. Schneider, Herrscher und Reich in der deutschen Heldendichtung; Festschrift für J. Haller, 1940, S. 147 ff.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

139

19. Jahrhunderts ist da keine Rede. Da |14| kennt man nur den Häuptling und sein Gefolge, das sich freiwillig um ihn schart. Krieg ist die Hauptsache, und wenn man gerade zu Hause ist, dann hält man, genau wie Tacitus es schildert, gewaltige Schmausereien und Gelage ab. Noch in Walhall geht es so zu, und hier haben wir doch das ins Überirdische vergrößerte Idealbild des Lebens vor uns. Cäsar schildert uns noch eine losere Form der Gefolgschaft. Sie wird zu einem bestimmten Zweck gebildet; wenn er erreicht ist, löst sie sich wieder auf. Bei Tacitus ist es ein festes, länger dauerndes Verhältnis, eine Bindung an den Herrn, die auch im Frieden bestehen bleibt. Gerne würden wir wissen, wie groß die Gefolge waren. Aber davon erfahren wir kaum je etwas Brauchbares. Für den Helianddichter im 9. Jahrhundert machen die zwölf Jünger Jesu ein Gefolge aus. Er fühlt sich nicht veranlaßt, zu entschuldigen, daß es so klein war. Immerhin möchte man schon nach der Schilderung des Tacitus an größere Zahlen denken. Für Rangstufen im Gefolge, von denen er (Germ. c. 13) spricht, ließe ein Dutzend zu schmalen Raum, und es würde auch nicht zu den Ausdrücken magnus globus, magnus comitatus, die er gebraucht, passen. In einem angelsächsischen Gedicht sehen wir einen Helden von 60 Mann begleitet34. In der Schlacht bei Straßburg 357 werden mit dem Alemannenkönig Chnodomar noch 200 Gefolgsleute gefangen. Ein Teil ist vermutlich schon vorher gefallen. Man sieht darin gewöhnlich ein besonders stattliches Gefolge, wie es sich nur die mächtigsten Herren leisten konnten. Aber vielleicht doch nicht ganz mit Recht. Wenn die Römer in der Kaiserzeit vornehme germanische Herren mitsamt ihrem Gefolge in ihre Dienste nahmen und als geschlossene Abteilungen verwandten, so kann es sich da kaum um ganz unbeträchtliche Trüppchen gehandelt haben. Das hätte sich nicht verlohnt. Damit muß man eine Nachricht verbinden, die Gregor von Tours bringt. Mehr als 3000 Franken sollen sich mit Chlodwich haben taufen lassen. Das waren in erster Linie natürlich die Gefolgsleute des Königs. Wie der Gefolgsmann sich verpflichtet hatte, dem Herrn in die Schlacht und in den Tod zu folgen, so folgte er ihm auch in den neuen Glauben35. Auf die buchstäbliche Genauigkeit der Zahl braucht man sich natürlich nicht zu versteifen, aber sie zeigt als runde Summe, welche Größe nach den Vorstellungen der Zeit ein königliches Gefolge etwa hatte. Hier ist dann genügend Platz für die Rangunterschiede in der Gefolgschaft; Unterabteilungen mit besonderen Befehlshabern waren unerläßlich. Das Gefolge eines germanischen Herrn zur Zeit des Augustus mag man sich beträchtlich kleiner vorstellen. Aber selbst wenn man Adeligen wie Arminus, Segestes und anderen nur einige Dutzend oder ein halbes Hundert zubilligen will – danach brauchen wir jetzt nicht mehr lange zu fragen, worauf die Herrschaft des Adels bei

34 R. H. Hodgkin, A History of the Anglo-Saxons. vol. I (1935) p. 211. 35 So lassen sich auch die Gefolgsleute angelsächsischer Könige mit ihren Herren taufen. Beda, Hist. eccl. Angl. III 3, III 21.

140

Heinrich Dannenbauer

den ger|15|manischen Stämmen beruhte, wie es möglich war, daß einzelne vornehme Herren ihr Volk zum Aufstand gegen die Römer führen oder aber es der römischen Herrschaft unterwerfen können, und warum das Volk ohne die Adeligen nichts wagt36. Auch das wird klar, warum die adeligen Herren in ihrem Bereich (per pagos vicosque) die natürlichen Richter des Volkes sind37. Nicht ein unbestimmtes, ungreifbares Ansehen des alten Geschlechtes ist der Grund, sondern die bewaffnete Macht, über die der Adel in seinen Gefolgschaften verfügt. Doch damit haben wir die Überlegenheit des Adels erst zu einem Teil kennengelernt. Seine Herrschaft hat noch breitere Grundlagen. Ein Gefolge auch nur von ein paar Dutzend Leuten im Frieden zu unterhalten, ist eine kostspielige Sache. Nur sehr reiche Herren können sich so etwas leisten. Denn der Herr schuldet seinen Leuten nicht nur die Ausrüstung, sondern auch alles, was sie sonst zum Leben brauchen. Mit eigener Hand zu arbeiten, konnte er seinen Kriegern nicht zumuten. Für sie war außer dem Kampf nur Jagd, Müßiggang und Gelage standesgemäß (Germ. c. 15). Solches Herrenleben ist ohne großen Reichtum ganz undenkbar. Reichtum aber besteht in jener Zeit so gut wie ausschließlich in Grundbesitz und Viehherden, und zu großem Grundbesitz, der dem Herrn und seinen Gefolgsleuten ein arbeitsloses Dasein ermöglicht, gehören notwendig nicht zu wenige abhängige Bauern, die für ihn das Land bebauen. Wieviel Besitz erforderlich war, damit der Herr mit seiner Familie und seinen Gefolgsleuten davon standesgemäß leben konnte, läßt sich natürlich nicht berechnen, dafür fehlen alle Unterlagen. Eine Schätzung, die sich auf die Wirtschaftsweise in Sachsen im 9. Jahrhundert stützt, führt dazu, daß man wohl nicht weniger als ein halbes bis ein ganzes Hundert abhängiger Bauernhöfe (Latenhufen) als Mindesterfordernis annehmen muß. Wahrscheinlich wird man darüber hinausgehen müssen38. Der adelige Gefolgsherr lebte also als großer Grundherr. Das ist nun freilich eine Ansicht, die von der ganzen älteren Forschung aufs entschiedenste verneint wird. Wo die Behauptung sich einmal hervorgewagt hat, ist sie auf entrüsteten Widerspruch gestoßen39. Sie vertrug sich nicht mit der zum Dogma erhobenen Anschauung von der allgemeinen Freiheit und Gleichheit der germanischen Bauern. Aber wovon sich dann der Herr und sein Gefolge |16| ernährt haben sollen, bleibt rätselhaft. Selbst wenn man mit Waitz nur dem vom Volk gewählten Vorsteher das Recht, ein Gefolge zu halten, zubilligt, bleibt das Problem

36 S. oben S. 132 f. 37 Daß sie dazu gewählt worden wären, ist eine irrige Auslegung der Stelle in Germ. c. 12, die schon Müllenhoff (IV, 252 f.) berichtigt hat. Gerichtsbarkeit ist ein Standesrecht des Adels, v. Below hat behauptet: Gerichtsbarkeit adelt. Umgekehrt wird’s richtig: Adel hat Gerichtsbarkeit. 38 Ph. Heck, Die Gemeinfreien der karolingischen Volksrechte, 1900, S. 295 ff., an dessen Berechnungen allerdings W. Wittich, Z. f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 22, 1901, S. 281 ff., Kritik übt. Ich nehme, wie es auch Tacitus sagt, Eigenwirtschaft des Herrn auf seinem Hof an. 39 Vgl. oben S. 129 A. 4.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

141

das gleiche: Wie hat er seine Leute ernährt? Die wenigen, die sich diese Frage überhaupt vorgelegt zu haben scheinen, sind darauf verfallen, ihre Beamtenfürsten mit staatlichen Dienstgütern auszustatten40. Wie groß die allerdings hätten sein müssen, was für Leute sie bebaut hätten, welchem Stand diese Bebauer angehört haben müßten, darum hat man sich jedoch keine Sorgen gemacht. Die Antworten hätten auch einige Verwirrung in die so wohl geordneten kanonischen Ansichten über die germanische Wirtschaft und Gesellschaft gebracht41. Sobald man jedoch die Frage stellt: Wovon lebten die Leute? führen die einfachsten wirtschaftlichen Überlegungen auf den Großgrundbesitz. Gefolgschaft setzt Grundherrschaft voraus42. Die wirtschaftlichen Gründe wären schon für sich allein zwingend. Aber wir haben auch ausdrückliche Belege dafür. Zunächst eine ganz kleine unscheinbare Nachricht. ln den Historien (5,23) berichtet Tacitus von dem Aufstand des Civilis im Bataverland gegen die Römer im Jahr 69/70. Civilis war, wie 60 Jahre vor ihm Arminius, ein vornehmer Germane, der zuerst in römischen Diensten gestanden hatte und dann seine Landsleute im Kampf gegen die Römer anführte. Ganz nebenbei und absichtslos erwähnt Tacitus einmal, daß Civilis in seiner Heimat am Niederrhein agros villasque besaß. Daß Civilis Äcker gehabt hat, würden wir auch ohne Tacitus glauben. Aber mit den villae steht es anders. Denn was der Römer damals eine villa rustica nannte, war nicht ein einfaches Landhaus für den Sommeraufenthalt, sondern ein großer Gutshof, der zum Teil vom Herrn bewirtschaftet wurde, zum Teil an kleine Bauern in Pacht ausgegeben war. Coloni hieß man diese Pachtbauern. Solcher villae hatte Civilis offenbar mehrere, denn Tacitus gebraucht den Plural. Dazu nehmen wir jetzt, was in der Germania über diese Dinge gesagt wird. lm 25. Kapitel spricht Tacitus von den Unfreien und sagt, sie würden bei den Germanen anders gehalten als bei den Römern. Bei den Römern gibt es Haussklaven, dann Sklaven, die in der Landwirtschaft verwendet werden, aber nur unter Aufsicht ihre bestimmte Arbeit verrichten, die einen im Weinberg, die andern im Feld, die dritten im Stall und so fort. Der germanische Unfreie hat ein eigenes Heim, seinen eigenen Herd, seine Familie. In dem Wort Penates, das Tacitus hier gebraucht (suam quisque sedem, suos |17| penates regit), den ererbten Hausgöttern einer Familie, liegt für den Römer der Besitz einer eigenen festen Behausung und einer regelrechten Familie. Die kann ein römischer Sklave nicht haben, er hat keine Penaten. Der germanische Unfreie hat sie, das heißt, er hat ein verhältnismäßig unabhängiges und

40 Schröder 33. 62. 41 Auf Grund der oben genannten Schätzungen Hecks kann man etwa vermuten, daß für den Unterhalt eines Gefolgsmannes die Abgaben zum mindesten eines abhängigen Bauernhofes nötig gewesen sind. Da aber die Wirtschaft im 1. und 2. Jahrhundert wahrscheinlich weniger ertrug als im ausgehenden 9., für das Hecks Schätzungen gelten, so wird man wohl höher gehen müssen. 42 Von einem andern Ausgangspunkte her und auf anderem Weg hat sich mir so die von W. Wittich vertretene Ansicht bestätigt.

142

Heinrich Dannenbauer

sicheres Dasein. Der Herr legt ihm, wie Tacitus anschließend sagt, eine bestimmte Menge Getreide, Vieh oder Kleidungsstücke als Leistung auf, ut colono, wie einem Colonen. Den Colonus der Römer haben wir eben kennengelernt, den Pachtbauern eines Grundherrn. Mit einem solchen vergleicht Tacitus den germanischen Unfreien. Unmittelbar an das Kapitel über die Unfreien schließt sich dann die Schilderung des landwirtschaftlichen Betriebes. Diese Verbindung hat manchen Erklärern durchaus nicht einleuchten wollen. Müllenhoff zum Beispiel, der sonst für den kunstvollen, durchdachten Aufbau der Germania das höchste Lob hat, meinte: mit c. 25, wo von den Sklaven die Rede ist, reiße der Faden ab, und das 26. Kapitel, das über den Ackerbau berichtet, habe keine Ideenverbindung mit dem vorhergehenden; diese Dinge hätten eigentlich früher erörtert werden müssen, im Anschluß an Kap. 15 (Lebensweise der Herren) und vor dem Abschnitt über Wohnung und Dorf43. Aber dieser Einwand geht lediglich von der vorgefaßten Meinung aus, daß jeder Germane ein Bauer gewesen sein müsse. In Wahrheit ist die vermeintliche Unordnung bei Tacitus gar nicht vorhanden. Die Verbindung ist wohlüberlegt und die Meinung des Schriftstellers ganz deutlich. Nach der Vorstellung des Römers gehören eben Landwirtschaft und Sklaven zusammen, wie etwa für den modernen Menschen Industrie und Fabrikarbeiter44. Darum behandelt er sie gemeinsam. Für seine Leser ist das die natürliche Gedankenverbindung. Weiter vorne, da hatte Tacitus das Leben der vornehmen Leute, der guten Gesellschaft geschildert. Die leben von ihren Einkünften, im übrigen gehen sie auf die Jagd oder zu geselligen Gelagen, soweit sie nicht gerade auf dem Kriegspfad sind45. Aber daß sie selber im Schweiß ihres Angesichts sich mit Feldarbeiten abmühten, das fällt ihnen nicht ein, so wenig wie dem Römer der |18| oberen Zehntausend. Dafür sind die Knechte da und die abhängigen kleinen Leute. Darum ist bei Tacitus bei der Schilderung des germanischen Lebens auch nicht vom Ackerbau die Rede, sondern von Waffen, Gericht, Volksversammlung, Gefolgschaft, Krieg, Jagd und Gelage. Das sind die standesgemäßen Beschäftigungen des vornehmen Mannes. Hätte der vornehme Germane mit eigener Hand seinen Acker bebaut, so wäre das etwas gewesen, was sich von der römischen Lebensweise so scharf unterschieden hätte, daß Tacitus es seinen Landsleuten als eine

43 Deutsche Altertumskunde IV, 362. 44 Das hat schon W. Wittich, Zeitschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 22, 1901, S. 258, mit Recht gesagt. 45 Noch im 15. Jhdt. lebt der Edelmann so. Man denke etwa an den Herrn von Bredow, den Alexis in seinem Roman naturgetreu geschildert hat. Die Wirtschaft zu Hause besorgt die Frau, genau wie bei Tacitus; der Herr des Hauses reitet aus, zecht, schläft in den Tag hinein. Die Entrüstung über das 15. Kapitel der Germania ist ganz gegenstandslos, sobald man sich klargemacht hat, daß Tacitus – wie für ihn als vornehmen Mann selbstverständlich – hier das Leben der vornehmen Herren bei den Germanen schildert. Das ist, wie in Rom, die Gesellschaftsschicht, die wichtig ist, auf die es ankommt. Die Lebensweise des gewöhnlichen kleinen Volkes interessiert ihn kaum, damit gibt er sich nicht ab; denn sie ist überall dieselbe, in Italien, in Gallien, in Germanien. Über so selbstverständliche Dinge redet er nicht weiter.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

143

Besonderheit mitgeteilt hätte. Aber davon verrät er an keiner Stelle seiner Schrift etwas. Er hätte dann wohl auch die Bezeichnung nobilis gar nicht auf Germanen angewandt. Denn in der ganzen antiken Welt adelt Arbeit nicht; im Gegenteil. Man erinnere sich der Verachtung des Griechen für den Banausen, den mit eigener Hand arbeitenden Mann. Was ihm auffällt, ist nur die verhältnismäßig selbständige Stellung der Unfreien, die wie die römischen Pachtbauern ihr Gütchen für sich haben, das sie auf eigene Rechnung bebauen, und von dem sie dem Herrn bemessene Abgaben zu liefern haben. Bei dem ganzen gedrungenen und wortkargen Stil seiner Darstellung, die immer wieder, auch in ganz kleinen Einzelzügen, mit stillschweigenden Antithesen zwischen römischer und germanischer Lebensweise arbeitet, ist darum der Schluß berechtigt: der Landwirtschaftsbetrieb mit unfreien Bauern nach Art der römischen Colonen46 ist wie in Italien so auch in Germanien bei den vornehmen Leuten die allgemeine Regel47. Eine Stelle in den Annalen (1,57) zeigt uns den großen Herrn inmitten seiner abhängigen Leute und führt uns zugleich noch einen Schritt weiter. Im Jahr 15 wurde Segestes von seinem Schwiegersohn Arminius belagert und dann von Truppen des Germanicus entsetzt. Tacitus sagt: Segestes, wurde befreit zusammen mit einer großen Schar von Verwandten und Klienten (magna cum propinquorum et clientium manu). Segestes ist wie Arminius ein nobilis, und wie der römische nobilis so hat auch der germanische eine Menge von Klienten, das heißt von abhängigen kleinen Leuten, die in seinem Schutz, seiner Munt, stehen, ihm zu Gehorsam und Dienst verpflichtet sind und von ihm gerichtet werden. Auf das Gefolge allein würde die Bezeichnung clientes kaum passen, wir müssen wohl außerdem noch an kleine Bauern denken, die dem Herrn im Frieden zinsen und in Gefahr mit ihm kämpfen48. |19| Die Stelle erlaubt noch einen weiteren Schluß. Wenn Segestes mit einer ganzen Schar von Verwandten und abhängigen Leuten von Arminius belagert wird, wie Tacitus hier erzählt, dann sitzt er gewiß nicht in einem Bauernhof und bekämpft sich mit seinem Schwiegersohn über den Zaun hinweg, sondern er hat eine Befestigung, eine Burg. Eine Burg mit Mauern und Graben und einem festen Turm in der Mitte, bewohnt von einem Edelmann mit reisigen Knechten, der über die Bauern in den umliegenden Dörfern gebietet, Zinsen und Fronden von ihnen verlangt, sie richtet und ihnen in Zeiten der Not Schutz bietet, dieses Bild kennt man im ganzen abendländischen

46 In den Unfreien des Tacitus werden wohl auch die Liten mit enthalten sein. 47 Auch ein landwirtschaftlicher Fachmann hat die Ansicht vertreten, daß Tacitus grundherrliches Leben der germanischen Vornehmen schildert. W. Fleischmann, Cäsar, Tacitus, Karl der Große und die deutsche Landwirtschaft (1911), S. 23 ff., 58 ff. – Fr. Kauffmann, Wörter und Sachen, II (1910), S. 28 f., hat als ursprüngliche Bedeutung des Wortes Bauer „Hausgenosse, zu einem Herrenhof gehöriger, von einem Herrn abhängiger Mann“ erklärt. 48 Auch hier wird man, zum Teil wenigstens, an Liten denken dürfen.

144

Heinrich Dannenbauer

Mittelalter, von Spanien bis zu den schottischen Bergen und bis an die Ostseeküste. Überall erheben sich die Burgen des Adels, überall sind sie Mittelpunkte kleiner Herrschaften, die Punkte, von denen die Macht ausstrahlt, der sich die Menschen unterwerfen müssen, und der sie ihr bescheiden Teil Recht und Ordnung verdanken. Donjon heißt der feste Turm, der das Rückgrat der ganzen Verteidigungsanlage bildet, in Frankreich. Das Wort kommt von dominationem, Herrschaft, und die Bezeichnung sagt klar und deutlich: die Burg ist der Mittelpunkt und das Fundament der Herrschaft. Die germanische Burg sieht zwar unscheinbarer und einfacher aus als die mittelalterliche. Die hochragenden Türme und Zinnen fehlen ihr, in der Hauptsache besteht sie aus Wällen und Gräben, die um schwer zugängliche Plätze gezogen sind. Ringwälle oder Fluchtburgen pflegt man sie meistens zu heißen. Sie sind uns in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die Forschungen C. Schuchhardts gut bekannt geworden49. Aber welche Form und welches Aussehen eine Befestigung hat, ist von geringerer Bedeutung. Ihr Zweck ist zu allen Zeiten der gleiche, und die Wirkungen, die von ihr ausgehen, sind im wesentlichen ebenfalls dieselben. Schuchhardt bezeichnet die germanischen Befestigungen als Volksburgen. Er will damit ausdrücken: sie waren für die Aufnahme einer größeren Zahl von Leuten bestimmt als die mittelalterliche „Herrenburg“, die nur dem Herrn und seiner nächsten Umgebung Schutz bieten sollte. Mittelalterliche Burgen sind ja sehr eng und klein, damit man sie leichter verteidigen kann. Die germanische „Volksburg“ dagegen schließt oft eine sehr beträchtliche Fläche ein. Solche Burgen boten einer gehörigen Menge Volks mitsamt ihrem Vieh in |20| Zeiten der Gefahr Schutz. In Gallien, wo Cäsar sehr genaue Bekanntschaft mit einer großen Zahl von ihnen machen mußte, auch im keltischen Süddeutschland, sind sie noch erheblich größer, bis zu vier- und achtmal so groß wie die deutschen. Man hat daraus geschlossen, daß die Bevölkerung in Mittel- und Norddeutschland viel dünner gewesen sein muß als bei den Kelten in Süddeutschland und Gallien. Man darf sich durch die Bezeichnung „Volksburg“ nicht irremachen lassen. Die ist modern und nur gewählt wegen des großen Umfangs, der eine Menge Volks aufnehmen konnte, im Gegensatz zur kleinen „Herrenburg“, die nur für den Edelmann und seine nächsten Angehörigen bestimmt war. „Angelegt waren die sogenannten Volksburgen gewiß nicht vom Volk, sondern von einem Herrn,

49 Für das Folgende siehe vor allem die Veröffentlichungen Schuchhardts: (Aug. v. Oppermann und C. Schuchhardt) Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen in Niedersachsen. 1888–1916, besonders Heft VIII 1905 „Volkburg und Herrensitz“; Über den Begriff „Burg“ im Heliand, in Opuscula archaeologica Oscari Montelio septuagenario dicata, 1913, S. 351 ff.; Befestigungswesen, im Reallexikon der germanischen Altertumskunde, hsg. von J. Hoops, Bd. 1, 204 ff., 1911/13; Volksburgen, ebenda Bd. 4, 434 ff., 1918/19; Die Burg im Wandel der Weltgeschichte, 1931; Vorgeschichte von Deutschland, 19342.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

145

dem sie auch unterstanden50.“ Das ist nicht nur bei den Germanen so, sondern auch bei den Kelten, den Italikern, den Griechen. Überall gehört ein Herr zu der Burg. Häufig findet man in der Nähe der Befestigung, unten am Fuß des Berges, noch einen großen Gutshof. Das ist der Edelsitz des vornehmen Herrn. Die Burg ist noch nicht ständige Wohnung, wie später im Mittelalter, etwa seit dem 10. Jahrhundert, sondern wird nur in Zeiten der Not bezogen. Im Frieden haust der Herr mit seiner Familie und seinem Gefolge unten auf seinem Hof. So erzählt es uns Tacitus von dem Markomannenkönig Marbod (Ann. 2,62), ähnlich ist es im angelsächsischen England, und noch im 8. Jahrhundert, wie Karl der Große Sachsen erobert, findet sich dort die gleiche Anordnung: oben die Burg, unten der Herrenhof. Schriftliche Nachrichten wie Ausgrabungen zeigen das. Selbst in Ortsnamen haben sich anscheinend einige Spuren davon erhalten. Es ist eine bemerkenswerte Beobachtung Schuchhardts51, daß am Fuß mehrerer solcher alter Befestigungen Orte liegen, die Namen wie Oerlinghausen oder ähnliche führen; eine der von ihm untersuchten Burgen heißt selber Herlingsburg. Das zugrunde liegende Wort ist altsächsisch erl, angelsächsisch eorl, das heute noch im englischen Adelstitel Earl fortlebt. Die germanische Burg mußte größer sein als die kleine mittelalterliche. Denn sie hatte erstens dem Herrn mit seinem Gefolge Raum zu bieten; das Gefolge aber war eine nicht unbeträchtliche Schar. Zweitens dürfte sie – mindestens in vielen Fällen – nicht einem Herrn mit seinem Gefolge gedient haben, sondern mehreren, die miteinander versippt waren. Eine bedeutsame Stelle im Beowulfslied, auf die Schuchhardt aufmerksam gemacht hat52, spricht von |21| Sippen- oder Verwandtenburgen. Die adelige Sippe wohnt um die Burg herum, sie gehört ihr gemeinsam. Erst drittens kommt dann das Volk der Umgegend. Ihm bietet die Burg Schutz in Kriegszeiten, es hat Nutzen davon53. Da ist es nicht anders als recht und billig, daß es auch daran mitarbeitet. Im Mittelalter taucht eine Bezeichnung für das Recht des Herrn auf, die umwohnenden Leute zum Bau von Befestigungen aufzubieten. Man heißt es Burgbann. Gegen 940 sagt einmal eine Urkunde Ottos I. für den Abt von Corvey an der Weser: der Abt soll das Recht haben, das Burgbann heißt, über die Leute von drei Gauen, die in die Befestigung des Klosters zu flüchten pflegen. Aber der Brauch muß viel älter sein, denn bei den Angelsachsen ist er schon 200 Jahre 50 Schuchhardt im Reallex. der german. Altertumskunde, 4, 434. Ebenso in seinem Aufsatz über die Burg im Heliand (Opuscula archaeologica) S. 354: „Deshalb sollte man nicht zwischen Fluchtund Herrenburgen streng unterscheiden wollen, sondern höchstens die größeren Volks-, die kleineren Herrenburgen nennen, aber auch dabei nicht vergessen, daß einen Herrn überhaupt all und jede Burg gehabt hat.“ 51 Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen, Heft 8, S. 58, § 234. 52 Schuchhardt, Die Burg, S. 175; Beowulf v. 2860 ff. 53 Auch wegen der Bergung beträchtlicher Viehherden mußte die Befestigung umfangreich sein. Den Schutz dieses wichtigsten Vermögens hebt als einen Hauptzweck der Befestigungsanlagen hervor E. Kost im Mannus, Bd. 32, 1940, S. 176 A. 1.

146

Heinrich Dannenbauer

früher, bereits im 8. Jahrhundert, bezeugt54. So wird man sich eine entsprechende Gewalt auch bei den Herren in der Zeit des Tacitus vorzustellen haben. Die Bewohner einer größeren oder kleineren Landschaft waren gewohnt, in Zeiten der Not sich und ihre Habe in die Burg eines mächtigen Herrn ihrer Gegend zu flüchten, und solche Notzeiten werden bei den ewigen Stammesfehden und den Streifzügen der Gefolgschaften häufig wiedergekehrt sein. Das verpflichtet sie aber auch dem Herrn. Er bietet ihnen Schutz, dafür dienen sie ihm. Das liegt so sehr in der Natur der Sache, daß man sich wundern müßte, wenn es anders gewesen wäre. Überall in der Welt, wo ein Mächtiger sich dazu herbeiläßt, Schwächeren seinen Schutz zu gewähren, müssen sie ihm dafür dienen und sich seinen Anordnungen fügen. Das ist so bei den Klienten, die sich unter das patrocinium eines vornehmen Römers begeben, bei den Hintersassen eines gallischen Häuptlings, und in Germanien ist es auch nicht anders. Zur eigenen Verteidigung fehlen dem einzelnen die Kräfte, und die staatliche Organisation, die in späteren Zeiten für ihn eintritt, ist noch viel zu unentwickelt, um ihm ausreichenden Schutz bieten zu können54a. So schließt sich unwillkürlich alles um einen Mächtigen in der Gegend zusammen. Dieser wird damit ganz von selbst zum Herrn, nicht nur seiner Eigenleute, seiner unfreien Bauern, sondern seiner ganzen Landschaft, er wird ihr natürliches Oberhaupt. Wer Schutz gewähren kann, gewinnt |22| damit immer auch Herrschaft, wie Taine im Einleitungskapitel seiner Origines de la France contemporaine so lebendig ausgeführt hat. Er kann befehlen, vorschreiben, richten, er kann Dienste und Abgaben verlangen. Das sagt Tacitus auch ganz genau: „Es ist Sitte“, so berichtet er im 15. Kapitel der Germania, „daß die Gaue freiwillig, und zwar Mann für Mann, viritim – also ausnahmslos alle, Freie wie Unfreie – entweder Vieh oder Getreide darbringen, was als Ehrengabe angenommen wird und auch den Bedürfnissen des Herrn abhilft.“ Der Herr bekommt also von den Bewohnern seines Gaus förmlich Steuern. Er bekommt sie, weil er stark ist und schützen kann. Er ist reich, er ist mächtig, er hat ein kriegerisches Gefolge und viele abhängige Leute, und er hat eine Burg. Darum ist er der Gebieter seiner Landschaft. Adel, Burg und Herrschaft gehören zusammen. Das ist die Keimzelle der öffentlichen Ordnung bei den Griechen und Römern und auch bei den Germanen. Damit haben wir einen ganz anderen Ausgangspunkt gewonnen für die Auffassung des öffentlichen Lebens bei den Germanen, als die hergebrachte Darstellung

54 Dipl. Ottos I. 27. F. Liebermann, Gesetze der Angelsachsen, II 331 u. 688. Stevenson, Engl. Hist. Rev. 29, 1914, 689 ff. Die Anschauung Waitz’ und seiner Nachfolger vom wohlgeordneten germanischen Staat wird aufs schlagendste widerlegt durch die Rolle, die die Sippe ursprünglich spielt: sie muß mit ihrer Fehdehilfe und Blutrache Aufgaben erfüllen, die später der Staat übernahm, weil eben der Staat noch fehlt. Darum verliert sie auch immer mehr an Bedeutung, je mehr in späteren Zeiten der Staat mit seiner Polizei und seinen sonstigen Organen die Rechte und Pflichten übernimmt, die sie ehemals gehabt hat.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

147

der rechtsgeschichtlichen Handbücher, die von allgemeiner Freiheit und Gleichheit germanischer Kleinbauern und Markgenossen reden. Wir sehen vielmehr eine Anzahl adeliger Geschlechter, die über das übrige Volk emporragen und die Herrschaft darüber führen, gestützt auf ihren reichen Grundbesitz, ihre zahlreichen abhängigen Leute, ihr bewaffnetes Gefolge und ihre Burgen. Es ist Adelsherrschaft, nicht Demokratie. Dieselben Grundzüge der Gesellschaft und des Staates werden wir im ganzen Mittelalter wiederfinden. Doch hier meldet sich ein ernstes Bedenken. Nach verbreiteter Anschauung beginnt das mittelalterliche Deutschland erst im 10. Jahrhundert damit, Burgen zu bauen und von Burgen aus das Land zu schützen und zu beherrschen. Dürfen wir die Lücke von der Zeit des Tacitus bis zu der Heinrichs I. so ohne weiteres überspringen und eine Kontinuität annehmen, die vielleicht gar nicht besteht? Es handelt sich ja um gut 800 Jahre. Sie bieten mehr als genug Raum für alle erdenklichen Veränderungen und Neuerungen in Lebensweise und Einrichtungen. Ein Teil der germanischen Stämme hat außerdem während dieser Jahrhunderte seine Sitze gewechselt und nach langer Wanderschaft neue Wohnstätten in ganz anderen Landschaften bezogen. Die Stämme, die Tacitus nennt, sind überhaupt fast alle verschwunden. An ihrer Stelle tauchen neue, bisher unbekannte Namen auf von größeren Stämmen, die sich erst in der Wanderzeit zusammengeschlossen haben. Die Lösung vom alten Heimatboden, die Vereinigung mit Angehörigen anderer Stämme, die lange Wanderschaft, die ganz andere Lebensbedingungen mit sich brachte, endlich die Niederlassung in neuen Landschaften – spricht das nicht alles viel mehr gegen als für die Fortsetzung der früheren Zustände? Müssen da nicht der Aufbau der Stände, die ganze Lebensund Wirtschafts|23|weise, alle politischen Einrichtungen solche Veränderungen erfahren haben, daß es sich von selbst verbietet, zwischen dem deutschen Mittelalter und dem germanischen Altertum eine unmittelbare Verbindung herstellen zu wollen55? In der Tat sieht die Aufgabe zunächst recht hoffnungslos aus. Zwischen Tacitus und Bonifatius liegt die Geschichte Innerdeutschlands so gut wie ganz im Dunkel. Nur ganz selten blinkt für einen Augenblick ein schwacher Lichtschein auf, und er bringt das Dunkel nur erst recht zum Bewußtsein. Eigene schriftliche Zeugnisse der innerdeutschen Völker gibt es vor dem 8. Jahrhundert nicht, und die Außenwelt, Römer und Franken, findet nur ganz selten Anlaß, etwas über die Bewohner dieser Länder und ihre Schicksale und Lebensgewohnheiten zu sagen. Die archäologische Forschung aber läßt gerade in den Fragen, die uns hier interessieren, weithin im Stich. Am ehesten darf man noch hoffen, die ursprünglichen Zustände bei den Stämmen wiederzufinden, die im Norden Deutschlands wohnen. Sachsen und Thüringer

55 Um Mißverständnissen zu begegnen, sei hier nochmals betont, daß im folgenden von den Franken nicht die Rede sein wird, sondern lediglich von den Stämmen, die keine gallo-römische Beeinflussung erfahren haben.

148

Heinrich Dannenbauer

sind in ihren alten Sitzen geblieben oder haben sie wenigstens nur unbeträchtlich verändert56. Hier, wo kein fremder Zwang, keine fremden Einflüsse gewirkt haben, kann man also erwarten, daß die Lebensweise und die Ordnungen des Volkes sich nur langsam umgestaltet haben, daß vieles noch ganz beim alten geblieben ist. Und in der Tat zeigen die Berichte, die wir im 8. Jahrhundert erhalten, wo die Franken in nähere Berührung mit diesen Stämmen kommen, große Altertümlichkeit der Zustände bei ihnen. In der Mitte des 9. Jahrhunderts hat Rudolf von Fulda kein Bedenken getragen, für die Schilderung der Sachsen des 8. Jahrhunderts fast wörtlich Sätze aus der Germania des Tacitus zu verwenden57. Versuchen wir also aus unseren spärlichen Nachrichten zu ermitteln, wie weit die Grundpfeiler der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung, die wir bei den Germanen kennengelemt haben, bei den Sachsen vor ihrer Einfügung ins Frankenreich noch aufrechtstehen. Über die ständische Gliederung der Sachsen in karolingischer Zeit ist seit 40 Jahren unendlich viel verhandelt worden. Hier soll nun weder versucht werden, die Zahl der Theorien über Wergelder und Münzwerte zu vermehren, die dieses Problem so überaus dornig gemacht haben, noch ist beabsichtigt, eine Debatte über Ahnengräber |24| und Gerichtssäulen zu eröffnen. Alles das soll hier durchaus unerörtert bleiben. Wir können gänzlich unabhängig davon vorgehen. Zunächst haben wir eine feste, unbestreitbare Tatsache vor Augen, von der sich jedermann überzeugen kann. Das ist die sächsische Burg. Sie ist in den schriftlichen Quellen oft genug bezeugt, die Feldzüge Pipins und Karls des Großen gegen die Sachsen drehen sich großenteils um die Eroberung der sächsischen Burgen. Schuchhardt hat eine Anzahl von ihnen erforscht und damit die Sachsenkriege erst recht verständlich gemacht58. Die großen unter ihnen entsprechen in ihrer Anlage ganz den Befestigungen, die man aus dem germanischen Altertum unter dem Namen „Volksburgen“ oder „Fluchtburgen“ kennt. Sie sind offenbar zum Schutz einer ganzen Landschaft bestimmt, wie etwa die 743 in den Fränkischen Reichsannalen genannte Hochseeburg für den Hochseegau. Neben ihnen gibt es auch kleinere; die Archäologen tragen kein Bedenken, sie Herrenburgen zu nennen und für das Eigentum vornehmer Sachsen zu halten59. Aber für die sogenannten Volksburgen gilt, wie schon in taciteischer Zeit, das gleiche. Auch sie gehören einem Herrn.

56 Die Friesen muß ich beiseite lassen, weil ich mit den Besonderheiten der friesischen Rechtsgeschichte zu wenig vertraut bin. Flüchtige Bekanntschaft hat mir den Eindruck erweckt, als ob auch hier die gleichen Beobachtungen zu machen wären wie bei den ändern Stämmen. Die Hessen scheiden hier aus, weil bei ihnen fränkischer Einfluß und fränkische Herrschaft schon länger und stärker wirksam war als bei Sachsen und Thüringern. 57 SS II, 673 ff. 58 Schuchhardt, Vorgeschichte von Deutschland, S. 309 ff. Ferner K. Schumacher, Siedelungs- und Kulturgeschichte der Rheinlande III (1925) S. 143 f., 348. Dort auch Karte Nr. 1. 59 Schumacher III, 144.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

149

Bei einigen von ihnen sagt es schon der Name deutlich. Die Amalungsburg60 wird einem Amalung gehört haben, vielleicht demselben, der es wie andere sächsische Herren mit den fränkischen Eroberern hielt und deshalb bei einem der sächsischen Aufstände das Land räumen mußte61. Die Brunsburg, die die Reichsannalen 775 nennen, könnte Eigentum des Bruno gewesen sein, der im gleichen Bericht als Anführer der Herren in Engem erscheint. Überdies aber läßt sich bei einer Reihe dieser sogenannten Volksburgen in der Nachbarschaft ein offenbar dazugehöriger Herrenhof feststellen: bei der Eresburg der Hof Horhusen62, bei der Sigiburg Westhoven63, bei der Brunsburg der Hof Höxter, bei der Skidroburg der Hof Lügde64. Viele dieser Höfe sind im Verlauf der Sachsenkriege vom fränkischen Fiskus eingezogen und zu Königshöfen ausgebaut worden. Aber ursprünglich gehörte jeder von ihnen einem vornehmen Sachsen, er war sein Wohnsitz in friedlichen Zeiten, der Mittelpunkt seiner Wirtschaft. Zu den archäologischen Feststellungen liefert den Kommentar der Dichter des Heliandliedes65. Die Burgen, von denen er spricht, Jerusalem, Bethlehem, Jericho, Nain usw. sind nicht einfach große Wohnplätze, und das Wort Burg muß ihm nicht etwa helfen, den den Sachsen fremden Begriff der Stadt zu umschreiben, es sind Befestigungen mit Wall, Mauer und Toren. In der Burg wohnen edelgeborene Leute, Johannes wird in einer Burg geboren, Joseph und |25| Maria stammen von der Burg Bethlehem und geben sich dadurch als Leute von guter Familie zu erkennen. Jede Burg hat einen „Burgwart“, einen Herrn, der von hier aus das umliegende Land beherrscht, „Volksführer“ (folk-togo, heri-togo) ist, Gericht hält und Abgaben einzieht. Solche „Volksführer“ bekommen wir in der zeitgenössischen Geschichtschreibung des öfteren zu Gesicht. Wiederholt sprechen die fränkischen Annalen von den primores oder optimates der Sachsen, die das Volk anführen, wohl auch, mit einer ungeschickten Anleihe beim klassischen Latein, vom senatus der Sachsen, im Gegensatz zum populus (Ann. Einh. 777). Ähnlich wie es Tacitus von den germanischen principes berichtet, bestimmen sie über die Haltung des Volkes. In der Hochseeburg ergibt sich 743 Dietrich, der primarius illius loci (Ann. Einh.); die Notiz über den fränkischen Feldzug des nächsten Jahres bucht als Ergebnis, daß Dietrich sich wiederum unterworfen habe. Die Ostfalen ergeben sich 775 unter Führung des Hessi, die Engern tun unter Bruno das gleiche. Nobilissimi aus den Sachsen werden 782 zu Grafen im Land ernannt (Ann. Lauresh.). Die primores liefern 798 dem Frankenkönig die Unzuverlässigsten unter ihren Landsleuten aus. Daß Widukind derselben Klasse angehört hat, ebenfalls ein großer und vornehmer Herr

60 Schuchhardt, Atlas, § 219. 61 Dipl. Kar. 213. 62 Schumacher III, 348. 63 Ebd. S. 143. 64 Ann. regni Fr. zu 784. 65 Schuchhardt in Opuscula archaeologica Oscari Montelio dicata, S. 351.

150

Heinrich Dannenbauer

gewesen ist, würde niemand bezweifeln, auch wenn ihn die Einhardsannalen nicht ausdrücklich einen der primores der Westfalen nennen würden. Die Kleinen Lorscher Annalen schreiben ihm, vielleicht nicht mit Unrecht, die Absicht zu, sich zum König seines Stammes zu machen. Dasselbe haben in germanischer Zeit manche Adelige versucht oder sind, wie Arminius, solcher Absichten beschuldigt worden. Mit Widukinds Unterwerfung erlischt der Aufstand des Volkes für Jahre, genau, wie einst Segestes zu Varus gesagt hatte (Tacitus, Ann. 1,55): nihil ausuram plebem principibus amotis. Zum vornehmen Herrn im germanischen Altertum gehörte das Gefolge. Bei den Sachsen berichten zwar unsere historischen Quellen nichts davon. Aber für den Dichter des Heliand im 9. Jahrhundert ist der Gefolgsherr und der Gefolgsmann ein so selbstverständlicher, keiner Erklärung bedürftiger Begriff, daß wir keinen Augenblick zu zweifeln brauchen, ob dieses Stück altgermanischen Lebens den Sachsen zur Zeit Widukinds noch bekannt war. Hessi, Bruno, Widukind und ihre Standesgenossen dürfen wir uns von einem kriegerischen Gefolge umgeben vorstellen, nicht anders wie den Segestes oder Arminius. Danach läßt sich nun auch eine viel umstrittene Frage mit Gewißheit beantworten: ob die sächsischen Herren, die unsere Quellen mit dem lateinischen Wort nobiles oder einem ähnlichen bezeichnen, Bauern gewesen sind oder als Grundherren gelebt haben. Bruno, Hessi, Widukind und die anderen „Volksführer“ der Sachsen sind so wenig Bauern gewesen wie Arminius, Marbod, Segestes oder Civilis. Wer Burgen hat und Gefolgsleute hält, wer später vom König zum Grafen bestellt wird, Herren, deren Familien schon in |26| den nächsten Menschenaltern mit den vornehmsten Geschlechtern im Reich66, selbst mit dem karolingischen Königshaus, hin und her Ehen eingehen, die leben nicht bescheiden von ein paar Hufen, die sie mit eigener Hand mühselig bebauen. Ohne großen und einträglichen Besitz mit vielen abhängigen Leuten ist ihre Stellung gar nicht denkbar. Zum Burg- und Gefolgsherrn gehören Land und Leute, von denen er lebt. Doch wir sind gar nicht auf solche allgemeine Überlegungen allein angewiesen. Den Besitz der Widukindschen Familie lernen wir im 9. Jahrhundert etwas kennen67, er muß recht stattlich gewesen sein, selbst wenn man einen Teil davon Schenkungen Karls des Großen zuschreiben will. Von dem Vermögen anderer Geschlechter bekommt man einen Begriff durch die Stiftungen, die sie machen. Eine Anzahl sächsischer Klöster ist im Lauf des 9. Jahrhunderts aus dem Eigengut sächsischer Familien gegründet worden68. Vor allem aber spricht eine bekannte Tatsache für sich allein deutlich genug: die ganz

66 Die Mutter der Kaiserin Judith aus dem welfischen Haus war eine vornehme Sächsin. Thegan c. 26. 67 Sein Enkel Waltbert gründet 851 das Kloster Wildeshausen. Osnabrücker Urkundenbuch, I n. 46; Translat. S. Alexandri, SS II 674. Schon 834 hat er Güter an Utrecht geschenkt. SS II 217 n. 68 Hauck, Kirchengeschichte II 618 f.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

151

ungewöhnlich große Zahl höriger Bauern, die es in Sachsen gab69. Die große Masse der bäuerlichen Bevölkerung in Sachsen waren nicht freie Bauern, sondern Laten, die auf Herrenland saßen und davon Dienste und Abgaben entrichteten. In welchem Maß die Leute von ihrem Herrn abhängig waren, läßt einmal die Lex Saxonum erkennen, die den Fall vorsieht, daß ein Lite eine Untat, auch einen Mord, auf Befehl seines Herrn begeht70. Dann die Erzählung Bedas von der Ermordung zweier angelsächsischer Missionare, der beiden Ewalde, im Sachsenland71. Die Geschichte verdient in mehrfacher Hinsicht genauere Betrachtung. Einmal weil sie zeigt, daß der weitausgedehnte Grundbesitz der Herren schon eine gewisse Verwaltungsorganisation hat. Die beiden Missionare finden Unterkunft bei dem Gutsverwalter (villicus) eines großen Herrn72. Dann lehrt sie uns die unumschränkte Herrschaft des Herrn kennen. Die Bauern fürchten, wenn die Fremdlinge den Herrn zum Christentum bekehren sollten, dann würden sie alle zur Annahme des neuen Glaubens gezwungen werden (omnis eorum provincia veterem cogeretur nova mutare culturam). Das klingt geradezu wie aus der Zeit |27| des Cuius regio, eius religio. Drum schlagen sie die Missionare tot. Der Herr gebietet also nicht nur über dieses eine Dorf, sondern über eine ganze Landschaft. Der Herr ist höchst erzürnt darüber, daß man Fremde, die zu ihm wollten, nicht zu ihm kommen läßt, sendet aus und läßt alle Bauern umbringen und das ganze Dorf verbrennen73. Sicherlich war das kein Dorf freier Bauern.

69 Nithard IV 2: frilingis lazzibusque, quorum infinita multitudo est. Ebenso noch im hohen Mittelalter (Sachsenspiegel III 44,2 und Sächs. Weltchronik, c. 76; zitiert bei Ph. Heck, Pfleghafte und Grafschaftsbauern, 1916, S. 179 A. 1: ane mate late und egene lude vile). 70 Lex Sax. c. 18 und c. 50 (hier sogar servus aut lidus). 71 Beda, Hist. eccl. V 10. Der Vorgang spielt zwischen 690 und 714. 72 Die Bedeutung des Wortes villicus erhellt aus der Erzählung von Caedmon (Beda V 22 [24]), dem Kuhhirten, der auf wunderbare Weise zum Sänger wird: er berichtet, was ihm widerfahren ist, seinem villicus. 73 Der Herr wird von Beda satrapa genannt, ein Wort, das er, wie Ph. Heck (Standesgliederung der Sachsen, 1927, S. 88 f.) nachgewiesen hat, der Vulgata entlehnt hat. Doch kann ich mich Heck nicht anschließen, wenn er es auf Grund von Daniel 6, 1–4 als Bezeichnung für Beamte, ernannte Bezirksvorsteher erklärt. Zunächst aus den gleichen Gründen, die schon (S. 10) bei den principes des Tacitus dargelegt worden sind. Diese Bürokratie scheint mir bei den Sachsen ebensowenig Daseinsrecht zu haben wie bei den alten Germanen. Außerdem widerspricht m. E. der ganze Inhalt der Geschichte aufs entschiedenste einer solchen Deutung. Wie soll man sich vorstellen, daß die Bauern von einem ernannten (das heißt doch wohl: vom Volk ernannten?) Bezirksvorsteher hätten befürchten müssen, zum Glaubenswechsel gezwungen zu werden, und daß ein solcher Beamter sich hätte herausnehmen dürfen, gleich ein ganzes Dorf umzubringen und niederzubrennen? Das ist ein Unding. Bei Bedas Erzählung wird man vielmehr an die Worte des Tacitus über die Bestrafung der servi erinnert, Germ. c. 25: occidere solent, non disciplina et severitate, sed impetu et ira, ut inimicus, nisi quod impune est. Bei einem ernannten Volksbeamten und gemeinfreien Bauern wäre der Fall gewiß nicht impune gewesen. Der satrapa muß also ein großer Herr sein, von dem die Leute in allen Stücken abhängig sind. In der angelsächsischen Übersetzung Bedas wird das Wort mit ealdorman wiedergegeben, das auch für princeps, optimas, subregulus steht (Hist. eccl. III 15. 30. IV 12.)

152

Heinrich Dannenbauer

So lückenhaft unsere Überlieferung über das Sachsenland vor der Einfügung in das fränkische Reich ist, das Bild, das von den inneren Zuständen zu gewinnen ist, ist in den wesentlichen Grundzügen klar genug: das Volk steht unter der Herrschaft einer starken Aristokratie74. Gestützt auf ihre militärische und wirtschaftliche Macht, auf ihre Burgen und ihr kriegerisches Gefolge, auf ihre ausgedehnten Güter mit abhängigen Bauern, herrschen die vornehmen Geschlechter, jedes in einem größeren oder kleineren Umkreis, über das Land. Es ist Adelsherrschaft, genau wie in den Zeiten des Tacitus. Weit dunkler als die sächsischen Verhältnisse sind die Zustände bei den Thüringern. Die schriftlichen Quellen versagen vor dem 8. Jahrhundert nahezu ganz, und die archäologische Forschung gibt |28| bisher auf manche wichtige Fragen kaum Antwort75. Immerhin läßt sich mit Hilfe des bisher Bekanntgewordenen und der schriftlichen Überlieferung so viel Licht in das Dunkel bringen, daß die Umrisse sichtbar werden. Für Thüringen in der Zeit seiner Selbständigkeit ist eine reiche Herrenschicht mit fast luxuriös zu nennender Lebensweise zur Genüge bezeugt durch die kostbaren Grabfunde, die an verschiedenen Orten des Landes und aus verschiedenen Zeiten zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert zutage gekommen sind. Die Prähistoriker haben kein Bedenken getragen, die Gräber in Haßleben, Weimar, Obermöllern Fürs-

Ealdorman kann aber sowohl einen königlichen Thegn wie einen adeligen Grundbesitzer bezeichnen. H. M. Chadwick, The origin of the English nation (1907), 157. 74 Ich habe bisher absichtlich die Ausdrücke Adel und Fürsten nach Möglichkeit vermieden, da gerade über den Inhalt dieser Begriffe in der verfassungs- und rechtshistorischen Literatur bekanntlich keineswegs Einmütigkeit besteht, und habe darum lieber von Herren gesprochen, obwohl mir die Bezeichnung Adel und Fürsten (natürlich nicht im Sinn von Beamten!) für diese Klasse durchaus angemessen erscheint. Wahrscheinlich ist das Wort „Herren“ sogar der im Altdeutschen übliche Ausdruck für sie. Vgl. Edw. Schröder in ZRG, Germ. Abt. 44, 1924, S. 10 ff. und oben S. 130 A. 7. 75 Was mir von der landes- und ortsgeschichtlichen Literatur erreichbar war, habe ich zu benützen versucht. Vieles davon steht mir hier freilich nicht zur Verfügung, und bei den Zeitschriften, die mir hier nicht zur Hand sind, hätte es sich um Durcharbeitung nicht nur einzelner Bände, sondern ganzer Serien gehandelt. Das ist mir unter den gegenwärtigen Umständen unmöglich. Auch stehen nach meinen Erfahrungen die Ergebnisse in keinem Verhältnis zu der aufgewandten Mühe und Zeit. Denn die frühgeschichtliche Forschung hat sich mit den Problemen, um die es sich hier handelt, weithin noch kaum beschäftigt. Aus manchen neuen zusammenfassenden Darstellungen für einzelne Landschaften ist kaum ein Wort darüber zu erfahren (z. B. O. Kunkel, Oberhessens vorgeschichtliche Altertümer 1926, oder W. Veeck, Die Alemannen in Württemberg, 2 Bände 1931; ich könnte die Liste noch fortsetzen). Landeskenner werden mir möglicherweise vorhalten können, daß ich mir den einen oder anderen Beweis hätte entgehen lassen, der Erwähnung verdient hätte. Das werde ich gewiß bedauern, doch möchte ich, um Mißverständnissen zu begegnen, sagen, daß ich Vollständigkeit in der Aufzählung archäologischer Einzelbelege überhaupt nicht anstrebe. Einen Burgenkatalog will ich so wenig geben wie ein erschöpfendes Verzeichnis sämtlicher Literatur. Das mir bekannt gewordene Material zusammen mit den schriftlichen Quellen genügt nach meiner Überzeugung vollauf, um die Grundlinien der sozialen und politischen Verhältnisse deutlich zu erkennen.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

153

tengräber zu nennen und von höfischer Kultur, Herrenkultur zu sprechen76. Ob die zahlreichen wertvollen Erzeugnisse eines entwickelten Kunsthandwerkes, die hier gefunden worden sind, nun Einfuhrware sind oder von Einheimischen hergestellt wurden, auf alle Fälle ist klar: wem solche Gaben mit ins Grab gelegt wurden, der war gewohnt, als großer Herr zu leben, und nur reiche Leute konnten sich solchen Luxus leisten. Reichtum aber ist in jenen Jahrhunderten und noch lange darüber hinaus vor allem und fast ausschließlich Großgrundbesitz. Wir müssen also für das alte Thüringen ebenso wie für Sachsen eine Herrenschicht annehmen, die über weite Güter und zahlreiche abhängige Leute gebot. Das Ende der politischen Selbständigkeit des Stammes im 6. Jahrhundert, die Einfügung in das merovingische Reich kann daran wenig geändert haben. Die Herren mögen wohl zeitweilig an Reichtum und Herrschaftsrechten eingebüßt haben – wenigstens scheinen die späteren Grabfunde nicht mehr den alten Glanz zu zeigen –, im ganzen aber |29| haben sie sich behauptet. Thüringischen Großen empfehlen die Päpste das Missionswerk des Bonifatius zur Unterstützung77, an die seniores plebis populique principes (oder auch die senatores totiusque populi principes) wendet sich Bonifatius78, von Männern aus ihrem Kreis erhält er das Land, auf dem er das Kloster Ohrdruf gründet, thüringische Große verschwören sich 786 gegen die Herrschaft König Karls79. Von dem weitausgedehnten Grundbesitz dieser Schicht geben ihre Schenkungen an Kloster Fulda eine Vorstellung; nicht selten liegt er in einer ganzen Anzahl von Gauen verstreut80. Über die Burgen der thüringischen Herren ist es schwer, viel Zuverlässiges zu sagen. Nicht als ob es in Thüringen an Burgen fehlte. Im Gegenteil; die vor- und frühgeschichtliche Forschung verzeichnet ihrer eine große Menge. Aber die Methoden der chronologischen Bestimmung der Funde sind offenbar für die frühgeschichtliche Zeit bei weitem noch nicht so ausgebildet wie für die prähistorische, und eine ganze Reihe von Befestigungen, die in die Jahrhunderte zwischen der Römer- und Karolingerzeit gehören könnten, sind infolgedessen nicht genauer zu datieren81. Es läßt sich infolgedessen nicht sagen, ob etwa die Befestigungen, die

76 W. Schulz, Mannus 5. Ergz.-Band 1927, S. 25. 77 Ep. Bonif. 19 und 43. 78 Willib. Vita S. Bon. (Levison) S. 32, 23. 79 Abel-Simson, Jahrbücher I 520 ff. 80 Nur einige Beispiele. Aus E. Stengel, UB. Fulda n. 57: Alwalach Besitz an 23 Orten in 8 Gauen mit 18 Unfreien; Dronke, Cod. dipl. Fuld.: Nr. 87 und 88 Schenkung der Geschwister Matto, Megingoz und Juliane 27 Orte in 8 Gauen, 62 Unfreie; Nr. 157: Schenkung der Emhilt, elterliches Erbe in 35 Orten. 81 In dem großen Verzeichnis von A. Götze, P. Höfer, P. Zschiesche, Die vor- und frühgeschichtlichen Altertümer Thüringens, 1909, finden sich viele solcher unbestimmbarer Wallburgen. Das Buch ist natürlich jetzt schon überholt, aber auch P. Grimm, Die vor- und frühgeschichtliche Besiedlung des Unterharzes (Diss. Halle 1931), der S. 122 ff. eine Liste von 88 Burgwällen gibt, kann bei den wenigsten irgendeine genauere zeitliche Bestimmung geben.

154

Heinrich Dannenbauer

die archäologische Fundkarte82 in der Nähe von Weimar und Haßleben angibt, in Beziehung gebracht werden dürfen zu den dortigen Fürstengräbern und Herrensitzen. Ebenso steht es mit den beiden Wallburgen, angeblich aus fränkischer Zeit, bei Groß- und Kleinwangen an der Unstrut, etwa eine Stunde östlich von Memleben83. Auch der kleine Ringwall auf dem Schloßberg bei Ohrdruf ist bisher zeitlich nicht bestimmt worden84, und es muß daher unentschieden bleiben, ob man ihn sich als Eigentum eines der Edlen denken darf, die Land für das erste thüringische Kloster gegeben haben. Immerhin läßt sich eine kleine Anzahl von Befestigungen namhaft machen, |30| die in die Zeit des thüringischen Königreichs und Herzogtums gesetzt werden dürfen. An erster Stelle die von Widukind von Corvey (I 9) genannte Burg Scithingi an der Unstrut (Burgscheidungen?), in der sich König Irminfrid 531 vergeblich des fränkischen Angriffes zu erwehren sucht. Mit dem thüringischen Königshaus steht vermutlich auch die Befestigung auf dem Burgberg bei Bösenburg in Zusammenhang, wo Funde, anscheinend aus der Zeit vor 500, gemacht worden sind85. Eine Burg, die aus dem Besitz eines thüringischen Herrn, vielleicht des Königs, in den des fränkischen Fiskus übergegangen ist, scheint die Tretenburg an der Gera zu sein, ein uralter Versammlungsort des Volkes, später Sitz des thüringischen Landgerichts86, bei der ein Königshof von beträchtlichem Umfang erwähnt wird87. Eine ähnliche Geschichte scheinen Würzburg, Hammelburg, die Mühlenburg, Arnstadt, Großmonra zu haben. Würzburg scheint bereits von dem Gewährsmann des Geographen von Ravenna unter dem Namen Uburzis genannt zu sein, im dortigen Kastell urkundet 704 der thüringische Herzog Heden88. In dieser Urkunde wird auch das Kastell Mulenberg (Mühlberg bei Arnstadt) genannt, dazu Herrenhöfe in Arnstadt und Großmonra. An allen drei Orten finden sich alte Wallburgen89. Das Hammelburger Kastell wird 716 ebenfalls in einer Urkunde Hedens genannt90. Neben ihm erwähnt die Markbeschreibung von 777 auch eine Hiltifridesburg91, die vielleicht die alte thüringische Burg ist, während das castellum Hamulo eine fränkische Anlage ist. Außerdem wird noch ein Burgweg genannt. Bei Münnerstadt liegt

82 Bei Götze-Höfer-Zschiesche. 83 Götze-Höfer-Zschiesche, S. 67, 69. 84 Götze-Höfer-Zschiesche, S. 229. Beachtenswert, daß am Fuß ein Herlingsbrunnen genannt wird. Vgl. oben S. 144 f. 85 W. Schulz, Mannus Bd. 18, 1926, S. 293. Dazu Gregor v. Tours, Hist. Fr. II, 12 (der Thüringerkönig Bisinus und seine Gemahlin Basina) und Schuchhardt, Vorgeschichte von Deutschland, S. 304 (ein in Weimar gefundener silberner Löffel mit der Inschrift Basenae). 86 Götze-Höfer-Zschiesche, S. 157. 87 Breviarium Lulli: H. Weirich, UB der Reichsabtei Hersfeld (1936) S. 71 (Gebesee). 88 Pardessus, Diplomata II p. 263. Dazu Schumacher III 263. 89 Götze-Höfer-Zschiesche, S. 102, 252, 254. Dazu s. Deutsches Archiv 1, 521 f. 90 Pardessus II 308. 91 Dipl. Kar. 116, Anm. 1.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

155

die alte Gauburg des Grabfeldes92. Die Eiringsburg an der Saale bei Kissingen scheint die Burg eines Edlen gewesen zu sein93. Herrengeschlechter an der Spitze des Volkes, mit reichem Grundbesitz und abhängigen Leuten, dazu auch Burgen – nicht ganz so deutlich wie in Sachsen treten sie in Thüringen hervor, aber selbst aus der teilweise fast ganz versagenden Überlieferung noch so weit erkennbar, daß man behaupten darf: grundsätzlich anders als in Sachsen sind die Zustände in Thüringen nicht gewesen. |31| Hatten wir es bisher mit Stämmen zu tun, die ihre Sitze seit ältesten Zeiten festgehalten haben, so kommen wir mit den Alemannen zu einem Volk, das seine Heimat im norddeutschen Tiefland verlassen und in heftigen, lange dauernden Kämpfen mit den Römern sich neue Wohnstätten im Süden errungen hat. Was werden wir hier finden94? Wer sich in der Literatur zu unterrichten sucht, wie weit bei den Alemannen die Zusammenhänge zwischen Adel, Burg und Herrschaft feststellbar sind, die sich uns bei den nord- und mitteldeutschen Stämmen gezeigt haben, der erlebt eine Enttäuschung. Die auf prähistorischem wie mittelalterlichem Feld gleich eifrige landesgeschichtliche Forschung, die eine große Zahl trefflicher Arbeiten, Einzeluntersuchungen wie zusammenfassende Werke, aufzuweisen hat, gibt keinen Aufschluß darüber. Im Gegenteil, sie zeichnet ein vollständig anderes Bild, das damit schlechterdings nicht zu vereinigen ist. Zwar das Dasein eines alemannischen Adels wird nicht geleugnet, doch ist er auf eine rechte Statistenrolle beschränkt. Wo er eigentlich Raum gehabt hat, was er getan haben soll, bleibt unklar. Denn das ganze Land ist weit und breit im Besitz freier Kleinbauern, die in ihren – ingen-Dörfern sich sippenweise angesiedelt und die Flur zu gleichen Teilen untereinander verteilt haben. Sie wirtschaften in Markgenossenschaften, nicht nur dörflichen, sondern auch Hundertschaftsmarkgenossenschaften. Unfreie gab es ursprünglich nur wenige. Erst im Lauf längerer Entwicklung traten stärkere ständische Scheidungen ein. Aus den „Sippenhäuptern“ oder „Dorfführern“ bildete sich allmählich ein ritterlicher Adel. Aber in den älteren Jahrhunderten der alemannischen Geschichte ist jedenfalls für die Herrschaft einer mächtigen Aristokratie, die über Land und Leute gebietet, wie wir sie in Sachsen und Thüringen kennengelernt haben, nach dieser Darstellung durchaus kein Raum. Alle Vorbedingungen dafür fehlen95. |32|

92 Dronke, Cod. dipl. Fuld. Nr. 275 v. J. 812: Grundbesitz in loco qui dicitur Munirichesstat in orientali parte Grapfeldono, burgl. Reste sollen noch vorhanden sein. 93 Schumacher III 147. 94 Die Baiern muß ich außer Betracht lassen, da mein Material für sie allzu dürftig ist. Über großen Grundbesitz s. Th. Bitterauf, Die Traditionen des Hochstifts Freising, Bd. I (1905) p. LXXXVII ss. 95 Ich habe nicht die Absicht, hier in eine Kritik der herrschenden Ansicht einzutreten. Forscher wie V. Ernst, P. Goeßler, K. Weller wird man immer mit dankbarer Achtung nennen, auch wenn man es für nötig hält, grundsätzlich von ihnen abzuweichen. Ich unterlasse daher Einzelauseinandersetzungen. Meine eigene Meinung wird aus dem Text deutlich genug geworden sein. Nur zu dem Ausdruck „Sippenhaupt“ oder, wie man neuerdings zu sagen liebt, „Sippenführer“, möchte ich einiges bemer-

156

Heinrich Dannenbauer

Wenn man jedoch von diesen Darstellungen zu den Quellen geht, dann ändert sich das Bild in überraschender Weise. Vieles zwar bleibt dunkel und wird es immer bleiben. Aber einige wesentliche Grundzüge treten mit genügender Deutlichkeit hervor. Kein Leser des Ammianus Marcellinus kann im Zweifel darüber sein, ob die Alemannen in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, als sie den größeren Teil des Dekumatenlandes bereits seit annähernd hundert Jahren in festen Händen hatten und darüber hinaus schon nach Westen und Süden über den Rhein vorstießen, einen Adel gehabt haben oder nicht. Der römische Historiker nennt eine ganze Anzahl ihrer Gaukönige und Fürsten mit Namen, vom Main bis hinauf zum Bodensee, und es macht keine großen Schwierigkeiten, den meisten von ihnen die Landschaften zuzuweisen, in denen sie herrschten. |33|

ken, da er nachgerade kanonisches Ansehen zu bekommen beginnt und von den verschiedensten Forschern mit der größten Selbstverständlichkeit ständig im Munde geführt wird. Da ist es wohl gut, wieder daran zu erinnern, daß dieser Ausdruck freie Erfindung ist und im germanisch-deutschen Recht überhaupt keinen Platz hat, sondern offenbar Beobachtungen, die die Völkerkunde bei exotischen Stämmen gemacht hat, entlehnt ist. (Schon U. Stutz hat einmal darauf aufmerksam gemacht.) Die germanisch-deutsche Sippe tritt rechtlich [S. 32] stets nur als Gesamtverband auf, z. B. auch bei Vormundschaft. Ein „Haupt“ oder einen „Führer“ hat sie nicht. Das steht völlig außer Zweifel. Es genügt, auf die Rechtsgeschichte H. Brunners (I2, 1906, S. 110 ff.) zu verweisen. Damit fallen alle ständeund siedlungsgeschichtlichen Folgerungen, die man aus diesem Begriff bereits überreichlich gezogen hat, in sich zusammen. Die Sippe kann gar kein „Haupt“ haben, weil sie gar nicht genau abgrenzbar ist. Seit sie nicht mehr auf die Agnaten allein beschränkt war und außer den Vatermagen auch die Muttermagen einschloß – schon im Salischen Gesetz (tit. 62) –, war der Kreis der Personen, die zu Eideshilfe, Unterstützung in Fehden, Blutrache, Mitzahlung an Bußgeldern verpflichtet und zur Beteiligung an eingehenden Wergeldern berechtigt waren, für fast jedes Mitglied der Verwandtschaft ein anderer. Die Sippe des Sohnes sah bereits anders aus als die des Vaters. Die ganze Theorie vom „Sippenhaupt“ beruht auf einer wirklichkeitsfremden, schematischen Vorstellung von der Sippe. Herb. Meyer, Das Handgemal (1934), S. 58, hat, Ernst Mayer und andern folgend, den „Geschlechtsältesten“ oder das „Sippenhaupt“ zum Besitzer des Ahnenhofes und Träger des Adels machen wollen. Das scheitert schon daran, daß kein deutsches Stammesrecht den Grundsatz der Individualsukzession kennt, sondern nur gleiches Erbrecht gleichnaher Erben (H. Brunner a. a. O. I 297. Die Urkunden des 8. Jahrhunderts geben genug Belege dafür). Auch das deutsche Fürstenrecht hat sich bekanntlich erst sehr spät zum Grundsatz der Erstgeburt durchgerungen. H. Meyer sucht seine Theorie zu stützen durch Verweis auf das konservative England, das in seinem Adelserbrecht (der Älteste allein erbt mit dem Gut den Adelstitel, die andern sind nicht adelig) altsächsische Sitte treu bewahrt habe. Dazu ist zunächst zu sagen, daß die von ihm S. 58 A. 1 zum Beweis zitierten Stellen von J. Braude und H. Mitteis nichts zur Sache beweisen. Ferner ist es, trotz des Sperrdrucks bei Meyer, nicht richtig, daß das englische Adelserbrecht nicht aus dem normannisch-fränkischen Recht oder dem Lehnrecht stamme. Es erfordert kein allzu ausgedehntes Studium in W. Stubbs, Constitutional History, F. W. Maitland, Constitutional History, oder F. Pollock and F. W. Maitland, History of English Law, vol. II, drei ohne weiteres überall zugänglichen Werken, um sich zu überzeugen, daß das heutige englische Adelserbrecht (Seniorat) erst im späteren Mittelalter und aus den praktischen Bedürfnissen des Lehnsverhältnisses allmählich sich gebildet hat, wie überhaupt in England das ganze den Boden betreffende Recht (land law) bekanntlich Lehnrecht ist.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

157

In der Straßburger Schlacht 357 stehen dem Cäsar Julian 7 reges und 10 regales gegenüber, dazu noch optimatum series magna. In einem kritischen Augenblick der Schlacht macht eine ganze geschlossene Abteilung, ein Gewalthaufe von Edeln (optimatum globus), unter denen auch Könige (reges) kämpften, einen Einbruch ins römische Zentrum (XVI 12, 49). Rund hundert Jahre also, nachdem die Alemannen sich im Neckarland festgesetzt haben, sehen wir den alten Stammesadel in voller Stärke an der Spitze seines Volkes. Um die Herren scharen sich ihre Gefolgschaften. Mit König Chnodomar werden bei Straßburg noch 200 Überlebende seiner Gefolgsleute gefangen. Daß er nicht allein von allen alemannischen Fürsten und Edeln ein solches Gefolge gehabt hat, ist überflüssig zu sagen. Man kann danach ohne weiteres abschätzen, daß es im alemannischen Volk zu jener Zeit mehrere Tausende von kriegerischen Gefolgsleuten gegeben haben muß. Für ihren Unterhalt hatten die Herren zu sorgen. Wie deren Besitz und Lebensweise ausgesehen hat, bedarf keiner langen Darlegungen mehr. Weit ausgedehnter reicher Grundbesitz mit abhängigen Bauern in Menge war die selbstverständliche Voraussetzung dafür, wie überall. Auf jeden Gefolgsmann ein unfreier Bauernhof, der für seinen Unterhalt aufzukommen hatte, wird gering gerechnet sein96. Später mögen die Fürsten und Edeln ihre Leute – wie es die angelsächsischen Könige und wohl auch die Merowinger und die bairischen Herzöge mit den ihren taten – durch Zuweisung von Grund und Boden abgefunden und so zu kleinen Herren im Land, zu Landjunkern, gemacht haben97. Von der Lebensweise der alemannischen Edeln geben zwar die Grabfunde bei weitem keinen solchen Begriff wie in Thüringen, wenn auch verschiedene durch wertvolle Beigaben ausgezeichnete Gräber aufgedeckt worden sind98. Aber wie der Haushalt dieser Herren eingerichtet war, zeigt das alemannische Gesetz (tit. 72 ff.). Da ist die Rede vom Seneschalk, unter dem 12 Knechte stehen, vom Marschalk, der über 12 Pferde gesetzt ist, vom Koch und seinem Gehilfen, vom Bäcker, vom Schmied, auch vom Goldschmied und Schwertschmied, von verschiedenen Hirten und ihren Herden, vom Arbeitshaus der |34| Frauen mit der Obermagd, von der Mühle, dann von der Meute der Jagdhunde, vom Hetzhund, Leithund, Windhund

96 Vgl. oben S. 141 A. 41. 97 So mögen sich die Mediani des alemannischen Volksrechtes erklären lassen. Vielleicht darf man mit Gefolgsleuten auch die Reitergräber in Zusammenhang bringen, die an einigen Orten Schwabens aufgedeckt worden sind. Vgl. darüber Herm. Stoll in Z. f. württ. Landesgesch. 1941, S. 6, 8 f., 11 ff., ein Aufsatz, den ich dank der Freundlichkeit des Vf. bei der Korrektur wenigstens noch nennen kann. 98 Vor allem die Gräber von Gammertingen und Gültingen, wo sich zwei Prunkhelme und Prunkschwerter gefunden haben. Vgl. P. Goeßler in J. Hoops, Reallexikon der Germ. Altertumskunde Bd. 2 S. 337 ff. Über zwei reich ausgestattete Gräber bei Eßlingen s. 0. Paret, Die frühschwäbischen Gräberfelder von Groß-Stuttgart (Veröff. d. Archivs der Stadt Stuttgart, Heft 2) 1937, S. 118 ff., 125 ff. Von dem Pfullinger Grab (vgl. Goeßler in Fundber. aus Schwaben 22 S. 38 ff.) wird noch zu reden sein.

158

Heinrich Dannenbauer

und den Hunden für die Schweins- und Bärenjagd. Auch99 Jagdfalken fehlen nicht, desgleichen der Kranich auf dem Hühnerhof und der Zwinger mit Bären, Hirschen und anderen gefangenen wilden Tieren100. Es ist der mit aller Bequemlichkeit des Lebens ausgestattete Hof eines großen reichen Herrn, den wir vor uns sehen. Wovon die Herren dieses Leben bestreiten, braucht man nicht lange zu fragen, und wer noch im Zweifel sein sollte, dem sagen es die um 700 einsetzenden Urkunden laut und unzweideutig. Auf jedem Blatt der Urkundenbücher von St. Gallen und Lorsch steht es deutlich geschrieben: das Land gehört großen und kleinen Herrengeschlechtern. In allen Dörfern haben sie ihre Höfe und zinsenden Bauern, oft über weite Landstriche verstreut. Ob am Neckar oder dem Bodensee, auf der Alb oder am Schwarzwald, im Breisgau oder am Züricher See, es ist überall das gleiche. In den Dörfern wohnen mancipia, servi, coloni, casati, accolae oder abhängige ingenui101, genau wie in Sachsen und Thüringen. Von Sippendörfern freier Kleinbauern keine Spur102. Gleich eine der ältesten Urkunden aus St. Gallen gibt eine |35| deutliche Vorstellung von den Zuständen. Da schenkt ein Herr an zwei Orten je 99 Pactus Alam. Fr. 3, 14; Fr. 5, 6 ff. 100 Ähnlich in der Lex Baiuv. tit. 20 und 21. 101 Vgl. Festgabe für K. Bohnenberger (1938) S. 53 ff., wo das für mehrere Dörfer in Einzeluntersuchung nachgewiesen ist. 102 Niemand hat sie bisher nachzuweisen vermocht. Das Verdienst, die letzten vermeintlichen Belegstücke für Überreste alter freier Bauern in Schwaben beseitigt zu haben, gebührt K. Weller, Die freien Bauern in Schwaben; Z. f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 54, 1934, S. 178 ff. G. Caro hat in seinen lehrreichen Studien zu den älteren St. Gallener Urkunden: Jahrb. f. Schweiz. Gesch. 26 und 27 (1901 und 1902) geglaubt, in der Landschaft um den Bodensee kleine freie Bauern in größerer Zahl nachweisen zu können (26, 293; 27, 281 f.). An der Existenz solcher Leute zweifle ich nicht. Doch scheinen mir Caros Ergebnisse anfechtbar. So wird man schon seinen Grundsatz, von der Kleinheit eines ans Kloster gegebenen Gutes auf kleines Vermögen des Schenkers zu schließen (26, 293), bedenklich finden. Dann fällt bei Tradenten, die man als Kleinbauern ansehen möchte, zweierlei auf. Einmal: Eine ganze Reihe von ihnen rechnet mit der Möglichkeit, daß ihre Nachkommen unfrei werden könnten (UB St. Gallen Nr. 181. 203. 240. 281. 287. 346. 418. 467. 481. 657). Wie die Urkunden Nr. 210. 331. 447. 754 lehren und die sehr oft, auch bei großen Herren, auftretende Bestimmung, daß nur legitimi heredes ex legitima uxore den Genuß der Prekarie haben sollen, bestätigt, müssen Verbindungen mit Frauen unfreien oder mindestens zweifelhaften Standes häufig gewesen sein. Aus der Klausel über etwaige Unfreiheit der Nachkommenschaft kann also nicht ohne weiteres auf geringes Vermögen des Tradenten geschlossen werden. Zweitens: In mehreren Urkunden bedingen sich Tradenten als Gegenleistung des Klosters für das von ihnen übertragene Gut das Recht zum Genuß an der Allmend der Klostergüter aus (Nr. 469. 483. 537. 550). Sie haben also bisher kein Allmendrecht gehabt. Dann kann man diese Leute aber kaum als „gemeinfreie“ Kleinbauern ansehen. Am nächsten liegt wohl, sie für Freigelassene oder Nachkommen von [S. 35] solchen zu halten, oder für advenae (Lex Rip. 36. 1–4), Unfreie, die ihren Herren durchgegangen sind und in irgendeiner Rodung (vgl. Nr. 550) ein dürftiges Dasein führen. Berücksichtigt man diese beiden Beobachtungen, dann dürfte sich die Zahl der von Caro angenommenen freien Kleinbauern nicht unbeträchtlich vermindern. Caros Ansicht, daß namentlich um den Bodensee die kleinen freien Eigentümer überwogen hätten, scheint mir endlich schwer mit der Tatsache vereinbar zu sein, daß gerade hier mehrere der größten und reichsten Adelsgeschlechter Schwabens zu Hause sind, ganz

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

159

einen großen Hof (curtis), den einen mit 11, den andern mit 16 abhängigen Bauernstellen (casatae), dazu an einem dritten Ort ein Gut, das Freie und Unfreie (ingenui aut servi) für ihn bebauen103. Einige der großen schwäbischen Geschlechter werden für uns im 8. und 9. Jahrhundert greifbar, und aus gelegentlichen Schenkungsurkunden bekommen wir zwar keine zureichende Kenntnis von ihrem Besitz, aber doch einige Andeutungen, die uns ahnen lassen, daß es sich um wahrhaft fürstliche Herrschaften gehandelt haben muß. Vornedran steht die Familie, der die Königin Hildegard, die Mutter Ludwigs des Frommen, entstammte. Von dem Bruder der Königin, Gerold, lernen wir aus einigen Schenkungen an St. Gallen und Lorsch Güter in der Gegend von Bruchsal, Freudenstadt, Stuttgart und am oberen Neckar von der Rottweiler Gegend bis gegen Tübingen hin kennen104. Andere Verwandte sind weithin um den Bodensee begütert. Die Alaholfinger haben reichen Besitz an der oberen Donau und auf der Alb105. Die Familie des Eigentümers des Klosters St. Gallen ist uns durch sechs Generationen bekannt106. An der Spitze steht ein vir inluster und comes zur Zeit Dagoberts, ein Nachfahr im 8. Jahrhundert ist tribunus. Ein mächtiger und unfreundlicher Nachbar des Klosters St. Gallen war Warin107. Eine weitere reiche Familie wird bei der Stiftung des Klosters Lützelau im Züricher See sichtbar108. Eine Menge anderer taucht in den Schenkungsurkunden für einen Augenblick auf, die nicht weiter verfolgt werden können, die aber zum mindesten im engeren Umkreis eine ansehnliche Rolle gespielt haben müssen und deren Besitz sich nicht auf ein paar Höfe in einem Dorf beschränkt hat. Verschiedene von ihnen erscheinen auch als Stifter oder Eigentümer von Kirchen109. Vor einigen Jahren ist in Pfullingen (bei Reut|36|lingen) ein reich ausgestattetes Einzelgrab dicht bei der Kirche und in nächster Nähe des ehemaligen Fronhofes aufgedeckt worden, das, gewiß mit Recht, als das Grab wenn nicht des Stifters, so doch des Eigentümers der Kirche erklärt worden ist110. Herrschaft eines reichen grundbesitzenden Adels, das ist auf allen Blättern der alemannischen Geschichte groß und breit zu lesen, sobald überhaupt schriftliche Nachrichten einsetzen. „Die Großen der Alemannen zusammen mit dem Herzog

abgesehen von den beiden klösterlichen Großgrundherrschaften St. Gallen und Reichenau und dem Königsgut. 103 UB St. Gallen Nr. 16 (752). 104 UB St. Gallen n. 108; Cod. Laur. 2310. 2503. 3289. 3617. 3637. 105 UB St. Gallen Nr. 81. Der gleichen Familie scheinen die Schenker von Nr. 127. 135. 150. 185. 186. 228. 302 anzugehören. 106 Ratperti Casus S. Galli, SS II 62. UB St. Gallen n. 85. 107 UB St. Gallen Nr. 190. Vita Othmari, SS II 43, c. 4. 108 UB St. Gallen Nr. 7. 10. 11. 12. 188. 109 Z. B. UB St. Gallen Nr. 66. 94. 104. 105. 155. 189. Cod. Laur. Nr. 3216. 3230 usw. 110 P. Goeßler im Arch. f. Religionswissenschaft 35 (1938) S. 76. Schwäb. Merkur Nr. 205 vom 3. Sept. 1939. Ein ebensolches Grab in Staufen bei Dillingen a. d. Donau. Vgl. H. Zeiß in Forschungen und Fortschritte 12 (1936) S. 303.

160

Heinrich Dannenbauer

Landfrid und dem übrigen versammelten Volk haben beschlossen“, beginnt der erste Titel des alemannischen Gesetzbuches aus dem Anfang des 8. Jahrhunderts. Kann die Stellung der Herren deutlicher ausgedrückt werden als in diesem Satz? Zuerst die Adeligen, dann an zweiter Stelle der Herzog. Mit Recht. Denn das Herzogamt ist jünger und eine fremde Einrichtung. Die alten, die wahren Herren im Land sind sie, die Nachfahren und Erben der Chnodomare, Suomare, Hortare und der anderen Könige, Fürsten und Edlen ihres Volkes, die 300 Jahre vorher der treffliche Ammian in Lebensgröße gezeichnet hat, wie sie ihre Zeit so schön zwischen Kriegszügen und großen Gelagen verteilten. Kein Zweifel, daß sie den Herzog lediglich als ihresgleichen betrachteten und sich von ihm sehr wenig dreinreden ließen, sondern daß sie in ihrem Bereich das Regiment über ihre Leute durchaus selbstherrlich und aus eigener Machtvollkommenheit führten, als Fürsten und Herren ihrer Landschaft111. Vor der durch die fränkische Oberherrschaft erzwungenen Zusammenfassung des ganzen Stammesgebietes unter einem Herzog, die, wie gesagt, locker genug zu denken ist112, sah Alemannien ähnlich aus wie zur gleichen Zeit das angelsächsische England: eine Reihe selbständiger Kleinkönigreiche und Fürstentümer nebeneinander mit ständig fließenden Grenzen, jedes beherrscht von einer großen Adelsfamilie. Das von den Merowingern eingeführte Herzogtum hat diese Gaukönige sozusagen mediatisiert, ohne ihnen im übrigen viel von ihrer Macht in ihrem alten Bereich zu nehmen. Die alten Fürsten wurden vielmehr von der fränkischen Verwaltung durch den Grafentitel als Herren ihrer Landschaft anerkannt. Zwar läßt sich natürlich keiner der späteren karolingischen Amtsbezirke mehr auf eines der früheren alemannischen Fürstentümer zurückführen. Sie sind grundsätzlich anders. Aber in Umrissen schimmern im 8. Jahrhundert einige der ehemaligen Gaukönigreiche und Adelsherrschaften noch durch. Das sind die Baaren und Huntaren, die in fränkischer Zeit nur noch Landschaftsbezeichnungen sind und samt |37| und sonders ihren Namen nach Personen führen: die Berchtoldsbaar im Westen an der oberen Donau und dem oberen Neckar, die Albuinsbaar weiter im Osten an der Donau und dazwischen hinein verstreut die Huntaren des Munigis, Muntarich usw. Schon vor hundert Jahren hat Stälin die Vermutung geäußert, daß die Baaren Bezirke vorkarolingischer Herren gewesen seien113, und

111 Den princeps als Richter zeigt Lex Alem. c. 82. Gerichtsbarkeit aus eigenem Recht, nicht als Reichslehen s. Zimmerische Chronik I 41. 42. 112 Zeitweilig scheint es auch zwei Herzöge gegeben zu haben. 113 Chr. F. Stälin, Wirtembergische Geschichte I (1841) 279. Sein Gedanke ist in scharfsinniger Weise weitergeführt worden von Alb. Bauer, Gau und Grafschaft in Schwaben. 1927. Neue Förderung hat der Aufsatz von K. S. Bader, Zum Problem der alemannischen Baaren, Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins 54, 1941, 403 ff. gebracht. Sein Nachweis, daß es nur zwei Baaren gegeben habe, scheint mir geglückt zu sein. Daß die Baaren nicht fränkische Einrichtung sind, sondern aus alemannischer Zeit stammen, war schon länger meine Meinung, und ich freue mich, bei B. jetzt die gleiche Ansicht vertreten zu finden. Auch V. Ernst hat sie schon ausgesprochen (Oberamtsbeschreibung Riedlingen2 1923 S. 289). Meinungsverschiedenheiten in Einzelheiten brauche ich hier nicht zu erörtern.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

161

alles spricht dafür, daß er recht gesehen hat114. In den Namen Berchtold, Munigis usw. kann man die Fürsten und Edlen vermuten, die in der Zeit der Landnahme sich mit ihren Gefolgschaften eigene Herrschaften gründeten115. Haben die schwäbischen Herren Burgen gehabt wie ihre sächsischen und thüringischen Standesgenossen? Wenn man die frühgeschichtliche Forschung danach fragt, dann erhält man keine Auskunft. Sie kennt keltische und andere prähistorische Befestigungen, römische Anlagen, dann fränkische Burgen, aber alemannische kennt sie nicht116. Das klingt wenig ermutigend. Aber wenn man sich erinnert, daß es der frühgeschichtlichen Forschung bisher trotz eifrigsten Suchens noch nicht hat gelingen wollen, auch nur ein einziges alemannisches Haus aufzudecken, ohne daß jemand deswegen |38| daran zweifelt, daß die Alemannen in Häusern gewohnt haben117, und wenn man weiter erwägt, wie viele der schwäbischen Burgen wieder und wieder, bis ins 18., ja sogar noch im 19. Jahrhundert, umgebaut und erweitert worden sind, so daß auch der gewiegteste Archäologe daran verzweifeln wird, hier noch eine brauchbare Spur von frühgeschichtlichen Überresten herauszuholen, dann wird man das völlige Stillschweigen der frühgeschichtlichen Forschung noch nicht für einen schlüssigen Gegenbeweis halten. Und wenn man sich ferner erinnert, daß die Alemannen in ihrer norddeutschen Heimat Burgen gekannt und benutzt haben – Schuchhardt erklärt die Semnonen, das Kernvolk der Sueben, in der Mark und der Lausitz geradezu für die ersten großen Burgenbauer unter den Germanen118–, dann wird man nicht so leichten Kaufes bereit sein, zu glauben, sie

114 Bader lehnt zwar Bauers Ansicht, die ich teile, ab, daß die Baaren auf die Gaufürstentümer der Alemannen zurückgingen, sieht aber in ihnen das Hausland der alemannischen Herzogsfamilie. Im Prinzip scheinen mir die beiden Meinungen einander näher zu stehen, als Bader zugeben will. 115 Das alemannische Huntari ist m. M. n. von der Centene zu unterscheiden. Baders Meinung (448), daß die herrschende rechtsgeschichtliche Lehre von der germanischen Hundertschaft nicht so leicht zu erschüttern sei, scheint mir zu optimistisch. Eine herrschende Lehre gibt es gar nicht, sondern mehrere, die einander widersprechen. Ich hoffe, mich später über die Centene zusammenhängend äußern zu können. Hier nur so viel, daß m. A. n. die urgermanische Hundertschaft der rechtsgeschichtlichen Handbücher ein Phantasiegebilde ist, und daß der Centenar von den Franken aus dem spätrömischen Reich übernommen worden ist. 116 Weder in der großen Zusammenfassung von W. Veeck, Die Alemannen in Württemberg, 2 Bände 1931, noch in einer so musterhaften Einzeluntersuchung wie der von Herm. Stoll, Urgeschichte des Oberen Gäus (1933), wo Ort für Ort gewissenhaft alle Funde von der Steinzeit bis zum frühen Mittelalter verzeichnet sind, ist das Geringste darüber zu finden. Den einzigen Punkt, den Rockesberg bei Unteriflingen im Schwarzwald, den P. Goeßler früher (in der Festschrift für A. Götze 1925, S. 239 ff.) für einen [S. 38] möglichen alemannischen Herrensitz erklärt hat, hält er jetzt, wie er mir liebenswürdigerweise mitteilt, für eine ganz späte, unvollendet gebliebene Anlage aus dem 15./ 16. Jhdt. Den Schriften meines Kollegen Goeßler wie wiederholten Gesprächen mit ihm habe ich sehr viel Belehrung zu verdanken, auch wenn ich einiges anders sehe als er. 117 Der Grund ist einmal die fortwährende Überbauung und vor allem, daß der Holzbau ohne Fundamente auf den Boden aufgesetzt war. 118 Hoops, Reallex. 1, 207.

162

Heinrich Dannenbauer

hätten das unterwegs auf der Wanderschaft vergessen119. Den Wert von Befestigungen mußten sie auch im Dekumatenland zu schätzen wissen, zumal sie dort die ersten hundert Jahre mehr als einmal heftige Kämpfe mit den Römern auszufechten hatten. Ammian berichtet auch (27, 10, 9 und 31, 10, 12), daß sie sich mitunter auf schwer zugängliche Berghöhen zurückgezogen hätten. Es wird sich dabei um ältere Wallburgen aus keltischer Zeit handeln, die jetzt wieder benutzt wurden120. Einige von diesen Anlagen lassen sich mit genügender Sicherheit noch nachweisen. So ist z. B. im nördlichsten Teil des Dekumatenlandes auf dem Glauberg in Oberhessen nach älterer Belegung (seit der Steinzeit) Neubefestigung während des 2. bis 4. Jahrhunderts durch Alemannen feststellbar, und man nimmt dort den Stützpunkt eines Gaufürsten an121. Weiter südlich weist der Heiligenberg bei Heidelberg Spuren von Benutzung in jenen Jahrhunderten auf, und K. Schumacher trägt kein Bedenken, ihn für den Mittelpunkt des Gaues zu erklären, in dem der von Ammian erwähnte Alemannenkönig Hortari herrschte. Für den gleichzeitig genannten König Suomar vermutet er die Starkenburg im Odenwald als Stützpunkt122. Im Schwäbischen wäre u. a. an den Lochen|39|stein zu denken, der nach Funden zu schließen, während des 3. bis 5. Jahrhunderts von Alemannen benutzt worden ist123. Auch der Runde Berg bei Urach und der seit ältesten Zeiten immer wieder bewohnte Goldberg bei Nördlingen sind im 6. und 7. Jahrhundert wieder belegt worden124. Neuerdings hat auch der Gräbelesberg bei Laufen an der Eyach alemannische Funde aus dem frühen 7. Jahrhundert ergeben125. Die Benutzung von Befestigungen durch die Alemannen steht also fest. Nachdem damit fester Boden unter den Füßen gewonnen ist, kann ein weiterer Schritt gewagt werden. Zunächst lassen sich aus der schriftlichen Überlieferung Burgen nachweisen. Zwar mit dem Geographen von Ravenna ist nicht allzuviel anzufangen, denn die Deutung einiger von ihm genannter Orte im Alemannenland ist, wenn auch nicht unwahrscheinlich, so doch keineswegs zweifelsfrei. Immerhin sei mit allem Vorbehalt verzeichnet, daß die von ihm erwähnten Orte Rizinis, Turigoberga und Ascis unter anderm als Reisensburg (bei Günzburg) oder Risenburg (abgegangen in der Villinger Gegend), Untertürkheim bei Stuttgart oder ein abgegangenes

119 Die zur Zeit des Tiberius unter Vannius im Land zwischen March und Waag angesiedelten Sueben verteidigen sich in castella. Tacitus, Ann. 12, 29. 30. 120 Das ist auch Goeßlers Meinung, wie er mir freundlich mitteilte. Auch Schumacher (3, 141) nimmt ohne weiteres an, daß die Alemannen an den überkommenen Volksburgen festgehalten haben. 121 E. Kost, Spuren von Belegung vorgeschichtlicher Befestigungen 200 bis 800, Mannus, Bd. 32, 1940, S. 165 ff. 122 K. Schumacher 3, 26. 123 Goeßler, Fundberichte aus Schwaben NF 2, 1924, S. 103. Kost, Mannus 32 S. 170. 124 Kost S. 171. 125 Kost S. 172 ff.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

163

Dürreberg bei Tübingen, und als Asberg (bei Ludwigsburg) gedeutet werden126. Dafür geben die Urkunden eine kleine Ausbeute. Zuviel darf man natürlich von ihnen nicht erwarten, denn ihre Burgen werden die Herren nur in ganz seltenen Ausnahmefällen an Kirchen verschenkt haben. Ein solcher Fall ist im Lorscher Kodex überliefert (3523 v. J. 793). Er liegt zwar außerhalb des eigentlich schwäbischen Gebietes, in dem seit etwa 500 fränkisch besiedelten Zabergäu, aber er ist lehrreich genug, um hier näher betrachtet zu werden. Eine vornehme Dame schenkt mit Gütern in 8 Orten und 120 Unfreien die Kirche mit allem dazu gehörigen Besitz in Runingenburc. Es handelt sich um den die umliegende Landschaft beherrschenden Michaelsberg bei Brackenheim, dessen Kirche auf der Stelle eines uralten Heiligtums aus keltischer und römischer Zeit steht127. |40| Wie der alte Name Runingenburg zeigt, ist der Berg offenbar von einem vornehmen Geschlecht besetzt und zur Burg ausgebaut worden, das von hier aus seine Güter in der Umgegend beherrschte128. In Schwaben selbst führt gleich eine der ältesten Urkunden des Landes auf eine Burg: Um 700 schenkt der alemannische Herzog Gotfrid Güter in dem Ort Biberburg am Neckar (bei Stuttgart) an St. Gallen129. St. Gallener Urkunden lassen noch einige weitere erkennen: Burg mit einer Kirche der heiligen Verena (im Scherrgau)130, Entinesburug (nördlich vom Bodensee, abgegangen bei Tettnang), Wasserburg (am Bodensee), Glattburg im Thurgau, Neckarburg (bei Rottweil), Hasalburc (bei Leutkirch)131. Die Lorscher Traditionen fügen noch ein Seeburg (bei Urach) hinzu132. Im 9. Jahrhundert wird auch Kadelburg (am Rhein, östlich Waldshut) genannt, in der Schumacher die Gauburg des Klettgaus sieht133. Mit hinreichender Sicherheit können dann weiter als Sitze alemannischer Herren bezeichnet werden die Altenburg bei Cannstatt, in deren Nähe eine alte aleman-

126 K. Schumacher 3, 79, wo noch andere Erklärungen verzeichnet sind. J. Schnetz im Archiv d. Hist. Vereins für Unterfranken 60, 1918, und in Zeitschr. f. Gesch. d. Oberrheins NF 36 (1921) S. 335 ff. Schnetz sieht in dem -s der Endung von Rizinis und Ascis ein mißverstandenes Kürzungszeichen für -burg. Der Asberg trägt starke keltische und mittelalterliche Befestigung, Reisensburg wird im 10. Jahrhundert als castellum erwähnt, bei Untertürkheim sind die Gräber zweier vornehmer Alemannen aufgedeckt worden. Vgl. O. Paret, Die frühschwäbischen Gräberfelder von Groß-Stuttgart, S. 116 ff., 125 ff. Parets genealogischen Folgerungen mich anzuschließen, würde ich mich allerdings sehr bedenken. Dazu P. Goeßler in DLZ 1939, Sp. 813 ff. Jedenfalls muß es sich bei den vom Geographen genannten Orten um namhaftere Plätze handeln, vielleicht Herrensitze. 127 Vgl. P. Goeßler und O. Paret, Die Römer in Württemberg Bd. 3 (1932) S. 174. 128 Weiterer Besitz der Schenkerin Cod. Laur. Nr. 71. 760. 1331? 129 UB St. Gallen Nr. 1. 130 UB St. Gallen Nr. 386; jetzt Straßberg im Hohenzollerischen. Der Schenker, ein großer Herr mit ungemeinem Besitz, schärft dem Abt ein, den Platz ja diligentissime ac studiosissime in baulichem Stand zu halten. 131 UB St. Gallen Nr. 52 (769), 111 (784), 116 (788), 135 (793), 281/2 (824). 132 Cod. Laur. 3220 (770) und 3292 (776). Im Ort eine Eigenkirche. 133 K. Schumacher 3, 23. 300.

164

Heinrich Dannenbauer

nische Gerichtsstätte liegt134, der Hohentwiel, die Gauburg des Hegaus135, Staufen-Sulzburg im Breisgau, wohl ein Sitz der Birichtilonen136, Baden-Baden137, endlich der Asberg, bei dem 819 ein vornehmer Herr für Kloster Weißenburg urkundet138. Eine Burg der Alaholfinger könnte man in der Altenburg über Marchtal, wo die Familie vor 776 ein Kloster gegründet hat, sehen139. Auch über dem Ort Pfullingen, wo das Grab eines vornehmen Alemannen neben seiner Kirche aufgedeckt worden ist, finden sich auf dem Georgenberg Befestigungsspuren, die in diesem Zusammenhang Erwähnung verdienen140. Endlich darf man auch noch an den oberschwäbischen Bussen denken, |41| der zum alten Besitz der Alaholfinger gehört und sowohl in vorgeschichtlicher Zeit wie im Mittelalter stark befestigt war141. Die Liste, die hier aufgeführt ist, wird durch fortschreitende Forschung Berichtigungen erfahren. Der eine und andere Name mag durch neue Erkenntnisse wieder ausgeschaltet werden. Das sei ausdrücklich zugegeben – das entscheidende Wort kann ja hier in vielen Fällen der Historiker nicht allein sprechen –, wenn auch die Mehrzahl durch archäologische und urkundliche Zeugnisse genügend gesichert sein dürfte. Aber neue Erkenntnisse werden auch, davon bin ich überzeugt, die Zahl der hier genannten Burgen vermehren können. Es gibt freilich viele hoffnungslose Fälle: Manche mittelalterliche Burg des Landes steht vermutlich auf einer alten alemannischen Befestigung142, und hier wird auch die feinste Grab- und Untersuchungsmethode die Waffen strecken müssen. Ob unter der Achalm, dem Hohenneuffen, dem Hohenzollern usw. alemannische Befestigungen gesteckt haben, das wird sich mit Sicherheit wohl nie mehr nachweisen lassen. Aber es gibt noch eine andere Gruppe von frühmittelalterlichen Anlagen, bei denen eine Nachprüfung der bisherigen Ansichten Gewinn versprechen dürfte, nämlich die nicht ganz kleine Zahl derer, die bis jetzt unter der Bezeichnung „fränkisch“ laufen. In der landesge134 Schumacher 3, 350. 192. P. Goeßler und O. Paret, Die Römer in Württemberg, Bd. 3 (1932) S. 224. 135 Schumacher 3, 148; Kost, Mannus 32, 175. 136 Ringwall, alemannische Friedhöfe, Klostergründung mit Grablege der Birichtilonen i. J. 993. Vgl. Schumacher 3, 148. 247 f. 301. 137 Ebenfalls mit Ringwall und alemannischem Gräberfeld. Schumacher 3, 25. 147. 148. 138 Zeuß, Tradit. Wizz. S. 156. Kost, Mannus 32, 175. 139 Oberamtsbeschreibung Ehingen (18932) S. 325. Die Klostertradition behauptete, die Burg sei einmal der erbliche Sitz der schwäbischen Herzöge gewesen. P. Stälin, Geschichte Württembergs, Bd. 1 (1882) S. 384. 140 Oberamtsbeschreibung Reutlingen, 18932, Bd. 1, 419; 2, 240. Goeßler, Bl. f. württ. Kirchengesch. NF 44, 1940, S. 83. 141 UB St. Gallen, I Nr. 186 (v. J. 805). Auf dem Berg eine Eigenkirche der Familie. Über Befestigungen aus der Hallstatt- und La-Tène-Zeit vgl. P. Goeßler in der Oberamtsbeschreibung Riedlingen, 19232, S. 234. 142 Für Schumacher (3,148) ist in Südwestdeutschland die Kontinuität: germanischer Ringwall mit Fürstensitz, Ding- und Kultstätte – alemannische und fränkische Grafenburg eine ganz unbestreitbare Tatsache.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

165

schichtlichen Literatur – das wurde schon einmal erwähnt – findet man keltische und andere prähistorische Befestigungen genannt, dann römische und außerdem noch fränkische. Alemannische gibt es nicht. Das steht so fest, daß man mit einer solchen Möglichkeit überhaupt nicht rechnet, sondern gegebenenfalls mit vollkommener Sicherheit den Beweis führt: prähistorisch ist ausgeschlossen, römisch kann aus den und den Gründen nicht in Betracht kommen, also ist die Befestigung fränkisch143. Die Prähistoriker sind freilich recht unschuldig an dieser Absonderlichkeit. Sie haben sich die Vorstellungen von den rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen, in die sie ihre Funde einzuordnen hatten, nicht selbst geschaffen, sondern von den Historikern in gutem Glauben übernommen, und deren Sippensiedlungen, Markgenossenschaften, Hundertschaften usw. ließen für Adelsherrschaft und |42| Burgen keinen Raum. Das alles war erst spätere Entwicklung seit der Karolingerzeit. Aber nachdem die Voraussetzungen sich als irrig erweisen, mag eine erneute Nachprüfung des archäologischen Materials zu neuen Schlüssen führen, und in der Hoffnung auf solche Nachprüfung sei hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, eine kleine Liste solcher angeblich fränkischer Befestigungen angefügt. Im Bereich der Bertholdsbaar das im 9. Jahrhundert als Königshof genannte Neidingen an der Donau unter dem Fürstenberg. Am oberen Neckar bei Rottweil der spätere Königshof, Villa und Curtis mit Wall und Graben befestigt144. Ebenfalls wahrscheinlich noch im Gebiet der Bertholdsbaar die Villa Nagold145. Am Neckar dann weiter die Altstadt bei Rottenburg146, die neuerdings vermutete älteste Befesti143 Ein typisches Beispiel aus jüngster Zeit, das für andere stehen kann, lautet etwa folgendermaßen: „Die Anlage X. (auf dem Boden einer größeren römischen Siedelung) wurde früher für ein römisches Kastell, dann für ein keltisches Oppidum gehalten; durch Grabungen wurde sie als nachrömisch erwiesen und als eine fränkische Anlage erklärt, die auf dem ehemals römischen, dann als herrenlos von der fränkischen Krone eingezogenen Gelände lag.“ Herrenlos? fragt der Leser erstaunt. Wir befinden uns doch im alemannischen Kernland, wo zwischen römischer und fränkischer Herrschaft [S. 42] Jahrhunderte liegen, selbst wenn nicht erst Karlmann und Pippin (746), sondern bereits Chlodwich hier Konfiskationen vorgenommen haben sollte, wofür nicht die geringsten Beweise vorliegen. Römisches Fiskalgut – um solches handelt es sich hier – haben selbstverständlich die alemannischen Könige und Fürsten sich angeeignet. Also warum soll es nicht die Anlage eines alemannischen Fürsten sein, der hier einen passenden Platz für einen Herrensitz gefunden hatte? Die ganze Gegend gehört zum Machtbereich eines der größten Geschlechter des Landes. 144 P. Goeßler, Das römische Rottweil (1907) S. 60 ff. Plan bei Goeßler, Arae Flaviae (1928). K. S. Bader in ZGORhein 54, 1941, S. 452 A. 1. 145 Erst 1007 als Königshof bezeichnet (Dipl. Heinr. II. 154); erstmals genannt 786 in Urkunde des Grafen Gerold, UB St. Gallen, Nr. 108. Die Villa steht auf den Grundmauern eines römischen Gutshofes; in der Ortsflur fanden sich mehrere Gräber mit reichen Beigaben aus dem 5. Jahrhundert. Herm. Stoll, Urgeschichte des Oberen Gäues (1933) S. 126. Ferner Goeßler, Württ. Vierteljahrshefte 30 (1921) S. 1 f. G. Weise, Aus dem Schwarzwald, Jahrg. 1920, S. 61 ff. Ein Beweis dafür, daß der Ort schon 786 Königshof war, und daß die Villa fränkische Anlage ist, fehlt. Sie kann ebensogut ererbtes Eigentum des Grafen Gerold, der aus vornehmer alemannischer Familie stammte, gewesen sein. 146 Stoll 128. E. Nägele, Blätter des Schwäb. Albvereins, XV (1903) S. 158.

166

Heinrich Dannenbauer

gung Tübingens auf dem Platz der heutigen Stiftskirche147, Altenburg bei Tübingen148. Grundsätzlich wird man bei Königsgut, sofern nicht erst spätere Erwerbung anzunehmen ist, stets von der Annahme auszugehen haben, daß es früher im Besitz eines alemannischen Fürsten oder Herrn gewesen ist. Ganz besonders gilt das für alles Königsgut, das sich auf ehemals römischem Fiskalland (Kastellen und Umgebung) befindet. Hier ist, soweit nicht klare Gegenbeweise vorliegen, mit Bestimmtheit ein alemannischer Fürst als erster Besitznachfolger des römischen Fiskus anzunehmen. Man wird ferner die Konfiskation durch die fränkische Krone in erster Linie mit dem Jahr 746 in Verbindung bringen müssen. Für große Konfis|43|kationen nach 500 und planmäßige Anlage von zahlreichen befestigten fränkischen Stützpunkten im ganzen Land durch die Merowinger, womit in der Literatur recht freigebig umgegangen wird, liegen für das Gebiet des eigentlichen Alemannien (d. h. südlich der Linie Hornisgrinde – Asberg – Hesselberg) soweit ich sehen kann, keine hinreichenden Zeugnisse vor. Was an merowingischem Königsgut vorhanden war, dürfte im Laufe des 7. Jahrhunderts überwiegend wieder in die Hände des Landesadels geraten sein. Ein rascher Blick auf das angelsächsische England mag zum Schluß das bisher gewonnene Bild abrunden und eine Art Probe aufs Exempel machen149. Ist es schon an sich lehrreich genug, zu sehen, wie die Germanen auf der Insel am äußersten Rande der bekannten Welt, jahrhundertelang ohne jede Berührung mit den andern Stämmen, ihr Dasein einrichteten, so mag der Vergleich mit den angelsächsischen Zuständen auch manches auf dem Festland besser verstehen lassen. Zwar ist die einheimische Überlieferung in England vor dem 8. Jahrhundert fast ebenso stumm wie in Sachsen oder in Schwaben, und die englischen Historiker sprechen mit Grund von den ersten Jahrhunderten ihres Volkes als von den Dark Ages. Aber die Werke des großen Beda und einiger anderer Schriftsteller werfen doch ein mattes Licht auf die ältere Zeit, das erlaubt einige wesentliche Züge des Lebens in Umris-

147 E. Flechter im Schwäb. Heimatbuch, 1934, S. 37 f. P. Goeßler, Bl. f. Württ. Kirchengesch. 1940, S. 75 ff. Unmittelbar daneben Gräber (anscheinend von Hörigen) aus dem Anfang des 7. Jahrhunderts. Goeßler hält die Gräber für alemannisch, die vermutete Burg jedoch ohne weiteres für fränkisch. 148 E. Nägele, Blätter des Schwäb. Albvereins, 1903, S. 151 ff. mit Plan. 149 Irgendwelche Vollständigkeit ist hier weder beabsichtigt noch möglich. In den deutschen Bibliotheken sind schon die größeren englischen Geschichtswerke oft nur lückenhaft vertreten; die Arbeiten und Zeitschriften für die Geschichte einzelner Orte und Landschaften fehlen so gut wie ganz. Für die Ergebnisse der prähistorischen Untersuchungen, der Ortsnamenforschung u. a. m. war ich daher ausschließlich auf das angewiesen, was aus einigen neuen zusammenfassenden Werken zu erfahren war. Ihnen und den schriftlichen Quellen habe ich zu entnehmen gesucht, was für mein Thema von Belang war. Der Lückenhaftigkeit meiner Unterlagen bin ich mir durchaus bewußt. Doch habe ich aus den jüngsten englischen Arbeiten die Überzeugung gewonnen, daß sich in den wichtigsten Punkten trotzdem zu einer begründeten Ansicht kommen läßt, wenn man nur die historiographischen Quellen gründlich ausschöpft.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

167

sen zu erkennen und sie in Parallele zu setzen mit anderen Stämmen. Vor allem scheint mir ein Vergleich mit den älteren alemannischen Verhältnissen Gewinn zu versprechen. Angelsachsen und Alemannen sind beide westgermanische Völker, deren ursprüngliche Wohnstätten nicht allzuweit voneinander entfernt in Norddeutschland lagen, beide sind sie in ihren alten Sitzen von römischen Einwirkungen überhaupt nicht merklich berührt worden. Auch der Unterschied der Zeit, da sie die alte Heimat verließen und fortzogen, die einen nach Nordwesten, die andern nach Südwesten, fällt nicht übermäßig ins Gewicht, und ihre neue Heimat war in beiden Fällen eine nur oberflächlich romanisierte Grenzprovinz, in der sie sich häuslich einrichteten, ohne weitere Rücksicht auf die Bewohner und Zustände, die sie dort vor|44|fanden. Während man im fränkischen Reich – ganz zu schweigen vom ost- und westgotischen oder burgundischen – ständig fragen muß: was ist nun eigentlich germanisch, was römisch an den Lebensgewohnheiten und Ordnungen?, ist diese Frage bei Angelsachsen und Alemannen überflüssig. So dunkel und umstritten vieles ist und bleiben wird, darüber besteht kein Zweifel: beide Völker haben in dem eroberten Land so ziemlich reinen Tisch gemacht mit dem römischen Wesen und nichts von ihm, was sonderlich von Bedeutung wäre, übernommen. Neben den Ruinen von Arae Flaviae und Sumelokenna im Dekumatenland stehen die von Verulamium und Calleva (Silchester) in Britannien. Auch das Christentum haben beide Völker nicht vor dem 7. Jahrhundert angenommen. Während aber dann in der Karolingerzeit in Alemannien die auf anderem Boden und aus anderen Wurzeln erwachsenen Einrichtungen des fränkischen Staates eingeführt worden sind und die alten einheimischen überdeckt haben, ist England bis ins 11. Jahrhundert sich selbst überlassen geblieben und hat fast ungestört von fremden Einwirkungen seine Lebensformen aus Eigenem fortwachsen lassen können. Wie es in Sachsen, Thüringen oder Alemannien vor dem 8. Jahrhundert ausgesehen hat, das können wir zwar aus den angelsächsischen Zuständen nicht in allen Einzelheiten einfach ablesen, aber was auf dem Festland unter ähnlichen Bedingungen ähnlich gewesen sein könnte, darüber werden wir manche erwägenswerte Andeutung erwarten dürfen. Die englische Forschung des 19. Jahrhunderts war wie die deutsche von der Vorstellung beherrscht, die Eroberer der Insel im 5. Jahrhundert seien republikanische Bauern gewesen, die mit Weib und Kind in geschlossenen Abteilungen über die Nordsee gekommen seien, säuberlich geschieden in die drei Völkerschaften der Sachsen, Angeln und Jüten, und diese wieder wohlgeordnet nach Familien und Sippen150. Sippenweise haben sie sich auch angesiedelt, wie die Ortsnamen auf -ingas beweisen151. Die modernen englischen Forscher sind von dieser Auffassung

150 Als Wortführer dieser Schule mag W. Stubbs genannt werden (Constit. History I, 6th edition 1903, p. 69: The invaders came in families and kindreds and in the full organisation of their tribes). 151 Der Vater dieser lange sehr beliebten Theorie ist J. M. Kemble, The Saxons (1848). Immerhin hat er sie mit einer Vorsicht und Bedachtsamkeit aufgestellt, die seine Nachfolger auf dem Festland (trotz der Warnung von Waitz, Verf.-Gesch. 13 84) keineswegs alle haben walten lassen.

168

Heinrich Dannenbauer

durchweg abgekommen. Die drei Völkerschaften Bedas zerrinnen ihnen unter den Händen; wo einmal archäologische Funde oder andere Zeugnisse irgendwelcher Art diese Unterscheidung zu bestätigen scheinen, fehlen die gegenteiligen nicht152. Die Ortsnamen auf -ingas haben für sie ihre Beweiskraft |45| eingebüßt, und daß der Angriff auf die Insel von Sippen unternommen worden sein soll, die zur Eroberung auszogen, Weib und Kind um das Familienoberhaupt geschart – wie eine family party, spottete kürzlich ein Historiker –, die Idee kommt ihnen absurd vor. Weib und Kind kamen später einmal nach, aber die Eroberer Britanniens, die Leute, die zuerst Fuß auf der Insel faßten und die Gegenwehr über den Haufen warfen, die waren nicht „das sippenweise gegliederte Volk in Waffen“ der romantischen Geschichtschreibung, sondern bewegliche Gefolgschaftsscharen, bunt aus den verschiedenen Stämmen zusammengewürfelt, die angesehene vornehme Anführer um sich gesammelt hatten und auf gewinnversprechende Abenteuer hinausführten153. Die Bande der Verwandtschaft waren zwar immer noch kräftig; Fehde, Blutrache und Wergeld sind dafür hinreichend Zeugnis. Aber sie waren längst durchkreuzt und zum Teil ersetzt durch andere, ebenso starke, wenn nicht noch stärkere: die des Treueverhältnisses zwischen dem Herrn und seinem Gefolgsmann. Und gerade in solchen Zeiten der Umwälzung, wie die sogenannte Völkerwanderung eine war, rückte ganz von selbst ein starker und tatkräftiger Gefolgsherr mit seiner Truppe unbedingt ergebener Kriegsleute weit in den Vordergrund154. Klarer und lebendiger als bei irgendeinem germanischen Stamm auf dem Festland ist die Gefolgschaft und ihre Bedeutung bei den Angelsachsen zu erkennen155, wo sie bis 1066 fortbestanden hat. Nicht nur aus der Heldendichtung, in der sie die alles beherrschende Rolle spielt, sondern auch aus der historischen Überlieferung im eigentlichen Sinn. Das königliche Gefolge bildet nicht nur ein Heer, das dem König unmittelbar zur Verfügung steht und ihm Ansehen und Gehorsam bei seinem Volk verschafft, aus ihm nimmt er auch seine Berater und die Männer, die ihm helfen, das Land zu verwalten156. Was

152 R. Q. Collingwood and J. N. L. Myres, Roman Britain and the English settlements (2nd edit. 1937) p. 348 ff. R. H. Hodgkin, A History of the Anglo Saxons I (1935) p. 81 ff. 103 ff. 114 ff. 147 ff. 157 ff. 153 Von der gleichen Art waren die Alemannen, die im 3. Jahrhundert den Limes überrannten. Ein Zeitgenosse, der wegen seiner Kenntnis der germanischen Dinge hochgeschätzte Asinius Quadratus (zitiert bei Agathias 16), sagt es deutlich genug. Seine Namensdeutung, „eine Rarität ersten Ranges“, ist sprachlich einwandfrei, wie E. Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus’ Germania (1920) S. 496, sagt. 154 Collingwood and Myres 348; Hodgkin I 210 ff. 155 Vgl. im allgemeinen Hoops, Reallexikon 2, 135 ff. Stubbs 1166 ff. 156 Unwillkürlich denkt man dabei an die Worte des Tacitus (Germ. 12 am Ende): consilium simul et auctoritas adsunt. Sollten nicht die vielerörterten centeni ex plebe comites, von denen das hier gesagt wird, auf das Gefolge des richtenden Princeps zu deuten sein? Daß die Stelle für eine vermeintliche altgermanische Hundertschaft nichts beweist, bedarf keines Wortes.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

169

das Gefolge für den germanischen princeps zur Zeit des Tacitus war, das sehen wir hier in größeren Verhältnissen und entwickelterer Form157. |46| Wie die Alemannen das eroberte Dekumatenland in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts beherrscht haben, zeigt uns Ammians Geschichtswerk. Dann verstummt die Überlieferung fast vollständig, und wie sie im 8. Jahrhundert wieder zu reden beginnt, sind die alten Formen bereits von der fränkischen Herrschaft verändert. In England ist ein solches Ereignis wie die Einverleibung Alemanniens ins fränkische Reich erst 1066 eingetreten. Bis dahin wachsen die ursprünglichen Zustände ungestört weiter, und Bedas Kirchengeschichte läßt sie uns im 7. Jahrhundert in voller Blüte sehen. Eine Anzahl vornehmer und mächtiger Geschlechter, die ihren Stammbaum auf Götter zurückführen, herrschen. Sie teilen sich in die Macht im Land, genau wie die Gaukönige der Alemannen bei Ammian.158 Beda betitelt seine Äthelbert, Penda, Oswald usw. auf lateinisch als reges, wie es auch Ammian bei Chnodomar, Suomar, Hortar und wie sie alle heißen, tut. Danach sprechen wir in beiden Fällen von Königen. Selbstverständlich ganz mit Recht. Die Angelsachsen sagten auch cyning. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß für unsere moderne Ohren das Wort König bereits einen anderen Klang hat. Wir unterscheiden zwischen König und Adel. Für die germanischen Völker jedoch ist ursprünglich beides dasselbe159. Man kann das schon aus einigen Bemerkungen bei Tacitus erkennen160, |47| und ganz deutlich wird es bei den Angelsachsen. Es wimmelt geradezu von „Königen“ 157 Vom Grundbesitz der Herren eigens zu sprechen, kann ich mir ersparen; es würde ohnehin nur auf eine Wiederholung des schon mehrfach Gesagten hinauslaufen. Überdies kann sich jeder ohne weitere Mühe aus den von Beda erwähnten Landschenkungen an Kirchen von seiner Existenz und Größe überzeugen. 158 Es wird von Nutzen sein, sich die Größenverhältnisse klarzumachen. Die angelsächsische Herrschaft (vgl. die Karten bei Collingwood and Myres und Hodgkin) erstreckt sich gegen Ende des 7. Jahrhunderts über den Osten der Insel und reicht westwärts bis zu einer Linie, die ziemlich genau von Berwick im Norden nach Bournemouth im Süden läuft und ungefähr dem 2. westlichen Meridian entspricht. Den Umfang des angelsächsischen Landes kann man danach auf rund 80 000 qkm berechnen, das heißt wenig mehr als das heutige Bayern. Die besiedelten Landschaften sind klein und durch weite geschlossene Waldgebiete voneinander getrennt. Von Kent, Essex, Sussex z. B., die heute je annähernd 4000 qkm haben, sind in jener Zeit nur schmale Küstenstriche besiedelt, die ungefähr die Größe eines alemannischen Gaues haben. 159 Cyning bedeutet, wie bekannt, den Mann von (vornehmem) Geschlecht. Es bezeichnet also weniger den Herrscher als den Adeligen. 160 Die Familie des Arminius, die gewöhnlich als „nur adelig“ angesehen wird, heißt Ann. 11,16 stirps regia. Der Unterschied zwischen „republikanisch regierten“ Stämmen, um mit den Handbüchern zu reden, und solchen, die unter Königen stehen, scheint mir sehr gering zu sein: in den einen herrscht eine Gruppe von Adelsfamilien, die wohl meist miteinander rivalisieren (Arminius und Segestes), in den andern hat sich – dauernd oder vorübergehend – ein Mitglied einer solchen Familie über die andern aufgeschwungen. Sehr lehrreich sind dafür die beiden folgenden Stellen: Marbod hat eine Herrschaft gewonnen, die nicht schwankte und vom Willen seiner parentes abhing (Velleius Paterculus II 108), und eine angelsächsische Urkunde spricht von parentes mei qui regni gubernacula potiri noscuntur (Chadwick, Studies p. 285). Auch solche Stämme, die für gewöhnlich als „republikanisch“ gelten, haben mit-

170

Heinrich Dannenbauer

in der angelsächsischen Welt; es ist gar nicht möglich, jedem von ihnen ein eigenes Königreich zuzuweisen, auch wenn man, wie billig, von der legendären Siebenzahl der angelsächsischen Reiche absieht. In einem Kampf gegen Wessex (626) schlägt der northumbrische König Edwin fünf Könige161. In Sussex herrschen zeitweilig vier Könige nebeneinander, in Essex drei162. In Kent erscheinen im 7. und 8. Jahrhundert wiederholt zwei Könige gleichzeitig. Selbst in einem so kleinen Reich wie Hwicce (ungefähr dem Worcestershire entsprechend) findet sich zeitweilig eine Mehrzahl von Königen163. Die Regel scheint, daß die „Könige“ eines solchen Reiches der gleichen Familie angehören. Häufig sind es Vater und Söhne oder Brüder, die miteinander herrschen164. Manchmal scheinen sie gemeinsam ihren Gau zu regieren, manchmal haben sie ihn untereinander aufgeteilt, wie es im Frankenreich die Merowinger taten. Wer zum königlichen Geschlecht gehört, ist eben König und hat Anrecht auf seinen Anteil am Familiengut165. Die zeitgenössischen Historiker und Urkundenschreiber haben darum auch oft ihre Not, den richtigen lateinischen Titel für diese Könige zu finden, denn eigentlich bedeutet rex ja den alleinigen König, den Einherrscher. Sie sprechen daher häufig von reguli, subreguli, principes, duces, und nicht selten nennen sie dieselben Personen, die sie so bezeichnet haben, bei anderer Gelegenheit wieder reges166. In dieser schwankenden Ausdrucksweise ist wohl auch eine Spur der allmählichen Unterordnung der Mehrzahl des Adels unter das sich langsam festigende Königtum eines einzigen zu sehen: statt daß die Söhne oder Brüder sich wie früher als reges in die Herrschaft |48| teilten, mußten sie sich in späteren Zeiten mit der geringeren Würde und Macht eines dux oder princeps, eines ealdorman oder eorl begnügen. Die alten königlichen Geschlechter wurden nach und nach „mediatisiert“167.

unter Könige. Aber Adelsherrschaft ist es in dem einen wie in dem andern Fall, der König ist nur primus inter pares. So schon Müllenhoff, Altertumskunde 4, 185 ff. 161 H. M. Chadwick, Studies on Anglo-Saxon instltutions (1905) p. 288. 162 Chadwick 270. 275. 163 Chadwick 280 f. 164 Ebenso bei den Alemannen: Ammian 16, 12, 25 Serapio, Sohn des Mederich, des Bruders Chnodomar, auch als König bezeichnet; 18, 2, 15 die Könige Macrianus und Hariobaudus Brüder; 21, 3, 4 und 14, 10, 1; 16, 12, 17 Vadomar und sein Bruder Gundomar Könige; 29, 4, 7 Bitherid und Hortar, Fürsten (primates) derselben Völkerschaft. Auch das Herzogtum der Alemannen scheint zeitweilig gedoppelt gewesen zu sein. 165 Noch im Nibelungenlied ist es so. Man sollte meinen, daß diese bei dem angelsächsischen wie dem fränkischen Adel gleicherweise eindeutig bezeugte Tatsache die Anhänger der Theorie vom Ältesten als alleinigem Erben des Adels hätte stutzig machen müssen. Auch die Frauen sind adelig. „Reginae sumus, Töchter von Königen, Basen von Königen“, erklären die Anführerinnen der bösen Nonnen von Poitiers (590), Chrodehildis und Basina. Gregor v. Tours IX 40, X 15. 166 Chadwick 269 ff. Ammian scheint in ähnlicher Verlegenheit gewesen zu sein, daher seine regales und reguli, die dann manche Forscher unbedenklich als „Hundertschaftsführer“ übersetzt haben. 167 Das gleiche nimmt man bekanntlich für die fünf Geschlechter an, die die Lex Baiuw. als die vornehmsten nach dem herzoglichen hervorhebt. Für Alemannien gilt es ebenso.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

171

An angelsächsische Befestigungen hat die englische Forschung lange nicht glauben wollen, bis Schuchhardt einige unzweifelhaft sächsischen „Volksburgen“ nachwies168, unter ihnen auch eine unmittelbar bei einer großen Herrschaft, die die Westsachsen schon 577 eroberten und die weit ins Mittelalter hinein als Königsgut nachweisbar ist. Literarisch sind Burgen im Besitz von Königen oder anderen Herren – abgesehen vom Beowulfslied, wo ihre Bedeutung sehr schön hervortritt169– gelegentlich in Geschichtswerken bezeugt. Zwar mag man gegen die angelsächsischen Chroniken, die erst gegen Ende des 9. Jahrhunderts zusammengestellt worden sind, freilich mit Hilfe älterer Notizen, mißtrauisch sein. Doch verdienen einige bei ihnen als Burgen bezeichnete Orte immerhin Erwähnung, wie Wihtgara byrg, wo ein Mann aus Cerdics Geschlecht namens Wihtgar 544 begraben worden sein soll, Beran byrg, Lygeanburg und Aegelesburg, wo 556 und 571 gekämpft wird, und andere der Art. Gewichtiger ist, was Beda gelegentlich sagt. Er nennt (III 19) ein castrum, das auf englisch Cnobheresburg heißt, id est urbs Cnobheri170. Der ostanglische König Sigberct schenkt es (ungefähr zwischen 630 und 635) zum Bau eines Klosters. Ein anderes Kloster steht auf dem Platz, der Coludi urbs heißt (IV 19 [17]). Namentlich ist interessant, was Beda von der Bebbanburg mitteilt (III 16 und 17)171. Er nennt sie urbs regia, ihren Namen führt sie nach einer – sonst unbekannten – Königin Bebba. Nahebei liegt eine villa regia, wie dies von Marbods Königsbesitz berichtet wird und bei festländischen Burgen mehrfach nachweisbar ist172. Auch eine Kirche ist beim Königshof. Die Burg ist zwar von Natur sehr stark und fast uneinnehmbar, aber ihre eigentliche Befestigung ist noch sehr primitiv173. Es muß sich um einen Holzbau gehandelt haben. Denn der König der Mercier, Penda, der (vor 651) die Burg angreift, |49| sucht sie in Brand zu stecken, indem er sie rings mit angehäuftem Holz umgibt. Endlich lernen wir bei Beda auch noch befestigte Herrenhöfe kennen. Bischof Johannes von Hexham (um 685) zieht sich zur Fastenzeit gerne in eine im Wald versteckte mansio174 zurück, die mit einem Wall umgeben ist (V 2). Viele Herren auf dem Festland mögen ihren Sitz in gleicher Weise befestigt haben175. An solche mit Wall und

168 Schuchhardt, Die Burg, S. 167 ff., u. Hoops, Reallexikon 4,439 ff. 169 Ausführlich behandelt bei Schuchhardt, Die Burg, S. 170 ff., was ich hier nicht wiederhole. 170 Burgh Castle b.Yarmouth, Ch. Plummer, Baedae opera hist. II (1896) p. 171. 171 Bamborough. Bild bei Hodgkin I 198. Dazu die Äußerung Simeons von Durham (12. Jhrh., zitiert bei Plummer II 141), der sie als urbs munitissima non admodum magna beschreibt, zwei bis drei Acker groß, mit einem einzigen Zugang und Treppen, wundersam hoch gelegen. 172 Tacitus, Anm. 2, 62. Vgl. oben S. 144 f. 148 f. 154 f. 173 Schuchhardt, Burg, S. 169, zitiert die angelsächsische Chronik (zu 547), wonach Bebbanburg zuerst nur mit einer Hecke umzäunt war, später erst umwallt wurde. Die Notiz ist allerdings anscheinend ein sehr junger Einschub (aus dem 11. Jahrhundert); aber wie aus Beda hervorgeht, trifft sie das Richtige ziemlich genau. 174 Zur Bedeutung des Wortes vgl. Beda III 22: Rendlaisham id est mansio Rendilis. 175 Vgl. K. Schumacher 3, 148. Auch für Alemannien möchte ich das annehmen.

172

Heinrich Dannenbauer

Zaun bewehrte Herrenhöfe wird man in erster Linie zu denken haben, wenn schon zu Ende des 7. Jahrhunderts das Gesetz des westsächsischen Königs Ine (688–695) nicht nur beim König, Bischof und Ealdorman, sondern auch beim Königsthegn und grundbesitzenden Mann aus der Gefolgschaft den Besitz von Burgen voraussetzt (c. 45)176. Für einen adeligen Herrn, einen Eorl, muß es selbstverständlich geworden sein, daß er Burg und Gefolge hatte. So beschreibt ein angelsächsisches Gedicht aus dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts, der „Wanderer“177, die zerstörte Burg eines Eorl und klagt, daß seine Mannen tot seien. Ganz allgemein erklärt eine private Rechtsaufzeichnung aus der Mitte des 11. Jahrhunderts, als Vorbedingung adeligen Rangs unter anderen Erfordernissen den Besitz einer eigenen Grundherrschaft mit Kirche, Gericht und Burg. Gesetze des 10. Jahrhunderts heißen einen solchen Herrn landrica, d. h. Landherrscher, auf lateinisch dominus regionis oder dominus terrae178. Alte vornehme Familien hatten zur Zeit des Tacitus über die germanischen Stämme geherrscht und hatten sie im Krieg angeführt und im Frieden gerichtet. Sie standen hoch über dem übrigen Volk wegen ihrer Abkunft, wegen ihres Reichtums und ihrer Macht, sie geboten über Land und Leute, hatten kriegerisches Gefolge und Burgen. So konnten sie ihrem Willen Achtung verschaffen und in Zeiten der Not ihrem Volk Schutz bieten. Sie waren die geborenen Häupter ihrer Stammesgenossen, ihre Fürsten, und ihre Herrschaft wurde ohne Widerspruch anerkannt. Die folgenden Jahrhunderte haben Veränderungen aller Art über die germanische Welt gebracht. Die alten kleinen Völkerschaften verschwinden und gehen auf in neuen großen Stämmen, die alten Wohnsitze werden verlassen und neue in heftigen Kämpfen nach langer Wanderschaft gewonnen, fremde Kultur beginnt ihre Einflüsse geltend zu machen, sogar ein neuer Glaube kommt zur Herrschaft. Eines aber bleibt über allem Wechsel unverändert: die Grundform des politischen Daseins bleibt die alte. Die Adelsherrschaft |50| bleibt bestehen. Ob ein Volk in der alten Heimat geblieben ist, wie die Sachsen und Thüringer, ob es sich in der Ferne neues Land gesucht hat, wie die Alemannen und Angelsachsen, macht keinen Unterschied. In Nord- und Mitteldeutschland wie auf der britischen Insel und im ehemaligen Dekumatenland am Neckar und an der Donau leben die Völker, wie sie es seit Urzeiten gewohnt sind, unter der Herrschaft ihrer alten Fürstengeschlechter. Da und dort in einer Landschaft eine große vornehme Familie mit weitausgedehntem Besitz, reichen Einkünften, Hunderten und aber Hunderten von abhängigen Leuten, über die sie gebietet und richtet, mit kriegerischem Gefolge und Burgen, in denen sie ihren Bauern in Gefahr Zuflucht gewähren kann, so ist’s überall. Zeitweilig mag ein solches Geschlecht einen Vorrang über andere bekommen, mag ein angelsächsischer König einige seiner Standesgenossen sich unterordnen, ein thüringischer 176 F. Liebermann, Gesetze der Angelsachsen I, S. 108 f. 177 Also noch vor den Burgenbauten König Alfreds. A. Brandl, Englische Literatur (Grundriß der german. Philologie II 12) S. 978f. C. W. M. Grein, Bibliothek der angelsächsischen Poesie I (1857) S. 238 ff. 178 Liebermann, Gesetze I 456. 210 ff. 265. 383. 443.

Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen

173

oder alemannischer Herzog an die Spitze seines Stammes treten, tiefere Wirkungen hat das kaum. Die Macht der großen Adelsfamilien in ihrem Bereich bleibt die alte, ihre Herrschaft wird nicht gemindert. Selbst die scheinbar einschneidendste Neuerung, die Einverleibung der innerdeutschen Stämme in das fränkische Reich, ändert in Wahrheit so gut wie nichts daran. Soweit überhaupt unsere Kunde zurückreicht, sind in Alemannien immer die alten vornehmen reichen Geschlechter an der Macht, das Grafenamt ist schon zu Anfang des 8. Jahrhunderts, wo unsere Nachrichten beginnen, ihr erblicher Besitz. Aus den vornehmsten Geschlechtern des Volkes nimmt Karl der Große im Sachsenland seine Grafen. Das heißt: die fränkischen Könige haben die alten Zustände anerkannt. Sie konnten sie gar nicht beseitigen, das hätte eine vollkommene Revolution aller und jeder hergebrachten Ordnung bedeutet. Sie haben vielmehr die Fürsten und Herren der einverleibten Stämme in ihrer ererbten Macht belassen und darin bestätigt, indem sie sie durch den Grafentitel der Form nach der Organisation der fränkischen Reichsverwaltung einfügten. Aber die Herrschaft, die diese neuernannten alemannischen und sächsischen „Grafen“ ausübten, beruhte nach wie vor nicht auf dem Grafenamt, sie war nicht übertragen, sie hatte viel tiefere und stärkere Wurzeln, aus denen sie fortgesetzt neue Kraft sog: seit uralten Zeiten waren die Herren immer die Mächtigsten und Reichsten gewesen, die Anführer im Krieg, die Richter im Frieden, die Fürsten ihres Volkes, wie das alemannische Gesetz sie am Anfang des 8. Jahrhunderts nennt. Das blieben sie unter den fränkischen Königen, sie blieben es auch unter den deutschen. Ein starkes Königtum kann je zu Zeiten ihre Macht überschatten und versuchen, sie sich unterzuordnen. Lehnswesen und Vassallität erweisen sich dabei als wirksame Hilfsmittel. Sobald jedoch die Kraft der Krone erlahmt, treten sie mit ihren Vassallen, ihren Burgen und ihrer Gerichtsbarkeit immer wieder hervor als das, was sie von Anfang an gewesen sind, als die domini terrae, die wahren Herren des Landes.

174

Heinrich Dannenbauer

Kommentar Heinrich Dannenbauer gehörte zu jenen jungen Männern, die am Ersten Weltkrieg teilnahmen und dann niemals ganz in der Weimarer Republik ankamen: 1897 geboren, schloss er 1922 sein Studium der Geschichte in Erlangen mit einer – bis heute ungedruckten – Dissertation ab. Im Jahr 1926 habilitierte er sich in Tübingen mit einer Arbeit über das Territorium der Reichsstadt Nürnberg. Einen Ruf erhielt er jedoch lange Jahre hindurch nicht. Bereits 1932 trat er der NSDAP bei; dies war schon bald darauf förderlich für seine Berufung als Nachfolger Johannes Hallers auf dessen Lehrstuhl in Tübingen.1 Wissenschaftlich war Dannenbauer nicht als Experte für die Germanen hervorgetreten. Seine Qualifikationsschriften behandelten das Leineweberhandwerk in Nördlingen2 und die Reichstadt Nürnberg,3 danach hatte sich Dannenbauer mit Luther,4 auch mit Karl dem Großen5 und der römischen Petruslegende6 beschäftigt. Dies änderte sich nun deutlich: Germanen galten zwar wie schon Mitte des 19. Jahrhunderts so auch zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als vorbildlich, jedoch mussten sie nun für die Legitimation deutlich anderer Ordnungsvorstellungen herhalten. So nimmt es nicht wunder, dass seit etwa der Mitte der 1930er Jahre in der Mittelalterforschung ein Paradigmenwechsel zu beobachten ist: Die sogenannte „Neue deutsche Verfassungsgeschichte“ war darum bemüht, ein anderes Bild von der Verfassung zu entwerfen, als es Waitz und seine Kollegen des 19. Jahrhunderts etabliert und bald auch in großen Handbüchern kanonisiert hatten. Um es zuzuspitzen: Germanen waren nun nicht mehr – wie in den Verfassungsdebatten des 19. Jahrhunderts – ein Ideal, weil sie als gleiche und freie Grundbesitzer ihre politischen Anführer gewählt hatten. Germanen galten jetzt als Vorbild, weil ihre politische und soziale Ordnung auf Herrschaft, Krieg und Schutz beruht habe. Das bedeutete konkret: Historiker sahen die Germanen nun durch einen Adel charakterisiert, der große Gefolgschaften in den Krieg führte, über abhängige Bauern verfügte und von Burgen aus das Land beherrschte. Nicht erst seit der Karolingerzeit,

1 Zu Dannenbauers Werdegang vgl. knapp Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970 (Göttingen 2005) 26 f. 2 Heinrich Dannenbauer, Geschichte des Handwerks der Leineweber in der Reichsstadt Nördlingen. Diss. masch. (Erlangen 1925). 3 Gedruckt als Heinrich Dannenbauer, Die Entstehung des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg. Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte 7 (Stuttgart 1928). 4 Heinrich Dannenbauer, Luther als religiöser Volksschriftsteller 1517–1520: ein Beitrag zur Frage nach den Ursachen der Reformation. Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 145 (Tübingen 1930). 5 Heinrich Dannenbauer, Zum Kaisertum Karls des Großen und seiner Nachfolger. Zeitschrift für Kirchengeschichte 49, 1930, 301–306. 6 Heinrich Dannenbauer, Die römische Petruslegende. Historische Zeitschrift 146, 1932, 239–262.

Kommentar

175

nicht erst durch das als fränkische Neuerung geltende Lehnswesen7 war solche Adelsherrschaft in die mittelalterliche Welt hineingeraten. Sie habe schon immer, schon seit der „Urzeit“ das „Wesen“ der Germanen bestimmt – und in der mittelalterlichen Welt überall dort kraftvoll fortgedauert, wo sich einst seit dem 5. Jahrhundert germanische Reiche konstituiert hätten. Diese Sicht stand derjenigen eines Georg Waitz geradezu diametral entgegen. Heinrich Dannenbauer hat sie mit dem Beitrag von 1941, der im Folgenden abgedruckt ist, ganz wesentlich mit begründet. Dannenbauers Argumentationsgang war dabei im Grunde einfach: Die Historiker des 19. Jahrhunderts – und hier namentlich Waitz – sah Dannenbauer allzu sehr durch ihre eigenen politischen Überzeugungen und Sehnsüchte beeinflusst. „Die Voraussetzungen, auf denen Waitz’ Anschauung beruht“, so ätzte er, „sind mit Händen zu greifen: Es ist der bürgerliche konstitutionelle Ordnungs- und Beamtenstaat, der ihm und seinen Zeitgenossen als Ideal vorschwebte. Den suchte er – und fand ihn darum natürlich auch – im germanischen Altertum.“8 Dannenbauer selbst las zwar nur einmal mehr die schon längst bekannten Passagen in den Werken Caesars und des Tacitus. Er deutete den lateinischen Text nun aber ganz anders. Methodisch ging er davon aus, dass die Römer mit ihren lateinischen Wörtern Begriffe ihrer eigenen, römischen Welt verbanden. Und er glaubte, so gerüstet, zeigen zu können, dass die von Tacitus erwähnten principes keineswegs gewählte Beamte, sondern Führer von Gefolgschaften gewesen seien. Von hier ausgehend, entwarf er dann, gestützt auf die „Germania“ und die „Annalen“ des Tacitus, das Gegenbild zu jenem Modell, dem Georg Waitz mit dem ersten Band seiner Verfassungsgeschichte zum Durchbruch verholfen hatte: Dannenbauers Germanen waren keine freien Grundbesitzer, die ihre politische Führung wählten. Sie wurden von Adligen beherrscht, die große Burgen errichteten, kriegerische Gefolgschaften führten und ihren Reichtum als Grundherren auf riesige Ländereien stützten, die von abhängigen und abgabenpflichtigen Bauern bewirtschaftet wurden. Die Kontinuität dieser Strukturen bis ins Mittelalter hinein versuchte Dannenbauer im zweiten Teil des Artikels aufzuzeigen: Hierzu zog er nun aber nicht skandinavische Gesellschaften des Hochmittelalters vergleichend heran, sondern wertete frühmittelalterliche Nachrichten (und teils auch archäologische Befunde) zu Sachsen, Thüringern, Alemannen und Angelsachsen aus. Er bemühte sich dabei um den Nachweis, dass alle diese Verbände schon in den frühesten erhaltenen Quellen durch Adel, Burgen und Herrschaft geprägt gewesen seien – und mithin die bei Tacitus beschriebenen Zustände bis in das Mittelalter hinein fortgedauert hätten. Die Adelsherrschaft in Europa hatte damit ein uraltes Fundament erhalten.

7 Diese Sicht hatte wesentlich Paul Roth, Geschichte des Beneficialwesens von den ältesten Zeiten bis ins zehnte Jahrhundert (Erlangen 1850), begründet. 8 Das Zitat oben, 137.

176

Heinrich Dannenbauer

Dannenbauer stand mit seiner Kritik an den Modellen der Historiker des 19. Jahrhunderts keineswegs allein. Spätestens seit 1936 vertrat Otto Brunner die Ansicht, dass die Verfassungsgeschichte des Mittelalters neu geschrieben werden müsse, weil sie bisher von anachronistischen begrifflichen Unterscheidungen des 19. Jahrhunderts strukturiert worden sei – und zwar vor allem von den Unterscheidungen zwischen öffentlichem und privatem Recht, zwischen Macht und Recht und zwischen Gesellschaft und Staat9. Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts hatten im Kern darüber gestritten, ob im „deutschen“ Mittelalter die Untertanen in einem öffentlichrechtlichen Verhältnis zum König gestanden hätten und damit eine besondere, öffentliche Gewalt (und folglich ein Staat) existiert habe; oder ob es im Grunde nur feudale, mithin privatrechtliche Bindungen gewesen seien, über die die Freien ihrer politischen Führung verpflichtet gewesen seien (und folglich kein Staat existiert habe).10 Diese gesamte Debatte suchte Brunner zu überwinden, indem er deren Leitkategorien als „modern“ und daher ungeeignet für die Analyse „mittelalterlicher“ Verhältnisse erwies. Schon Brunner hatte aus dieser Auffassung heraus mit seinem Werk „Land und Herrschaft“ von 1939 der überkommenen Verfassungsgeschichte ein Modell entgegengesetzt, das den Begriff der Herrschaft zentralstellte: Brunner sah hierbei alle Formen von Herrschaft letztlich aus der Fähigkeit eines Herrn erwachsen, anderen Menschen Schutz bieten zu können.11 Dannenbauer formulierte also 1941 im Grunde denselben Gedanken, den Brunner empirisch an Quellen des Spätmittelalters erprobt hatte, nun auch für die Germanen. Brunner hatte alle Herrschaft aus der Sphäre des Hauses erwachsen sehen – aus dem Schutz also, den ein Herr den Angehörigen seines Hauses habe bieten können. Die Herrschaft eines Grundherrn, eines Adligen, eines Königs wollte Brunner nicht als „öffentliche Gewalt“ eigener Art dagegen abgegrenzt sehen – sondern als prinzipiell gleichförmig. Fast gleichzeitig mit Dannenbauer propagierte Walter Schlesinger in der Publikation seiner Habilitationsschrift im Jahr 1941 die Gefolgschaft als ein weiteres zentrales Element der neuen Lehre: Nicht nur aus der Sphäre des Hauses, sondern im Zuge der „Völkerwanderung“ auch aus der kriegerischen

9 Vgl. programmatisch Otto Brunner, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters. Vergangenheit und Gegenwart 27, 1937, 404–422. 10 Vgl. dazu genauer: Steffen Patzold, Der König als Alleinherrscher? Ein Versuch über die Möglichkeit der Monarchie im Frühmittelalter. In: Monarchische Herrschaft im Altertum, hrsg. Stefan Rebenich unter Mitarbeit von Johannes Wienand. Schriften des Historischen Kollegs 94 (Berlin, Boston 2016) 605–633. 11 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter (Darmstadt 1973 = Neudruck der 5. Auflage, Wien 1965). Die erste Auflage erschien 1939, doch sind die Ausgaben der Nachkriegszeit deutlich gegenüber den beiden Auflagen von 1939 und 1941 verändert.

Kommentar

177

Gefolgschaft sei die mittelalterliche Adelsherrschaft erwachsen.12 Dannenbauers Sicht adliger Germanen als Führer mehr oder minder großer kriegerischer Gefolgschaften fügte sich also nahtlos zu anderen Beiträgen der Zeit. Es ist bei alledem bemerkenswert, wie sehr die Vertreter der „Neuen deutschen Verfassungsgeschichte“ betonten, dass ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert sich von ihren zeitbedingten Begriffen, Vorstellungen und politischen Überzeugungen hätten in die Irre führen lassen. Denn das neue Modell, das Brunner, Schlesinger, Dannenbauer und andere mehr in den 1930er und 1940er Jahren entwickelten, basierte nicht minder auf politischen Entwicklungen, Überzeugungen und Begriffen ihrer eigenen Gegenwart13– nur unterschieden sich diese Entwicklungen, Überzeugungen und Begriffe im nationalsozialistischen Regime eben deutlich von jenen, die die nationalliberalen Historiker des 19. Jahrhunderts geprägt hatten. Doch blieben – bei aller lauttönenden Abgrenzung zur klassischen Sicht – etliche Grundüberzeugungen erstaunlich stabil. Dass sich ein germanisches „Wesen“ auf wissenschaftlichem Wege erkennen lasse; dass ein solches sich von einem römischen „Wesen“ unterscheiden lasse; dass Völker wichtige Einheiten (und zugleich auch Akteure) der Geschichte seien; dass Völker politische Strukturen ausbildeten, die ihrem „Wesen“ entsprochen hätten; dass die Erkenntnis der Anfänge helfe, spätere historische Entwicklungen zu verstehen; dass es eine germanische Kontinuität zumindest in „Deutschland“ (das heißt östlich des Rheins) von der Zeit Caesars bis ins Mittelalter hinein gegeben habe: all dies setzte auch Dannenbauer in seinem Beitrag voraus. Im Übrigen bleibt auch hier historisch zu differenzieren: Eine halbwegs in sich geschlossene nationalsozialistische Lehre im eigentlichen Sinne hat nie existiert; und so sah sich auch Heinrich Dannenbauer schon bald nach seiner Berufung auf den Tübinger Lehrstuhl seinerseits heftigen Anwürfen von Seiten anderer Nationalsozialisten ausgesetzt. Sein Vorgänger Johannes Haller hatte, schon emeritiert, in einer Publikation von 1934 ausdrücklich betont, dass man Germanen und Deutsche nicht gleichsetzen dürfe, außerdem jeder Begeisterung für die angeblich so hochstehende germanische Urzeit eine Absage erteilt, die Einheit der Germanen in Abrede gestellt und stattdessen deren Rombegeisterung unterstrichen und die mittelalterlichen Reiche als von römischen wie germanischen Elementen gleichermaßen geprägt 12 Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen. Sächsische Forschungen zur Geschichte 1 (Dresden 1941 = ND. Darmstadt 1964), bes. 113 f.; vgl. auch den Beitrag von Schlesinger, den wir in diesem Band wieder abgedruckt haben. 13 Dies ist mittlerweile sehr klar herausgearbeitet worden. Vgl. aus der reichen Literatur oben, Einleitung, 12, Anm. 36; sowie Hans-Henning Kortüm: „Wissenschaft im Doppelpaß“? Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde. Historische Zeitschrift 282, 2006, 585–617; ders., Mittelalterliche Verfassungsgeschichte im Bann der Rechtsgeschichte zwischen den Kriegen – Heinrich Mitteis und Otto Brunner. In: Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz, hrsg. Jürgen Dendorfer/Roman Deutinger. Mittelalter-Forschungen 34 (Ostfildern 2010) 57–78.

178

Heinrich Dannenbauer

dargestellt. Mehr noch: Haller hatte die biologische oder gar „rassische“ Reinheit germanischer Völker bezweifelt. Nicht zuletzt auf die heftigen Angriffe, denen sich Haller daraufhin gegenübersah, reagierte Dannenbauer in seiner Tübinger Antrittsvorlesung vom November 1934 und in einem weiteren öffentlichen Vortrag in Stuttgart zu Beginn des Jahres 1935. Auch Dannenbauer legte hier Wert darauf, strikt zwischen Germanen und Deutschen zu unterscheiden – und betonte gegen allzu geradlinige rassistische Ideologeme das historische Werden des deutschen Volkes. So wurde auch Dannenbauer bald zur Zielscheibe der Kritik anderer Nationalsozialisten – und zwar bis hin zu einem Parteigerichtsverfahren.14 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlor er zunächst seine Professur; erst 1949 kehrte er auf seinen Lehrstuhl zurück. Die „Neue deutsche Verfassungsgeschichte“ überstand dagegen das Ende des NS-Regimes nahezu unbeschadet. Sie avancierte in den 1950er bis 1970er Jahren in der westdeutschen Mittelalterforschung zur herrschenden Lehre. St. P.

14 Vgl. zu dieser gesamten Episode: Benjamin Hasselhorn, Johannes Haller. Eine politische Gelehrtenbiographie. Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 93 (Göttingen 2015) 292–332. – Die beiden Vorträge hat Dannenbauer zu Publikationen ausgearbeitet: Heinrich Dannenbauer, Germanisches Altertum und deutsche Geschichtswissenschaft. Philosophie und Geschichte 52 (Tübingen 1935); ders., Vom Werden des deutschen Volkes. Indogermanen, Germanen, Deutsche (Tübingen 1935).

Walter Schlesinger

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte Das deutsche Mittelalter kennt vielerlei Art von Herrschaft. „Herr“ ist der Hausvater über die zum Hause Gehörigen, der Großgrundbesitzer über die Hintersassen, der Gefolgschaftsführer über das Gefolge, der Landesfürst über das Land. Die moderne wissenschaftliche Terminologie spricht demgemäß von Hausherrschaft, Grundherrschaft, Gefolgsherrschaft, Landesherrschaft. Mit der Ausbildung des Lehnwesens entsteht eine besondere Herrschaftsform, die das Verhältnis des Lehnherrn zum Vasallen bezeichnet und von uns Lehnherrschaft genannt wird. Derjenige, der für die Regelmäßigkeit und den ordnungsgemäßen Verlauf der Gerichtsversammlungen sorgt und die Erzwingbarkeit des von der Dinggemeinde gefundenen Urteils garantiert, erwirbt über diese die Gerichtsherrschaft. Aus dem Rechte des Kirchgründers an der Kirche, dem Eigenkirchenrecht, erwächst die Kirchenherrschaft. Dörfer und Städte unterstehen der Dorfherrschaft und Stadtherrschaft ihrer Dorf- und Stadtherren. Aber auch die Stellung des Königs in seinem Reiche ist Herrschaft, für ihn ist „Herr“ eine stehende Bezeichnung. Über all diesen irdischen Herrschaftsformen steht schließlich die Herrschaft Gottes über Himmel und Erde, über Zeit und Ewigkeit: Gott (und entsprechend Christus) ist der Herr schlechthin. Freilich nicht die Herrschaft allein ist es, die im Mittelalter politische Ordnungen hervorbringt und gestaltet. Nicht minder wirkungsmächtig steht neben ihr die Genossenschaft. Allen herrschaftlichen Ordnungen ist auch ein genossenschaftliches Element eigen, und man kann nicht sagen, die Herrschaft bringe die Genossenschaft erst hervor. Eigenberechtigt tritt sie vielmehr jener gegenüber, aus selbständiger Wurzel erwachsend. Genossenschaftlich ist die Sippe gestaltet, genossenschaftlich der Kultverband, der in den Gilden einer späteren Zeit fortlebt, auf genossenschaftlichem Boden erwächst die Gemeinde in Dorf und Stadt und schließlich im Lande in den Landständen oder als „Landschaft“. Vielleicht ist alle Genossenschaft aus der Kultgemeinschaft erwachsen, in der die Genossen der Gottheit, der sie sich verbunden |226| wissen, in gleichem Abstand gegenüberstehen, und in welcher der Priester seine Funktion nicht im Auftrage der Gottheit, sondern der Kultgenossen ausübt. Kultverband war ja auch die Sippe und war nicht minder der urtümliche Stamm, in dem freilich zugleich das herrschaftliche Element wirksam wird. Herrschaft und Genossenschaft durchdringen einander in mannigfachen Bildungen, deutlich schon erkennbar in der einfachsten Form der Gemeinschaft, im Hause. Aber nicht von der Genossenschaft soll hier die Rede sein, sondern allein von der Herrschaft, in bewußter Einseitigkeit. Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß das Folgende nicht auf das Ganze der Volks- und Landesverfassung des frühen https://doi.org/10.1515/9783110563061-008

180

Walter Schlesinger

Mittelalters zielt, sondern lediglich eine Linie auszuziehen versuchen möchte, die mir allerdings eine Grundlinie zu sein scheint1. Wir tun gut, uns zunächst in aller Kürze den sprachlichen Befund zu vergegenwärtigen2. Schon das älteste Althochdeutsch kennt drei Wörter für „Herr“: frô (nur noch im Vokativ, vgl. aber frôio, frôho, frâho), truhtîn und hêrro. Dem Altsächsischen sind diese Wörter ebenfalls bekannt als frô, drohtîn, hêrro; ein viertes, hierher zu stellendes, waldand, ist noch deutlich als Partizip zu erkennen, die substantivische Bedeutung also wohl jung. Freilich ist im Kompositum alouualdo auch eine nichtpartizipische Form belegt. Bezeichnen diese Wörter etwa grundsätzlich voneinander verschiedene Herrschaftsgestaltungen? Die Denkmäler geben hierfür keine Anhaltspunkte. Nur bei truhtîn ist ein ursprünglich engerer Bedeutungsgehalt klar erkennbar: das Wort entstammt der Sphäre der kriegerischen Gefolgschaft. Truhtîn ist der Gefolgsherr. Das Wort muß in dieser Bedeutung schon dem Gotischen bekannt gewesen sein. Aber frühzeitig tritt hêrro in der gleichen Bedeutung |227| entgegen, bereits im ältesten Denkmal althochdeutscher Dichtung, im Hildebrandslied (v. 47), und dann häufig im Heliand. Das Wort, der Bildung nach ein Komparativ zu ahd. hêr „grau, alt“, muß im Vergleich zu frô, das als frauja im Gotischen häufig belegt ist, und truhtîn jünger sein. Es ist auf den kontinentalen Bereich beschränkt, die Angelsachsen haben es im 5. Jh. noch nicht mit nach der britischen Insel genommen, erst spät dringt es von Sachsen aus hinüber. Am ältesten ist anscheinend das Wort frô, das nur noch rudimentär in die Zeit hineinragt, in der die ahd. Denkmäler beginnen, während es im Altsächsischen zur Zeit der Helianddichtung noch etwas lebendiger gewesen zu sein scheint, aber ebenfalls bald abstirbt. Aus der Bedeutung des zugehörigen Femininums frouwa könnte man schließen, daß frô ursprünglich den Hausherrn bezeichnete, zumal ags. frea auch in der Bedeutung Ehegatte entgegentritt und im Gotischen des Kompositum heiwa-frauja „Hausherr“ bezeugt ist. Wichtig ist, daß alle diese Wörter mit Vorliebe auf den König angewandt werden, auch auf den himmlischen König, auf Gott und Christus. In besonderem Maße gilt dies anscheinend für frô, denn ein erstarrter und zum indeklinablen Adjektiv gewordener gen. plur. frôno hat die vielfach zu belegende Bedeutung publicus gewonnen.

1 Dies möge der Widerspruch, der gegen die Gedanken dieser Skizze nicht ausbleiben wird, im Auge behalten. Sie ist weniger eine Darstellung als ein Programm und beansprucht daher nicht, Abschließendes zu sagen. Beim jetzigen Stande der Forschung, die ein Lehrgebäude von imponierender Geschlossenheit zerstört hat, ohne bislang ein neues an seine Stelle zu setzen, ist dies gar nicht möglich. Es liegt im Wesen eines solchen Versuchs, daß Quellenbelege und Literaturangaben nur in Auswahl gegeben werden können. 2 G. Ehrismann, Die Wörter für „Herr“ im Althochdeutschen. Zs. f. Wortforschung 7 (1905/06), S. 193 ff. G. Lagenpusch, Das germanische Recht im Heliand (1894). K. Guntermann, Herrschaftliche und genossenschaftliche termini in der geistlichen Epik der Westgermanen (Diss. 1910). A. Bartels, Rechtsaltertümer in der angelsächsischen Dichtung (Diss. 1913). H. Beer, Führen und Folgen, Herrschen und Beherrschtwerden im Sprachgut der Angelsachsen (Diss. 1939). E. Richter, Senior-Sire. Wörter und Sachen 12 (1929), S. 114 ff. Dazu W. Stach, DA 9 (1952). S. 352.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

181

„Öffentlich“ ist demnach, was zum königlichen Herrn in Beziehung steht. Im Ludwigslied (v. 5) erscheint fronisc githigini als genaue Entsprechung für trustis dominica der Lex Salica. Hêrro hat schließlich die anderen Wörter verdrängt und die Alleinherrschaft angetreten, eine Entwicklung, auf deren Gründe hier nicht einzugehen ist. Erst spät verbindet sich dieses Wort hêrro mit anderen Wörtern3. Abgesehen von skefhêrro „nauclerus“, das der relativ frühen Monseer Glossengruppe angehört, sind Komposita wie hûshêrro, kirihhêrro, lanthêrro erst seit dem 11./12. Jh. belegt, lêhanhêrro und munthêrro entstammen gar erst dem 13. Jh. So bruchstückhaft auch die Überlieferung ist, so wird man doch von hier aus zu dem Schluß gedrängt, daß eine Differenzierung der verschiedenen Ausprägungen der Herrschaft der alten Zeit erst verhältnismäßig spät bewußt geworden ist. Nicht anders ist das Ergebnis, wenn wir die lateinischen Ausdrücke ins Auge fassen. Das Wort dominus, das den Bezug auf das Haus (domus) längst verloren hatte, bezeichnet in den zeitgenössischen Quellen den Herrn im allgemeinsten Sinne, bis hin zur schon frühzeitig bezeugten bloßen Höflichkeitsanrede und Titula|228|tur die in späterer Zeit immer weiteren Kreisen zugebilligt wird, so daß bei der Unzahl der Belege eine Differenzierung vom Worte her aussichtslos ist. Festgehalten zu werden verdient, daß der König als der dominus schlechthin erscheint. Dominium ist demgemäß vielfach die Königsherrschaft, dominicus heißt in der Lex Salica in prägnanter Bedeutung „königlich“, und diese Bedeutung ist z. B. noch im sog. Sendrecht der Main- und Rednitzwenden (um 900?) belegt (Konfiskation in dominicam potestatem)4. Daneben haben beide Wörter die Bedeutung „Herrschaft“ und „herrschaftlich“ mit Bezug auf andere Herren in vielfältiger Abstufung. Natürlich wird das Wort auch für Gott angewandt, wofür die Vulgata Vorbild war. Daneben erscheint als jüngere lateinische Bildung senior, das besonders für den Lehnherrn üblich wird, aber auch frühzeitig, lange vor Aufkommen des Lehnwesens, auf den König angewandt wird5, während es, soweit ich sehe, für Gott nur selten belegt ist, in der Verbindung senior ecclesiae allerdings schon im 6. Jh.6 Ein gemeinsamer Zug ist also den deutschen wie den lateinischen Wörtern für Herr eigen: sie alle können den König bezeichnen, wobei bemerkt werden muß, daß die Anwendung auf Gott und Christus dem gleichzuachten ist. Gemeint ist das biblisch begründete Königtum Gottes und Christi als des Königs der Könige, des Herrn der Herren, des allero cuningo craftigost, wie es im Heliand heißt (v. 973). Der dominus der Vulgata und der Liturgie konnte im germanischen Bereich gar nicht anders aufgefaßt werden als in Parallele zum irdischen König. Herrschaft erscheint somit als das Wesen des Königtums, doch ist sie, geht man vom Sprachlichen aus,

3 Das Folgende nach den Belegen des Althochdeutschen Wörterbuchs in Leipzig, die mir vor Jahren E. Karg-Gasterstädt freundlicherweise zugänglich machte. 4 Zs. f. Kirchenrecht 4 (1864), S. 162. 5 SS. Rer. Merov. I (editio altera) S. 188 auf Childebert (zu 575). 6 MG. Cap. I, S. 11.

182

Walter Schlesinger

nicht eine Herrschaft sui generis, sondern von der Herrschaft anderer Herren nur dem Grade, nicht dem Wesen nach unterschieden. Eine scharfe Unterscheidung von Königsrecht und Volksrecht, wie sie von Sohm in geistvoller Weise begründet worden ist, findet von hier aus keine Stütze. Der König ist in alter Zeit nicht nur Herr, sondern auch Repräsentant des Volkes, wie das gotische Wort thiudans erkennen läßt. Auch auf anderem Wege läßt sich dies zeigen. Noch in verhältnismäßig späten althochdeutschen Glossen wird die lateinische Wortverbindung res publica wiedergegeben mit kunigrîche, also einfach und anschaulich mit Königreich, ohne jede Abstraktion. Dort jedoch, wo ein abstrakter Begriff eingesetzt wird, erscheint für res publica und sogar für ganz konkretes regnum: thaz hertuom. |229| Man setzte also Staat und Herrschaft gleich, der Staat ist nicht wie in der Antike Sache des populus, sondern Sache des Herrn, und das ist der König. Wir erinnern uns des Wortes frôno, das publicus glossiert und das genau in diese Richtung weist: öffentliche Angelegenheiten sind Herrenangelegenheiten, Angelegenheiten des Königs. Daß hertuom die Königsherrschaft meint, ergibt nicht nur die Parallele zu kunigrîche, sondern vor allem ein Beleg aus dem Heliand (v. 2893), wo hêrdôm variierend mit uuerold- kuninges namo gebracht wird. Aber nicht nur die königliche Herrschaft heißt so. Bei Notker heißt der römische Senat taz rûmiska hêrtuom; hier bezeichnet das Wort also die Herrschaft einer Aristokratie. Im Jahre 1182 erwarb der Naumburger Bischof von einem seiner Ministerialen in der Zeitzer Gegend in drei Dörfern das dominium, quod hertum dicitur gegen eine Geldzahlung7. Die von einem bischöflichen Dienstmann ausgeübte und als nutzbares Recht verkaufte Dorfherrschaft wird also noch im 12. Jh. mit demselben Wort bezeichnet wie die Herrschaft des Königs über sein Reich und die Königsherrschaft Christi über die Welt, und es verdient Beachtung, daß dieses deutsche Wort mit einer gewissen Betonung in der lateinischen Urkunde erscheint. – Herrschaftlich und genossenschaftlich zugleich ist im germanischen Bereiche der Rechtskreis des Hauses gestaltet.8 Wir richten den Blick allein auf die herrschaftliche Komponente. Der Hausherr steht an der Spitze des Hauses, er ist der verantwortliche Träger und Gestalter der häuslichen Lebensordnung. Ihm kommt eine weitgehende Gewalt über die rechtlich nicht voll handlungsfähigen Hausgenossen zu, also über Frau, Kinder und Unfreie, in eingeschränktem Maße auch über das freie Gesinde. Die Verfügungsgewalt über Unfreie war unbeschränkt, freilich durch die Sitte gemildert. Insbesondere wird dies der Fall gewesen sein, wenn die Unfreien nicht im Hause selbst beherbergt wurden, sondern Land in wirtschaftlicher Selbständigkeit nach Art der Kolonen gegen Abgaben bebauten, wovon schon Tacitus

7 UB d. Hochst. Naumburg I Nr. 314. 8 Grundlegend über das Haus F. Kauffmann, Altdeutsche Genossenschaften. Wörter und Sachen 2 (1910), S. 26 ff.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

183

berichtet9. Wir beobachten also bereits in dieser Zeit eine aus der Hausherrschaft sich entwickelnde „Grundherrschaft“, die keineswegs in Bodenleihe, sondern in persönlicher Unfreiheit wurzelt. Das „Haus“ umfaßt damit nicht nur die Wohn- und Wirtschaftsgebäude des Herrn, sondern einen Komplex zugehöriger Wohnstätten (suam quisque sedem, suos penates regit). Man wird ihn als Dorf bezeich|230|nen dürfen, und in der Tat berichtet wiederum Tacitus10, daß Civilis, der Führer des Bataveraufstandes, über mehrere villae am Niederrhein gebot, worunter ohne Zweifel Landgüter mit zugehörigen Kolonen zu verstehen sind. Diese „unfreie“ Wurzel späterer Dorfherrschaft wird man nicht außer acht lassen dürfen. Ob unser Wort Bauer, ahd. gibûro „der zum Hause gehört“, ursprünglich Ansiedler dieser Art oder Freie im Auge hat, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls wird bûr durch das Hildebrandlied (v. 21 prut in bure) und das Beowulflied (v. 1310 und öfter) als Herrensitz erwiesen, der Name der Königspfalz Tribur („Dreihöfe“) bestätigt dies, und im angelsächsischen England ist der gebur, obwohl frei, ungünstiger gestellt als der geneat.11 Andererseits unterliegt es keinem Zweifel, daß in althochdeutscher Zeit der gibûro einfach den vicinus oder civis bezeichnet, d. h. den Angehörigen eines Siedelverbandes, der zugleich ein Rechtsverband ist, daß das Wort also eine rein genossenschaftliche Bedeutung gewonnen hat. Auch über Frau und Kinder hat der Hausherr eine Zuchtgewalt, ja sogar das Recht, im Falle äußerster Not sie zu verkaufen. Vor allem kommt ihm das Recht zu, alle Hausgenossen, Freie wie Unfreie, zur Fehde aufzubieten, nicht nur im Falle der Blutrache. Die Hausgewalt ist ferner immer zugleich Schutzgewalt. Der Hausherr gewährt den Hausgenossen nicht nur den angemessenen Lebensunterhalt, als ihr hlaford („Brotwart“), wie es im Angelsächsischen heißt, sondern er vertritt sie vor Gericht, schützt sie in ihrem Rechte gegen Angriffe von außen und haftet für alles, was sie in seinem Auftrage vornehmen, teilweise auch für ohne seinen Willen begangene Taten. Die hausherrliche Gewalt heißt munt, der Hausherr als ihr Träger z. B. im Heliand mundboro, im angelsächsischen Bereich mundbora. Sie geht weit über die bloße Verwandtenschutzpflicht hinaus, weil sie sich auf nicht voll rechtsfähige Personen erstreckt; sie entstammt also nicht dem Bereiche der Sippe. Die Wörter hûshêrro und munthêrro sind, wie gesagt, erst spät belegt. Vorher taucht als althochdeutsche Entsprechung für lat. pater familias fater hiuuuiskes12 auf, wobei wohl das lateinische Vorbild von Einfluß ist. Immerhin begegnet uns in hîwisk ein |231| Wort, das die Hausgemeinschaft in einem weiteren Sinne, wie lat. familia, bezeichnet haben dürfte. In ahd. Glossen übersetzt es sowohl domus wie clientela. Der

9 Germ. 25. 10 Hist. 5, 23. 11 F. Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen II 2 (1922), S. 297 ff. Art. „Bauer“. 12 Zu vergleichen ist ags. hyredes hlaford, Guntermann S. 55 Anm. 2, sowie Heliand v. 3254, 5030 hîuuiskes hêrost, doch ist näherliegend, daß damit ein Hausamt gemeint ist, dem maior domus vergleichbar. Besonders aufschlußreich ist v. 3070, wo zum hêlag hûs godes das hîwiski sâlig gehört. Umschrieben wird der Begriff der ecclesia.

184

Walter Schlesinger

erste Bestandteil ist zu stellen zu ahd. hîwon „Hausgenossen, Gesinde“, ags. hired „familia“ und hid „Hufe“. Der enge Zusammenhang dieser Begriffe mit dem Hause wird deutlich. Vielleicht gehört hierher auch das Wort heim, das als Grundwort von Ortsnamen so häufig entgegentritt. Es würde dann jenes Dorf bezeichnen, das aus dem Hause hervorgegangen ist und von dem oben die Rede war. Zu vergleichen sind die mit den Namen der im Prolog der Lex Salica genannten rechtskundigen proceres gebildeten Ortsnamen auf heim. Wie entsteht Herrschaft über Freie? Die Frage zielt auf die Entstehung des „Staates“ bei den Germanen, eines der „größten Rätsel der frühesten Verfassungsgeschichte“13. Wir versuchen eine Teilantwort, indem wir nicht von der Sippe ausgehen14, sondern vom Hause. Wir fragen also: wie kommt es zur Ausdehnung der hausherrlichen Munt auch über Freie, die ursprünglich nicht zum Hause gehören? Sofern Freie den Schutz eines Hausherrn suchten, begaben sie sich eines Teils ihrer rechtlichen Handlungsfreiheit und wurden damit muntbedürftig. Wir erläutern dies an einem Beispiel, das wiederum nur eine, freilich außerordentlich bedeutsame Möglichkeit herausgreift. Der freie Germane kannte in alter Zeit keine Wehrpflicht im Sinne der allgemeinen Wehrpflicht des modernen Staates. Fiel der Feind ins Land, so war es für jeden Waffenfähigen Selbstverständlichkeit, ihn abwehren zu helfen, es war dies weniger eine Pflicht als ein Recht. Die Verpflichtung aber, einem Aufgebot zu folgen, bestand im allgemeinen nicht, sie galt nur im Falle des sakralen Krieges15, auch dann aber, wie Tac. Germ. 7 erkennen läßt, nicht auf Befehl des Heerführers, dem eine dem römischen imperium vergleichbare Gewalt nicht zukam, sondern velut Deo imperante, quem adesse bellantibus credunt, und sie galt weiterhin für denjenigen, der sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befand. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis entstand aber schon dann, wenn die Umwohner im Falle der Not die schützende Burg eines |232| mächtigen Herrn aufzusuchen pflegten16. Wallburgen in nicht geringer Zahl hat die Spatenforschung aus germanischer Zeit feststellen können; andere kleinere befestigte Herrensitze werden noch unentdeckt sein, da sie immer wieder überbaut wurden. Als Zufluchtsstätten im Falle der Not sind diese Burgen seit taciteischer Zeit bezeugt (Ann. I 57). Die Schutzsuchenden übernahmen gleichzeitig die Verpflichtung, die Burg oder den festen Sitz instandzuhalten und sie

13 H. Mitteis, Staatliche Konzentrationsbewegungen im großgermanischen Raum. Festschrift Adolf Zycha (1941), S. 58. 14 So Mitteis a. a. O. 15 Ein nicht sakraler Krieg war z. B. der des Arminius gegen Germanicus im Jahre 15. Nur die Anhänger des Arminius und auswärtige Bundesgenossen tun mit, die des Segest beteiligen sich nicht, und es wird besonders hervorgehoben, daß Inguiomerus für den Krieg gewonnen werden konnte. Tac. Ann. I 59 f., 55. 16 Zum Folgenden: H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. H. Jb. 61 (1941), S. 1 ff.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

185

zu verteidigen, sie konnten nunmehr zu ihrer Instandhaltung und Verteidigung aufgeboten werden. Vorgänge dieser Art sind uns, soviel ich sehe, in den Quellen der Frühzeit zwar nicht überliefert, sie müssen aber vorausgesetzt werden, da das auch in der schriftlichen Überlieferung klar bezeugte germanische Burgenwesen sonst unverständlich bleibt. Dieses Burgenwesen tritt uns mit besonderer Deutlichkeit in einer Quelle entgegen, in der Aufschluß zu finden man nicht erwarten wird: in der altsächsischen Genesis. Bei der Schilderung der Zerstörung von Sodom und Gomorrha (v. 739 ff.) nimmt sich der Dichter weitgehende Freiheit, gemessen am Text der Bibel. Offensichtlich hat er einheimische Verhältnisse im Auge. Es ist nicht die Rede allein von der Zerstörung der Stadt Sodom, sondern zerstört wird Sodomaland, wofür es auch Sodomarîki heißt. Hauptort des Landes ist Sodomaburg, ein befestigter Platz mit mindestens einem Tor. Die Bewohner des Landes sind die Sodomoliudi oder die Sodomothiod, und für die Gerechten unter ihnen bittet Abraham, daß sie im Lande sitzen bleiben dürfen und bûan an them burugium, bei den Burgen wohnen, deren es also außer der Hauptburg Sodom noch andere gibt. Bei den Burgen befinden sich die Wike, die Wohnplätze, und der Ausdruck brêd burugugisetu, ein kollektiver Plural, bezeichnet wohl den Gesamtkomplex solcher Burgsiedlung17. Mag nun das Gedicht Zustände Sachsens erst für das 9. Jh. schildern, so ergibt doch der Vergleich mit England, daß sie ganz wesentlich älter sein müssen. Hier treffen wir nämlich in den historischen Quellen im engeren Sinne eine Ordnung an, die der in der sächsischen Genesis geschilderten durchaus gleicht. In Kent wohnen die Cantwara (der zweite Bestandteil gleicht dem ersten im Worte Wergeld, also die „Kentmänner“), ihr Gebiet heißt Centland, auch Centrice, und der Mittelpunkt der Landschaft heißt Cantwarabyrig, |233| Canterbury. Die Siedlung bei dieser Burg wird als port bezeichnet, mit einem Worte, das in England nachweislich älteres wic verdrängt hat.18 Gleicht die angelsächsische Ordnung der sächsischen, so gelangen wir in die Zeit vor der Trennung der Angelsachsen von den Altsachsen, und hierzu paßt gut, daß schon das Beowulflied (v. 53) ebenso eine Vielzahl von Burgen im Lande voraussetzt wie der Heliand (v. 1203, 2825); hier erscheinen auch im Zusammenhang mit ihnen wiederum die Wike (v. 2827). Aber auch im außersächsischen Deutschland scheinen die Verhältnisse ähnlich gewesen zu sein: Die Bewohner des Grabfeldes heißen im 8. und 9. Jh. Graffelti und Grapheldi, der erst 812 erwähnte Grabfeldono burgus muß einmal ihre Hauptburg gewesen sein19. Bardowiek war der Hauptort des Bardengaus, der seinen Namen von den Langobarden trägt; berücksichtigt man, daß London in alter Zeit sowohl Lundenburg wie Lundenwic heißt und daß

17 Ich weiß nicht, ob man den Ausdruck in Zusammenhang bringen darf mit einer Stelle in einem angelsächsischen Gesetz des 7. Jhs.: XII hida gesettes landes, wo die Bedeutung doch wohl „(mit Bauern) besetztes Land“ ist. Liebermann I S. 118, § 64. 18 Der portgerefa von Landon heißt zunächst wicgerefa. Liebermann I S. 11, § 16 und 16,2. 19 Belege bei E. Förstermann, Altdeutsches Namenbuch II I (3. Aufl. 1913), Sp. 1087 f.

186

Walter Schlesinger

für Hamburg einmal der Name Hamwig auftaucht20, so könnte hier wohl ursprünglich eine Bardenburg gestanden haben21. Diese Burgen waren nach dem Heliand Herrenburgen, da sowohl Salomo wie Herodes als burges uuard auftreten (v. 1674, 2772), was durch in den historischen Quellen überlieferte, mit Personennamen gebildete Namen sächsischer Burgen wie Brunsburg oder die Hiltifridesburg der Hamelburger Markbeschreibung usw. bestätigt wird. Daß die germanischen Burgen ausschließlich Herrenburgen gewesen seien, soll damit nicht behauptet werden; doch sind neben Volksburgen auch Herrenburgen schon von Tacitus einwandfrei bezeugt, so die des Segest und des Vannius (Ann. I 57; XII 29. 30). Eine scharfe Trennung von „Gebieterburg“ und „Fluchtburg“ ist im germanischen Bereich schwerlich aufrechtzuerhalten. Das Wort burges uuard wird im Heliand variiert durch folctogo (v. 5407 f.); Befehlshaber der Burg und Führer des Volkes sind also identisch. Der König als burges uuard (v. 1674) hat alles theses landes geuuald inne (v. 1678). Man wird, den Sprung über die Jahrhunderte wagend, hierzu die Burg des Marbod stellen können, von der Tacitus berichtet22. Es |234| wird verständlich, wie von den Burgen aus die Herrschaft des in oder neben der Burg gesessenen Herrn sich über die freie Bevölkerung schon in alter Zeit ausdehnte. Als Munt im strengen Sinne wird man sie nicht mehr bezeichnen können, aber daß sie aus der hausherrlichen Muntgewalt abgeleitet oder mindestens in Analogie zu ihr gestaltet wurde, ist wohl offensichtlich23. Die Gebotsgewalt des Burgherrn, später als „Burgbann“ bezeichnet, wie dies in Corvey, Gandersheim, Seeburg, Greene und Magdeburg, aber auch am Mittelrhein überliefert ist24, ist eine „Abspaltung“ der hausherrlichen Munt. Die Burg gilt als Haus des Herrn, auch wenn er sie nicht dauernd bewohnt, und demgemäß heißt bei den Angelsachsen das Haus des Herrn Burg, niemals aber das Haus des Bauern25.

20 Nithard IV 3. Es ist nicht völlig sicher, daß beide Namen identisch sind. 21 Auf sprachliche Schwierigkeiten stößt dagegen der Zusammenhang von Hosgau, Hochseeburg und den 852 bezeugten Hosingi. Die den Gaunamen betreffenden Darlegungen von R. Holtzmann, Sachsen und Anhalt 3 (1927), S. 76 halten schwerlich Stich. 22 Ann. II 62. Bei ihr muß eine stadtähnliche Siedlung vorhanden gewesen sein. 23 A. Waas, Herrschaft und Staat im deutschen Frühmittelalter (1938), versucht die Gesamtstruktur des frühmittelalterlichen deutschen Staates aus dem „Muntrecht“ abzuleiten. Auch wenn sich dies nicht halten läßt, darf doch nicht verkannt werden, daß dieser erste Versuch einer neuartigen Gesamtanschauung der frühmittelalterlichen Verfassungsgeschichte die Forschung ungemein befruchtet hat. Zur Munt vgl. E. Molitor, ZRG Germ. Abt. 64 (1944), S. 112 ff. 24 DO I 27 (burgban), 300 (bannum … in urbe M. et opus constuendae urbis a circummanentibus illarium patrium incolis), DO II 214 (burgban). F. Beyerle, Zur Wehrverfassung des Hochmittelalters. Festschrift Ernst Mayer (1932), S. 31 ff. Hier tritt freilich die befestigte Stadt an die Stelle der Burg, und das Wort Burgbann hat seinen Sinn gewandelt: es bezeichnet in Mainz den Stadtbann (wie in Köln). Magdeburg zeigt den Übergang von der Burg zur Stadt. Über Burg und Stadt werde ich mich an anderer Stelle äußern. Nicht auf Burgenbau, sondern auf den Bau der Königshalle bezieht sich weorc gebannan Beow. 74. 25 Liebermann, II 2, S. 330, Art. „Burg“.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

187

Unrichtig wäre es zu sagen, die Schutzholden seien durch Unterwerfung unter solche Gewalt in ihrem freien Stande gemindert gewesen. Schutzabhängigkeit konnte zwar zur Freiheitsminderung führen, mußte es aber nicht. Frei sein heißt nicht, in jeder Hinsicht volle Handlungsfreiheit haben. Frau und Kinder waren ständisch zweifellos nicht minder frei als der Hausvater, obwohl gerade sie in erster Linie dessen Munt unterworfen waren. So bedeutet Eintritt in die Munt nicht ohne weiteres Minderung der Freiheit. Wohl aber gilt der Grundsatz, daß Minderung der Pflichten auch Minderung der Rechte mit sich bringt. In dem verschiedenen Maße, in dem einer an den Aufgaben, die die Gemeinschaft stellt, tatkräftig Anteil nimmt, genießt er auch ein verschiedenes Recht. Wir stehen hier an dem Punkte, wo Macht und Recht sich auf das engste berühren. Deutlich wird jedenfalls die Möglichkeit der Entstehung von Herrschaft über Freie, mag sie nun aus freiwilliger |235| Unterordnung oder aus dem Druck des Mächtigen auf weniger Mächtige erwachsen. Ohne Zweifel war die Fähigkeit, Herrschaft auch über Freie auszuüben, in späterer Zeit eines der wichtigsten Kennzeichen des Adels. Auf freiwilliger Unterordnung Freier unter einen Herrn zu kriegerischem Zweck beruht die Gefolgschaft. Gefolgschaftsverhältnisse können in sehr verschiedener Form entgegentreten; Waitz hat den Begriff sehr viel enger gefaßt als Brunner. Unter Gefolgschaft wird im folgenden ein Verhältnis zwischen Herrn und Mann verstanden, das freiwillig eingegangen wird, auf Treue gegründet ist und den Mann zu Rat und (kriegerischer) Hilfe, den Herrn zu Schutz und „Milde“ verpflichtet. Es entstand nicht ein Verhältnis des Vorgesetzten zum Untergebenen, das Gehorsam erforderte. Gehorsam kannte der freie Germane nicht, am wenigsten unbedingten Gehorsam. Was Führer und Gefolgsmann fester verkettete als er, war das Band der Freundschaft und der Treue. In späterer Zeit schwört der Gefolgsmann dem Herrn trustem et fidelitatem, Trost, d. h. Hilfe, und Treue. Treue ist ein wechselseitiges Verhältnis; nicht nur der Mann war sie dem Herrn schuldig, sondern auch der Herr dem Mann. Zu verlangen, was gegen das Recht war, und sei darunter auch nur das subjektive Recht des Gefolgsmanns zu verstehen, stand dem Herrn nicht zu. Tat er es trotzdem, so konnte er auf Ausführung seines Verlangens nicht rechnen. Der Mann war stets ebenso frei in seinen Entschlüssen wie der Herr; nicht was dieser verlangte, hatte er zu tun, sondern was nach seiner Überzeugung das Richtige war. Es ist daher vielfach bezeugt, daß der Gefolgsherr die Mannen um Rat fragt und diesem Rat auch gegen seine ursprüngliche Ansicht folgt. Begründet wurde das Gefolgschaftsverhältnis durch den Treueid, der bereits in altgermanischer Zeit bezeugt ist26. Der Gefolgsmann unterstellte sich damit dem Schutz des Herrn, er trat gleichsam in sein Haus ein und wurde sein Tischgenosse. Zumeist sind es junge Leute, die in die von Tacitus Germ. c. 13–15 geschilderte Gefolgschaft eintreten, die aber nicht die einzige mögliche Form der Gefolgschaft war,

26 Tac. Germ. 14 und deutlicher Hist. IV 15.

188

Walter Schlesinger

wie zu zeigen sein wird. Im Anschluß an die Schilderung der Wehrhaftmachung der Jünglinge spricht er von der Gefolgschaft, und ausdrücklich heißt es, eine Schar auserlesener iuvenes verleihe dem Führer Würde und Macht. Im Heliand ist demgemäß jungiro27, der „Jüngere“, eine Bezeich|236|nung für den Gefolgsmann, sie steht im Gegensatz zu hêrro, dem „Älteren“. In der ags. Übersetzung der altsächsischen Genesis bezeichnet geongordôm den Gefolgschaftsdienst. Doch ist jungiro wie hêrro wohl eine verhältnismäßig junge Bildung, beide Wörter entstanden vielleicht nach dem Vorbilde von lat. iunior und senior28. Es waren teilweise sogar Kinder, die in dieser Weise in das Haus des Gefolgsherrn eintraten: mit sieben Jahren kam Beowulf an den Hof des Königs Hrethel29. Das Wort „Degen“, das ebenfalls den Gefolgsmann bezeichnet, hängt etymologisch zusammen mit gr. τέχνον „Kind“. Mit dem Eintritt in das Haus des Gefolgsherrn unterstellte sich der Jüngling der hausherrlichen Munt, aus der er erst mit der Waffenprobe ausschied. Denn durch eine Waffentat hatte der in die Gefolgschaft Aufgenommene seine Tüchtigkeit zu erweisen. Nunmehr wurde er in den Kreis der bewährten Krieger aufgenommen; der Herr verlieh ihm Waffen und Roß, auch Kleidung und vor allem Ringe, die in der Heldendichtung eine große Rolle spielen. Mit diesen Gaben ging nach germanischer Vorstellung anscheinend das Heil des Herrn auf den Beschenkten über. Tacitus spricht von Abstufungen innerhalb der Gefolgschaft. In der Hauptsache wird sie sich in Jungmannschaft und den Kreis der bewährten Krieger (robustiores ac iam pridem probati) gegliedert haben. Im Beowulf entspricht dem die Scheidung von geogudh und dugudh, Jugend und Tugend. Groß sei der Eifer der Mannen, berichtet Tacitus weiter, den ersten Platz neben dem Herrn zu erringen. Dieser Gefolgschaftsälteste steht im Mittelpunkt vieler Heldenlieder, wir denken an Hildebrand, Hagen, Wate. Eine Lösung des Gefolgschaftsverhältnisses war jederzeit möglich, doch hätte es dem Gebote der Ehre widersprochen, den Herrn vor dem Kampfe oder im Unglück zu verlassen. Unter sich bildeten die Gefolgsleute eine festgeschlossene Genossenschaft und waren sich gegenseitig zu Rat und Hilfe ver|237|pflichtet. Sie heißen wie die Sippegenossen Freunde; hierher gehört das Wort nôtfriunt, Kampffreund. Wiederum das

27 Zu jungiro vgl. F. Kauffmann, Zs. f. Dt. Phil. 32 (1901), S. 250 ff. Welchem Bereiche auch immer das Wort entstammen mag, so steht es doch außer Zweifel, daß es eine stark gefolgschaftliche Färbung gewonnen hat. Die Bedeutung des gefolgschaftlichen Denkens wird eher noch unterstrichen, wenn das Wort ursprünglich mit ihr nichts zu tun gehabt hat. Vgl. auch Schönbach, Zs. f. dt. Altertum 40 (1896), S. 122 über den Gebrauch bei Otfrid. 28 Das Verhältnis von hêrro und senior wird eine Untersuchung von K. J. Northcott, London, zu klären suchen. 29 Hierzu ist wohl zu stellen Tac. Germ. 13 insignis nobilitas aut magna patrum merita principis dignationem etiam adulescentulis adsignant. Die alte Streitfrage, ob dignatio „Würde“ oder „Wertschätzung“ heißt, ist aus dem Text allein nicht zu entscheiden. Für die erste Bedeutung neuerdings vor allem Dannenbauer a. a. O. S. 11 und, ihm folgend, H. Mitteis, Festschr. Fritz Schulz (1951), S. 230. Die Gegengründe bei R. Much, Die Germania des Tacitus (1937), S. 154 f.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

189

Beowulflied überliefert Bezeichnungen wie maguthegnas und sogar magas für die Gefolgsleute (v. 1015), für die Gefolgschaft das Wort sibbegedryht (v. 3, 87, 729). Die Bindung der Gefolgsleute untereinander scheint also der sippschaftlichen Bindung nachgebildet zu sein. Dem entspricht, daß Tötung eines Mitgliedes die Rache der Gefolgschaft hervorruft. Auch eine Fehde zwischen Angehörigen derselben Gefolgschaft ist wie zwischen Sippegenossen ausgeschlossen, Streitigkeiten schlichtet der Herr. Jeder freie Germane war zu Haltung eines Gefolges berechtigt, sofern er genügend Ansehen genoß, um Gefolgsleute zu finden und die Mittel hatte, sie zu unterhalten und zu beschenken. Gefolgsherren waren die bei Cäsar wie bei Tacitus genannten principes, deren deutsche Bezeichnung wir nicht kennen. In späterer Zeit entspricht dem lat. princeps ahd. furisto und hêrôsto, auch hêrro. Zu denken ist aber für die alte Zeit vor allem an das Wort truhtîn, das, wie wir sahen, ursprünglich den Gefolgsherrn bezeichnet; eben diese spezielle Bedeutung hat princeps bei Tacitus (Germ. 13.14)30. In seltsamer Verkennung der Dinge hat man in diesen principes „Fürsten“ gesehen, die als „Beamte“ gewählt wurden31. Auszugehen ist von der Bedeutung, die das Wort princeps in Rom zur Zeit des Tacitus hatte, denn den Römern wollte er doch die Stellung dieser germanischen Gefolgsherren verdeutlichen. In Rom bedeutet princeps den Angesehensten, Vornehmsten, der durch Autorität hervorragt, gerade nicht durch ein Amt, wie vor allem |238| das Beispiel des Augustus deutlich macht, der sich princeps nannte, um zu erweisen, daß er nur durch Ansehen und Autorität, nicht durch Ämter oder gar als Monarch die anderen überragte. Wenn es Tac. Germ. 12 heißt: eliguntur in iisdem conciliis et principes, qui iura per pagos vicosque reddunt, so kann dies doch nicht heißen, daß die principes schlechthin gewählt wurden, sondern nur diejenigen principes wurden ausgewählt, die im Lande Recht sprachen. Nur den principes kam offenbar das Recht zu, den Vorsitz im Gericht zu führen, wie ja auch Cäsar (6,23) bereits berichtet, daß in Friedenszeiten die principes regionum atque pagorum unter ihren Leuten (inter suos) Recht sprechen und Streitigkeiten schlichten.

30 Es ist lehrreich, daß in der ags. Übersetzung der Kirchengeschichte Bedas lat. princeps je nach dem sachlichen Zusammenhang mit casere, cyning oder ealdorman übersetzt wird. Vgl. R. Drögereit, ZRG Germ. Abt. 69 (1952), S. 51. Bedas princeps hatte also eine umfassende Bedeutung, für die ein angelsächsisches Wort vorhanden gewesen sein muß, vermutlich dryhten; doch wurde schon seit dem 8. Jh. die Anwendung des Wortes auf Gott beschränkt. Es konnte also im 9. Jh. princeps nicht mehr übersetzen. Zum Übersetzungsproblem, das in der frühmittelalterlichen Verfassungsgeschichte von grundlegender Wichtigkeit ist, vgl. W. Stach, Wort und Bedeutung im mittelalterlichen Latein. DA 9 (1952), S. 332 ff. Eine Auseinandersetzung mit den im höchsten Grade fruchtbaren Gedanken dieses Aufsatzes, dem ich gleichwohl nicht in allem zustimmen kann, stelle ich zurück, da eine größere Arbeit Stachs zum gleichen Problemkreis in Aussicht gestellt ist. 31 Dagegen Dannenbauer a. a. O. S. 10 und, ihm folgend, Mitteis, Festschr. Fritz Schulz S. 228 ff. Ähnliche Gedanken äußerte Johannes Haller schon 1928 in Tübingen im verfassungsgeschichtlichen Kolleg.

190

Walter Schlesinger

Magistratus gibt es nur im Kriege32. Gerichtsbarkeit ist ein Vorrecht der principes. Der Nachdruck ist nicht darauf zu legen, daß die Richter gewählt werden, sondern darauf, daß nur principes zu Richtern gewählt werden. Diese principes empfangen von den Angehörigen der Stämme freiwillige Geschenke, und zwar von jedem einzelnen (viritim). In der Volksversammlung sind sie die maßgebenden Leute: über weniger wichtige Dinge beschließen sie überhaupt allein, die wichtigeren aber beraten sie zunächst unter sich, um sie dann der Volksversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen, der somit nur Annahme oder Ablehnung bleibt. Der Kreis der principes ist wohl noch nicht fest geschlossen gewesen. Zwar spielt die edle Geburt gewiß eine Rolle. Ein Geblütsadel war vorhanden, auf Grund edlen Blutes wird man zum Königtum berufen (reges ex nobilitate sumunt Germ. 7). Schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert werden bei den Bastarnen nobiles iuvenes et regii quidem generis genannt33. Soweit wir über ihre Herkunft unterrichtet sind, entstammen die principes edlen Geschlechtern. Auch Tacitus spricht von nobiles, die mit den principes identisch zu sein scheinen34, wählt aber mitunter auch den weit unbestimmteren Ausdruck proceres35. Wenn die Heerführer ex virtute bestellt wurden (Germ. 7), so muß auch ihnen Rang und Ansehen eines princeps zugemessen worden sein, und dies ohne Rücksicht auf edle Geburt, wie der Gegensatz zu ex nobilitate deutlich macht. Wir stoßen auf einen urtümlichen Adel, dem man nicht nur durch Geburt angehört, sondern in den man durch Verdienst aufsteigen kann. Hervorragende Leistung qualifiziert nicht nur die Person, sondern vererbt sich: auch große Ver|239|dienste der Väter machen den jungen Mann der dignatio teilhaftig, das Verdienst des Vaters adelt auch den Sohn (Germ 13). Diese Anschauung hängt wohl mit dem Glauben an das Sippenheil zusammen und ist eine der Wurzeln der in vielen späteren Quellen bezeugten Erblichkeit der Königswürde. Allmähliche rechtliche Festigung, d. h. ständischer Abschluß des Adels, dürfte noch vor Beginn der Völkerwanderungszeit eingetreten sein. Alles in allem also ein Herrenstand, zu dessen auszeichnenden Momenten die Gefolgschaft gehört: magnaque … aemulatio … principum, cui plurimi et acerrimi comites. Haec dignitas, hae vires, magno semper et electorum iuvenum globo circumdari, in pace decus, in bello praesidium. Die Herrengewalt des germanischen Altertums ist, soweit sie über bloße Hausherrschaft hinausgeht, Gefolgsherrschaft, die ihrerseits mit der Hausherrschaft in engem Zusammenhang steht, in gewisser Weise sogar aus ihr erwächst. Daß Gefolgschaft ursprünglich Hausgenossenschaft war, bezeugt das Beowulflied mehrfach (v. 81, 88 ff., 99, 117 usw.). Es handelt sich dabei um die Gefolgschaft des Königs Hrothgar. Man kann aber das Verhältnis von Haus und Gefolgschaft auch von einem

32 Das ist zu berücksichtigen bei der Interpretation der vielumstrittenen agrargeschichtlichen Stelle 6, 23. 33 Livius 45, 5, 10. 34 Etwa im Vergleich von Germ. 38 mit 25, doch ist dies nicht zwingend. 35 z. B. Ann. I 55.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

191

ganz anderen Gesichtspunkt aus betrachten. Es ist sehr zweifelhaft, ob wir in der Frühzeit einen umfassenden Stammes- oder Volksfrieden voraussetzen dürfen. Die nordischen Quellen berichten es anders. Hier mußte das Verhältnis des Hausherrn zu den Hausgenossen schon durch die unaufhörlichen Sippenfehden, durch Rache- und Beutezüge etwas vom kriegerischen Charakter der Gefolgschaft bekommen. Ein so ausgezeichneter Kenner der nordischen Überlieferung wie Hans Kuhn erblickt daher im großbäuerlichen Gesinde eine Wurzel des Gefolgschaftswesens36. Nun kann man gewiß die besonderen Verhältnisse Islands nur mit großer Vorsicht verallgemeinern. Aber die Schilderung, die Tacitus von den Zuständen bei den Cheruskern gibt (amissis per interna bella nobilibus et uno reliquo stirpis regiae, qui apud urbem habebatur)37, spricht nicht für Volksfrieden, und die so breit ausgeführten Bußtaxen der sog. Volksrechte gewähren Einblick in Zustände, die denen des Nordens geähnelt haben müssen. Nicht zuletzt stellt die Bedeutung der Fehde noch in der Volksverfassung einer sehr viel späteren Zeit38 einen Volksfrieden der Frühzeit in Frage. Hätte er je bestanden, so wäre er wohl in der von dauerndem Kampf erfüllten Wanderzeit |240| ohnehin zugrunde gegangen39. So spricht alles dafür, daß nicht nur die von Tacitus geschilderte „adlige“ Gefolgschaft, sondern unterhalb davon auch ein großbäuerliches Gefolgschaftswesen bestanden hat, daß im Grunde der ganze Stamm oder, wenn man lieber will, das ganze Volk gefolgschaftlich gegliedert war. Gerade im bäuerlichen Bereich hat sich das Wort Gesinde, das ursprünglich die Gefolgschaft bezeichnet, erhalten, und da es die „Weggenossen“ bedeutet, wird die unfriedliche Wurzel erkennbar. Neben das landlose Gesinde im engeren Sinne wird man freilich schon frühzeitig abhängige Kleinbauern zu stellen haben, mögen dies nun abgeschichtete Unfreie oder Freie sein, die unter die Munt des Großbauern getreten sind. So trägt noch das Verhältnis des isländischen Goden zu seinen Dingmännern deutlich gefolgschaftliche Züge an sich40. Auch in Sachsen, das germanische Zustände in verhältnismäßiger Reinheit bewahrt hat und wo beim Stellingaaufstand des 9. Jhs. die nobiles ganz allgemein als die domini der liberi erscheinen, hat Erich Molitor ein bäuerliches Gefolgschaftswesen beobachten können41. Auf die gefolgschaftliche Gestaltung der Hausherrschaft weist schließlich hin, daß gefolgschaftliche Gedanken sogar im Eherecht zum Ausdruck kommen: die Ehefrau erscheint als die „durch das Gefolgschaftsband mit ihrem Manne verbundene Gefährtin.“42 Es nimmt nicht wunder, daß die Herrschaft des Herrn über die Bauern in späterer Zeit nicht einseitig nach dem Willen des Herrn ausgerichtet, sondern ein

36 Germanische Altertumskunde, hrsg. H. Schneider (2. Aufl. 1951), S. 101. 37 Ann. XI 16. 38 Vgl. vor allem O. Brunner, Land und Herrschaft (3. Aufl. 1943). 39 Auch Mitteis, Festschr. Zycha S. 59 nennt als einzigen Friedensverband die Sippe. 40 F. Boden, Die isländische Regierungsgewalt in der freistaatlichen Zeit (1905). 41 ZRG Germ. Abt. 64 (1944), S. 136. Nithard IV 2, hrsg. Müller S. 41 f. 42 A. Schultze, Über westgotisch-spanisches Eherecht. SB. Leipzig 95 (1943), Heft 4 (1944), S. 51, 63.

192

Walter Schlesinger

„vertragsähnlicher Rechtszustand“ ist, wie mit Recht hervorgehoben worden ist43; es entspricht dies durchaus dem Wesen der Gefolgschaft. Wie sehr die Wanderzeit eine Blüte des Gefolgschaftswesens herbeiführen mußte, liegt auf der Hand. In der germanischen Heldendichtung hat sie ihren Niederschlag gefunden, freilich nur im Hinblick auf die adlige Gefolgschaft. Diese Dichtung war ausgesprochene Adelsdichtung. Einblick in den Lebenskreis des Bauern kann man hier nicht erwarten. Stoffgebunden ist auch die geistliche Dichtung, die zudem einer späteren Zeit angehört; aber |241| immerhin zeigt hier die Wortwahl, die in erstaunlichem Maße Ausdrücke des Gefolgschaftswesens aufgreift, in welchem Maße dieses die gesamte Volksordnung durchdrang44. In der Wanderzeit kommt eine besondere Art der Gefolgschaft zum Zuge, die uns bereits Cäsar schildert45, der bekanntlich weniger die seßhaften als die in Bewegung geratenen germanischen Stämme im Auge hat. Um eine Neubildung erst der Zeit, die wir mit dem Namen der „Völkerwanderung“ zu belegen pflegen, handelt es sich hier also nicht. In der Volksversammlung erklärt ein princeps, er wolle Führer eines Beutekrieges sein, wer ihm folgen wolle, möge sich melden. Die zur Teilnahme Bereiten tun dies, und damit bereits ist eine Treue-Verpflichtung eingegangen, denn wer nun zurücktritt, gilt als Deserteur und Verräter. Noch die Züge der Wikinger müssen in ähnlicher Weise vorbereitet worden sein. Was aber für den Beutekrieg gilt, muß auch für den Fall gegolten haben, daß sich ein Haufe um den Führer zum Zwecke der Landgewinnung in der Fremde sammelt, zu einem Unternehmen also, das auf dauernde Niederlassung zielt, bei dem Weiber und Kinder mitziehen und die Habe mitgeführt wird. In dieser Weise wird Ariovist den ursprünglichen Kern seiner Scharen zusammengebracht haben. Bei so weitgespannten Unternehmungen erfolgte freilich der Zulauf nicht nur von einem Kleinstamme und die Werbung nicht nur auf einer Volksversammlung. Nicht nur Einzelne schlossen sich an, sondern principes mit ihrem gesamten Gefolge, das sich um die für den besonderen Zweck Anschlußbereiten vermehrte. Freiwillig ordneten sie sich dem Führer unter, zu dessen Heil sie Vertrauen gefaßt hatten, so wie ihr eigenes Gefolge sich ihnen untergeordnet hatte. Dem Führer kam damit die Stellung eines Heerkönigs zu. Hatte das Unternehmen Erfolg, gelang die Niederlassung, die Reichsgründung, so entsteht aus dem Heerhaufen ein neuer Stamm, aus dem Heerkönig wird der Stammeskönig. Somit wurzelt auch die königliche Gewalt in der Gefolgsherrschaft. Besonders deutlich wird dies bei den Alemannen, die nach dem Berichte Ammians eine Vielzahl von reges, regales und reguli hatten, deren Herrschaft nicht anders als gefolgschaftlich begründet angesehen werden kann. Wendungen wie reges eorumque populi; omnis eius (sc. Gundomadi)

43 K. S. Bader, Staat und Bauerntum im deutschen Mittelalter. In: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, hrsg. Th. Mayer (1943). S. 119. 44 Die Anm. 2 zitierte Arbeit von Guntermann gibt wesentliches Material, ohne es nach jeder Richtung erschöpfend auszuwerten. 45 B.G. 6,23.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

193

populus; Vadomarii plebs; Alamannorum reges et populi, denen solche wie Hortarii regna und ähnliche zur Seite treten, sprechen eine deutliche Sprache46. |242| Recht aufschlußreich ist in diesem Zusammenhange, was wir über die Vorgänge beim Bataveraufstand des Jahres 69 wissen47. Auch Civilis, der einer stirps regia entstammte, hatte es auf Reichsgründung abgesehen, wenn auch nicht in der Form der Wanderung und Niederlassung in fremdem Gebiet. Grundlegend war eine Versammlung der primores gentis et promptissimi vulgi, denen „nach barbarischem Brauch“ ein Eidschwur abgenommen wurde, in dem man einen Gefolgschaftseid erblicken darf. Beteiligt waren von Anfang an mehrere Stämme, neben den Batavern die Canninefaten und Friesen, später auch Angehörige anderer Stämme. Bei den Canninefaten erfolgte die Wahl des Führers durch Schilderhebung, wie diese später bei der Königswahl üblich war; der Zusammenhang zwischen Königtum und Gefolgschaft wird deutlich. In der Schlacht wurde jeder Stamm gesondert aufgestellt, quo discreta virtus manifestius spectaretur, wie Tacitus meint48. Unter gemeinsamer Führung, die, wäre der Aufstand nicht schließlich gescheitert, gewiß zur Königsherrschaft ausgestaltet worden wäre, behalten die Stämme also doch ein Eigenleben, ganz so, wie wir dies später im fränkischen und im deutschen Reiche antreffen. So scheint es, daß die Personalität des Rechts bereits in dieser Zeit wurzelt. Lebendigen Einblick in den Gedankenkreis solcher gefolgschaftlicher Reichsgründung gewinnen wir wiederum in der altsächsischen Genesis, in dem Teile, der nur in angelsächsischer Übersetzung vorliegt. Hier wird der Abfall der Engel geschildert |243| (v. 246 ff.). Man kann nicht sagen, daß das Verhältnis der Engel zu Gott spezifisch gefolgschaftlich gedacht wäre, eher gleicht es dem des Hausherrn zu seinem Gesinde. Gleichwohl mißt sich der aufrührerische Luzifer mit Gott in Bezug auf die Gefolgschaft, es dünkt ihn, er besitze mehr an folcgestaelna als jener. Auch Gottvater, der König und himmlische Hausherr, ist also als Gefolgsherr gedacht. Worauf Luzifer seine Macht zu gründen gedenkt, legt er in einer Rede dar,

46 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Dissertation von A. Bauer, Gau und Grafschaft in Schwaben (1927). Hier werden auch bereits die alemannischen Huntaren und Baaren als Herrschaftsgebiete solcher Kleinkönige gedeutet, wie dies neuerdings H. Dannenbauer, H. Jb. 62/69 (1940), S. 177 ff. in größerem Zusammenhang wieder aufgenommen hat. – Es erscheint mir zweifelhaft, ob die reges, die Tac. Germ. 7 im Auge hat, mit den Königen der gentes quae regnantur und mit den reges der Völkerwanderungszeit verfassungsgeschichtlich völlig identisch sind. Die Frage bedarf gesonderter Untersuchung. Zu scheiden sind sakrales Stammeskönigtum und Heerkönigtum, das häufig Angehörige mehrerer Stämme umfaßte und zur Bildung neuer Stämme, wenn auch unter altem Namen, führte. Im Stamm werden rex und dux unterschieden, der Heerkönig dagegen ist rex und dux zugleich. Daß es weiträumige Herrschaft, die nur als Königsherrschaft in diesem Sinne verstanden werden kann, längst vor Tacitus gegeben hat, zeigen die germanischen „Königsgräber“ der vorgeschichtlichen Zeit, und auch zur Zeit des Tacitus selbst war die Königsherrschaft offenbar recht verschieden ausgestaltet. Vgl. dazu M. Lintzel, ZRG. Germ. Abt. 54 (1934). S. 227 ff. 47 Vgl. Tac. Hist. IV 12 ff. 48 IV 16–23.

194

Walter Schlesinger

die wegen ihrer Wichtigkeit hier wiedergegeben sei. Ein biblisches Vorbild hat sie nicht, hier konnte also der Dichter frei schalten. Hören wir ihn selbst: Hwaet sceal ic winnan ? cwaedh hê, nis mê wihtae thearf hearran tô habbanne: ic maeg mid handum swâ fela wundra gewyrcean; ic haebbe geweald micel tô gyrwanne gôdlecran stôl hearran on heofne. Hwý sceal ic aefter his kyldo theowian, bûgan him swilces geongordômes ? Ic maeg wesan god swâ hê. Bigstandadh mê strange geneatas, thâ ne willadh mê aet thâm strîdhe geswîcan, haeledhas heardmôde: hie habbadh mê tô hearran gecorene, rôfe rinkas: mid swilcum maeg man ráèdgethencean, fôn mid swilcum folcgesleallan: frýnd synd hie mîne georne, holde on hyra hygesceaftum. Ic maeg hyra hearra wesan, ráèdan on this rîce; swâ mê thaet wiht ne thincedh, that ic ôleccan âwiht thurfe gode aefter gôde áènegum: ne wille ic leng his geongra wurdhan49

Es geht um den stôl, den Hochsitz in der Halle des Hauses, den Thron, wie man in dieser Zeit wohl bereits sagen muß. Luzifer möchte selbst das Reich regieren (ráèdan on this rice), er hat es satt, |244| einen Herrn (hearran) zu haben, um dessen Huld (hyldo) er dienen muß. Mit geongordôm wird dieses Verhältnis der Unterordnung bezeichnet, Luzifer ist Gottes geongra. Er möchte aber selbst Herr sein (hearra wesan), der „Ältere“, nicht der „Jüngere“. Es wird nicht ausgesprochen, ist aber deutlich: er möchte an Stelle Gottes König werden. Diese Herrschaft nun, die er anstrebt, ist unzweideutig Gefolgsherrschaft. Sie stützt sich auf starke Gesellen, hartgemute Helden, berühmte Mannen, folcgesteallan, was mit „Volksgenossen“ nicht völlig sinngemäß wiedergegeben wird: es sind die Genossen des gefolgschaftlich

49 In der Übersetzung von Felix Genzmer: Warum soll ich mich plagen? sprach er. / Mir paßt es nicht, einen Herrn zu haben. / Ich kann mit meinen Händen nicht minder Wunder wirken. / Ich habe Gewalt genug, einen stattlicheren Stuhl / zu erstellen wohl, einen höheren im Himmel. / Warum soll ich um seine Huld dienen, ihm ergeben mich beugen? / Ich kann Gott sein wie er. Ich habe kühne Kraftgesellen. / Die werden im Kampf nicht versagen, hartgemute Helden; / die haben mich zum Herrn erkoren, berühmte Recken. / Mit solchen kann man Rat erdenken, ihn finden mit solchen Volksgenossen. / Freund sind sie mir gerne, hold in ihrem Herzensschrein. / Ich kann ihr Herrscher sein. dieses Reiches walten. / Drum dünkt es recht mich nicht, daß ich irgendwie / anflehen sollte Gott um Gut; / ich will nicht länger ihm ergeben sein.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

195

gegliederten Volkes, das mit dem Heer identisch ist, des oben erwähnten folcgestaelna. Sie sind seine Freunde (frynd), und sie sind ihm hold (holde): das Verhältnis der Huld, das Herrn und Mann verbindet, klingt an. Wie sie ihn im Kampfe nicht verlassen werden, so werden sie mit ihm Rat erdenken, also die beiden Grundpflichten des Gefolgsmannen, Rat und Hilfe, erfüllen. Diese Mannen haben Luzifer, und das ist wichtig, zum Herrn gewählt (tô hearran gecorene). Es bleibt dunkel, ob damit an eine Art Königs- oder Herzogswahl gedacht ist, vergleichbar dem Vorgang bei den Canninefaten, oder an einen einzelnen Akt mit bestimmter Zwecksetzung, wie er uns von Civilis überliefert ist, oder ob die Mannen sich als einzelne nach und nach der Gefolgschaft des Luzifer angeschlossen haben, denn auch dies kann im Altsächsischen kiosan te hêrron bedeuten (vgl. Heliand v. 1186 f., 1199)50. Es ist dies auch wenig wesentlich, es genügt uns zu wissen, daß auf Gefolgsleute sich stützte, wer auf Errichtung königlicher Herrschaft ausging, und daß diese Gefolgsleute die Hauptstütze |245| künftiger Macht waren, die einzige, die hier genannt wird. Man kann nicht daran zweifeln, daß das Emporkommen des Königtums bei den Germanen von Vorgängen ähnlicher Art begleitet war und durch kriegerische Auseinandersetzungen befördert wurde; die historischen Quellen lassen das klar erkennen. Wiederum berühren sich Macht und Recht auf das engste; entscheidend war der errungene Sieg. Mit jedem Sieg vermehrte sich nicht nur die Macht, sondern auch das Ansehen des Königs erheblich. Das Königsheil hatte sich nunmehr bewährt, die sakrale Weihe des Königtums wuchs in gleichem Maße wie seine äußere Macht. Ein schönes Zeugnis für diese Anschauung überliefert Widukind, der berichtet, nach errungenem Siege über die Thüringer hätten die Sachsen ausgerufen, ihrem Führer im Kampf müsse überirdische Tapferkeit und ein göttlicher Geist innewohnen51. Einem solchen Könige zu folgen, bedurfte es bei den Germanen keines Zwanges. Ihn hatten sie ja zum Gefolgsherrn erwählt, und zur Treue waren sie ihm verpflichtet. Als Gefolgsleute des Königs sind die principes der germanischen Zeit in den Reichen der Völkerwanderungszeit die

50 Die Stelle läßt mit aller Deutlichkeit erkennen, daß im Heliand das Verhältnis Christi zu seinen Jüngern in seiner äußeren Form gefolgschaftlich gedacht ist, was törichterweise mitunter geleugnet wird. Matthäus, Dienstmann (Amtsträger, ambahteo) und Gefolgsmann des Königs (the cuninges thegn), verläßt den Königsdienst und wählte sich Christus zum Gefolgsherrn (côs im … te hêrran, vgl. auch 3310), einen freigebigeren Schatzspender (milderan medhomgebon), als er bisher gehabt hatte. Auch die Gabe, die er nun empfängt, fehlt nicht, sie ist natürlich geistlicher Art. Da ward es den Mannen (liudiun) von allen Burgen kund, daß der Gottessohn Gefolgsleute sammelte (samnode gesîdhos). Dieses Sammeln von Gefolgsleuten scheint demnach dem Helianddichter durchaus geläufig zu sein. Anders verfuhr in der Vorstellung des Genesisdichters wohl auch Luzifer nicht, und das Gleiche gilt sicherlich für Civilis, der Vorgang in der Volksversammlung ist nur der abschließende Akt. Daß theologisch betrachtet das Verhältnis der Jünger zu Christus im Heliand sich nicht im Gefolgschaftlichen erschöpft, wird damit in keiner Weise bestritten. Dies war ja aber die Absicht des Dichters, seinen Landsleuten fremde Vorstellungen in heimischem Gewande nahezubringen. 51 Wid. I 12, hrsg. Hirsch-Lohmann S. 21. Zu vergleichen ist etwa Beowulf v. 64 ff. oder 859 ff.

196

Walter Schlesinger

nächsten am Throne geblieben. Mit der Macht des Königs wuchs auch ihre Macht; die viel besungene Freigebigkeit des Gefolgsherrn äußerte sich jetzt in großen, teilweise riesigen Landanweisungen, die sie ihrerseits wiederum ihren eigenen Gefolgsleuten, ihren Bauern zugute kommen ließen. Solche Landanweisung an den Gefolgsmann kennt bereits das Beowulflied (v. 2489, 2606 ff.)52. |246| So sind die Ansiedlungen, die Dörfer, wenigstens zum Teil von vornherein herrschaftlich gestaltet, vor allem auch deshalb, weil man mit dem Seßhaftbleiben unterworfener Bevölkerung stets rechnen muß. Daneben wird es Ansiedlungen von Bauern gegeben haben die ihr Land unmittelbar vom Könige empfingen, wie sie anscheinend tit. 45 der Lex Salica „De migrantibus“ im Auge hat. Wie die Verwandten sich im Kriege und auf der Wanderung natürlicherweise zusammengehalten hatten, so siedelten sie sich auch gemeinsam an.53 Aber auch die Gemeinschaft des Großbauern mit seinen Kleinbauern und dem Hofgesinde dürfte teilweise den Sturm der Wanderung überdauert haben. Sippe und „bäuerliches Wandergefolgschaftswesen“54 finden ihre Spiegelung im Siedlungswesen. Mit großer Mannigfaltigkeit ist zu rechnen55. Neben die aus dem Hause erwachsenen Dörfer treten in der Wanderzeit die sogleich als Gruppensiedlung angelegten. Die mit einem Personennamen gebildeten ingen-Orte lassen den Schluß zu, daß einer aus der Siedlergruppe herausragte. Auch hier ist also eine Wurzel der Dorfherrschaft gegeben. Sie trat dem genossenschaftlich gestalteten Verbande der Ansiedler, der Nachbarschaft, gegenüber. Der Großbauer wurde zum Herrn nur eines Dorfes; Herren über viele Dörfer wurden dagegen die unmittelbaren Gefolgsleute des Heerkönigs, die Nachkommen der principes des germanischen Altertums. Sie hatten ihrerseits wiederum Gefolgsleute, so daß sich ein stufenförmiger Aufbau der gefolgschaftlich gegliederten

52 Vgl. hierzu allgemein Brunner-v. Schwerin, RG II2, S. 350 ff. mit zahlreichen Belegen. Doch ist mir zweifelhaft, ob es sich empfiehlt, von „Abschichtung“ zu sprechen. Die Vorgänge bei der Reichsgründung Rollos in der Normandie zeigen vielmehr, daß die Landteilung unter die Gefolgsleute sogleich bei der Landnahme erfolgte und gleichsam ein Bestandteil der Reichsgründung ist: coepit metiri terram verbis suis comitibus atque largiri fidelibus … Illam terram suis fidelibus funiculo divisit. Vgl. kurz vorher Antequam dividatur terra meis principibus. Dudo von St. Quentin, hrsg. Lair, S. 171, 170. Es ist lehrreich, daß die normannischen Gefolgsleute (principes, comites, milites praecipui) ihren Gefolgsherrn als primus inter pares betrachten. Auf die Frage: Quo nomine vester senior fungitur? legt ihnen Dudo die Antwort in den Mund: Nullo, quia aequalis potestatis sumus (S. 154). Gleichwohl nennen sie ihn nostrum ducem (S. 164), und die Herzogsgewalt gewann bekanntlich bei den Normannen frühzeitig eine besonders starke Stellung. Vgl. hierzu D. Stichtenoth, Die Entstehung der normännischen Herzogsgewalt im 10. Jh. Diss. 1938. Über seine Ergebnisse ließe sich wohl noch hinauskommen. 53 Die Verbindung mâgo gisidli Heliand v. 3321 bezeichnet zwar nicht die „Sippensiedlung“, läßt aber doch den Schluß zu, daß die Sippenangehörigen nahe beieinander wohnten. 54 Der treffende Ausdruck stammt von A. Helbok, Volk und Staat der Germanen. HZ 154 (1936), S. 234. Anderen in diesem Aufsatz geäußerten Ansichten vermag ich nicht zuzustimmen. 55 Doch gehört hierher nicht eine immer wieder angeführte Libaniusstelle, vgl. W. Göz, Klio 17 (1921). S. 240.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

197

Volksordnung ergibt. Schon in taciteischer Zeit war dies so gewesen: cum manu clientium, worin man seine Gefolgschaft erblicken darf, unterstellte sich Inguiomerus dem Marbod, weil er es für unter seiner Würde hielt, sich dem weit jüngeren Arminius unterzuordnen56. Die Freiwilligkeit solcher Unterstellung unter die Herrschaft des aufsteigenden Königtums kommt dabei gut zum Ausdruck, und gleichzeitig wird sichtbar, daß die Gefolgschaft ein festerer Verband war als der Stamm. Die cheruskischen Gefolgsleute des Inguiomerus schlugen sich ohne Murren auf die Seite der Feinde des eigenen Stammes. |247| In späterer Zeit ist dieser stufenförmige Aufbau am klarsten im angelsächsischen England erkennbar57. Das Kleinkönigtum, das hier entstand, hat urtümliche Züge besser bewahrt als das festländische Großkönigtum, zumal in England mit dem Fortleben römischer Institutionen kaum gerechnet zu werden braucht. Unter den Königen standen hier gelegentlich Unterkönige (subreguli), wie sie für die Frühzeit auch für die festländischen Stämme bezeugt sind58. Ferner gab es in diesen Kleinkönigreichen eine große Anzahl sogenannter duces. Beda berichtet, daß Penda von Mercien nicht weniger als 30 duces regii zu Hilfe kamen59. Die Königsgefolgschaft behielt einen festumrissenen Platz im Verfassungsleben, und es ist deutlich, daß ihre Mitglieder wiederum über Gefolgsleute verfügten, wie dies bereits im Falle des Inguiomerus sich ergab. So heißt es in der Zeugenreihe einer Urkunde von 738: Hanc donationem meam ego Eadberth rex Cantuariorum propria manu confirmavi … testes quoque idoneos commites meos confirmare et subscribere feci. Es folgen Ego Vilbaldus commites meos confirmare et subscribere feci und sechs weitere Zeugnisse dieser Art60. Die Mitglieder der Königsgefolgschaft (gesithcund) finden wir im 7. Jh. im Besitze ausgedehnten Landbesitzes, den sie durch ihre Bauern bebauen lassen. Der Herrensitz heißt burh.61 Auch das bäuerliche Gefolgschaftswesen ist erhalten geblieben. Noch zur Zeit Alfreds haben eorl wie ceorl in gleicher Weise Leute unter sich, von denen sie Herrenverrat erleiden können. Der ceorl ist hlaford wie jener62. Man wird nicht fehlgehen, wenn man auf dem Festlande ursprünglich ähnliche Zustände voraussetzt. Mit dem Aufstieg des Königtums stieg auch der Adel auf; am deutlichsten erkennbar bei den Langobarden, deren duces als die unmittelbaren

56 Tac. Ann. II 45. 57 Zum Folgenden F. M. Stenton, Anglo-Saxon England (2. Aufl. 1950), S. 298 ff. Auf die grundlegende Bedeutung der Gefolgschaft ist auch hingewiesen bei R. G. Collingwood and J. U. L. Myres, Roman Britain and the English settlements (2. Aufl. 1937), S. 347 f. Die hier geäußerte Meinung entspricht durchaus der von A. Bauer (vgl. Anm. 44) über die Landnahme der Alemannen. Dagegen steht J. E. A. Jolliffe, The constitutional history of medieval England (1937) der Ansicht der älteren deutschen Forschung nahe. 58 Belege gibt Brunner, RG I2, S. 164. 59 Hist. Eccl. III 24, hrsg. Plummer S. 178. 60 Birch, Cartularium Saxonicum I Nr. 159. 61 Vgl. Anm. 25. 62 Liebermann I S. 50, § 4,2.

198

Walter Schlesinger

Nachfolger der alten principes angesehen werden können. Sollte dies nicht auch bei den fünf genealogiae der Lex Baiwariorum der Fall sein? Tiefgehende Unterschiede bei den einzelnen Stämmen, je nach der |248| Verschiedenheit ihres geschichtlichen Schicksals, prägten sich aus. Aber soviel wird man allgemein sagen dürfen: aus den kleinen Herren der taciteischen Zeit waren im Verlaufe der „Landnahme“ große Herren geworden. Wie einst im Hause des Herrn lebten sie jetzt am Hofe des Königs, was keineswegs ausschließt, daß sie daneben einen eigenen Hausstand unterhielten; dies war vielmehr die Regel. Sie waren die Beisitzer im Königsgericht. Mit ihrem Rat und ihrer Hilfe regierte der König sein Reich63, und vor allem versuchten sie, wo sie es vermochten, ein Recht geltend zu machen, den König zu wählen. Daß es aus der „Wahl“ des Gefolgsherrn hervorgegangen, die Königswahl rechtlich dem Eintritt in das Gefolge gleichzuachten ist, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht64. Es liegt auf der Hand, daß sich unter diesen Verhältnissen sehr bald ein Gegensatz dieses Herrenstandes zum Königtum ergeben hat; denn auf dem Boden des Römerreiches wuchs den Königen aus dem Erbe der christlichen Antike eine Macht zu, die germanischem Wesen fremd und anstößig erscheinen mußte, obwohl natürlich auch die Großen selbst aus den Trümmern der provinzialrömischen Welt nicht geringen Nutzen zogen. Zu weltgeschichtlicher Bedeutung ist der Herrenstand im Frankenreiche als der Keimzelle des Abendlandes gekommen. Grundlage der Macht des fränkischen Herrenstandes ist das seit der Wanderzeit fortbestehende Gefolgschaftswesen gewesen. Die Gefolgschaften der Großen wuchsen sich zeitweise zu förmlichen Privatarmeen aus, wobei man annehmen darf, daß auch ihre freien bäuerlichen Hintersassen zu gefolgschaftlichem Dienst wie in der alten Zeit herangezogen wurden. An der Spitze einer solchen Privatarmee sind die Karlinger emporgekommen. Es ist nur folgerichtig, wenn seit karlingischer Zeit die zwischen Maas und Mosel, also in der Heimat des Geschlechts, ansässigen Adelsfamilien in den Vordergrund treten. Es ist den fränkischen Königen nicht gelungen, die Macht dieser adligen Herren zu brechen, sie bleiben mit dem Königtum die Träger der fränkischen Geschichte. Sie herrschen von der Nordsee bis zum Mittelmeer, unter den Königen, neben ihnen, häufig genug auch gegen sie. Als optimates, potentes, maiores, priores, meliores, seniores, primi, principes, primates, auch maiores natu, nobiles und nobiliores werden sie bezeichnet. Als deutsches Wort bietet sich neben denjenigen, die speziell nobilis übersetzen, als weit genug für all diese unscharfen lateinischen |249| Bezeichnungen nur das Wort hêrro an, wobei wir freilich nicht vergessen dürfen, daß dieses Wort nur aus der Spätzeit des fränkischen Reiches überliefert ist. In den Glossen und bei Notker entsprechen dem althochdeutschen hêrro die lateinischen Bezeichnungen magnates, proceres, magni, senatores, possessores, principes, potentes, auch magistratus und patres curules,

63 H. Zatschek, Germanische Raumerfassung und Staatenbildung in Mitteleuropa. HZ 168 (1943). S. 27 ff., bes. S. 43 ff. mit lehrreichen Belegen. 64 ZRG Germ. Abt. 66 (1948). S. 381 ff.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

199

sowie domini. Die Übereinstimmung mit dem Wortschatz der lateinisch geschriebenen Quellen für den Begriff „Herr“ im Sinne des dem fränkischen Herrenstande Angehörigen ist offensichtlich. Zu beachten ist, daß hêrro im Altsächsischen schon vor der fränkischen Eroberung vorhanden gewesen sein wird, wie der Gebrauch im Heliand erkennen läßt, und daß es hier den Gefolgsherrn bezeichnet. Ist das Wort aus dem Fränkischen ins Sächsische vorgedrungen, wofür sein Fehlen im Angelsächsischen spricht, so läßt sich auch von hier aus ein Schluß auf den gefolgschaftlichen Charakter der Herrschaft der fränkischen Großen ziehen. Königliche Herrschaft und adlige Herrschaft waren ursprünglich ebensowenig unterschieden wie Königsrecht und Volksrecht. Nach beiden Prologen der Lex Salica sind es fiktiv die proceres der Franken, die das aufzuzeichnende Recht finden, und in anderen Rechtsaufzeichnungen der Frühzeit wird wenigstens der Mitwirkung der Großen gedacht, besonders bezeichnend in dem noch dem 7. Jh. angehörigen Gesetz des Königs Wihtred von Kent, das von ihnen „gefunden“ wurde: dha eadigan funden, heißt es wiederum im Prolog65. „Geblütsheiligkeit“ kommt den Adelssippen nicht minder zu als der Königssippe66, und jede Adelssippe kann auf Grund derselben zum Königtum aufsteigen: die stirps regia bei den Cheruskern, die Tacitus nennt, war die Sippe des Arminius, der selbst keineswegs König, aber auf dem Wege zum Königtum war, und ähnlich liegen die Dinge bei Civilis67. Bei den Angelsachsen kommt das siegbringende Heil dem dux (heretoga) ganz in der gleichen Weise zu wie dem König68. Das bei den späteren deutschen Stämmen ausgebildete „jüngere“ Stammesherzogtum unterschied sich zunächst seinem Wesen nach ebenfalls nicht vom Königtum. Es wurde getragen von den großen Gefolgsmannen wie jenes, und dies ist in einzelnen Quellenstellen, auf die man freilich meist geringen Wert gelegt hat, noch lange erkennbar. Aufschlußreich ist z. B. eine Stelle der Vita Mathildis antiquior: |250| auf einem Stammeslandtag (regni consilium) verhandelten die principes, wer den heroum principatum innehaben sollte und wählten Heinrich, den späteren König, zum Herzog (dux). Gleichzeitig gaben sie dem Wunsche Ausdruck, er möge zum König erhoben werden69. Die Baiern (Bavarii), d. h. doch wohl der bairische Adel, hatten zur Zeit Heinrichs II. das Recht, den Herzog zu wählen70; wir wissen, daß sie sich auch das Recht beimaßen, 919 ihren Herzog zum König zu wählen71. Ekkehard von Meißen war communi totius populi

65 Liebermann I S. 12. 66 K. Hauck, Geblütsheiligkeit. In: Liber Floridus. Festschr. f. P. Lehmann (1950), S. 187 ff. 67 Ann. XI 16; Hist. IV 12. 68 Beer (vgl. Anm. 2) S. 227. 69 SS 10, S. 576. Die richtige Interpretation dieser Stelle verdanke ich J. O. Plaßmann, der mir freundlicherweise Einsicht in eine noch ungedruckte Arbeit über Princeps und populus gewährte. Zu heroum vgl. die ags. Glosse heroicis mid eorliscum. Bartels (vgl. Anm. 2), S. 68. 70 Thietmar V 14, hrsg. Holtzmann S. 236. 71 SS 30, S. 742.

200

Walter Schlesinger

electione zum Herzog in Thüringen aufgestiegen72. Den Herzog von Böhmen hatte er zu seinem miles gemacht; auch hier schimmert wohl gefolgschaftsrechtliches Denken durch. Was immer miles an dieser Stelle bedeuten mag, deutlich wird, daß der Markherzog als Herr des mächtigen Böhmenherzogs schon vor 1002 Rechte in Anspruch nahm, die dem König nach unserem Empfinden hätten vorbehalten sein müssen, und so wundert es uns nicht, daß er schließlich nach der deutschen Königskrone griff. Schon einmal in der Geschichte, im 8. Jh., hatte ein Herzog der Thüringer eine königsgleiche Stellung erlangt: Herzog Radulf dünkte sich nach dem Berichte des sog. Fredegar „König in Thüringen“ zu sein73. Man wird die zeitlich so weit auseinanderliegenden Quellen doch in dem Sinne nebeneinanderstellen dürfen, daß der Schritt vom Herzogtum zum Königtum in fränkischer wie in ottonischer Zeit möglich war, ohne daß damit der Übertritt in einen anderen Rechtskreis erfolgt wäre. Der Herzog hat ein herzogrîche74 |251| inne wie der König ein kunigrîche. In der berühmten Schilderung des Wahlvorganges von 936 bei Widukind heißt Otto d. Gr. novus rex und zweimal novus dux, außerdem princeps; ein Unterschied wird nicht gemacht75. Nicht ein Wesensunterschied, sondern nur ein Gradunterschied zwischen König und Herzog ist somit zu erkennen, und selbst dieser ist bei Widukind verwischt, der den Gefolgsherrn schlechthin im Auge hat. Diese ursprüngliche Gleichstellung der herzoglichen und königlichen Gewalt klingt noch im Sachsenspiegel nach, wenn Eike sagt: Sassen, Baieren, Franken unde Swâven, diz wâren alle kunigrîche; seder wandelte men ine den namen unde hiez se herzogen76. Wiederum gibt es Adelsgeschlechter, die eine Herrschaft ausüben, die der herzoglichen gleichkommt, die auch als Herzöge bezeichnet werden, ohne daß man von Stammesherzogtum

72 Thietmar V 7, hrsg. Holtzmann S. 228. 73 SS. rer. Merow. II S. 165. Radulf war von den Franken eingesetzter Amtsherzog gewesen, wie ja auch das,,ältere“ Stammesherzogtum bei den Baiern und Alemannen den Franken seine Entstehung verdankt. Aber die schnelle Verselbständigung ist keineswegs allein aus Usurpation delegierter Amtsbefugnisse zu erklären, sondern beruht auf Ausübung eigenständiger Herrschaft, die vom Adel des Stammes getragen worden sein muß und der königlichen alsbald glich. Dem entspricht, daß in Baiern im 8. Jh. publicus, dominicus und dominicalis, Ausdrücke, die sonst auf den König gehen, gleichbedeutend sind mit ducalis, herzoglich. Das Herzogtum der Agilolfinger unterscheidet sich in dieser Hinsicht von dem der Liutpoldinger nicht. Über das Herzogtum vgl. H. Zeiss, Wiener Prähist. Zs. 19 (1925), S. 145 ff. 74 W. Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft I (1941), S. 121. 75 Wid. II 1, hrsg. Hirsch-Lohmann S. 63 ff. Vgl. hierzu künftig die Anm. 69 genannte Arbeit von J. O. Plaßmann. Auch bei Beda werden rex und dux synonym gebraucht, vgl. Drögereit, ZRG Germ. Abt. 69 (1952), S. 46. Besondere Aufmerksamkeit verdient die bei Beda nur einmal vorkommende Wendung militiae ductor für den König (III 2, hrsg. Plummer, S. 130). Es entspricht ihr genau, wenn im Heliand Herodes als cuning und heritogo in gleichem Atemzuge bezeichnet wird (v. 2703 f.). 76 Ldr. III 53 § 1.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

201

sprechen könnte, wie die Konradiner in Franken und andere77. Die Herrschaftsformen gehen kontinuierlich ineinander über. Aber gerade beim Herzogtum zeigt es sich, wie die deutschen Könige bestrebt sind, es zu verbeamten oder doch wenigstens mit Hilfe des Lehnrechts von sich abhängig zu machen. Die königliche Herrschaft überragt ihrem eigenen Anspruche nach jede andere Herrschaft weitaus. Der Gradunterschied wird zum Wesensunterschied fortgebildet. Wir haben damit bereits vorgegriffen. Es kann hier nicht wiederholt werden, was alles das fränkische Königtum an Ideen, Machtmitteln und Amtsgewalt antiker Herkunft übernommen hat, mit dem Ziele, seine Stellung in der Weise auszugestalten, wie sie uns schließlich am klarsten im Reiche Karls des Großen entgegentritt. Hier ist jener Grundzug germanischen Königtums kaum mehr zu erkennen, auf den bereits Tacitus hingewiesen hatte: nec regibus infinita aut libera potestas, eines Königtums, das genötigt war, auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate zu regieren78. Nur eines sei hervorgehoben: die unerhörte Steigerung seiner |252| Autorität, die das germanische Königtum dadurch erfuhr, daß es christlich wurde79. Die Umdeutung der heidnischen Geblütsheiligkeit, die noch nach vielen Jahrhunderten im Bewußtsein des Volkes lebendig war, in ein christliches Gottesgnadentum ist ein Schritt nicht nur von ideengeschichtlicher, sondern auch von verfassungsgeschichtlicher Bedeutung. Hier liegt wohl eine der stärksten Wurzeln der Tatsache, daß der König später nicht mehr im Volke, wie in der germanischen Zeit, sondern über dem Volke steht. Wenn Alkuin an Karl den Großen schrieb: populus iuxta sanctiones divinas ducendus est, non sequendus, so kommt damit ein Gegensatz zum Ausdruck, der germanischem Denken ursprünglich völlig fremd war80. Im selben Maße wie die Macht des Christengottes, des alowaldand des Heliand, die Macht der heidnischen Götter übertraf, mußte sich auch das Ansehen des Königs steigern, wenn er, von Gott unmittelbar eingesetzt81, als Statthalter Gottes auf Erden galt. Es ist der theokratische Amtsgedanke in Verknüpfung mit gefolgschaftsrechtlichen Vorstellungen, der zu einem guten Teil der Königherrschaft jene Einzigartigkeit verleiht, die man an ihr gerühmt hat. Es entstand ein nicht nur quantitativer, sondern qualitativer Unterschied von Königsherrschaft und Adelsherrschaft, der freilich über den

77 G. Tellenbach, Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand. In: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters. Hrsg. Th. Mayer (1943), S. 22 ff. Über die Konradiner sehr aufschlußreich I. Dietrich, Das Haus der Konradiner. Ungedr. Diss. Marburg 1952. 78 Germ. 7. II. 79 Vgl. hierzu Mitteis, Festschr. für Zycha S. 69 ff. mit Literatur. Ferner W. Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (1938). W. Hamel, Reich und Staat im Mittelalter (1944), S. 26 ff. G. Tellenbach, Germanentum und Reichsgedanke im frühen Mittelalter. H. Jb. 62/ 69 (1. Halbband 1949), S. 117 ff. F. Heer, Die Tragödie des heiligen Reiches (1952). H. Büttner, Aus den Anfängen des abendländischen Staatsgedankens. H. Jb. 71 (1952), S. 77 ff. 80 Epp. IV S. 199. 81 Vgl. etwa DK. d. Gr. 58 iuvante domino, qui nobis in solium regni instituit und viele andere Belege.

202

Walter Schlesinger

Bereich des Theoretischen hinaus nur dann wirksam wurde, wenn der Adel ihn anerkannte. Schon in merowingischer Zeit begegnet die Vorstellung, man diene dem König vice nostri redemptoris82. In der Wendung fideles Dei et nostri, mit der seit Pippin bis weit in die staufische Zeit hinein die Könige ihre Untertanen in den Urkunden anzureden pflegten, wird deutlich, daß Reich und Kirche in eins gedacht werden83. Glaube an Gott und Treue gegen den König sind dasselbe. Das Verhältnis des Gläubigen zu Gott wurde gefolgschaftsrechtlich gedacht, die fideles Dei sind die gotes holdon des Ludwigslieds (v. 36). Der König aber ist nach diesem Liede befugt, sie zum Kampfe aufzubieten, denn er hat dazu unmittelbaren Auftrag von Gott: „Hluduîg, |253| kuning mîn(!), hilp mînan liutin“ (v. 23). Mit diesem Worte liuti, das wir latinisiert als leudes aus der fränkischen Geschichte kennen, begegnet als Synonym zu holdon abermals ein dem Gefolgschaftswesen entnommener Ausdruck. Gemeint sind dieselben fideles, die mit Bezug auf den König gisellion und nôtstallon, dugidi und frônisc githigini heißen (v. 32, 5), also Gesellen und Kampfgefährten, Mannschaft und Herrengefolgschaft. Diese Gefolgschaft hat der König aus der Hand Gottes empfangen: gab her imo dugidi, frônisc githigini (v. 5). Karls des Großen Divisio von 806 spricht vom regnum a Deo nobis concessum84. Dieses regnum erscheint im Ludwigslied somit als von Gott zugewiesene Gefolgschaft. Nicht deutlicher kann der innere Zusammenhang von Reich und Gefolgschaft zum Ausdruck kommen. Gottesgefolgschaft und Königsgefolgschaft sind identisch, sie schließen sich im Kreise der fideles Dei et regis zusammen. Aber Gott kann Gehorsam fordern, nicht nur, wie ursprünglich der König, Treue, die ja stets ein wechselseitiges Verhältnis ist; gerade am Beispiel des Heliand, in dem das Verhältnis von Gott und Mensch äußerlich so deutlich als Gefolgschaftsverhältnis erscheint, ist dieser grundlegende innere Unterschied verdeutlicht worden85. So vermag, als vicarius Dei, nunmehr auch der König zu befehlen und Gehorsam zu fordern: secundum Dei voluntatem et secundum iussionem nostram heißt es in einem Kapitular Karls d. Gr.86. Die Befugnis der Rechtssetzung kraft königlicher Gewalt, dem germanischen Rechtsempfinden völlig fremd, wird abgeleitet aus dem Willen Gottes, der durch den Mund des Königs spricht. Wenn dieser Gedanke verhältnismäßig leicht beim Volke Eingang fand, so doch wohl nur, weil er mit der altheimischen Vorstellung des Königsheils zu unauflöslicher Einheit verschmolzen wurde. Es kann kein Zweifel sein, daß die Ausgestaltung der Kirchenherrschaft des Königs, deren Wurzel im germanischen Eigenkirchenwesen liegt, von diesem Ansatzpunkte her erheblich gefördert worden ist. Auch in diesem Bereiche begann sich die Herrschaft des Königs von der Eigenkirchenherrschaft des Adels ihrem Wesen nach zu unterscheiden.

82 83 84 85 86

Epp. III S. 198. H. Helbig, Fideles Dei et regis. A. f. Kulturgesch. 33 (1951), S. 277 ff. Cap. I, S. 127. E. Grosch, Das Gottes- und Menschenbild im Heliand (Ungedr. Diss. Leipzig 1947). Cap. I, S. 131.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

203

Die Adelsherrschaft hat sich im fränkisch-deutschen Reiche neben dieser gesteigerten Königsherrschaft stets zu behaupten vermocht87. |254| Zwar wurde deren Vorzug anerkannt: es ist lehrreich, wie sorgfältig Einhard den Übergang der Königsherrschaft von den Merowingern auf die Karlinger begründet und wie sich dies bei Widukind bei dem abermaligen Übergang von den Franken auf die Sachsen wiederholt88. Als ihr Träger erscheint bei Einhard ein bestimmtes Geschlecht, bei Widukind ein bestimmter Stamm; es würde sich lohnen, diesen Unterschied näher ins Auge zu fassen. Aber die Königsherrschaft hat nicht auf die Dauer zu wirklicher Einherrschaft ausgestaltet werden können, obwohl dieser Versuch immer wieder gemacht worden ist. Die staatliche Konzentration, für unser Empfinden eine einfache politische Notwendigkeit und von nicht wenigen fränkischen und deutschen Königen als solche erkannt, erschien dem Adel dort, wo sie ein gewisses Maß überschritt, als Unrecht. So konnte Bruno in seinem Buch vom Sachsenkriege den Gegensatz auf eine ebenso einfache wie treffende Formel bringen: Damit er (Heinrich IV.) allein Herr über alle sei, hätte er gewünscht, daß keiner (ebenfalls) als Herr lebe89. Die Geschichte des Frankenreiches wie die des deutschen ist erfüllt von diesem Gegensatz zwischen Königtum und Aristokratie. Er ist das Thema des zweimaligen gewaltigen Auf und Ab der fränkischen Geschichte in merowingischer und karlingischer Zeit, und er hat das Schicksal des deutschen Reiches im Zeitalter des Investiturstreits entschieden. Es beruht auf diesem Gegensatz, daß die Machtkrisen des Reiches immer zugleich Verfassungskrisen waren. Klar tritt der gefolgschaftliche Charakter des fränkischen Herrenstandes anfangs entgegen: die Antrustionen und leudes als das engere Gefolge des Königs bilden seinen Kern, an den sich dann andere Bestandteile angliedern. Noch im Edictum Chilperici (573/75) werden Optimaten und Antrustionen einander gleichgesetzt, deutlich geschieden vom omnis populus90. Es scheint, daß die fränkischen Könige zeitweise für sich allein das Recht beanspruchten, ein Gefolge zu halten. Dies gehört in den Kreis der Maßnahmen, die bezweckten, einen „Untertanenverband“ zu schaffen, in dem die adligen Zwischengewalten ausgeschaltet waren und in dem die rechtliche Stellung des Einzelnen nur durch sein Verhältnis zum König bestimmt war. In gleicher Richtung zielt die Schaffung eines Einheitsstandes der Freien, der in der Freiheit militärischer Kolo|255|nisten auf Königsland sein Vorbild hat91. An die Stelle der Gefolgschaft der

87 Vgl. vor allem O. Frhr. v. Dungern, Adelsherrschaft im Mittelalter (1927). H. Mitteis, Formen der Adelsherrschaft im Mittelalter. Festschr. Fritz Schulz (1951). S. 226 ff. mit weiterer Literatur. 88 H. Beumann, Einhard und die karolingische Tradition im ottonischen Corvey. Westfalen 30 (1953), S. 150–174. 89 Brunos Buch vom Sachsenkriege, hrsg. Lohmann, S. 55: Nam ut solus omnium dominus esset, nullum in regno suo dominum vivere vellet. 90 Cap. I S. 8. 91 Vgl. W. Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft (1941), S. 127 f. und Th. Mayer, Königtum und Gemeinfreiheit im frühen Mittelalter. DA 6 (1943), S. 329.

204

Walter Schlesinger

„Großen“ sollte der Verband der freien Leute treten. Der König machte sich zum unmittelbaren Gefolgsherrn im ganzen Reiche, alle freien Untertanen galten jetzt als leudes, der Untertaneneid wurde in der Form eines Gefolgschaftseides geleistet, das Wort populus konnte jetzt im Sinne von Gefolgschaft gebraucht werden. Hand in Hand damit geht eine Umbildung des Heeres. Doch die Könige gehen noch weiter. Sie streben, sich zum Hausherrn im Reiche zu machen, wie dies an anderer Stelle des näheren dargelegt worden ist92. An die Stelle des Wahlprinzips tritt das Erbprinzip, auf das ganze Reich wird im Erbfalle die Realteilung des germanischen Hausrechts angewendet; an die Stelle der Schilderhebung, die die Wahl zum Gefolgsherrn kundtut, tritt die Thronbesteigung, die der Besteigung des Hochsitzes im Hause beim Antritt des Erbes entspricht. Recht und Pflicht der Friedenswahrung nicht nur im Heere, sondern im Lande werden nunmehr Sache des Königs93. Nicht zuletzt wirkte die priesterliche Funktion des germanischen Hausherrn nach. Wie jeder andere Herr im Bereiche seiner aus Hausherrschaft erwachsenen Herrschaft die Pflege des Gottesdienstes, einschließlich der Bestellung der Priester, als seine ureigenste Angelegenheit und die von ihm gegründeten und ausgestatteten Kirchen als sein Eigentum betrachtete, so der König in dem hausherrschaftlich ausgestalteten Reiche. Freilich ist es niemals zur Bildung einer „Reichskirche“ im verfassungsgeschichtlichen Sinne gekommen, am Wesen der Kirche und am mangelnden Abstraktionsvermögen der Zeit ist dies gescheitert. Das fränkisch-deutsche Königtum hat stets nur über einzelne Kirchen, manche bischöfliche eingeschlossen, Eigenkirchenherrschaft ausgeübt. Sie auf alle Kirchen des Reiches, sofern sie nicht adlige Eigenkirchen waren, auszudehnen, war es immerhin bestrebt, in schwer zu entwirrender Verknüpfung mit dem aus dem Gottesvikariat erwachsenden Anspruch. Den Herrenstand strebte der König zu verbeamten, nachdem er die Reste spätrömischen Beamtentums kennen und nützen gelernt hatte. Er versuchte den Grundsatz durchzusetzen, daß Königsdienst adelt, während ursprünglich nur der Adel zum |256| Dienst in der engsten Gefolgschaft des Königs berechtigt hatte. Der Geburtsadel wird zum Dienstadel umgestaltet. Leute seines Vertrauens beruft der König ungeachtet ihrer ständischen Herkunft in sein Gefolge, Romanen werden convivae regis, und selbst Unfreie gewinnen Macht und Einfluß. Es ist dieselbe Erscheinung, die schon Tacitus von den germanischen Stammen berichtet, die von Königen regiert werden: auch hier stiegen bereits die Freigelassenen über die Freien und selbst über den Adel empor94. So gehen Leute niederer Herkunft, aber auch römische senatores und burgundische, alemannische, thüringische, bairische, schließlich sächsische Edelinge im fränkischen Herrenstande auf, der nicht ohne 92 ZRG Germ. Abt. 66 (1948), S. 413 ff. 93 Noch in späterer Zeit ist dies sehr deutlich bei den Normannen erkennbar: vgl. Dudo von St. Quentin II 31, hrsg. Lair S. 171, auch 32, S. 172 f. An der Stelle des Königs steht hier der Herzog (dux). 94 Germ. 25.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

205

Zwang eines Teils seiner Rechte entkleidet worden war, der aber dennoch erkennen läßt, daß er auf altem Geburtsadel beruht. In karlingischer Zeit erscheinen die mächtigsten Familien dieses Herrenstandes, die meist fränkischer Stammeszugehörigkeit waren, deren Besitz sich aber vielfach in allen Teilen des Riesenreiches erstreckte und die bald hier, bald dort mit wichtigen Führungsfunktionen beauftragt werden, dem Königtum in besonders enger Weise verbunden. Als „Reichsadel“, wie gesagt worden ist95, heben sie sich aus dem übrigen, mit seinem Besitze landschaftlich gebundenen Herrenstande heraus. Aber so gewiß die Königsnähe und die Teilhabe an den Geschäften des Reiches geeignet war, ihre Herrschaft zu steigern, so war diese doch nicht von König und Reich abgeleitet, und bloße Befehlsempfänger des Königs sind sie nie gewesen. Mit aller Kraft tritt dann seit dem 9. Jahrhundert die landschaftliche Verwurzelung wieder in den Vordergrund. Manche Familien vermögen die große Stellung zu halten und steigen zu herzoglichem Range auf, andere sinken ab oder sterben aus, neue Geschlechter kommen empor, vor allem im Osten des Reiches. Aber der Herrenstand als solcher bleibt bestehen, im deutschen Reiche nunmehr als streng geschlossener Geburtsstand, dem allein die Ausübung „staatlicher“ Rechte vorbehalten bleibt96. Aus diesem Herrenstande werden seit karlingischer Zeit die Grafen entnommen. Sie sind im Prinzip königliche Beamte, wie sie es in der Merowingerzeit gewesen waren97, aber nur wenigen Königen ist es gelungen, dieses Prinzip aufrechtzuerhalten. Aus den Amtsgrafen werden immer wieder Herrengrafen. Es ist höchst |257| bezeichnend, daß Notker das Wort dignitates mit herscaft übersetzt (Boeth. II. 17). Nur die Zugehörigkeit zum Herrenstande befähigt zur Bekleidung von hohen Ämtern, nur an bereits vorhandene Herrengewalt lassen sich somit amtsrechtliche Befugnisse angliedern, und wenn mächtige Könige sich nicht daran kehrten, so ist diese Übung nicht von Dauer gewesen. Im alemannischen Gebiete z. B. gab es solche Herrengrafen gleich beim Einsetzen der Überlieferung, vor der Mitte des 8. Jahrhunderts, und es ist mit guten Gründen vermutet worden, daß dies schon seit Einführung der „Grafschaftsverfassung“ durch die Franken der Fall war.98 Wenn Bonifaz 721 auf der merowingischen Landesfeste Amöneburg zwei Brüder als Befehlshaber (cui praeerant) antraf, so liegt der Schluß nahe, daß sie ihre Gewalt im Erbgang und nicht durch Amtsauftrag erworben haben. Nicht anders war der Zustand am Ende des 9. Jahrhunderts, während da-

95 G. Tellenbach, Königtum und Stämme in der Werdezeit des deutschen Reichs (1939). 96 Vgl. Anm. 87. 97 E. Frhr. v. Guttenberg, Iudex h. e. comes aut grafio. Festschr. Edmund E. Stengel (1952). S. 93 ff. 98 A. Bauer (vgl. Anm. 46) S. 79 ff. Hier wird auf S. 73 auf ähnliche Erscheinungen in der Bretagne des 6. Jhs. verwiesen: nam semper Brittani sub Francorum potestatem post obitum regis Chlodovechi fuerunt et comites, non regis (= reges) appelati sunt. SS. rer. Merow. I (ed. 2.), S. 137. Zu vergleichen ist V 16, S. 214. v. Guttenberg, der S. 110 ff. den comes bei Gregor von Tours bespricht, hat sich die Stelle entgehen lassen. Es ist somit auf S. 113 hinzuzufügen, daß der Gewaltbezirk eines comes auch regnum heißen kann (V 12).

206

Walter Schlesinger

zwischen eine Zeit strafferer Abhängigkeit der Grafen vom Könige liegt. Karl der Große hat Grafen frei nach seinem Willen ernannt. Ihm ist es gelungen, die Adelsmacht vorübergehend einzudämmen, während seiner Regierungszeit sind tatsächlich die Großen vom Könige abhängig gewesen, gab es ein königliches Beamtentum, gab es einen Untertanenverband, wenn auch der Erfolg der königlichen Maßnahmen nicht in allen Teilen des Reiches gleich durchgreifend war. Karl d. Gr. hat versucht, einen wirklichen Beamtenstaat zu schaffen. Schon kurze Zeit nach seinem Tode aber erhob sich der Adel wieder zur alten Macht, als ob es niemals anders gewesen wäre, wenn auch die Formen sich teilweise wandelten. Es ist eine noch immer offene Frage, wieweit es gelungen ist, das deutsche Reich der Ottonen mit einem Netz von Amtsgrafschaften zu überziehen und wieweit solche Grafschaften an Einrichtungen der Karlingerzeit anzuknüpfen vermochten. Wir kennen den Umfang des adligen Eigenbesitzes nicht, und wir wissen nicht, in welcher Weise er der Gewalt des Grafen unterstand und ob dies überhaupt der Fall war. Daß die gräfliche Gewalt sich auf das Königsgut im weitesten Sinne, also auf den Teil des Reiches, wo der König unmittelbare Herrschaft ausübte, stützte, daß sie gleichsam von hier ausging, dürfte sicher |258| sein; ob, wie weit und wie lange sie auf dieses Königsgut beschränkt war, bedarf weiterer Aufklärung. Rückschlüsse aus späteren Quellen haben zu der Annahme geführt, daß der Herrenstand seit alters kraft eigenen Rechts die Gerichtsbarkeit, auch die Hochgerichtsbarkeit, über seine Hintersassen gehabt hat, und man hat geglaubt, diese Gerichtsbarkeit an diejenige der principes der germanischen Zeit anknüpfen zu können99. Man wird dies nie beweisen können, doch wird nach der Art unserer Quellen auch das Gegenteil schwer beweisbar sein. Bei aller gebotenen Vorsicht wird man doch nach dem jetzigen Stande unseres Wissens sagen dürfen, daß nicht nur die Herrschaft des Königs, sondern auch die des Adels das Moment der Gerichtsherrschaft seit alters enthielt, daß also auch hier ein ursprünglicher qualitativer Unterschied nicht zu erkennen ist100. Das Band, das den Adel mit dem König verknüpfte, war ursprünglich das der Gefolgschaftstreue gewesen. Man wird freilich, wenn dieses Wort fällt, keinerlei romantisierende Vorstellungen damit verbinden dürfen. Die Geschichte der Völkerwanderungszeit wie die des Fränkischen Reiches ist voll von Treubruch und Verrat, von Herrenseite wie von Mannenseite. Der nackte Machttrieb siegte nur allzu oft über die herkömmlichen Bindungen ethischer Art, und seine Bedeutung als eine treibende Kraft in der Verfassungsgeschichte kann schwerlich überschätzt werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch im Mittelalter vielfach allein der Erfolg gewaltsamer Tat die Grundlage rechtlicher Gestaltung war. Es kommt zur Wirkung, was die Juristen die „normative Kraft des Faktischen“ nennen,

99 Mitteis, Festschr. Fritz Schulz, S. 230, 248. 100 Vgl. Th. Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter. HZ 159 (1939), S. 463 mit Literatur.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

207

ohne daß doch die Idee einer umfassenden Rechtsordnung aufgegeben worden wäre. So sind es gewiß nicht zuletzt einfach die größeren Machtmittel des Königtums gewesen, die rein quantitative Überlegenheit seiner Herrschaft, die neben der Gefolgschaftstreue, neben dem anerkannten Vorzug des Geblüts der königlichen Sippe, neben dem theokratischen Amtsgedanken und nicht zuletzt neben dem natürlichen Schwergewicht, das jede politische Institution aus der Wirksamkeit kraftvoller Persönlichkeiten zu empfangen vermag, ihm auf die Dauer das Übergewicht auch rechtlich sicherten. Daraus ist zu folgern, daß es nicht das Lehnrecht als solches gewesen sein kann, das aus sich selbst heraus die königliche Herrschaft hätte stützen können, das Lehnrecht, das als die hervorragendste und zugleich eigentümlichste Rechtsschöpfung des abend|259|ländischen Mittelalters, als die „idealtypische Formung einer ganzen Kulturepoche“ (Mitteis) bezeichnet werden darf101. Zentripetale und zentrifugale Kräfte wohnten ihm in gleicher Weise inne, hier gewannen diese, dort jene die Vorhand. Weniger die Rechtsordnung als die politische Machtverteilung gestaltete die Verfassung. Weder die Entstehung des Lehnwesens102 noch seine Weiterentwicklung können hier auch nur gestreift werden. Es muß der Hinweis genügen, daß sowohl die Herrschaft des Königs wie auch die des Adels als Lehnherrschaft ausgestaltet wurden und daß Lehnherrschaft weithin an die Stelle älterer Gefolgsherrschaft trat, die auf diese Weise verdinglicht wurde. Doch verdient zweierlei in unserem Zusammenhang Beachtung. Wenn es richtig ist, daß die gallorömische Vasallität sich mit dem germanischen Gefolgschaftswesen zum Lehnwesen verschmolzen hat, so stammt die Ausbildung einer „Lehnshierarchie“, einer pyramidenförmigen Ordnung, an deren Spitze der König steht, ohne Zweifel aus dem zweiten Element. Lange bevor das Lehnrecht nach England vordrang, konnten wir hier einen ähnlichen, rein gefolgschaftsrechtlich begründeten Aufbau beobachten. Sodann aber setzt dieser Verschmelzungsprozeß voraus, daß ein germanisches Gefolgschaftswesen auf der gleichen wirtschaftlichen und sozialen Ebene bestand wie die gallorömische Vasallität, d. h. aber in der niederen Sphäre bäuerlicher Lebensordnung. Nun und nimmer kann die Kommendation eines armen Mannes auf Lebenszeit in die Klientel eines Großgrundbesitzers, wie sie etwa in einer oft zitierten Formel der Sammlung von Tours103 bezeugt ist, dem Eintritt in die Gefolgschaft gleichgeachtet worden

101 H. Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters (3. Aufl. 1948). Ders., Lehnrecht und Staatsgewalt (1933). Dazu W. Kienast, HZ 158 (1938), S. 3 ff. F. Ganshof, Qu-est-ce que la féodalité ? (2. Aufl. 1947). F. Olivier-Martin, Histoire du droit français (2. Aufl. 1951), S. 80 ff. W. Kienast, Untertaneneid und Treuvorbehalt (1952). 102 Gegen die herrschende Lehre wendet sich H. Krawinkel, Zur Entstehung des Lehnwesens (1936) und Untersuchungen zum fränkischen Benefizialrecht (1936). 103 MG. Form. S. 158.

208

Walter Schlesinger

sein, wenn dieser nur von vornehmen jungen Leuten auf Zeit vollzogen wurde, mit rein kriegerischem Zweck und nur in der Sphäre des Königtums und großer Herren. Auch die abhängigen Bauern müssen vielmehr als Gefolgsleute ihres Herrn gegolten haben. Man kann sich den Verschmelzungsprozeß dann so vorstellen, daß die fränkischen Herren ihre gallorömischen vassi |260| in ihre Gefolgschaft aufnahmen und zusammen mit ihren germanischen bäuerlichen Gefolgsleuten für ihre Fehden aufboten. Wir gelangen damit in einen Bereich, den die Wissenschaft mit dem Worte Grundherrschaft zu bezeichnen pflegt104. Grundherrschaft ist ein moderner historisch-juristischer Ordnungsbegriff. Dem Mittelalter ist er fremd, und so begegnet weder im lateinischen noch im deutschen Sprachgebrauch ein entsprechendes Wort. Grundbesitz hat im germanischen Bereiche zunächst Herrschaftsrechte über Personen nicht begründet. Anders im spätrömischen Reiche, daß die Grundherrschaft ebenfalls kennt: hier geht die Entwicklung vom Eigentum (dominium) an Grund und Boden aus. Die Geschichte der spätantiken Grundherrschaft ist in unserem Zusammenhange nicht zu verfolgen. Festzuhalten ist jedoch, daß ihr Vorbild von erheblichem Einfluß auf die Gestaltung der Grundherrschaft im Frankenreiche war. Im eroberten Gallien hatte man ja Gelegenheit genug, die römischen Methoden der Organisation des Grundbesitzes genau kennenzulernen. Die fränkischen Herren dürften vielfach in den Platz des römischen Großgrundbesitzers eingerückt sein, und auch die Aufnahme römischer potentes in den fränkischen Herrenstand trug dazu bei, die Herrschaftsformen anzugleichen105. Die Eingliederung der Gebiete ostwärts des Rheins in das Reich hatte die Ausbreitung der im Westen ausgebildeten Herrschaftsformen nach Deutschland hinein zur selbstverständlichen Folge. Berücksichtigt man, daß das östliche Gebiet für die Franken „Kolonialland“ war, so wird man sogar die Möglichkeit zugeben müssen, daß sie sich hier reiner ausprägten als im fränkischen Kerngebiet, wie dies oft in solchen Kolonialgebieten der Fall ist. Die Quellen bieten freilich hierfür keinen Anhalt. Es ist vielmehr zu vermuten, daß im germanischen Osten bodenständig germanische Bildungen in den Grundherrschaften in stärkerem Maße fortleben als westlich des Rheins106. Es ist gezeigt worden, daß schon zur Zeit des Tacitus bei den Germanen Verhältnisse entgegentreten, die man als grundherr|261|schaftlich bezeichnen kann;

104 Das Beste über die Grundherrschaft steht bei R. Kötzschke, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters (1924). S. 220 ff. und bei F. Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1952), S. 44 ff. Aus der kaum übersehbaren Literatur führe ich an: G. Seeliger, Die politische und soziale Bedeutung der Grundherrschaft im frühen Mittelalter (1904); ders., Staat und Grundherrschaft in der älteren deutschen Geschichte (1909). F. Lütge, Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters im mitteldeutschen Raume vornehmlich in der Karolingerzeit (1937). A. Dopsch, Die Grundherrschaft im Mittelalter. Festschr. f. Zycha (1941), S. 87 ff. 105 K. F. Strohecker, Der senatorische Adel im spatantiken Gallien (1948). 106 Lütge, Agrarverfassung S. 145 ff., 106 Anm. 2.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

209

sie gehörten dem Rechtskreise des Hauses an und erwuchsen aus der Unfreiheit. Es ergab sich ferner, daß das germanische Gefolgschaftswesen auch den bäuerlichen Bereich erfaßt hat und daß Landzuweisung an Gefolgsmannen üblich war; sog. grundherrschaftliche Verhältnisse konnten also auch in der Sphäre der Freiheit entstehen. Völlig ausgebildete Grundherrschaften gab es nun in Innerdeutschland schon um das Jahr 700. Im thüringischen Kerngebiet, in Arnstadt, Mühlberg und Mondra, also nahe der damaligen Ostgrenze germanischen Siedelgebietes gegen die Slaven, und in Hammelburg an der fränkischen Saale sind sie bezeugt107, in Würzburg müssen ähnliche Verhältnisse vorausgesetzt werden. Es begegnet umfangreiches, in Eigenbau gehaltenes Land mit zugehörigem Gesinde, aber auch Hufen (hobae) mit darauf Ansässigen (casatae) erscheinen als Zubehör. Charakteristisch ist, daß in Mühlberg und Hammelburg der Herrensitz als Burg bezeichnet wird (in castello Mulenberge, ad Hamulo castellum), aber auch in Mondra muß es einen Burgsitz gegeben haben, denn in der Nähe haftet der Flurname Monraburg. „Grundherr“ ist in beiden Fällen der thüringische Herzog Heden, der in Würzburg seinen Sitz hatte und vielleicht fränkischem Geschlechte entstammte. Einfluß von Westen her ist also nicht ausgeschlossen, auf den auch der Name Mühlberg deuten kann. Doch dürfte eher bodenständige Entwicklung vorliegen, im Zusammenhang jener Burgenverfassung, die uns beschäftigt hat. Wenn es in der Folgezeit freilich in ganz Deutschland dahin gekommen ist, daß schließlich die Herrschaft aus der Bodenleihe abgeleitet wurde, während doch ursprünglich Boden deshalb geliehen wurde, weil ein Herrschaftsverhältnis bestand, wenn also persönliche Bindung nunmehr auf ein dingliches Element bezogen wurde, so ist es naheliegend, an den Einfluß römischen Vorbilds zu denken. In manchen Fällen läßt auch die Beobachtung der Art der an die Herrschaft zu entrichtenden Leistungen unmittelbare Schlüsse auf westfränkisches Vorbild zu. Das Ergebnis des komplizierten Prozesses, der dem Verdinglichungsprozeß im Lehnwesen parallel geht, war eine Intensivierung der Herrschaft auch über die Hintersassen ursprünglich freien Standes. Der Vorgang räumlicher Arrondierung und rechtlicher Nivellierung, der von der ursprünglichen Grundherrschaft über die Bannherrschaft zur Banngrundherrschaft führte, wie man gesagt hat108, ist oft geschildert worden, fast ausschließlich auf Grund von Quellen kirchlicher Provenienz. Die Überlieferung legt das |262| nahe. Aber man wird das Problem der Entstehung der Grundhörigkeit, in der nicht nur die alte Unfreiheit aufging, sondern von der auch Freie aufgesogen wurden, allein auf diese Weise nicht lösen können. Die Quellen lassen mit aller Deutlichkeit erkennen, daß die sog. Grundherrschaft in Deutschland zwar im kirchlichen Bereiche in bezeichnender Weise fortgebildet wurde, daß sie aber nicht etwa erst hier entstand oder von der Kirche ins rechtsrheinische Gebiet mitgebracht wurde.

107 Dobenecker, Reg. Thur. I Nr. 5, 7. 108 Die Terminologie stammt von Seeliger. Vgl. Anm. 104.

210

Walter Schlesinger

Die Bedeutung der kirchlichen Grundherrschaften im Ganzen der Volksverfassung wird man schwerlich überschätzen können, allein schon im Hinblick auf den Umfang des Kirchenlandes, vor allem aber, da sie durch das Eigenkirchenwesen, durch die Institute der Vogtei und des servitium regis, auch auf dem Wege des Kirchenlehens in das Kräftespiel weltlicher Verfassungskämpfe wiederum eingeordnet wurden. Aber die Grundherrschaft ist in Deutschland ohne Zweifel von der Kirche als etwas bereits Vorhandenes übernommen worden. Wir erfahren in der Frühzeit aus den Urkunden und den Traditionsbüchern über den Grundbesitz des Adels und die darauf ansässigen Bauern stets erst in dem Augenblick etwas, in dem er in geistliche Hand übergeht. Immerhin läßt sich erkennen, daß aus der Masse der Tradenten schon im 8. Jahrhundert einzelne herausragen, die über Grundbesitz und Hörige an vielen, oft sehr weit voneinander entfernten Orten verfügen, und andererseits zeigt sich, daß in einzelnen Dörfern oft sehr viele Tradenten mit verhältnismäßig geringem Besitz begütert waren, ohne daß dies ihr einziger Besitz gewesen wäre, so daß er also grundherrschaftlich genutzt worden sein muß. Läßt die zweite Erscheinung sich, was das einzelne Dorf angeht, unschwer aus der Realteilung des germanischen Grunderbrechts verstehen, die in verhältnismäßig kurzer Zeit zu weitgehender Besitzzersplitterung führen mußte, so ist der Grund der Streulage nicht ohne weiteres ersichtlich. Es liegt am nächsten, königliche Verleihung zu vermuten, aus Gründen politischer Art, um Stützpunkte für den Königsdienst zu schaffen, der jene großen Herren in verschiedene Landschaften des Reiches führte. Ist dies für das Gebiet ostwärts des Rheins in erster Linie in karlingischer Zeit sinnvoll, so müßte doch Entsprechendes schon vorher stattgefunden haben, denn der Zustand, der in den noch vor der Mitte des 8. Jahrhunderts einsetzenden Quellen sichtbar wird, kann nicht von heute auf morgen entstanden sein. Wahrscheinlich hat die Beweglichkeit des Grundbesitzes schon in sehr früher Zeit eine weit größere Rolle gespielt, als wir gemeinhin annehmen, vielleicht hat man aber sogar an Vorgange der Besitzergreifung in der Zeit der „Landnahme“ oder der fränkischen Eroberung zu denken, wie sie bereits |263| angedeutet wurden. Nun begegnen auch Dörfer, in denen eine nicht geringe Anzahl von Hörigenstellen, vielleicht das ganze Dorf einem einzigen Herrn gehören. Es wird zu unterscheiden sein, ob sie sich im Altsiedellande oder auf Rodungsboden finden; im zweiten Falle ist die Erklärung einfach. Überhaupt hat sich ja die Unterscheidung von altbesiedeltem und gerodetem Lande als überaus fruchtbarer verfassungsgeschichtlicher Gesichtspunkt gerade in Hinblick auf die Herrschaftsbildung erwiesen109. Geschlossene Dorfherrschaft im Altsiedellande kann in die Zeit der Ansiedlung

109 Th. Mayer, Geschichtliche Grundlagen der deutschen Verfassung (1933) und öfter. A. Helbok, Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs (1935 ff.).

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

211

zurückreichen, wie ja auch die mit Personennamen gebildeten alten Ortsnamen nahelegen. Freilich wird man nicht von Quellen des späten Mittelalters aus den Sprung über ein Jahrtausend nach rückwärts machen können, wie dies geschehen ist110, und weiter wird man zu fragen haben, warum in diesen Dörfern Zersplitterung im Erbgang nicht eingetreten ist. Weiterzuhelfen vermag nur minutiöse Einzeluntersuchung mit allen Mitteln siedlungsgeschichtlicher Forschung, die den Blick auf einzelne Dörfer und den Besitz einzelner Personen und grundherrlicher Familien richtet111. Es wird sich dann zeigen, ob der Großgrundherrschaft mit Streulage des Besitzes von Anfang an eine Kleingrundherrschaft gegenüberzustellen ist, die sich über nur ein Dorf oder wenige benachbarte Dörfer erstreckte. Ihrer Entstehung nach wäre sie jener wohl kaum ohne weiteres vergleichbar112. Die Rechte des Herrn über die Hintersassen können nach dem Dargelegten nicht aus der bloßen Verfügungsgewalt über Grund und Boden abgeleitet werden. Insbesondere gilt dies für seine gerichtsherrlichen Rechte und für jene dorfherrliche Gewalt, die in späterer Zeit in Südwestdeutschland als Zwing und Bann bezeichnet wird, der Sache nach aber auch anderwärts vorhanden ist, im mitteldeutschen Osten z. B. als dominium villae schon im |264| 12. Jahrhundert voll ausgebildet entgegentritt. Dort, wo Grundherrschaft sich am einfachsten, klarsten und geschlossensten ausprägt, auf Rodungsboden und im „Kolonialgebiet“ des Ostens, lassen diese Rechte sich vielfach auch nicht aus Verleihung oder Usurpation erklären, sondern sind ein Ausfluß der adligen Herrengewalt selbst, und die Forschung ist heute geneigt, solche „autogene Immunität“, wie man gesagt hat, auch sonst anzuerkennen113. Der Adel übte kraft eigenen Rechts eine Herrschaft aus, die Gerichtsbarkeit einschloß, deren Funktionen wir also heute „staatlich“ nennen würden114. Es ist daher unzureichend, sie mit „Grundherrschaft“ zu bezeichnen, wie seit längerem erkannt ist115. Sie ist vielmehr Herrschaft über Land und Leute. Herrschaft über Land und Leute ist aber auch die Herrschaft des Königs, und wie hinzugefügt werden muß, die Herrschaft Christi, sofern er König ist. Im Heliand wird der Weltenkönig Christus alouualdo alles landes endi lidio genannt

110 Vor allem in den Werken Viktor Ernsts, die aber das Verdienst haben, das Problem aufgegriffen zu haben: Die Entstehung des niederen Adels (1926). Mittelfreie (1920). Die Entstehung des deutschen Grundeigentums (1926). 111 H. Dannenbauer, Fränkische und schwäbische Dörfer am Ende des 8. Jhs. Festgabe f. K. Bohnenberger (1938), S. 53 ff. K. H. Ganahl, Langen-Erchingen. ZRG Germ. Abt. 58 (1938), S. 389 ff. Man vermißt in beiden Arbeiten Flurkarten. J. Sturm, Die Anfänge des Hauses Preysing (1931). H. Dachs, Germanischer Uradel im frühbairischen Donaugau. Verh. d. Hist. V. v. Oberpfalz und Regensburg 86 (1936), S. 119 ff. 112 Vgl. hierzu künftig R. Kötzschke, Salhof und Siedelhof (SB Leipzig). 113 Vgl. die bei Th. Mayer, Fürsten und Staat (1950), S. 278 genannte Literatur und Anm. 99. 114 Zur Gestaltung solcher Herrschaft im Spätmittelalter O. Brunner (vgl. Anm. 38), S. 276 ff., insbesondere S. 292 ff. über die zentrale Bedeutung der Hausherrschaft. 115 A. Dopsch, Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit (1939), S. 1 ff.

212

Walter Schlesinger

(v. 2287 f.). Die Zeit, in der die königliche Herrschaft aus der Grundherrschaft abgeleitet oder doch zu ihr in Parallele gesetzt wurde, liegt nahezu ein Jahrhundert zurück; diese Auffassung darf als überwunden gelten116. Wenn wir aber heute den alten Begriff der mittelalterlichen Grundherrschaft aufzulösen genötigt sind, wenn auch nicht auf dem Gebiete der Wirtschaftsgeschichte, wo er stets seine Bedeutung behalten wird, so doch in der Verfassungsgeschichte, und ihn durch „Herrschaft über Land und Leute“ ersetzen, so besteht allerdings Aussicht, diese Form der Herrschaft mit der des Königs wieder in engeren Zusammenhang zu bringen. Dabei gilt es freilich zunächst ein Mißverständnis zu beseitigen. Es könnte nach allem bisher Gesagten scheinen, als sei es erst die römisch beeinflußte „Grundherrschaft“ gewesen, die zu den Leuten als Objekt der Herrschaft das Land hinzugebracht habe. In der Tat hat man ja, in scharfem Gegensatz zu jener alten und überholten Auffassung, die alles aus dem Grundbesitz ableiten wollte, den „Staat“ des frühen Mittelalters als „Personenverbandsstaat“ gekennzeichnet, im Gegensatz zum „Flächenstaat“ einer |265| späteren Zeit117. Die Auffassung war dabei zunächst nicht etwa die, daß das Königtum seine gesamte Herrschaft allein auf persönliche Bindung gegründet habe, sondern es wurde sehr wohl gesehen, daß es einen „Staat“ auch in räumlicher Hinsicht gab. Das Königtum beherrschte ihn, so wurde dargelegt, durch Besetzung strategisch wichtiger Punkte und Straßen. „Erbe und Muster des römischen Staates“ wirkten dabei mit118. Andererseits wurde das Wesen des „modernen“ Staates keineswegs allein in seiner Flächenhaftigkeit gesehen, sondern er wurde ausdrücklich als „institutioneller“ Flächenstaat gekennzeichnet, d. h. die „staatliche“ Herrschaft erschien nicht nur in erhöhtem Maße auf den Raum bezogen, also verdinglicht und verdichtet, sondern zugleich versachlicht, der „Staat“ also als Idee und als Ziel, als ein objektiver Körper, der sich selbst seine Organe bestellt. Der in dieser Form ungemein fruchtbare Gedanke ist nun freilich in unzulässiger Weise vereinfacht worden, indem man ihn auf den bloßen Gegensatz von Personenverband und Fläche zurückführte119. Es kann nicht der geringste Zweifel sein, daß die königliche Herrschaft des frühen Mittelalters auch flächenhaften Charakter gehabt hat, auf das „Land“ bezogen war, nicht nur auf Personen. Gebietsherrschaft, d. h. „Führergewalt über die Insassen eines geographisch begrenzten Gebiets ohne Rücksicht auf ihr Stammesrecht120“, hat es bestimmt schon vor dem 11. oder 12. Jahrhundert gegeben. Die im frühen Mittelalter 116 G. v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters (1914; 2. Aufl. I925). 117 Vgl. vor allem den Anm. 100 zitierten Aufsatz Th. Mayers (mit reichen Literaturangaben). 118 a. a. O., S. 464. 119 Vgl. etwa F. Rörig, Geblütsrecht und freie Wahl in ihrer Auswirkung auf die deutsche Geschichte. Abh. Ak. Berlin 1945/46, Phil.-hist. Kl. Nr. 6, S. 22, 41, 43. W. Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen (1953), S. 17. Selbst H. Mitteis ist von dieser Vereinseitigung nicht frei: er setzt Festschr. F. Schulz S. 247 die Entstehung von „Gebietsherrschaft“ erst ins hohe Mittelalter. Ähnlich HZ 163 (1941), S. 478. Vgl. dagegen den Anm. 63 genannten Aufsatz von Zatschek. 120 Mitteis, HZ 163 (1941), S. 478.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

213

geltende „Personalität des Rechts“ war auf diese Beziehung ohne Einfluß. Unzweideutig belehrt uns hierüber wiederum die althochdeutsche Dichtung. Gleich die ersten Worte von Otfrids Gedicht lauten: Ludouuig ther snello, thes uuisduames follo, er ostrarrichi rihtit al so Frankono kuning scal; ubar Frankono lant so gengit ellu sin giuualt, thaz rihtit, so ih thir zellu, thiu sin giuualt ellu. |266|

Persönliches (Frankono kuning) und räumliches (Frankono lant) Element der Herrschaft sind eng verknüpft; rihten ist regieren. Keineswegs ist Frankono lant nur das Siedlungsgebiet des fränkischen Stammes, sondern, da es ostarrichi variiert, ist die orientalis Francia gemeint, das gesamte Reich des Angeredeten, Ludwigs des Deutschen. Gerade bei diesem Könige haben wir einen sehr deutlichen Beweis dafür, daß auch er selbst seine Herrschaft räumlich auffaßte: seit 833 datiert er seine Urkunden nach Regierungsjahren in orientali Francia. Vorher war seine Herrschaft auf Baiern beschränkt gewesen, und demgemäß heißt er in den großen Salzburger Annalen rex Baiowarie regionis121. Nicht anders ist die Vorstellung im Heliand. Hier erscheint Herodes als landes hirdi (v. 2743), und wenn Gott als landes uualdand (v. 1681), Christus als landes uuard (v. 1013, 2246 und öfter) bezeichnet wird, so muß dies aufs engste mit der Vorstellung vom Königtum zusammenhängen. Diese räumliche Auffassung der Herrschaft ist keineswegs neu, sondern sie begegnet bereits bei Gregor von Tours, der Chlodwig vor dem Kampfe gegen die Westgoten die Worte in den Mund legt: Valde molestum fero, quod hi Arriani partem teneant Galliarum. Eamus cum Dei adiutorium et superatis redegamus terram in ditione nostra122. Man könnte versucht sein, hier an eine beabsichtigte Vertreibung der Bewohner oder an Reste römischen Staatsdenkens bei dem einem senatorischen Geschlechte entstammenden Bischof zu denken. Aber dem widerspricht, wenn es im Edictum Chilperici heißt in regione nostra und noch deutlicher im Edikt Gunthrams infra regni nostri spatia und universa regio nostrae pacis et concordiae123, wenn Marius von Avenches zu 581 von einer marca Childeberti regis spricht, also von einem umgrenzten Gebiet124, wenn zu 612 eine Unterwerfung mit den Worten vollzogen wird: parce nos et terra nostra, iam tui sumus125. Die Beispiele ließen sich häufen. Insbesondere wäre der Geschichte des Wortes patria nachzugehen126. Bei den Westgoten erscheinen sehr deutlich principes, gens und patria als die drei Elemente,

121 SS. 30, S. 742. 122 SS. rer. Merov. I (ed. 2), S. 85. 123 Cap. I, S. 8, 11 f. 124 AA. 11, S. 239. 125 SS. rer. Merov. II, S. 308. 126 Hierzu A. Bach, Politische Begriffe und Gedanken sächsischer Geschichtsschreiber der Ottonenzeit (Diss. 1948), S. 55 ff. und G. Dupont-Ferrier, Revue Hist. 188 (1940), S. 89 ff.

214

Walter Schlesinger

die erst in ihrer Gesamtheit den „Staat“ ausmachen127. Das deutsche Wort für patria ist lant; seine Ge|267|schichte ist, soweit ich sehe, noch nicht umfassend untersucht worden. In Verbindungen wie Friesland, Hamaland, Rugiland, denen in althochdeutschen Glossen Lancpartolant, Peigirolant, Frankonolant usw. an die Seite zu stellen sind, zeigt sich die enge Verbindung, die der Stamm mit dem Raume eingeht, und solche Namen sind alt, wie die gotische Bezeichnung Caucalant für das Gebiet der Kauken bezeugt, die bereits im 4. Jahrhundert belegt ist128. Auch Namen wie Dänemark und England gehören hierher. Der politische Raum hat sogar die Kraft, neue Stammesnamen hervorzubringen. Das bezeichnendste Beispiel sind die Austrasii, und auch diese Art der Namengebung ist alt; die Bucinobantes z. B. mit ihrem von einer Landstrichbezeichnung abgeleiteten Namen treten ebenfalls bereits im 4. Jahrhundert entgegen. Wie Stamm und Volk durch die Fiktion der Blutsverwandtschaft als Einheit gedacht werden, so auch die Bewohner eines Landes: der Landsmann heißt im Heliand landmâg (v. 3814, ihm steht gegenüber der elilandig man v. 5139). In welcher Weise aus diesen sprachlichen Zeugnissen verfassungsgeschichtliche Schlüsse gezogen werden dürfen, mag offen bleiben129. Schon in taciteischer Zeit erscheinen jedenfalls die Gebiete der einzelnen Stämme als umgrenzte Räume, ja sogar lineare Grenzen waren bekannt. Ein Wall trennte die Angrivarier von den Cheruskern130. Gebietsherrschaft war also den Germanen schon in sehr früher Zeit bekannt, und es ist nicht nötig, sich ihretwegen auf das Erbe und Muster des Römischen Reiches zu berufen oder sie gar erst in hochmittelalterlicher Zeit entstehen zu lassen. Land und Leute gehören schon in germanischer Zeit zusammen; angelsächsische Zeugnisse lassen sich in großer Zahl beibringen131, im Frankenreiche ist es nicht anders, und auch im deutschen Reiche bleibt es dabei. Aus der Fülle der Belege aus jüngerer Zeit soll nur einer herausgegriffen werden: nach der Auffassung Widukinds ist es der omnis populus Francorum atque Saxonum, der den König bestellt. Dieser aber wird dadurch, nach dem Zeugnis der ersten von Otto d. Gr. überlieferten Urkunde, die kurz nach der Aachener Wahl ausgestellt ist, zum rex in Franconia et Saxonia (DO I 1). Diese enge Zusammengehörigkeit von Land und Leuten äußert |268| sich darin, daß Sitte und Recht auf das Land bezogen werden, nicht nur auf die Leute als ihre eigentlichen Träger: schon im Heliand begegnen Bildungen wie landsidu (v. 454), landwîsa (v. 796, 5404, 5739) und landreht (v. 5321); wer gegen die Ordnung des Landes verstößt, ist landscadho (v. 5415, „Landschädiger, lat. SS II 363 totius inimicus patriae. Vgl. ganz entsprechend v. 1080 liudscadho „Leuteschädiger“). So wird es verständlich, daß dem

127 L. Visig. VI 1, 3, 5; hrsg. Zeumer S. 178 f. 128 Ein Verzeichnis der älteren mit land gebildeten Namen bietet E. Förstemann, Altdeutsches Namenbuch II, 2 (3. Aufl. 1916), Sp. 16 f. 129 Vgl. hierzu künftig W. Fritze, Über germanische Ländernamen des Typus Rugiland. 130 Tac. Ann. II 19. Lineare Binnengrenzen müssen bereits in vorkarlingischer Zeit nicht selten gewesen sein; vgl. K. S. Bader, Der schwäbische Untergang (1933), S. 11 f. 131 Beer (vgl. Anm. 2), S. 235 ff.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

215

Worte Land selbst, das ursprünglich ganz gewiß etwas rein Räumliches bedeutet, personale Bedeutung zuwächst: wie könnte es sonst lat. populus glossieren132? Diesen Doppelsinn hat das Wort |269| im Spätmittelalter behalten und weiterentwickelt, worauf hier nicht einzugehen ist133. Zentrum räumlich sich erstreckender Herrschaft war das Herrenhaus, die Burg. Wir wissen aus der Geschichte Heinrichs IV. und der Staufer, daß Burgenbau die Mittel zu intensiver Raumerfassung an die Hand gibt134. Aber Burgen hat es schon vorher gegeben, und ihre Funktion in der Landes- und Volksverfassung war ganz die gleiche. Von der Unterwerfung des Baiernherzogs Arnulf unter Heinrich I. berichtet Widukind mit den Worten: tradito semet ipso cum omni regno suo. Wenige Zeilen vorher heißt es von der Unterwerfung des Schwabenherzogs Burchard: tradi-

132 Es muß hier angemerkt werden, daß die gedankliche Verknüpfung von Land und Leuten ursprünglich nicht der Sphäre der Herrschaft, sondern der Sphäre der Genossenschaft angehört. Das Land wird zu dem Stammes- und Volksverband in Beziehung gesetzt, der es bewohnt und bebaut, die angeführten Landesnamen lassen diesen Schluß auf alle Fälle zu. Völlig deutlich wird diese Vorstellung im Heliand, wo es v. 44 f. heißt: huilic than liudscepi landes scoldi uuîdost giuualdan. Zu vergleichen ist das angeführte Zeugnis aus dem Liber historiae Francorum (Anm. 125), und noch bei Otfrid regiert der König das Land der Franken als König der Franken; ein Recht am Lande kommt ihm nur zu, weil er an der Spitze des herrschenden Stammes steht. Der stets konservative sprachliche Ausdruck bewahrt die alte Anschauung, die aber in Wirklichkeit bereits überwunden war. Dies zeigt ein Teil der angeführten Zeugnisse, zeigen vor allem die fränkischen Reichsteilungen, die nicht nur Herrschaftsteilungen sind, sondern wirklich das Land teilen. Man kann diese Wandlung zurückführen auf den Gedanken der Hausherrschaft des Königs, der neben den der Gefolgsherrschaft trat, wie oben dargelegt wurde. Das Haus ist, wie gezeigt wurde, nicht nur ein Personenkreis, obwohl auch diese personale Seite sich bis in moderne Zeit erhalten hat (das „Haus Österreich“), es ist zugleich etwas Bodenständiges, umfaßt nicht nur die Wohn- und Wirtschaftsgebäude, sondern im weiteren Sinne auch das bewirtschaftete und damit in Besitz genommene Land samt den darauf Ansässigen. Aber diese Erwägung allein kann nicht genügen. Vielleicht kommt man den Dingen auf den Grund, wenn man davon ausgeht, daß das Land bei seiner Inbesitznahme als Kriegsbeute betrachtet wurde, deren Verteilung der Gefolgsherr handhabte. Von hier aus konnte sich ein Herrenrecht am Lande entwickeln, dem aber zugleich ein Recht der Genossenschaft gegenüberstand. Ammian stellt das Recht des Heerkönigs in den Vordergrund, wenn er von der regio Suomarii, von territoria sua (sc. Chnodomarii), Hortarii pagus usw. spricht (Belege bei A. Bauer, vgl. Anm. 46, S. 17). Dieses Recht kann weder als öffentlich noch als privat bezeichnet werden, sondern enthielt beide Elemente in sich. Die alte Rechtsanschauung lebt fort in der sächsischen Stammessage, wie sie Ssp. Ldr. III 44,3 wiedergegeben ist: Do irer so vele nicht newas, dat sie den acker buwen mochten, do sie die Dorinschen herren slugen unde vordreven, do lieten sie die bure ungeslagen unde bestadeden in den acker to also gedaneme rechte als in noch die late hebbet. Widukind I 14 spricht nur allgemein von Tribut, die Translatio S. Alexandri von coloni, die singuli pro sorte sua Tribut entrichten. Die Eroberung des Landes schließt die Inbesitznahme der einzelnen Bauernstellen ein, deren Besitzer auch hätten vertrieben oder verknechtet oder getötet werden können; sie werden aus Zweckmäßigkeitsgründen im Besitz belassen, aber zu niederem Recht. 133 O. Brunner, Land und Herrschaft (3. Aufl. 1943). 134 K. Bosl, Die Reichsministerialität der Salier und Staufer. 2 Bde. 1950/51.

216

Walter Schlesinger

dit semet ipsum cum universis urbibus et populo suo135. Populus ist hier, wie häufig bei Widukind, die Gefolgschaft136. Sie und die Burgen machen das regnum aus; zum persönlichen Element der Herrschaft tritt das räumliche, durch die Burgen vertretene. Auch in der Rede, die Widukind dem sterbenden Konrad I. in den Mund legt137, sind neben den copiae exercitus die urbes nicht vergessen unter dem, was als zum decus regium erforderlich angeführt wird. Die Bedeutung, die wir der Burg auf Grund von Quellen ganz anderer Art beigemessen haben, bestätigt sich hier138. Und man kann noch einen Schritt weitergehen. Nicht nur strategischer Stützpunkt war die Burg im frühen Mittelalter, sondern ganz wie in späterer Zeit Mittel zu wirklich intensiver Raumerfassung. Die Burgwarde der ottonischen Zeit im Lande an der Saale und mittleren Elbe stellen eine lückenlose Einteilung des besiedelten Landes dar, und in noch frühere Zeit, in den Ausgang des 8. Jahrhunderts, führen die Burgbezirke im südlichen Hassegau, im Winkel zwischen Unstrut |270| und Saale, die ebenfalls eine solche lückenlose Landeseinteilung dargestellt haben müssen. Handelt es sich dort um erobertes Slavenland, also um „Kolonialgebiet“, so hier augenscheinlich um ein Gebiet fränkischer Militärsiedlung an der Ostgrenze des Reiches, wohl mehr gegen die Sachsen als gegen die Slaven gerichtet. Herrschaft eigenen Rechts konnte sich im Markengebiet den planvollen, raumerfassenden Maßnahmen der königlichen Gewalt nicht hemmend in den Weg stellen, und insofern handelt es sich um Sonderfälle. Aber soviel lassen diese Sonderfälle doch erkennen: man kann vom Personenverbandsstaat des frühen Mittelalters nicht in dem Sinne sprechen, daß ihm die Tendenz zur Flächenhaftigkeit gar nicht innegewohnt habe, sondern nur in dem Sinne, daß diese Flächenhaftigkeit nicht in vollem Maße erreicht werden konnte, weil die Herrschaft des Königs über Land und Leute wenn nicht ihre Grenze, so doch ganz erhebliche Einschränkung dort fand, wo der Adel ebenfalls Herrschaft über Land und Leute geltend machte, und zwar kraft eigenen, angestammten Rechts. Der stufenförmige Aufbau des gefolgschaftlich geordneten Volkes, der sich im Lehnsstaat wiederholt, kommt hier zur Wirkung. Das Band, das diese adligen Herren über Land und Leute mit dem Könige verknüpfte, war wirklich in erster Linie ein persönliches, das erst mit Hilfe des Lehnrechts in gewisser Weise verdinglicht wurde, doch blieb noch immer genug Allodialbesitz übrig. Insofern trifft der Ausdruck Personenverbandsstaat ohne Zweifel zu. Unmittelbare Herrschaft über Mannen und Hintersassen des Adels vermochte der deutsche König nicht auszuüben, die adlige Herrschaft schob sich dazwischen, und die Königsherrschaft erfaßte

135 I 27, hrsg. Hirsch-Lohmann, S. 40. 136 Dies ist eins der Hauptergebnisse des Anm. 69 zitierten Aufsatzes von Plaßmann. 137 I 25, S. 38. 138 Vgl. auch Dudo von St. Quentin, hrsg. J. Lair, S. 159: denominat ei medietatem regni, scilicet urbes et castra, villas et oppida, aulas et palatia atque bonorum suorum supellectilia. Einen bloßen Personenverbandsstaat kann man dieses regnum gewiß nicht nennen. Auch an anderen Stellen tritt bei Dudo der flächenhafte Charakter der Herrschaft klar zutage.

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

217

infolgedessen nicht gleichmäßig die ganze Fläche des Reiches, wie dies der moderne Staat mit seinem Staatsgebiet tut, der insofern mit Recht, im Gegensatz zum „Staat“ des Mittelalters, als Flächenstaat bezeichnet wird. Auf diese Weise gefaßt, schließt der Ausdruck Personenverbandsstaat neben der Herrschaft über Leute die Herrschaft über Land keineswegs aus. Die Herrengewalt des Adels über Land und Leute ist, wenn der Gedankengang, den wir verfolgten, richtig ist, erwachsen aus Hausherrschaft und Gefolgsherrschaft. Aus Hausherrschaft und Gefolgsherrschaft erwuchs aber auch die Herrengewalt des Königs, die dann freilich durch hinzutretende Momente antik-christlicher Herkunft außerordentlich gesteigert wurde. Wir gelangen auf diese Weise zur Vermutung einer sehr alten, einheitlichen Herrengewalt, die, vielfach gefolgschaftlich gestaltet, sich als Herrschaft über Land und Leute ausprägt und erst in verhältnismäßig später Zeit in Königsherrschaft und Adelsherrschaft auseinandertritt. Ist |271| dies richtig, so nimmt es nicht wunder, wenn sowohl die res publica wie das dominium villarum deutsch als hertuom bezeichnet werden und publicus mit frôno glossiert wird, mit dem gleichen Worte, das auch in Verbindungen wie Fronhof entgegentritt, also im Bereiche der „Grundherrschaft“. Der Unterschied des öffentlichen und privaten Rechts in unserem Sinne wird damit im frühen Mittelalter für den herrschaftlichen Bereich gegenstandslos. Selbstverständlich hat es auch damals den Unterschied von „öffentlich“ und „privat“ gegeben, die Wörter publicus und privatus begegnen ja oft genug in den Quellen. Aber die Grenze zwischen beiden Bereichen verlief völlig anders als in unserer Zeit. Die burgstrâza ist die privata via, die hêrstraza die publica vel regia via (Gl. 3, 118). Am deutlichsten sagt Notker, was es mit dem Unterschied auf sich hat: Sîe heizent alle priuati die chuninga nesint139. Als „öffentlich“ (publicus) galt dem Mittelalter somit alle Herrengewalt des Königs, wobei man sich bewußt sein muß, daß die daraus entspringenden Rechte sich nicht mit unserem Begriff des öffentlichen Rechts decken, auch nicht mit dem Begriff der römischen res publica. Nur von diesem Befund aus kann ein Unterschied von Königsrecht und Volksrecht konstruiert werden, wobei man sich aber vergegenwärtigen muß, daß es sich um eine sekundäre Erscheinung handelt. Die Herrengewalt des Adels, der königlichen zunächst gleichartig, aber im Verlaufe eines überaus komplizierten historischen Prozesses ihr untergeordnet, kann ihr nicht als „privat“ in unserem oder im römisch-rechtlichen Sinne gegenübergestellt werden, denn die daraus entspringenden Rechte sind wie die des Königs „öffentlicher“ und „privater“ Natur zugleich. Aus dieser Herrengewalt des Adels ist im hohen und späten Mittelalter die Landesherrschaft erwachsen, ganz gewiß nicht ohne Aneignung königlicher Herrschaftsrechte, aber doch nicht so, daß sie allein aus der Übertragung oder Usurpation königlicher Rechte abgeleitet werden könnte. Auch Landesherrschaft ist

139 Die Schriften Notkers und seiner Schule, hrsg. P. Piper. 1. Bd. (1882), S. 76.

218

Walter Schlesinger

Herrschaft über Land und Leute, wie die Königsherrschaft und wie die „Grundherrschaft“. Ihrer Entstehung nachzugehen, gehört nicht mehr in den Rahmen dieses Aufsatzes. Nur einige allgemeine Bemerkungen, die den weiteren Verlauf der gezogenen Entwicklungslinie andeuten sollen, aber das Problem keineswegs erschöpfen können, sollen noch folgen. Der Aufstieg der Landesherrschaft war letzten Endes eine Frage der persönlichen Tüchtigkeit und eine Machtfrage. Der Aus|272|gangspunkt war ganz verschieden: Herzöge sind Landesherren geworden wie die Wittelsbacher, und Ministeriale wie die Reußen. Alleinige Voraussetzung war die Fähigkeit zur Ausübung adliger Herrschaft über Land und Leute; auch Ministeriale haben sie im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts, teilweise vielleicht schon früher erlangt. Entscheidend war, ob es gelang, Land und Leute von fremder Herrschaft freizumachen oder freizuhalten, außer der immer mehr verblassenden königlichen. Der Kampf um die Landesherrschaft wurde nicht nur nach oben hin geführt, als Kampf um die Emanzipation von der königlichen und, wo sie vorhanden war, von der herzoglichen Gewalt, nicht nur nach unten hin, als Kampf um die Intensivierung und straffe Konzentration der Herrschaftsrechte über die künftigen „Untertanen“, sondern auch, um im Bilde zu bleiben, seitlich, im Kampf gegen den Mitbewerber. Die Lockerung der Bindung ans Königtum, entscheidend gefördert durch den Investiturstreit, der die alten, letzthin sakral begründeten Bindungen persönlicher Art zerstörte, ist im 13. Jahrhundert endgültig geglückt. Die Steigerung und Zusammenfassung der Herrschaftsrechte nach unten hin stieß auf Widerstand vor allem bei dem vorzugsweise aus der Ministerialität erwachsenen niederen Adel und bei den Städten. Dieser Widerstand konnte nicht in allen Fällen überwunden werden; vor allem in Schwaben und Franken hielten sich große Teile beider als freie Reichsritterschaft und freie Reichsstädte von landesherrlicher Gewalt unabhängig. Die meisten Herren über Land und Leute scheiterten aber auf dem Wege zur Landesherrschaft im Kampfe mit den Mitbewerbern. „Staatlichkeit“ kann im Mittelalter nur als das Maß der Unabhängigkeit von fremder Herrschaft verstanden werden. Der Landesstaat hatte nur den König als Herrn über sich, und auch diesen nur sehr mit Einschränkung, schließlich, wenn überhaupt, nur noch dem Namen nach. Innerhalb seines Territoriums erkennt der Landesherr keine Herrschaftsgewalt des Königs mehr an, nur nach außen bleiben lockere Bindungen bestehen. Solche Unabhängigkeit zu erlangen und sich zu bewahren gelang nur wenigen. Die große Mehrzahl der adligen Herren unterlag, im Kampfe mit mächtigeren Nachbarn, deren Herrschaft sie in irgendeiner Form sich fügen mußten. Damit war der Traum eigener Landesherrschaft zu Ende. Die Herrschaft des Nachbarn gestaltete sich regelmäßig zur Landesherrschaft aus, auch wenn sie zunächst nur mit einer lockeren Abhängigkeit begonnen hatte. In großer Anzahl sind auf diese Weise die Grafen und Herren Landsassen geworden, und auch den Reichsfürsten gewährte mehr ihre tatsächliche Macht als ihre Stellung im Reiche Schutz, wie daraus hervorgeht, daß die weniger mächtigen geist|273|lichen Reichsfürsten teilweise zu Landsassen großer Landesherren herabgedrückt wurden. Nicht nur Äbten widerfuhr dies, sondern auch Bischöfen, wie

Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte

219

denen von Meißen, Merseburg und Naumburg, die sich der Wettiner nicht zu erwehren vermochten. Wo solche Unterwerfung unter fremde Herrengewalt nicht erfolgte, mußte, und darin liegt die beste Bestätigung für die Richtigkeit des Gesagten, der adlige Herr selbst als „Landesherr“ gelten, auch wenn er die Landesherrschaft gar nicht anstrebte, wie die Reichsritter, die als Überbleibsel einer weit zurückliegenden Zeit mit den Kategorien des Staatsrechts schon des 18. Jahrhunderts gar nicht mehr zu fassen waren140. „Staaten“ sind diese Miniaturherrschaften nie gewesen, auch nicht „Länder“, aber sie gehörten auch nicht zu anderen Staaten oder Ländern, und so hat sich hier eine Herrschaftsform bis weit in die Neuzeit hinein erhalten, die nichts anderes ist als die seit dem hohen Mittelalter nicht mehr weitergebildete, zugleich öffentliche und private Herrschaft über Land und Leute. Vergleichbar sind aber auch Gebilde wie die schwarzburgischen und reußischen Fürstentümer und das Fürstentum Waldeck, deren „Souveränität“ im 19. Jahrhundert nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß hier in Wirklichkeit die alte ungeteilte Herrengewalt des Mittelalters fortlebte, ein „moderner“ Staat gar nicht entstanden war, oder die Herrschaft Schönburg, die zwar 1740 vom sächsischen Kurstaat verschluckt wurde, deren Gerichtsbarkeit aber kraft eigenen Rechts bis 1878 bestanden hat, also bis ins Bismarckreich hinein, als ein Rest mittelalterlicher Adelsherrschaft141. Es ist nicht zu erörtern, auf Grund welcher Rechtstitel Unterwerfung unter fremde Herrschaft erfolgte oder unterblieb, da es in jedem Einzelfalle verschieden ist. Es ist auch nicht darauf einzugehen, welche Rechte verschiedener Art und verschiedener Herkunft in ihrer Vereinigung in der Hand des Landesherrn den Begriff der Landesherrschaft ausmachen, denn auch das ist überall verschieden, und die Frage ist daher grundsätzlich falsch gestellt. Die Landesstaaten des Spätmittelalters sind individuelle historische Gebilde und entziehen sich deshalb der Definition mittels allgemeiner Begriffe. Es ist unmöglich, den Punkt der geschichtlichen Linie zu bestimmen, mit dessen Erreichung die Landesherrschaft „fertig“ ist. Grundlage der Landesherrschaft ist überall die Herrschafts|274|gewalt des Adels über Land und Leute, die private und öffentliche Rechte ungesondert in sich enthält. In doppelter Weise konnte sie sich entwickeln: nach der privaten Seite hin zur Grundherrschaft, die man, wenn man für die alte Zeit an dem Ausdruck festhält, besser als „jüngere“ Grundherrschaft bezeichnen müßte, nach der öffentlichen Seite hin zur Landesherrschaft. Die begriffliche Scheidung der öffentlichen von der privaten Sphäre in unserem Sinne erfolgte ganz gewiß unter dem Einfluß der Rezeption des römischen Rechts, aber die tatsächliche Entwicklung in Deutschland kam ihr entgegen. Wird Herrschaft über Land und Leute fremder Herrschaft unterworfen, so hat sie einen Teil ihrer Rechte an den nunmehr übergeordneten Herrn abzutreten oder mindestens anzuerkennen, daß diese Rechte eigentlich abzutre140 Vgl. Th. Mayer, Analekten zum Problem der Entstehung der Landeshoheit, vornehmlich in Süddeutschland. Bll. f. dt. Landesgesch. 89 (1952), S. 93. 141 Hierzu künftig W. Schlesinger, Die Landesherrschaft der Herren von Schönburg. Eine Studie zur Geschichte der Entstehung des Staates in Deutschland.

220

Walter Schlesinger

ten wären. Sie werden in diesem Falle als delegiert betrachtet, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht sind, sie werden nunmehr kraft Privilegs besessen, obwohl sie nicht verliehen sind und ein schriftliches Privileg im Einzelfalle weder begehrt noch ausgestellt wurde. Was dem Grundherrn verbleibt, erscheint als „privates“ Recht. Es entsteht die „private“ Grundherrschaft des Spätmittelalters und der Neuzeit, ein Wirtschaftskörper, der des politischen Charakters mehr und mehr entkleidet wird, obwohl ihm über die Sphäre des „Privaten“ hinaus „öffentliche“, nunmehr als delegiert betrachtete Rechte verblieben sind. Wird die adlige Herrschaft fremder Herrschaft nicht unterworfen, sondern unterwirft sich vielmehr fremde Herren, so entsteht notwendigerweise das Bestreben, der einheitlichen Herrengewalt alle neu zugewachsenen Rechte zu integrieren, sie aus ihr abzuleiten. Sie ändert damit ihren Charakter, wird zur „öffentlichen“ Landesherrschaft. Denn der Kreis der Rechte, die sie in sich aufnimmt, ist ein beschränkter. Die Unterwerfung entkleidet die Unterworfenen nicht aller, sondern nur einiger Rechte, deren einheitliche Wahrnehmung für die Zwecke der neuen Herrschaftsform nötig scheint. Indem solche Herrschaft sich bewußt Zwecke setzt, tritt sie heraus aus dem Kreise der gewachsenen Ordnungen der Gemeinschaft, es entsteht ein objektiver, gedachter und gewollter politischer Körper, der „institutionelle“ Staat. Der „politische“ Zweck tritt jetzt ganz in den Vordergrund, zu seiner Erreichung wird ein Apparat geschaffen, der nun in der Tat nur delegierte Rechte ausübt: das Beamtentum. Der Landesherr, der sich weitgehend aus dem Reichsverbande gelöst hat, erscheint nicht nur als oberster Richter, sondern als oberster Herr überhaupt. In seinem Lande ist er dem Kaiser gleich. Die Landesherrschaft wird zur Landeshoheit. Gleichmäßig ergreift nunmehr die landesherrliche Gewalt jeglichen Bewohner, jegliche fremde Gewalt wird |275| aus dem Territorium ausgeschlossen, es wird „undurchdringlich“. Insofern sich die Rechte des Landesherrn auf den objektiven politischen Körper des Landes beziehen, sind sie „öffentlich“, und da das Land sich jetzt bei weitem nicht mehr mit dem ursprünglichen Bezirke seiner adligen Herrschaft deckt, die gleichwohl der Ausgangspunkt der Entwicklung ist, treten die hier ausgeübten Rechte zum Teil, soweit sie nicht in seiner „öffentlichen“ Gewalt aufgegangen sind, in die Sphäre des Privaten zurück: der Kern einer landesherrlichen Domäne wird ausgeschieden. Dies ist das Bild des modernen „institutionellen Flächenstaats“, der in Deutschland bekanntlich nicht im Reiche, sondern in den Territorien entstand.

Kommentar

221

Kommentar Walter Schlesinger wurde 1908 geboren und war damit zu jung, um noch als Soldat am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. 1927 begann er in Tübingen zu studieren (wo er Heinrich Dannenbauer begegnet sein dürfte, der damals dort als junger Privatdozent lehrte). Nach vier Semestern wechselte Schlesinger nach Leipzig. Dort studierte er bei Rudolf Kötzschke, bis hin zur Promotion 1934. Dessen Nachfolger, Adolf Helbok, war ein Nationalsozialist aus Österreich, gab seit 1924 die Zeitschrift „Volk und Rasse“ heraus und widmete sein wissenschaftliches Oeuvre der historischen Rassekunde. Schlesinger wechselte angesichts dessen, obgleich er selbst bereits seit 1929 Mitglied der NSDAP war, an das Historische Seminar in Leipzig und wurde Assistent von Hermann Heimpel. 1940 habilitierte er sich hier mit einer Arbeit, die seine weitere wissenschaftliche Karriere begründete: Seine Habilitationsschrift war eine Studie zur Entstehung der Landesherrschaft in Sachsen und Thüringen.1 Sie erschien im Jahr darauf im Druck.2 Mit dieser Untersuchung fügte sich Schlesinger in den damaligen Paradigmenwechsel der deutschen Verfassungsgeschichte ein: Auch er zeichnete ein deutlich anderes Bild, als es Waitz und seinesgleichen im 19. Jahrhundert kanonisiert hatten. Und auch für Schlesinger war dabei die Frage zentral, wie unter den Germanen und dann – in langer Kontinuität – im Mittelalter Herrschaft organisiert worden sei. Das Modell, das Otto Brunner mit seinem Buch „Land und Herrschaft“ 1939 am Beispiel des spätmittelalterlichen Österreichs etabliert hatte,3 griff Schlesinger sichtlich auf; indem er auf Quellen des Frühmittelalters blickte, erweiterte er es aber noch. Er sah nicht allein die Sphäre des Hauses als Wurzel aller Herrschaft. Wichtig war Schlesinger vielmehr, dass die Herrschaft des Königs im Zuge der „Völkerwanderung“ auch aus der Führung kriegerischer Gefolgschaften erwachsen sei (die er freilich ihrerseits in gewisser Weise auch wieder mit der Sphäre des Hauses verbunden sah).4 Dabei interessierte Schlesinger die Zeit der Germanen vor allem insofern, als er hier ein spezifisch „germanisches Wesen“ angelegt wusste, das dann über Jahrhunderte, bis weit ins Hochmittelalter hinein, historisch wirksam geblieben sei. Methodisch bemühte sich Schlesinger in seiner Habilitationsschrift, insbesondere aus frühen deutschsprachigen Glossen und anderen volkssprachigen Texten auf 1 Zu Schlesingers Person vgl. ausführlich, aber auch aus großer persönlicher und teils unkritischer Nähe: Hans Patze, Erinnerungen an Walter Schlesinger. In: Ausgewählte Aufsätze von Walter Schlesinger, 1965–1979, hrsg. Hans Patze/Fred Schwind. Vorträge und Forschungen 34 (Sigmaringen 1987) IX–XXVIII; außerdem Enno Bünz, Schlesinger, Friedrich Walter. In: Sächsische Biografie (2008), hrsg. Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. Martina Schattkowsky, Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/ (25.2.2018). 2 Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchungen vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen. Sächsische Forschungen zur Geschichte 1 (Dresden 1941). 3 Vgl. oben, 176 f. 4 Vgl. oben, 187–197.

222

Walter Schlesinger

Denkweisen und Vorstellungen der Menschen östlich des Rheins und damit auf die „Verfassung“ zurückzuschließen. Hinter diesem Ansatz stand letztlich das sogenannte „Übersetzungsproblem“5– also die Annahme, dass die lateinische Sprache nur sehr unzureichend die tatsächlich erst germanischen, dann deutschen Begriffe, Vorstellungen und Praktiken abzubilden vermocht habe. Schlesingers Lösung des Übersetzungsproblems bestand darin, aus den Etymologien deutscher Wörter zu erschließen, mit welchen – von der römischen Welt und ihrem Latein deutlich unterschiedenen – Begriffen und Vorstellungen die Akteure ihre Welt geordnet und folglich auch gehandelt hätten. Die Habilitationsschrift brachte Schlesinger rasch einen Ruf ein: Schon 1942 erhielt er die ehemalige Professur seines Lehrers Rudolf Kötzschke in Leipzig. Als Mitglied der NSDAP verlor Schlesinger allerdings nach dem Krieg seine Stelle.6 Seine wissenschaftliche Tätigkeit stellte er jedoch nicht ein. Und tatsächlich wird in seinen Veröffentlichungen der Nachkriegszeit sogar eine hohe, ja fast ungebrochene Kontinuität sichtbar: Das Feld der Verfassungsgeschichte, das Thema von Herrschaft und Gefolgschaft, die stark an der Quellensprache und der Etymologie einzelner deutscher Wörter orientierte Methode – all das spielte auch in Schlesingers Arbeiten nach 1945 eine zentrale Rolle. Sein hier abgedruckter Aufsatz erschien zuerst im Jahr 1953 in der Historischen Zeitschrift; und auch in diesem Text ist die wissenschaftliche Kontinuität zu seiner Habilitationsschrift von 1940 mit Händen zu greifen. Schlesinger war damals bereits in den Westen, nach Marburg übergesiedelt; eine neue Professur aber hatte er noch nicht inne. Erst 1954 erhielt er einen Ruf an die Freie Universität, 1959 dann nach Frankfurt am Main, 1964 schließlich nach Marburg. Der Aufsatz von 1953 bündelt in präziser Weise wesentliche Thesen der seit den 1930er Jahren erarbeiteten „Neuen deutschen Verfassungsgeschichte“: So findet sich hier die auch von Dannenbauer mit Verve vertretene Auffassung, dass das Leben der Germanen durch Adel, Burg und Herrschaft strukturiert worden sei;7 die auch von Brunner vertretene Idee, dass alle Herrschaft vor der Moderne gleichartig gewesen sei, eine öffentliche Gewalt als solche also gar nicht ausgemacht werden

5 Vgl. Philipp Heck, Übersetzungsprobleme im frühen Mittelalter (Tübingen 1931). 6 Angesichts des hohen Ansehens Schlesingers in der Mediävistik der Nachkriegszeit nimmt es nicht wunder, dass seine Nähe zum NS-Regime in seinen Nachrufen eher heruntergespielt wurde. Wichtig ist aber auch hier zu differenzieren: Schlesinger hat sich Rassentheorien, wie sie in Teilen der NS-Geschichtswissenschaft üblich waren, nicht wissenschaftlich zu eigen gemacht. Wichtig ist auch der Hinweis, dass er – laut Patze, Schlesinger, X – aufgrund eines regimekritischen Feldpostbriefes beinahe vor das Kriegsgericht gestellt worden wäre und wohl zur Strafe von seinem Divisionskommandeur zu einer Nachschubeinheit auf dem Balkan versetzt wurde, wo er 1943 am Arm verwundet wurde. Bei Bünz, Schlesinger, ist daraus übrigens Folgendes geworden: „Kritische Äußerungen in einem Feldpostbrief aus Bosnien, der an seine Frau gerichtet war und von der Zensur geöffnet wurde, brachten ihm im Januar 1943 ein Kriegsgerichtsverfahren und die Versetzung in eine Strafkompanie ein, wo er bald darauf bei einem Partisanenangriff schwer verwundet wurde.“ 7 Vgl. dazu den in diesem Band abgedruckten Beitrag von Dannenbauer, oben, 127–173.

Kommentar

223

könne und der „Staat“ des Mittelalters seinem Wesen nach Herrschaft gewesen sei; die ursprünglich von Theodor Mayer ersonnene These, dass die Freien des Frühmittelalters tatsächlich nur „Königsfreie“ gewesen seien (das heißt eigentlich Unfreie, die auf Königsland angesiedelt waren);8 und insbesondere die von Schlesinger selbst begründete Ansicht, dass die Herrschaft des Adels wie des Königs auch aus der Führung eines kriegerischen Gefolges erwachsen sei. Hinter alledem standen – wenngleich kaum explizit reflektiert – auch weiterhin Vorstellungen, die schon die Debatte des 19. Jahrhundert strukturiert hatten: dass es ein „germanisches Wesen“ gebe, das sich wissenschaftlich ermitteln lasse; dass Völker so etwas wie Grundeinheiten der Geschichte seien, deren innere Ordnung die Verfassungsgeschichte zu ermitteln habe; und dass zumindest außerhalb der Gebiete, die zum Imperium Romanum gehört hatten, eine – letztlich völkisch determinierte – Kontinuität in der Verfassungsgeschichte existiert habe, die es dem Historiker erlaube, die „Germania“ des Tacitus und die „Sachsengeschichte“ des Widukind von Corvey einander gegenseitig stützend und erhellend nebeneinanderzustellen. Bezeichnenderweise ist allerdings in den 1950er und 1960er Jahren Schlesingers Beitrag zu Herrschaft und Gefolgschaft intensiv diskutiert worden. So widersprachen beispielsweise František Graus und Karl Kroeschell der Auffassung Schlesingers, es habe eine spezifisch „germanische“ Treue gegeben, die den Gefolgsmann an seinen adligen Herrn gebunden habe.9 Hans Kuhn behandelte 1956 in einem langen Aufsatz die „Grenzen der germanischen Gefolgschaft“, in dem er zeigte, dass sich für die Germanenzeit und im Frühmittelalter Gefolgschaften in den Quellen kaum nachweisen lassen.10 Walter Schlesinger selbst antwortete dann in einem Beitrag von 1963 auf diese (und weitere) Kritik.11 Wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswert ist es im Übrigen, dass in Teilen der angelsächsischen Forschung seit den 1980er Jahren Ansichten zur Organisation des Kriegs im Frühmittelalter vertreten worden sind, die der Sache nach in interessanter Parallele zu Schlesingers Grundideen stehen, jedoch ohne alle Herleitungen aus der „Germania“ des Tacitus oder einem „germanischen Wesen“ auskommen. Timothy Reuter hat die Auffassung vertreten, dass Kriege im Frühmittelalter von „warbands“ ausgetragen worden seien, die unter Führung einzelner Magnaten nach Beute streb-

8 Einen Überblick über die sogenannte „Königsfreien-Theorie“ sowie eine substantielle Kritik an ihr bietet Johannes Schmitt, Untersuchungen zu den Liberi Homines der Karolingerzeit (Frankfurt/ M. 1977). 9 František Graus, Über die sogenannte germanische Treue. Historica 1, 1959, 71–121; Karl Kroeschell, Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte. Studi Medievali, serie terza 10, 1969, 465–489. 10 Hans Kuhn, Die Grenzen der germanischen Gefolgschaft. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germ. Abt. 73, 1956, 1–83. 11 Walter Schlesinger, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue. In: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters 1. Germanen, Franken, Deutsche (Göttingen 1963) 286–334.

224

Walter Schlesinger

ten.12 Schlesinger rechnete mit einer ganz ähnlichen Form von Beutekriegen: „In der Volksversammlung erklärt ein princeps, er wolle Führer eines Beutekrieges sein, wer ihm folgen wolle, möge sich melden. Die zur Teilnahme Bereiten tun dies, und damit bereits ist eine Treueverpflichtung eingegangen, denn wer nun zurücktritt, gilt als Deserteur und Verräter. Noch die Züge der Wikinger müssen in ähnlicher Weise vorbereitet worden sein.“13 Es bleibt eine Aufgabe weiterer Forschung, einmal genauer den möglichen Verbindungslinien von der „Gefolgschaft“ der „Neuen deutschen Verfassungsgeschichte“ zum „warband“-Modell der jüngeren Frühmittelalterforschung nachzuspüren. St. P.

12 Vgl. Timothy Reuter, Plunder and tribute in the Carolingian empire. Transactions of the Royal Historical Society 35, 1985, 75–94; ders., The end of Carolingian military expansion. In: Charlemagne’s heir. New perspectives on the reign of Louis the Pious (814–840), hrsg. Peter Godman/Roger Collins (Oxford 1990) 391–405; ders., Carolingian and Ottonian warfare. In: Medieval warfare. A History, hrsg. Maurice Hugh Keen (Oxford 1999) 13–35. 13 Schlesinger, oben, 192.

IV Neue Akzente (1970er und 1980er Jahre)

Reinhard Wenskus

Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes Nichts kann die Bedeutung politischer Ideen im Geschichtsprozeß besser beleuchten als die Zertrümmerung des römischen Reiches. Diese Behauptung mag übertrieben erscheinen; war es nicht im Gegenteil die nackte Gewalt naivunbefangener Barbarenheere, die den Raum eines sich als universale Macht verstehenden Reiches mit einem ausgeprägten Staats- und Kulturbewußtsein aufsplitterte und für die ganze Folgezeit zu einem System rivalisierender Nachfolgestaaten umgestaltete? So selbstverständlich diese Auffassung noch vor kurzem erschien, so fragwürdig ist sie uns heute. Es lag keine geschichtliche Zwangsläufigkeit darin, daß die erobernden Germanenstämme, angetrieben vom Streben nach Macht und Reichtum und scheinbar ohne eigene politische Konzeptionen, zu Reichsbildnern werden mußten. Vergleichen wir doch die Verhältnisse in dem Universalreich am anderen Ende der Alten Welt. Große Teile Chinas wurden fast zur gleichen Zeit (vom 4. bis zum Ende des 6. Jahrhunderts) die Beute verschiedener „barbarischer“ Völker und Dynastien. Doch die „sechzehn Reiche“ im Norden des Landes hatten keinen Bestand. Der konfuzianische Universalismus triumphierte über sie und wurde nach der Einigung durch die Sui zur Grundlage des neuen Weltreichs der T’ang. Die Fremdstämmigen wurden sehr rasch eingeschmolzen und traten als Typen eigener Prägung nicht mehr hervor. Warum gelang es dann im Westen nicht, die Mehrzahl der eindringenden Barbaren zu Trägern des römischen Staats- und Kulturbewußtseins zu machen? Es müßte doch ein leichtes gewesen sein, unter den vom Glanz Roms geblendeten Barbaren aus dem Norden den römischen Reichsgedanken zu erhalten. Warum wurde Norditalien zur Lombardei, Britannien zu England, Gallien zu Frankreich? Wie konnte es dazu kommen, daß der Romanisierung der Franken eine „Frankisierung der Romanen“ parallel lief1, daß die Romanen Nordgalliens das fränkische Volksbewußtsein annahmen? Es war eben mehr geschehen als nur eine Besitzergreifung von Teilen römischen Bodens. Gleichzeitig vollzog sich der Einbruch eines neuen politischen Bewußtseins in den Raum der antiken Geschichte, das dem spätrömischen Staatsdenken geradezu „entgegengesetzt“ war2. Diese Er|2|kenntnis, bereits

1 H. LÖWE, in: DA 9 (1952), S. 373. 2 H. BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in: Vorträge und Forschungen III (1956), S. 219 f. https://doi.org/10.1515/9783110563061-009

228

Reinhard Wenskus

1916 bei A. Dove in seinen „Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens“3 aufleuchtend, blieb lange Zeit unbeachtet, bis sie gleichzeitig und unabhängig voneinander von zwei Seiten wieder aufgegriffen wurde4. Der „Genti1ismus“ der landnehmenden Stämme war als Denkform politisch stärker als das römische Reichsbewußtsein der Provinzialen. Die gentes der Barbaren, die sich als Abstammungsgemeinschaften empfanden, preßten in ihr politisches Denkschema auch das Römertum hinein, das fortan als eine gens unter anderen betrachtet wurde. Die Gedankenwelt dieses gentilen Bewußtseins, besonders von W. Fritze eingehend dargestellt5, weist nun eine ganze Reihe gemeinsamer Züge mit dem von der Ethnosoziologie in neuerer Zeit herausgearbeiteten ethnischen Bewußtsein der sogenannten „Naturvölker“ auf. Daneben gibt es jedoch manche Besonderheit, die sich gegen den Hintergrund der ethnosoziologischen Typik abhebt. Die Bedeutung dieser Erscheinungen für die spätere abendländische Geschichte erfordert eine eingehendere Analyse dieser Übereinstimmungen und Unterschiede, die uns den „Gentilismus“ als die besondere völkerwanderungszeitliche germanische Form des ethnischen Bewußtseins in ihrer Eigenart näherbringen soll. Die allgemeinste Aussage, die wir über den Stamm machen können, ist die, daß er als eine Gemeinschaft von Menschen ein soziales Gebi1de ist. Als ein solches ist er Gegenstand der Ethnosoziologie und politischen Ethnologie. Beides sind vergleichsweise sehr junge Disziplinen mit allen Vorzügen und Mängeln, die einer jungen Wissenschaft anhaften. Daher sind sie auch noch nicht imstande, uns eine ausgebildete „Theorie vom Ethnos“ zu liefern, die das letzte Ziel dieser Forschungsrichtung bleibt6. Für unsere Zwecke ist dieser Forschungsstand nicht einmal immer von Nachteil. Die zahlreichen Beobachtungen und Einzelsätze erhielten so noch keine feste Funktion innerhalb eines theoretischen Systems, das vielleicht unserem Gegenstand nicht ganz gerecht wird. Sie sind daher noch nicht durch dieses System mitdeterminiert und eignen sich so besser zum Vergleich. Um Mißverständnisse zu vermeiden, müssen einige Worte zur Rechtfertigung der Methode vorausgeschickt werden. Die unliebsamen Erfahrungen mit anderen soziologischen und ethnologischen Theorien haben bei vielen Historikern und Rechtshistorikern eine ablehnende Haltung gegen|3|über der Anwendung soziologischer Sätze und ethnologischer Parallelen hervorgerufen. Es ist sicher gerechtfertigt, daß K. S. Bader7 mahnt, nur wirklich Vergleichbares zu vergleichen. Wir können nicht leugnen, daß ein Hottentottenkral oder eine „indianische Horde“ kein dem. σικσς oder

3 SB. Heidelb., phil.-hist. Kl. (1916). 4 H. LÖWE, in: DA 9 (1952), S. 373 ff. W. FRITZE, Untersuchungen zur frühslavischen und frühfränkischen Geschichte bis ins 7. Jahrhundert. Diss. Masch. (Marburg 1951). 5 Vgl. Anm. 4. Bis zur Veröffentlichung dieser Arbeit vgl. H. BEUMANN in dem Anm. 2 genannten Aufsatz S. 219 ff. 6 Vgl. W. MÜHLMANN, Methodik der Völkerkunde (1938), S. 227. 7 HZ 176 (1953), S. 451, Anm. 1.

Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung

229

der römischen gens unmittelbar vergleichbarer Verband ist. Doch erhebt sich jetzt die Frage, woher wir denn Kriterien besitzen, die zwei oder mehr Objekte vergleichbar machen. Die bisher herrschende Meinung hielt offenbar die Sprachgemeinschaft für ausreichend, um einen Vergleich zu rechtfertigen. So billigt etwa auch K. S. Bader8– bei aller Vorsicht – einen Vergleich innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie. Eine solche Einstellung beruht nun aber auf der heute sehr umstrittenen Annahme, daß es so etwas wie ein indogermanisches Urvolk mit relativ einheitlicher Kultur und Verfassung gegeben habe. Die ethnographische Erfahrung lehrt jedoch, daß sich Kulturraum und Sprachgemeinschaft sehr selten decken. Doch selbst wenn die erwähnte Annahme zutreffen sollte, bleibt die Schwierigkeit, daß gerade die ältesten Zeugnisse von indogermanisch sprechenden Gemeinschaften aus Räumen stammen, in denen sich indogermanische Gruppen über kulturell schon stärker differenzierte Gemeinwesen geschichtet haben, was nicht ohne nachhaltige Umgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse geblieben sein kann. Den gleichen Einwand kann man grundsätzlich auch dann erheben, wenn man den Vergleich auf germanisch sprechende Völkerschaften begrenzt. Immerhin liegt hier die Sache insofern etwas anders, als das Germanentum um Christi Geburt keine bloße Sprachgemeinschaft mehr war, sondern sich auf dem Wege zur ethnischen Konzentration befand9, der allerdings durch das Zusammentreffen mit Rom abgeschnitten wurde. Doch auch hier sind die Grundlagen in den einzelnen Räumen, die durch gemeinsame Sprachentwicklung zusammenwuchsen, durchaus verschieden gewesen. Ein Vergleich kann hier – soweit die Quellen es zulassen – dennoch fruchtbar sein. Fragwürdig wird er jedoch, wenn wir voraussetzen, es habe zu irgendeiner Zeit eine einheitliche germanische Kultur und Verfassung gegeben, und wenn der Vergleich dann benutzt wird, um diese germanische Normalverfassung zu rekonstruieren. Dieses Vorhaben erweist sich bereits im Ansatz als verfehlt, besonders dann, wenn sich damit die romantischidealisierende Vorstellung verbindet, diese Verfassung sei ein harmonisches System aufeinander abgestimmter Institutionen gewesen10. Isländische Quellen mögen in einzelnen Punkten eine |4| gute Hilfe bei der Interpretation der Germania des Tacitus sein, in manchen haben sie nachweislich zu Fehldeutungen geführt11. Dabei ist erst noch zu beweisen, daß es sich dort, wo die Parallelität bestand, um spezifisch germanische und nicht allgemeinere Erscheinungen gehandelt hat. Andererseits läßt sich an vielen Stellen der Erde zeigen, daß die Gebiete gleicher sozialer und politischer

8 Vgl. oben Anm. 7. 9 Vgl. unten [= Wenskus, Stammesbildung und Verfassung] S. 210–272. 10 Vgl. als Beispiel H. J. MADER, Sippe und Gefolgschaft bei Tacitus, S. 1. H. JANKUHN, Gemeinschaftsform S. 16, weist mit Recht auf die unerklärlichen Gegensätze innerhalb des Germanentums hin. „Darum das eine für echt germanisch, das andere für fremd zu halten, liegt zunächst keine Veranlassung vor.“ 11 Über die Ausnahmestellung Islands in der germanischen Welt vgl. O. HÖFLER, Politische Leistung, S. 13; DERS., in: Germanien (1937), S. 193 ff.

230

Reinhard Wenskus

Struktur nicht notwendig auf Sprachgrenzen Rücksicht nehmen12. Schon aus diesem Grunde müssen die Nachbarn immer in den Vergleich mit einbezogen werden. Tatsächlich läßt es sich auch in unserem Falle wahrscheinlich machen, daß die Verfassung benachbarter keltischer und germanischer civitates ähnlicher sein kann13 als die der germanischen bzw. keltischen untereinander. Aus diesen Überlegungen ergibt sich erstens, daß der Vergleich benachbarter Räume Erfolg verspricht, und zweitens, daß der Vergleich nicht mehr mit der Absicht unternommen werden darf, bestimmte „Ur“-Formen zu rekonstruieren. Der Vergleich von Verfassungsformen ist in seiner Anwendungsmöglichkeit noch nach einer anderen Seite hin begrenzt. Die vergleichende Methode ist in der Rechtsgeschichte nur mit Vorsicht zu benutzen, wenn es gilt, die Verwandtschaft und die Herkunft bestimmter Rechtsordnungen zu beweisen. B. Rehfeldt hat die Situation der vergleichenden Rechtswissenschaft der der vergleichenden Sprachwissenschaft gegenübergestellt14 und kommt zu dem Ergebnis, daß in der ersten bei weitem nicht die Sicherheit zu erreichen ist wie in der zweiten. „Finden sich dagegen bei zwei Völkern gleiche Rechtsinstitutionen selbst in großer Zahl vor, so beweist das für ihre Urverwandtschaft dennoch nichts. Die Ähnlichkeit zweier Rechte hängt fast mehr von der allgemeinen Kultur- und Entwicklungsstufe ihrer Völker als von deren gegenseitiger Verwandtschaft ab.“ Als Ursache erkennt B. Rehfeldt, daß die Grundtypen aller Rechtsinstitutionen auf dem ganzen Erdball in vergleichsweise geringer Variationsbreite wiederkehren15. |5| Das beruht wieder darauf, daß viele soziale Prozesse und Strukturen sich überall auf der Welt wiederholen16. „Die Elemente politischer Bildung sind an keine Epoche oder Völkergruppe, an keinen Kulturkreis gebunden“17. Die kulturhistorische Methode18 der Wiener ethnologischen Schule ist hier also nur sehr bedingt anwendbar. Ohne auf den Methodenstreit zwischen dieser Schule und den sogenannten „Funktionalisten“ weiter einzugehen, bleibt festzustellen, daß das Material der letzteren für unsere Zwecke brauchbarer erscheint, weil sie die soziologisch-politische Seite des Völkerlebens

12 Vgl. U. KAHRSTEDT, in: PZ 28/29 (1937/38), S. 405, der dabei auf die Gleichzeitigkeit der Entwicklung zur Polis bei kleinasiatischen Griechen, Karern und Lykern hinweist. 13 Vgl. die besonders großen Gemeinsamkeiten, die das Germanische und das Keltische in den Bereichen des Rechts- und Staatswesens verbinden; H. KRAHE, Sprache und Vorzeit, S. 134 ff. – Für uns ist dabei interessant, daß bei den meisten Ausdrücken sich keine Priorität des Keltischen nachweisen läßt; H. KRAHE, aaO., S. 136. 14 Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte, S. 105 ff. 15 Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte, S. 106; DERS., Grenzen der vergleichenden Methode in der rechtsgesch. Forsch. (Antrittsvorlesungen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn a. Rh., H. 6). Bonn 1942, S. 6 f. 16 W. E. MÜHLMANN, Gesch. d. Anthropologie, S. 223. 17 W. E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 15. 18 Wie sie etwa von H. TRIMBORN, Die Methode der ethnologischen Rechtsforschung, in: Zs. f. vgl. Rechtswiss. 43 (1928), S. 416–464, angewandt wird.

Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung

231

mehr betonen19. Die vergleichsweise einfachen „Modelle“, die uns von der Ethnosoziologie und politischen Ethnologie geliefert werden, können zuweilen auch verwickeltere Vorgänge höher organisierter Völker durchsichtiger machen20. Gerade aber der Umstand, daß sie so universal sind und daher eine Rekonstruktion von Verwandtschaftsverhältnissen verhindern, macht sie für unsere Zwecke geeignet. Ihre Universalität läßt vermuten, daß sie innerhalb des Variationsbereichs auch für unseren Raum gelten. Die Beweislast für die Behauptung, diese These sei unberechtigt, liegt damit jedenfalls bei denen, die sie bestreiten. Die ethnosoziologischen Modelle entsprechen auch dem Einzelfall um so mehr, je weniger differenziert eine ethnische Einheit ist21. Während bei großen Völkern das Individuelle überwiegt, sollen die alten stammhaften Grundlagen dieser Völker noch mehr der Typik der Ethnosoziologie entsprechen22. Wir erwähnten schon, daß bereits im frühen Mittelalter bestimmte Sonderheiten des ethnischen Denkens erkennbar werden. Doch herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die ethnologische Typik auf die germanischen Stämme noch ohne große Bedenken angewandt werden kann23. Diese Gruppen sollen also noch wie „Naturvölker“ zu behandeln |6| sein. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch auch hier bereits gewisse Einschränkungen. Was ist eigentlich ein Naturvolk? W. E. Mühlmann hat versucht, diese Frage zu beantworten, indem er fünf Aspekte herausstellte, nach denen ein Naturvolk zu definieren sei24. Versuchen wir einmal, diese fünf Aspekte auf die germanischen Verhältnisse anzuwenden: 1. Der zivilisatorische Aspekt. Ein Naturvolk verfügt in jedem Fall nur über eine mehr oder weniger „arme Technik“, wiewohl hier Unterschiede bestehen. Hier ist nach dem Maßstab zu fragen. Nehmen wir die heutigen Hochkulturen als Maßstab, so sind die Germanen offensichtlich als „Naturvolk“ zu bezeichnen. Aber auch vom Standpunkt der zeitgenössischen mediterranen Hochkultur waren die Germanen zweifellos ein Naturvolk, wenn auch der Abstand nicht annähernd so groß war wie der zwischen heutigen Hochkulturvölkern und „Naturvölkern“.

19 Auch in der Volkskunde kann man in den letzten Jahrzehnten eine stärkere Hinwendung zu solchen Fragestellungen beobachten; vgl. O. HÖFLER, Volkskunde und politische Geschichte, in: HZ: 162 (1940), S. 1–18. 20 W. E. MÜHLMANN, Krieg und Frieden, S. 3. 21 Vgl. B. REHFELDT, Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte, S. 14; DERS., Grenzen d. vgl. Methode, S. 6, 13. 22 W. E. MÜHLMANN, in: Universitas Litterarum 1954, S. 274 (nach O. Hintze); DERS., Gesch. d. Anthropologie, S. 237. Auch R. THURNWALD, in: Studium Generale 3 (1950), S. 588, warnt: „Schon das Exemplifizieren auf mittelalterliche Ereignisse kann leicht Einseitigkeiten und Voreingenommenheiten wachrufen.“ 23 Vgl. etwa A. DOVE, Studien …, S. 18, Anm. 4; S. 20; S. 24; W. E. MÜHLMANN, in: Universitas Litterarum (1954), S. 271; DERS., in: Studium Generale 7 (1954), S. 165. 24 In: Studium Generale 7 (1954), S. 165 f.

232

Reinhard Wenskus

2. Der psychologische Aspekt. Die Angehörigen der Naturvölker verfügen nur über ein „mangelhaftes Training in gerichtetem, gezügeltem und systematisch-methodischem Denken“. Dieses primitive Denken ist jedoch noch bei uns als Unterschicht vorhanden, wenn es auch „bei Naturvölkern in höherem Grade autonom“ ist. Dieser Aspekt ist bereits von der antiken Ethnographie beachtet worden. Doch gerade hier werden für die Germanen verschiedene Ausnahmen angegeben, die aus dem Rahmen des Erwarteten fallen. Velleius25 rühmt an Arminius die unbarbarische geistige Gewandtheit. Auch Marbod war nach ihm mehr seinem Volkstum als seinem Verstande nach ein Barbar26. Civilis war nach Tacitus ein gescheiterer Kopf, als Barbaren zu sein pflegen27 usw. Es ist auch bezeichnend, daß Angehörige heutiger Naturvölker – vor ihrer völligen Assimilation – nie in solcher Zahl Stellungen im Bereich einer Hochkultur einnehmen könnten wie Germanen im spätantiken Römerreich. 3. Der soziologische Aspekt. Eigentlich gibt es gar keine Natur-„Völker“. Diese sind gewöhnlich künstliche Klassifikationen. Die ethnischen Einheiten sind sehr klein und umfassen meist nur wenige hundert oder vielleicht einige tausend Personen. Selten kann man sie nach Zehntausenden zählen. Obwohl es sicher auch unter den Germanen kleinere Gemeinschaften gegeben hat, die nur einige tausend Menschen umfaßten, konnte eine größere civitas doch oft mehr als zehntausend Krieger ins Feld senden. Selbst wenn man die Phantasiezahlen römischer Feldzugs|7|berichte stark reduziert28, so kann man doch aus der Zahl der gegen germanische Völkerschaften aufgebotenen Truppen einen ungefähren Maßstab gewinnen. Die großen Heeresverbände zählten doch zuweilen mehrere zehntausend Kämpfer29. Solche Zahlen werden bei Naturvölkern nur von Reichsbildungen erreicht, die durch Hochkulturen beeinflußt sind. 4. Der anthropogeographische Aspekt. „Naturvölker“ bewohnen heute periphere Räume, Rückzugsgebiete. Auch der Siedlungsraum der Germanen lag vom Standpunkt des römischen Imperiums aus gesehen peripher. Er war aber kein Rückzugsraum, sondern gewöhnlich Operationsbasis. 5. Der historische Aspekt. Hochkulturen weiten sich aus, der Raum der Naturvölker schrumpft ständig. Vor 2000 Jahren gab es sicher mehr Naturvölker als heute. Die Tendenz zur politischen Expansion teilten die Germanen zwar mit anderen 25 II 118. 26 II 104. 27 Hist. IV 13. 28 Die Zahlen für die Kimbern schwanken zwischen 100 000 und 200 000, für die Teutonen zwischen 150 000 und 290 000. Die Usipier und Tenkterer sollen nach Caesar 430 000 Mann stark gewesen sein. 29 L. SCHMIDT schätzt Ariovists Heer auf 20–25 000 Krieger (ZGORh NF 51 [90], 1938, S. 264 f.). Gegen die Chatten wurden 15 n. Chr. vier Legionen und 10 000 Mann Auxiliartruppen aufgeboten (L. SCHMIDT, Westgerm. II2, S. 129). Das Heer Marbods zählte 4000 Reiter und 70 000 Mann Fußtruppen (L. SCHMIDT, Westgerm. I2, S. 189).

Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung

233

Randvölkern von Hochkulturen, konnten jedoch im Gegensatz zu den meisten anderen selbst in hochkulturelle Formen hineinwachsen. Überblickt man diese Gesichtspunkte, so sind Zweifel nicht ganz zu unterdrükken, ob man die Germanen völlig nach Analogie der Naturvölker behandeln darf. Der Althistoriker wird den Zweifel vielleicht weniger berechtigt finden, urteilt er doch nach den gewohnten hohen kulturellen Maßstäben seine antiken Schriftzeugnisse und Kunstwerke. Demgegenüber erscheinen ihm die doch immerhin auch recht beträchtlichen Unterschiede zwischen den sogenannten „Naturvölkern“, auf die es uns hier ankommt, als verhältnismäßig belanglos. Wenn etwa G. Wa1ser30 in bezug auf den Aufstand des Arminius von der „ganzen urtümlichen Wildheit der primitiven Bevölkerung“ spricht und bloße Raubzüge und Steuerrevolten als einzige Ursache der römisch-germanischen Zusammenstöße anführt31, bemerkt er nicht, daß er ein Opfer der Topik seiner eigenen Quellen geworden ist, obwohl er vorher32 selbst vermerkt hat: „gerade saevitia, libido und raptus |8| sind barbarische Wesenszüge, die schon die Griechen den Barbaren allgemein zugeschrieben haben.“ Die moderne Ethnographie hat uns gezeigt, daß diese Kennzeichnung der Naturvölker in den meisten Fällen keineswegs zutrifft. Die vorgebrachten Zweifel veranlassen uns, die ethnologisch-soziologischen Modelle und Begriffe nicht schematisch in unsere Frühgeschichte hineinzutragen, um Verzerrungen und gezwungene Interpretationen zu vermeiden. Doch noch immer werden die Vorstellungen vieler Historiker von gewissen unrealistischen völkerkundlichen Topoi beherrscht, die zum Teil schon der antiken Tradition entstammen, während andere in der Aufklärung konstruiert wurden oder ihre Verbreitung der Romantik verdanken. Wir wollen nur versuchen, einige dieser unrealistischen Topoi vorerst heuristisch durch ethnosoziologische Kategorien zu ersetzen, die ihre Brauchbarkeit für die Deutung der uns interessierenden Vorgänge bereits an anderer Stelle bewiesen haben. Das ethnographische Beispiel soll hier nur die Funktion haben, auf bestimmte, bisher nicht wahrgenommene Erscheinungen aufmerksam zu machen. Die ethnologische Regel, deren Gültigkeit an sich im Einzelfall nicht ohne Gegengründe von vornherein geleugnet werden kann, soll dennoch nur als Folie dienen, auf der sich unter Umständen Abweichungen als besondere Eigentümlichkeiten abheben, die historisch zu begründen sind.

30 Rom, das Reich und die fremden Völker in der Geschichtsschreibung der frühen Kaiserzeit, Studien zur Glaubwürdigkeit des Tacitus (Baden-Baden 1951) 106. 31 ebd., S. 104. 32 ebd., S. 70. 32a Der Eindruck, den die Barbaren auf die Griechen machten, beruht darauf, daß die angrenzenden Fremdvölker eben keine unberührten „Naturvölker“ mehr waren, sondern von der Hochkultur so weit beeinflußt waren, daß sich hier „räuberische Gruppen“ gebildet haben, die sich der Güter dieser Hochkultur bemächtigen wollten.

234

Reinhard Wenskus

In vielen Fällen werden wir auch auf andere Erscheinungen stoßen, die allgemeinere Bedeutung haben können, von der Ethnosoziologie bisher jedoch nicht behandelt worden sind. Wir werden die Ergebnisse der Ethnosoziologie auf diese Weise vielleicht ergänzen bzw. die Variationsbreite ihrer Modelle modifizieren können. W. Mühlmann33 unterscheidet bei den völkerkundlichen Tatsachen zwischen solchen „über das geschichtliche Leben als Bewußtsein“ und solchen „über das geschichtliche Leben als Tätigkeit“. Die ersten nennt er intentionale Daten, die zweiten funktionale Daten. Sosehr wir die Berechtigung einer derartigen Aufteilung des Materials anerkennen – der zweite Begriff erscheint uns unglücklich gewählt. Auch intentionale Daten haben funktionale Bedeutung im Leben einer Gruppe, wenn wir nicht den Begriff „Funktion“ willkürlich einengen wollen. Ja, gerade die funktionalen Beziehungen zwischen beiden Tatsachengruppen sind in unserem Zusammenhang besonders bedeutsam, wie |9| wir auf Schritt und Tritt bemerken werden. Was von den Institutionen gewußt, wie über sie geurteilt, was mit ihnen gemeint ist, kann für ihr Funktionieren nicht gleichgültig sein. Wir können nicht annehmen, daß die uns durch die intentionalen Daten vermittelte Werthierarchie eines Ethnos34 für sein Leben als Gemeinschaft belanglos sein kann. Besonders wichtig für uns ist nun aber eine Beobachtung über das Verhältnis zwischen den von der modernen Wissenschaft feststellbaren Tatsachen des ethnischen Lebens und den Vorstellungen der Angehörigen der betreffenden Gruppen über diese Fakten. Hier ergeben sich zuweilen merkwürdige Unstimmigkeiten. Diese Aussage mag auf den ersten Blick banal erscheinen, begegnet doch auch der Historiker auf Schritt und Tritt Gegensätzen von Ideologie und Wirklichkeit und berücksichtigt sie in seiner Forschung. Dennoch ist es gerechtfertigt, auf diese Unstimmigkeiten besonders hinzuweisen, da sie oft weiter gehen als die systematisch denkende Wissenschaft für möglich hält. Ein bemerkenswertes Beispiel, von Mühlmann nach Shirokogoroff angeführt35, zeigt, daß gesellschaftliche Funktionen bzw. sozialfunktionale Gebilde von Naturvölkern nicht als Ganzheit intendiert werden können. So kennen die Tungusen zwar eine Personengruppe, für die bestimmte Rechte und Verpflichtungen gelten sowie das Verbot, untereinander zu heiraten; der Klan als solcher ist bei ihnen dagegen intentional gar nicht vorhanden. In ihrem Bewußtsein existiert eben nur ein Zusammenhang von Rechten und Pflichten und das Heiratsverbot. „Auch die Familie wurde von den Tungusen früher als soziale Einheit nicht wahrgenommen. Es gibt keinen Terminus für sie, sondern nur einen Ausdruck für die Zelthausgemeinschaft im wirtschaftlichen Sinne“36. Erst durch von außen kommende Ideen sind 33 34 35 36

Methodik der Völkerkunde, S. 108. ebd., S. 111. ebd., S. 129. ebd., S. 130.

Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung

235

sie zu einem Bewußtsein von der Familie als sozialer Einheit gelangt. Angesichts dieser Beobachtung liegt die Frage nahe, ob es bei uns nicht ähnlich gewesen sein könnte. Das Fremdwort „Familie“ unter einem Bedeutungswandel (ursprünglich „Hausgenossenschaft“) übernommen, könnte darauf hindeuten. Die vorher geltende Formel „Weib und Kind“ scheint auch nicht sehr alt zu sein, und die an germ. hiwaanzuschließende Wortsippe bedeutete ursprünglich ebenfalls „zur Hausgenossenschaft gehörig“37. Wir werden also auch daraus, daß die Sippe als solche keine |10| kennzeichnenden Namen im Germanischen hat38, nicht allzu weitgehende Folgerungen ziehen können. Genauso unberechtigt erscheint danach der Schluß, im germanischen Altertum habe es noch keine Kleinfamilie gegeben, weil ein Wort dafür nicht vorhanden gewesen sei39. Es ist daher auch kaum überraschend, daß es immer geraume Zeit dauerte, ehe neue soziale und politische Strukturen gedanklich erfaßt wurden. Die Begriffswelt lange überholter Lebensverhältnisse blieb weiter lebendig. Termini wurden auf Gebilde angewandt, die „etymologisch“ nichts mit ihnen zu tun hatten. Die charakteristische Unfähigkeit, anders als in Begriffen antiquierter Lebensformen zu denken, führte zu merkwürdigen Diskrepanzen. Besonders bedeutsam ist in dieser Beziehung für unseren Bereich die Rolle, die dem Denken in Kategorien der Blutsverwandtschaft zukommt. Sie wirkten in der Politik bis in jüngste Zeit in dynastischen Heiratsverbindungen nach. Das verwandtschaftliche Band sollte den Friedensbereich, der die Sippegenossen umfaßte, in bestimmter Richtung ausweiten. Dabei pflegte das Sippenband in der Praxis gerade bei den herrschenden Familien häufig zu reißen. A. Heusler40 weist auf die zahllosen Beispiele hin: „Schon Arminius erlag ,dem Truge der Verwandten‘; von den Fürstenhäusern der Wanderungszeit bleiben wenige frei von Sippenmord, auch hier tun’s die Merwinger allen zuvor. Noch die zahlreichen Söhne des norwegischen Harald Schönhaar reiben sich in Kämpfen auf (nach 900). Man hat den Eindruck: gegen den Herrensinn der Königssprossen sind die gepriesenen Blutsbande kraftlos.“ Diese Erscheinung ist keineswegs nur den Germanen eigentümlich. Der Brudermord des Romulus begründete noch im hohen Mittelalter eine Abwertung Roms (Romulea urbs). Sowohl bei Galliern41 wie später bei den Bretonen42 ging es ähnlich zu. Die Nachkommen Attilas wüteten genauso untereinander wie frühe polnische, 37 KLUGE-GÖTZE, Etym. Wörterbuch, 15. Aufl. (1951), S. 311 unter „Heirat“. 38 Vgl. F. GENZMER, in: ZRG GA 67 (1950), S. 36. Germ. *sibjö hat nach H. KUHN, in: ZRG GA 65 (1947), S. 7 f., die Bedeutung „Blutsverwandtschaft“ nur in den westgermanischen Sprachen – soweit unsere Kenntnis reicht. 39 So noch F. STROH, Hdb. d. germ. Philologie, S. 179. 40 Germanentum, S. 23. Bezeichnend ist, daß in der Karolingerzeit Eide zwischen Brüdern (Straßburg, Söhne Ludwigs des Deutschen) notwendig werden, um das an sich selbstverständliche Sippenband zu festigen. 41 Vgl. Caesar b. G. VI 11. 2; I 19 f. 42 Vgl. Greg. Tur. IV 4 u. V 16.

236

Reinhard Wenskus

tschechische und russische Herrscher. Der Verwandtenmord, das furchtbarste Verbrechen, dessen sich ein Mensch schuldig machen konnte43 der sippegebundenem Denken verhaftet war, geschah so häufig, daß man eigentlich folgern sollte, dieses Denken hätte den Fürstenhäusern gefehlt. Das ist aber keines|11|wegs der Fall, nicht einmal bei den Merowingern44. Auch Theoderich d. Gr. begründete die Ermordung Odoakers mit Blutrachepflichten. Die Frage nach den Gründen dieser Diskrepanz wird uns an anderer Stelle beschäftigen; hier interessiert nur die Tatsache, daß dieser Gegensatz zwischen Denken und Handeln so selten ins Bewußtsein drang. Wenn dies zuweilen doch geschah, wie etwa beim Wechsel der ottonischen Konzeption deutlich wird, so blieb das ohne unmittelbare größere Nachwirkung45. Die Idee der Bindung durch Verwandtschaft blieb weiterhin für die politischen Entscheidungen außerordentlich bedeutsam. Das ist um so bemerkenswerter, als bereits in der römischen Kaiserzeit von in sich geschlossenen, auf Verwandtschaft beruhenden Verbänden – abgesehen von der Kleinfamilie – bei südgermanischen Stämmen wohl kaum mehr gesprochen werden kann46. Dennoch scheint es auch hier dem primitiven Denken unmöglich gewesen zu sein, eine Zusammengehörigkeit irgendwelcher Art anders als in Begriffen der Verwandtschaft auszudrücken47. Daher ist große Vorsicht geboten, wenn wir von politischen Einheiten hören, die als Sippen o. ä. bezeichnet werden. Die φυλαι etwa der Westgoten von 37648 waren sicher – wie auch von anderer Seite erkannt49– keineswegs Geschlechtsverbände. Ihre Anführer, deren Adel betont wird, nennt Eunapius ήγεμόυες50. Dieses Wort, das Luc. 20, 20 dem römischen Prokurator entspricht, übersetzt Wulfila mit kindins, einer Bezeichnung, die ursprünglich den Repräsentanten eines Geschlechts meint: anord. kind „Geschlecht, Art“. Doch anord. kind hat seit unbestimmbarer Zeit auch räumliche Bedeutung als Heradsname bzw. Grundwort eines solchen51. Wir bewegen uns noch heute zum Teil in solchen Begriffen, wenn wir von „Landesvater“, „Brudervolk“ usw. sprechen. |12|

43 Vgl. R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 32 ff. 44 Vgl. etwa Greg. Tur. VIII 4, wo Gunthramn die Hoffnung ausspricht, daß sein Stamm, der jetzt so geschwächt war, durch Childebert II. wieder zu Kräften komme. Die Anzahl der Sippenmitglieder war also noch Maßstab der Stärke. Vgl. J. P. BRODMER, Der Krieger der Merowingerzeit, S. 15 ff., bes. S. 22. 45 Vgl. H. W. KLEWITZ, Namengebung und Sippenbewußtsein in den deutschen Königsfamilien des 10.–11. Jh. Grundfragen historischer Genealogie, in: AUf 18 (1944), S. 23–37, bes. S. 34 ff. 46 F.GENZMER, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, in: ZRG GA 67 (1950), S. 34–49. 47 Vgl. R. THURNWALD, Die menschl. Gesellschaft II, S. 164; S. 165. 48 Eunap. fr. 55. 49 Vgl. G. WAITZ, Dt. Verfassungsgesch. I4, S. 84 f. (geg. SYBEL) mit dem Hinweis auf die topischen Phylen bei den Griechen (Anm. 2); R. v. KIENLE, Germ. Gemeinschaftsformen, S. 309. Das gleiche gilt für die γέυη der Markomannen bei Dio. 50 Eunap. fr. 60 τώυ ϕυλών ήγεμόυες. 51 Vgl. die Belege bei E. HELLQUIST, Svensk Etymologisk Ordbok I3 (1948), S. 458.

Einleitung zu: Stammesbildung und Verfassung

237

Ähnlich liegen die Dinge da, wo Bezeichnungen, die für kleinere Verhältnisse galten, auf neu entstehende größere Ordnungen übertragen werden; etwa wenn man sich einen Staat nach der Ordnung eines Hauses vorstellt. Begriffe wie δεσπότης, dominus u. a. sind so in ihrer Bedeutung erhöht worden. Auch die Übertragung des Munt-Verhältnisses in die Sphäre der Herrschaft und des Staates ist durch diese Eigentümlichkeit des Denkens bestimmt. Durch derartige „Unstimmigkeiten“ zwischen dem Bewußtsein der Stammesgenossen und der „Verfassungswirklichkeit“ erhält die ethnische Zuordnung ein doppeltes Gesicht. Bemühte sich die Wissenschaft, einzelne Gruppen nach objektiven Merkmalen, Sprache, materieller Kultur, sozialen und rechtlichen Ordnungen, somatischen Kennzeichen oder geographischen Umwelten ethnisch zu ordnen und zu klassifizieren, geriet sie damit in vielfache Widersprüche mit den Selbstzeugnissen der betreffenden Gruppen. Die Stämme schienen sich als bloße Schemen zu erweisen, die sich jedem Vorhaben, sie zu umgrenzen und zu bestimmen, immer wieder entzogen. Wir verweisen auf die Enttäuschung, die aus den Worten Th. Frings’ spricht: „Wir sagen uns zunächst einmal los von den Stämmen, und damit von romantischen Vorstellungen“52. Doch bereits ein Jahrzehnt vorher hatte W. Merk mit Recht betont und hervorgehoben: „Im deutschen Staats- und Rechtsleben waren die Stämme nicht Traumgebilde einer verstiegenen Stammesromantik, sondern greifbare Wirklichkeit“53. Angesichts dieser Feststellung bedeutet die Absage Frings’ eine wissenschaftliche Kapitulation. Wir müssen versuchen, die Stämme mit anderen Mitteln in ihrer Wirklichkeit zu erfassen. Den Ansatzpunkt liefert uns die Erkenntnis, daß „das Wichtigste am Ethnos das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit auf Grund des Glaubens an eine gemeinsame Abstammung“ ist54. Auch in der Sprachwissenschaft achtet man neuerdings auf die Erscheinungen, die ihren Grund im ethnisch und gruppenhaft bestimmten Bewußtsein haben. Ich verweise auf die Arbeiten L. Weisgerbers55 und W. Mitzkas56 sowie zwei Aufsätze von H. Moser57. |13|

52 Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache (Halle 1948), S. 5. 53 ZRG GA 58 (1938), S. 38. 54 W. MÜHLMANN, Methodik der Völkerkunde, S. 229. 55 Jetzt bequem zusammengefaßt im Sammelbändchen „Deutsch als Volksname, Ursprung und Bedeutung“, Stuttgart 1953. 56 Besonders „Sprachausgleich in den deutschen Mundarten bei Danzig“ (Königsberger Dt. Forschgn. 2) 1928, S. 55 ff.; „Beiträge zur hessischen Mundartforschung“ (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 87), Gießen 1946; „Stämme und Landschaften in deutscher Wortgeographie“, in: Deutsche Wortgesch. (Grundr. d. germ. Phil. 17/II), S. 578. Vgl. unten [= Wenskus, Stammesbildung und Verfassung] S. 88 m. Anm. 447. 57 Stamm und Mundart, in: Zs. f. Mundartf. 20 (1951/52), S. 127–144; Sprachgrenzen und ihre Ursachen, ebd. 22 (1954/55), S. 104 f.

238

Reinhard Wenskus

Dementsprechend verstehen wir unter „Stammesbildung“ vor allem den Vorgang, der zu einem Stammesbewußtsein führt58. Die Frage nach der Stammesbildung ist so letztlich ein geistesgeschichtliches Problem, ein Problem der Geschichte politischer Ideen. Die Stämme sind für uns aber auch Realitäten der Verfassungsgeschichte. Der Stamm in seiner Verfassungswirklichkeit und der Stamm in seinem Selbstverständnis sind jedoch nicht nur zwei Aspekte seiner Existenz, sondern beide Bereiche stehen in vielfältigen Beziehungen zueinander. Die funktionale Abhängigkeit des ethnischen Bewußtseins von der Verfassungsform wird deutlich, wenn wir die Schnelligkeit, mit der sich die ethnische Beziehung zwischen den Angehörigen eines neugebildeten frühgeschichtlichen Personenverbandsstaates einstellte, mit der Langsamkeit vergleichen, mit der sich ein Zusammengehörigkeitsgefühl in den anstaltsstaatlich organisierten späteren Territorien bildete. Verschiedene Umstände im Prozeß der Stammesbildung bedingen wieder Unterschiede in der Verfassung des Neustammes, und umgekehrt sind Unterschiede der Verfassung mit entscheidend für die Form der Stammesbildung. Die Normen, die sich in Volksrechten und anderen Zeugnissen aufweisen lassen, sind vielfältig ebenfalls durch intentionale Daten bestimmt59, die den Gegebenheiten des Lebens oft nicht mehr entsprochen haben dürften. Es wäre interessant festzustellen, wieweit die zwischen Historikern und Rechtshistorikern bestehenden Meinungsunterschiede hinsichtlich der Verfassung in der Germanen- und Frankenzeit nur auf die Nichtbeachtung der Tatsache zurückzuführen sind, daß die Vorstellungen, die man damals von der Wirklichkeit hatte, sich mit den Ergebnissen unserer wissenschaftlichen Analyse dieser Wirklichkeit einfach nicht decken. Da bei weitem nicht alle diese intentionalen Daten, die sich in Rechtsbestimmungen verfestigt haben, ethnisch bezogen sind, liegen sie größtenteils außerhalb unserer Untersuchung. Wir wollen uns hier auf jene Daten beschränken, die sich auf das ethnische Bewußtsein selbst beziehen, und zuerst einige der wichtigsten eingehender behandeln.

58 Bereits 1930 in der Diskussion auf dem VII. Deutschen Soziologentag in Berlin forderte W. SOM„Wir haben immer zu fragen: Wo ist das geistige Band, das diese Gruppe von Menschen zusammenhält und darum erst überhaupt einen Verband bildet und dadurch erst selbst Gegenstand der Soziologie wird.“ (Vgl. Verh. d. VII. Dt. Soziologentages, Berlin 1930 [Tübingen 1931], S. 272). 59 Das trifft natürlich auch für andere Kulturkreise zu. So weist etwa R. THURNWALD, D. menschl. Gesellsch. II, S. 165, darauf hin, daß – der oben erwähnten Regel ganz entsprechend – in den Hindugesetzen nichtverwandtschaftliche Beziehungen durch Verwandtschaftsbegriffe gekennzeichnet sind.

BART:

Kommentar

239

Kommentar Reinhard Wenskus, Jahrgang 1916, machte nach der Mittleren Reife 1933 zunächst eine kaufmännische Lehre; erst nach dem Zweiten Weltkrieg und einer Zeit in Kriegsgefangenschaft holte er 1948 das Abitur nach und begann im Jahr darauf ein Studium in Marburg, wo er 1954 auch promoviert wurde und seit 1957 als Assistent tätig war. Sein wissenschaftlich wichtigstes Werk war seine Habilitationsschrift von 1959, die Wenskus 1961 unter dem Titel „Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes“ zum Druck brachte und 1977 noch einmal in einer zweiten Auflage publizierte. Seit 1963 lehrte er als Professor an der Universität Göttingen. Hier begründete er unter anderem das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ mit, dessen 100. Ergänzungsband das vorliegende Buch bildet.1 Reinhard Wenskus hatte nicht nur Geschichte, sondern auch Ethnologie studiert. Diese Expertise nutzte er in seiner Habilitationsschrift für einen neuen Blick auf die alte Frage nach der „Verfassungsgeschichte“ der „Germanen“. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass das Buch einen Paradigmenwechsel in der Forschung einleitete. Georg Waitz hatte es in seiner Auseinandersetzung mit Sybel noch für selbstverständlich gehalten, dass man die Germanen angesichts ihrer hohen „culturhistorischen Entwicklung“ ganz und gar nicht mit Völkern Afrikas oder Amerikas seiner Gegenwart vergleichen könne.2 Reinhard Wenskus erhob nun gerade dies zum Programm und zog zum Vergleich nicht mehr allein als „germanisch“ Geltendes von Caesar bis zu Sagas heran, sondern Modelle der damals noch jungen Disziplin der Ethnologie. Dabei spielten für ihn Arbeiten des Ethnologen Wilhelm Emil Mühlmann eine prominente Rolle – zumal dessen „Methodik der Völkerkunde“ von 1938,3 die ein Kind ihrer Zeit und damit alles andere als frei von Rassismus war. Doch übernahm Wenskus von Mühlmann vor allem einen Kerngedanken – nämlich die Annahme, dass „das Wichtigste am Ethnos das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit auf Grund des Glaubens an eine gemeinsame Abstammung“ sei.4 Unter dem Begriff der Stammesbildung wollte Wenksus dementsprechend vor allem den Prozess verstanden wissen, „der zu einem Stammesbewusstsein führt. Die Frage nach der Stammesbildung ist so letztlich ein geistesgeschichtliches Problem, ein Problem der Geschichte politischer Ideen“.5

1 Zu Wenskus’ Person vgl. Heinrich Beck, s.v. Wenskus, in: Germanische Altertumskunde Online (https://db.degruyter.com/view/GAO/RGA_6435, 7.12.2020); Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 1951–2001. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation, Veröffentlichungen des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte aus Anlass seines fünfzigjährigen Bestehens 1951–2001, Bd. 2, hrsg. Jürgen Petersohn (Stuttgart 2001) 433–438. 2 Vgl. oben 73. 3 Wilhelm Emil Mühlmann, Methodik der Völkerkunde (Stuttgart 1938). 4 Wenskus, oben, 237. 5 Wenskus, oben, 237 f.

240

Reinhard Wenskus

Diesem Ausgangspunkt entsprach schon der erste, programmatische Satz des Buches, dessen Einleitung wir hier in der Fassung von 1977 abdrucken: „Nichts kann die Bedeutung politischer Ideen im Geschichtsprozess besser beleuchten als die Zertrümmerung des römischen Reiches.“6 Dass das Römische Reich durch etwas Neues abgelöst werden konnte, lag ihm zufolge daran, dass ein neues „politisches Bewußtsein“, wie Wenskus es nannte, in die römische Welt eindrang: der „Gentilismus“. Tatsächlich suchte Wenskus nicht mehr Ethnien über objektive Kriterien zu definieren und klassifizieren, die er als Wissenschaftler beobachtete – also nicht über Sprache, Tracht, Bewaffnung, Sitten usw., und schon gar nicht über das Blut oder die Abstammung. Statt dessen ging Wenskus davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einem „Stamm“ eine Frage der Ideengeschichte (in ihrem weiten Sinne) war: Sie hing aus seiner Sicht in erster Linie davon ab, wie die Akteure sich selbst und ihre Zeitgenossen einer ethnischen Gruppe zuschrieben. Die Mitglieder eines „Stammes“ verstanden sich zwar als eine Abstammungsgemeinschaft mit spezifischen Eigenarten. Der wissenschaftliche Beobachter aber sieht anderes: Er sieht keine biologische Kontinuität, sondern eine hohe Fluktuation der Mitglieder eines Stammes; und er hat keinerlei harte, objektive Kriterien, über die sich ein Stamm von anderen unterscheiden ließe. Mit anderen Worten: Der „Gentilismus“ der Völkerwanderungszeit war zunächst und zuvorderst eine Frage des Bewusstseins der Akteure. Dieser Ausgangspunkt der Wenskus’schen Arbeit war meilenweit von jenen Kernannahmen entfernt, die die Germanenforschung seit dem 19. Jahrhundert angetrieben hatten: Wenskus sah keine Kontinuität zwischen „germanisch“ und „deutsch“ und wollte ausdrücklich nicht mehr Tacitus neben isländische Sagas des Hoch- und Spätmittelalters stellen; er sah in germanischen Stämmen keine Abstammungsgemeinschaften mehr, sondern nur den Glauben der Akteure daran; und er erteilte damit der Idee eines quasi naturgegebenen und überzeitlichen „germanischen Wesens“ von vornherein eine Absage. Statt dessen ging er davon aus, dass sich die Verfassungsgeschichte der spätantiken und frühmittelalterlichen gentes nur dann schreiben lasse, wenn man die Überzeugungen der Akteure selbst ernstnahm und wissenschaftlich erforschte, in welcher Weise sie ihre Welt ordneten. Dabei rechnete er allerdings damit, dass es deutliche Unterschiede geben könne zwischen den Praktiken der Akteure einerseits und dem diskursiven Bewusstsein der Akteure über diese Praktiken andererseits: „Es ist daher auch kaum überraschend“, so formulierte es Wenskus selbst, „daß es immer geraume Zeit dauerte, ehe neue soziale und politische Strukturen gedanklich erfaßt wurden. Die Begriffswelt lange überholter Lebensverhältnisse blieb weiter lebendig. Termini wurden auf Gebilde angewandt, die ‚etymologisch‘ nichts mit ihnen zu tun hatten“.7 Damit war im Grund dem gesamten begriffsgeschichtlichen Ansatz, mit dem Schlesinger

6 Wenskus, oben, 227. 7 Wenskus, oben, 235.

Kommentar

241

das „germanische Wesen“ zu erfassen versucht hatte, der Boden entzogen: Die Wörter blieben zwar als Hülsen bestehen, Begriffe und Phänomene aber wandelten sich. Der Historiker war deshalb gut beraten, nicht aus der Etymologie der Wörter auf Verfassungsstrukturen zu schließen. Aus diesen Grundannahmen, die er in der Einleitung zu seinem Werk darlegte, leitete Wenskus ein grundlegend neues Modell her: Die Stämme existierten zwar einerseits jahrhundertelang unter demselben Namen; andererseits waren sie aber – mit Blick auf ihre Zusammensetzung, ihre soziale Praxis, ihre materielle Kultur, ihre ganze Gestalt also – flexibel, wandelbar, veränderlich. Im Selbstverständnis der Angehörigen eines Stammes handelte es sich zwar um eine Abstammungsgemeinschaft hohen Alters, die eine lange gemeinsame Geschichte hatte, ja meist auch gemeinsam gewandert war. In der Praxis aber sah Wenskus Stämme eher wie „Lawinen“: Sie hatten aus seiner Sicht zwar einen Kern, der das „Stammesbewußtsein“ und auch den damit verbundenen Namen über die Zeiten stabil zu halten vermochte; aber um diesen Kern herum konnten sich im Zuge ihrer mehr oder minder weiträumigen Wanderungen immer neue Gruppen anlagern – oder sich auch wieder von ihm abspalten. Wenskus’ Modell verzahnte also das Stammesbewusstsein (das Wenskus als Teil einer „poltischen Ideengeschichte“ sah) und die historische Wirklichkeit auf der anderen Seite (die „Verfassung“ des Stammes): Eben weil die Idee der Abstammungsgemeinschaft so wirkmächtig war, konnten sich Stämme bilden und eine Kontinuität erhalten – obwohl sie doch wie eine Lawine auf ihrem Weg immer wieder Teile verloren, während sich andere, neue Gruppen anlagerten und integrierten. Wenn man diese Grundannahmen akzeptiert, dann ergibt sich ein ganzes Forschungsprogramm. Wichtig war für Wenskus eine kräftige Tradition, die den „Glauben an eine gemeinsame Abstammung“ zu begründen vermochte. Hier sah Wenskus gleich mehreres wirksam: ein genealogisches Denken, eine Stammessage, Herkunftssagen, einen spezifischen Stammesnamen, an den die übrigen Traditionen angebunden werden konnten. Als Träger dieser Traditionen dachte sich Wenskus allerdings nicht etwa alle Angehörigen eines Stammes, sondern nur einen kleinen, elitären Kreis, den er als „Traditionskern“ bezeichnete. Für das Modell war die Existenz eines solchen Kerns wichtig: Denn sonst, so meinte Wenskus, ließe sich das stetige Abbröckeln von Teilen und das Einschmelzen anderer Teile in die „Wanderlawine“ kaum erklären. Die Barbaren, so lautete Wenskus’ Kernargument, waren aber eben auch keine demokratischen Gruppen, in denen jedem die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und nationalen Pflichten zugekommen wären. Nur ein kleiner Kern sei dafür verantwortlich gewesen, dass die Stammestradition, das Stammesbewusstsein über die Generationen stabil blieb – und damit ein Stamm als solcher überhaupt sein konnte. Diesen Kern begriff Wenskus allerdings ausdrücklich nicht als biologisch definierte Gemeinschaft, sondern als kulturell und politisch determinierte Gruppe: Den „Traditionskern“ bildeten die Sänger und Dichter (die als Experten damit betraut waren, Traditionen zu speichern und weiterzugeben), außerdem der König mit seiner Familie sowie die mächtigsten

242

Reinhard Wenskus

Aristokraten in seinem Umkreis. Alle anderen Gruppen konnten dagegen ziemlich leicht von „Wanderlawinen“ geschluckt oder auch wieder abgespalten und der nächsten Gruppe verbunden werden. Und genau aus diesem Spannungsverhältnis von „Traditionskern“ einerseits und „Wanderlawine“ andererseits erklärte sich für Wenskus die innere Dynamik der Stämme und ihre immer weitere Fortbildung im Übergang zwischen Spätantike und Frühmittelalter. In den 1950er Jahren verfasst, bleibt Wenskus’ Habilitationsschrift in vielerlei Hinsicht ein Kind ihrer Zeit. Zugleich bildet sie wissenschaftsgeschichtlich zweifellos einen Meilenstein in der Erforschung der germanischen gentes: Wenskus hatte bei Helmut Beumann studiert, der 1950 in einem berühmten Buch die politische Ideenwelt Widukinds von Corvey aus dessen Sachsengeschichte heraus erschlossen hatte.8 Wenskus’ eigene Dissertation, von Beumann betreut, war der „historisch-politischen Gedankenwelt“ Bruns von Querfurt gewidmet.9 Die Unterscheidung zwischen der Akteursperspektive einerseits und der Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters andererseits führte Wenskus mit seiner Habilitationsschrift nun auch in das Forschungsfeld ein, das damals als ‚Germanische Altertumskunde‘ bezeichnet werden konnte. Indem Wenskus auf dieser methodischen Basis Stämme nicht mehr als quasi natürliche, urwüchsige Einheiten mit eigener Wesensart begriff, sondern als historisch gewordene und wandelbare Verbände, begründete er die „Ethnogenese“-Forschung. Sie strukturierte noch bis in das gegenwärtige Jahrtausend hinein große, internationale (und zunehmend auch kontroverse) Diskussionen.10 St. P.

8 Helmut Beumann, Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts. Veröffentlichungen der Historischen Kommission des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde 10, 3; Abhandlungen zur Corveyer Geschichtsschreibung 3 (Weimar 1950). 9 Reinhard Wenskus, Studien zur historisch-politischen Gedankenwelt Bruns von Querfurt. Mitteldeutsche Forschungen 5 (Münster u. a. 1956). 10 Kritisch zu Wenskus’ Hauptwerk etwa: Alexander Callander Murray, Reinhard Wenskus on „Ethnogenesis“, ethnicity, and the origins of the Franks. In: On barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the early middle ages, hrsg. Andrew Gillett. Studies in the early middle ages 4 (Turnhout 2002) 39–68.

Heiko Steuer

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Zur Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials 1 Forschungsstand und archäologische Methode Die gesellschaftliche Organisation einer Bevölkerung zu erforschen gehört heute zu einem Hauptziel der historischen Wissenschaft, und das Modewort „sozioökonomische“ Verhältnisse begegnet einem ständig. Daher verwundert es nicht, wenn diese Fragestellung verstärkt auch für die vorgeschichtlichen Zeiten aufgeworfen wird, aus der keine Schriftquellen, sondern nur Bodenfunde und Denkmäler übrig geblieben sind, sowie für die frühgeschichtlichen Jahrhunderte, für die eine bruchstückhafte Schriftüberlieferung einem ungemein größeren archäologischen Quellenbestand gegenübersteht. Doch erstaunt die Diskrepanz, die zwischen den ausgefeilten archäologischen Methoden besteht, welche man zur chronologischen und regionalen Gliederung, teilweise auch der funktionalen Ansprache der ausgegrabenen Gegenstände entwickelt hat, und den naiven Axiomen, von denen man bei der sozialgeschichtlichen Beurteilung archäologischer Quellen ausgeht1. Es gibt keine Theorie über die Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse im archäologischen Fund- und Denkmälerbestand, wenn man von der marxistischen Ge|596|schichtswissenschaft2 absieht, die deduktiv bestimmte gesellschaftliche Strukturen

1 Dieser Beitrag geht nur noch teilweise auf den 1974 gehaltenen Vortrag zurück, über den eine Kurzfassung in Protokoll Nr. 191 des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte über die Tagung vom 8.–11. 10. 1974, 78–84, vorliegt. Das mich seit 1968 beschäftigende Problem der sozialgeschichtlichen Interpretation archäologischer Quellen habe ich inzwischen in einer umfangreichen Abhandlung wieder aufgegriffen, die ich Anfang 1979 fertiggestellt habe, und zwar unter dem Titel „Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa – Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials“. Von meinen älteren Aufsätzen zu diesem Problem möchte ich nennen: Zur Bewaffnung und Sozialstruktur der Merowingerzeit. Nachr. Niedersachsens Urgeschichte 37, 5968, 18–87; Zur Interpretation der beigabenführenden Gräber des achten Jahrhunderts im Gebiet rechts des Rheins. Diskussionsbeiträge zu FRAUKE STEIN: Adelsgräber des achten Jahrhunderts in Deutschland. Nachr. Niedersachsens Urgeschichte 38, 1969, 25–48 (gemeinsam mit M. LAST, dessen Beitrag auf den Seiten 48–88 anschließt); Zur statistischen Auswertung des Gräberfeldes von Birka. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 4, 1969, 212–218; Adelsgräber der Sachsen. Katalog der Ausstellung Sachsen und Angelsachsen in Harburg (1978) 471–482. 2 L. S. KLEJN, Marxism, the Systemic Approach, and Archaeology. In: C. RENFREW (Ed.), The Explanation of Culture Change: Models in Prehistory (1973) 691–710 oder die Arbeiten von J. HERRMANN, Frühe klassengesellschaftliche Differenzierungen in Deutschland. Zeitschr. für Geschichtswissenschaft https://doi.org/10.1515/9783110563061-010

244

Heiko Steuer

für die verschiedenen vor- und frühgeschichtlichen Zeiträume voraussetzt und im archäologischen Quellenstoff wiederzufinden versucht, oder auch von den bisher meist in der Theorie verbleibenden Ansätzen der sogenannten New Archaeology, die jedoch die ersten weiterführenden Grundlagen erarbeitet hat3. Das heißt nun nicht, Sozialgeschichte hätte in der prähistorischen Forschung bisher keine Rolle gespielt. Vielmehr muß betont werden, daß eine unüberschaubare Vielfalt von Thesen und Meinungen zur germanischen Sozialgeschichte vorgebracht worden ist, zumeist von Archäologen, die in der schriftlichen Überlieferung sich nicht weniger auskannten als in der archäologischen. Die Folge war, daß gleichsam historische Nachricht und archäologischer Befund nebeneinandergestellt wurden, ohne daß eine logische Verknüpfung nachzuweisen versucht oder vorgenommen wurde, ohne daß also eine theoretische Begründung für die Koppelung eines archäologischen Befundes mit einem in den Schriftquellen überlieferten Faktum erarbeitet wurde. Was sich gegenseitig zu bestätigen schien, wurde als Deutung akzeptiert. Darin unterscheiden sich im übrigen die marxistisch orientierten Archäologen nicht von denen der sogenannten „bürgerlichen“ Wissenschaft4. Was fehlt, ist die Überprüfung der Aussagemöglichkeit archäologischer Quellen. Dazu sei nur ein Beispiel gegeben: Fast alle archäologischen Befunde sind der Niederschlag von Regelerscheinungen, gewissermaßen von „gesetzmäßigem“ Verhalten von Gemeinschaften. Sind bisher z. B. nur 20–30 „Fürstengräber“ der älteren Römischen Kaiserzeit5 oder knapp 20 Gräber mit Goldgriffspathen6 aus der Merowingerzeit bekannt, so stehen diese Funde doch für einst vorhandene 2500–25 000 oder 2000–20 000 Gräber. Denn von den ehemals angelegten Gräbern sind der Wissenschaft bis heute immer nur Bruchteile, höchstens ein Prozent, meistens aber gerade ein Promille |597| bekannt geworden7. Was jedoch bei den antiken Historikern erwähnt wird, sind besondere geschichtliche

14, 1966, 398–422; Allod und Feudum als Grundlagen des west- und mitteleuropäischen Feudalismus und der feudalen Staatsbildung. In: Beiträge zur Entstehung des Staates (1973) 164–231; Die Rolle gentilgesellschaftlicher Stämme und des Klassenkampfes der Volksmassen bei der Herausbildung und Entwicklung vorkapitalistischer Gesellschaftsformationen. Zeitschr. für Geschichtswissenschaft 25, 1977, 1149–1157. 3 M. K. H. EGGERT, Prähistorische Archäologie und Ethnologie: Studien zur amerikanischen New Archaeology. Prähist. Zeitschr. 53, 1978, 6–164. 4 Ein typisches Beispiel ist das umfangreiche Handbuch, das unter der Leitung von B. KRÜGER von einem Autorenkollektiv herausgegeben wird: Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa, Bd. I.: Von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (1976). 5 Zuletzt M. GEBÜHR, Zur Definition älterkaiserzeitlicher Fürstengräber vom Lübsow-Typ. Prähist. Zeitschr. 49, 1974, 82–128. 6 H. AMENT, Fränkische Adelsgräber von Flonheim (1970); R. CHRISTLEIN, Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes (1978) 86. 7 Berechnungen bei STEUER, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen (wie Anm. 1), und z. B. für die Burgunden, M. MARTIN, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. III, Lfg. 1/2 (²1979) 254 f.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

245

Ereignisse, einzelne Persönlichkeiten und selten Gruppen, die dann jedoch meist zahlenmäßig begrenzt sind. Nicht ausgeschlossen ist, denn es gibt Gegenbeispiele, daß die Archäologie Individuelles entdeckt8. Aber in der Regel hat die archäologische Wissenschaft nur die Chance, wiederholtes, gesetzmäßiges Verhalten von Menschen vergangener Epochen zu erforschen, das heißt also Spuren von Gruppenverhalten. Zwei wesentliche Aspekte sozialgeschichtlicher Fragestellung werden von diesem Wort eingefangen: Einerseits kann die Archäologie nur Gruppierungen innerhalb einer Bevölkerung unterscheiden, zum anderen aber nicht direkt, sondern in dem Niederschlag bestimmter Verhaltensweisen dieser Gruppierungen. Damit steht die Archäologie in gewissem Gegensatz zur traditionellen Geschichtsforschung9, die individuelles Verhalten erfahren will, und mehr auf der Seite der Sozialwissenschaften von der Soziologie bis zur Ethnologie10. Doch sind die Beziehungen der verschiedenen Zweige der Wissenschaft, die sich mit Sozialgeschichte beschäftigen, in mannigfaltiger Weise miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Dies habe ich versucht, in der beigefügten graphischen Darstellung (Abb. 1) zu erläutern.

2 Unterschiedliche archäologische Quellengruppen Zugang zur Gesellschaftsordnung der mitteleuropäischen Bevölkerung während der frühgeschichtlichen Jahrhunderte eröffnen die verschiedenen archäologischen Quellengattungen, nämlich Gräber, Siedlungen und Burgen sowie Horte und Opfer11. Da jedoch die Intention, die zur Entstehung dieser jeweiligen Fundgattungen geführt hat, |598| prinzipiell unterschiedlich war, werden nur Ausschnitte der ehemaligen Realität beleuchtet, da es z. B. nicht Absicht der Germanen war, bei der Siedlungsanlage oder der Friedhofsplanung ihre Sozialstruktur für spätere Archäologen abzubilden.

8 K. J. NARR, Das Individuum in der Urgeschichte. Saeculum 23, 1972, 252–265. 9 Damit wird das zentrale Thema dieses Bandes „Geschichtswissenschaft und Archäologie“ angesprochen. Argumente, daß die Archäologie sich als historische Wissenschaft aufgeben würde, wenn sie nicht Geschichte im traditionellen Sinne erforscht, bei H. J. EGGERS, Einführung in die Vorgeschichte (²1974) 200; J. BERGMANN, Die ältere Bronzezeit Nordwestdeutschlands – Neue Methoden zur ethnischen und historischen Interpretation urgeschichtlicher Quellen. Teil A (1970) 119 f. – dazu H. STEUER, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 226, 1974, 114–128, und R. HACHMANN, Prähist. Zeitschr. 52, 1977, 255–261. – Vom marxistischen Standpunkt aus J. HERRMANN, Archäologie als Geschichtswissenschaft. In: Archäologie als Geschichtswissenschaft (1977) 9–28. 10 Vgl. dazu M. K. H. EGGERT (wie Anm. 3). 11 Zuletzt generell dazu H. JANKUHN, Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaftsordnung der germanischen Stämme in der Zeit der römischen Angriffskriege. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II, 5, 2. Halbband (1976) 65–126 und 1262–1265.

246

Heiko Steuer

Abb. 1: Das Interpretationsgefüge zwischen archäologischem Befund und historischer Deutung.

Siedlungsgrabungen erschließen den realen Überrest einer vergangenen gesellschaftlichen Wirklichkeit im Bereich der Wohn- und Wirtschaftsweise, aber damit nur bruchstückhaft das „Gehäuse“ der ehemaligen Gesellschaft. Siedlungen sind zwar ein unmittelbares Abbild der gesellschaftlichen Organisation, wie sie sich nämlich in Haus-, Hof- und Dorfformen vergegenständlicht hat; sie sind aber nicht schon die Struktur der Gesellschaft an sich. Modellvorstellungen müssen entwickelt werden, wie eine gesellschaftli|599|che Realität aus welchen Ursachen sich in bestimmten Siedlungsformen widerspiegelt. Das Nebeneinander einzelner Wohnstallhäuser und eingezäunter Mehrbetriebseinheiten aus unterschiedlich großen Wohnstall- und anderen Häusern (Abb. 15 und 16), wie sie in Siedlungen wie auf der Wurt Feddersen

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

247

Wierde12, in Flögeln im Elbe-Weser-Winkel13, aber auch in Wijster14 in der Provinz Drente oder in Hodde und Vorbasse in Jütland15 nachgewiesen werden konnten, läßt sich nicht unmittelbar deuten: Unterschiedlicher Reichtum, unterschiedliche Familiengröße und -struktur oder unterschiedliche Abhängigkeitsverhältnisse bieten sich als Erklärungsmöglichkeit an. Dabei könnten die Bewohner der kleineren Häuser in den Mehrbetriebseinheiten von den Bewohnern der Großhäuser abhängig gewesen sein, die Bewohner der einzelnen Wohnstallhäuser von denen der Mehrbetriebshöfe oder schließlich alle von einem anderweitig wohnenden Herrn. Repräsentative Wohnbauten, die gegenüber den Zeitgenossen und dann indirekt auch für den auswertenden Archäologen eine gesellschaftliche Sonderrolle zur Schau stellen, sind die Ausnahmen16. Bestattungen werden von der Familie oder Sippe des Toten inszeniert, auf einem Gräberfeld, für das sich die größere Gemeinschaft entschieden und verabredet hat. Die Grabanlage erfolgt unter religiös-kultischen Vorstellungen sowie vielen anderen Reglements wie die des Prestiges und der Repräsentation gegenüber den anderen. Bestattungen sind daher ebenfalls reale Abbilder, nicht der Gesellschaft selbst, sondern der Vorstellung dieser Gesellschaft von sich selbst. Ein Gräberfeld ist somit eine zweite Realisierung der Gesellschaft – nach dem Tode; es ist mittelbar eine Widerspiegelung der Gesellschaftsstruktur, soweit die Gesellschaft – was die Ausnahme ist – überhaupt im Grab|600/601|kult soziale Unterschiede realisieren will17. Gewaltige Grabhügel und prunkvolle Bestattungsrituale18 wollen gesellschaftliche Sonderstellung bezeugen.

12 W. HAARNAGEL, Das eisenzeitliche Dorf „Feddersen Wierde“, seine siedlungsgeschichtliche Entwicklung, seine wirtschaftliche Funktion und die Wandlung seiner Sozialstruktur. In: Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters. Abh. Akad. Wiss. Göttingen. Phil.-Hist. Kl. 3. Folge Nr. 101 (1977) 253–284 und hier in diesem Band [Geschichtswissenschaft und Archäologie (1979)]. 13 P. SCHMID/W. H. ZIMMERMANN, Flögeln – Zur Struktur einer Siedlung des 1.–5. Jahrhunderts n. Chr. im Küstengebiet der südlichen Nordsee. Probleme der Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 11, 1976, 1–77. 14 W. A. VAN ES, Wijster, a native village beyond the imperial frontier. Palaeohistoria 11, 1967. 15 ST. HVASS, Das eisenzeitliche Dorf bei Hodde, Westjütland. Acta Arch. 46, 1975, 142–158; DERS., Udgravningerne i Vorbasse. En landsby fra 4.–5. årh. og fra vikingetid, samt en brandtomt fra yngre stenalder og to kvindegravplasser fra ca. år O. Mark og Montre 1976, 38–52. 16 Die Fest- oder Versammlungshalle auf der Feddersen Wierde, vgl. W. HAARNAGEL (wie Anm. 12) 270. – Das „germanische große Hallenhaus mit Hochsitz“ von Westick würde man nach den Grabungsbefunden heute anders deuten als dies L. BÄNFER, A. STIEREN, A. KLEIN, Eine germanische Siedlung in Westick bei Kamen, Kr. Unna, Westfalen. Westfalen 21, 1936, 410–453, oder noch G. KOSSACK, Zur Frage der Dauer germanischer Siedlungen in der Römischen Kaiserzeit. Zeitschr. der Gesellschaft für Schleswig-Holstein. Geschichte 91, 1966, 13 ff., versucht haben. 17 So schon H. JANKUHN, Politische Gemeinschaftsformen in germanischer Zeit. Offa 6/7, 1941/42, 1–39, oder Gemeinschaftsformen und Herrschaftsbildung in frühgermanischer Zeit. Kieler Blätter 1938, H. 4, 270–281. 18 G. KOSSACK, Prunkgräber, Bemerkungen zu Eigenschaften und Aussagewert. Studien zur vorund frühgeschichtlichen Archäologie, T. I (1974) 3–33.

248

Heiko Steuer

Doch werden damit nur dann und wann die Spitzen der Gesellschaft erfaßt. Aber wenn Grabkult und Beigabensitte vielgestaltig sind, halten die Gräber Ausschnitte aus dem vergangenen Leben fest und beschreiben indirekt den einstigen Lebensstil der Bestatteten. Prestige und Lebensstil stehen jedoch in relativ enger Beziehung zur gesellschaftlichen Organisation. Horte oder Opfer werden vom einzelnen oder einer Gruppe aus ganz bestimmten, begrenzten Gründen niedergelegt. Sie sind zumeist nicht verborgen worden, um eine gesellschaftliche Position den Mitmenschen zu zeigen; vielmehr sollten Horte als Versteckfunde, aber auch als Eigenausstattung für das Jenseits unbekannt bleiben und zumindest nicht mehr wieder hebbar sein. Diese Fundgattung will also kaum repräsentieren, höchstens vor einer jenseitigen Macht. Horte geben daher nur Ausschnitte einer Gesellschaft zu erkennen und nur mittelbare Widerspiegelung von Teilaspekten der Gesellschaftsorganisation19. Grabbeigaben und Horte reflektieren aber den Reichtum einer Gesellschaft bzw. Einzelner und damit den wirtschaftlichen Verlust, den die Gesellschaft bzw. die Familien durch das Vergraben oder Verstecken auch ertragen konnten und wollten. Beigaben und Horte sind zugleich Hinweis auf einen Überfluß, den eine Gesellschaft erwirtschaftet hatte und entbehren konnte; aber auch auf den Zwang gesellschaftlichen Verhaltens, der zur Verarmung und zu gesellschaftlichem Abstieg führen konnte, wenn eine bestimmte Beigabenausstattung Sitte, doch wirtschaftlich kaum noch zu leisten war. Somit reflektieren die verschiedenen archäologischen Quellengattungen auch unterschiedlich soziale Verhältnisse: Während Siedlungsreste unmittelbar vergangene gesellschaftliche Realität – wenn auch in extremem Ausschnitt – bewahrt haben, spiegeln Bestattungen die vergangene, eigene Vorstellung von gesellschaftlicher Organisation, Rang und Prestige und Lebensstil. Die Waffenbeigabe (Abb. 7) in frühgeschichtlichen Gräbern – während der Römischen Kaiserzeit in höchstens 20 Prozent, in Ausnahmefällen in 3o Prozent, aber während der Merowingerzeit teilweise in 75 Prozent der Männergräber – belegt den kriegerischen Aspekt20 des Lebens und der Jenseitsvorstellungen oder den Wunsch und die besondere Wertschätzung dieser einen Seite des Lebens, mag sie manchmal auch schon Vergangenheit und die Grabsitte nur noch alter Brauch und Tradition sein. |602|

19 H. GEISSLINGER, Horte als Geschichtsquelle dargestellt an den völkerwanderungs- und merowingerzeitlichen Funden des südwestlichen Ostseeraums (1967). 20 J. P. BODMER, Der Krieger der Merowingerzeit und seine Welt. Eine Studie über Kriegertum als Form der menschlichen Existenz im Frühmittelalter (1957).

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

249

3 Sozialstruktur und Gesellschaftsmodelle Die Schwierigkeiten der Auswertung archäologischer Quellen werden offenbar, wenn man den Begriff Sozialstruktur näher definiert. Jede Gesellschaft hat eine innere Struktur, die auf unterschiedlichen Beziehungen zwischen den Menschen und Gruppen von Menschen beruht. Begriffe wie „Sozialstruktur“, „gesellschaftliche Gliederung“, „Gemeinschaftsordnung“ oder auch „gesellschaftliche Organisation“ sind so allgemein, weil unter Struktur nicht nur Schichtung verstanden werden darf, ebensowenig ein starres System gesellschaftlicher Abhängigkeiten. Zur gesellschaftlichen Organisation gehört neben – verschiedenen – vertikalen Schichtungen als ein grundlegendes Strukturelement als zweites die horizontale Gliederung – die wiederum in ein und derselben Gesellschaft mehrdimensional sein kann – und als drittes Element die Wandelbarkeit und der tatsächliche ständige Wandel, ein Element, das Geschichte erst möglich macht. In einem Modell, das im wesentlichen auf Lenski21 zurückgeht, habe ich (Abb. 2) versucht, dieses komplexe Netz innergesellschaftlicher Gruppenbeziehungen zu veranschaulichen. Die Mitglieder einer Gesellschaft unterscheiden sich nach vielen Merkmalen, seien es biologische Konstitution, Rasse, Religion, Beruf, Besitz oder rechtliche Stellung. Danach gibt es ethnische, religiöse, rechtliche, politische und Besitzgruppen, die manchmal verschiedene Schichten bilden, wobei eine Person verschiedenen Gruppen und auch verschiedenen Schichten gleichzeitig angehören kann. Die Struktur einer Gesellschaft besteht also aus einem mehrdimensionalen System von Schichtungen, die gleichzeitig wirksam sind. Die Schichtenabfolgen haben unterschiedlichen Charakter. Die Begriffe wie Gruppe, Rang, Schicht, Klasse, Stand, Kaste stehen im groben für eine Schichtenabfolge steigender Strenge. Sie können an dieser Stelle nicht näher erläutert werden22. Die Illustration durch ein von Johanna Maria van Winter entwickeltes Modell für das Rittertum des 12. bis 16. Jahrhunderts als Klasse soll genügen23. In diesem Modell (Abb. 3) wird die gleichzeitige gesellschaftliche Relevanz von zwei Gliederungselementen, von Stand und Klasse offensichtlich, wobei die rechtliche Gliederung der Gesellschaft in Stände eine völlig andere Rolle spielt als die soziale Gruppierung in Klassen. Dabei meint Frau van Winter mit „sozial“ die reale Position eines Menschen,

21 G. LENSKI, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung (1977). 22 K. BOSL, Kasten, Stände, Klassen im mittelalterlichen Deutschland. Zur Problematik soziologischer Begriffe und ihrer Anwendung auf die mittelalterliche Gesellschaft. Zeitschr. für Bayer. I.andesgesch. 32, 1969, 477–494. 23 JOHANNA MARIA VAN WINTER, Rittertum. Ideal und Wirklichkeit (1969, dtv 1979) 88 ff. mit Abb. auf S. 95. Vgl. auch dazu M. MITTERAUER, Probleme der Stratifikation in mittelalterlichen Gesellschaftssystemen. In: J. KOCKA (Hrsg.), Theorien in der Praxis des Historikers. Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3, 1977, 13–43.

Abb. 2: Modell einer mehrdimensionalen Gesellschaftsstruktur. Eine Gesellschaft setzt sich aus zahlreichen, parallel wirkenden Rangsystemen zusammen. Das einzelne Rangsystem ist für die Gesellschaft aber unterschiedlich wichtig und daher wiederum im Vergleich mit den anderen Rangsystemen von höherem oder niedrigerem Rang. Je höher ein System im Modell gezeichnet ist, desto wichtiger ist seine Bedeutung. – Der Grad gesellschaftlicher Mobilität richtet sich nach der Staffelung der einzelnen Rangsysteme. Die Mobilität ist groß, wenn Gruppe und Rang die Gesellschaft gliedern, gering, wenn Stände oder Kasten die Gesellschaft bilden.

250 Heiko Steuer

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

251

Abb. 3: Schematische Darstellung der Stände und Klassen im Mittelalter. Die senkrechten Säulen bezeichnen die Stände, die horizontalen Schichten die Klassen (nach Johanna Maria van Winter).

sein Ansehen und seinen Lebensstil, in der Gesellschaft. Dem rechtlichen Stande nach Ministeriale gehören zum |603| Beispiel nämlich sozialen Klassen von der Ritterschaft über die Herrenbauern bis zu armen Bauern und Tagelöhnern an. Der Hinweis auf dieses Modell ist für die frühgeschichtlichen Verhältnisse deshalb so wichtig, weil es deutlich macht, daß die rechtliche Position oftmals der realen Situation nachgeordnet ist, und weil aus archäologischem Quellenmaterial zwar häufig diese reale Position in der Gesellschaft erschlossen werden kann, aber in keinem Falle einwandfrei die rechtliche Stellung. Die unscharfe begriffliche Trennung dieser Faktoren hat dazu geführt, daß bisher fast alle Versuche der Archäologen, gesellschaftliche Organisation zu erschließen, unbefriedigend bleiben mußten. Paradebeispiel war einerseits die Annahme, die nach Wergeldern beschriebenen Stände der germanischen Stammesrechte in den unterschiedlichen Grabbeigaben widergespiegelt zu finden und andererseits die

252

Heiko Steuer

Hoffnung, rechtliche Abhängigkeitsverhältnisse damit |604| nachweisen zu können24. Die Beschreibung der späthallstattzeitlichen und frühlatènezeitlichen Gesellschaftsordnung25, archäologisch verkörpert in „Herrensitzen“ wie der Heuneburg und reich ausgestatteten Fürstenhügeln, als quasi feudale Gesellschaft wie im hohen Mittelalter versperrt schließlich den Zugang zur gesuchten Realität, wenn damit mehr als eine flüchtige Analogie als erste schnell zu formulierende Hypothese gemeint ist. Bei den Untersuchungen zur Sozialstruktur der familia der Abtei Prüm im 9. Jahrhundert hat Kuchenbuch26 einige Tatsachen herausgearbeitet, die als Modell für ältere Zeitabschnitte sehr aufschlußreich sind: Noch im 9. Jahrhundert ist die Familienstruktur durch ausgesprochene Rangverhältnisse gekennzeichnet, nach denen der Mann vor der Frau, der Vater vor dem Sohn, der älteste Bruder vor dem jüngeren rangiert und zur Familie auch nicht verwandte Knechte und Mägde gehören. Wirtschaftsgrundlage – unabhängig von der ständischen Zuordnung – ist der mansus als meist mehrgliedrige umzäunte Hofanlage (eine Mehrbetriebseinheit) mit zugehörigem Ackerland, der einerseits von eng verwandten Gattenfamilien ohne Gesinde bewirtschaftet werden kann, andererseits von der Kernfamilie eines verheirateten Mannes mit Frau und Kindern, unverheirateten Geschwistern, verwitweter Mutter, Kindeskindern und Gesinde. Zwei unterschiedliche Strukturen können also die Inhabergemeinschaft mit Rangdifferenzierung bilden. Ein umfangreicher Mansus mit rechtlichem Sklavenstatus führt zu höherem sozialen Ansehen, als der kleinere mit dem Freienstatus. Größe der sors, des Ackerlandes, und Anzahl des Viehs sind die Grundlage für die ökonomische und soziale Gliederung der Mansen, die insgesamt abhängig sind – im Beispiel – von der Prümer Abtei. Reichtum und Ansehen sind also unabhängig vom rechtlichen Status, eine Hofstelle wird von zumeist mehreren verwandten Familien betrieben, die auch zusammen, aber in getrennten Häusern leben. Solche Mehrbetriebseinheiten sind – wie anfangs erwähnt – mehrfach in germanischen Siedlungen der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt nachgewiesen worden27. Auch die Siedlungen des 9. Jahrhunderts wären archäologisch zu erforschen. Von vornherein weiß man, daß rechtliche Positionen nicht nachzuweisen sind, daß aber Unterschiede im wirtschaftlichen Vermögen zu beobachten sein müssen. |605|

24 Näher ausgeführt bei H. STEUER, Nachr. Niedersachsens Urgeschichte 37, 1968, 18–87. 25 W. KIMMIG, Zum Problem späthallstättischer Adelssitze. In: Siedlung, Burg und Stadt. Festschr. für P. Grimm (1969) 95–113. 26 L. KUCHENBUCH, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm. Vierteljahrsschr. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 66 (1978). 27 Ausführlich diskutiert bei P. SCHMID, Zum Siedlungssystem einer dörflichen Anlage des 2.–3. Jahrhunderts n. Chr. im Küstengebiet zwischen Elbe und Weser. In: Studien zur Sachsenforschung (1977) 357–377; G. KOSSACK, O. HARCK, J. REICHENSTEIN, Zehn Jahre Siedlungsforschungen in Archsum auf Sylt. Ber. RGK 55, Teil II, 1974, 338 ff.; O. HARCK, G. KOSSACK, J. REICHSTEIN, Siedlungsform und Umwelt. Grabungen in Archsum auf Sylt. Ausgrabungen in Deutschland Bd. II (1975) 30–44.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

253

4 Sozialgeschichtliche Interpretation von Grabfunden Die zu diesen Siedlungen gehörenden Bestattungsplätze lagen bei den Kirchen; mit Ausnahme der Kirchenherren wird man für die übrige Bevölkerung keine Differenzierung mehr im Bestattungsbrauch nachweisen können. Für die ältere Zeit hat man – beeinflußt durch die herrschende Sitte, die Toten mit Beigaben an Tracht, Bewaffnung und anderem Gut zu versehen – ein Recht des Toten an seinem Individualbesitz über den Tod hinaus postuliert, gar einen bestimmten Totenteil – Anteil am Besitz, der ins Grab zu folgen hatte – vermutet28 und feste, damit verknüpfte Erbrechtsbestimmungen vorausgesetzt. Doch konnte eine Überprüfung keinerlei Beweis für diese Thesen finden; die archäologischen Befunde sprechen vielmehr überzeugend dagegen. Wüßten wir – außer der räumlichen Herleitung mancher Aspekte der Reihengräbersitte – die Ursachen für das Aufkommen dieses Beigabenbrauches, dann hätten wir auch einen gesicherten Zugang zur Sozialordnung. Aber warum die Reihengräbersitte gerade in einem recht deutlich begrenzten Gebiet, Stammes- und politische Grenzen übergreifend, sich entwickelt, unabhängig von einem Herrschaftsbereich, ist noch verborgen. Als Erklärung reichen der romanisch-germanische Gegensatz einerseits und die Koppelung der Reihengräbersitte mit dem östlichen Merowingerreich und seinem Einfluß andererseits nicht aus. Deshalb wird man zustimmen müssen, daß die Reihengräberzivilisation nicht mit einer besonderen Sozialstruktur, begrenzt auf dieses Gebiet, unmittelbar gekoppelt gewesen sein wird. Eine bestimmte Bestattungssitte und eine bestimmte Sozialstruktur sind nicht räumlich deckungsgleich, ein wesentlicher Hinweis darauf, daß der Grabbrauch keine eindeutige Widerspiegelung sozialer Schichtungen liefert. Das allein hat schon die Diskussion um die sogenannten Fürstengräber vom LübsowTyp29 erbracht: Vielen spärlich ausgestatteten Gräbern stehen wenige reich mit Beigaben versehene Gräber gegenüber; eine Gruppenbildung läßt sich nicht erkennen, vielmehr gibt es einen kontinuierlichen Übergang zwischen armen und reichen Bestattungen |606/607|

28 H. SCHREUER, Das Recht der Toten, eine germanistische Untersuchung. Zeitschr. für vergleichende Rechtswissenschaft 33, 1915, 333 ff., und 34, 1916, 1–208. S. RIETSCHEL, Der „Totenteil“ in germanischen Rechten. Zeitschr. der Savigny-Stiftung f. Rechtsgeschichte, Germanist. Abt. 32, 1911, 297–310. Literatur aufgeführt bei CLARA REDLICH, Erbrecht und Grabbeigaben bei den Germanen. Forschungen und Fortschritte 24, 1948, 177–180, und A. J. GENRICH, Grabbeigaben und germanisches Recht. Die Kunde NF 22, 1971, 189 ff. 29 H. J. EGGERS, Lübsow, ein germanischer Fürstensitz der älteren Kaiserzeit. Prähist. Zeitschr. 34/35, 2. Hälfte, 1949/50 (1953) 58–111, stellte zuerst diese Gräbergruppe heraus. Dazu weiter M. GEBÜHR, Zur Definition älterkaiserzeitlicher Fürstengräber vom Lübsow-Typ. Prähist. Zeitschr. 49, 1974, 82–128, und R. KÖHLER, Untersuchungen zu Grabkomplexen der älteren römischen Kaiserzeit in Böhmen unter Aspekten der religiösen und sozialen Gliederung (1975), und DERS., Zur Problematik der älterkaiserzeitlichen „Fürstengräber“ in Böhmen. Zeitschr. für Ostforschung 24, 1975, 457–463.

254

Heiko Steuer

(Abb. 4), der der zu erwartenden Normalverteilung entspricht30. In graphischen Darstellungen zeichnen sich daher asymptotische Kurvenverläufe ab. Diese Wahrscheinlichkeitsverteilungen korrespondieren (Abb. 5 und 6) mit der zu erwartenden gleichmäßigen geographischen Verteilung31 von verschieden häufigen Grabausstattungstypen: Die bis|608|her bekannten Gräber der Kaiserzeit (vielleicht ein Promille) sind geographisch gleichmäßig verteilt und lassen nur des öfteren bestimmte, durch fundleere Gebiete getrennte Siedlungsräume erkennen. Waffengräber sind insgesamt seltener, bilden aber ein gleichmäßiges, nur dünneres Netz auf dem Hintergrund der Allgemeinverteilung. Prunkvoll ausgestattete Gräber sind noch seltener und daher nur sporadisch über das ganze Gebiet verteilt. Sah man darin bisher die systematische Aufgliederung eines Areals in Herrschaftsgebiete von „Fürsten“, so beschreibt der Befund eher die sich aus der Funddichte ergebende geographische Normalverteilung32. Prunkvoll ausgestattete Gräber sind anders zu bewerten, als die Masse der schlichten Bestattungen. Doch eine rechtliche Staffelung ist keinesfalls zu belegen, und für andere gesellschaftliche Gruppenbildungen ist vorher zu klären, was die jeweilige Grabsitte |609| wirklich aussagen kann. Nur in Ausnahmefällen treffen alle die Axiome zu, die Archäologen üblicherweise bei der Deutung der Gräber voraussetzen: 1) Der Grabkult, d. h. der Unterschied in der Bestattungssitte und in der Beigabenausstattung spiegelt gesellschaftliche Unterschiede wider, 2) in Zeiten mit ausgeprägter Beigabensitte mußte ein fester Anteil des Besitzes dem Toten mit ins Grab folgen, 3) hinter dem Wandel der Beigabensitte, z. B. der Einführung der Waffenbeigabe, steht ein sozialer Wandel, 4) der Reichtum der Beigaben steht in direktem Verhältnis zum Umfang des Besitzes zu Lebzeiten, 5) die Grabausstattung entspricht dem sozialen Rang des Lebenden, 6) die vertikale soziale Rangfolge oder Schichtung spiegelt sich stärker in der Grabsitte wider als andere gesellschaftliche Gruppenbildungen, 7) die qualitäts- und quantitätsmäßige Abstufung der Beigaben wird als einlinige vertikale Abfolge bzw. Schichtung gedacht, ohne daß die anfangs erwähnten parallelen Staffelungen in Rechnung gestellt werden.

30 Vgl. die Kurvendarstellungen bei M. GEBÜHR, Der Trachtschmuck der älteren römischen Kaiserzeit im Gebiet zwischen unterer Elbe und Oder und auf den westlichen dänischen Inseln. Brandenburg, Mecklenburg, Fünen, Langeland, Lolland (1976). 31 Das belegen z. B. die Kartierungen der Waffen- und Fürstengräber der älteren Kaiserzeit im Norden der DDR: A. LEUBE, Probleme germanischer Adelsentwicklung im 1. und 2. Jahrhundert unter dem Aspekt der römischen Beeinflussung. In: Römer und Germanen in Mitteleuropa (²1976) 179–195 und Abb. 3 oder auch der jüngerkaiserzeitlichen Fürstengräber auf dem Hintergrund der Körpergräber der spätrömischen Kaiserzeit in Mitteldeutschland: G. MILDENBERGER, Die thüringischen Brandgräber der spätrömischen Zeit (1970) Karte 2 mit Eintragung der Fürstengräber nach W. SCHULZ, Leuna, ein germanischer Bestattungsplatz der spätrömischen Kaiserzeit (1953) Abb. 67. 2. 32 Die Interpretation von registrierenden Fundkarten steht zumeist noch auf unzureichender methodischer Basis: Mathematisch-statistische Überprüfungen von Karten unter den skizzierten Häufigkeiten der Funde bei I. HODDER und C. ORTON, Spatial Analysis in Archaeology (1976).

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

255

Abb. 4: Beigabenhäufigkeit in Gräbern der Stufen B 1 und B 2 in Mecklenburg (nach M. Gebühr). Die asymptotische Kurve ist das übliche Bild, wenn Beigabenreichtum von Gräbern statistisch beschrieben werden soll; denn viele Gräber haben wenige Beigaben, und wenige Gräber haben viele Beigaben.

Vor allem wird zumeist vergessen, daß zwar Abstufungen im Beigabenreichtum gesellschaftliche Unterschiede reflektieren können, daß aber umgekehrt das Fehlen von Unterschieden nicht etwa einer egalitären Gesellschaft entspricht. Grabkult und gesellschaftliche Organisation sind nicht direkt zu koppeln; im Gegensatz zu Siedlungsbefunden, die unmittelbar Abbild vergangener gesellschaftlicher Realität sind.

256

Heiko Steuer

Abb. 5: Verbreitung der Gräber vom Lübsow-Typ und der Waffengräber des und 2. Jahrhunderts. 1 Grab vom Lübsow-Typ, 2 Waffengrab (nach A. Leube).

Gerade die Verhältnisse bei den kaiserzeitlichen Stämmen haben dies bestätigt; denn es gibt bei den Elbgermanen ausgeprägte Grabsitten, die entweder die Waffenbeigabe oder die Prunkausstattung kennen, aber auch Brand- oder Körperbestattung. Gerade die „fürstlich“ ausgestatteten Körpergräber kennen nicht die Waffenbeigabe; in reichen Brandgräbern mit Waffen fehlen oftmals die Beigaben, die die Körpergräber auszeichnen. Die beiden unterschiedlichen Grabsitten entspringen verschiedenen religiösen Einstellungen und gestatten durch die derart präformierte Beigabensitte aber einen unterschiedlichen Einblick in Lebensweise und Lebensstile. Beide Grabsitten kennen die ganze Spannweite vom armen bis zum reichen Grab; aber die reichen Körpergräber erwecken mit ihren Beigaben den Eindruck von üppiger Lebensweise durch kostbare Eß- und Trinkgeschirre aus Silber, Bronze oder Glas und durch Reitersporen. Eine gewisse Anlehnung an römische Lebensweise ist gegeben. Demgegenüber stehen

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

257

Abb. 6: Verbreitung der reichen Gräber vom Typ Haßleben-Leuna und der spätrömischen Körpergräber (nach G. Mildenberger und W. Schulz). 1 Grab vom Typ Haßleben-Leuna, 2 Körpergräber.

die Waffen in den reichen Brandgräbern für einen ganz anderen Aspekt des Lebens. War das Leben dieser Germanen mit den unterschiedlichen Grabbräuchen unterschiedlich oder hat nur der Totenkult die verschiedenartigen Bilder entstehen lassen? Schließlich bleibt es eine nicht erklärte Tatsache, daß gerade die kriegerischen westgermanischen Stämme nur unscheinbare Grabbräuche pflegten und weder den einen noch den anderen Lebensstil, nämlich Waffen als kriegerischen Aspekt oder Prunkgeschirr als Ausdruck üppigen Lebens, über den Tod mit hinausnahmen. Die Gräber geben in erster Linie also Aufschluß über einen ganz anderen Ausschnitt vergangenen Lebens als – wie zumeist vordergründig gedacht – über die soziale Schichtung. |610/611|

258

Heiko Steuer

Abb. 7: Prozentuale Aufgliederung kaiserzeitlicher und merowingerzeitlicher Gräberfelder nach der Waffenbeigabe, sonstigen Beigaben und beigabenlosen Gräbern. Die Zahlen in Klammern geben die Gesamtgräberzahl an. – Bei Groß-Romstedt (um Chr. Geb.), Hamfelde (Römische Kaiserzeit), Rübenach und Iversheim (beide Merowingerzeit) bedeuten die Schichten von oben nach unten: reiche Waffengräber, Waffengräber, Gräber mit Beigaben, Gräber ohne Beigaben. – Bei Marktoberdorf, Bülach und Köln-Müngersdorf (alle Merowingerzeit) bedeuten die Schichten von oben nach unten: Waffengräber, Gräber mit Beigaben, Gräber ohne Beigaben. – Nach der Waffenbeigabe lassen sich demnach Bevölkerungspyramiden mit einer zahlenmäßig kleinen „Oberschicht“ rekonstruieren, aber auch Pyramiden, deren Schichtenabfolge gewissermaßen auf dem Kopf steht.

Wie sehr gleichartige politische und kulturelle Situationen vergleichbare Verhaltensweisen hervorrufen, hat Kossacks33 Analyse der sogenannten Prunkgräber erneut offenbart. Prunkgräber entstehen nicht überall dort, wo eine entsprechende Führungsschicht ihre Toten bestattet. „Fürstengräber“ entstehen dort, wo eine Gesellschaft im Banne einer anscheinend höher zivilisierten Kultur steht.

33 G. KOSSACK, Prunkgräber. Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie T. I (1974) 29: Prunkgräber entstehen im Kontaktbereich zwischen höheren Kulturen und einem Barbaricum in Zeiten kulturellen Wandels und kennzeichnen oftmals archäologische Periodengrenzen.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

259

Die scheinbar schwächere Führungsschicht in einer Zone, in der verschiedenartige Kultursysteme aufeinanderstoßen, braucht eine Selbstbestätigung. Daß sich diese ausgerechnet auch im Grabkult abspielt, ist ein Sonderfall. Selbstbewußte Führungsgruppen wie bei den Westgermanen zur Kaiserzeit, bei den Franken nach der Konsolidierung des fränkischen Reiches, aber auch bei den Sachsen des 7. und 8. Jahrhunderts34, verlegen nicht einen Teil ihrer Selbstdarstellung in den Totenkult. Dies kennzeichnet die überformten, unter der Dominanz sich wandelnden Gruppen an der Peripherie von „höheren“ politischen Einheiten. Gerade darin wird der Grund zu suchen sein, daß sogenannte Fürstengräber der Kaiserzeit nicht nur römische Gegenstände enthalten, sondern damit auch römischen Lebensstil abbilden. Ähnliches charakterisiert zum Teil auch die merowingerzeitliche Reihengräberzivilisation, die auf den Osten des fränkischen Reiches und die rein germanischen Siedlungsgebiete der Alemannen, Bajuwaren, Thüringer und der östlichen Franken begrenzt ist und bald von West nach Ost fortschreitend vom Grabkult der romanischen Vorbevölkerung wieder verdrängt wird35. Psychologisch zu erklärende Verhaltensweisen sind daher nicht in erster Linie unter dem Blickwinkel gesellschaftlicher Schichtung zu deuten. Aber es fehlt bisher eine religionspsychologische Betrachtung des durch vielfältige Beigaben ausgezeichneten Grabbrauches, die der Sozialgeschichte vorauszugehen hat. Somit bilden die in den letzten Jahren vorgelegten Analysen der kaiser- und merowingerzeitlichen Beigabengebräuche in erster Linie die Grundlage für eine exakte Beschreibung des tatsächlichen, archäologisch erfaßten Befundes. In diesem Zusammenhang müssen die Arbeiten von Gebühr36 und Schlüter37 für die Kaiserzeit und vor allem |612| von Christlein38 für die Merowingerzeit genannt werden. Ziel war zwar, die gesellschaftliche Organisation zu erfassen, wenn nicht soziale Schichten, dann wenigstens

34 H. STEUER, Adelsgräber der Sachsen. In: Sachsen und Angelsachsen. Katalog der Ausstellung in Harburg (1978) 471 ff. 35 H. AMENT, Franken und Romanen im Merowingerreich als archäologisches Forschungsproblem. Bonner Jahrb. 178, 1978, 377–394. 36 M. GEBÜHR und J. KUNOW, Der Urnenfriedhof von Kemnitz, Kr. Potsdam-Land. Untersuchungen zur anthropologischen Bestimmung, Fibeltracht, sozialen Gliederung und „Depot“-Sitte. Zeitschr. f. Arch. 10, 1976, 185–222, mit Hinweis auf seine älteren Arbeiten. 37 W. SCHLÜTER, Versuch einer sozialen Differenzierung der jüngerkaiserzeitlichen Körpergräbergruppe von Haßleben-Leuna anhand einer Analyse der Grabfunde. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 6, 1970, 117–145. Dazu auch J. WERNER, Bemerkungen zur mitteldeutschen Skelettgräbergruppe Haßleben-Leuna. Zur Herkunft der ingentia auxilia Germanorum des gallischen Sonderreiches in den Jahren 259–274 n. Chr. In: Mitteldeutsche Forschungen Bd. 74/I, Festschr. f. W. Schlesinger (1973) 1–30. 38 R. CHRISTLEIN, Besitzabstufungen zur Merowingerzeit im Spiegel reicher Grabfunde aus Westund Süddeutschland. Jahrb. RGZM 20, 1973, 147–180; DERS., Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes (1978).

260

Heiko Steuer

„Besitzabstufungen“, die in erster Linie die soziale Realität beschreiben, nachdem in mehreren Abhandlungen die ständegeschichtliche Auswertung merowingischer Gräber abgelehnt worden war. Aber das bisherige Ergebnis ist vorerst einmal die saubere Methode zur Beschreibung des archäologischen Sachverhalts sowie der Totenbräuche germanischer Bevölkerungsgruppen. Der Schritt zur Rekonstruktion der Gesellschaft erfolgt immer noch unbekümmert darum, wie das eigentlich geschehen soll. Es genügt, die kontroverse Diskussion um den Nachweis eines fränkischen Uradels in frühmerowingischer Zeit in Erinnerung zu rufen39. Der Streit ist unter Historikern noch offen und ein Ausweg über die Bezeichnung „soziale Oberschicht“ statt „Adel“ gewiesen, zumal eine Definition von Adel kaum möglich ist40, wenn man über gewisse geburtsrechtlich gegebene Vorteile hinausgehen will. Adel ist dann eher eine Standesbezeichnung als das Etikett für eine soziale Position in der Gesellschaft. Adel als rechtlich beschriebene Gruppe ist archäologisch nicht nachweisbar – wie zu Anfang betont –, und daher ist es unmöglich, die Kontroverse der Historiker mit Blick auf archäologische Befunde, nämlich außerordentlich reich ausgestattete Gräber, zu entscheiden. Zwar ist die Ausgangsbasis für derartige Überlegungen gesicherter, wenn eine ganze Bevölkerungsgruppe einer bestimmten Grabsitte anhängt, wie die östlichen Franken und die Alemannen, und darunter wenige sehr reiche Gräber nachgewiesen werden können. Aber die Analyse der Funde hat zu deutlich gezeigt, daß eine gleichmäßig gültige Grabsitte weder für die Frühzeit der Reihengräberzivilisation, noch für die Spätzeit41 belegt ist. |613| In der Frühzeit gibt es zwar sehr reiche Bestattungen, darunter solche mit Goldgriffspathen und Helmen, aber größere Teile der Bevölkerung hatten sich noch nicht der Reihengräbersitte angeschlossen. In der Spätzeit gibt es kaum noch ausnehmend reiche Gräber, aber die breite Masse hängt der Beigabensitte an. Und gerade in diesen Jahrzehnten, dem späten 6. und frühen 7. Jahrhundert, sind Prunkbestattungen nicht

39 F. IRSIGLER, Untersuchungen zur Geschichte des frühfränkischen Adels (1969), der für einen fränkischen Uradel plädiert, und HEIKE GRAHN-HOEK, Studien zur rechtlichen und politischen Stellung der fränkischen Oberschicht im 6. Jahrhundert (1976), die sich gegen diesen Uradel ausspricht. Vgl. R. WENSKUS zum Stichwort Adel im Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. I (²1971) 60–75. 40 Vgl. auch für das Mittelalter JOHANNA MARIA VAN WINTER, Rittertum (dtv 1979) 89: „Was Adel war, kann man nicht genau definieren“, … „Man war adlig oder man war es nicht“ oder WENSKUS’ Aussage a. a. O. für die früheren Jahrhunderte, daß eine Familie immer adliger als die andere war. Die ersten Sätze betreffen den Adel mehr als rechtlich geschlossenen Stand, der letzte Adel als Rangqualität. 41 Als Beispiel sei auf die Reihengräbersitte in Belgien hingewiesen, deren Variationsbreite ROOSENS nachdrücklich charakterisiert hat: H. ROOSENS, Siedlung und Bevölkerungsstruktur im Spiegel merowingischer Gräberfelder. Zu den jüngsten Ergebnissen der Reihengräberforschung in Belgien. In: Siedlung, Sprache und Bevölkerungsstruktur im Frankenreich. Wege der Forschung Bd. 49 (1973) 383–399.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

261

gerade sehr häufig42. Also auch für die Merowingerzeit spiegelt die Grabsitte nicht gleichmäßig die ganze Bevölkerung. Vor der sozialgeschichtlichen Beurteilung gesellschaftlicher Rangunterschiede wäre daher zu klären, welche Gruppen welchem Grabbrauch anhingen. Wie wenig die Methode ausgearbeitet ist, um archäologischen Befund und historische Begriffsbildung zu verbinden, zeigen schon einige Stichworte. Im Abstand von wenigen Jahrzehnten konnte die Bevölkerung, die auf dem merowingerzeitlichen Gräberfeld von Bülach bestattet worden ist, einerseits als fast vollständig frei43 und andererseits als vollständig abhängig44 beschrieben werden, und dies bei einem durchschnittlich umfangreich mit Waffen, Schmuck und anderen Beigaben ausgestatteten Gräberfeld. Die sogenannten Goldgriffspathen dienten einerseits zum Nachweis eines fränkischen Uradels in den Jahrzehnten um 5oo45, andererseits als Rangabzeichen von Amtsträgern im fränkischen Reich46, also für die Gruppe der erst später über das Amt zum Adel aufsteigenden Familien. Ich dagegen würde aufgrund der Zahl, die einst einige tausend betragen hat, und aufgrund ihrer Herkunft aus zentralen Werkstätten, in diesen Waffen eher Ausrüstungsgegenstände der königlichen Gefolgschaftskrieger sehen, deren soziale Herkunft außerordentlich unterschiedlich gewesen ist47. Bei den Waffen selbst fällt der goldene Griff auf, aber zumeist handelt es sich nur um einen sehr dünnen, einseitigen Belag aus Goldblech, der nur ein geringes Gewicht ausmacht. Die Schwerter sehen prächtig aus, stellen aber vom Edelmetall her keinen herausragenden Wert dar. Die 414,62 g wiegende massive Gürtelschnalle aus dem angelsächsischen Königsgrab von Sutton Hoo48 würde ausreichen, um Dutzende von Schwertgriffen mit Gold zu belegen. Die Waffenbeigabe erstreckt sich – mit Ausnahme des 6. und frühen 7. Jahrhunderts – nur immer auf einen Bruchteil der Männergräber. Einerseits ist die Waffenbeigabe abhängig vom Alter des Gestorbenen (Abb. 8); die mitgegebene Bewaffnung wandelt sich mit dem Lebensalter, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt und auch geogra-

42 FRAUKE STEIN, Adelsgräber des achten Jahrhunderts in Deutschland (1967) 177. 43 J. WERNER, Das alamannische Gräberfeld von Bülach (1953); dazu H. STEUER, Nachr. Niedersachsens Urgeschichte 37, 1968, 43. 44 R. CHRISTLEIN, Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes (1978) 93. 45 H. AMENT, Fränkische Adelsgräber von Flonheim (1970); W. SCHILESINGER und J. WERNER, Über den Adel im Frankenreich. In: Siedlung, Sprache und Bevölkerungsstruktur im Frankenreich. Wege der Forschung 49 (1973) 545–553. 46 R. CHRISTLEIN, Die Alamannen (1978) 86. 47 Die jüngeren sog. Ringknaufschwerter wurden mehrfach mit dem Gefolgschaftswesen in Verbindung gebracht: V. I. EVISON, The Dover ring sword and other sword-rings and beads. Archaeologia 101, 1967, 63–118, und Sword rings and beads. Archaeologia 105, 1975, 303–315. 48 R. L. S. BRUCE-MITFORD, The Sutton Hoo ship-Burial (1968) 62.

262

Heiko Steuer

Abb. 8: Abhängigkeit der Waffenbeigabe vom Alter, dargestellt für das Gräberfeld vorn Harnfelde, Kr. Herzogtum Lauenburg. Rechts: Gräber mit Sporenbeigabe; Mitte: Gräber mit Lanzenbeigabe (Linie 1) und Schildbeigabe (Linie 2); Links: Gräber mit der Beigabenkombination von Schild und Lanze (Linie 1) und Schwertbeigabe (Linie 2) – Nach M. Gebühr.

phisch von |614/615| Gebiet zu Gebiet49. Zum anderen ist die Zahl der jeweils einst Bewaffneten immer größer gewesen als die Zahl der Waffenbeigaben. Weit mehr als die Hälfte der Männergräber müßte nach der üblichen Bewaffnungssitte – belegt auch durch völkerkundliche Parallelen50– Waffen enthalten; zumal in den großen jütländischen Mooropferfunden weit größere Männergemeinschaften bewaffnet nachgewiesen sind, als sie überhaupt auf einem Gräberfeld bestattet worden sein können. Es opferte dort jedenfalls ein größerer Teil der Männer, als er Waffen mit ins Grab bekam (Abb. 9)51. Die Waffenbeigabe, zumeist in erster Linie als Indiz für gehobene soziale Stellung angesehen, ist also nur in beschränkten Zeiten und Räumen nachgewiesen und dann auf einen kleinen Kreis der Männer eingegrenzt. Der Hintergrund für diesen Sonderfall der Waffenbeigabe – ihr Ausnahmecharakter ist bisher viel zu wenig betont worden – muß analysiert werden. Zuerst fassen wir nämlich wieder eine Grabsitte, darüber hinaus Spuren eines Lebensstils, der Kampf und Krieg hoch zu schätzen schien, und der begrenzt ist auf einen Teil der Männer unterschied-

49 Für die Römische Kaiserzeit: M. GEBÜHR, Versuch einer statistischen Auswertung von Grabfunden der römischen Kaiserzeit am Beispiel der Gräberfelder von Hamfelde und Kemnitz. Zeitschr. f. Ostforschung 24, 1975, 433–456, besonders Abb. 10–12; für die Merowingerzeit: H. STEUER, Zur Bewaffnung und Sozialstruktur der Merowingerzeit. Nachrichten Niedersachsens Urgeschichte 37, 1968, 18–87; W. HÜBENER, Waffennormen und Bewaffnungstypen der frühen Merowingerzeit. Fundber. aus Baden-Württemberg 3, 1977, 510–527. 50 H. GRÜNERT, Zur Bevölkerungsstärke der Markomannen. Zeitschr. f. Arch. 2, 1968, 207–231. 51 M. ØRSNES, Der Moorfund von Ejsbol bei Hadersleben und die Deutungsprobleme der großen nordgermanischen Waffenopferfunde. In: Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze in Mittelund Nordeuropa, hrsg. von H. JANKUHN (1970) 172–187 und N. BANTELMANN, Hamfelde, Kr. Herzogtum Lauenburg. Ein Urnenfeld der römischen Kaiserzeit (1971) im Vergleich.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

263

Abb. 9: Vergleich der Waffenfunde aus einem Gräberfeld und einem Opfermoor der Römischen Kaiserzeit.

264

Heiko Steuer

lichen Alters. Da von Geschichtswissenschaftlern in westlicher52 wie in marxistischer Literatur53 die Rolle der germanischen Kriegergefolgschaft54 in gleicher Weise betont wird, auch daß das Leben innerhalb einer Gefolgschaft eine bestimmte Verhaltensweise hervorruft, bietet sich als Deutung von Waffenbeigaben vor der rechtlichen oder sozialen Rangstaffelung die Affinität zum Gefolgschaftswesen an. Reiche Gräber, die durch die Sporenbeigabe auf die Rolle der Reiterei hindeuten, aber keine Waffen enthalten, worauf schon Hachmann55 für die Jahrzehnte um Christi Geburt hingewiesen hat, was aber auch noch spätkaiserzeitliche Gräber bestätigen56, beweisen das Nebeneinander verschiedener Grabsitten als Widerspiegelun|616/617|gen unterschiedlicher Lebensweisen, die schließlich auch sozialgeschichtlich in Rangunterschieden ausmünden können. Damit geben Waffen als Beigaben einen Ausschnitt aus der vergangenen gesellschaftlichen Realität zu erkennen, die nicht wie bisher üblich als eine Schicht in einer sozialen Rangstaffelung angesehen werden darf, sondern als besondere Gruppierung, die in sich näher differenziert werden könnte und neben anderen Ausschnitten der realen Gesellschaft steht, analog des in Abb. 2 skizzierten gesellschaftlichen Aufbaus. Grabbeigaben werfen zunächst ein Licht auf verschiedenen Jenseitsglauben, dann auf verschiedene Lebensstile, die erst in weiterer Hinsicht Spiegel sozialer Ordnung sind. Reich ausgestattete, aber waffenlose Gräber als Abbild römischer Lebensweise könnten die Bestattungen einst im Römischen Reich zu hohen Würden aufgestiegener Leute sein, die das zuhause zur Schau stellten, um ihre gesellschaftlichen Spitzenpositionen zu beweisen, während reiche Gräber mit Waffen, basierend auf dem Gefolgschaftswesen, die Träger der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den germanischen Stämmen und gegen Rom bergen können: Zwei unterschiedlich begründete soziale Spitzenpositionen, vielleicht bei gleicher rechtlicher Stellung, in dem gleichen Gebiet. Über das einzelne Grab mit seinen Beigaben hinaus, das unter sehr vielgestaltigen Fragestellungen gedeutet werden kann (Abb. 10), sind die Gräberfelder selbst von größerer Wichtigkeit bei der gesellschaftlichen Rekonstruktion. Denn das Gräberfeld birgt die gesamte Gemeinschaft eines längeren Zeitraums, und da innerhalb der Gemeinschaft einer größeren Siedlung oder eines Dorfes kleinere Strukturen existiert haben werden, interessiert die Gliederung der Gräberfelder. Von der vorrömischen Eisenzeit 52 Z. B.: W. SCHLESINGER, Randbemerkungen zu drei Aufsätzen über Sippe, Gefolgschaft und Treue. In: Festschr. f. O. Brunner (1963) 11–59 mit älterer Lit. zum Gefolgschaftswesen. 53 Vgl. die häufige Erwähnung in: Die Germanen. Ein Handbuch (1976) und bes. S. 514, 540. 54 Allgemein jetzt H. HESS, Die Entstehung zentraler Herrschaftsinstanzen durch die Bildung klientelärer Gefolgschaften. Kölner Zeitschr. für Soziologie 29, 1977, 762–778. 55 R. HACHMANN, Zur Gesellschaftsordnung der Germanen in der Zeit um Christi Geburt. Arch. Geographica 5, 1956, 7–24, bes. S. 15 f. 56 So in den „Fürstengräbern“ vom Typ Haßleben-Leuna; zu den Sporen dieser Zeitphase zuletzt ULRIKE GIESLER, Jüngerkaiserzeitliche Nietknopfsporen mit Dreipunkthaltung vom Typ Leuna. Saalburg-Jahrb. 35, 1978, 5–56.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

Abb. 10: Aspekte, die bei der sozialgeschichtlichen Einordnung und Deutung eines Grabes mit seinen Beigaben bzw. eines ganzen Gräberfeldes zu berücksichtigen sind.

265

266

Heiko Steuer

bis in die ausgehende Merowingerzeit ist zu beobachten, daß oftmals – nicht immer, da es auch völlig gleichartig und unstrukturiert belegte Friedhöfe gibt – eine Gruppenbildung der Gräber festzustellen ist (Abb. 11), die nach der Zahl der Bestattungen mehr als eine Klein- oder Kernfamilie umfaßt57. Gruppen aus dreißig gleichzeitig lebenden Personen können Verwandtschaftsverbände sein, aus einer familia mit Abhängigen bestehen oder auch andersartige Bindungen untereinander aufweisen. Nicht die Kleinfamilie, sondern ein größerer Personenverband bestimmt demnach die Basisstruktur der germanischen Gesellschaft.

Abb. 11: Das fränkische Gräberfeld von Iversheim, Kr. Euskirchen (nach Christiane Neuffer-Müller). Die verschiedenen Gräbergruppen sind durch Kreise eingefaßt.

Auf einen weiteren Aspekt muß hingewiesen werden, wenn frühgeschichtliche Gräberfelder sozialgeschichtlich interpretiert werden, und das ist die jene Jahrhunderte kennzeichnende allgemeine Mobilität der Gesellschaft. Die Wanderzüge ganzer Völkerschaften sind nur das eine Extrem. Als Deutung für separat angelegte Gräberfelder mit einer abweichenden Bestattungssitte, seien es die Gräberfelder vom Lübsowoder vom Haßleben-Leuna-Typ oder auch die sogenannten separaten Adelsfriedhöfe der Merowin|618/619/620|gerzeit58, hat man sich bisher immer für eine gehobene soziale Rangstellung entschieden, die eben in der Absonderung von der übrigen Gesellschaft zum Ausdruck käme. Fast unberücksichtigt blieb die Annahme vom Zuzug einer

57 Beispiel eines noch deutlich in Gruppen gegliederten Gräberfeldes: CHRISTIANE NEUFFER-MÜLLER, Das fränkische Gräberfeld von Iversheim, Kr. Euskirchen (1972), oder auch F. GARSCHA, Die Alamannen in Südbaden (1970), Plan des Gräberfeldes von Herten, Kr. Lörrach, u. a. m. 58 Zu diesen vgl. H. AMENT, Fränkische Adelsgräber von Flonheim (1970); R. CHRISTLEIN, Die Alamannen (1978) 88 ff.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

267

Menschengruppe59, die eigene Grabsitten mitbrachte und nicht ohne weiteres sofort vollständig an einem neuen Ort integriert wurde. Da für die Römische Kaiserzeit als auch für die merowingischen Jahrhunderte auf den bestehenden Gräberfeldern oftmals auch reiche Bestattungen als sogenannte Adelsgräber nachzuweisen sind, können diesen einheimischen Familien in den Separatfriedhöfen zugezogene Gruppen gegenüberstehen. An Beispielen sei auf die im südlichen Reihengräberbereich eigentlich fremde Sitte der Pferdebestattung hingewiesen, die sich gerade im abseits gelegenen Gräberfeld von Niederstotzingen60, aber auch in der an den großen Friedhof von Kirchheim am Ries (Abb. 12)61 angelehnten Grabgruppe zeigt. Fremde Familien bestatten nach eigenen Bräuchen in neuer Umgebung. Weiteres Beispiel mögen die großen, von Kreis-

Abb. 12: Das alemannische Reihengräberfeld von Kirchheim am Ries (nach R. Christlein). Während die Belegung des Gräberfeldes in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts einsetzt, entsteht der separate Friedhofsteil mit den Pferdegräbern erst um die Mitte des 7. Jahrhunderts.

59 Allgemein dazu M. MARTIN, Das fränkische Gräberfeld von Basel-Bernerring (1976); früher als alemannischer Friedhof, da im Alemannischen gelegen, gedeutet: R. LAUR-BELART, Betrachtungen über das alemannische Gräberfeld am Bernerring in Basel. Festschr. f. O. Tschumi (1948) 112–125. 60 P. PAULSEN, Adelsgräber von Niederstotzingen (Kr. Heidenheim) (1967). 61 R. CHRISTLEIN, Die Alamannen (1978) 92 Abb. 64.

268

Heiko Steuer

gräben eingefaßten Grabhügel62 sein (Abb. 13), die einige der jüngsten Gräber des Friedhofes von Fridingen im Landkreis Tuttlingen63 bedecken. Neben dem üblichen süddeutschen Reihengräberfeld bestattet eine kleine Gruppe nach einer neuen andersartigen Sitte, die aus der Fremde mitgebracht zu sein scheint und nicht als Entwicklungsprozeß im Totenkult einer örtlichen Adelsfamilie angesprochen zu werden braucht. Daß zugezogene Familien Adelsrang und bestimmte Aufgaben in der neuen Umgebung gehabt haben können, steht auf einem anderen Blatt. Hier interessiert der Hinweis auf die geographische Mobilität auch kleinerer Bevölkerungsgruppen, die als Großfamilie bezeichnet werden könnten.

Abb. 13: Das alemannische Reihengräberfeld von Fridingen, Kr. Tuttlingen (nach H. Reim und R. Christlein). An das Reihengräberfeld, das ein gleichmäßig rechteckiges Areal einnimmt, hat sich in der Spätphase eine fremde Gruppe mit anderer Grabsitte, nämlich der Bestattung unter großen Hügeln, angeschlossen.

Ein weiteres Diagramm (Abb. 14) mag abschließend andeuten, welches komplizierte Interpretationsgefüge zwischen archäologischem Befund und sozialgeschichtlichen 62 H. AMENT, Merowingische Grabhügel. In: Althessen im Frankenreich. Nationes Bd. II (1975) 63–93. 63 H. REIM, Fundstellen der Merowingerzeit auf Markung Fridingen a. D., Kr. Tuttlingen. Fundber. aus Baden-Württemberg 1, 1974, 628–641.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

269

Abb. 14: Das Beziehungsgefüge zwischen archäologischen und sozialgeschichtlichen Aspekten gesellschaftlicher Gliederung. Ein archäologischer Befund (z. B. eine Pferdebestattung) kann unter verschiedenen Aspekten interpretiert werden, wie die Pfeile zu erkennen geben sollen; umgekehrt kann sich ein soziologisches Gliederungskriterium einer Gesellschaft (z. B. das Alter eines Menschen) in verschiedenartigen archäologischen Befunden widerspiegeln.

270

Heiko Steuer

Deutungsmöglichkeiten besteht. Für einen archäologischen Befund gibt es mehrere Deutungsmöglichkeiten und für ein soziologisches Gliederungskriterium der Gesellschaft wird es verschiedene Realisationen im archäologischen Befund geben. |621|

5 Sozialgeschichtliche Interpretation von Siedlungsbefunden Die großen Siedlungsgrabungen der letzten Jahrzehnte, deren Veröffentlichungen augenblicklich umfangreiches Material der wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung stellt, läßt inzwischen die Entwicklungsgeschichte größerer Ansiedlungen, die aus mehreren landwirtschaftlichen Betriebseinheiten bestehen und Größen von Dörfern annehmen, über Jahrhunderte verfolgen64. Wurde bisher aufgrund der verschieden großen Stallteile der Wohnstallhäuser auf einen unterschiedlichen sozialen Rang der Bewohner geschlossen, so zeigte ein überregionaler Vergleich, daß andere Ursachen zu den abweichenden Hausgrößen führten65, abgesehen von naturräumlich bestimmten Unterschie|622/623|den. Mit der Größe der Stallteile wächst im allgemeinen nämlich auch der Wohnteil, so daß einfach mit einer größeren Anzahl von Hausbewohnern gerechnet werden muß, die dann entsprechend mehr Vieh aufstallen sollten und mußten. Außerdem ermöglichte die Abdeckung großer Siedlungsflächen, die innere Organisation von Wirtschaftseinheiten zu verfolgen, die von einander durch Zaungrenzen getrennt sind. Es zeigte sich, daß auf den umzäunten Grundstücken oftmals nicht nur ein Wohnstallhaus, sondern eine ganze Gruppe von Häusern gestanden hat, von denen nicht alle Wohnstallhäuser gewesen sind |624| (Abb. 15 und 16)66. Darunter waren auch reine Wohnhäuser, Bauten mit mehreren 64 Dazu der Sammelband H. JANKUHN, R. SCHÜTZEICHEL, F. SCHWIND (Hrsg.), Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters. Siedlungsform – wirtschaftliche Funktion – soziale Struktur. Abh. Akad. Wiss. Göttingen. Phil.-Hist. Kl. 3 Folge Nr. 101 (1977). 65 P. DONAT, Stallgröße und Viehbesitz nach Befunden germanischer Wohnstallhäuser. In: Archäologie als Geschichtswissenschaft (1977) 251–263. 66 Aufschlußreiche Beispiele sind die Siedlungen Flögeln: P. SCHMID, Zum Siedlungssystem einer dörflichen Anlage des 2.–3. Jahrhunderts n. Chr. im Küstengebiet zwischen Elbe und Weser. In: Studien zur Sachsenforschung (1977) 357–377, und DERS., Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur auf dem Kontinent. In: Sachsen und Angelsachsen. Ausstellungskatalog Harburg (1978) 345–361; DERS. und H. ZIMMERMANN, Flögeln – zur Struktur einer Siedlung des 1.–5. Jahrhunderts n. Chr. im Küstengebiet der südlichen Nordsee. Probleme der Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 11, 1976, 1–77; – Archsum: 0. HARCK, G. KOSSACK, J. REICHSTEIN, Siedlungsform und Umwelt. Grabungen in Archsum auf Sylt. Ausgrabungen in Deutschland Bd. II ( 1975) 30–44; – Hodde in Jütland: ST. HVASS, Das eisenzeitliche Dorf bei Hodde, Westjütland. Acta Arch. 46, 1 975, 142–158, und DERS., Jernalderlandsbyen i Hodde. Mark og Montre 1975, 28–36; – Vorbasse in Jütland: ST. HVASS, Udgravingerne i Vorbasse. En landsby fra 4.–5. årh. og fra vikingetid. Mark og Montre 1976, 38–52; – Saedding in Jütland: INGRID STOUMANN, Vikingetidslandsbyen i Saedding. Mark og Montre 1977, 30–42.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

271

Abb. 15: Mehrbetriebseinheiten in der Siedlung bei Wijster, Periode III c aus dem 4. Jahrhundert (nach W. A. van Es, umgezeichnet bei M. Müller-Wille).

Herdstellen, und – vermutet – auch reine Stallgebäude. Darüber hinaus zeichnete sich |625| mehrfach ein Wandel in der Bebauung eines mehr oder weniger gleich bleibenden Grundstücks ab: Wohnstallhäuser wurden im Stallteil vergrößert, im Wohnteil mit weiteren Herdstellen versehen; oder neben dem Wohnstallhaus entstanden weitere kleinere Wohnstallhäuser oder nur reine Wohnhäuser. Die Entwicklung ist durchaus unterschiedlich. In den niederländischen, norddeutschen und jütländischen Siedlungen der Jahrhunderte seit Christi Geburt läßt sich zudem eine generelle Entwicklungstendenz verfolgen, die von locker gestreuten Einzelhöfen zu dorfartig geplanten, mit Zäunen gegliederten Siedlungen führt (überwiegend im 2. und 3. Jahrhundert), abgelöst erneut an manchen Stellen von einzelnen Großhöfen, die benach-

272

Heiko Steuer

Abb. 16: Die Hofanlage C der Siedlung bei Flögeln als Mehrbetriebseinheit, 3. Stadium aus dem 2./ 3. Jahrhundert (nach P. Schmid). Auf dem umzäunten Gelände stehen vier Wirtschaftsbetriebe und weitere Nebengebäude.

bart liegen und keine Zaunbegrenzungen mehr erkennen lassen. Doch verläuft die Entwicklung von Siedlung zu Siedlung unterschiedlich, so daß eine typologische Abfolge noch nicht sicher erkennbar ist. Bemerkenswert ist jedoch das häufige Vorkommen von sogenannten Mehrbetriebseinheiten, d. h. also von mehreren bäuerlichen Anwesen auf einem Grundstück. Diese entsprechen in der Größenordnung durchaus den Gruppenbildungen in den Gräberfeldern. Zugleich wirken sie wie eine Illustration zu den anfangs beschriebenen Mansen des 9. Jahrhunderts und ihrer Bewohner. Diese sind einerseits rechtlich abhängig – im erläuterten Beispiel von der Abtei Prüm – und beschreiben die Situation, in der nachwachsende Familienmitglieder nicht mehr wegziehen und neue bäuerliche Anwesen gründen konnten. Der Zwang, an Ort und Stelle verbleiben zu müssen, führt zu einer hohen Bevölkerungsdichte und zur Notwendigkeit intensivierter Landwirtschaft, allein um leben zu können. Die frühgeschichtlichen Rechtsverhältnisse sind unbekannt. Es wird vorerst nicht zu entscheiden sein, ob die Ein- und Mehrbetriebseinheiten der untersuchten Siedlungen frei oder abhängig gewesen sind. Doch sprechen die Siedlungspläne für einen Be-

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

273

völkerungsanstieg während des 2./3. Jahrhunderts, für eine hohe Belastung der einzelnen Betriebseinheiten und zugleich für eine schärfere gegenseitige Abgrenzung bzw. zu einer Festlegung der Grundstücksgrenzen. Man könnte darin einen Hinweis auf die immer wieder angeführte Ursache der Völkerwanderungen, nämlich auf eine Überbevölkerung sehen. Doch kann dem hier nicht nachgegangen werden, zumal die Zahl der ausreichend publizierten Siedlungen noch nicht groß genug ist und die Verhältnisse bei Friesen, Franken, Sachsen und den Einwohnern der jütischen Halbinsel sehr verschieden sind, was die politische und soziale Entwicklung angeht. Doch wird hinter der Zusammenfassung der locker beieinanderliegenden Einzelhöfe zu straff organisierten Dorfanlagen und der erneuten Auflösung dieser Organisation zu großen Einzelhöfen und schließlich der Aufgabe der Siedlungen ein Wandel stehen, der auch die gesellschaftliche Organisation betroffen hat. Die Auswertungen stehen noch am Anfang. In einigen Siedlungen dominiert neben den Ein- und Mehrfachbetriebseinheiten ein durch starke Zäune oder gar Palisaden abgegrenztes Anwesen, das über die Mehrbetriebseinheit hinaus Besonderheiten umfaßt. Dazu gehört der sogenannte Herrenhof auf der Feddersen Wierde, bei dem neben den Wohnstallhäusern eine große Versammlungs|626|halle sowie Handwerksplätze und Hinweise auf Fernhandel nachgewiesen werden konnten. Für sich genommen würde eine derartige Mehrbetriebseinheit wie eine eigenständige Siedlung wirken, im Rahmen eines großen Dorfes nimmt sie die Spitzenstellung ein. Die meisten bisher vorgeschlagenen Deutungen nehmen eine „Herrschaft“ auf dem „Herrenhof“ an, von der die meisten Bewohner dieser Mehrbetriebseinheit abhängig seien, aber wohl auch die anderen Wirtschaftsbetriebe der übrigen Siedlung. Doch läßt sich das nicht schlüssig beweisen; denn rechtliche Abhängigkeitsverhältnisse sind auch bei Siedlungen im archäologischen Befund nicht zu belegen. Die Spannweite der Deutungen reicht von der Annahme dieser geschilderten Abhängigkeitsverhältnisse bis zur Feststellung einer schlichten Rangordnung zwischen kleinem Hof und großer Mehrbetriebseinheit. So wie Adel als rechtlicher Stand bisher archäologisch nicht zu beweisen ist, so fehlt auch noch der Zugang zum Nachweis von Grundherrschaft67. Beides scheint auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der germanischen Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten bestanden zu haben, vom Archäologen gern als „adelsartig“ bezeichnet, was analog die Formulierung „nach Art einer Grundherrschaft organisiert“ nach sich ziehen würde. Denn es lassen sich gewisse Indizien nennen; aber für den Beweis fehlt prinzipiell noch der methodische Ansatz. Doch bleibt zu betonen, daß es der intensiven archäologischen Ausgrabungstätigkeit gelungen ist, die tatsächliche Organisation bäuerlicher Betriebe zu erschlie-

67 Die These von der Grundherrschaft bei den Germanen seit der Kaiserzeit bei H. DANNENBAUER, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Hist. Jahrb. 61, 1941, 1–50; wieder abgedruckt in: Herrschaft und Staat im Mittelalter. Wege der Forschung Bd. 2 (1956, ²1974) 66–134.

274

Heiko Steuer

ßen, ihre teilweise komplizierte innere Struktur zu beschreiben und daher über die realen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse Kenntnisse zu ermitteln. Wie problematisch und relativ vorerst noch jeder Schluß vom archäologischen Befund auf die Höhe des sozialen Ranges zugehöriger Menschen ist, mag der Hinweis auf die reichen germanischen Grabfunde des 4./5. Jahrhunderts erläutern68. Die Analyse der Grabbeigaben dieser Bestattungen des sogenannten Laeten-, Foederaten- oder Gentilenhorizontes69 rückte eine ganze Reihe von den Bestatteten in den Rang einer germanischen Oberschicht, eines Adels; die Benennung einer prächtig mit Beigaben versehenen jungen Dame als „Prinzessin“ illustriert diese Vorstellung70. Die Bewertung der Beigaben zeigt aber einerseits, daß Waffen und Schmuck zumeist nur Bronzezierat kennen, seltener Silber, das nur manchmal vergoldet ist. Reine goldene Schmuckgegenstände |627| kommen nicht vor, obwohl aus der gleichen Zeit und dem gleichen Raum einige Versteckfunde bekannt sind, deren Goldreichtum ein ganz anderes Niveau erkennen lassen. Der zweite Aspekt ist, daß – zumeist nur bruchstückhafte – Siedlungsgrabungen im westlichen Westfalen71 unter den Funden – was für Siedlungen ungewöhnlich ist – zahlreiche Schmuckgegenstände, zumeist Nadeln, erbracht haben, die in und bei den Grundrissen von Wohnstallhäusern gefunden worden sind und die sonst gerade die reichen Gräber kennzeichnen. Faßt man beide Beobachtungen zusammen, so kommt man zu dem Schluß, daß Gräber wie Siedlungen einer wohlhabenden bäuerlichen Bevölkerung angehören und daß von einem besonderen Rang wenig zu spüren ist. Die Rangunterschiede verlagern sich wiederum eher in den Bereich der großen Familie bzw. in den Kreis der Bewohner von Mehrbetriebseinheiten und sind weniger zwischen den Gruppen zu finden.

6 Zur Bedeutung der bisherigen Ergebnisse Es kann hier nur skizziert werden, welche Aussagen zur Sozialgeschichte die archäologischen Quellen bisher ermöglichen. Doch eröffnete die jüngste Grabungstätigkeit durch Zuwachs an Quellenmaterial, das sind Unmengen systematisch untersuchter Gräber und Friedhöfe und vor allem großflächig und vollständig untersuchte Siedlungen, die Beschreibung bestimmter Ausschnitte vergangener gesellschaftlicher Realität. Dabei fällt auf, daß die Frühgeschichte von einem permanenten Wandel gekennzeichnet ist und daß lokale Unterschiede das Bild beherrschen. Von Gräber68 H. W. BÖHME, Germanische Grabfunde des 4. bis 5. Jahrhunderts zwischen unterer Elbe und Loire. Studien zur Chronologie und Bevölkerungsgeschichte (1974). 69 Zuletzt mit der älteren Lit. R. GÜNTHER, Einige Untersuchungen zu den Laeten und Gentilen in Gallien im 4. Jahrhundert und zu ihrer historischen Deutung. Klio 59, 1977, 311–322. 70 W. A. VAN ES und J. YPEY, Das Grab der „Prinzessin“ von Zweeloo und seine Bedeutung im Rahmen des Gräberfeldes. In: Studien zur Sachsenforschung (1977) 97–126. 71 H. BECK (Hrsg.), Spätkaiserzeitliche Funde in Westfalen. Bodenaltertümer Westfalens 12 (1970).

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

275

feld zu Gräberfeld und von Siedlung zu Siedlung gibt es Abweichungen, die generelle Aussagen heute schwieriger gestatten als die optimistische Auswertung einer weit kleineren Quellenbasis der vergangenen Jahrzehnte vermuten ließ. Die Befunde zeigen dann, daß als gesellschaftlicher Körper eine Grundeinheit über den gesamten Zeitraum von Christi Geburt bis in die Karolingerzeit die Struktur bestimmt, die größer ist als die Kernfamilie und aus mehreren biologischen Familien besteht. Ob von Sippe oder Großfamilie, ob in Anlehnung an spätere mittelalterliche Verhältnisse von familia gesprochen wird, muß an dieser Stelle unerörtert bleiben. Entscheidend ist die dauernde Existenz der Gruppe von 20–50 Personen, die sich im Gräberfeld als Gräbergruppe, in der Siedlung als unterschiedlich umfangreiche Mehrbetriebseinheit zu erkennen gibt. Rangunterschiede gibt es ganz eindeutig innerhalb jeder dieser Gruppierungen, was die Gräberfeldanalyse von der Kaiserzeit bis zum Ende der Beigabensitte immer wieder belegt, ebenso wie die unterschiedliche Größe der Wohnstallhäuser innerhalb einer umzäunten Mehrbetriebseinheit. Rangunterschiede geringerer Deutlichkeit |628| scheint es aber auch zwischen den Gruppen gegeben zu haben, die sich in der absoluten Gesamtmenge des Grabbeigabenreichtums oder in dem Umfang der Wirtschaftsbetriebe nachweisen lassen. Diese Aussagen gestattet die Beschreibung des archäologisch erforschten Sachverhaltes. Wo tatsächliche Verwandtschaft aufhört und z. B. Assoziierung von Knechten an eine Bauernfamilie erfolgt, wo Abhängigkeiten zwischen nicht verwandten Menschen entstehen oder zwischen den Gruppen, das zu erfahren, erfordert ein erweitertes methodisches Rüstzeug. Sporadisch sind augenblicklich noch die Beweise für die eine oder andere These: Wurden bisher die verschiedenen Bestattungen des kaiserzeitlichen Körpergräberfeldes von Häven in Mecklenburg als Gräber von Adligen mit ihrem Gesinde gedeutet, so spricht die anthropologische Untersuchung für eine Verwandtschaft aller Personen, seien sie in „Fürstengräbern“ oder beigabenlos bestattet72! Den neueren Siedlungsgrabungen läßt sich also entnehmen, daß der größere, über die Kernfamilie hinausgehende Verwandtschaftsverband die Basisstruktur der Gesellschaft über viele Jahrhunderte bildet. Darin ist kaum ein wesentlicher Unterschied zwischen den Befunden in den Siedlungen um Christi Geburt und den spätestmerowingisch-frühkarolingischen zu entdecken. Die Gräberfelder und damit die Bestattungssitten lassen demgegenüber – auf manche Gebiete zwar begrenzt – generelle Veränderungen erkennen. Die vorrömische Eisenzeit und Römische Kaiserzeit sind gekennzeichnet durch ortskonstante und lange gleich bleibende Grabsitten, die das Aufkommen und Verschwinden der Waffenbeigabe in einem Bruchteil der Männergräber kennt und durch das Hinzukommen der – letztendlich vom römisch-mittel-

72 H. ULLRICH, Anthropologische Untersuchungen der 1967 aus dem Gräberfeld von Häven, Kr. Sternberg, geborgenen menschlichen Skelettreste. Jahrb. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg 1968 (1970) 283–306.

276

Heiko Steuer

meerischen Raum beeinflußten – Körperbestattungssitte, die gekoppelt ist mit einer teilweise prunkvollen Beigabenausstattung. Die Körpergrabsitte, deren nächster Höhepunkt nach den älterkaiserzeitlichen Lübsow-Gräbern in den Fürstengräbern vom Typ Haßleben-Leuna im späten 3. und 4. Jahrhundert und in den Laeten-Foederaten-Gentilen-Gräbern des 4. und 5. Jahrhunderts zu suchen sind, charakterisiert eine Zwischenzeit der stetigen Wandlungen und Verschiebungen der geographischen Verbreitung bestimmter Grabsitten. Sie sind damit das Abbild der Bevölkerungsverschiebungen der Völkerwanderungszeit. Erst mit der Konsolidierung des fränkischen Reiches entsteht aus diesen Wurzeln und reiternormadischen Einflüssen die Reihengräbersitte als kennzeichnende Grabsitte des östlichen Frankenreiches. Im Verlauf des 7. Jahrhunderts und im frühen 8. Jahrhundert wandelt sich die Grabsitte im Gebiet der Reihengräberzivilisation grundlegend: Die Beigabensitte wird aufgegeben, die alten Gräberfelder brechen ab. Hinzu kommt ein neuartiges Phänomen, nämlich verbunden und zeitlich parallel mit der Aufgabe der alten |629| Grabsitte erscheint im gesamten Reihengräberbereich der Grabraub73. Die spätmerowingische Gesellschaft plündert in großem Umfang die Gräber der eigenen Vorfahren aus, in einem Ausmaß, wie es während der vorangehenden Abschnitte trotz Änderungen im Grabkult und aller Völkerverschiebungen nicht der Fall war. Diese generelle Entwicklung des Grabbrauches steht für einen Wandel nicht nur der Jenseitsvorstellungen und des Totenbrauchtums, sondern zugleich für wesentliche gesellschaftliche Veränderungen. Die ältere Phase der vorrömischen Eisenzeit und Römischen Kaiserzeit läßt im Bestattungsbrauch einerseits die Rolle einer waffenführenden Gruppe erkennen und andererseits das Entstehen des Wunsches einer gehobenen Gruppe, sich durch aufwendigen Grabbrauch von den übrigen abzuheben. Die Waffengräber stehen nicht für die als frei zu vermutende allgemeine Gruppe der kampffähigen germanischen Bauern, sondern für eine kleinere Gruppierung, die ich im Bereich des Gefolgschaftswesens suchen möchte, wofür auch die großen Waffenopferfunde der jütischen Halbinsel sprechen, die Kriegergruppen repräsentieren, welche weit über die dörflichen Ansiedlungen hinaus größere Landschaften repräsentieren. Die sogenannten „Fürstengräber“ stehen nicht für eine kleine Führungsschicht der germanischen Stämme, sondern sind – da geographisch begrenzt – der Ausdruck einer neuen Weltanschauung und eines neuen Lebensstiles einer relativ breiten, über das ganze Land verteilten sozial gehobenen, weil materiell mit beachtlichem Reichtum ausgestatteten Gruppe von Familienverbänden. Eine Reihe dieser Familien wird eine adelsähnliche Position eingenommen haben, wenn sie ihren Rang

73 H. ROTH, Bemerkungen zur Totenberaubung während der Merowingerzeit. Arch. Korrespondenzblatt 7, 1977, 287–290. Dazu vor allem die Beiträge in dem Sammelband H. JANKUHN, H. NEHLSEN und H. ROTH (Hrsg.), Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit. Untersuchungen zu Grabraub und „haugbrot“ in Mittel- und Nordeuropa. Abh. Akad. Wiss. Göttingen, Phil.-Hist. Kl. Dritte Folge Nr. 113 (1978).

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

277

über einige Generationen halten konnte. Das ist archäologisch in den Gräberfeldern bisher aber kaum nachzuweisen gewesen. Im Zuge der Völkerwanderung lösen sich die entstehenden Standesgruppierungen als Folge einer sozialen Schichtenbildung noch im Zustande der Entwicklung wieder auf. Die Wanderzeit gestattet anderen den sozialen Aufstieg, wofür unterschiedliche Gräbertypen, von den reiternormadisch74 beeinflußten reich ausgestatteten Gräbern vom Typ Wolfsheim oder Altlußheim bis zu den Gräbern des Childerich-Horizontes, sprechen. Doch bildet sich noch keine allgemein gültige neue Grabsitte heraus. Die germanischen Ansiedlungen des Laeten-, Foederaten- oder Gentilen-Horizontes entwickeln einen rund hundert Jahre dauernden Grabbrauch, der sich vom gleichzeitigen der romanischen Bevölkerung abhebt; auch er steht nicht für eine neue germanische Adelsschicht, sondern umfaßt die gesamte bäuerlich-kriegerische Gruppe der Germanen im neuen Siedlungsgebiet. Sie ist noch nicht wieder sozial besonders abgeschichtet und noch weit entfernt von einer stän|630|dischen Gliederung. Die Staffelung des Beigabenreichtums hält sich im Rahmen der Normalverteilung bei nicht reglementierter Grabsitte. Man sollte nicht auf große soziale Rangunterschiede und keinesfalls auf unterschiedliche rechtliche Gruppen schließen. Die sich mit dem Merowingerreich entwickelnde Reihengrabsitte scheint eher Reglementierungen in der Beigabenausstattung erkennen zu geben, scheint schon auf eine neue Erstarrung der gesellschaftlichen Struktur hinzudeuten wie in der Römischen Kaiserzeit. Das hieße, mit einem Entstehen adelsähnlicher Gruppen im 6. Jahrhundert zu rechnen. Die von Christlein75 erarbeitete Staffelung des Beigabenreichtums der merowingerzeitlichen Gräber in Gruppen von A bis C, wobei A die Gräber mit geringer Ausstattung und C die Gräber mit z. B. üppiger Waffenbeigabe, aber auch solchen charakteristischen Beigaben wie Reitzeug und bronzenes Geschirr umfassen, vermittelt den Eindruck einer auch im Grabbrauch deutlich gegliederten merowingerzeitlichen Gesellschaft. Dies Verfahren gestattet zwar erstmals, für ganze Gräberfelder und darüber hinaus für größere Gebiete, die Beigabenstruktur zu beschreiben. Doch darf die Gruppenbildung nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um ein archäologisches Hilfsmittel handelt, den Befund zu beschreiben. Von der Grabsitte ausgewählte Beigaben werden gruppiert und die gruppenbildenden Elemente definiert; die reale Situation zeigt aber, daß zwischen arm ausgestatteten und prunkvoll bedachten Grabstätten alle Übergänge vorkommen, daß also wiederum eine Beigabenpyramide existiert, durch die der Archäologe zwecks besserer Ansprache waagerechte Schnitte legt. Es gibt sie in Wirklichkeit aber nicht und damit fehlt der Hinweis auf soziale Schichten, nicht aber auf soziale Rangunterschiede. 74 J. WERNER, Beiträge zur Archäologie des Attila-Reiches (1956). 75 R. CHRISTLEIN, Besitzabstufungen zur Merowingerzeit im Spiegel reicher Grabfunde aus Westund Süddeutschland. Jahrb. RGZM 20, 1973, 147–180, und DERS., Die Alamannen (1978) 20, Tabelle, 86 f. mit Tabellen.

278

Heiko Steuer

Während die geschilderten verschiedenen Phasen der Grabsitten politische und soziale Veränderungen spiegeln, indem nämlich Gräberfelder oder Grabsitten einfach aufhören, so ist mit der Koppelung von Aufhören der Reihengräbersitte und Ausbreitung der Grabberaubung ein gegenüber den älteren Phasen bedeutend stärkerer Wandel zu vermuten. Ist mit der Völkerwanderungszeit sicherlich eine revolutionär wirkende Veränderung der alten gesellschaftlichen Strukturen verbunden, so müßte nach dem Phänomen des Grabraubes eine sozial noch stärker einschneidende Veränderung im Jahrhundert der ausgehenden Merowinger- und frühen Karolingerzeit wirksam gewesen sein. Das Christentum allein reicht zur Erklärung nicht aus, da einerseits zumindest die merowingerzeitliche Oberschicht mit dem Aufkommen der Reihengräbersitte auch schon weitgehend christlich ist76 und damit Beigabenbrauch und Christentum sich |631| im Osten des Merowingerreiches fast parallel verbreiten und da andererseits die Zuwendung zum Christentum auch im skandinavischen Bereich zur Wikingerzeit nicht zu einer Ausplünderung der eigenen Gräberfelder geführt hat, obwohl es sich dort vom materiellen Standpunkt aus durchaus gelohnt hätte77. Die archäologisch untersuchten Befunde in den merowingerzeitlichen Gräberfeldern sprechen meiner Ansicht nach daher für einen sozialen Umbruch von tiefgreifender Wirkung. Er setzt nämlich voraus, daß Familien den Wunsch und auch das Recht verlieren, die Grabruhe ihrer Vorfahren zu wahren, daß also Verwandtschaftsbeziehungen unwichtig werden und abreißen, stärker als je zuvor in 1000 Jahren mitteleuropäischer Geschichte. Lassen vorher Grabbeigaben und Grabbrauch soziale Rangabstufungen erkennen, so deute ich dieses Phänomen als archäologisch erstmals faßbare rechtliche Abschichtung der Bevölkerung. Die schriftliche Überlieferung zeigt in den Stammesrechten die Beschreibung einer ständisch gegliederten Bevölkerung, in anderen Quellen eine überwiegend rechtlich abhängige Bevölkerung und nur eine kleine Adelsschicht. Wann ist diese Ständegliederung entstanden: Nach

76 Dafür stehen z. B. das Grab der Arnegundis: A. FRANCE-LANORD und M. FLEURY, Das Grab der Arnegundis in Saint-Denis. Germania 40, 1962, 341–359, und auch das Grab der Dame unter dem Kölner Dom, deren prächtige Scheibenfibeln deutlich das Kreuzzeichen tragen: O. DOPPELFELD, Das fränkische Frauengrab unter dem Chor des Kölner Domes. Germania 38, 1960, 89–113. Allgemein H. ROTH, Studien zu christlich verzierten Trachtbestandteilen bei den Alemannen (im Druck). R. CHRISTLEIN, Der soziologische Hintergrund der Goldblattkreuze nördlich der Alpen. In: W. HÜBENER (Hrsg.), Die Goldblattkreuze des frühen Mittelalters (1975) 83 betont, „daß es an der Zeit sei, im archäologischen Fundmaterial unserer Reihengräber des 7. Jahrhunderts ernsthaft nach Zeugnissen des Heidentums zu suchen.“ 77 Gerade der Beitrag von H. NEHLSEN, Der Grabfrevel in den germanischen Rechtsaufzeichnungen – zugleich ein Beitrag zur Diskussion um Todesstrafe und Friedlosigkeit bei den Germanen im unter Anm. 73 genannten Sammelband, 107–168, bes. 146 ff., macht deutlich, daß nicht in der Ausbreitung des christlichen Glaubens die Ursache für den Grabraub zu suchen ist, wenn auch die Reliquiengewinnung und die Wiederbenutzung antiker Sarkophage zeigen, daß die Scheu vor dem Toten und seiner Ruhe unter bestimmten Aspekten überwunden wurde, sei es weil man den Toten an besonderem Ort verehren wollte, sei es weil der Tote – der Römer – einer ganz anderen Zeit und Welt angehörte. Die christliche Kirche jedenfalls verurteilte den Grabfrevel als schweres Verbrechen.

Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa

279

den archäologischen Befunden vereinzelt im späten 6. Jahrhundert, um dann im 7. Jahrhundert sich mit großer Schnelligkeit auszubreiten. Das Ende der Reihengräbersitte kennzeichnet demnach den Abschluß einer Entwicklung zur ständisch gegliederten Gesellschaft, die Ausbreitung der rechtlichen Abhängigkeit. Ob man einem Manne nur einen Sax oder aber Schwert und Sax, ob man ihm ein Bronzegefäß oder nur einen Tontopf mit ins Grab stellte, hing nicht von seiner rechtlichen Position ab, sondern davon, ob man diese Dinge hatte und vor allem übrig hatte und entbehren konnte. Damit können Besitzabstufungen in den Grabbeigaben einen Hinweis auf soziale Ränge geben, wenn sie es auch nicht müssen. Denn Voraussetzung ist, daß die Gesellschaft überhaupt den Wunsch hat, derartige Unterschiede ausgerechnet im Grabkult zur Schau zu stellen. Die beigefügte Darstellung (Abb. 10) zeigt, welche Faktoren wie Ansehen und Tüchtigkeit zu einer prunkvollen Grablege führen können. Doch rechtliche Positionen lassen sich auf diesem Wege nicht erkennen. Wenn aber die Grabstätten der eigenen Bevölkerung nicht mehr tabu sind trotz christlicher Einstellung, |632| dann ist dies der tiefste, archäologisch nachweisbare Bruch in der Struktur einer Gesellschaft. Damit ist das Wesen der gesellschaftlichen Organisation zwischen den frühgeschichtlichen Zeitabschnitten von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Merowingerzeit und der frühmittelalterlichen Phase seit der späten Merowingerzeit prinzipiell verschieden: Die Gliederung nach Rängen und Gruppen wird abgelöst durch eine rechtlich festgelegte definierte Standesgliederung. Die Ansätze zu dieser Gesellschaftsordnung, wie sie sich in der Römischen Kaiserzeit entwickelt hatte, verschwanden in der Völkerwanderungszeit wieder und erreichten erst in der fortgeschrittenen Merowingerzeit eine ähnliche Struktur, die dann konsequent weiterentwickelt wurde. Dies läßt sich aus den archäologischen Quellenbefunden ablesen. Die überlieferte Sozialordnung kaiserzeitlicher Stämme78, beschrieben mit lateinischen Begriffen wie principes, nobiles, liberi, liberti und servi, findet sich noch in den späten sächsischen Quellen wieder. Die bewaffnet zur Volksversammlung erscheinenden Liten beweisen allein, daß der Charakter dieser wie rechtlich definiert wirkenden Gesellschaftsgruppen zwar von den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt bis ins 8. Jahrhundert bei den Sachsen79, bei anderen Stämmen bis in die späte Merowingerzeit, ein prinzipiell anderer gewesen ist als in den nachfolgenden Jahrhunderten. Die Grabsitten der frühgeschichtlichen Jahrhunderte geben – um zusammenzufassen – Einblicke in die sich wandelnden Jenseitsvorstellungen, durch die Beigaben in bestimmte Aspekte der Lebensweise und in den vorhandenen Reichtum, damit auch in soziale Gliederungen. Denn archäologisch beschriebene Gruppen stehen für verschiedene reale gesellschaftliche Gruppen, die aus bestimmten Gründen neue Grabbräuche

78 Die Germanen, Ein Handbuch (1976) 508 ff. (A. LEUBE). 79 M. LAST, Die Sozialordnung der Sachsen nach den Schriftquellen. In: Sachsen und Angelsachsen. Katalog der Ausstellung in Harburg (1978) 449–454.

280

Heiko Steuer

(Körperbestattung statt der sonst herrschenden Brandbestattung) oder Beigabensitten (Waffenbeigabe oder auch prunkvolle Geschirrbeigabe) übernehmen. Der Archäologe kann also verschiedene gesellschaftliche Gruppen erkennen, nach der Zahl der Gräber auch die Größe dieser Gruppen und damit – wenn eine gewisse Rangabfolge zu erkennen ist – auch die Rolle dieser Gruppen in der Gesellschaft. Er kann auch beweisen, daß schon Rangunterschiede in der gesellschaftlichen Basisgliederung, dem größeren Verwandtschaftsverband, bestehen. Die rechtliche Struktur bleibt aber vorerst verschlossen und ihr Nachweis kann auch erst am Ende einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Forschung stehen. Der archäologische Befund, um eine These zu formulieren, spricht dafür, daß in einer rechtlich geschichteten Gesellschaft, an deren Spitze ein Adel steht, anhand des Grabbrauches kaum Unterschiede festgestellt werden können und der Eindruck einer egalitären Gesellschaft entsteht, während eine offene Gesellschaft dazu verleitet, Strukturen und erreichte Rangpositionen des einzelnen oder seines Familienverbandes auch im |633| Grabkult zum Ausdruck zu bringen. Die von Kossack80 herausgearbeitete Funktion des Prunkgrabes läßt sich damit auf die gesamten Gräber und damit die gesamte Gesellschaft ausdehnen. Lebensgefühl spiegelt sich auch in den Gräbern, nicht aber ständische Zugehörigkeit. Wer den rechtmäßigen Stand eines Freien einnimmt, weil er zu dieser Gruppe von Geburt an gehört, braucht dies nicht im Grabkult zu beweisen. Gerade wenn die gesellschaftliche Position, also sozialer Rang oder einfach Besitz, nicht eindeutig für das ganze Leben festgelegt sind, bietet es sich an, im Tode das Erreichte selbstbewußt anzuzeigen. Der eindeutigen Beschreibung des archäologischen Befundes steht eine Mehrdeutigkeit der sozialgeschichtlichen Auswertung gegenüber. Diese Mehrzahl von Interpretationen einzuschränken, fordert die Erarbeitung von Modellen, die – wie Abb. 1 veranschaulichen will – aus Historie, Ethnologie, Soziologie sowie Verhaltensforschung, zuerst nur in Analogie, mögliche Deutungen zusammenstellen und nicht von vornherein eine Lösung präjudizieren. Die Koppelung mit dem archäologischen Befund wird dann zeigen, für welche Modelle die größte Wahrscheinlichkeit, die meisten Indizien sprechen. Der induktiven Arbeitsweise muß das deduktive Argumentieren mit Modellen an die Seite gestellt werden, wenn archäologische Quellen über ihre Beschreibung hinaus sozialgeschichtliche Erkenntnisse vermitteln sollen, und am Ende werden dann vielleicht auch sogar Rechtsverhältnisse erkannt werden können: Am Ende des methodisch breit abgesicherten Vorgehens, nicht am Anfang, wie es die archäologische Forschung voreilig einst versucht hatte.

80 G. KOSSACK, Prunkgräber, Bemerkungen zu Eigenschaften und Aussagewert. Studien zur vorund frühgeschichtlichen Archäologie T. I (1974) 3–33.

Kommentar

281

Kommentar Nach 1945 bewegte sich die Forschung zunächst in den vorgezeichneten Bahnen. Joachim Werners Studie zur „Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation“1 etwa folgte Hypothesen, die Hans Zeiß in den späten 1930er Jahren geäußert hatte. Was damals erst angedeutet und umrissen worden war, erfuhr nun deutliche Konturierungen. Den durchaus bekannten methodischen Problemen der ethnischen „Scheidung in Germanisch und Romanisch“ sei, so Werner, „nur durch verfeinerte Beobachtungen an Tracht- und Bestattungssitten“ beizukommen.2 Damit waren Fibel- und Waffenausstattungen gemeint, die – als ‚germanisch‘ angesehen – eine klare Unterscheidung von den römischen bzw. ‚romanischen‘ Gräbern ermöglichen sollten, also wiederum am Individuum ansetzten. Die ‚Identifizierung‘ gelang – ungeachtet weithin fehlender ‚germanischer‘ Vorbilder dort, wo es sie (außerhalb des römischen Reichs) eigentlich hätte geben sollen – dadurch, dass diese Gräber mit Waffen bzw. Kleidungsbestandteilen den Laeten zugeschrieben wurden, die in einem spätantiken Umfeld das Vorrecht des Waffentragens besessen haben sollten. Dafür gibt es zwar keine hinreichenden Belege in Schriftquellen, doch stellte diese Hypothese den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bereit. Infolge dieser Setzung war die Schlussfolgerung eindeutig: „In dieser Sicht kann die Waffenbeigabe in Nordgallien als nationales Indizium gelten.“3 ‚Tracht‘ und ‚Sitte‘ – d. h. Kleidungsbestandteile, Grabausstattung und -formen – waren damit als die angeblich entscheidenden Kriterien für die Unterscheidung ‚germanischer‘ und ‚römischer‘ Gräber in einem spätantiken Milieu benannt, und sie wurden in vielfältigen typologischen und chronologischen Untersuchungen abgehandelt.4 Seit den 1960er Jahren rückten zunehmend andere Forschungsinteressen in den Vordergrund. So initiierte Herbert Jankuhn, der nach seiner SS-Karriere im Ahnenerbe erst 1956 wieder eine zunächst außerordentliche Professur in Göttingen erhielt, bald ein umfangreiches Forschungsprogramm, das primär auf die Siedlungsarchäologie einschließlich sozial- und wirtschaftshistorischer Fragestellungen zielte.5 Im Jahre 1959 begannen die Planungen für eine Neuauflage des Hoopsschen Reallexi-

1 Joachim Werner, Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation. Ein Beitrag zu Methode der frühgeschichtlichen Archäologie. Archaeologia Geographica 1, 1950, 23–32. 2 Werner, Reihengräberzivilisation (Anm. 1), 293. 3 Werner, Reihengräberzivilisation (Anm. 1), 297. 4 Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 68 (Berlin, New York 2010) 526. 5 Dirk Mahsarski, Herbert Jankuhn (1905–1990). Ein deutscher Prähistoriker zwischen nationalsozialistischer Ideologie und wissenschaftlicher Objektivität (Rahden 2011); Heiko Steuer, Herbert Jankuhn. SS-Karriere und Ur- und Frühgeschichte. In: Nationalsozialismus in der Kulturwissenschaften 1. Fächer, Milieus, Karrieren, hrsg. Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 200 (Göttingen 2004) 447–529.

282

Heiko Steuer

kons der Germanischen Altertumskunde, die in Lieferungen ab 1968 erschien, und 1971 wurde die Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas an der Göttinger Akademie der Wissenschaften gegründet. Sie stellte mit zahlreichen Tagungen ein Forum zur Verfügung, das sich zentralen Fragen der Forschung und des Lexikon-Unternehmens widmete sowie die internationale wie interdisziplinäre Debatte fruchtbar machte. Zwar zielten Jankuhns Forschungen ebenfalls auf die Germanen, doch waren seine Interessen anders gelagert – und sie waren chronologisch und räumlich sowie thematisch viel breiter angelegt, indem sie statt ethnischen soziale und wirtschaftliche Themen bevorzugten. Zudem nahmen sie indirekt Anregungen der englischsprachigen Forschung auf, die sich mit der New Archaeology von der traditionellen kulturgeschichtlichen Archäologie absetzen wollte und funktionalistisch argumentierte. Eine Frucht diese Bemühungen ist H. Jankuhns „Einführung in die Siedlungsarchäologie“, die genau diese wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Interessen reflektierte.6 Auf dieses Umfeld gehen die Forschungen Heiko Steuers zurück, der 1969 mit einer Studie zur Südsiedlung von Haithabu in Göttingen promoviert wurde. Die Beschäftigung mit frühmittelalterlicher Keramik spiegelt kultur- und wirtschaftsgeschichtliche Fragen wieder, und sie war im methodischen Herangehen wegweisend für weitere Studien auf diesem Feld, indem sie sich grundlegend auf statistische Verfahren stützte. Anschließend wirkte Steuer bis 1976 als Assistent und Kustos am dortigen Institut, bevor er Direktor des Kölnischen Stadtmuseums wurde und von 1984 bis 2005 Direktor des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters und Professor an der Universität Freiburg war. Seine Bochumer Habilitationsschrift von 1979 galt „Frühgeschichtlichen Sozialstrukturen in Mitteleuropa“7 und ist in einer hier wiedergegebenen Kurzfassung treffend charakterisiert. Die ‚Germanen‘ stehen in Jankuhnscher Tradition auch in dieser Schrift im Mittelpunkt, charakterisiert durch die zeitlichen und räumlichen Grenzen im Titel und archäologisch verfolgt von der Bronzezeit bis ins Frühmittelalter. Diesem eher traditionellen Ausgangspunkt, die ‚Germanen‘ zu charakterisieren, entspricht kein kulturgeschichtlicher Ansatz, sondern steht ein moderner, prähistorische und frühgeschichtliche Gesellschaften in den Mittelpunkt rückender Zugriff. Die neue sozialgeschichtliche Perspektive in der Archäologie verdankte wesentliche

6 Herbert Jankuhn, Einführung in die Siedlungsarchäologie (Berlin, New York 1977). – Das wissenschaftliche Feld der „Siedlungsarchäologie“ hat sich inzwischen in drei Subdisziplinen aufgespalten: „Siedlungsarchäologie“ im engeren Sinne als die Untersuchung einzelner Siedlungen selbst, „Umweltarchäologie“ als die Befassung mit den naturräumlichen Voraussetzungen und „Landschaftsarchäologie“ als die Analyse von Gestaltung und Wahrnehmung. 7 Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge 128 (Göttingen 1982).

Kommentar

283

Anregungen offenkundig der Historischen Sozialforschung, wie sie seit den 1960er Jahren die westdeutsche Geschichtswissenschaft entwickelte.8 Steuer fragte nicht primär danach, was ein Germane sei und wie er sich identifizieren lasse. Stattdessen hob er entgegen der von J. Werner und seiner ‚Schule‘ betonten ethnischen Perspektive und ihrer damit verbundenen Anlehnung an die Ereignisgeschichte zunächst hervor, dass allzu direkte Parallelisierungen archäologischer Befunde und schriftlicher Quellen methodisch rasch problematisch werden können; dies gelte sowohl in sozialgeschichtlicher9 wie in chronologischer Hinsicht:10 sozialgeschichtlich, weil rechtlicher Status – in welcher Form auch immer – keine unmittelbare Auswirkungen auf Besitz und Repräsentation besitzen muss, und chronologisch, weil Produktion, Gebrauch und Deponierung von Gegenständen stets längere Zeiträume umfassen, die eine allzu genaue, quasi generationenspezifische Datierung unmöglich machen. ‚Präzise‘ Datierung ist jedoch ein wesentliches Anliegen, wenn es um die gewünschte Verknüpfung der Kultur- mit der Ereignisgeschichte geht.11 Hinzu kam die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Theorien und Modelle, um die archäologischen Beobachtungen besser einordnen zu können. H. Steuer nahm Bezug auf den US-amerikanischen Soziologen Gerhard Lenski (1924–2015) und dessen Überlegungen zur gesellschaftlichen Schichtung, wobei neben hierarchischen auch parallele Gliederungen thematisiert wurden.12 Außerdem schaute der Verf. auf Modelle der Geschichtswissenschaft zu mittelalterlichen Ständen sowie auf rechtshistorische Studien. Daraus ließen sich „Probleme der Terminologie“, wie eine Kapitelüberschrift lautete, ableiten – v. a. wenn in der archäologischen Literatur Begriffe wie ‚Fürsten‘, ‚Adel‘ oder ‚Freier‘ verwendet und damit implizit Interpretationen transferiert wurden. War der deutschsprachigen Archäologie von angelsächsischer Seite ‚Theorieferne‘ vorgeworfen worden, so lagen mit Steuers Schrift nun explizite Anleihen vor – nichtsdestotrotz folgte auch die übrige Frühgeschichtsforschung Modellannahmen, häufig jedoch implizit.

8 Die Konzentration auf die ‚Germanen‘ bleibt charakteristisch für Steuers Ansatz: Heiko Steuer, Archäologie und die Erforschung der germanischen Sozialgeschichte des 5. bis 8. Jahrhunderts. In: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages 1986, hrsg. Dieter Simon. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 30 (Frankfurt/M. 1987) 443–453; ders., Archäologie und germanische Sozialgeschichte. Forschungstendenzen in den 1990er Jahren. In: Runische Schriftkultur in kontinentalskandinavischer und -angelsächsischer Wechselbeziehung, hrsg. Klaus Düwel. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 10 (Berlin, New York 1994) 10–55. 9 Heiko Steuer, Zur Bewaffnung und Sozialstruktur der Merowingerzeit. Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte37, 1968, 18–87. 10 Heiko Steuer, Bemerkungen zu Chronologie der Merowingerzeit. Studien zur Sachsenforschung 1, 1977, 379–402. 11 Zu den methodischen Fragen vgl. nun Matthias Friedrich, Archäologische Chronologie und historische Interpretation. Die Merowingerzeit in Süddeutschland. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 96 (Berlin, Boston 2016). 12 Gerhard Lenski, Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung (Frankfurt/M. 1973).

284

Heiko Steuer

Außerdem kombinierte Steuer programmatisch Grab- und Siedlungsbefunde miteinander, um jeweilige Einseitigkeiten einzugrenzen. Denn Bestattungen sind komplexe rituelle Handlungen, deren Aufwand nicht direkt mit ‚sozialen Schichtungen“ korreliert. Das Fehlen von ‚Reichtums-‘ oder Ausstattungsunterschieden impliziert nicht zwingend egalitäre Gesellschaften, sondern zunächst nichts weiter als den Verzicht der Bestattenden darauf, solche Unterschiede archäologisch sichtbar zu demonstrieren.13 Siedlungsausgrabungen reflektieren demgegenüber die ‚Lebenswelt‘, d. h. Struktur- und Größenunterschiede bäuerlicher Gehöfte und ihres Zusammenspiels in dörflichen Siedlungen, wobei archäobotanische, archäozoologische und pedologische Analysen in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Naturwissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Dieser umfassende Ansatz war neben der sozial- bzw. strukturgeschichtlichen Perspektive die zweite wesentliche Neuerung. An die Stelle isolierter Betrachtungen entweder der Bestattungen oder der Siedlungen, die forschungspragmatisch durchaus plausibel ist, hat eine integrierende Untersuchung zu treten, die zumindest konzeptionell komplementäre Quellen und Interpretationen berücksichtigt. Steuers Überlegungen bezogen stets die textbasierte Geschichtswissenschaft ein, doch im Unterschied zu herkömmlichen Versuchen, unmittelbare Übereinstimmungen zu suchen, zielte er auf die „Korrelation, die die Überlieferungen strukturell miteinander vergleicht“.14 S. B.

13 Vgl. Georg Kossack, Prunkgräber. Bemerkungen zu Eigenschaften und Aussagewert. In: Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie 1. Festschrift Joachim Werner, hrsg. Georg Kossack/ Günter Ulbert. Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte, Ergänzungsband 1 (München 1974) 3–34. 14 Rainer Schreg, Interaktion und Kommunikation im Raum. Methoden und Modelle der Sozialarchäologie. In: Grenzen, Räume und Identitäten. Der Oberrhein und seine Nachbarräume von der Antike bis zum Hochmittelalter, hrsg. Sebastian Brather/Jürgen Dendorfer. Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 22 (Ostfildern 2017) 455–492, hier 458.

V Neuausrichtungen (1990–2010)

Walter Pohl

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: eine forschungsgeschichtliche Perspektive Dem Problem des Germanenbegriffes kann man sich auf unterschiedliche Weise nähern. Aus historischer Sicht sollte zunächst nach Umfang und Bedeutung des Namens in der untersuchten Zeit gefragt werden. Wer wurde zu welcher Zeit zu den Germanen gezählt, und welche Vorstellungen verbanden sich mit diesem Namen? Ein Überblick über die Quellen zeigt rasch, dass seit dem 5. Jahrhundert kaum mehr von Germanen die Rede war; das ist deswegen wenig bekannt, weil die moderne Forschung um so großzügiger mit dem Germanenbegriff umgegangen ist.1 Das führt zur Frage nach Umfang und Nutzen des Begriffes in der heutigen Frühmittelalterforschung. Diese Diskussion ist keineswegs neu, sondern schon vor einigen Jahrzehnten von Reinhard Wenskus, Rolf Hachmann und anderen begonnen worden.2 Zuletzt hat Jörg Jarnut ein Plädoyer für den völligen Verzicht auf den Germanenbegriff gehalten, zumindest für das Frühmittelalter, wo der entsprechende Quellenbegriff fehlt.3 Der Einwand mag berechtigt sein, dass der Verzicht auf eine so stark verwurzelte Kategorie forschungsökonomisch wenig sinnvoll ist. Doch gerade die Selbstverständlichkeit, mit der die Forschung immer noch grundlegende Deutungsmuster an den Germanenbegriff knüpft, so dass er gar nicht verzichtbar scheint, sollte zu denken geben. Zumindest eine gründliche Überprüfung der im Germanenbegriff implizierten Annahmen und forschungsleitenden Vorstellungen sollte geleistet werden, bevor man ihn allenfalls weiter als Verständigungsbegriff verwendet. Diese Diskussion muss sich zunächst den forschungsgeschichtlichen Voraussetzungen stellen, die oft immer noch mitschwingen, auch wenn sich unsere Forschungspraxis von ihnen entfernt hat. Zur Verdeutlichung sollen einige Zitate aus einem Klassiker der germanischen Altertumskunde dienen: Vilhelm Grönbechs „Kultur und Religion der Germanen“, vor etwa hundert Jahren entstanden.4 „Unter dem Namen Germanen fassen wir den Volksstamm zusammen, von dem die Skandinavier, Deutschen und Engländer Abzweigungen sind.“ Schon den |19| Römern sei die Verwandtschaft der Germanen aufgefallen, „eine Verwandtschaft, die sich nicht nur in der Sprache kundgibt, sondern noch weit mehr in der Kultur

1 2 3 4

Pohl 2004; siehe auch weiter unten. Hachmann 1971, 1975; Wenskus 1999. Jarnut (im Druck). Grönbech 1997; siehe auch Beck 1999.

https://doi.org/10.1515/9783110563061-011

288

Walter Pohl

bis in ihre innersten Verzweigungen hinein.“5 Freilich nahmen die Römer die Germanen nur verzerrt als Menschen ohne Gesetz und Charakter wahr; erst in der altnordischen Dichtung hat „ein germanisches Volk sich selbst ein Denkmal für die Nachwelt errichtet“. Dann schließt der Autor: Kultur im wahrsten Sinne des Wortes ist eine elastische Harmonie zwischen dem innersten Ich des Menschen und seiner Umgebung, so daß er nicht nur imstande ist, die Umgebung seinen materiellen Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch die Impulse der umgebenden Welt in geistige Ideale und Bestrebungen umzusetzen. In diesem Sinn sind die Wikinger Männer von Kultur; sie sind Herren über sich selbst und ihre Welt mit dem stolzen Recht des Entschlusses. […] Welch ein Unterschied zwischen diesen beiden Bildern – dem Bilde, das südliche Federn von den germanischen Zeitgenossen gezeichnet haben, und dem, was die letzten Altgermanen selbst in die Geschichte geprägt haben! Nichtsdestoweniger fassen wir beide unter einem Namen zusammen; und tun es mit reifer Überlegung, mit vollem Bewußtsein dessen, was dieser Sprachgebrauch in sich schließt. Man hat früh entdeckt, daß beide so eng verwandt sind, daß es nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig ist, sie gemeinsam zu behandeln. Die Andeutungen über frühgermanische Sitten, Gesetze, ethische Wertungen, die uns erhalten sind, beweisen, daß jene ersten Germanen mit ihren jüngeren Vettern die Denkweise gemeinsam hatten, das, was Gedanken und Gefühle verbindet und sie zu Trägern der Persönlichkeit macht.6

Der Begriff Kultur kommt im Titel dieses Bandes zweimal vor; er steckt im Haupttitel Akkulturation und nochmals in der ‚germanisch-romanischen Kultursynthese‘. Was verstehen wir unter germanischer Kultur? Zunächst kann die Frage anders gestellt werden: Was verstehen wir darunter vor dem Hintergrund des soeben skizzierten emphatischen Begriffes von germanischer Kultur? Grönbech sah darin die „elastische Harmonie zwischen dem innersten Ich des Menschen und seiner Umgebung“, deren Impulse in „geistige Ideale und Bestrebungen umgesetzt werden“. Ihm ging es um den hermeneutischen Zugriff auf dieses innerste Ich, die „Energie“, die „aus der tiefsten Seele kommt“, die „Denkweise“; seine Germanen „reproduzieren sich selbst in einem Idealtyp“, etwa dem des Häuptlings, der „vom Leben und der Dichtung gemeinsam gebildet worden“ ist.7 Dieser Ansatz entfaltet die romantische Vorstellung von der Volksseele, dem Volkscharakter. Kulturelle Praktiken und Formen der Selbststilisierung – wie man es heute nennen könnte – werden als hermeneutischer Schlüssel zu einem Wesen, einer Essenz betrachtet, die ethnisch gebunden ist. Freilich, schon die Rezeptionsgeschichte zeigt deutlich das Problem, den Ergebnissen von Grönbechs ebenso einfühlsamer wie voreingenommener Hermeneutik einen präzisen historischen Ort zu geben. Der Titel der dänischen Originalausgabe von 1909–1912 verzichtete wohl bewusst auf jede genaue |20| ethnische, räumliche

5 Grönbech 1997, S. 17. 6 Grönbech 1997, S. 26 f. 7 Grönbech 1997, S. 25.

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

289

oder zeitliche Eingrenzung: „Vor Folkeæt i Oldtiden“. In Grönbechs Werk stand das Buch im Zusammenhang mit Monographien über das alte Griechenland, indische und abendländische Mystik, Christus, Goethe und Dostojewski. Die englische Übersetzung von 1928 hieß dagegen „The Culture of the Teutons“. Die Germanen traten erst in der deutschen Ausgabe von 1932/34 auf: „Kultur und Religion der Germanen“, inzwischen in 12. Auflage erhältlich. Kurz darauf, 1937, hielt Otto Höfler am Deutschen Historikertag einen programmatischen Vortrag über „Das germanische Kontinuitätsproblem“. Dabei betonte er in deutlicher und zuweilen polemischer Absetzung von der bisherigen Forschung, bei den Germanen habe es eine „jahrtausendealte Kontinuität der politischen Souveränität“ gegeben, die „ihresgleichen weder im europäischen Osten, Südosten noch Westen hat“. Diese Kontinuität sah er bestimmt durch ihre rassische Grundlage und die „kultische Bindung ihrer Gemeinschaftsformen“.8 Auch Herrschaft und Staat entsprangen demnach völkischer Wurzel.9 Im folgenden Jahr erschien der Aufsatz in der Historischen Zeitschrift; und die Universität Hamburg schenkte dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien zur Feier des Anschlusses Grönbechs „Kultur und Religion der Germanen“. 1954 charakterisierte Höfler im Vorwort zur 5. Auflage von Grönbechs Werk dessen Ansatz so: „Es ist fest ausgeformten alten Kulturen zu eigen, daß ein System von anerkannten Wertungen über dem einzelnen steht und daß auch starke und selbständige Charaktere sich in einem unverbrüchlichen Gefüge von Normen und Gesetzen bewegen.“10 Dass der Begriff ‚Religion‘ in den deutschen Titel von Grönbechs Werk aufgenommen wurde, ist kein Zufall. Es entsprach dem Bestreben vieler der besten Köpfe jener Zeit, gesellschaftlichen Bindungen eine quasi-religiöse Verbindlichkeit zuzuschreiben und sie zugleich aus unentrinnbaren biologischen Voraussetzungen heraus zu erklären: Volk, Kultur, Religion und Staat können solcherart als zumindest in der Wurzel identisch beschrieben werden. Sozialer Kontext und politische Folgen dieser Gegenaufklärung unter Rückgriff auf die Frühgeschichte sind wohl bekannt. Es ist hier nicht der Ort, diese Impressionen aus der jüngeren Forschungsgeschichte zu differenzieren, was sicherlich notwendig wäre. Man könnte auch überlegen, was der Verfassungsbegriff bei Wenskus und sein Konzept der „gentilen Denkform“ noch von den hier skizzierten Voraussetzungen enthalten.11 Das Problem dürfte heute darin liegen, dass die hochaufgeladenen, mehr oder weniger irrationalistisch geprägten Vorstellungen von germanischer Kultur nach 1945 kaum mehr adäquat diskutiert, sondern eher durch unauffällige Reduktion entsorgt worden sind, und zwar in verschiedenen Disziplinen und bei verschiedenen Gelehrten in unterschiedlichem Maß. Die Ideen Grönbechs und ihre Systema|21|tisierung und

8 Höfler 1938, bes. S. 5 und S. 24. Vgl. Beck 2000. 9 Vgl. Pohl 1999. 10 Höfler, Otto: Vorwort, in: Grönbech 1997, S. 5. 11 Wenskus 1977. Zur Kritik an Wenskus (dessen Werk gleichwohl für die Frühmittelalterforschung grundlegend bleibt): Pohl 2002.

290

Walter Pohl

Politisierung durch Höfler (stellvertretend für viele ähnliche, wenn auch oft nüchternere Ansätze) scheinen aus zwei Gründen nicht mehr brauchbar. Zum einen, und das ist methodisch durchaus diskutiert worden, ist die altnordische Dichtung kaum als Quelle für ein Jahrtausend ältere Verhältnisse auf dem Kontinent zu verwenden; aber selbst für Skandinavien ist Grönbechs Annahme, die Sagas seien als unverstellte „Selbstoffenbarung“ eines germanischen Volkes zu lesen, so nicht mehr aufrechtzuerhalten.12 Hinter diesem quellenkritischen Paradigmenwechsel steht zum anderen ein grundlegendes Problem, das die gemeinsame Denkweise und die geschlossene Kultur ‚der‘ Germanen betrifft. Die in den Kern des Modells gerückte Ableitung dieser Kultur aus ethnischer Wurzel scheitert schon daran, dass die vorausgesetzte germanische Identität kaum zu greifen ist. Der Versuch, hermeneutisch ins ‚Innere‘ der vergangenen Kultur vorzustoßen und ihr ‚Wesen‘ zu erkennen, verstrickt zudem leicht in Widersprüche. Nur ein Beispiel: „Das Sippengefühl ist die Grundlage alles geistigen Lebens und das einzige Mittel, mit einer größeren Welt in Verbindung zu kommen“, so schreibt Grönbech, und noch zugespitzter meint de Vries, eine „dunkle Stimme des Blutes“ erzwinge zwischen den einzelnen Gliedern der Sippe einen „unverletzlichen Frieden“.13 Zu den Vorgängen in der Sippe des Arminius oder der Merowingerfamilie passt eine solche Betrachtungsweise wohl kaum;14 das „unverbrüchliche Geflecht von Normen und Gesetzen“, das laut Höfler auch die stärksten Charaktere band, erweist sich als moderne Projektion. In ähnlicher Weise wie beim Sippenbegriff sind in den letzten Jahrzehnten die irrationalistischen Grundannahmen bei der Lehre von Sakralkönigtum und Gefolgschaft, bei Männerbünden und Wodanismus, bei den spezifischen germanischen Treue-, Heils- und Ehrbegriffen und anderem kritisiert worden.15 Die Frage liegt nahe, ob ein von seinen biologistischen und pseudoreligiösen Grundlagen gereinigter, quasi säkularisierter Germanenbegriff möglich und zweckmäßig ist. Seine innere Einheit war ja, von Jacob Grimm bis Otto Höfler und darüber hinaus, ontologisch als völkisches ‚Wesen‘ begründet, wovon dann in recht unterschiedlicher Weise Sprache, Religion, Verfassung, Lebensweise und anderes als Phänomene abgeleitet wurden.16 Es ist auch heute noch schwer, sich von dieser so vertrauten Vorstellung zu lösen, zumal sie erlaubt, die großen Lücken in unseren Quellen zu überbrücken. Ein methodischer Rahmen, der helfen würde, unseren Gegenstand in ähnlicher Weise als Einheit zu konzipieren, fehlt ebenfalls weitgehend. Was einst Gegenstand der ‚germanischen Altertumskunde‘ war, löst sich in eine unübersichtliche Vielfalt von Einzeluntersu-

12 Vgl. z. B. Beck/Ellmers/Schier 1992. 13 Grönbech 1997, S. 181; De Vries 1934, S. 435. 14 Interessante Beobachtungen zur sozialen Konstruktion der Merowingerfamilie bei Wood 2003. 15 Forschungsüberblick: Pohl 2000, S. 65–85. Siehe auch Diesenberger 2003. 16 Grönbech 1997, S. 180: „Die Kraft zum Leben kommt von innen, quillt aus einer Quelle inmitten eines kleinen Kreises hervor und überflutet von dort aus die Welt.“

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

291

chungen auf.17 Das ist |22| freilich dem Gegenstand durchaus angemessen und bei pragmatischer Vorgangsweise kein Problem. Bereits das Konzept der 2. Auflage des „Reallexikons der Germanischen Altertumskunde“ sah Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts vor, „alles das zu berücksichtigen, was im Lauf der Forschungsgeschichte einmal als ‚germanisch‘ angesehen wurde oder in einem wesentlichen Verhältnis dazu stand“.18 Über die Abgrenzung des Lexikons mag man im einzelnen streiten, doch hat die Auflösung des Germanenbegriffes die zuletzt konsequent fortschreitende Arbeit daran nicht wesentlich behindert. Es führt kein Weg daran vorbei, unsere Begriffe und Modelle nicht mehr quasideduktiv wie bei Höfler und Grönbech, sondern induktiv zu entwickeln. Dabei muss der Germanenbegriff jeweils in Konkurrenz zu anderen Erklärungsmustern treten, etwa dem Barbarenbegriff, dessen wertende Untertöne gegenüber der ideologischen Last des Germanenbegriffes immer noch das geringere Problem darstellen. Gerade in der Völkerwanderungszeit ist für viele kulturelle Erscheinungen ein Germanenbegriff, der Sarmaten und Alanen, Hunnen und barbarisierte römische Provinzialen ausschließt, wenig zweckmäßig. Oft wird daher auf ihn verzichtet. So ist das in der rechtshistorischen Diskussion bereits geschehen, wo man von Germanenrechten über Leges barbarorum zu Leges gelangt ist.19 In anderen Disziplinen ist das schwer vorstellbar, etwa wäre die germanische Philologie wohl kaum sinnvoll als interkulturelle barbarische Philologie neu zu begründen. Ohnehin geht es weniger darum, sozusagen einen nicht ethnisch definierten Pauschalbegriff von der ungefähren Reichweite des Germanennamens neu zu erfinden – auf dieser Abstraktionsebene ist der Barbarenbegriff meist auch nur eine Verlegenheitslösung. Eher ergibt sich die forschungsstrategische Beobachtung, dass der Untersuchungsgegenstand je nach Fragestellung ganz unterschiedlich weit oder eng definiert werden muss. Eine historische Studie über die Germanenkriege der augusteischen Zeit wird vor allem von recht kleinen Einzelvölkern wie Cheruskern, Chauken, Batavern, Usipetern, Langobarden ausgehen. Im archäologischen Befund zeichnet sich diese Gliederung kaum ab, hier ist die entscheidende Analyse-Ebene die kulturelle Prägung von Großregionen, wie die Rhein-Wesergermanische Kultur oder die elbgermanische. Der Zusatz ‚germanisch‘ verweist auf bereits sehr diffuse Gemeinsamkeiten untereinander und könnte allenfalls auch entfallen.20 Gerade diese ‚gemeingermanische‘ Ebene ist aber in jener Zeit, soweit ich das verfolgen kann, das Feld engagierter Debatten über die Entwicklung der germanischen Sprache, während Einzelsprachen und Dialekte sich in der Regel erst später abzeichnen.21 Immerhin, diesen pauschalen Germanenbegriff

17 Siehe Beck/Capelle/Kroeschell u. a. 1998. 18 Wenskus 1999, S. 1. 19 Siehe z. B. Schott 1979; Schmidt-Wiegand 1991; Kroeschell 1995. 20 Kritisch zur archäologischen Definition einer ‚germanischen‘ Kultur vor der Zeitenwende durch die ‚Jastorf-Kultur‘: Künnemann 1995. 21 Seebold 1986, 1998.

292

Walter Pohl

findet auch der Historiker in seinen frühkaiserzeitlichen Quellen wieder, auch wenn er sich |23| offenbar mit dem philologischen Germanenbegriff nicht deckt, ja in sich ziemlich widersprüchlich ist, da die linksrheinischen Germanen vor wie nach der Errichtung der Provinz Germania nicht in Caesars territorialen Germanenbegriff passen.22 Zudem ist nicht nachweisbar, dass diesem Germanenbegriff je eine Selbstbezeichnung entsprach; ein „ethnologischer Gattungsbegriff“ schloss als Großgruppenbezeichnung bzw. Sammelname eine empirische Fundierung oder Ableitung von einer Selbstbezeichnung geradezu aus.23 Der Germanenbegriff im antiken Sinn verschwindet seit dem 4. Jahrhundert aus den zeitgenössischen Quellen.24 Die Historiographie verwendet in der Beschreibung aktueller Ereignisse zunehmend präzisere Bezeichnungen wie Goten, Alemannen, Franken – auch diese enthielten ein Element der Abstraktion und Pauschalisierung, waren aber offenbar wesentlich identitätswirksamer als der Germanenbegriff, der als Selbstbezeichnung selbst in der römischen Kaiserzeit kaum nachweisbar ist. Der territoriale Bezug der Germanen auf die Germania zerfiel. Die ‚gotischen Völker‘, die seit dem 3. Jahrhundert aus der östlichen Germania ausgezogen sind, galten nicht mehr als Germanen; zu ihnen zählten die Autoren des 5. und 6. Jahrhunderts neben Goten auch Gepiden, Alanen, teils dazu die Vandalen und Burgunder.25 Auch andere abwandernde Völker wie Sueben, Eruler, Langobarden überschreiten den caesarischen Germanenbegriff. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den Zuordnungskriterien der Antike und denen des 19./20. Jahrhunderts: Während der moderne Völkerwanderungsbegriff die völkische Identität der Wandervölker unbefragt voraussetzte, verlor für die Antike mit der Aufgabe der territorialen und klimatischen Einordnung und der Änderung der Lebensweise der ethnische Sammelname seine Evidenz. Tacitus hatte in der Germania die fragliche Zuordnung der Völker an der Grenze zwischen Germania und Scythia noch nach einem flexiblen Kriterienkatalog von Habitus, Siedlungsformen, Sprache und Freiheitsliebe erwägen können, doch die Matrix seiner Überlegungen war der territoriale Germanenbegriff Caesars, der nur in Randgebieten nach Präzisierung verlangte.26 Ein gotisches, burgundisches oder langobardisches Heer auf römischem Boden noch als germanisch einzuordnen, wurde für die gebildeten Zeitgenossen bald wertlos. Auf dem Boden des Imperiums bildeten die Germanen in keiner der möglichen Bedeutungen eine einheitlich lebende und auftretende Gruppe. Sie waren weder die einzigen hier lebenden Barbaren noch in gleichem Maß als Barbaren kenntlich, sondern ganz unterschiedlich assimiliert. Die Germania wiederum wurde seit Chlodwigs Reichsbildung als schwer abgrenzbare östliche Peripherie des Mero-

22 23 24 25 26

Mit diesem Problem beschäftigen sich zahlreiche Beiträge in: Beck 1999a. Timpe 1999. Pohl 2004; Wagner 1999. Vgl. Wolfram 2001. Tacitus, Germania, c. 43–46; vgl. Pohl 1998, bes. S. 18; Lund 1999.

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

293

wingerreiches für eine eigenständige Großgruppenbezeichnung ungeeignet und rückte an den Rand der Aufmerksamkeit. |24| Man hat den Verzicht der Spätantike auf den alten Sammelnamen als Fehleinschätzung abgetan. Doch standen dahinter differenzierte Wahrnehmungen aus immer intensiveren Kontakten zwischen Römern und Barbaren und (wenn auch nicht ohne Widersprüche) das Instrumentarium einer tausendjährigen ethnographischen Tradition. Die germanische Altertumskunde vermeinte bis vor wenigen Jahrzehnten über Kriterien zu verfügen, nach denen diesem ‚verzerrten‘ Blick von außen das Eigentliche germanischen Volkscharakters gegenüberzustellen wäre. Unsere Kriterien hingegen haben sich im einzelnen an denen der Zeitgenossen zu messen und können nur ausnahmsweise bei Vorliegen guter Gründe beanspruchen, was einst Vilhelm Grönbech als prinzipielle Überlegenheit des modernen Blicks postulierte: „Wir haben vor den Römern voraus, dass wir dazu geführt worden sind, das Leben der Germanen von innen her zu betrachten.“27 Der von der caesarischen Anstrengung des Begriffs entlastete Germanenname konnte in der Spätantike verschiedene, in ihrer Orientierungsbedeutung meist zweitrangige Schattierungen annehmen. Die Geschichtsschreiber verwendeten ihn weiterhin, um Ereignisse der früheren Kaiserzeit zu beschreiben, so wie sie ihn in ihren Quellen fanden. Kurze Berichte über einzelne Germaneneinfälle der Spätantike, etwa unter Gallienus, werden von Autor zu Autor weitergegeben.28 Paulus Diaconus definiert seinen Germanenbegriff in der Historia Romana, nach Orosius, durch eine Aufzählung der Völker, denen Caesar in Gallien begegnet war.29 In der Historia Langobardorum stellt er wohl fest, dass die Langobarden von den wilden Völkern der Germanen abstammten, nicht aber, dass sie Germanen seien; nach den Einleitungskapiteln ist von Germanen keine Rede mehr.30 Die Herkunftssagen der Gentes lassen Goten, Langobarden, Franken und andere in unterschiedlicher Weise aus Skandinavien, Troja, Pannonien oder Skythien kommen; germanische Origo wird in keiner von ihnen betont.31 Selbst wo Fredegar das Herkunftsland der Langobarden in der Germania, nämlich inter Danuvium et mare Ocianum annimmt, nennt er es dennoch Scathanavia.32 Vor allem die Byzantiner, ab dem 6. Jahrhundert auch manche lateinische Autoren identifizieren die Germanen mit den Franken (anfänglich auch mit den Alemannen). 27 Grönbech 1997, S. 27. 28 Quellenüberblick: Pohl 2004. 29 Paulus Diaconus, Historia Romana VI, 17. 30 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 1: Gothi siquidem Wandalique, Rugi, Heruli atque Turcilingi, necnon etiam et aliae feroces et barbarae nationes e Germania prodierunt. Pari etiam modo et Winilorum, hoc est Langobardorum, gens, quae postea in Italia feliciter regnavit, a Germanorum populis originem ducens, licet et aliae causae egressionis eorum asseverentur, ab insula quae Scadinavia dicitur adventavit. 31 Wolfram 2003. 32 Fredegar, Chronica III, 65.

294

Walter Pohl

Diese Konzentration des Begriffes auf eine rheinische Population macht in gewisser Weise seine Ausweitung durch Caesar rückgängig, die im griechischen Osten ohnehin nur spät und partiell rezipiert worden war. Die Germanen-Franken wohnten seit dem 6. Jahrhundert wieder vorwiegend in |25| Gallien, was Agathias in der zweiten Jahrhunderthälfte immerhin als terminologisches Problem betrachtete. Doch galten bei griechischen Autoren bis in die Spätantike die Germanen oft immer noch als Galater/Gallier oder Kelten. Klassisch gebildete byzantinische Autoren verfügten noch lange über diese Gleichung. Das ging so weit, dass man im 12. Jahrhundert die Germanen mit den Galatern identifizieren konnte, auch mit denjenigen in Kleinasien, deren ferne gallisch-keltische Abkunft nicht in Vergessenheit geraten war.33 Für diejenigen Völker, die wir Germanen nennen, stand der Begriff seit dem 6. Jahrhundert hingegen nicht mehr zur Verfügung. Das beste Beispiel ist das so genannte Strategikon des Maurikios, ein um 600 verfasstes Kriegshandbuch. Hier werden vier Typen von Feinden in eigenen Kapiteln charakterisiert. Neben Persern, Slawen und den ‚skythischen Völkern‘ (vor allem Awaren und Türken) stehen, in auffällig umständlicher Umschreibung, die „blonden Völker, wie Franken, Langobarden, und die anderen Völker mit derselben Lebensart“.34 Das Kapitel enthält Restbestände des Germanentopos, darunter die Freiheitsliebe und die Haarfarbe der „xantha ethne“, doch der Germanenbegriff stand dafür nicht mehr zur Verfügung. Man könnte meinen, es genüge, den verlorengegangenen Begriff für die hier gemeinte Sache einzusetzen. Das Kapitel über die blonden Völker enthält jedoch mit seiner Mischung ethnographischer Stereotypen und taktischer Beobachtungen wenig Anhaltspunkte für einen Germanenbegriff. Dass, wie das Strategikon beobachtete, ihre Körper „anfällig und weichlich“ waren, sie aber kühne Seelen hatten, „Mangel an Vorräten, vor allem an Wein“ ihnen zu schaffen machte, sie Wert auf Freiheit legten und „ihren Anführern ungehorsam“ waren, geht wohl auf Erfahrungen mit den Langobarden in Italien zurück, die sich inzwischen an Weingenuss und südliche Lebensart gewöhnt und solcherart vom klassischen Germanenbegriff entfernt hatten. Norbert Wagner hat aus dem Verschwinden des Germanennamens in der Völkerwanderungszeit dennoch den Schluss gezogen: „Über ihre sprachliche und kulturelle Zusammengehörigkeit muss an pragmatischen Einsichten und Erkenntnissen erheblich mehr bekannt und geläufig gewesen sein, als in den erhaltenen Quellen fixiert ist und als sich in begrifflicher Etikettierung niedergeschlagen hat.“35 Philologisch gesehen mag diese Beobachtung nahe liegen, da Verständigung selbst zwischen Franken und Goten wohl noch einigermaßen möglich war und auch viele Namen einander ähnelten.36 Vorstellungen von Verwandtschaft zwischen Völkern, ähnlicher Sprache und

33 Eusthatios, Commentarii IV, 7, 281 und 285; siehe künftig die Dissertation von Stergios Laitsos, dem ich diesen Hinweis verdanke. 34 Maurikios, Strategikon XI, 3. Vgl. Wolfram 1989. 35 Wagner 1999, S. 154. 36 Vgl. Geuenich/Jarnut 2002.

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

295

Herkunft mögen in vielerlei partikularen Zusammenhängen Orientierung ermöglicht haben. Doch wurden sie eben nicht systematisiert, weil ganz andere Verwandtschaften wesentlich wichtiger genommen wurden, da sie offenbar realitätsnäher waren. Ein gutes Beispiel ist die |26| Verwandtschaft zwischen Franken und Römern, die sowohl in der wohl um 520 in Ravenna oder Konstantinopel entstandenen so genannten „Fränkischen Völkertafel“ als auch im Mythos von der trojanischen Herkunft der Franken zum Ausdruck kommt.37 Als Grundlage für einen modernen Forschungsbegriff der germanischen Kultur reicht das gelegentlich erschließbare Orientierungswissen von einer Beziehung bestimmter (nie aller) im modernen Sinn germanischen Völker untereinander nicht aus. Was trägt der Germanenbegriff tatsächlich zur Erforschung der Regna der Franken, Langobarden oder auch Goten zwischen dem 5. und 8. Jahrhundert bei? Das betrifft auch direkt das Thema dieses Bandes, die Akkulturation. Können wir von einem Begriff der germanischen Kultur ausgehen, die wesentliche Lebensbereiche der Regna prägte, bevor sie durch Akkulturation mit der spätrömisch-christlichen Kultur langsam ihren spezifischen Charakter einbüßte? Hier können nur einige Fragen aufgeworfen werden. Das in der älteren Forschung gesammelte Material zu kulturellen Ausdrucksformen und Praktiken, Lebensordnungen und Selbststilisierung behält in vielem durchaus seinen Wert. Nur fragt sich, was die Einordnung als ‚germanisch‘ tatsächlich aussagt. Als Gegensatz zu ‚römisch‘ verstanden, deckt ‚germanisch‘ bislang in der Forschung sehr unterschiedliche Phänomene ab: Erstens sind das Erscheinungen, deren Herkunft aus der kaiserzeitlichen Germania nachgewiesen oder zumindest angenommen werden kann. Dazu gehört unleugbar in den meisten Fällen die Sprache, aber auch manches an Tracht und Brauchtum sowie materieller Kultur.38 Dabei ist noch zu unterscheiden, ob es sich um spezifische oder um mehr oder weniger verbreitete („gemeingermanische“) Erscheinungen handelte. Zudem ist die lange Geschichte des Austausches zwischen der Mittelmeerkultur und den benachbarten Barbaren zu berücksichtigen, die bereits zu einer Veränderung der kulturellen Ausdrucksformen in der Germania führen konnte.39 Zweitens werden darunter öfters auch Kulturelemente verstanden, die außerrömischer Herkunft sind, ohne dass germanischer Ursprung nachzuweisen ist, etwa

37 Goffart 1983; die reiche Literatur zur fränkischen Trojasage ist zusammengestellt bei: Anton 2003. 38 Diese Möglichkeit soll hier keineswegs geleugnet werden. Eine solche Herkunft ist jüngst etwa für die langobardische Technik der Herstellung qualitativ hochwertiger Schwerter angenommen worden, siehe künftig La Salvia 2003. 39 Vgl. etwa Steuer 1994; Schnurbein 1995; Böhme 1996.

296

Walter Pohl

manches an der Kultur der Goten, das aus der Steppenzone stammte,40 oder Dinge, die auch bei Galliern oder anderen ‚keltischen‘ Gruppen vorkamen. Drittens ist bei vielen als germanisch interpretierten Ausdrucksformen auch innerrömische, aber nichtklassische Herkunft denkbar, ob es sich nun um das |27| ‚Vulgarrecht‘ handelt oder um viele Elemente des spätantiken militärischen Lebens. Die Sitte der Grabbeigaben zum Beispiel war innerhalb des Imperiums keineswegs ganz unbekannt.41 Viertens aber, und das ist der gravierendste Einwand, ist vieles, was in den Regna der Goten, Langobarden oder Franken nichtrömisch erscheint, deswegen nicht einfach germanisch, sondern eben nachrömisch. Die Kreativität und Wandlungsfähigkeit der Regna ist in der bisherigen Forschung zumeist unterschätzt worden.42 In lateinischer Sprache niedergeschriebene Leges, die lange Kataloge von Geldbußen in spätrömischer Währung erhalten, sind zunächst einmal im Kontext ihrer Promulgation und Niederschrift zu interpretieren; die Suche nach zweifelsfrei ‚germanischen‘ Elementen darin (im Sinn ihrer Herkunft aus der Germania) ist legitim, verliert sich aber leicht in Spekulation ohne jede Quellenbasis. Das bedeutet gerade nicht, dass römisch sein muss, was an den Leges nicht germanisch ist, sondern dass spezifische gesellschaftliche Problemlagen neue Lösungen erforderten. Schließlich gibt es fünftens noch kulturelle Ausdrucksformen, die erst in nachrömischer Zeit aus dem außerrömischen Bereich in die Regna kamen. Auch diese außer- und nachrömischen Kulturäußerungen setzen meist bereits Kulturkontakte, römische Vorbilder und ihre sehr eigenständige Umsetzung voraus, wie zum Beispiel die Goldbrakteaten,43 der ‚germanische‘ Tierstil (dessen Entstehung aber weiterhin ganz unterschiedlich zwischen Südskandinavien und den Randgebieten des Imperiums vermutet wird),44 oder die Runeninschriften (die in der Germania ein im wesentlichen nachrömisches Phänomen sind).45 Ein gutes Beispiel für den gar nicht archaischen Charakter scheinbar typisch germanischer Kulturäußerungen ist die Nordendorfer Bügelfibel aus der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts, auf der die Götternamen Wodan und Donar eingeritzt sind, allerdings wohl im Zusammenhang einer christlichen Abschwörungsformel.46

40 Manches an der materiellen Kultur des Attila-Reiches ist kaum sinnvoll als germanisch zu definieren, siehe etwa Bóna 1991; Kazanski 1992. Viele dem römischen Kunsthandwerk fremde Techniken gehören vermutlich in diesen Bereich ‚außerrömischer‘ Formen, vgl. Schmauder 1998. 41 Siehe z. B. die Diskussion zwischen Horst Wolfgang Böhme (1975) und Guy Halsall (zuletzt 2000), der in den beigabenführenden Gräbern im Gallien des 4. Jahrhunderts keine germanischen Zuwanderer, sondern eine regionale Entwicklung sieht. 42 Pohl 2002a, S. 213–223. 43 Siehe zuletzt Hauck 1998. 44 Roth 1979, S. 42–78; Haseloff 1981; und künftig Heinrich-Tamaska (im Druck). 45 Düwel 1982, 1998. 46 Düwel 1992, bes. S. 356–359.

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

297

Die Chiffre ‚germanisch‘ deckt also in Wirklichkeit ganz unterschiedliche kulturelle Phänomene ab, deren Differenzierung sie durch den scheinbar evidenten Bezug auf eine Pseudo-Ethnie verwischt. Leges, Tierstil, Fibelformen, Verarbeitungstechniken, Mythen, Organisationsformen pauschal als germanisch zu klassifizieren, erspart eine genauere Untersuchung, ob es sich um außer- oder nachrömische, unklassische oder tatsächlich aus der Germania stammende Erscheinungen handelt, eine Untersuchung, die ohnehin meist am Quellenmangel scheitern müsste. Methodisch wesentlich naheliegender wäre es, die klassifizie|28|rende Herkunftsbestimmung überhaupt sein zu lassen und statt dessen die Interpretation im Kontext vorzunehmen, also zum Beispiel als merowingerzeitlich. Das würde auch viele Probleme mit der diachronen Betrachtung ersparen. Die Germanen, im Sinn des modernen Forschungsbegriffes, durchlebten in der Völkerwanderungszeit und in den nachrömischen Regna eine Serie grundlegender kultureller Veränderungen. Ein Teil von ihnen gab die Muttersprache auf, eine noch größere Gruppe die Religion. Die Sitte der Grabbeigaben verschwand allmählich, nachdem schon zuvor mehrere Brüche im Grabbrauch zu beobachten sind: Aufgabe der Brandbestattung, Aufnahme der Reihengräbersitte, für die Führungsschichten schließlich Bestattung in oder bei Kirchen. Auch die Tracht änderte sich teils mehrmals. Dazu gehört der Wandel der westgermanischen Frauenkleidung im 5. Jahrhundert oder der von Paulus Diaconus beobachtete Trachtwechsel der Langobarden in Italien.47 Viele gaben ihre bäuerliche Existenz auf, um Krieger zu werden und schließlich bei Erfolg von Abgaben zu leben. Gestiegene Bedeutung der Schriftlichkeit, Wandel der Wohn- und Siedlungsformen und der Lebensweise in einer spätrömischen Umwelt können beobachtet werden. Ist dieser Wandel als Akkulturation zureichend zu beschreiben? Das Modell, dass in den Regna Menschen germanischer Sprache und Herkunft allmählich romanisiert wurden, hat sich in der Forschung in mancher Hinsicht durchaus bewährt, sollte aber durch andere Gesichtspunkte ergänzt werden. Wieder ist der philologische Befund am leichtesten darin einzufügen: Menschen germanischer Muttersprache kommen in römische Provinzen und nehmen hier im Lauf von Jahrhunderten die spätlateinischfrühromanische Sprache der Mehrheitsbevölkerung an, wobei sich beide Sprachen wandelten und gegenseitig beeinflussten. Folgt man freilich einer philologischen Definition, hätten sie damit aufgehört, Germanen zu sein. Der archäologische Befund ist um einiges schwieriger zu interpretieren. Volker Bierbrauer – um nur ein Beispiel zu nennen – hat mit guten Gründen ein fränkisches, ein langobardisches und ein gotisches Kulturmodell herausgearbeitet.48 Freilich, nur ein Teil der Oberschicht barbarischer Herkunft lässt sich damit erfassen. Die Beigabensitte war nur im nordöstlichen Teil des Burgunder- wie des Frankenreiches üblich, bei Ostgoten und Langobarden in Italien war sie wohl ebenfalls schon zu

47 Überblick: Pohl 1998. 48 Bierbrauer 1980, 1996.

298

Walter Pohl

Beginn ihrer Herrschaft nicht flächendeckend verbreitet. Das könnte man noch als Akkulturationsphänomen erklären. Nur unter einigermaßen geschlossener barbarischer Bevölkerung konnte sich die Grabsitte halten, bevor sie unter christlich-romanischem Einfluss endgültig aufgegeben wurde. Schwieriger ist der Befund im Westgotenreich. Hier ist im tolosanischen Reich des 5. Jahrhunderts die Beigabensitte fast nicht nachweisbar, während sie im 6. Jahrhundert wieder auftaucht, allerdings nicht im gesamten westgotischen Spanien, sondern vor allem in der Meseta.49 Wurde hier Akkulturation rückgängig gemacht, oder ist nicht |29| vielleicht die Vorstellung eines linearen Akkulturationsprozesses insgesamt zu überdenken? Ist alles germanisch, was an Nicht-Römischem auf römischem Boden zu finden ist? Vor kurzem wurden bei Supersano in der Nähe von Lecce im südlichsten Apulien einige Grubenhäuser aus dem 7. bis 8. Jahrhundert gefunden. Andrea Augenti hat die traditionelle Erklärung erwogen, es könnte sich um versprengte germanische Siedler unter byzantinischer Herrschaft handeln; doch hält er es mit Verweis auf ähnliche Fälle für wahrscheinlich, dass es sich um autochthone Reste einer einfacheren Kultur handelte.50 Ähnliches gilt für die einfachen Holzbauten, die in den Städten Italiens seit dem 6. Jahrhundert vielfach nachweisbar sind und meist mit den Langobarden in Verbindung gebracht werden; auch sie deuten zunächst auf den Rückgang der Urbanisierung und der städtischen Arbeitsteilung und sind nicht unbedingt ethnisch deutbar.51 Bei den erhaltenen lateinischen Schriftquellen ist das einfache Modell einer Kultursynthese zwischen germanischer und romanischer Kultur teils recht wenig aussagekräftig. In den Handbüchern steht etwa zu lesen, Paulus Diaconus sei in seiner Historia Langobardorum eine große Synthese römischer und germanischer Kultur geglückt.52 Doch was war eigentlich das germanische Element seiner Langobardengeschichte? Manche Legenden aus der Frühzeit sind sicherlich aus mündlicher Überlieferung geschöpft; doch die Frage, ob diese Erzählungen rein germanisch waren oder nicht ebenso von Romanen tradiert wurden, hat schon Gschwantler am Beispiel der ‚Heldensage von Alboin und Rosimund‘ aufgeworfen.53 Die Schilderung von allerlei kriegerischen Taten an sich war jedenfalls nicht unbedingt ein germanischer Import ins langobardische Italien. Besonders kontrovers diskutiert wurde der germanische oder romanische Charakter der Leges. Nach einigen Jahrzehnten dieser Diskussion hat man den Eindruck, dass hier viel Scharfsinn auf eine Einteilung verwendet wurde, die in der modernen Rechtswissenschaft wichtiger ist als sie im frühen Mittelalter war. Sicherlich sahen die Zeitgenossen eine Unterscheidung zwischen Lex Romana und den

49 Ripoll Lòpez 1998. 50 Augenti 2002. 51 Vgl. Brogiolo 1999. 52 Pohl 1994. 53 Gschwantler 1976.

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

299

Leges der Könige. Das war jedoch keine inhaltlich-genetische Einteilung, sondern eine Frage der legislativen Kompetenz.54 Römisch-rechtliche Bestimmungen finden sich nicht nur in der Lex Romana Burgundionum, sondern auch im Liber Constitutionum.55 Selbst die Leges Langobardorum, die traditionell, und nicht zuletzt wegen der vielen germanischen Rechtsausdrücke, als besonders germanisch gelten, sind keineswegs durchgehend so zu deuten. Hermann Nehlsen hat durchaus eindrucksvoll dargelegt, dass im langobardischen Sklavenrecht germanische oder zumindest unklassische Vorstellungen vorherrschen. Doch dass jemand, der einen entlaufenen Sklaven beherbergt oder entweichen lässt, dem Eigentümer |30| dessen Preis erstatten muss, steht schon in den Digesten.56 Da ‚urtümliches‘ Germanenrecht vor den Regna – abgesehen von einigen Bemerkungen des Tacitus – nicht überliefert ist, ist der Rückschluss darauf meist ohnehin problematisch. Doch die Lösung liegt kaum darin, die Leges pauschal als spätrömisches Vulgarrecht zu vereinnahmen. Zu fragen ist jeweils, was die Zuordnung germanisch/romanisch in einem konkreten Fall zu unserem Verständnis beiträgt. Jahrhundertelang waren die Germanen Nachbarn des Imperiums gewesen, ihre Akkulturation begann also nicht erst mit dem Übertritt auf Reichsboden. Die genetische Erklärung, ein Element der Kultur der Regna sei germanisch, zielt ja vor allem darauf ab, eine ‚urgermanische‘ oder ‚gemeingermanische‘ Kultur zu rekonstruieren, besonders dort, wo dafür keine Quellen zur Verfügung stehen oder wo man eine knappe Information des Tacitus mit Evidenz zu füllen hofft. Dafür nimmt man jedoch in Kauf, die Verhältnisse in den Regna auf eine Polarität zu reduzieren, die deren Verständnis eher erschwert als erleichtert. Vor allem wird damit das Spezifische, oft auch Innovative an Gesellschaft und Kultur der Regna in den Hintergrund gedrängt. Die Leges ebenso wie die Historiographie der Regna antworteten auf die Herausforderung, unter der Herrschaft einer kriegerischen Elite außerrömischer Herkunft eine Gesellschaft zu integrieren, die schon unter der Herrschaft der spätantiken Kaiser kaum mehr hatte befriedet werden können. Das Italien der fast unaufhörlichen Kämpfe um den Kaiserthron oder das Gallien der Bagauden verlangten nach neuen, nachrömischen Lösungen. Eine herrschende Schicht von Kriegern musste ihren Platz in einer komplexen Gesellschaft finden. Dabei ging sie Bündnisse ein mit einer zivilen Elite, deren Ziel eine durchgreifende Christianisierung vieler Lebensbereiche war. Der Gesichtspunkt der Akkulturation ist nur eines der Modelle, die diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und kulturellen Veränderungen beschreiben können. Richtig verstanden, kann er das Verständnis für den dynamischen Charakter der frühmittelalterlichen Kultur fördern, die weder Verwirklichung einer in den Wäldern Germaniens entwickelten Denkweise war noch bloße Verfallsperiode einer untergehenden klassischen Zivilisation.

54 Vgl. Dilcher 1976, 1978; Pohl 2001; Wormald 1999. 55 Nehlsen 1978; Wood 1990. 56 Nehlsen 1972; Digesten 48, 3, 14, 7.

300

Walter Pohl

In den Regna des 6. oder 7. Jahrhunderts unterschieden sich die meisten ‚Germanen‘ viel weniger von ihren ‚romanischen‘ Zeitgenossen als von ihren eigenen Vorfahren nur wenige Generationen zuvor. Dennoch griffen sie in manchem auf ihre Herkunft und Identität zurück, die zur Unterscheidung diente, zuweilen auch neu entworfen wurde – wie etwa die Herkunftsgeschichten zeigen. Ähnliche Strategien der Identitätsbildung sind in den heutigen USA bei ethnischen Gruppen gut erforscht: St. Patrick’s Day, Bar Mitzvah oder mexikanische Küche spielen in den USA jeweils eine ganz andere Rolle als in den Herkunftsländern.57 Schriftquellen ebenso wie Trachtbestandteile oder Grabbeigaben sind nicht unwillkürliche Kulturäußerungen, sondern betonen bestimmte Elemente der Identität gegenüber anderen.58 Dass in bestimmten Fällen Ähnlichkeit oder |31| Differenz hervorgehoben wurden, muss nicht unbedingt die tatsächliche soziale Distanz widerspiegeln, sondern kann auch auf bewusste Identitätsstiftung zurückgehen.59 Der Germanenbegriff ist von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, von Tacitus bis Grönbech, vielfach eher affektiv als deskriptiv gebraucht worden; gerade das machte seine Attraktivität aus. Dort, wo er verzichtbar erscheint, sollte er deshalb eher vermieden werden. Für den Historiker ist es gerade die Vielfalt und Widersprüchlichkeit seines Gebrauches im Lauf seiner Geschichte, die den Germanenbegriff so interessant macht. Als Forschungsbegriff, der erlauben soll, eine klar abgrenzbare Kultur zu umschreiben, ist er aus demselben Grund problematisch.

Bibliographie Anton, Hans Hubert: Origo gentis (Franken), in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22 (22003), S. 189–195. Augenti, Andrea: Due capanne nel bosco, in: Medioevo 3 (2002), S. 4 f. Beck, Heinrich: Grönbech, Vilhelm, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 13 (21999), S. 62. Beck, Heinrich (Hg.): Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin/New York 21999a. Beck, Heinrich: Höfler, Otto, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 15 (22000), S. 30–34. Beck, Heinrich/ Capelle, Thorsten/ Kroeschell, Karl/ Maier, Bernhard/ Müller, Rosemarie/ Roth, Helmut/ Seebold, Ernst/ Steuer, Heiko/ Timpe, Dieter: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 11 (21998), S. 181–483 (auch als Einzelpublikation erschienen). Beck, Heinrich/ Ellmers, Detlev/ Schier, Kurt (Hgg.): Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme, Berlin/New York 1992. Bierbrauer, Volker: Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse in germanischen Staaten am Mittelmeer (Westgoten, Ostgoten, Langobarden) aus der Sicht des Archäologen, in: Longobardi e Lombardia: Aspetti di civiltà longobarda, Atti dei VI Congresso internazionale di Studi sull’alto Medioevo, Spoleto 1980, S. 89–105.

57 Forschungsüberblick: Sollors 1996. 58 Halsall 1996; Effros 2002. 59 Vgl. Pohl (im Druck).

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

301

Bierbrauer, Volker: Romanen im fränkischen Siedelgebiet, in: Die Franken – Wegbereiter Europas, Katalog Bd. 1, Mannheim 1996, S. 110–120. Böhme, Horst Wolfgang: Germanische Grabfunde des 4.-5. Jahrhunderts zwischen unterer Elbe und Loire, München 1975. Böhme, Horst Wolfgang: Kontinuität und Traditionen bei Wanderungsbewegungen im frühmittelalterlichen Europa vom 1.-6. Jahrhundert, in: Archäologische Informationen 19, 1–2 (1996), S. 89–103. Bóna, István: Das Hunnenreich, Budapest/Stuttgart 1991. Brogiolo, Gian Pietro: Ideas of the Town in Italy during the Transition from Antiquity to the |32| Middle Ages, in: Gian Pietro Brogiolo/Bryan Ward-Perkins (Hgg.): The Idea and Ideal of the Town between Late Antiquity and the Early Middle Ages (The Transformation of the Roman World 4), Leiden 1999, S. 99–126. De Vries, Jan: Die Welt der Germanen, Leipzig 1934. Diesenberger, Maximilian: Hair, sacrality and symbolic capital in the Frankish kingdom, in: Richard Corradini/Maximilian Diesenberger/Helmut Reimitz (Hgg.): The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources and Artefacts (The Transformation of the Roman World 12), Leiden/Boston 2003, S. 173–212. Dilcher, Gerhard: Gesetzgebung als Rechtserneuerung, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.): Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S. 13–55. Dilcher, Gerhard: Langobardisches Recht, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte 2 (1978), col. 1607 ff. Düwel, Klaus: Runenkunde, Stuttgart 21982. Düwel, Klaus: Runeninschriften als Quellen der germanischen Religionsgeschichte, in: Heinrich Beck/Detlev Ellmers/Kurt Schier (Hgg.): Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme, Berlin/New York 1992, S. 336–363. Düwel, Klaus (Hg.): Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung, Berlin/New York 1998. Effros, Bonnie: Body and Soul. Burial and the Afterlife in the Merovingian World, University Park, Pennsylvania 2002. Geuenich, Dieter/ Jarnut, Jörg (Hgg.): Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, Berlin/New York 2002. Goffart, Walter: The Supposedly „Frankish“ Table of Nations, in: Frühmittelalterliche Studien 17 (1983), S. 98–130. Grönbech, Vilhelm: Kultur und Religion der Germanen. 2 Bde., Darmstadt 121997. Gschwantler, Otto: Die Heldensage von Alboin und Rosimund, in: Helmut Birkhan (Hg.): Festgabe Otto Höfler, Wien 1976, S. 214–247. Hachmann, Rolf: Der Begriff des Germanischen, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 7 (1975), S. 113–144. Hachmann, Rolf: Die Germanen, München 1971. Halsall, Guy: Early Medieval Cemeteries: an Introduction to Post-Roman Burial Archaeology, Glasgow 1996. Halsall, Guy: Archaeology and the late Roman frontier in Northern Gaul: The so-called „Föderatengräber“ revisited, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hgg.): Grenze und Differenz im frühen Mittelalter (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 1), Wien 2000, S. 167–180. Haseloff, Günther: Die germanische Tierornamentik der Völkerwanderungszeit. 2 Bde., Berlin/New York 1981. Hauck, Karl: Der Kollierfund vom fünischen Gudme und das Mythenwissen skandinavischer Führungsschichten in der Mitte des ersten Jahrtausends, in: Dieter Geuenich (Hg.): Die

302

Walter Pohl

Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich” (496/97) (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Erg.-Bd. 19), Berlin/New York 1998, S. 489–544. Heinrich-Tamaska, Orsolya: Deutung und Bedeutung von Salins Tierstil II zwischen Langobardia und Avaria, in: Walter Pohl/Peter Erhart (Hgg.): Die Langobarden – Herrschaft und Identität, Wien (im Druck). |33| Höfler, Otto: Das germanische Kontinuitätsproblem, in: Historische Zeitschrift 157 (1938), S. 1–26. Jarnut, Jörg: Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung, in: Walter Pohl (Hg.): Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, Wien (im Druck). Kazanski, Michel: Les Goths et les Huns. A propos des relations entre les Barbares sédentaires et les nomades, in: Archéologie Mediévale 22 (1992), S. 193–229. Kroeschell, Karl: Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: Kroeschell, Karl: Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, Berlin 1995, S. 65–88. Künnemann, Wiebke: Jastorf – Geschichte und Inhalt eines archäologischen Kulturbegriffs, in: Die Kunde NF 46 (1995), S. 61–122. La Salvia, Vasco/Zagari, Francesca: Cultura materiale e tradizione tecnica: la metallurgia di ferro dei Longobardi in Italia, in: I Longobardi dei ducati di Spoleto e Benevento, Atti del XVI Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo, Spoleto 2003, S. 945–1008. Lund, Allan A.: Zum Germanenbegriff bei Tacitus, in: Heinrich Beck (Hg.): Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin/New York 21999, S. 53–87. Nehlsen, Hermann: Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter. Germanisches und römisches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen, Göttingen 1972. Nehlsen, Hermann: Lex Romana Burgundionum, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 2 (1978), col. 1927–1934. Pohl, Walter: Paulus Diaconus und die „Historia Langobardorum“: Text und Tradition, in: Anton Scharer/Georg Scheibelreiter (Hgg.): Historiographie im frühen Mittelalter (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32), Wien 1994, S. 375–405. Pohl, Walter: Telling the difference – Signs of ethnic identity, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hgg.): Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (The Transformation of the Roman World 2), Leiden/New York/Köln 1998, S. 17–69. Pohl, Walter: Herrschaft, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 14 (21999), S. 443–457. Pohl, Walter: Die Germanen (Enzyklopädie der deutschen Geschichte 57), München 2000. Pohl, Walter: Leges Langobardorum, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 18 (22001), S. 208–213. Pohl, Walter: Ethnicity, theory and tradition: a response, in: Andrew Gillett (Hg.): On Barbarian Identity – Critical Approaches to Ethnogenesis Theory, Turnhout 2002, S. 221–240. Pohl, Walter: Die Völkerwanderung, Stuttgart/Berlin/Köln 2002a. Pohl, Walter: Der Germanenbegriff vom 3. bis 8. Jahrhundert – Identifikationen und Abgrenzungen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer/Dietrich Hakelberg (Hgg.): Zur Geschichte der Gleichung ,germanisch – deutsch‘ (Erg.-Bde. zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde), Berlin/New York 2004, S. 163–184. Pohl, Walter: Aux origines d’une Europe ethnique: Identités en transformation entre antiquité et moyen âge, in: Annales: Histoire, Sciences Sociales (im Druck). Ripoll López, Gisela: The arrival of the Visigoths in Hispania: population problems and the process of acculturation, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hgg.): Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (The Transformation of the Roman World 2), Leiden/Boston/Köln 1998, S. 153–188. Roth, Helmut: Die Kunst der Völkerwanderungszeit (Propyläen Kunstgeschichte, Erg.-Bd. 4), Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979.

Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter

303

Schmauder, Michael: Imperial representation or barbaric imitation? The imperial brooches (Kaiserfibeln), in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hgg.): Strategies of |34| Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (The Transformation of the Roman World 2), Leiden/Boston/Köln 1998, S. 281–296. Schmidt-Wiegand, Ruth: Stammesrecht und Volkssprache. Ausgewählte Aufsätze zu den Leges barbarorum. Dagmar Hüpper (Hg.), Weinheim 1991. Schnurbein, Siegmar von: Vom Einfluß Roms auf die Germanen, Düsseldorf 1995. Schott, Clausdieter: Der Stand der Leges-Forschung, in: Frühmittelalterliche Studien 13 (1979), S. 29–55. Seebold, Ernst: Die Konstituierung des Germanischen in sprachlicher Hinsicht, in: Heinrich Beck (Hg.): Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin/New York 1986, S. 168–182. Seebold, Ernst: Germanen, Germania, germanische Altertumskunde. Sprache und Schrift, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 11 (21998), S. 275–305. Sollors, Werner (Hg.): Theories of Ethnicity. A Classical Reader, New York 1996. Steuer, Heiko: Archäologie und germanische Sozialgeschichte. Forschungstendenzen in den 1990er Jahren, in: Klaus Düwel (Hg.): Runische Schriftkultur in kontinental-skandinavischer und angelsächsischer Wechselbeziehung, Berlin/New York 1994, S. 10–55. Timpe, Dieter: Ethnologische Begriffsbildung in der Antike, in: Heinrich Beck (Hg.): Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin/New York 21999, S. 22–40. Wagner, Norbert: Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff, in: Heinrich Beck (Hg.): Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin/New York 21999, S. 130–154. Wenskus, Reinhard: Stammesbildung und Verfassung: das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Wien 21977. Wenskus, Reinhard: Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs, in: Heinrich Beck (Hg.): Germanenprobleme aus heutiger Sicht, Berlin/New York 21999, S. 1–21. Wolfram, Herwig: Byzanz und die Xantha Ethne (400–600), in: Evangelos Chrysos/Andreas Schwarcz (Hgg.): Das Reich und die Barbaren, Wien/Köln 1989, S. 237–246. Wolfram, Herwig: Die Goten, München 42001. Wolfram, Herwig u. a.: Origo gentis, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22 (22003), S. 175–210. Wood, Ian N.: Ethnicity and the ethnogenesis of the Burgundians, in: Herwig Wolfram/Walter Pohl (Hgg.): Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern 1, Wien 1990, S. 53–69. Wood, Ian N.: Deconstructing the Merovingian family, in: Richard Corradini/Maximilian Diesenberger/Helmut Reimitz (Hgg.): The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources and Artefacts (The Transformation of the Roman World 12), Leiden/ Boston 2003, S. 149–172. Wormald, Patrick: The Making of English Law: King Alfred to the 12th Century, vol. 1: Legislation and its Limits, Oxford 1999.

304

Walter Pohl

Kommentar Walter Pohl, Jahrgang 1953, gehört gegenwärtig zweifellos zu den prominentesten Köpfen der Spätantike- und Frühmittelalterforschung. Er studierte in Wien; sein akademischer Lehrer wurde hier Herwig Wolfram. Der hatte das Modell der Ethnogenese, das Reinhard Wenskus vorgeschlagen hatte, schon mit seinem grundlegenden Gotenbuch von 1979 weiterentwickelt, das er in der Folgezeit bis 1990 in drei Auflagen überarbeitete.1 Parallel dazu publizierte Wolfram zahlreiche weitere Studien, die gegenüber Wenskus sehr viel stärker mitberücksichtigten, wie sehr die Prozesse der Ethnogenese in der Spätantike schon innerhalb der römischen Welt selbst statthatten. 1984 wurde Walter Pohl von Wolfram aufgrund einer Arbeit über die Awaren promoviert.2 Habilitiert hat sich Pohl dann gleich zweimal: einmal für mittelalterliche Geschichte 1989, einmal für Historische Hilfswissenschaften 2001. Seit 2004 lehrt Pohl als Professor an der Universität Wien. Zugleich leitet er das Institut für Mittelalterforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Gegenüber seinem akademischen Lehrer hat Walter Pohl die Fragestellungen und Forschungsansätze seit der Jahrtausendwende markant verändert:3 Statt nach der Entwicklung von Ethnien fragte er zunächst nach jenen Diskursen und Praktiken, in denen und mit denen ethnische Identitäten immer wieder neu ausgehandelt wurden – und weitete seine Forschung dann noch weiter aus, indem er nach dem komplexen In- und Miteinander ethnischer und anderer, etwa religiös begründeter Identitäten und Praktiken der sozialen Kohäsion fragt. Statt gemeinsame Grundzüge „der Germanen“ zu ermitteln, fragt Pohl danach, wie die Akteure selbst im Laufe der Geschichte Unterschiede zwischen Gemeinschaften konstruiert haben: Was Vandalen von Goten und von Römern abgrenzt, sind keine naturgegebenen Merkmale; die Kritierien der Unterscheidung müssen erst als solche behauptet und plausibel gemacht werden. Welche „strategies of distinction“ dabei wirksam wurden, das hat Pohl schon in einem programmatischen Band von 1998 erörtert.4

1 Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie (München 1979; 3. überarbeitete Auflage, München 1990). 2 Das Awarenreich in Europa, 558–700. Gentile und imperiale Politik, Diss. phil. (Wien 1984). 3 Pohl hat sich zu Recht schon früh gegen eine quasi-„genealogische“ Vereinnahmung in einer Traditionslinie Höfler–Wenskus–Wolfram–Pohl verwehrt. Vgl. dazu pointiert: Walter Pohl, Ethnicity, theory, and tradition: a response. In: On barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the early middle ages, hrsg. Andrew Gillett. Studies in the early middle ages 4 (Turnhout 2002) 221–239, hier bes. 221. 4 Walter Pohl, Introduction: strategies of distinction. In: Strategies of distinction. The construction of ethnic communities 300–800, hrsg. Helmut Reimitz/Walter Pohl. The transformation of the Roman world 2 (Leiden u. a. 1998) 1–15.

Kommentar

305

Das „Germanische“ hat im Zuge dessen für Pohls eigenes Oeuvre alle strukturierende Kraft verloren: Obwohl Pohl selbst im Jahr 2000 ein Lehrbuch über „Die Germanen“ vorgelegt hat,5 hat der Begriff des „Germanischen“ für seine eigene Forschung tatsächlich keine Bedeutung mehr. Der Beitrag von 2004, den wir hier wieder abdrucken, ist entstanden, noch bevor Pohl manche heute zentralen Elemente seiner historischen Identitätsforschung begründet hatte.6 Doch schon in diesem vergleichsweise frühen Aufsatz ist Pohls Skepsis gegenüber dem Begriff des „Germanischen“ klar zu fassen (sofern der Terminus denn mehr bieten soll als nur ein halbwegs griffiges Etikett zur vorwissenschaftlichen Benennung eines ungefähren Themengebiets, das sich letztlich gar nicht scharf umreißen lässt). Pohl hat den Beitrag im Jahr 2004 schon in Kenntnis von Jörg Jarnuts Plädoyer zur Abschaffung des Germanenbegriffs7 verfasst. Am Ende gelangte er zu einem ähnlichen Fazit, auch wenn er seine Skepsis zurückhaltender formulierte: „Dort, wo er [der Germanenbegriff] verzichtbar erscheint“, so Pohl, „sollte er deshalb eher vermieden werden. Für den Historiker ist es gerade die Vielfalt und Widersprüchlichkeit seines Gebrauches im Lauf seiner Geschichte, die den Germanenbegriff so interessant macht. Als Forschungsbegriff, der erlauben soll, eine klar abgrenzbare Kultur zu umschreiben, ist er aus demselben Grund problematisch.“8 Pohls Argumente ähneln zum Teil denen, die auch Jarnut schon vorgetragen hatte: Der Germanenbegriff war keine Ordnungskategorie jener Autoren, die unsere Quellen zur Völkerwanderungszeit schrieben; wo das Wort nach dem 4. Jahrhundert noch verwendet wurde, deckte sich der Begriff, den es bezeichnete, nicht mit dem Germanenbegriff der ‚Germanischen Altertumskunde‘; eine Gruppe mit einer germanischen Identität hat es wahrscheinlich sogar nie gegeben; und schon gar nicht haben sich alle jene Verbände selbst je als Germanen begriffen, die von der historischen Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert als Germanen bezeichnet worden sind. Aber Pohls Argumente reichen sogar noch deutlich über das hinaus, was Jarnuts Skepsis begründet hatte. Der Germanenbegriff ist aus Pohls Sicht nämlich vor allem deshalb als Forschungsbegriff problematisch, weil er stets eine Dualität zum ‚Römischen‘ suggeriert – und zugleich Unterschiede sowohl im Verlauf der Zeit als auch zwischen einzelnen ethnisch denominierten Gruppen ausblendet. Der Germanenbegriff ist, so Pohl, untrennbar mit der Idee verbunden, dass es ein „germanisches Wesen“ gegeben habe, das Gruppen mit unterschiedlichen Namen gemeinsam abgegrenzt habe von „den Römern“ – und das überzeitlich so stabil geblieben sei, dass es

5 Walter Pohl, Die Germanen. Enzyklopädie deutscher Geschichte 57 (München 2000). 6 Eine übersichtliche Bündelung wesentlicher Punkte bietet: Walter Pohl, Introduction – Strategies of Identification: A Methodological Profile. In: Strategies of Identification. Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe, hrsg. Walter Pohl/Gerda Heydemann. Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 13 (Turnhout 2013) 1–64. 7 Vgl. unten, 307–318. 8 Pohl, oben, 300.

306

Walter Pohl

im Grunde in den Texten eines Caesar oder Tacitus ebenso aufzuspüren sei wie in den Sagas des Hoch- und Spätmittelalters. Pohl setzt dieser traditionellen Sichtweise ein Programm entgegen, das Differenzen und historischen Wandel ernstnimmt: Diejenigen Germani, von denen Caesar und Tacitus handelten, waren historisch etwas sehr anderes als die Goten oder Vandalen der sogenannten „Völkerwanderungszeit“ – und wieder etwas anderes als die Franken unter der Herrschaft der Karolinger oder die Westgoten um 700. Der Begriff der Germanen erweist sich als hinderlich, um solche historischen Unterschiede zu analysieren und um zu untersuchen, was diese Unterschiede eigentlich generiert hat. Zudem verführt der Begriff des Germanischen dazu, sehr unterschiedliche Phänomene der Kultur gleichzusetzen und damit auch auf dieser Ebene Differenzierungen, die wissenschaftlich bedeutsam sind, gewissermaßen mit begrifflichem Einheitsbrei zuzukleistern: Als „germanisch“, so Pohl, würden teils Phänomene langer Dauer bezeichnet, die erstmals in der Kaiserzeit bei den damals von den Römern als Germani bezeichneten Gruppen nachgewiesen sind; dann aber auch Kulturelemente außerrömischer Provenienz, die sich genauso bei Galliern, Kelten, in der Steppe usw. nachweisen lassen; außerdem innerrömische Weiterentwicklungen klassischer Formen (wie etwa das Vulgarrecht); und oft genug auch schlicht Nachrömisches (wie die Leges) – oder sogar Importe, die tatsächlich erst in die poströmischen Barbarenreiche erfolgten (wie z. B. Goldbrakteaten). All dies gilt es nach Pohl aber scharf zu differenzieren, wenn man die komplexen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Prozesse verstehen will, die seit dem 4. Jahrhundert die römisch dominierte Mittelmeerwelt in jene verschiedenen Regionalherrschaften umformten, die von den akademischen Institutionen unserer Gegenwart merkwürdig traditionell als „mittelalterlich“ klassifiziert werden. Nicht minder problematisch ist der Begriff des Germanischen nach Pohl schließlich auch deshalb, weil er traditionell dichotomische Fragestellungen generiert: „Das“ Germanische steht „dem“ Römischen gegenüber. Auch hiermit aber werden weit komplexere Strukturen und Prozesse dramatisch vereinfacht. Tatsächlich gehört es zu den wesentlichen Erkenntnissen der aktuellen Forschung, dass auch die römische Welt in ihrer historischen Wandelbarkeit ernstzunehmen ist. In der Spätantike und im Frühmittelalter wurde an vielen Orten in je eigener Weise und immer wieder neu auch ausgehandelt, was denn eigentlich Römisch-Sein bedeutet: In Diskursen und Praktiken war auch dieser Teil der Identität historischen Prozessen unterworfen.9 Allzu einfache Modelle – wie das der Akkulturation zweier zuvor irgendwie „getrennt“ gedachter Kulturen – sind nach Pohl nicht geeignet, um jene komplexen Prozesse wissenschaftlich zu analysieren, aus denen die Welt der „ethnic states“ erwuchs, die in weiten Teilen des Mediterraneums das Imperium Romanum ablösen sollte. St. P.

9 Walter Pohl, Romanness: a multiple identity and its changes. Early Medieval Europe 22, 2014, 406–418.

Jörg Jarnut

Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung Was sollen wir von einem historischen Begriff halten, der eine Großgruppe entweder voraussetzt oder aber konstituiert, die es wohl nie gegeben hat, die sich selbst jedenfalls nie als solche empfand und sich dementsprechend auch niemals so bezeichnete? Wie sollen wir mit einem Begriff umgehen, den vor mehr als zweitausend Jahren Caesar als Konstrukt wenn schon nicht erfunden, so dann doch zumindest populär und für seine politischen Ziele dienstbar gemacht hat? Einem Begriff, der dann seit dem Beginn der Neuzeit zwei Dutzend Generationen von vornehmlich deutschen, von ihrer eigenen Gegenwart frustrierten Intellektuellen, Professoren und anderen Schulmeistern eine Goldgrundvergangenheit anbot, auf die sich das Kämpferische, Heldische, Starke, Große, Gute, Edle, Schöne und Reine so wunderbar projizieren ließ, das man in der eigenen Welt so schmerzlich vermisste? Und: Wie stellen wir uns zu einem Begriff, der als gebieterisches rassistisches Attribut mit dem Konzept des Herrenmenschen verbunden die massenhafte, industriell organisierte Ermordung nichtgermanischer sogenannter „Untermenschen“ geistig vorbereiten und begleiten konnte? Stellt man die Frage nach der Existenzberechtigung des Begriffes „germanisch“ in dieser provokativen Zuspitzung, so verwundert es wirklich, warum er mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem schmählichen Ende des letzten „germanischen“ Großreiches noch immer recht unbefangen in der Alltags- und seit etwa fünf Jahrzehnten in der Regel etwas zurückhaltender und vorsichtiger in der Wissenschaftssprache verwendet wird. Warum aber kleben wir so an diesem Begriff? |70| Ehe ich am Schluss diese Frage noch einmal aufgreife und zu beantworten versuche, werde ich im Folgenden zunächst einmal eine Bestandsaufnahme des Germanenbegriffes in der Spätantike und im Frühmittelalter vornehmen, wobei ich mich auf die Zeitspanne vom 4. bis zum 11. Jahrhundert beschränken möchte. Ich werde aber schon aus Zeitgrün-

Anmerkung: Dieser für den vorliegenden Band nur geringfügig überarbeitete Vortrag ist erstmalig an folgendem Ort abgedruckt worden: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8), Wien 2004, S. 107–113. Die Vortragsform wurde bewusst beibehalten. Wegen des thesenhaften Plädoyer-Charakters dieses Beitrages sind die Anmerkungen auf das Notwendigste beschränkt, denn die Kernaussagen sollen nicht in einer Flut von Zitaten untergehen, die die Fülle der nahezu unermesslichen Literatur zu unserem Thema dokumentieren. https://doi.org/10.1515/9783110563061-012

308

Jörg Jarnut

den darauf verzichten, die Entwicklung des wissenschaftlichen Germanenbegriffes im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert darzustellen, zumal dies schon wiederholt geschehen ist.1 Gleich zu Beginn ist als allerwichtigste Beobachtung für die sogenannte Völkerwanderungszeit festzuhalten, dass wir keinerlei Aussagen von „Germanen“ im Sinne der germanischen Altertumskunde über sich selbst haben, sondern lediglich über einige Äußerungen griechisch oder lateinisch schreibender Historiographen verfügen, die aus der Perspektive der Fremdwahrnehmung den Germanenbegriff gebrauchen. Zunächst einmal ist voranzustellen, dass kein Germanenbegriff, der seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts gebraucht wird, zu verstehen ist, wenn man nicht den durch Caesar geprägten als Vorbild dafür in die Betrachtung mit einbezieht. Hier genügt der Hinweis, dass der Feldherr sein in seinem Bellum Gallicum beschriebenes Tun und Nicht-Tun u. a. damit begründet, dass er das von ihm eroberte Gallien scharf von der sogenannten Germania abgrenzt, indem er den Rhein als Grenze zwischen den beiden Ländern festsetzt und weiterhin die unter dem Oberbegriff „Germanen“ subsumierten verschiedenen Stämme als weit unzivilisierter und barbarischer hinstellt als die Gallier.2 Kurz und gut mit Wolfgang Maria Zeitler: „Die Gallier ein Volk, das es verdient hat und das es nötig hat römisch zu werden – die Germanen ein Volk, an dem jede Mühe hierfür vergeblich wäre“.3 Noch kürzer und noch besser Herwig Wolfram: „Ganz anders als die Gallier sind die Germanen“.4 Caesar hatte also – um eine beliebte Metapher des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu gebrauchen – mit Schwert und Feder einen Germanien- und Germanenbegriff geschaffen, der in den folgenden Jahrhunderten nie ganz in |71| Vergessenheit geriet. Auffällig ist nun aber, dass gerade in dem Zeitraum, in dem sich nach traditionellen Vorstellungen die schicksalhafteste Begegnung zwischen Germanen und NichtGermanen abspielte, also in der Völkerwanderungszeit, der verschiedene Völker oder Stämme umfassende Oberbegriff „Germanen“ als Ordnungskategorie für die in der Gegenwart agierenden germanischsprachigen Völker nicht mehr benützt wurde, während man ihn im Sinne Caesars gelegentlich noch verwendete, um die Bewohner Germani-

1 Zuletzt von Heinrich Beck, Art. Germanen, Germanische Altertumskunde, in: RGA 11 (1998), S. 420–438. Vgl. aber auch die kritischen Ausführungen von Matthias Springer, Zu den begrifflichen Grundlagen der Germanenforschung, in: Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 44 (1990), S. 169–177. 2 Vgl. z. B. Wolfgang Maria Zeitler, Zum Germanenbegriff Caesars: Der Germanenexkurs im sechsten Buch von Caesars Bellum Gallicum, in: Heinrich Beck (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht (RGA Ergänzungsband 1), Berlin/New York 1986, S. 41–52; Springer, Grundlagen (wie Anm. 1), S. 170–172; Herwig Wolfram, Die Germanen, München 1995, bes. S. 29–31; Allan A. Lund, Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese, Heidelberg 1998, bes. S. 36–57; Walter Pohl, Die Germanen (Enzyklopädie deutscher Geschichte 57), München 2000, bes. S. 12 f. u. S. 52 f. 3 Zeitler, Germanenbegriff (wie Anm. 2), S. 50. 4 Wolfram, Germanen (wie Anm. 2), S. 9.

Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes

309

ens in ferner Vergangenheit zu benennen. Wie vor allem Norbert Wagner und zuletzt Walter Pohl gezeigt haben, vertraten ihn aber bisweilen die Sammelbezeichnungen „Franken“ und „Alemannen“. Verbreiteter als ethnographischer Oberbegriff war der der „gotischen Völker“, zu denen nicht nur die Ost- und die Westgoten, sondern auch die Gepiden und die Vandalen gehörten. Wie weit von unseren durch das Denken der Romantik und durch die germanische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägten Germanenvorstellungen die der Völkerwanderungszeit entfernt waren, zeigt etwa, dass die in diesem Sinne sicher nicht germanischen Alanen zu den „gotischen Völkern“ gerechnet wurden. Diese „gotischen Völker“ aber waren nach den Vorstellungen völkerwanderungszeitlicher Historiographen wie Cassiodor, Jordanes und Prokop keine Germanen. Dieses Schicksal teilten sie bei Cassiodor und Jordanes mit den Franken und den für die germanische Altertumskunde so bedeutsamen Skandinaviern. Als wesentliche Beobachtung muss aber weiterhin festgehalten werden, dass seit Cassiodor und Jordanes die konkrete Nennung der einzelnen gentilen Großverbände die Regel und die Verwendung von klassifizierenden Oberbegriffen die Ausnahme war.5 Ein erstes Zwischenergebnis: In der Völkerwanderungszeit wurde der Oberbegriff „germanisch“ nicht mehr als ethnographisch-historisches Klassifizierungsinstrument benützt. Stattdessen wurden in der Regel die einzelnen gentes präzise benannt, wenn sie in Kontakt mit dem Imperium traten. Wie verhält es sich nun mit der Selbstwahrnehmung germanischsprachiger Großgruppen? Verstanden sich etwa die Goten des 4. Jahrhunderts als Bestand|72| teile einer größeren Einheit, vielleicht also auch der der „Germanen“? Generationen von germanophilen Historikern und Germanisten haben in den freilich lateinischen und griechischen Quellen verzweifelt, aber völlig vergeblich nach derartigen Zeugnissen gesucht. Es gibt sie einfach nicht. Immerhin berichtet Paulus Diaconus, dass die Taten König Alboins von den Bayern, den Sachsen et alios eiusdem linguae homines besungen wurden.6 Dieser Hinweis und einige andere Beobachtungen stützen die Annahme, dass die sprachliche Nähe zwischen den verschiedenen germanischsprachigen Völkern die Verbreitung

5 Die Aussagen dieses Abschnittes resümieren die Ergebnisse Norbert Wagners (Norbert Wagner, Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff, in: Beck (Hrsg.), Germanenprobleme (wie Anm. 2), S. 130–154) und vor allem Walter Pohls (Walter Pohl, Der Germanenbegriff vom 3. bis 8. Jahrhundert – Identifikationen und Abgrenzungen, in: Heinrich Beck/Dieter Geuenich/Heiko Steuer/Dietrich Hakelberg (Hrsg.), Zur Geschiche der Gleichung „germanisch – deutsch“ (RGA Ergänzungsband 34), Berlin/ New York 2004, S. 163–183, sowie Ders., Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter – eine forschungsgeschichtliche Perspektive, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsg.), Akkulturation – Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (RGA Ergänzungsband 41), Berlin/New York 2004), S. 18–34). – Ich danke meinem Freund und Kollegen Walter Pohl herzlich für die freundliche Bereitschaft, mir seine damals noch nicht publizierten Vortragstexte zur Auswertung zur Verfügung zu stellen. 6 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 27, hrsg. v. Ludwig Bethmann/Georg Waitz (MGH SS rerum Langob. et Ital.), Hannover 1878, S. 70.

310

Jörg Jarnut

derartiger Gesänge über gentile Grenzen hinaus ermöglichte und so eine supragentile Sphäre der Heldenlieder entstehen ließ. Und zweifellos müssen die germanischsprachigen Krieger im römischen oder byzantinischen Heer bemerkt haben, dass sie sich auch dann untereinander verständigen konnten, wenn sie nicht derselben gens angehörten, während dies im Normalfall weder mit Hunnen oder Berbern noch mit Arabern möglich war. Nun sind dies Überlegungen, die auf dem gesunden Menschenverstand beruhen, aber nicht in den Quellen belegt sind. Neuere Untersuchungen etwa von Walter Pohl zeigen überhaupt, dass die Bedeutung der Sprachen für die Großgruppenbildung und -identität leicht überschätzt wird, da gerade die Sprache seit Isidor von Sevilla als entscheidend für die Entstehung und die Struktur der einzelnen gens angesehen wird7, aber eben der konkreten einzelnen gens und nicht etwa der supragentiler Konstrukte wie dem der „Germanen“. Gegen ein germanisches Gemeinschaftsbewusstsein der germanischsprachigen Völker spricht vor allem die Tatsache, dass in fast allen Schlachten der Völkerwanderungszeit germanischsprachige Krieger gegen andere germanischsprachige Krieger kämpften, sei es im Dienste des Kaisers oder gegen das Imperium, sei es im Heer des einen oder des anderen gentilen Königs. Noch weniger passt es in das Bild einer sich selbst als Einheit bewussten germanischen Welt in der Völkerwanderungszeit, dass nach dem Zeugnis der gentilen Origines die Goten und Langobarden skandinavische Herkunft für sich reklamierten, die Franken hingegen – wie die Römer – trojanische und die Burgunder sogar römische.8 Auffällig ist auch, dass Cassiodor in seinen Variae, in denen u. a. verschiedene an germanischsprachige Könige gerichtete, aber natürlich auf Latein verfasste Briefe überliefert sind, niemals einen Oberbegriff „Germanen“ für diese Herrscher und ihre Völker verwendet hat. Wenn die spätantiken Quellen überhaupt einmal etwas von einem supragentilen Gemeinschaftsbewusstsein berichten, dann geht es nicht um die Solidarität in einer |73| imaginären Großgruppe „Germanen“, sondern es werden Elemente namhaft gemacht, die die „Barbaren“ verbinden, und zugleich wird dabei deren Gegensatz zum Imperium betont.9 Resümierend kann man also feststellen, dass man gegen die von Otto Brunner aufgestellte Forderung, quellengerechte Begriffe in der Geschichtswissenschaft zu verwenden,10 massiv verstößt, wenn man in der Völkerwanderungszeit von „Germanen“ spricht.

7 Vgl. Walter Pohl, Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity, in: Ders./Helmut Reimitz (Hrsg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (The Transformation of the Roman World 2), Leiden/Boston/Köln 1998, S. 17–69, hier S. 22–27. 8 Vgl. Wagner, Germanenbegriff (wie Anm. 5), S. 149–152. 9 Vgl. Wagner, Germanenbegriff (wie Anm. 5), bes. S. 143. 10 S. noch immer – trotz ihrer weltanschaulichen Problematik – die grundlegende Studie von Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: MlÖG Ergänzungsband 14, Wien 1939, S. 513–528, bes. S. 526–528.

Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes

311

Dies gilt in noch höherem Maße für das Frühmittelalter.11 Einerseits gibt es noch immer – vor allem aus dem kirchlichen Bereich – Zeugnisse dafür, dass die alte caesarische Scheidung zwischen der Gallia und der Germania als antikes Bildungsgut weiterlebt.12 Damit war der Terminus „Germania“ zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert geeignet, nacheinander die ostrheinischen Bestandteile des großfränkischen, des ostfränkischen und des ostfränkisch-deutschen Reiches zu bezeichnen. Diese geographische Bezeichnung stand folgerichtig dann meist in Opposition zu Gallia, Lotharingia, Francia, Italia oder Burgundia. Seit der späten Ottonenzeit und erst recht in der Salierzeit konnte „Germania“ besonders im Kontrast zu Italien die Bedeutung „deutscher Teil des Reiches“ zuwachsen. Im Sinne einer Unterscheidung zwischen dem westfränkisch-französischen und dem ostfränkisch-deutschen regnum war der Begriff zwar nicht häufig, wurde aber – wie insbesondere Margret Lugge gezeigt hat – sowohl innerhalb wie außerhalb des Reiches verwendet und zwar etwas häufiger im kirchlichen Bereich.13 Weit seltener als die Landesbezeichnung sind das davon abgeleitete Adjektiv germanicus oder gar das Substantiv Germanus belegt, die dann nicht etwa „germanisch“ und „Germane“ bedeuten, sondern „zur Germania, also den rechtsrheinischen Gebieten gehörig“ oder aber den Bewohner dieser Gebiete bezeichnen. Hludowicus Germanicus kann also weder als „Ludwig der Deutsche“, schon gar nicht als „Ludwig der Germanische“ und am allerwenigsten als „Ludwig der Germane“ übersetzt werden, sondern man müsste ihn – wie Dieter Geuenich zuletzt noch einmal betont hat – korrekterweise als „Ludwig, der über die rechtsrheinischen Gebiete der Francia |74| herrscht“, umschreiben.14 An den zeitgebundenen Übersetzungen seiner Qualitäten als Germanicus oder rex Germaniae ließe sich im Übrigen das ganze Elend einer zeitgeistbeherrschten Wissenschaftssprache demonstrieren. Germani konnte also im frühen Mittelalter durchaus eine in sich differenzierte Großgruppe bezeichnen, es war allerdings eine Großgruppe, die man seit dem 9. Jahrhundert häufiger mit den Begriffen theodiscus oder teutonicus belegte. Der Begriff „germanisch“ im Sinne der germanischen Altertumskunde des 19. und 20. Jahrhunderts ist im Frühmittelalter überhaupt nicht bezeugt. Wenn man von den in diesem Sinne „germanischen“ Völkern der Vergangenheit berichtete, nannte man sie konkret

11 Vgl. zum Folgenden vor allem die Untersuchung von Gerd Tellenbach, Zur Geschichte des mittelalterlichen Germanenbegriffes, in: JiG 7 (1975), S. 145–165. 12 Vgl. Margret Lugge, „Gallien“ und „Francia“ im Mittelalter. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen geographisch-historischer Terminologie und politischem Denken vom 6.–15. Jahrhundert (Bonner Historische Forschungen 15), Bonn 1960, bes. S. 37–51. 13 Vgl. Lugge, Gallia (wie Anm. 12), bes. S. 141–145. 14 S. Dieter Geuenich, Ludwig „der Deutsche“ und die Entstehung des ostfränkischen Reiches, in: Wolfgang Haubrichs (Hrsg.), Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters (RGA Ergänzungsband 22), Berlin/New York 2000, S. 313–329, hier S. 314–318. Vgl. jetzt aber auch Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), Darmstadt 2002, S. 1–5, der sich nach Erörterung der Beinamenproblematik für die Beibehaltung des traditionellen Epithetons „der Deutsche“ entschied.

312

Jörg Jarnut

beim Namen, sprach also von Vandalen und Goten, Langobarden und Franken. Wie fern den mittelalterlichen Menschen der antike und natürlich erst recht der moderne Begriff „germanisch“ war, wird auch daraus ersichtlich, dass ihn erst die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts einzudeutschen versuchten.15 Ziehen wir ein erstes Resümee: Obwohl der umfassende Germanenbegriff der germanischen Altertumswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts weder in der Völkerwanderungszeit noch im frühen Mittelalter belegt ist, wird er bis heute als Sammelbezeichnung für verschiedene gentile Großgruppen, die zumindest ursprünglich ein germanisches Idiom sprachen, verwendet. Es gibt während der acht Jahrhunderte, die wir untersucht haben, keine einzige überzeugende Quellennachricht, die erkennen ließe, dass sich die mit diesem Begriff Belegten selbst als Einheit begriffen oder doch wenigstens in der Wahrnehmung von Fremdbeobachtern als eine solche Einheit erschienen. Warum, und da komme ich noch einmal auf die anfangs gestellte Frage zurück, spielt der Germanenbegriff trotz dieses Sachverhaltes bis heute in der Wissenschaftssprache eine so große Rolle? Ich versuche nun als Historiker, diese Frage zu beantworten, und maße mir dabei keinesfalls an, sie für andere Wissenschaften wie z. B. die Philologien, die Archäologie oder die Rechtsgeschichte zu formulieren oder gar zu beantworten. Ich erlaube mir allerdings, daran zu erinnern, dass sie auch von berufenen Fachleuten aus diesen und anderen mit den „Germanen“ befassten Wissenschaften aufgeworfen wurde und wird. Also: Warum verwendet der Frühmittelalterhistoriker noch immer den Germanenbegriff? Mir scheinen zwei Hauptgründe dafür vorzuliegen, die ich jetzt an Beispielen verdeutlichen will. Wenn ich die Ursprünge des vandali|75|schen Königtums untersuche, so finde ich fast nichts darüber in den zeitgenössischen Quellen. Betrachte ich die Vandalen des 4. und 5. Jahrhunderts aber als „Germanen“, dann scheinen die berühmten dreizehn Wörter des Tacitus über die Funktion und Stellung des germanischen Königtums16 wenigstens ansatzweise meine Frage zu beantworten. Stellt sich mir das Problem der Existenz und Struktur der thüringischen Gefolgschaft, so erfahre ich wiederum fast nichts darüber aus den Quellen, die über die Thüringer berichten. Sind diese für mich aber zugleich „Germanen“, dann hilft mir einmal mehr Tacitus mit seiner Germania17. Nun ein drittes und letztes Beispiel: Die Quellen bezeugen trotz des langen Heruler-Exkurses Prokops in seinen „Gotenkriegen“ fast nichts über die vorchristliche Religion dieses Volkes.18 Sind die Heruler für mich aber Germanen, dann kann ich mir etwa mit Hilfe berühmter germanischer Religionsgeschichten wie der von

15 Vgl. Tellenbach, Geschichte (wie Anm. 11), S. 151. 16 Tacitus, Germania 7, hrsg. v. Alf Önnerfors (Biblioteca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana), Stuttgart 1983, S. 6: Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt. nec regibus infinita aut libera potestas …. 17 Tacitus, Germania 13 f. (wie Anm. 16), S. 10 f. 18 Prokop, Gotenkriege 11,14 (VI, 14), hrsg. u. übers, v. Otto Veh, München 1966, S. 310–318.

Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes

313

Wilhelm Grönbech19 wenigstens eine annähernde Vorstellung davon machen. Wissenschaftlich gesehen bietet die Konstituierung des „Germanischen“ als historische Kategorie also mindestens zwei Vorteile: Sie verlängert die geschichtliche Perspektive bis in die Antike und darüber hinaus, ist also nützlich für die noch immer mit großem Engagement betriebene Erforschung der Anfänge bzw. die Suche nach den Ursprüngen. Zugleich erweitert sie scheinbar unser Wissen über jedes germanischsprachige Volk dadurch ungemein, dass viele oder alle Erkenntnisse, die wir über die als Einheit betrachteten „Germanen“ besitzen, nun auf dieses Volk übertragen werden können. Ein weiterer Grund, bis heute von „Germanen“ in der Völkerwanderungszeit und im Frühmittelalter zu sprechen, liegt sicher nicht zuletzt darin, dass in Werken, die auch für ein breiteres Publikum bestimmt sind, die Verwendung dieses Begriffes dem Leser scheinbar Vertrautes, mit Vorkenntnissen Konnotiertes und gegebenenfalls emotional Bewegendes suggeriert und er damit zum Lesen motiviert wird. Wenn jemand den Namen „Gepiden“ noch nicht einmal gehört hat, wird er ein Buch über dieses Volk mit dem Titel „Geschichte der Gepiden“ kaum interessant finden. Wenn man aber dieser Volksbezeichnung noch ein „germanisch“ hinzufügt, werden viele von den Germanen Faszinierte dieses Buch lesen wollen. Trotz dieser wirklichen oder scheinbaren Vorzüge des Germanenbegriffes scheint es mir absolut notwendig, ihn zumindest in der Geschichtswissenschaft für die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter abzuschaffen. Bisher habe ich dies damit begründet, dass er für diese Epochen anachronistisch und |76| irreführend ist, weil er in den Quellen entweder gar nicht oder aber in einem völlig anderen Sinne als in der modernen Geschichtsforschung verwendet wird. Mindestens ebenso gewichtig ist das Argument, dass zentrale Elemente der bis 1945 vorherrschenden Germanenauffassungen in der Nachkriegszeit infrage gestellt oder widerlegt worden sind. Ich setze die Kenntnis dieser nun schon selber klassisch gewordenen Studien voraus und gebe nur ganz wenige Hinweise. Die Vorstellung von der ethnischen Einheit der Germanen zerstörten Reinhard Wenskus, Herwig Wolfram und seine Schüler.20 Schlüsselbegriffe der historischen Germanenforschung wie Treue, Sippe, Gefolgschaft oder Sakralkönigtum wurden von vielen Seiten problematisiert und demontiert. Ich nenne stellvertretend für viele andere nur Felix Genzmer, Karl Kroeschell und František Graus.21 All jenen Konstrukten

19 Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen (dän. 1909–12; dt. 2 Bde.), ND Darmstadt 11 1991. 20 Vgl. etwa Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln/Wien 21977; Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Siedler Deutsche Geschichte 1), Berlin 1990; Ders., Germanen (wie Anm. 2); Walter Pohl, Germanen (wie Anm. 2); Ders., Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart/ Berlin/Köln 2002. 21 Felix Genzmer, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde, in: ZRG/GA 67 (1950), S. 34–49; Karl Kroeschell, Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte, in: Studi medievali ser. 3, 10 (1969),

314

Jörg Jarnut

ist gemeinsam, dass sie das erst zu Beweisende, d. h. die Einheit der Germanen, bereits voraussetzen. Zudem beruhen sie auf einer nur als abenteuerlich zu charakterisierenden Melange aus Quellenzeugnissen, die in anderthalb Jahrtausenden zwischen Nordafrika und Skandinavien entstanden sind. Ist es denn nicht wirklich abenteuerlich, wenn man aus skandinavischen Dichtungen des 12. oder 13. Jahrhunderts Aussagen über die religiösen Verhältnisse im 6. oder 7. Jahrhundert bei in Pannonien oder in Süditalien siedelnden germanischsprachigen Völkern ableitet? Und: Was ist an einem in Le Mans im 8. Jahrhundert lebenden fränkischen Priester oder an einem um 700 agierenden westgotischen Aristokraten aus Barcelona noch germanisch? Jedenfalls in der Regel nicht einmal mehr die Sprache. Es sind also vor allem innerwissenschaftliche Argumente, die für die Abschaffung des Begriffes „germanisch“ für das Frühmittelalter sprechen. Vor dem Hintergrund vielfältiger historischer Erfahrungen mit der politischen Inanspruchnahme dieses Begriffes und den daraus resultierenden Folgen ist es aber auch eine Frage an die Historiker des 21. Jahrhunderts, ob sie ihn, der von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein auf Spaltung, Polarisierung, Ab- und Ausgrenzung ausgerichtet war und ist, in einer Welt der sich verfestigenden europäischen Bindungen, die zugleich der Globalisierung unterliegt, weiterhin verwenden wollen, wissend, welch gefährliches Potential in ihm enthalten ist. Nach meiner Überzeugung ist es für den Historiker in jedem Fall vorteilhafter, |77| wenn er und die Konsumenten seiner Werke sich einer Begrifflichkeit bedienen, die keine Pseudo-Nähe zum Forschungsgegenstand suggeriert, wie dies der umfassende Germanenbegriff nun einmal tut. Wir können eben nicht in den Triumphschrei des elsässischen Humanisten Beatus Rhenanus einstimmen: Unser sind der Goten, Vandalen und Franken Triumphe.22 Wie sollen wir dann aber die germanischsprachigen Großgruppen der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters bezeichnen? Ich denke es bietet sich an, sie ebenso konkret zu benennen, wie sie in den Quellen bezeichnet werden, etwa als Vandalen oder Langobarden, Franken oder Goten. Wenn es angebracht oder notwendig ist, die einzelnen gentes mit einem Sammelbegriff zu belegen, was man im Übrigen nur sehr vorsichtig und zurückhaltend tun sollte, wäre das Adjektiv „germanischsprachig“ brauchbar und wissenschaftlich vertretbar. Gelegentlich könnte man für die Völkerwanderungszeit auch das Wort „barbarisch“ verwenden, das zwar den Nicht-Fachleuten erklärt werden müsste, das aber den Vorzug bietet, kaum identitätsstiftend zu sein und zudem nichtgermanischsprachige Großgruppen einzuschließen. Das Deutsche bietet zudem die Möglichkeit das historische Kunstwort „gentil“ als Sammelbezeichnung für derartige Großgruppen verwenden zu können, das aber ähnlich wie „barbarisch“ erläutert werden müsste, und das

S. 465–489; František Graus, Herrschaft und Treue. Betrachtungen zur Lehre von der germanischen Kontinuität, in: Historica 12 (1966), S. 5–44. 22 Zitiert nach Wolfram, Reich (wie Anm. 20), S. 35.

Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes

315

ebenso wie jenes keine Pseudo-Nähe zu den so Benannten herstellt. Wie man sieht, gibt es sprachliche Alternativen zu dem problematischen Begriff des „Germanischen“, die diesen ersetzen können. Wäge ich zum Schluss noch einmal alle Argumente für oder wider die Verwendung des Begriffes „germanisch“ für die historische Frühmittelalterforschung ab, so scheint mir, dass die Aufgabe dieses überholten Begriffes ihr einen hohen Gewinn verschaffen kann. Der dadurch herbeigeführte Verlust an Nähe, Vertrautheit und Identitätsstiftung erbringt nämlich einen beträchtlichen Zuwachs an Distanz und schafft so die Voraussetzungen für eine größere Objektivität. Schon die kritische Überprüfung des historischen Zentralbegriffes „germanisch“ hat seit nunmehr fünf Jahrzehnten immer neue zukunftsweisende Forschungsanstöße ausgelöst. Sollte dann die konsequente Abschaffung dieses obsolet gewordenen Begriffes nicht noch größere Forschungsenergien freisetzen und damit noch weiter reichende positive Folgen haben können?

316

Jörg Jarnut

Kommentar Jörg Jarnut wurde 1942 in Weimar geboren, studierte Geschichte und wurde in Bonn von Eugen Ewig promoviert mit einer Arbeit über die Sozialgeschichte des Langobardenreichs in Italien.1 Jarnut blieb Italiens Geschichte und den reichen Urkundenbeständen der Halbinsel auch in seiner weiteren wissenschaftlichen Karriere verbunden: Für die Habilitationsschrift widmete er sich einer umfassenden Darstellung Bergamos, die Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte miteinander verband.2 1983 wurde Jarnut nach Paderborn berufen, wo er bis 2007 mittelalterliche Geschichte lehrte. Er betrieb über lange Jahre das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Nomen et Gens“, das ursprünglich nach dem Zusammenhang zwischen Namengebung und ethnischer Zugehörigkeit zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert gefragt hatte,3 sich aber rasch zu einem großen Unternehmen der prosopographischen Forschung und der methodischen Erschließung von Personennamen als historischen Quellen ausweitete.4 Die Frühmittelalterforschung hat Jörg Jarnut nicht zuletzt durch zahlreiche internationale Tagungen zur früh- und hochmittelalterlichen Geschichte beeinflusst, die er in Paderborn organisierte. Ein erstes Mal im Jahr 2004,5 dann noch einmal – in dem hier wiederabgedruckten Essay – im Jahr 2006 plädierte Jarnut dafür, das „Germanische“ schlichtweg als analytischen wissenschaftlichen Begriff der Geschichtswissenschaft abzuschaffen. Er zog damit im Grunde nur mutig die Konsequenz aus dem Gang der Spätantike- und Frühmittelalterforschung. Es ist mittlerweile unstrittig, dass Caesar die Kategorie des „Germanischen“ prominent gemacht hat, um zu begründen, warum er seine Eroberungen von Gallien aus nicht noch über den Rhein hinaus fortgeführt hatte. Als historische Reminiszenz blieb das Wort dann zwar auch bei gebildeten Autoren der Spätantike bekannt. Es diente jedoch schon zur Zeit der Völkerwanderung nicht mehr als ethnographischer Sammelbegriff für alle jene Gruppen, die im Sinne der ‚Germanischen Altertumskunde‘

1 Jörg Jarnut, Prosopographische und sozialgeschichtliche Studien zum Langobardenreich in Italien 568–774. Bonner historische Forschungen 38 (Bonn 1972). 2 Jörg Jarnut, Bergamo 568–1098. Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte einer lombardischen Stadt im Mittelalter. Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 67 (Wiesbaden 1979). 3 Vgl. programmatisch: Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hrsg. Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 16 (Berlin u. a. 1997); Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuchs des Frühmittelalters, hrsg. dies. Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 32 (Berlin 2002). 4 Vgl. www.neg.ub.uni-tuebingen.de (eingesehen am 25.2.2018). 5 Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hrsg. Walter Pohl. Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 322 (Wien 2004) 107–113.

Kommentar

317

der Neuzeit als „germanische Stämme“ zu bezeichnen wären: Er wurde insgesamt eher selten gebraucht, schon gar nicht aber als übergreifende Kategorie, die Goten, Vandalen, Burgunder, Alemannen usw. zusammengefasst hätte. Auch gibt es kein einziges Zeugnis der Spätantike oder des Frühmittelalters, das handfest beweisen könnte, dass sich alle jene Gruppen, die die ‚Germanische Altertumskunde‘ der Neuzeit als ihren Gegenstand definierte, jemals als irgendwie zusammengehörig oder auch nur miteinander verwandt begriffen hätten. So kann man sagen: Zwar existierten im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung zumindest im gelehrten, lateinischen Diskurs die Wörter Germani, germanicus, Germaniae; aber der Germanenbegriff der ‚Germanischen Altertumskunde‘ existierte mitnichten. In Jarnuts Augen verwenden Historiker den Begriff eigentlich nur noch aus zwei Gründen: Zum einen ist der Germanenbegriff gewissermaßen ein Verkaufsargument; er hilft Historikern, ihre Spezialforschung publikumswirksam in einem weiten Feld zu verorten, das auch außerhalb des Elfenbeinturms der Wissenschaft bekannt ist und auf Interesse stößt. Zum anderen erlaubt es der Germanenbegriff, durch Analogieschlüsse die weit klaffenden Lücken in jener kargen schriftlichen Dokumentation zumindest etwas zu schließen, die für einzelne gentes vorliegt: Es lässt sich ein anschaulicheres Bild von Thüringern oder Herulern entwerfen, wenn wir Quellenlücken dadurch schließen, dass wir allgemeine Annahmen über „die“ Germanen auf eine einzelne konkrete, aber schlecht dokumentierte Gruppe übertragen. Genau das aber ist wissenschaftlich gefährlich: Denn die Forschung hat mittlerweile so gut wie alle Annahmen über ein „germanisches Wesen“, also allen Germanen eignende Wesensarten widerlegt. „All jenen Konstrukten“, so Jarnut, „ist gemeinsam, dass sie das erst zu Beweisende, d. h. die Einheit der Germanen, bereits voraussetzen“6. Zu alledem kommt nach Jarnut aber auch noch ein weiteres, außerwissenschaftliches Argument hinzu: Anders als im 19. Jahrhundert, anders als zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, anders auch noch als in der Nachkriegszeit sind Gruppen, die ursprünglich einmal eine von Sprachwissenschaftlern als „germanisch“ klassifizierte Sprache sprachen, für uns heute nicht mehr identitätsbildend. Ihre Geschichte bietet nichts, das wir in einem politisch und wirtschaftlich zusammenrückenden Europa oder im Zuge der Globalisierung noch als unmittelbar vorbildlich für unsere Gegenwart empfinden – oder gar in der Praxis nachzuahmen versuchen könnten. Der Germanenbegriff ist nicht nur seines wissenschaftlichen Gehalts verlustig, er taugt auch nicht mehr zur historischen Sinnstiftung für die Gegenwart.

6 Jarnut, oben, 313 f.

318

Jörg Jarnut

So plädiert Jarnut am Ende dafür, statt nach „den Germanen“ besser nach konkreten einzelnen, ethnisch denominierten Gruppen der Spätantike und des Frühmittelalters zu fragen – also nach den Vandalen, Burgundern, Herulern, Goten usw., genauso aber auch nach den Hunnen, Awaren, Alanen (die aus Sicht der ‚Germanischen Altertumskunde‘ gerade keine Germanen waren). St. P.

Hubert Fehr

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes1 Einleitung Die sogenannten Reihengräberfelder des frühen Mittelalters sind zweifellos eine der klassischen Quellengattungen der Frühgeschichte Mittel- und Westeuropas. Sie finden sich in einer weiten Zone an der ehemaligen Peripherie des Römischen Reiches vom nördlichen Frankreich über West- und Süddeutschland bis nach Oberösterreich. Auffallend sind vor allem ihre – insgesamt betrachtet – geradezu verschwenderischen Grabausstattungen. Bemerkenswert ist dabei weniger die Fülle der Beigaben in den reichen Prunkgräbern der Epoche, die durchaus in anderen Perioden der europäischen Ur- und Frühgeschichte übertroffen wird, als vielmehr die beträchtliche gesellschaftliche Breite des Phänomens. Durch wertvolle Grabbeigaben zeichnete sich nicht nur eine Elite aus, sondern weite Teile der Bevölkerung betrieben hierfür erheblichen Aufwand. Über acht bis zehn Generationen hinweg waren erstaunlich viele Menschen bereit, für eine standesgemäße Bestattung der Angehörigen bedeutende Werte zu opfern, um auf diese Weise bei der Bestattungsfeier ihrem sozialen Umfeld die eigene gesellschaftliche Stellung vor Augen zu führen. Das typische Ausstattungsmuster der Reihengräberfelder wurde bereits vielfach beschrieben und braucht hier nur angedeutet werden: Es folgt in der Regel einem verhältnismäßig strikten geschlechtsspezifischen Muster. Männer erhielten nicht selten Waffen mit ins Grab. Neben dem zweischneidigen Langschwert, der Spatha, und dem einschneidigen Hiebschwert, dem |68| Sax, finden sich Lanzen und Beilwaffen. Abgesehen von Schilden sind weitere Teile der Schutzbewaffnung, besonders Panzer und Helme, selten; etwas häufiger ist Reitzubehör. Unter den Kleidungsbestandteilen der Männer sind die Gürtel hervorzuheben, die man vor allem in der jüngeren Merowingerzeit mit aufwändigen Beschlägen verzierte. Zur Ausstattung der Frauen gehörte regelmäßig Perlenschmuck, Ohrringe, Gürtelschließen, nicht selten kostbar gearbeitete Fibeln sowie sogenannte Gürtelgehänge und Wadenbinden. Beiden Geschlechtern wurden darüber hinaus in regional unterschiedlicher Häufigkeit Speise- und Trankbeigaben mit ins Grab gegeben, wobei

1 Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine leicht erweiterte und mit Anmerkungen versehene Version des in Freiburg gehaltenen Vortrags. Er fasst thesenhaft einige Ergebnisse der noch unpublizierten Dissertation des Autors zusammen: Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschichte, phil. Diss. (Freiburg 2003). https://doi.org/10.1515/9783110563061-013

320

Hubert Fehr

Gefäße aus Glas und Metall wohlhabenden Personengruppen vorbehalten waren. Nur sehr fragmentarisch blieben in der Regel organische Ausstattungsteile erhalten, etwa Textilien, aber auch Möbel, Gefäße und sogar Musikinstrumente aus Holz. Über den relativen Beigabenreichtum hinaus sind zwei weitere Merkmale charakteristisch für die Reihengräberfelder: einerseits die kanonische West-Ost-Ausrichtung der Grabgruben sowie die unverbrannte Beisetzung der Toten. Kein notwendiges Kennzeichen stellt dagegen die namengebende Reihung der Gräber dar; der Begriff „Reihengräberfeld“ ist forschungsgeschichtlich bedingt und wird lediglich aus pragmatischen Gründen im Sinne eines Terminus technicus beibehalten.2 Im Hinblick auf die hier behandelte Fragestellung ist ferner daran zu erinnern, dass es sich bei den Reihengräberfeldern um einen Idealtypus (im Sinne Max Webers) handelt und nicht etwa um ein eindeutig abgrenzbares archäologisches Phänomen. Dieser Idealtypus ist zwar hervorragend geeignet, eine große Zahl von Friedhöfen im Gebiet des frühmittelalterlichen Merowingerreichs zu beschreiben, was auch seine große Popularität in der archäologischen Fachsprache erklärt; es ist aber nicht möglich, ihn eindeutig von zeitgleichen ähnlichen Friedhofstypen abzugrenzen, besonders den weiteren Körpergräberfeldern in den ehemaligen römischen Nordwest- und Donauprovinzen. Tatsächlich zeigt sich hier ein Kontinuum von regional, lokal, sozial, alter- und geschlechtsspezifisch variierenden Bestattungsformen mit fließenden Übergängen. Jeder Versuch, in diesem Kontinuum scharfe Trennlinien ziehen zu wollen, hieße den Idealtypus zu überfordern, und muss zwangsläufig weitgehend willkürlich bleiben. Entsprechende Versuche wurden nicht vom archäologischen Befund inspiriert, sondern beruhen in erster Linie auf der historischen Prämisse eines grundlegenden kulturellen Antagonismus zwischen Römern und Germanen. |69|

Konträre Positionen zu den Anfängen der Reihengräberfelder Während die typologische und chronologische Ordnung des enormen Materials, das aus Zehntausenden von Reihengräbern geborgen wurde, inzwischen weit fortgeschritten ist, scheiden sich bei der Frage, welche Bevölkerungsgruppen sie hinterlassen haben, bereits seit Langem die Geister. Etwas vereinfacht gesprochen, stehen sich hier seit vielen Jahrzehnten zwei konträre Auffassungen gegenüber.3

2 Hermann H. Ament, s. v. Reihengräberfriedhöfe. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 24 (Berlin, New York 2003) 362–365, bes. 362; vgl. ders., s. v. Franken § Archäologisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 9 (Berlin, New York 1995) 387–414, hier 393 f. 3 Vgl. hierzu bereits Hubert Fehr, Volkstum as Paradigm: Germanic People and Gallo-Romans in Early Medieval Archaeolgy since the 1930s. In: On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

321

Aus forschungsgeschichtlicher Perspektive könnte man diese als eine traditionelle mitteleuropäische Position einerseits sowie eine ursprünglich westeuropäische Position andererseits bezeichnen. Die archäologische Forschung des deutschsprachigen Raums in Mitteleuropa interpretierte die Reihengräberfelder lange Zeit ausgehend von der These eines strikten germanisch-römischen Dualismus, der unter anderem sowohl die Sachkultur geprägt habe als auch Bauformen, die Kleidung der Menschen und ihre Bestattungspraktiken. Dieser Position zufolge stellten die Reihengräberfelder mit typischen Grabausstattungen im Wesentlichen ein germanisches Phänomen dar. Durch Männergräber mit Hiebwaffen und Bestattungen von Frauen mit mehrteiliger Fibelausstattung, insbesondere der frühmerowingischen Vierfibelkleidung, würden diese Gräberfelder als „germanisch“ ausgewiesen. Davon zu unterscheiden seien die Bestattungen der Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung, die ungeachtet ihrer kulturellen Heterogenität und unterschiedlichen Herkunft von der deutschsprachigen Forschung traditionell unter der problematischen Bezeichnung Romanen zusammengefasst werden.4 Im archäologischen Befund seien diese vor allem negativ zu fassen, d. h. durch das Fehlen der wichtigsten statusindizierenden Beigabengruppen in den Gräbern. Demnach habe die „romanische“ Bevölkerung ihren Toten niemals Hiebwaffen, besonders Spathas, mitgegeben, wie auch ihre Frauen keine Kleidung mit reichem Fibel|70|schmuck, insbesondere Bügelfibeln, trugen.5 Ausgehend von diesem Modell wird, neben den gerin the Early Middle Ages, ed. Andrew Gillett. Studies in the Early Middle Ages 4 (Turnhout 2002) 177–200, hier 198 f.; ders., Die archäologische Westforschung und das Problem der germanischen Besiedlung Galliens. In: Historische West- und Ostforschung in Zentraleuropa zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Verflechtung und Vergleich, hrsg. Matthias Middell/Ulrike Sommer. Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 5 (Leipzig 2004) 29–53, bes. 32 f.; 49–53; ausführlich: Fehr, Germanen und Romanen (Anm. 1). 4 Vgl. etwa Volker Bierbrauer, s. v. Romanen. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 25 (Berlin, New York 2003) 210–242, bes. 211. 5 Vgl. etwa Hermann Ament, Franken und Romanen im Merowingerreich als archäologisches Forschungsproblem. Bonner Jahrbücher 178, 1978, 377–394; ders., Francs et Romans entre Rhin et Seine au 6ème et 7ème siècle. Bulletin de Liaison, Association française d’Archéologie mérovingienne 2, 1980, 59–85; ders., Romanen an Rhein und Mosel. Archäologische Bemühungen um ihren Nachweis. Bonner Jahrbücher 192, 1992, 261–271; Volker Bierbrauer, Romanen im fränkischen Siedelgebiet. In: Die Franken. Wegbereiter Europas (Mainz 1996) 110–120; Alexander Koch, Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich 1–2. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 41 (Mainz 1998) bes. Band 2, 565–579; Ursula Koch, Stätten der Totenruhe. Grabformen und Bestattungssitten der Franken. In: Die Franken. Wegbereiter Europas (Mainz 1996) 723–737; Frauke Stein, Franken und Romanen in Lothringen. In: Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie. Festschrift Joachim Werner, hrsg. Georg Kossack/Thilo Ulbert (München 1974) 579–589; dies., Die Bevölkerung des Saar-Mosel-Raumes am Übergang von der Antike zum Mittelalter. Überlegungen zum Kontinuitätsproblem aus archäologischer Sicht. Archaeologia Mosellana 1, 1989, 89–195; dies., Kulturelle Ausgleichsprozesse zwischen Franken und Romanen im 7. Jahrhundert. Eine archäologische Untersuchung zu den Verhaltensweisen der Bestattungsge-

322

Hubert Fehr

manischen Hauptakteuren der Geschichte, der fortlebenden römischen Bevölkerung im Hauptverbreitungsgebiet der Reihengräberfelder die Rolle einer „vergessenen Minderheit“ zugewiesen, im gesamten Merowingerreich allenfalls die einer „schweigenden Mehrheit“.6 Seine wichtigste Wurzel hat dieses Modell in den Arbeiten des Münchner Archäologen Hans Zeiß aus den 1930er und frühen 1940er Jahren.7 In jüngerer Zeit wurde zwar versucht, es begrifflich zu modernisieren, indem man die Existenz zweier antagonistischer „Totenrituale“8 bzw. „Kulturmodelle“9 konstatierte; dabei handelt es sich aber im Wesentlichen lediglich um Neubenennungen der von Zeiss aufgestellten Kriterien, ohne diese nochmals unabhängig davon plausibel zu begründen. Hervorzuheben ist vor allem die Tatsache, dass die beiden „Rituale“ bzw. „Modelle“ keineswegs induktiv aus dem archäologischen Befund hergeleitet wurden. Vielmehr setzte man sie in den betreffenden Arbeiten – ausgehend von einem entsprechenden Geschichtsbild – von Anfang an als modellhafte Prämisse voraus. |71| Überzeugt von ihrem grundsätzlich germanischen Charakter sah die Forschung des deutschsprachigen Raums die typischen beigabenführenden Reihengräberfelder als Hinterlassenschaften bestimmter frühmittelalterlicher gentes an, besonders der Franken, Alemannen und Bajuwaren. Obwohl die schriftlichen Quellen genau genommen bei keiner dieser Gruppen eine Einwanderung in das Reihengräbergebiet überliefern, ging man davon aus, sie hätten sich während der Völkerwanderungszeit auf ehemals römischem Boden niedergelassen, und zwar entweder im Zuge einer sogenannten „Landnahme“10 zu Beginn der Merowingerzeit oder aber durch einen länger andauernden Infiltrationsprozess. In der westeuropäischen Forschung wird diese Sichtweise nun seit vielen Jahrzehnten immer wieder grundsätzlich bestritten, wobei sich die Debatte an der Interpretation der Gräberfelder mit Waffen und Fibeln im heutigen Frankreich und Belgien entzündete. Im Gegensatz zur mitteleuropäischen Reihengräberforschung, die diese

meinschaft von Rency/Renzig bei Audun-le-Tiche in Lothringen. In: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. Dieter Hägermann. Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 41 (Berlin, New York 2004) 274–310, bes. 275 f. 6 Arno Rettner, Eine vergessene Minderheit. In: Die Völkerwanderung. Europa zwischen Antike und Mittelalter, hrsg. Matthias Knaut/Dieter Quast. Archäologie in Deutschland, Sonderheft 2005 (Stuttgart 2005) 67–71. 7 Vgl. dazu ausführlich: Hubert Fehr, Hans Zeiss, Joachim Werner und die archäologischen Forschungen zur Merowingerzeit. In: Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1990 und 1995, hrsg. Heiko Steuer. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 29 (Berlin, New York 2001) 311–415, bes. 370–390. 8 Stein, Bevölkerung (Anm. 5) 162 f.; dies., Ausgleichsprozesse (Anm. 5) bes. 274 mit Anm. 1. 9 Bierbrauer, Romanen (Anm. 5) 110–113. 10 Zu diesem gleichfalls äußerst problematischen Begriff vgl. Richard Corradini, s. v. Landnahme. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 17 (Berlin, New York 2004) 602–611.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

323

Friedhöfe im Wesentlichen Angehörigen einer „germanisch-fränkischen Nationalität“11 zuschreibt, vertraten Gelehrte in Belgien,12 Frankreich13 und in den letzten Jahren verstärkt auch in Großbritannien14 und Nordamerika15 wiederholt die Ansicht, dieses Phä|72| nomen sei ethnisch nicht gebunden und deshalb nicht als Niederschlag einer Ansiedlung germanischer Gruppen zu erklären. Zur Formulierung eines umfassenden alternativen Modells zur Entstehung des Reihengräberhorizontes kam es bislang jedoch nicht, was sicher ein Hauptgrund war, weshalb sich die teils nur allzu berechtigte Kritik nicht umfassend durchsetzte bzw. die traditionelle „germanische“ Interpretation trotz dürftiger Begründung weiter vertreten wurde. Ungeachtet einiger sehr pointiert vorgetragener Stellungnahmen entwickelte sich aus diesem grundlegenden Dissens über den ethnischen Charakter der Reihengräberfelder bemerkenswerterweise keine Diskussion, die der fachlichen Bedeutung der Problematik angemessen wäre. Vielmehr stehen sich die konträren Positionen seit Langem nahezu unverändert gegenüber. Besonders in der deutschsprachigen Forschung fällt die Tendenz auf, die gegenteilige Meinung zu marginalisieren oder ganz zu verdrängen.16 Eine Ausnahme bildete etwa Hermann Aments Stichwort

11 Ament, Franken (Anm. 5) 395. 12 Vgl. Sigfried De Laet/Jan Dhondt/Jacques Nenquin, Les Laeti du Namurois et l’origine de la Civilisation mérovingienne. In: Études d’Histoire et d’Archéologie Namuroise dédiées à Ferdinand Courtoy 1 (Namur 1952) 149–172; Sigfried De Laet, s. v. Belgien A. Vorgeschichte, B. Frühgeschichte. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 2 (Berlin, New York 1976) 213–232, bes. 226. 13 Vgl. Patrick Périn, A propos des publications étrangères récentes concernant le peuplement en Gaule à l’époque mérovingienne. La „question franque“. Francia 8, 1980, 537–552; Françoise Vallet, Regards critiques sur les témoins archéologiques des Francs en Gaule du Nord à l’époque de Childeric et de Clovis. Antiquités Nationales 29, 1997, 219–244. 14 Vgl. Edward James, Cemeteries and the Problem of Frankish Settlement in Gaul. In: Names, Words, and Graves. Early Medieval Settlement. Lectures delivered in the University of Leeds, May 1978, ed. Peter Sawyer (Leeds 1979) 55–89; Guy Halsall, The origins of the Reihengräberzivilisation. Forty years on. In: Fifth-century Gaul. A crisis of identity?, ed. John Drinkwater/Hugh Elton (Cambridge 1992) 196–207; ders., Archaeology and the Late Roman Frontier in Northern Gaul. The socalled „Föderatengräber“ reconsidered. In: Grenze und Differenz im frühen Mittelalter, hrsg. Walter Pohl/Helmut Reimitz. Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, 287 (Wien 2000) 167–180. 15 Bailey K. Young, Le problème franc et l’apport des pratiques funéraires (IIIᵉ–Vᵉ siècles). Bulletin de Liaison, Association française d’Archéologie mérovingienne 3, 1980, 4–18; Bonnie Effros, Merovingian Mortuary Archaeology and the Making of the Early Middle Ages (Berkeley 2003) bes. 193–196. 16 Eine etwas selektive Auseinandersetzung mit der Argumentation Périns (Périn, Publications [Anm. 13]) findet sich bei Stein, Bevölkerungsverhältnisse (Anm. 5) bes. 161–163, eine ebenfalls selektive Forschungsgeschichte bei Stein, Ausgleichsprozesse (Anm. 5) 277–284. – Positiv hervorzuheben ist allerdings Steins Zurückweisung der problematischen anthropologischen Argumente, die in der Kritik Périns eine große Bedeutung besaßen: Stein, Bevölkerungsverhältnisse (Anm. 5) 161 mit Anm. 455. – Zur Kritik an dieser Argumentationsweise, die in der französischen Forschung während der 1980er Jahre recht verbreitet war, vgl. Effros, Mortuary Archaeology (Anm. 15) 106 f.; 147–149.

324

Hubert Fehr

„Franken“ im Lexikon des Mittelalters, das die gegensätzlichen Standpunkte exemplarisch aufzeigt: Ament argumentiert hier, dass sich anhand des Vorkommens von Waffen und Kleidung mit mehreren Fibeln das fränkische Siedlungsgebiet in Frankreich klar abgrenzen ließe. Dem gegenüber bestreite aber insbesondere die französische Forschung sowohl die ethnische Aussagekraft der genannten Kriterien als auch den daraus folgenden Schluss, die beigabenführenden Reihengräberfelder seien der Niederschlag einer massiven Zuwanderung aus der Germania.17

Bemerkungen zur Forschungsgeschichte Die forschungsgeschichtlichen Wurzeln dieser konträren Positionen reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Ihre Entstehung und Entwicklung wurde entscheidend von den sich wandelnden politischen Rahmenbedin|73|gungen geprägt. Vor allem zwei Faktoren spiegeln sich in den archäologischen Interpretationen wider: Einerseits die jeweilige historische Rolle, die den frühmittelalterlichen gentes innerhalb der eigenen Nationalgeschichte zugeschrieben wurde, sowie andererseits das politische Verhältnis zu den Nachbarstaaten. Zumindest mittelbar lassen sich an den verschiedenen Interpretationen des Reihengräberhorizontes die Wandlungen des politischen Verhältnisses zwischen Deutschland und seinen westeuropäischen Nachbarstaaten in den vergangenen 150 Jahren ablesen, und zwar einschließlich der besonders düsteren Kapitel zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die betreffenden Entwicklungen werden an anderer Stelle ausführlich dargestellt,18 weshalb hier einige Kernpunkte genügen, die meines Erachtens den Schlüssel zum Verständnis des geschilderten Dissenses bilden: Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich die Frühmittelalterarchäologie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs allmählich zu einem Forschungsschwerpunkt, im Gefolge der akademischen Institutionalisierung des Fachs nach 1933 zudem zu einer eigenständigen Subdisziplin der Ur- und Frühgeschichtswissenschaft. In dieser „Gründerzeit“ der neueren Frühmittelalterarchäologie zwischen 1918 und 1945 wurden viele Interpretationen entwickelt, die die Frühmittelalterforschung zum Teil bis heute erheblich beeinflussen.19 Wirkungsmächtig war vor allem die Tatsache, dass der Aufschwung der Frühmittelalterarchäologie in Deutschland nach 1918 geradezu paradigmatisch auf der Überzeugung beruhte, mit den Reihengräberfeldern die spezifischen Hinterlassenschaften der eigenen germanischen Vorfahren zu fassen. Die meisten mitteleuropäischen Archäologen

17 Hermann Ament, s. v. Franken, Frankenreich. In: Lexikon des Mittelalters 4 (München 1989) 689–693, hier 692. 18 Fehr, Germanen und Romanen (Anm. 1). 19 Fehr, Zeiss und Werner (Anm. 7); ders., Volkstum (Anm. 3); ders., Germanische Besiedlung (Anm. 3).

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

325

dieser Generation waren deshalb nur wenig geneigt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass etwaige Zuwanderer aus der Germania und die Nachfahren der römischen Provinzialbevölkerung ihre Toten auf so ähnliche Weise bestatteten, dass sie nicht voneinander zu unterscheiden sind.

Die Notwendigkeit einer erneuten Diskussion Nicht nur diese teils bis heute nicht vollständig bewältigten forschungsgeschichtlichen „Altlasten“ legen nahe, sich erneut mit der Frage zu beschäftigen, ob der Beginn der Reihengräberfelder tatsächlich ursächlich auf eine Einwanderung von Germanen zurückzuführen ist. Auch die Fortschritte |74| der archäologischen und historischen Forschung in den letzten Jahrzehnten machen dies dringend erforderlich. Nachdenklich sollten etwa die betreffenden Widersprüche zwischen der traditionellen historischen Interpretation und dem eigentlichen archäologischen Befund stimmen. Anlässlich der Entdeckung der Gräberfelder von Bittenbrunn20 und Altenerding21 etwa wurde vor mehreren Jahrzehnten deutlich, dass die Reihengräberfelder in Altbayern bereits in der Mitte des 5. Jahrhunderts, rund 100 Jahre vor der ersten Erwähnung der Bajuwaren, einsetzten,22 d. h. in einem Zeitraum, für den die Schriftquellen hier eine zwar bedrängte, aber durchaus intakte römische Gesellschaft überliefern. Am geographisch anderen Ende des Verbreitungsgebiets der Reihengräberfelder, im Nordwesten Frankreichs, finden sich – wie Françoise Vallet herausarbeitete – die frühesten Reihengräberfunde dagegen in einem Gebiet, das zu dieser Zeit wohl noch zum Herrschaftsbereich des römischen Militärbefehlshabers Syagrius gehörte.23 Ferner zwingt die in den letzten Jahren fortschreitende Dekonstruktion des „Germanischen“ im frühen Mittelalter durch die Geschichtswissenschaft auch die Frühmittelalterarchäologie, ihr Germanen-Konzept grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Bereits vor einiger Zeit wies der Historiker Hagen Keller in diesem Zusammenhang darauf hin, dass einerseits das Aufkommen der Reihengräberfelder zweifellos ein großes Potential für die Erkenntnis von Strukturveränderungen während des 5. Jahrhunderts bietet; andererseits sei aber die archäologische Forschung angesichts der sehr weitgehenden Relativierung der älteren Volkstums- und Landnahmekonzepte durch die historische Forschung bislang eine systematische und kritische Rechenschaft über

20 Rainer Christlein, Ausgrabung eines Gräberfeldes des 5. bis 7. Jahrhunderts bei Bittenbrunn, Ldkr. Neuburg a. d. Donau. Jahresbericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 8/9, 1967/68, 87–103. 21 Walter Sage, Gräber der älteren Merowingerzeit aus Altenerding, Lkr. Erding (Oberbayern). Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 54, 1973 (1974) 212–289. 22 Hubert Fehr, In Reih und Glied? Frühmittelalterliche Gräber und ihre Deutung. In: Archäologie in Bayern. Fenster zur Vergangenheit (Regensburg 2006) 249–257. 23 Vallet (Anm. 13).

326

Hubert Fehr

ihre bisherigen Interpretationen schuldig geblieben.24 Vor allem den vermeintlichen germanisch-romanischen Antagonismus im Frühmittelalter, den die mitteleuropäische Forschung bei ihren Interpretationen traditionell zugrunde legte, hat die historische Forschung längst |75| hinter sich gelassen.25 Mittlerweile gilt dieser eher als Erkenntnishindernis denn als brauchbare Basis für die weitere Forschung. Wie der Historiker Walter Pohl in diesem Zusammenhang betont, verdecken gerade solche großen Gegensatzpaare viel zu leicht den Blick auf eine vielfältigere Realität.26 Vorläufiger Höhepunkt der kritischen Auseinandersetzung mit dem Germanenbegriff der Frühgeschichtsforschung ist das kürzlich erschienene, wohlbegründete Plädoyer des Historikers Jörg Jarnut, das „Germanische“ als obsoleten Zentralbegriff der Frühmittelalterforschung außerhalb der Sprachwissenschaft ganz abzuschaffen.27 Die Dringlichkeit einer solchen Auseinandersetzung verstärkt sich noch, wenn man berücksichtigt, dass die Argumente, die Jarnut gegen eine weitere Verwendung des Germanenbegriffs in der Frühmittelalterforschung anführt, mindestens in gleichem, wenn nicht sogar in noch stärkerem Maße für die sogenannten „Romanen“ gelten.

Wie germanisch sind die frühmittelalterlichen Reihengräberfelder? Ich kehre zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes zurück. Letztlich lässt sich der Kern des eingangs skizzierten Dissenses auf zwei Fragen zuspitzen. 1. Sind die typischen Reihengräberfelder tatsächlich germanischen Ursprungs, d. h. lassen sich ihre Merkmale aus der Germania herleiten? 2. Wenn ja, blieb diese Bestattungsweise während der Merowingerzeit so lange auf Germanen beschränkt, dass die Reihengräberfelder sinnvoll zur Rekonstruktion germanischer Besiedlung herangezogen werden können? Wie die Debatten der letzten Jahre gezeigt haben, sind entsprechende Fragen nicht immer einfach zu diskutieren. Hier spielen Grundüberzeugungen eine Rolle,

24 Hagen Keller, Strukturveränderungen in der westgermanischen Welt am Vorabend der fränkischen Großreichsbildung. Fragen, Suchbilder, Hypothesen. In: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97), hrsg. Dieter Geuenich. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 19 (Berlin, New York 1998) 581–607, hier 588. 25 Vgl. etwa Giuseppe Albertoni, Germanen und Romanen als geschichtswissenschaftliche Frage. In: Romanen & Germanen im Herzen der Alpen zwischen 5. und 8. Jahrhundert (Bozen 2005) 17–27. 26 Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration (Stuttgart 2002) 220. 27 Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hrsg. Walter Pohl. Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 322 (Wien 2004) 107–113.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

327

die weit tiefer verwurzelt sind als übliche fachliche Positionen.28 Im Hinblick auf die zweite Frage etwa schien es in der Vergangenheit vielfach gar nicht notwendig zu begründen, weshalb ursprünglich |76| „germanisches“ oder ursprünglich „römisches“ nie oder allenfalls als Endergebnis eines lange andauernden sogenannten „Akkulturationsprozesses“29 von der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe übernommen wurde. Hier rührt man an den Kern des ethnischen Paradigmas in der Frühgeschichtlichen Archäologie, nämlich die Überzeugung, dass bestimmte Techniken und Formen, etwa im Hausbau oder bei der Keramikherstellung, bzw. bestimmte archäologisch beobachtbare Verhaltensweisen, wie Bestattungspraktiken oder die Art sich zu kleiden, in erster Linie von ethnischen Traditionen geprägt und deshalb nur langsam veränderlich seien.30 Diese generelle Problematik scheint auch in den weiteren Beiträgen dieses Bandes immer wieder auf und muss hier nicht grundsätzlich diskutiert werden. Statt dessen werde ich mich im Folgenden vor allem mit der ersten Frage auseinandersetzen; denn erst gilt es diese zu beantworten, bevor deutlich wird, ob es notwendig ist, den zweiten Punkt in Bezug auf die hier behandelte Problematik weiter zu diskutieren. Angesichts der bereits skizzierten fortgeschrittenen Dekonstruktion des „Germanischen“ im Frühmittelalter im kulturellen oder ethnischen Sinne31 ist die Frage nach dem germanischen Charakter der Reihengräberfelder lediglich in Bezug auf die Germania als geographische Größe sinnvoll zu diskutieren. Welche charakteristischen Züge der Reihengräberfelder haben ihre Wurzeln in der Germania und sind diese Beziehungen insgesamt so dominant, dass es gerechtfertigt ist, das Gesamtphänomen als „germanisch“ zu bezeichnen? Welche Merkmale hier zu diskutieren sind, ist – wie bereits angedeutet – weitgehend unstrittig. Folgt man der eingangs skizzierten, gängigen Definition,32 so handelt es sich um 1. die Körperbestattung, 2. die Orientierung, |77| 3. die Beigabe

28 Vgl. etwa Volker Bierbrauer, Zur ethnischen Interpretation in der Frühgeschichtlichen Archäologie. In: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hrsg. Walter Pohl. Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 322 (Wien 2004) 45–84. 29 Volker Bierbrauer, Frühgeschichtliche Akkulturationsprozesse in den germanischen Staaten am Mittelmeer (Westgoten, Ostgoten, Langobarden) aus Sicht des Archäologen. In: Atti del 6° Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo (Spoleto 1980) 89–105; Hägermann (Hrsg.), Akkulturation (Anm. 5). – Zur Problematik des für diese Fragestellung letztlich ungeeigneten Akkulturationsbegriffs: Ulrich Gotter, „Akkulturation“ als Methodenproblem der historischen Wissenschaft. In: Wir, ihr, sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, hrsg. Wolfgang Eßbach. Identitäten und Alteritäten 2 (Würzburg 2000) 373–406. 30 Vgl. dazu Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 42 (Berlin, New York 2004) 159–322. 31 Jarnut, Germanisch (Anm. 27); Matthias Springer, Zu den begrifflichen Grundlagen der Germanenforschung. Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 44, 1990, 169–177. 32 Anm. 2.

328

Hubert Fehr

Abb. 1: Der Idealtypus „Reihengräberfeld“.

von Hiebwaffen, besonders Spathas, in den Männergräbern sowie 4. die Beisetzung der Frauen in fibelgeschmückter Kleidung (Abb. 1).

Die Körperbestattung Über die Herkunft der Körperbestattung zeichnet sich in der archäologischen Forschung mittlerweile ein Konsens ab: Ganz überwiegend herrscht gegenwärtig die Auffassung vor, die unverbrannte Bestattungsweise in den Reihengräberfeldern sei ein römisches Erbe.33 Bereits im 2. Jahrhundert breitete sich im Römischen Reich die Körperbestattung aus dem ostmediterranen Gebiet allmählich nach Westen aus. Im Laufe des 3. Jahrhunderts verdrängte sie die hier zuvor üblichen Brandbestattungen. Auch am Rhein wurden nach 300 kaum noch Brandbestattungen durchgeführt.34 Die Hintergründe dieses grundlegenden Wandels im Bestattungswesen, von dem die zeitgenössischen Schriftquellen bemerkenswerterweise keine |78| Notiz nahmen, sind letztlich nicht geklärt.35 Am plausibelsten handelt es sich wohl um einen Teil einer allgemeinen Tendenz der Homogenisierung der Bestattungspraktiken, die während des dritten Jahr-

33 Ebenda, 364. 34 Wolfgang Czysz, Das zivile Leben in der Provinz. In: Die Römer in Bayern, hrsg. ders. u. a. (Stuttgart 1995) 177–308, hier 297; Heinz-Günter Horn, Das Leben im Römischen Rheinland. In: Die Römer in Nordrhein-Westfalen, hrsg. ders. (Stuttgart 1987) 139–317, hier 300; André van Doorselaer, Les nécropoles d’époque romaine en Gaule septentrionale. Dissertationes Archaeologicae Gandenses 10 (Brügge 1967) 59 f. 35 Grundlegend zu diesem Phänomen bereits: Arthur D. Nock, Cremation and Burial in the Roman Empire. Harvard Theological Review 25, 1932, 321–359. – Vgl. auch Andrea Faber/Peter Fasold/Manuela Struck/Marion Witteyer, Einleitung. In: Körpergräber des 1.–3. Jahrhunderts in der römischen Welt, hrsg. dies. Schriften des archäologischen Museums Frankfurt/M. 21 (Frankfurt/M. 2007) 11–16.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

329

hunderts im gesamten Römischen Reich festzustellen ist, und bei der es sich möglicherweise um eine kulturelle Reaktion auf die Krise des Reiches in jener Zeit handelt.36 Am ehesten im römischen Milieu liegen auch die Wurzeln der Körperbestattung der sogenannten „Laeten-“ oder „Foederatengräber“37 des 4. und frühen 5. Jahrhunderts. In den mutmaßlichen Herkunftsgebieten der germanischen Zuwanderer zwischen Rhein und Elbe herrschte dagegen ganz überwiegend die Brandbestattung vor. Körpergräber kommen in den fraglichen Gebieten der Germania nur regional vereinzelt vor. Diese stehen nach gegenwärtigem Forschungsstand gleichfalls im dringenden Verdacht, von römischen Vorbildern angeregt worden zu sein.38 Im Elbe-Weser-Dreieck finden sich auf birituell belegten Gräberfeldern auch Körperbestattungen; diese werden jedoch auf die Adaption römischer Einflüsse zurückgeführt.39 Auch die Körperbestattungen im südlichen Teil des sogenannten „elbgermanij79jschen“ Kreises einschließlich der Prunkgräber des Typs Haßleben-Leuna sind Jan Bemmann zufolge eher von römischen Vorbildern herzuleiten als von den älteren Körpergräbern des LübsowTyps.40 Auch die Ausbreitung der Körperbestattung in den Gebieten östlich der unteren

36 Ian Morris, Death ritual and social structure in Classical Antiquity (Cambridge 1992) 31–69, bes. 33. 37 Auch hierbei handelt es sich um einen forschungsgeschichtlich bedingten terminus technicus für nordgallische Körpergräber mit Waffen und Fibeln. Archäologisch ist ein Zusammenhang mit den historisch überlieferten „Laeten“ bzw. „Foederaten“ nicht zu belegen: Heiko Steuer, s. v. foederati § 4. Archäologisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 9 (Berlin, New York 1995) 300 f., hier 300; Horst Wolfgang Böhme, s. v. Laeten und Laetengräber § 2. Archäologisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 17 (Berlin, New York 2001) 584–588, hier 584 f.; aus historischer Sicht wird ein Zusammenhang etwa zu den Laeten mittlerweile geradezu ausgeschlossen: Helmut Castritius, Laeten und Laetengräber § 1. Historisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 17 (Berlin, New York 2001) 580–584, bes. 584. – Zur Problematik des historischen Foederatenbegriffs: Ralf Scharf, Foederati. Von der völkerrechtlichen Kategorie zur byzantinischen Truppengattung. Tyche, Supplementband 4 (Wien 2001). 38 Jan Bemmann/Hans-Ullrich Voß, Anmerkungen zur Körpergrabsitte in den Regionen zwischen Rhein und Oder vom 1. bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts n.Chr. In: Faber u. a., Körpergräber (Anm. 35) 153–183, hier 159–162. 39 Jan Bemmann, Körpergräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit aus Schleswig-Holstein. Zum Aufkommen einer neuen Bestattungssitte im überregionalen Vergleich. Studien zur Sachsenforschung 13, 1999, 5–45, bes. 22; Jörg Kleemann, Zum Aufkommen der Körperbestattung in Niedersachsen. Studien zur Sachsenforschung 13, 1999, 253–262, bes. 259; Matthias D. Schön, Gräber und Siedlungen bei Otterndorf-Westerwörden, Landkreis Cuxhaven. Probleme der Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 26, 1999, 123–208. 40 So Jan Bemmann bei einem Vortrag über „Die späte Kaiserzeit und frühe Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland“ im Januar 2002 am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Freiburg. – Jan Bemmann, Zum Totenritual im 3. Jahrhundert. In: Gold für die Ewigkeit. Das germanische Fürstengrab von Gommern, hrsg. Siegfried Fröhlich (2Halle 2001) 58–73, bes. 60; 62; künftig auch: ders., Mitteldeutschland in der jüngeren Römischen Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit. Eine von den Körperbestattungen ausgehende Studie, phil. Habil. (Jena 2000).

330

Hubert Fehr

Saale und Weißen Elster im 4. Jahrhundert führt Bemmann auf römischen Einfluss zurück.41 Insgesamt sind also für eine Herkunft der Körperbestattung in den frühmittelalterlichen Reihengräberfeldern aus der Germania kaum tragfähige Indizien zu beschaffen, während einer Herkunft aus dem spätrömischen Milieu nichts widerspricht.

Die West-Ost-Ausrichtung Nach dem gerade über die Körperbestattung gesagten versteht sich fast von selbst, dass auch die Herkunft der Orientierung im römischen Bereich zu suchen ist, denn bei Grabgruben für Brandbestattungen, wie sie in der kaiserzeitlichen Germania vorherrschten, besteht keine Notwendigkeit, sie zu orientieren. Bereits in der Spätantike war es auf manchen römischen Friedhöfen üblich, die Gräber entlang einer West-Ost-Achse auszurichten, d. h. die Toten wurden mit dem Kopf im Westen niederlegt, so dass ihr Gesicht nach Osten blickte. Daneben finden sich auf spätantiken Gräberfeldern nicht selten Bestattungen, die entlang einer NordSüd-Achse ausgerichtet waren, wie in Krefeld-Gellep, wo in spätrömischer Zeit zunächst überwiegend Süd-Nord-orientierte Gräber angelegt wurden, bevor man in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts mehrheitlich zur West-Ost-Orientierung überging.42 Eine feste Regel zur Ausrichtung der Grabgruben gab es in spätrömischer Zeit nicht. Mitunter weisen selbst gleichzeitig belegte Gräberfelder an einem Ort abweichende Orientierungen auf, wie z. B. die Friedhöfe von Lauriacum zeigen: Während die Gräber von Lauriacum-Ziegelfeld vorwie|80|gend von West nach Ost ausgerichtet waren, folgen sie in Lauriacum-Espelmayerfeld keiner einheitlichen Orientierung.43 Erst in der Mitte des 5. Jahrhunderts wurde die West-Ost-Ausrichtung zur allgemeinen Regel. In manchen Fällen lassen die Übersichtspläne von Gräberfeldern, die seit der Spätantike kontinuierlich belegt wurden, einen abrupten Wechsel der Orientierung erkennen, wie bei den Friedhöfen von Bulles (Dép. Oise)44 oder Saint-

41 Bemmann, Totenritual (Anm. 40) 62. 42 Renate Pirling, s. v. Gelduba. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 10 (Berlin, New York 1998) 636–646, hier 641; dies., Das römisch-fränkische Gräberfeld von Krefeld-Gellep 1964–1965. Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit B 10 (Berlin 1979) 158; 178. 43 Wolfgang Schmidt, Spätantike Gräberfelder in den Nordprovinzen des Römischen Reiches und das Aufkommen christlichen Bestattungsbrauchtums. Tricciana (Ságvár) in der Provinz Valeria. Saalburg-Jahrbuch 50, 2000, 213–441, hier 321. 44 René Legoux, Le cadre chronologique de Picardie. Son application aux autres régions en vue d’une chronologie unifiée et son extension vers le romain tardif. In: La datation des structures et des objets du haut Moyen Âge, ed. Xavier Delestre/Patrick Périn (Saint-Germain-en-Laye 1998) 137–188 bes. 187; ders., La nécropole mérovingienne de Bulles (Oise). Caractères généraux et particularismes. Revue archéologique de Picardie 1988, 81–88.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

331

Martin-de-Fontenay (Dép. Calvados).45 In anderen Fällen wurde gleichzeitig mit dem Orientierungswechsel auch ein neues, unmittelbar benachbartes Bestattungsareal aufgesucht, wie in Frénouville (Dép. Calvados)46 oder Vron (Dép. Somme).47 Auf germanische Traditionen wurde die West-Ost-Ausrichtung der Reihengräber auch in der Vergangenheit eigentlich nie zurückgeführt, sieht man von einer sehr frühen, wenig begründeten Ausnahme ab.48 Lediglich die Nord-Süd-, nicht aber Süd-Nord-Ausrichtung wurde gelegentlich in |81| diesem Sinne interpretiert;49 allerdings konnte sich diese Deutung nicht durchsetzen, da bald gezeigt wurde, dass beide Ausrichtungen unterschiedslos auch auf spätrömischen Gräberfeldern vorkommen.50 Die West-Ost-Ausrichtung wurde dagegen meist mit spätrömischen, genauer gesagt christlichen Traditionen in Verbindung gebracht. Wie aus spätantiken Quellen bekannt ist, symbolisiert die Ostung die Hinwendung zur aufgehenden Sonne. Sie spielt in der christlichen Liturgie eine große Rolle, sowohl beim Taufritual als auch beim Individual- und Gemeindegebet sowie, davon abgeleitet, nicht zuletzt im Kirchenbau.51 Auch der Gedanke, eine Bestattung so anzulegen, dass das Antlitz des Verstorbenen der aufgehenden Sonne entgegen blickte, war im spätantiken Christentum durchaus geläufig; zu einer conditio sine qua non einer christlichen Bestattung wurde diese Ausrichtung jedoch nie.52

45 La nécropole de Saint-Martin-de-Fontenay (Calvados). Recherches sur le peuplement de la plaine de Caen du Vᵉ siècle avant J.-C. au VIIᵉ siècle après J. C., ed. Christian Pilet (Paris 1994). 46 Christian Pilet, La nécropole de Frénouville. Étude d’une population de la fin du IIIᵉ à la fin du VIIᵉ siècle 1–3. British Archaeological Reports, International Series 83 (Oxford 1980). 47 Claude Seillier, Les tombes de transition du cimetière germanique de Vron (Somme). Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 36/2, 1989, 599–634. 48 Jules Pilloy, La question franque au Congrès de Charleroy (Belgique). Bulletin Archéologique du Comité des Travaux Historiques et Scientifiques 1891, 3–31, hier 15, führte die West-Ost-Ausrichtung auf einen angeblichen „arischen Sonnenkult“ zurück. In seiner Arbeit zur Entstehung der „Reihengräberzivilisation“ deutet Joachim Werner im Hinblick auf den Orientierungswechsel des Gräberfelds von Marosszentana in Siebenbürgen die Möglichkeit an, dass die West-Ost-Bestattung im Reihengräbergebiet auf donauländischen Einfluss zurückzuführen sein könnte: Joachim Werner, Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation. Ein Beitrag zur Methode der frühgeschichtlichen Archäologie. In: Siedlung, Sprache und Bevölkerungsstruktur im Frankenreich, hrsg. Franz Petri. Wege der Forschung 49 (Darmstadt 1973) 285–325, hier 309 (Erstdruck 1950). Einige Jahre später rückte er jedoch von dieser Möglichkeit ab und zitierte den Friedhof von Marosszentana lediglich als Beleg dafür, dass Orientierungswechsel im 4. Jahrhundert keine Besonderheit Nordgalliens waren: ders., Les tombes de Haillot et leur axe Nord-Sud. In: Jacques Breuer/Heli Roosens, Le cimetière franc de Haillot. Archaeologia Belgica 34 (Brüssel 1957) 299–306, hier 300. 49 Werner, Haillot (Anm. 48) bes. 305. 50 Van Doorselaer, Nécropoles (Anm. 34) 135. 51 Martin Wallraff, Christus verus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike. Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 32 (Münster 2001) 60–89; vgl. ders., Die Ursprünge der christlichen Gebetsostung. Zeitschrift für Kirchengeschichte 111, 2000, 169–184. 52 Wallraff, Christus (Anm. 51) 78 f.

332

Hubert Fehr

Entsprechend zögert die archäologische Forschung mittlerweile, die West-OstAusrichtung als Indiz für eine christliche Bestattung zu werten, zumal sich Beigaben christlichen Charakters auch in anders ausgerichteten Bestattungen finden.53 Ferner ist die symbolische Bedeutung der Hinwendung nach Osten, zur aufgehenden Sonne nicht nur in der christlichen Theologie geläufig, sondern auch in anderen religiösen Kontexten der Antike, etwa altorientalischen Sonnenkulten, dem griechisch-römischen Heidentum und dem Judentum.54 Insgesamt zeigt sich, dass auch die Wurzel der West-Ost-Ausrichtung der Reihengräberfelder im spätrömischen Milieu zu suchen ist, und zwar nicht allein im spezifisch-christlichen, sondern auch im allgemein-mediterranen.

Die Waffenbeigabe Während die Merkmale „Körperbestattung“ und „Orientierung“ mittlerweile relativ unbestritten als römisches Erbe angesehen werden, gilt das nächste Element, die Beisetzung mit Hiebwaffen, zumindest in der tradi|82|tionellen deutschsprachigen Forschung, häufig als besonders unzweifelhaftes Kennzeichen germanischer Bestattungen. Vor allem in Bezug auf das zweischneidige Langschwert, die Spatha, wird diese Auffassung oft mit Nachdruck vertreten. Die Deutung der Waffenbeigabe als Kennzeichen der Germanen besitzt eine lange Tradition. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die waffenführenden Reihengräberfelder in Gallien fränkischen Invasoren zugeschrieben. Hintergrund hierfür war nicht zuletzt der archäologische Befund, entsprach doch der militärisch geprägte Habitus der Reihengräber recht genau dem Bild der wilden, kriegerischen Germanenvölker, das die antiken Schriftsteller gemäß den Motiven der Barbarentopik von ihren nördlichen Nachbarn entworfen hatten. Gleichzeitig unterscheiden sich die frühmittelalterlichen Reihengräber mit Waffenbeigabe sehr deutlich von den typischen römischen Bestattungsformen der Kaiserzeit und Spätantike, in denen Waffen in der Tat nur sehr selten vorkommen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die bereits im 19. Jahrhundert immer wieder geäußerten Hinweise, dass die Nachfahren der römischen Bevölkerung im Frühmittelalter ebenfalls militärisch aktiv waren und als Träger der Waffenbeigabe im Frühmittelalter nicht von vorneherein ausgeschlossen werden dürften,55 sich lange Zeit nicht durchsetzen konnten.

53 Schmidt, Spätantike Gräberfelder (Anm. 43) 321 mit Anm. 661. 54 Wallraff, Christus (Anm. 51) 27–39; Franz Josef Dölger, Sol Salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum. Mit besonderer Rücksicht auf die Ostung in Gebet und Liturgie. Liturgiegeschichtliche Forschungen 4/5 (2Münster 1925). 55 Der früheste mir bekannte Beleg für dieses Argument stammt aus dem Jahr 1858, als Arcisse de Caumont, der Nestor der französischen „Archéologie nationale“, bei der 25. Sitzung des natio-

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

333

Als Vorläufer der merowingerzeitlichen Waffengräber gelten seit Langem die spätantiken Bestattungen mit Waffen, die sich vor allem im nördlichen Gallien in einiger Zahl finden.56 Umstritten ist jedoch die Frage, von wo diese spätantiken Waffengräber herzuleiten seien. Im mutmaßlichen Herkunftsgebiet der Franken zwischen Rhein und Weser sind Waffengräber nicht geläufig;57 hier finden sich zwar in Brandgräbern vereinzelt Frag|83|mente von Schutzwaffen und Waffenzubehör, Angriffswaffen im eigentlichen Sinne sind darunter aber kaum vertreten. Eine regelhafte Waffenkombination lässt sich nicht erkennen.58 Der östliche Bereich des Reihengräbergebiets scheidet ebenfalls aus. Abgesehen vom Rhein-Main-Gebiet war die Waffenbeigabe in der spätantiken Alamannia unbekannt; sie kommt dort erst im Laufe des 5. Jahrhunderts auf.59 Im bajuwarischen Gebiet setzte sich die Bestattung mit Hiebwaffen gar erst in der Mitte des 6. Jahrhunderts durch.60 Allerdings besitzen Waffenbeigaben auch im römischen Bereich keine wirkliche Tradition. Zwar wurde im Laufe der 1950er und 1960er Jahre immer wieder auf vereinzelte provinzialrömische Waffengräber der Kaiserzeit hingewiesen;61 allerdings

nalen französischen Archäologenkongresses äußerte, es ginge erheblich zu weit, wenn man alle merowingischen Bestattungen germanischen Zuwanderern zuschreiben wolle; schließlich habe die einheimische Bevölkerung ebenso wie die Barbaren Waffen getragen. Vgl. 25e Congrès de Archéologie de la France. Séances générales tenues à Périgueux et Cambrai en 1858 (Paris 1859) 332. 56 Horst Wolfgang Böhme, Germanische Grabfunde des 4. und 5. Jahrhunderts zwischen unterer Elbe und Loire. Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 19 (München 1974) 97–114. 57 Erdmute Schultze, Zur Waffenbeigabe bei den germanischen Stämmen in der späten Kaiserzeit und der frühen Völkerwanderungszeit. Jahrbuch Bodendenkmalpflege in Mecklenburg 37, 1989, 19–36, bes. 21; ähnlich auch Jörg Kleemann in seinem Vortrag „Waffenbeigaben bei den Elbgermanen vom 2. bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts“ am 7. 1. 2002 im Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters an der Universität Freiburg; vgl. künftig: Jörg Kleemann, Waffengräber der jüngeren Kaiserzeit und frühen Merowingerzeit in Nord- und Ostdeutschland, phil. Habil. (Berlin 2001). 58 Frauke Stein, Waffenteile in Rhein-Weser-germanischen Brandgräbern. Ausnahmen von der Regel oder eine durch das Totenritual verschleierte Waffenbeigabensitte? In: Reliquiae gentium. Festschrift Horst Wolfgang Böhme 1, hrsg. Claus Dobiat. Internationale Archäologie, Studia honoraria 23 (Rahden 2005) 403–417, hier 404. 59 Jakob Leicht, Die spätkaiserzeitlichen Kammergräber. In: Anke Burzler/Markus Höneisen/Jakob Leicht/Beatrice Ruckstuhl, Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Schleitheim. Siedlung, Gräberfeld und Kirche. Schaffhauser Archäologie 5 (Schaffhausen 2002) 79–121, hier 106 f. 60 Arno Rettner, Baiuaria romana. Neues zu den Anfängen Bayerns aus archäologischer und namenkundlicher Sicht. In: Hüben und drüben. Räume und Grenzen in der Archäologie des Frühmittelalters. Festschrift Max Martin, hrsg. Gabriele Graenert/Reto Marti/Andreas Motschi/Renata Windler. Archäologie und Museum 48 (Liestal 2004) 255–286, hier 259–261. 61 Hans Schönberger, Provinzialrömische Gräber mit Waffenbeigabe. Saalburg-Jahrbuch 12, 1953, 53–56; Sigfried De Laet/André van Doorselaer, Gräber der römischen Kaiserzeit mit Waffenbeigabe aus Belgien, den Niederlanden und dem Großherzogtum Luxemburg. Saalburg-Jahrbuch 20, 1962, 45–63; André van Doorselaer, Provinzialrömische Gräber mit Waffenbeigabe aus dem Rheinland

334

Hubert Fehr

sind diese so selten und hinsichtlich der beigegebenen Waffen so verschieden von den spätantiken Waffengräbern, dass eine „römische“ Wurzel der spätantiken Waffenbeigabe wenig plausibel erscheint. Auch die Waffengräber des Elbe-Weser-Dreiecks scheinen hier nicht in Betracht zu kommen, da sie selbst auf Vorbilder im nordgallischen Raum zurückgeführt werden.62 Angesichts dieser altbekannten Schwierigkeiten bei der Herleitung der spätantiken und frühmittelalterlichen Waffenbeigabe aus den mutmaß|84|lichen Herkunftsgebieten von Franken, Alemannen und Bajuwaren im Westen der Germania wurde in der deutschsprachigen Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten häufig für eine „ostgermanische“ Herkunft plädiert, d. h. aus dem Bereich der Germania östlich der Elbe – eine Möglichkeit, die jedoch Joachim Werner bereits 1950 mit guten Argumenten abgelehnt hatte.63 In jüngster Zeit wurde ferner eine „immaterielle Waffenbeigabensitte“ der sogenannten „Rhein-Weser-Germanen“ als mögliche Wurzel ins Spiel gebracht.64 Die These der „ostgermanischen“ Herkunft der Waffenbeigabe beruht maßgeblich auf einer 1985 erschienenen Studie von Mechthild Schulze-Dörrlamm über mitteleuropäische Schwertgräber des späten 3. und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Allerdings erscheint diese Theorie bei kritischer Lektüre wenig überzeugend. Vor allem auf zwei Probleme ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen: Zum einen beruht SchulzeDörrlamms Interpretation auf einer Prämisse, die ohne weitere Begründung als zutreffend vorausgesetzt wird, dass nämlich „die Menge und Auswahl der beigegebenen Waffen ebenso an das Brauchtum einer bestimmten Kulturgruppe gebunden waren wie der völlige Verzicht auf die Waffenbeigabe überhaupt“.65 Zum anderen zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die von Schulze-Dörrlamm herausgearbeitete Gruppe frühester Schwertgräber im Westen keineswegs so einheitliche Waffenausstattungen aufweisen, dass man sie als „charakteristische Waffenkombination“ und damit in ihrem Sinne als zentrales Indiz für eine östliche Herkunft der Waffenbeigabe werten könnte. In ihrer Studie ging Schulze-Dörrlamm von insgesamt sieben altbekannten Inventaren des späten 3. bzw. der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus. Betrachtet man die

und Nordfrankreich. Saalburg-Jahrbuch 21, 1963, 26–31; ders., Le problème des mobiliers funéraires avec armes en Gaule septentrionale à l’époque de Haute-Empire romain. Helinium 5, 1965, 118–135. 62 Böhme, Grabfunde (Anm. 56) 165; Kleemann, Körperbestattung (Anm. 57) 259–262; ders., Bemerkungen zur Waffenbeigabe in Föderatengräbern Niedersachsens. In: Römer und Germanen. Nachbarn über Jahrhunderte, hrsg. Clive Bridger/Claus v. Carnap-Bornheim. British Archaeological Reports, International Series 678 (Oxford 1997) 43–48, hier 47. 63 Werner, Reihengräberzivilisation (Anm. 48) 297. 64 Stein, Waffenteile (Anm. 58). 65 Mechthild Schulze-Dörrlamm, Germanische Kriegergräber mit Schwertbeigabe in Mitteleuropa aus dem späten 3. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts. Zur Entstehung der Waffenbeigabensitte in Gallien. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 32, 1985, 509–569, hier 561.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

335

übrigen Waffenbeigaben in den fraglichen Gräbern – neben dem Schild kommen auch eine Lanze, drei Äxte sowie zweimal Pfeile vor – so zeigt sich, dass keines der Gräber eine identische Waffenkombination aufweist, sondern sie lediglich das der Auswahl zugrunde liegende Kriterium des Schwertes gemeinsam haben (Abb. 2).

Abb. 2: Bestattungen des späten 3. und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts mit einem Schwert als Grabbeigabe. • Brandbestattung; ∎∎ Körperbestattung (nach Schulze-Dörrlamm, Germanische Kriegergräber [Anm. 65] 550 Abb. 32).

Gleiches gilt für die zeitgleichen Gräber im Ostbereich der sogenannten „Lebus-Lausitzer-Kultur“, die von Schulze-Dörrlamm als Vorbilder der frühen Schwertgräber am Rhein und in Nordgallien angesehen werden. Als verbindendes Element kann Schulze-Dörrlamm deshalb lediglich eine |85/86| „ähnliche Vielfalt der Angriffswaffen im Ostbereich der Lebus-Lausitzer-Kultur“ anführen.66 Darüber hinaus gibt es in den fraglichen Inventaren keine weiteren Hinweise auf besondere Beziehungen zum Bereich der Lebus-Lausitzer- oder Przeworsk-Kultur. Schließlich ist daran zu erinnern, dass die Waffenbeigabe im sogenannten „ostgermanischen Bereich“ keineswegs allgemein üblich war, und deshalb auch hier kein charakteristisches „Brauchtum“ der ansässigen Bevölkerung darstellte. Zwar finden sich hier durchaus Waffengräber in einiger Zahl; betrachtet man aber die Masse der Gräber, so zeigt sich, dass die waffenlose Bestattung vorherrschte.67 Im Grunde handelt es sich bei den Waffengräbern im Osten der Germania letztlich ebenso um erklärungsbedürftige Ausnahmen wie bei den frühen Schwertgräbern am Rhein bzw. in Gallien.

66 Schulze-Dörrlamm, Kriegergräber (Anm. 65) 552. 67 Heiko Steuer, s. v. Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde III. Archäologie B–C. In: Die Germanen. Studienausgabe (Berlin, New York 1998) 129–176, hier 162.

336

Hubert Fehr

Gleichfalls nicht zwingend ist die jüngst von Frauke Stein entwickelte These einer „immateriellen Waffenbeigabe“ der „Rhein-Weser-Germanen“ als Wurzel der spätantiken Waffengräber im Westen. Ausgangspunkt für diese Theorie ist die bereits erwähnte, altbekannte Tatsache, dass in den Brandgräbern zwischen Rhein und Weser im Grunde keine Hiebwaffen vorkommen. Ausgehend von den Schwertbzw. Scheidenfragmenten, die zwar nicht in den Brandgräbern, dafür aber auf den Verbrennungsplätzen (Ustrinen) des Gräberfelds von Liebenau (Kr. Nienburg/ Weser) geborgen wurden, wies Stein auf die Möglichkeit hin, dass Schwerter bzw. Schwertzubehör zwar auf dem Scheiterhaufen verbrannt, beim Auslesen der Scheiterhaufenreste aber nicht ausgewählt und nicht mit in die Gräber gegeben wurden. Bei der Bestattung sei somit lediglich die Anwesenheit der Schwerter bzw. nur deren Zubehörs auf dem Scheiterhaufen, nicht aber in der Grabgrube notwendig gewesen, weshalb es sich gewissermaßen um eine „immaterielle“, nicht an die Anwesenheit der realen Objekte im Grab gebundene Waffenbeigabe gehandelt habe. Problematisch an der weiteren Argumentation Steins sind vor allem zwei Punkte: Zwar besitzt das Gräberfeld von Liebenau wegen der andernorts nirgendwo erhaltenen Verbrennungsplätze eine besondere Bedeutung für die Rekonstruktion des regionalen Bestattungswesens, da es exemplarisch ansonsten nicht beobachtbare Abschnitte des Bestattungsvorgangs und Bestandteile der Ausstattungen auf dem Scheiterhaufen erkennen lässt;68 dennoch erscheint es zweifelhaft, ob hier gemachte Beobach|87|tungen so zu verallgemeinern sind, dass von ihnen auf ein allgemeines „Rhein-Weser-Germanisches Totenritual“69 geschlossen werden kann, zumal es sich bei den „Rhein-Weser-Germanen“ lediglich um eine moderne wissenschaftliche Ordnungskategorie handelt, und nicht etwa um eine zeitgenössische Kulturgruppe mit einheitlichem Brauchtum. Noch gravierender ist diese Verallgemeinerung in chronologischer Hinsicht. Die Bestattungen des Gräberfelds von Liebenau setzen erst am Ende des 4. Jahrhunderts ein, es wurde bis in Karolingerzeit belegt. Die von Stein ins Feld geführten Schwert- bzw. Zubehörfragmente sind bereits merowingerzeitlich.70 Sie belegen daher allenfalls das Aufkommen eine „immateriellen“ Waffenbeigabe gleichzeitig zum Aufkommen im Reihengräbergebiet – möglicherweise angeregt vom westlichen Vorbild der realen Waffenbeigabe –, nicht aber die Existenz eines älteren Vorbilds, auf das das Aufkommen der Waffengräber im Reihengräbergebiet zurückgeführt werden könnte. Insgesamt erscheint weder die Herleitung der spätantiken Waffengräber am Rhein und in Nordgallien aus dem Osten der Germania noch von einer „immateriellen Waffenbeigabe“ im Raum zwischen Rhein und Weser plausibel. Beide Erklärungsmodelle liefern bei näherer Betrachtung auch keine Begründung, weshalb die 68 Hans-Jürgen Häßler, s. v. Liebenau § 1. Archäologisches. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde2 18 (Berlin, New York 2001) 348–353, hier 350 f. 69 Stein, Waffenteile (Anm. 58) 413. 70 Stein, Waffenteile (Anm. 58) 412 Anm. 48.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

337

Waffengräber im Westen nur von „Germanen“ hinterlassen worden sein könnten. Wie ähnliche ältere Theorien, etwa die Entstehung der Waffenbeigabe durch eine angebliche, historisch nicht überlieferte rechtliche Privilegierung der Germanen durch die römischen Kaiser71, setzen sie vielmehr den germanischen Charakter der Waffenbeigabe bereits voraus und versuchen lediglich, im Nachhinein eine Herkunft aus der Germania herzuleiten. Wesentlich weniger gezwungen erscheint dagegen die Möglichkeit, dass es sich bei den spätantiken Waffengräbern um eine Innovation im militärischen Milieu Nordgalliens bzw. des Rheingebiets handelt. Da Waffenbeigaben auch in anderen kulturellen Kontexten bzw. anderen Epochen der Ur- und Frühgeschichte immer wieder vorkommen, ohne dass es in jedem Fall einer Herleitung von älteren Vorbildern bedurft hätte, wäre dies kein ungewöhnlicher Vorgang. Empirisch kaum zu klären ist die Ansicht, dass lediglich Germanen auf spätrömischem Boden die Waffenbeigabe entwickelt und ausgeübt haben sollen – eine Theorie, für die meines Wissens noch nie eine schlüssige Be|88|gründung vorgelegt wurde. Als Argument, weshalb hierfür lediglich römische Soldaten barbarischer Herkunft in Betracht kämen, wurde in der Vergangenheit zumeist angeführt, dass die Waffenbeigabe „unrömisch“ sei. Und „unrömisch“ war für viele Autoren gleichbedeutend mit „germanisch“. Betrachtet man die Verbreitung der Waffengräber in der kaiserzeitlichen Germania, so muss man jedoch feststellen, dass die Waffenbeigabe fast ebenso „ungermanisch“ wie „unrömisch“ ist. Ob man in den spätantiken Waffengräbern auf römischem Gebiet in erster Linie Bestattungen von Armeeangehörigen germanischer Herkunft sieht, scheint insgesamt weniger vom archäologischen Befund als vom historischen Kontext abzuhängen, von dem man ausgeht. In der deutschsprachigen Forschung fällt dabei die Tendenz auf, das spätrömische Heer weitgehend für Germanen oder Barbaren vereinnahmen zu wollen. Da das römische Heer aber – soweit sich dies historisch bestimmen lässt – auch in der Spätantike zum überwiegenden Teil aus Nicht-Barbaren bestand,72 ist eine Gleichsetzung von „militärisch“ und „germanisch“ bzw. „barbarisch“ auch in dieser Zeit keineswegs gerechtfertigt. Zudem sind die spätantiken Vorläufer für die Frage nach dem ethnischen Charakter der Waffenbeigabe in den frühmittelalterlichen Reihengräberfeldern letztlich nicht unbedingt entscheidend. Da sich die charakteristische „schwere Waffenbeigabe“ der Merowingerzeit mit Spatha, Sax, Lanze und Schild nicht unwesentlich von den spätantiken Waffengräbern unterscheidet, in denen Beilwaffen vorherrschen,73 ist eine unmittelbare Herleitung der reihengräberzeitlichen Waffenbeigabe von spätantiken Vorbildern nicht zwingend vorauszusetzen.74

71 Werner, Reihengräberzivilisation (Anm. 48) 297. 72 Hugh Elton, Warfare in Roman Europe, AD 350–425 (Oxford 1996) 135; 137 ff. 73 Böhme, Grabfunde (Anm. 56) 164. 74 Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu

338

Hubert Fehr

Wesentlich plausibler als die germanischen Herleitungen erscheint das funktionale Modell zur Entstehung der frühmerowingerzeitlichen Schwertbeigabe, das Frans Theuws und Monica Alkemade vor wenigen Jahren vorgelegt haben.75 Diese lassen die Prämisse eines vermeintlichen germanisch-römischen Antagonismus in dieser Zeit weit hinter sich. Ausgehend von der Beobachtung, dass die frühen Schwertgräber in Nordgal|89|lien und am Rhein die Gebiete mit fortbestehenden römischen Machtstrukturen fast ausnahmslos aussparen, interpretieren sie das Aufkommen der Schwertbeigabe als Versuch von Eliten in machtpolitisch peripheren Gebieten, ihren sozialen Status zu stabilisieren, der während des Kollapses der römischen Gesellschaftsordnung in der Mitte des 5. Jahrhunderts gerade in diesen Randbereichen besonders gefährdet gewesen sein dürfte.

Frauenkleidung mit vier Fibeln Ich komme zum letzten Merkmal des frühen Reihengräberhorizontes, das als typisch germanisch angesehen wird, der Beisetzung von Frauen mit reicher Fibelausstattung. Anhand der Lage der Fibeln im Grab lässt sich für den frühen Reihengräberhorizont ein typischer Kleidungsstil rekonstruieren, die sogenannte „Vierfibeltracht“, auch „westgermanische Fibeltracht“ genannt. Wie eingangs bereits gezeigt, gilt diese vielfach als besonders charakteristisches Merkmal germanischer Frauenbestattungen, im Gegensatz etwa zur jüngermerowingerzeitlichen Einfibelkleidung, deren mediterraner Ursprung seit einiger Zeit allgemein anerkannt wird.76 Wie bereits der Name signalisiert, werden in den betreffenden Frauengräbern regelmäßig vier Fibeln gefunden: Die beiden Kleinfibeln liegen üblicherweise am Hals oder auf der Brust; die beiden Bügelfibeln finden sich dagegen im Becken oder im Bereich der Oberschenkel. Detaillierte Befundbeobachtungen haben in den letzten Jahren zwar gezeigt, dass diese keineswegs so einheitlich ist wie früher angenommen; so findet sich mitunter nur eine Bügelfibel im Becken,77 in anderen

Göttingen, philosophisch-historische Klasse, 3. Folge 128 (Göttingen 1982) 303 f.; Halsall, Föderatengräber (Anm. 14) 177 Anm. 73. 75 Frans Theuws/Monica Alkemade, A Kind of Mirror for Men. Sword Depositions in Late Antique Northern Gaul. In: Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages, ed. Frans Theuws/Janet Nelson. Transformation of the Roman World 8 (Leiden, Boston, Köln 2000) 401–476. 76 Max Martin, Tradition und Wandel in der fibelgeschmückten frühmittelalterlichen Frauenkleidung. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 38, 1991 [1995] 629–680, hier 629–633; ders., s. v. Fibel und Fibeltracht II. Archäologisches K. Späte Völkerwanderungszeit und Merowingerzeit auf dem Kontinent. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 8 (Berlin, New York 1994) 541–582, hier 561 f. 77 Stefanie Zintl, Das frühmerowingische Gräberfeld von München-Perlach. Bericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 45/46, 2004/2005, 281–370, hier 345 f.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

339

Fällen wird die Vierfibelkleidung durch ein Kleinfibel-78 oder selten auch durch ein Scheibenfibelpaar79 ersetzt. Insgesamt hebt sich der Kleidungsstil mit vier Fibeln archäologisch aber verhältnismäßig prägnant ab. |90| Mit den Wurzeln und der Deutung dieses Phänomens hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem Max Martin beschäftigt. Durch die systematische Analyse gut dokumentierter Grabbefunde konnte er dabei den Einfluss römischer Kleidungsstile auf die Entstehung der Vierfibelkleidung herausarbeiten. Mit den Kleidungsgewohnheiten der kaiserzeitlichen Germania hat sie dagegen nichts zu tun, Martin konstatiert vielmehr einen „völligen Bruch“ zwischen den älteren germanischen Kleidungsgewohnheiten und der „Westgermanischen Frauentracht“.80 In der kaiserzeitlichen Germania trugen die Frauen die sogenannte Peploskleidung, ein Kleidungsstück, das von zwei Nadeln oder Fibeln auf den Schultern zusammengehalten wurde. Bereits dieser Kleidungsstil ist nicht eindeutig als „germanisch“ zu bezeichnen, da er ebenso im römisch-mediterranen Milieu geläufig war, häufig wohl durch die Fortführung älterer, vorrömischer Kleidungsstile. Das prominenteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die sogenannte „norisch-pannonische Tracht“.81 Auch in Gallien war der Peplos bis ins 3. Jahrhundert in einer regionalen Ausprägung bekannt.82 Aus diesem Grund erscheint es auch nicht gerechtfertigt, Gräber mit zwei Fibeln an den Schultern als typisch „ostgermanische“ Bestattungen zu werten, wie dies in der älteren Forschung weit verbreitet ist.83 Von diesem Peplosgewand unterscheidet sich die typische Frauenkleidung des frühen Reihengräberhorizontes grundlegend. Wie Martin herausarbeitete, ist die Vierfibelkleidung nicht aus der eigentlichen Germania herzuleiten, sondern entstand im „westgermanischen“ Gebiet, d. h. im Verbreitungsgebiet der Reihengräberfelder selbst, und zwar unter „Einfluss der provinzialrömischen Mode“. Bei ihr handle es sich um eine Neuschöpfung des 5. Jahrhunderts, das sich auch im Bereich der Kleidung als eine „experimentierfreudige Übergangszeit“ erweise. Grundsätzlich sei anhand der Frauenkleidung ein „Abbruch und Neubeginn“ am Übergang von der Spätantike bzw. Völkerwanderungszeit zur Merowingerzeit festzustellen.84

78 Susanne Walter, Fibeln – einmal anders. Gedanken zu Kleinfibelpaaren als Ersatz für Bügelfibel. In: Hüben und drüben (Anm. 60) 41–48. 79 Dieter Quast, Mediterrane Scheibenfibeln der Völkerwanderungszeit mit Cloisonnéverzierung. Eine typologische und chronologische Übersicht. Archäologisches Korrespondenzblatt 36, 2006, 259–278, hier 270 f. 80 Martin, Tradition (Anm. 76) 659. 81 Astrid Böhme-Schönberger, Kleidung und Schmuck in Rom und den Provinzen. Schriften des Limesmuseums Aalen 50 (Stuttgart 1997) 36 f. 82 Martin, Fibeltracht (Anm. 76) 544. 83 Philipp v. Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 55 (Berlin, New York 2007) hier 323–331. 84 Martin, Tradition (Anm. 76) 674.

340

Hubert Fehr

Soweit sie sich anhand der metallenen Kleidungsbestandteile rekonstruieren lässt, besteht die charakteristische Frauenkleidung des frühen Reihengräberhorizontes Martin zufolge aus drei Elementen: 1. einem Mantel oder |91| Umhang, der mit Hilfe des Kleinfibelpaares am Hals bzw. auf der Brust verschlossen wurde, 2. dem eigentlichen Leibgewand, einer fibellosen Tunika, sowie 3. einem Gürtel bzw. einer Schärpe, der die Tunika um die Hüften zusammenfasste und in einem breiten Band mündete, das an der Körpervorderseite herabhing. Die Wurzeln des mit einem Kleinfibelpaar verschlossenen Mantels bzw. Umhangs identifizierte Martin im römischen Milieu des 5. Jahrhunderts, am wahrscheinlichsten in Zentral- oder Südgallien, möglicherweise aber auch an anderer Stelle im Mittelmeerraum.85 Auch in formaler Hinsicht lassen die Kleinfibeln römischen Einfluss erkennen. Bei den frühesten in dieser Funktion nachgewiesenen Stücken handelt es sich um stark römisch geprägte Tierfibeln, die Martin zufolge vermutlich sogar von römischen Handwerkern hergestellt wurden.86 Ebenfalls ins römische Milieu weisen die bekannten Vogelfibeln, die nach der Mitte des 5. Jahrhunderts häufig als Kleinfibelpaar getragen wurden. Wie die eingehende Analyse von Ute Haimerl gezeigt hat, handelt es sich auch dabei keineswegs um eine „genuin germanische“ Form, die von den Goten aus Südrussland nach Westen gebracht wurde, wie die ältere Forschung angenommen hatte; vielmehr seien die Vogelfibeln im Reihengräbergebiet selbst entstanden und wurzelten in der „romanischen Fibelwelt“.87 Auch das zweite Element der frühmittelalterlichen Frauenkleidung verweist in das römische Milieu: Die Tunika bestand aus einem einzigen Textil und benötigte keine Fibeln als Verschluss auf den Schultern.88 Seit der späten Kaiserzeit verdrängte sie die Peploskleidung vollständig. Nach 400 finden sich im zentralen Mitteleuropa im Grunde keine Funde von Fibeln in Schulterlage mehr.89 Das dritte hier zu behandelnde Element der frühmerowingerzeitlichen Frauenkleidung ist Martin zufolge ebenfalls stark von römischen Traditionen geprägt. Statt auf den Schultern, wie bei der Peploskleidung, werden die Bügelfibeln in frühmerowingerzeitlichen Frauengräbern in der Regel im Beckenbereich gefunden. Detailliert dokumentierte Befunde lassen erkennen, dass sie zunächst horizontal getragen wurden. Martin zufolge besaßen sie keine Funktion innerhalb der Kleidung, sondern wurden als reine Zier|92|objekte an dem bereits erwähnten Gürtel bzw. der Schärpe befestigt. Anfangs trugen die Damen diesen Gürtel noch relativ hoch, später etwas

85 Martin, Tradition (Anm. 76) 649. 86 Martin, Tradition (Anm. 76) 646–652. 87 Ute Haimerl, Die Vogelfibel der älteren Merowingerzeit. Bemerkungen zur Chronologie und zur Herleitung der Fibelgattung. Acta Praehistorica et Archaeologica 30, 1998, 90–105, bes. 101–103. 88 Martin, Fibeltracht (Anm. 76) 554. 89 Martin, Tradition (Anm. 76) 673.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

341

tiefer. In der Mitte des 6. Jahrhunderts wurden die Fibeln schließlich häufig an einem Band bzw. einer Schärpe festgemacht, das vom Gürtel herabhing (Abb. 3).90

Abb. 3: Gehänge am cingulum, Rekonstruktion. 1 Völkerwanderungszeit; 2 zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts; 3 6. Jahrhundert (nach Martin, s. v. Fibel und Fibeltracht [Anm. 76] 554 Abb. 139).

Als Vorbild des Gürtels bzw. der Schärpe identifizierte Martin ein Kleidungsstück, das wie kaum ein anderes eine besondere symbolische Bedeutung innerhalb der römischen Welt besaß: das cingulum, der „Amts-“ bzw. „Dienstgürtel“ der römischen Beamten und Militärs, der wie die Zwiebelknopffibel als zentrales Element eines Zeichencodes zum Ausdruck der Hierarchie diente. Bereits in der Spätantike war dieses ursprünglich männliche Ausrüstungsstück in manchen Fällen in die Frauenkleidung übernommen worden, wie der Befund des Frauengrabs 363 von Schleitheim-Hebsack mit einem typischen kerbschnittverzierten Militärgürtel zeigt.91 Als letztes Element der frühmerowingerzeitlichen Frauenkleidung ist schließlich noch auf die Herkunft der Bügelfibeln einzugehen. Angesichts der bereits angedeuteten römischen Wurzeln anderer frühmerowingerzeit|93|licher Fibeltypen gelten sie etwa Martin als „einzige sicher germanische Fibelform“92. Allerdings stellt sich auch in diesem Fall die Frage nach der Plausibilität dieser germanischen Zuweisung, da entsprechende Vorformen in der Germania nicht sicher zu identifizieren sind, wie

90 Martin, Tradition (Anm. 76) 652–661; ders., Fibeltracht (Anm. 76) 551–556. 91 Leicht, Kammergräber (Anm. 58) 83–95, bes. 90 f. 92 Martin, Fibeltracht (Anm. 76) 576.

342

Hubert Fehr

eine bemerkenswerte Studie von Mechthild Schulze-Dörrlamm vor einigen Jahren gezeigt hat.93 In ihrer Arbeit über die Entstehung der „protomerowingischen Bügelfibeln“ diskutiert Schulze-Dörrlamm in diesem Zusammenhang mehrere Möglichkeiten. Die „germanischen“ Spiralplattenfibeln Typ Peukendorf, die letztlich auf Sonderformen der spätrömischen Zwiebelknopffibeln zurückgehen, sind nach Schulze-Dörrlamm als Vorbilder auszuschließen. Diese waren gegen Ende des 4. bzw. Anfang des 5. Jahrhunderts nicht mehr gebräuchlich, und kämen deshalb als Vorbilder der Bügelfibeln der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nicht in Frage.94 Gleiches gelte für die etwas jüngeren Spiralplattenfibeln des Typs Soest-Ardey. Da sie als einfache Objekte in Bronzegusstechnik hergestellt wurden, könnten sie kaum den kostbaren merowingischen Bügelfibeln aus vergoldetem Silber als Vorbilder gedient haben.95 Als letzte verbliebene Möglichkeit plädierte Schulze-Dörrlamm schließlich für Vorbilder im römischen Milieu, nämlich die „romanischen Bügelfibeln“. Wegen der ungünstigen Überlieferungsbedingungen sei es zwar noch schwierig, „romanische“ Bügelfibeln sicher zu identifizieren, nicht zuletzt, weil bislang noch keine sicheren Kriterien für die Produkte römischer Werkstätten herausgearbeitet wurden. „Romanische“ Bügelfibeln habe es jedoch zweifellos gegeben: In diesem Zusammenhang verweist Schulze-Dörrlamm auf die cloisonnierte, vergoldete Bügelfibel von Pistoia (Prov. Florenz). Aufgrund ihrer Verzierung mit Weinrankendekor sowie durch ein technisches Detail, das komplizierte Schraubengewinde der Nadel, sei diese sicher ein Produkt einer römischen Werkstätte (Abb. 4).96 Als Ergebnis ihrer Studie hielt Schulze-Dörrlamm fest, die Vorbilder der typischen frühmerowingischen Bügelfibeln seien am ehesten unter den „romanischen Bügelfibeln zu suchen, die zu Beginn des ‚protomerowingischen Horizonts‘ in provinzialrömischen Werkstätten hergestellt wurden.“97 |94| Auch wenn die Diskussion über ihre typologische Wurzeln damit sicher noch nicht abgeschlossen ist, so besteht bereits jetzt ein Konsens, dass die protomerowingischen Bügelfibeln ebenso wie die gesamte „Vierfibeltracht“ das Produkt einer „Experimentier- und Übergangsphase“ in der Mitte des 5. Jahrhunderts sind, in der neben barbarischen sicher auch provinzialrömische Elemente verarbeitet wurden.98 So handelt es sich beim Punzdekor und den Pferdeprotomen beiderseits der rhombischen Fußplatte, die etwa beim Typ Bifrons zu beobachten sind, ebenso um ein

93 Mechthild Schulze-Dörrlamm, Germanische Spiralplattenfibeln oder romanische Bügelfibeln? Zu den Vorbildern elbgermanisch-fränkischer Bügelfibeln der protomerowingischen Zeit. Archäologisches Korrespondenzblatt 30, 2000, 599–613. 94 Schulze-Dörrlamm, Spiralplattenfibeln (Anm. 93) 601. 95 Schulze-Dörrlamm, Spiralplattenfibeln (Anm. 93) 604. 96 Schulze-Dörrlamm, Spiralplattenfibeln (Anm. 93) 605. 97 Schulze-Dörrlamm, Spiralplattenfibeln (Anm. 93) 608. 98 Koch, Bügelfibeln (wie Anm. 5) 470 f.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

343

Abb. 4: Die Fibel von Pistoia/Florenz (nach Die Schraube zwischen Macht und Pracht. Das Gewinde in der Antike [Sigmaringen 1995] 161 Abb 124) [im Original farbig].

spätantikes Erbe, wie bei der Kerbschnittverzierung, die z. B. bei den Typen Krefeld und Heilbronn-Böckingen auftritt. Andere Elemente, wie die quergerillten Fußplatten oder Tierkopfenden, gelten dagegen nach wie vor als „elbgermanisch“.99 Auch bei diesen Merkmalen „barbarischer“ Herkunft ist allerdings zu beachten, dass sie in vielen Fällen wiederum selbst Fortentwicklungen älterer römischer Formen sind. So wird etwa die charakteristische halbrunde |95| Kopfplatte über verschiedene Zwischenformen bereits seit langem letztlich auf eine bestimmte Variante römischer Kniefibeln der mittleren Kaiserzeit zurückgeführt.100 Insgesamt zeigt sich seit dem 3. Jahrhundert ein intensiver Einfluss römischer Vorbilder auf die Fibelentwicklung in der Germania, teilweise meint man sogar eine „Symbiose zwischen provinzialrömischem und germanischem Kunstschaffen“101 zu erkennen. Vor diesem Hintergrund scheint es m. E. wenig wahrscheinlich, dass es noch gelingt wird, einen „sicher germanischen“ Charakter der merowingerzeitlichen Bügelfibeln zu erweisen.

99 Martin, s. v. Fibel und Fibeltracht (wie Anm. 76) 557 f. 100 Klaus Raddatz, Eine Fibel vom Zugmantel. Saalburg-Jahrbuch 13, 1954, 53–59, bes. 54. 101 Astrid Böhme-Schönberger, s. v. Fibel- und Fibeltracht II. Archäologisches § 32. Provinzialrömisch-germanische Kontakte. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde² 8 (Berlin, New York 1994) 518–523, hier 522.

344

Hubert Fehr

Fasst man den gegenwärtigen Forschungsstand zur Herkunft der Kleidung mit vier Fibeln zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Diese Kleidung besteht zum einem aus einem Umhang oder Mantel, der wohl zuerst von gallorömischen Damen im 5. Jahrhundert getragen wurde. Das eigentliche Gewand bildet eine Tunika, wie sie bereits seit sehr langer Zeit im Mittelmeerraum geläufig war. Zusammengehalten wurde sie von einem Gürtel bzw. einer Schärpe, die sich formal an das cingulum anlehnte, d. h. an ein Kleidungsstück, das wie kaum ein anderes eine besondere Zeichenfunktion innerhalb der römischen Kultur erfüllte. Auf dem cingulum waren Bügelfibeln befestigt, die typologisch am ehesten auf römische Bügelfibeln zurückgehen. Gleichzeitig unterschied sich die Tunikakleidung grundlegend von der Peploskleidung, die zuvor in der Germania getragen wurde. Nimmt man all dies zusammen, so drängt sich die Frage auf, weshalb die Vierfibeltracht ausschließlich von Frauen germanischer Herkunft getragen worden sein soll. Alle einzelnen Bestandteile weisen im Grunde eher ins spätrömische Milieu bzw. in die kulturell durchmischte Grenzzone des Imperiums als in die Germania. Für die traditionelle germanische Interpretation dieses Kleidungsstils findet sich dagegen kein wirklich überzeugendes Argument, will man nicht in einen Zirkelschluss verfallen, der auch bei der Begründung des germanischen Charakters der Waffenbeigabe zu beobachten ist: Diese Kleidung bzw. einzelne ihrer Bestandteile seien deshalb germanisch, weil sie nur in germanischen Gräbern gefunden wird; im Gegenzug sind die beigaben führenden Gräber insgesamt vor allem deshalb germanisch, weil in ihnen unzweifelhaft „germanische Trachtbestandteile“ gefunden werden. Wie schon bei der Waffenbei|96|gabe erscheint der germanische Charakter weniger als Ergebnis der archäologischen Analyse als vielmehr das der Interpretation zugrunde liegende Axiom. Besonders in Anbetracht des von Max Martin herausgearbeiteten Bruchs mit älteren Kleidungsgewohnheiten in der Germania einerseits sowie den starken Wurzeln im spätrömischen Milieu andererseits ist es wohl nur vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen, fast übermächtigen Tradition zu verstehen, weshalb die ausschließlich germanische Zuweisung dieses Kleidungsstils weiter aufrecht erhalten wird. Löst man sich von dem Modell einer Traditionslinie von der Kleidung der kaiserzeitlichen Germania zur merowingischen Frauenkleidung und zieht statt dessen die Evolution dieses Kleidungsstils aus regionalen provinzialrömischen Wurzeln in Betracht, so erscheint dieser Bruch wesentlich weniger abrupt. Bei der frühmerowingerzeitlichen Vierfibeltracht handelt es sich aus dieser Perspektive um eine weitere Innovation in der Mitte des 5. Jahrhunderts. Sie wurde wohl von einer Gesellschaft im Umbruch hervorgebracht, in der die Kategorien „römisch“ und „germanisch“ keine grundlegende kulturelle Differenz mehr bezeichneten. Meines Erachtens spricht nichts dagegen, dass es sich bei der sogenannten „Vierfibeltracht“ um einen regionalen Kleidungsstil handelt, der in Gallien bzw. an Rhein und Donau aufkam und hier von wohlhabenden Frauen sowohl barbarischer wie einheimischer Herkunft getragen wurde.

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

345

Der germanische Charakter der Reihengräberfelder: Fazit Überträgt man die bisherigen Überlegungen auf das eingangs vorgestellte Modell des Idealtypus „Reihengräberfeld“, so ergibt sich folgendes Bild: Zwei seiner wichtigsten Merkmale – die Körperbestattung und die West-Ost-Ausrichtung – weisen in das spätrömische Milieu. Die beiden anderen Merkmale lassen sich dagegen nicht eindeutig den Kategorien „römisch“ oder „germanisch“ zuordnen. Keineswegs unzweifelhaft „germanisch“ ist zum einen die Waffenbeigabe im Merowingerreich, bei der es sich am ehesten um eine Innovation der kulturell durchmischten Grenzzone vor allem am Rhein handelte. Gleiches gilt für die frühmerowingische Vierfibelkleidung, die ihre Wurzeln in Gallien bzw. am Rhein und der oberen bis mittleren Donau zu haben scheint. Die Erkenntnis stark römisch geprägter Wurzeln der Reihengräberfelder ist im Übrigen nicht neu, sondern auch in der mitteleuropäischen Forschung im Grunde geläufig. So stellte Jakob Leicht vor einigen Jahren zutreffend fest, dass ausschlaggebend für die Ausbildung der Reihengräberfel|97|der das Vorbild der spätrömischen Körpergräberfelder gewesen sei.102 Allerdings führte diese Erkenntnis in der Regel nicht dazu, ihren vermeintlich germanischen Charakter zu hinterfragen. Insgesamt wird es wohl in Zukunft verstärkt gelten, das Aufkommen der Reihengräberfelder nicht allein durch eine Migration fremder Bevölkerungsgruppe als vielmehr auch durch eine Evolution vor Ort zu erklären – eine Möglichkeit, die bislang oft etwas vorschnell als lediglich „theoretisch“ abgetan wurde.103 Dies gilt umso mehr, als es durchaus plausible Ansätze zu einer alternativen Erklärung in dieser Richtung gibt, auf die ich abschließend hinweisen möchte.

Die frühmittelalterlichen Reihengräberfelder – Ausdruck einer kulturellen Neuorientierung? Eines der Paradoxa der germanischen Interpretation des Reihengräberhorizontes ist seit jeher der Befund, dass es sich bei den Reihengräberfeldern um eine Erscheinung handelt, die ganz überwiegend auf ehemals römischem Boden anzutreffen ist. Bereits Anfang der 1920er Jahre wies der Stuttgarter Prähistoriker Peter Goeßler darauf hin, dass sie „nur innerhalb des einstigen Römischen Reiches und eines schmalen daran angrenzenden Streifens gefunden werden“.104 Kämen sie in den vermuteten Herkunfts-

102 Leicht, Kammergräber (Anm. 59) 119. 103 Vgl. etwa Dieter Quast, Vom Einzelgrab zum Friedhof. Beginn der Reihengräbersitte im 5. Jahrhundert. In: Die Alamannen (Stuttgart 1997) 171–190, hier 171. 104 Peter Goeßler, An der Schwelle von germanischem Altertum zum Mittelalter. Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 30, 1921, 1–24, hier 22.

346

Hubert Fehr

gebieten der Franken, Alemannen und Bajuwaren in gleicher Weise vor, so wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, den germanischen Charakter der Reihengräberfelder insgesamt anzuzweifeln. Diese weitgehende Beschränkung der Reihengräberfelder auf ehemals römischen Boden bestätigte sich auch in den folgenden Jahrzehnten. Sie zeigte sich eindrücklich auch auf einer – grundsätzlich nicht unproblematischen – Gesamtkartierung der Reihengräberfelder, die auf der Grundlage älterer regionaler Kompilationen Mitte der 1970er Jahre vorgelegt wurde.105 Besonders deutlich ist der Befund im bayerischen Abschnitt des rätischen Limes, der noch im 7. Jahrhundert die nördliche Verbreitungsgrenze der Reihengräberfelder darstellt.106 |98| Dennoch galt das Vorkommen der Reihengräberfelder in manchen Gebieten jenseits der spätantiken Reichsgrenze vielfach als zentrales Argument für den germanischen Charakter der Reihengräberfelder insgesamt. Zum einen kommen etwa in Thüringen ähnliche Gräberfelder vor, andererseits gehört vor allem das ehemals römische Südwestdeutschland, aus dem sich die römische Verwaltung um 260 zurückzog, von Anfang an zu den Kernzonen des Reihengräbergebiets. M. E. liegt jedoch der Auffassung, dass dies ein sicherer Beleg für germanischen Charakter des gesamten Reihengräberhorizontes sei, eine bestimmte, nicht unproblematische Vorstellung über den Charakter der römischen Grenze zugrunde. Wie der Historiker Charles Richard Whittaker in einer grundlegenden Studie107 gezeigt hat, bauten zahlreiche Historiker und Archäologen seit dem 19. Jahrhundert ihre Interpretationen auf der Vorstellung linearer Grenzen auf. Grenzen wurden als Scheidelinien angesehen, an denen sich Völker und Staaten feindlich gegenüberstanden, und nur danach trachteten, ihren „Lebensraum“ auf Kosten der Nachbarn zu erweitern. Dieses Konzept der Grenze als einer absoluten ethnischen und kulturellen Scheidelinie ist gegenwärtig sowohl im Allgemeinen als auch in Bezug auf die römische Reichsgrenze im Besonderen überholt. An Stelle dieser linearen Vorstellung von Grenzen trat das Konzept der Grenze als einer Zone, die durchaus ein kulturelles Eigengewicht entfalten kann. Whittaker zufolge prallten an der spätantiken römischen Grenze an Rhein und Donau keineswegs römische und barbarische Kultur unversöhnlich aufeinander. Vielmehr habe sich hier durch besondere historische Bedingungen eine „Grenzgesellschaft“ herausgebildet, die die Menschen auf beiden Seiten der Grenze umfasste. Die römische Herrschaft endete bekanntlich nicht an der befestigten Militärgrenze, sondern umfasste auch eine Vorlimeszone, die zumindest mittelbar von Rom kontrolliert wurde. Diese Zone war z. T. auch wirtschaftlich eng mit den Gebieten hinter der

105 Bayerischer Schulbuchverlag (Hrsg.), Großer Historischer Weltatlas 2. Mittelalter (²München 1979) 8. 106 Wilfried Menghin, Frühgeschichte Bayerns (Stuttgart 1990) 80 Abb. 65. 107 Charles R. Whittaker, Frontiers of the Roman Empire. A social and economic study (²Baltimore, London 1997).

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

347

Reichsgrenze verflochten. Die Menschen in diesem Gebiet entwickelten Whittaker zufolge gemeinsame kulturelle Züge, die sich unter anderem in einem gemeinsamen „Grenzraumstil“ manifestierten. Diese Gesellschaft lässt sich mit den Kategorien „römisch“ oder „germanisch“ im kulturellen Sinne nicht mehr adäquat erfassen. Vielmehr verschmolzen hier während der Spätantike römische, provinziale und barbarische, zivile und militärische Elemente zu einem Amalgam, das einen eigenständigen Charakter aufwies.108 |99| In seiner Studie war Whittaker zwar nicht in der Lage, sein Modell detailliert anhand der archäologischen Quellen zu untermauern, in der Summe kommt sein Ergebnis aber den Erkenntnissen, die in den letzten Jahrzehnten durch zahlreiche archäologische Detailuntersuchungen am Rhein und in Süddeutschland erzielt wurden, erstaunlich nahe. So konstatiert Horst Wolfgang Böhme in einer aktuellen Bilanz des gegenwärtigen Forschungsstands bereits für die Spätantike eine „kulturelle Angleichung der Gebiete östlich und westlich der Rheingrenze“.109 Ungeachtet der Differenzen über den essentiell germanischen Charakter verschiedener Merkmale scheint man also bei der grundsätzlichen Einschätzung des kulturellen Charakters der Grenzregionen im Grunde nicht weit voneinander entfernt zu sein. Legt man Whittakers Modell zugrunde, so gehörte das ehemals römische Gebiet zwischen Limes und spätantiker Grenze an Rhein und Donau zur kulturell gemischten Grenzzone, zumal die archäologische Forschung mittlerweile recht einhellig von einer gewissen Kontinuität der römischen Bevölkerung und Strukturen in diesem Raum ausgeht.110 Hinsichtlich des kulturellen Charakters resümiert Böhme ausgehend von einer ganzen Summe archäologischer Beobachtungen in diesem Zusammenhang, dass sich dieses Gebiet ebenso wie der gesamte westfälische Raum „während der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts zu einer starken wirtschaftlichen Kontaktzone zwischen dem Römischen Reich und den grenzfernen Teilen der Germania magna entwickelt konnte“.111 Jenseits des ehemals römischen Gebiets bilden lediglich Unterfranken und Thüringen gewissermaßen Vorposten des Reihengräbergebiets in der Germania. Hier liegt der Verdacht nahe, dass diese Sonderstellung auf besonders intensive Kontakte zum römischen Bereich zurückzuführen ist, die sich in den betreffenden Gebieten bereits seit der jüngeren Kaiserzeit feststellen lassen. In Unterfranken fällt in 108 Whittaker, Frontiers (Anm. 107) bes. 192–278. 109 Horst Wolfgang Böhme, Germanen im Römischen Reich. Die Spätantike als Epoche des Übergangs. In: Menschen, Zeiten, Räume. Archäologie in Deutschland, hrsg. Wilfried Menghin/Dieter Planck (Stuttgart 2002) 295–305, hier 296. 110 Ebenda, 299. Bernd Steidl, „Römer“ rechts des Rheins nach „260“? Archäologische Beobachtungen zur Frage des Verbleibs von Provinzialbevölkerung im einstigen Limesgebiet. In: Kontinuitätsfragen. Mittlere Kaiserzeit – Spätantike, Spätantike – Frühmittelalter, hrsg. Susanne Biegert/ Andrea Hagedorn/Andreas Schaub. British Archaeological Reports, International Series 1468 (Oxford 2006) 77–87. 111 Böhme, Germanen (Anm. 109), 296.

348

Hubert Fehr

der Spätantike besonders die Menge und Qualität römischer Importfunde auf,112 die die Region in dieser Hin|100|sicht deutlich etwa vom oberpfälzischen Vorfeld von Regensburg113 unterscheiden, obwohl auch diese Landschaft durch Flüsse erschlossen wird und ein Durchgangsgebiet Richtung Böhmen darstellt. Auch verschiedene Baubefunde in Unterfranken deuten in diese Richtung, besonders der steingesetzte Brunnen in der Siedlung von Bad Königshofen (Lkr. Rhön-Grabfeld)114 sowie die Funde von Hypokaustziegeln in der Siedlung von Frankenwinheim (Lkr. Schweinfurt), die belegen, dass hier ein Gebäude in römischer Bautradition errichtet wurde.115 Ferner verdeutlicht auch die vielleicht in Mainfranken produzierte Drehscheibenkeramik römischer Formtradition116 eine besonders intensive römische Beeinflussung dieses Gebiets in der jüngeren Kaiserzeit. Gleiches gilt wohl für den thüringischen Raum, dessen vergleichsweise intensive Kontakte zum Römischen Reich bereits im Rahmen des frühen Aufkommens von Körperbestattungen angesprochen wurden.117 In die gleiche Richtung weist auch die lokal produzierte Drehscheibenkeramik römischer Machart, die in Haarhausen wohl sogar von römischen Handwerkern hergestellt wurde.118 Beim gegenwärtigen Publikationsstand ist die Situation in Böhmen nicht eindeutig zu beurteilen, wo parallel zu den frühesten Reihengräberfeldern die Körpergräber der sogenannten „Vinařicer

112 Bernd Steidl, Die Siedlungen von Gerolzhofen und Gaukönigshofen und die germanische Besiedlung am mittleren Main vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. In: Kelten, Germanen, Römer im Mittelgebirgsraum zwischen Luxemburg und Thüringen, hrsg. Alfred Haffner/Siegmar v. Schnurbein (Bonn 2000) 95–113, bes. 109 f. 113 Mathias Hensch, Mittelalter. In: Amberg und das Land an Naab und Vils, hrsg. Silvia Codreanu/Uta Kirpal/Gabriele Raßhofer. Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland 44 (Stuttgart 2004) 55–64, bes. 55; Thomas Fischer, Archäologische Funde der römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit aus der Oberpfalz (nördlich der Donau). Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 121, 1981, 349–388; Günther Moosbauer/Gabriele Sorge, Römische Funde im Barbaricum. Beiträge zur Archäologie in der Oberpfalz und in Regensburg 4, 2000, 301–320, hier 309–320. 114 Kerstin Nausch, Siedlungsbefunde der römischen Kaiserzeit und des frühen Mittelalters aus Bad Königshofen i. Grabfeld, Landkreis Rhön-Grabfeld, Unterfranken. Das Archäologische Jahr in Bayern 1995, 122–124, hier 124. 115 Dirk Rosenstock, Eine prachtvolle römische Emailscheibenfibel und weitere Erzeugnisse römischen Kunstgewerbes aus der germanischen Siedlung von Frankenwinheim, Landkreis Schweinfurt, Unterfranken. Das Archäologische Jahr in Bayern 1983, 120–122, bes. 122; Steidl, Besiedlung (Anm. 112) 110. 116 Bernd Steidl, Lokale Drehscheibenkeramik aus dem germanischen Mainfranken. Bayerische Vorgeschichtsblätter 67, 2002, 87–115. 117 Vgl. oben. 118 Sigrid Dušek, Römische Handwerker im germanischen Thüringen. Ergebnisse der Ausgrabungen in Haarhausen, Kreis Arnstadt, 1–2. Weimarer Monographien zur Ur- und Frühgeschichte 27 (Stuttgart 1992).

Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung?

349

Kulturgruppe“ verbreitet sind. Ein Zusammenhang zwischen beiden bzw. eine Vorbildfunktion wird aber gegenwärtig eher abgelehnt.119 |101| Bezieht man nun das Konzept der Grenzkultur in die Überlegungen zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes mit ein, so muss in Zukunft von insgesamt drei statt wie bisher nur von zwei (Römer und Germanen) kulturellen Faktoren ausgegangen werden: 1. dem ursprünglich eher zivil geprägten Milieu des provinzialen Hinterlandes, 2. der stark militarisierten und barbarisierten Grenzzone sowie 3. der eigentlichen Germania jenseits der Grenzzone (Abb. 5).

Abb. 5: Der Ursprung der Reihengräberfelder. Links: traditionelles Modell; rechts: Modell einer „Grenzgesellschaft“.

Sucht man nach den Wurzeln des Reihengräberhorizontes, so kommen meines Erachtens vor allem die ersten beiden kulturellen Milieus in Frage. Ein bedeutender Anteil der eigentlichen Germania jenseits der Grenzzone ist dagegen kaum nachzuweisen. Wie ich anhand der einzelnen Merkmale der Reihengräberfelder gezeigt habe, weisen die Wurzeln einerseits deutlich ins römische Milieu; andere Elemente sind neu, ebenso wie es sich bei der gesamten Bestattungsweise letztlich um eine Innovation handelt, die um die Mitte des 5. Jahrhunderts erfolgte. In der Vergangenheit wurden kulturelle Innovationen in diesem Jahrhundert, das mehr als viele andere eine Zeit des Umbruchs darstellte, vor allem den vermeintlich „jugendfrischen“ Germanenvölkern zugeschrieben. Die angeblich unterlegene einheimische Bevölkerung wurde dagegen vielfach als passives und leidendes Element der frühmittelalterlichen Gesellschaft angesehen, das als Motor kultureller Neuerungen nicht in Betracht gezogen wurde. Die Geschichtswissenschaft hat dieses Bild jedoch längst grundlegend revidiert. Für Gallien zeigte der Historiker Bernhard Jussen etwa, dass weniger germanische Migranten die römische Herrschaft auf dem

119 Jaroslav Tejral, s. v. Vinařicer Kulturgruppe. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 32 (Berlin, New York 2006) 414–432, hier 421.

350

Hubert Fehr

Gebiet des späteren Frankenreichs beendet haben als vielmehr die ein|102|heimische gallorömische Bevölkerung selbst.120 Begleitet wurde dieser Umbruch, wie sich anhand der Schriftquellen gut nachvollziehen lässt, von zahlreichen kulturellen, politischen und rituellen Innovationen. Durch diese versuchte sich eine Gesellschaft zu stabilisieren, deren gesamte traditionelle Matrix kultureller Ordnungen innerhalb weniger Jahrzehnte weitgehend bedeutungslos geworden war. Nicht allein Zuwanderer aus der Germania, sondern vor allem auch die alteingesessene Bevölkerung samt ihrer sozialen Eliten hatte allen Grund, eine neue und aufwändige Bestattungsweise zu kreieren bzw. zu übernehmen, durch die eine prekäre soziale Ordnung stabilisiert und gefährdetes soziales Prestige zum Ausdruck gebracht werden konnte. In diesem Sinne könnte das Aufkommen der Reihengräber als Element einer kulturellen Neuorientierung der Bevölkerung in den ehemaligen Grenzgebieten des Römischen Reiches gewertet werden.

120 Bernhard Jussen, Über Bischofsherrschaften und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen „Antike“ und „Mittelalter“. Historische Zeitschrift 260, 1995, 673–718; ders., Zwischen Römischem Reich und Merowingern. Herrschaft legitimieren ohne Kaiser und König. In: Mittelalter und Moderne, hrsg. Peter Segl (Sigmaringen 1997) 15–29; ders., Liturgie und Legitimation, oder: Wie die Gallo-Romanen das römische Reich beendeten. In: Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens, hrsg. ders./Reinhard Blänkner. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138 (Göttingen 1998) 75–136.

Kommentar

351

Kommentar In den 1990er Jahren lebte die Debatte um ‚ethnische Interpretationen‘ in der frühgeschichtlichen Archäologie wieder auf. Dazu trugen die politischen Umbrüche von 1989/1990 ebenso bei wie das europäische wissenschaftliche Großprojekt zur Untersuchung der Transformation of the Roman World – d. h. wissenschaftliche Motive ebenso wie öffentliche Einflüsse. Vorbereitet worden war diese lebhafte methodische Auseinandersetzung durch Kritik, wie sie seit den 1970er Jahren vornehmlich von der westeuropäischen an der deutschen archäologischen Forschung geübt worden war. In der Folge wurden die methodischen Prämissen beider Seiten zunehmend deutlich und ermöglichten nicht allein die fundierte Auseinandersetzung,1 sondern auch die Entwicklung neuer Perspektiven. Voraussetzung war eine verbreitete Unzufriedenheit mit traditionellen Fragestellungen. Auch wenn für die Brüder Lindenschmit noch klar gewesen war, dass es sich bei den Reihengräberfeldern der Merowingerzeit um ‚germanische‘ Bestattungsplätze gehandelt habe, blieb diese Auffassung mitnichten unbestritten. Hubert Fehr hat in seiner Freiburger Dissertation2 detailliert rekonstruiert, wie die Debatten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verliefen und wie sie von zeithistorischen Kontexte abhingen – also keineswegs rein wissenschaftlich und methodenstreng geprägt waren. Das zeigt sich insbesondere bei den Lindenschmits und ebenso bei Kossinna, die alle eine ‚germanische‘, aus nationalen Motiven gespeiste Sicht vehement vertraten – und den Germanen als ‚Vorfahren‘ der Deutschen einen Vorrang einräumten. Es zeigt sich aber gleichfalls auf westeuropäischer Seite, auf der man überwiegend dazu neigte, Thesen germanischer ‚Landnahmen‘ Kontinuitätsvorstellungen und Transformationsmodelle gegenüberzustellen, d. h. die römische Tradition zu betonen. Für Frankreich waren die ‚GalloRömer‘ viel präsenter und wichtiger als die (‚namengebenden‘) Franken.3 Die vergleichende Sicht auf beide Seiten, wie sie vor allem die westeuropäische Forschung angestoßen hat, lässt inzwischen Argumentationsstränge, gegenseitige Kritik und bisherige blinde Flecken gut erkennen. Wissenschaftsgeschichtlich wird deutlich, wie ungeach-

1 Vgl. Frank Siegmund, Alemannen und Franken. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 23 (Berlin, New York 2000); Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 42 (Berlin, New York 2004); Volker Bierbrauer, Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert aus archäologischer Sicht. Vom Kaukasus bis Niederösterreich. Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. Abhandlungen NF 131 (München 2008). 2 Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 68 (Berlin, New York 2010). 3 Für die Archäologie in Frankreich wurden die Franken überhaupt erst nach dem Ersten Weltkrieg interessant; vgl. Bonnie Effros, Uncovering the Germanic past. Merovingian archaeology in France, 1830–1914 (Oxford 2012).

352

Hubert Fehr

tet der jeweiligen Leiterzählungen Methoden und Interpretationen miteinander in Beziehung standen, und sei es auch nur in der Abgrenzung. Fehr gehört zu jenen Archäologen, die seit den späten 1990er Jahren den vermeintlichen Antagonismus von Römern und Germanen zunehmend kritisch betrachteten. Es machte sich zunehmend Skepsis breit, ob sich diese scharfe Gegenüberstellung – germanische ‚Landnahme‘ hier und römische Kontinuität dort – aufrechterhalten ließe. Dafür gab es zwei Gründe. Einerseits wurden die traditionellen historischen Leiterzählungen problematisiert, die sowohl ‚Völker‘ als handelnde Subjekte darstellten als auch einen Clash of Cultures in den Mittelpunkt rückten, d. h. den ‚Untergang‘ der römischen Welt und ihre Ablösung durch germanische Nachfolgereiche. Andererseits überzeugten die bisherigen archäologischen Interpretationen auch methodisch nicht mehr, denn weder ließ sich die Sachkultur insgesamt als eindeutiger Ausdruck ethnischer Identität plausibel machen noch sind bestimmte Typen von Fibeln beispielsweise als Symbole regionaler Zugehörigkeit zu belegen. Ersteres ist sozialgeschichtlich unwahrscheinlich, denn ethnische Identität ist nur ein Element komplexer Identitäten von Individuen, und letzterem widerspricht schon jede archäologische Verbreitungskarte, die sich – so ein dennoch mitunter benutzter Ausweg – auch nicht als direkte Wiederspiegelung von massenhafter Mobilität aus dem eigentlichen Verbreitungsgebiet heraus erklären lässt. Damit waren die beiden Säulen bisheriger Argumentation brüchig geworden.4 Parallel zu Studien von Guy Halsall5 und Frans Theuws6 hat Fehr vor diesem Hintergrund in seiner Freiburger Dissertation ein neues Interpretationsmodell entwickelt.7 G. Halsall betonte von Nordgallien ausgehend grundsätzlich, dass es sich bei den merowingerzeitlichen Reihengräberfeldern um die Bestattungsplätze von Gesellschaften ‚unter Stress‘ handelte; die soziale Unsicherheit habe ihren Ausdruck in der demonstrativen Zurschaustellung des Rangs von verstorbenen Fami-

4 Vgl. Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, hrsg. Sebastian Brather. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 57 (Berlin, New York 2008). 5 Guy Halsall, The origins of the Reihengräberzivilisation. Fourty years on. In: Fifth-century Gaul. A crisis of identity?, hrsg. John F. Drinkwater/Hugh Elton (Cambridge 1992) 196–207; ders., Archaeology and the late Roman frontier in Gaul. The so-called Foederatengräber reconsidered. In: Grenze und Differenz im früheren Mittelalter, hrsg. Walter Pohl/Helmut Reimitz. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 1 = Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. Denkschriften 287 (Wien 2000) 167–180. 6 Frans Theuws, Grave goods, ethnicity, and the rhetoric of burial rites in Late Antique Northern Gaul. In: Ethnic constructs in antiquity. The role of power and tradition, hrsg. Ton Derks/Nico Roymans. Amsterdam Archaeological Studies 13 (Amsterdam 2009) 283–319; ders./Monica Alkemade, A kind of mirror for men. Sword depositions in late antique northern Gaul. In: Rituals of power. From late antiquity to the early middle ages, hrsg. Frans Theuws/Janet L. Nelson. Transformation of the Roman world 8 (Leiden, Boston, Köln 2000) 401–476. 7 Fehr, Germanen und Romanen (Anm. 2), 681–783.

Kommentar

353

lienangehörigen gefunden – und eben nicht ihre Ursache in der germanischen Herkunft der Familien besessen. Dass diese Bestattungsplätze auf die Peripherie des bisherigen Reichs beschränkt blieben, liege an dem besonderen Stress in diesen politischen Randzonen. F. Theuws argumentierte ebenfalls, dass nicht ‚ethnische‘ Zugehörigkeit die Anlage und Ausstattung von Gräbern bestimmte. Aus seiner Sicht stellten Axt und Lanze in nordgallischen Gräbern auch gar nicht eine militärische Bewaffnung dar, sondern charakterisierten Landbesitz und Jagd als Lebensinhalt einer ruralen Elite. Die ‚Rhetorik‘ des Bestattungsrituals zielte also auch Theuws zufolge auf Rangdemonstration. Schließlich hat Bonnie Effros gezeigt, dass ‚Speis und Trank‘ bei der Bestattung (möglicherweise reflektiert in Gefäßbeigaben in Gräbern) eine gemeinschaftsstiftende Funktion besaß – also integrierend statt abgrenzend wirken sollte8– und dass Gräber mit einem Jenseits zu tun haben, dass nicht unbedingt heidnisch(-germanisch) gedacht war.9 Betrachtet man die merowingerzeitlichen Reihengräber als Idealtypus der Forschung, lassen sich mit H. Fehr seine drei Hauptmerkmale definieren: 1. Körperbestattung, 2. West-Ost-Ausrichtung der Gräber und 3. umfängliche Grabausstattung mit Kleidung(sbestandteilen) bei Frauen und Waffen bei Männern. Gehen die beiden ersten Kennzeichen auf römische ‚Vorbilder‘ – hier in den Westprovinzen des Reichs – zurück und dürfen daher als spätantike ‚Traditionen‘ gelten, so handelt es sich bei den demonstrativen Grabausstattungen um eine Neuentwicklung der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts; sie wurden nicht von anderswo mitgebracht, sondern entstanden in den Randzonen des sich auflösenden Imperium Romanum. Damit entfallen alle Argumente, die diese nach 450 neue Form der Bestattung mit einer ‚germanischen Landnahme‘ in Nordgallien, Alemannien oder Raetien zu verbinden suchen.10 Vielmehr handelt es sich um eine kulturelle Neuorientierung lokaler Bevölkerungen entlang der Peripherie des bisherigen römischen Reiches – erstaunlich ähnlich von Britannien über das Rheinland bis nach Bayern, von Pannonien über die Poebene bis in die spanische Meseta. Wahrscheinlich, so die gegenwärtige Hypothese, entdeckten die ‚Grenzgesellschaften‘ angesichts weggebrochener bisheriger, rombezogener Formen sozialer Repräsentation die Bestattung als neue Bühne dafür.11

8 Bonnie Effros, Creating community with food and drink in Merovingian Gaul (New York 2002). 9 Bonnie Effros, Caring for body and soul. Burial and the afterlife in the Merovingian world (University Park, Pa. 2002). 10 Vgl. Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, hrsg. Hubert Fehr/Irmtraut Heitmeier. Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1 (St. Otilien 2012). 11 Vgl. Halsall, Origins (Anm. 5). – Auch die Religion spielte keine zentrale Rolle, finden sich Reihengräberfelder doch in christlichen (Nordgallien) Regionen ebenso wie in der mutmaßlich heidnischen Alamannia.

354

Hubert Fehr

Aus dieser Perspektive spielt es keine Rolle, woher Individuen und Gruppen stammten – und wie sie ihre ‚Abstammung‘ selbst betrachtet haben mögen. Entscheidend sind die lokalen und regionalen Verhältnisse, die die Menschen zum Handeln veranlassten – und ihnen verschiedene Möglichkeiten ließen und andere verhinderten. Entlang der römischen Peripherie an Rhein und Donau dürften es Römer und Germanen (zumindest in analytischer Unterscheidung) gewesen sein, die diese Lokalgesellschaften bildeten. Die hier beigegebene Abb. 5 ist – mit H. Fehr – inzwischen zu modifizieren, denn die ‚Grenzzone‘ lag ausschließlich auf römischer Seite – nach außen (zur Germania) vom Limes begrenzt. Denn auffälligerweise liegen die Reihengräberfelder alle auf ehemals römischem Boden; die beiden augenfälligen Ausnahmen – Maingebiet und Thüringen – bestätigen insofern die Regel, als sie Regionen mit besonders intensivem Kontakt zum Imperium während der Kaiserzeit darstellen, wie die archäologische Forschung seit langem zeigen kann.12 Betrachtet man die Reihengräberfelder als ‚typisch‘ für die Situation des 5./6. Jahrhunderts in bestimmten Regionen, so öffnen sich neue Einsichten in die kulturelle Dynamik und ihren politischen Hintergrund. S. B.

12 Vgl. für Thüringen: Sigrid Dušek/Matthias Becker/Ines Eberhardt/Thomas Grasselt/Alexander Heising/Heike Künzel/Karl Peschel/Mario Schlapke/Mathias Seidel, Corpus der römischen Funde im europäischen Barbaricum Deutschland 8,1. Freistatt Thüringen 1. Südharzvorland, Saale-ElsterRegion, Thüringer Wald (Wiesbaden 2017).

Philipp von Rummel

The Fading Power of Images. Romans, Barbarians, and the Uses of a Dichotomy in Early Medieval Archaeology The role of ethnic identities in the early Middle Ages has been a much debated issue not only among historians, but also in archaeology.1 As a result of this debate, the intricacy of ethnicity and ethnic identity as analytical categories is now widely acknowledged. The number of studies which aim at reconstructing ancient ethnicity from distribution maps and cultural models alone is fortunately decreasing, whereas those who still have faith in traditional methods occasionally complain that recent critical tendencies jeopardize the status of archaeology as a historical discipline. The discussion within this area of archaeology is fuelled by the problem that there is little consensus on what we actually mean by ethnicity. To avoid terminological problems as far as possible,2 it should be noted at the outset that the following discussion relates to ‘ethnicity’ and ‘ethnic identity’ as expounded by Walter Pohl.3 In particular, we need to be aware of the fact that an ethnic name does not correspond automatically and permanently to a stable group. Ethnic identity is |366| not an intrinsic quality, but something that must be constantly reproduced in a respective discourse.4 This is also true for the central problem of this discussion, that is, Roman ethnic identity and its analytical value in early medieval studies.

1 The Problem and its Relevance In the following, I do not intend to discuss the fall of the Roman Empire. This paper does not call into question the existence of Goths or Vandals, or other groups with

1 Cf. most recently with bibliography: Pohl and Mehofer, eds, Archaeology of Identity; Pohl, ʻIntroduction: Strategies of Identificationʼ. 2 For more detail cf. von Rummel, ʻGotisch, barbarisch oder römisch?ʼ 3 Pohl, ʻIntroduction: Strategies of Identificationʼ. 4 Pohl, ʻArchaeology of Identityʼ; Brubaker, Ethnicity without Groups. Note: This work originated as part of the Wittgenstein Prize Project, which is supported by the Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) and led by Walter Pohl at the Institut für Mittelalterforschung of the Österreichische Akademie der Wissenschaften at Wien. I would like to thank Walter Pohl, Roland Steinacher, Gerda Heydemann, Paul Zanker, Henner von Hesberg, and Richard Neudecker for their critique and suggestions. We are thanking Brepols Publishers for the kind permission to reprint this article. https://doi.org/10.1515/9783110563061-014

356

Philipp von Rummel

ethnic names, nor does it doubt that between the third and the eighth centuries massive political, social, and economic changes took place. Rather, I will focus on one particular problem, that is, on the transformation of the interpretative framework through time. I would like to raise the question of whether the familiar dichotomy between Roman and non-Roman is a useful foundation upon which to base our explanation of archaeological phenomena in the early Middle Ages. Taking its cue from the title of a famous book by Paul Zanker,5 this paper questions the power of Roman images as our point of departure for explanatory models in post-Roman Europe. The key problem here is the image of Romanness in both a specific and a wider sense – in its material representations and the ideas which they convey. Images and other archaeological artefacts can be viewed as constituting a body of social knowledge. They form part of an ʻorder of discourseʼ, as Walter Pohl explains.6 Like texts, images belong to the symbolic language that allows to mark, communicate, legitimize, affirm, deny, or negotiate identity and difference among ethnic groups. Not only do they belong to this discourse, but they also serve to translate the complexity of societies into more clearcut forms. The Roman period was characterized by an ingenious handling of images, which was tied to complex networks of social communication.7 Images were geared towards representing the needs of the community; but since experience of the present largely depends on knowledge of the past, contemporary imagery was rife with traditional views. For centuries, the Augustean vision of Romanness and the image of the ʻOtherʼ were of great importance in the Roman Empire. This vision was itself largely bound to the Hellenistic binary division of the |367| world into Greeks and/or Romans on the one hand, and barbarians on the other. Even if a homogenous Roman identity had always been an ideal rather than reality,8 the gens togata, as a manifestation of Romanness, remained a literary and iconographic topos right into the fifth century and beyond, as did the contrasting depiction of the barbarian. The political changes of the late fourth and fifth century, however, led to a profound crisis of representation. Whereas the fourth-century answer to this crisis was a strong emphasis on Roma aeterna,9 the fifth century brought about a need to redefine Rome in changed political and social surroundings.10 Despite the growing body of scholarly work from different fields within late antique and early medieval studies which addresses the crisis of Roman identity in the West, it is surprising that even nowadays, much of it is based on explanations

5 Zanker, The Power of Images in the Age of Augustus. 6 Pohl, ʻIntroduction: Strategies of Identificationʼ, pp. 27–32, 39. 7 For an overview cf. Hölscher, ʻBildwerke: Darstellungen, Funktionen, Botschaftenʼ; Bergmann, ʻRepräsentationʼ. 8 Giardina, L’Italia Romana; Dench, Romulus’ Asylum. 9 Cf. Paschoud, Roma aeterna. 10 Maas, ʻEthnicity, Orthodoxy and Communityʼ; Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West; Pohl, Die Völkerwanderung.

The Fading Power of Images

357

better suited to the Augustan period than to the early Middle Ages. ʻRomanʼ in its essentialist meaning is still widely considered an objective parameter for the interpretation of early medieval problems. It is usually combined with a non-Roman factor to form simple binary systems: Roman v. barbarian, Roman v. German, Roman v. Gothic, Roman v. Lombard, and so forth. It goes without saying that the counterparts of ʻRomanʼ are also usually conceived as essentialistic units. Many Roman authors would take much pleasure in knowing how readily some modern historians and archaeologists buy into their intellectual concepts. But it is also distressing to see just how much impact, contrary to better knowledge, the generalized dichotomy between Roman and barbarian/Germanic still has on almost every aspect of research on the transition from Antiquity to the Middle Ages, from historiography to disciplinary boundaries to the establishment of research networks.11 Despite various recent publications dedicated to problems of Romano-Germanic acculturation, it is well known today that, from a theoretical point of view, traditional methods developed in acculturation studies are not easily transferable to the field of history. As defined by the anthropologists Redfield, Linton, and Herskovits,12 the study of acculturation requires certain preconditions which |368| are, at least for the subject to which this volume is dedicated, almost impossible to meet. The problem is rather straightforward: is it not possible to define either clearly separated ʻdifferent culturesʼ nor ʻfirst contactsʼ between cultures in late antique and early medieval Europe.13 Nevertheless, the question of how new groups in Roman territory differed from others, and how this difference varied in the course of time, remains an important and legitimate one. More appropriate theoretical concepts, such as hybridity or liminality, allow for a much more open-minded approach to these problems.14 As a concept in late antique studies, hybridity is, however, feasible only if it is not bound to the same sort of essentialist models that prevail in traditional studies of acculturation.15 Recent archaeological studies on early medieval cemeteries and settlements across Europe provide a wide range of examples for the ways in which essentialist ethnic models serve as a starting point for explaining the evidence.

11 Cf. Pohl, ʻDie Anfänge des Mittelaltersʼ; Pohl, ʻVom Nutzen des Germanenbegriffsʼ; Gillett, ʻThe Mirror of Jordanesʼ. 12 Redfield, Linton, and Herskovits, ʻMemorandum for the Study of Acculturationʼ, p. 149: ʻAcculturation comprehends those phenomena which result when groups of individuals having different cultures come into continuous first-hand contact, with subsequent changes in the original culture patterns of either or both groupsʼ. 13 On the distinction of cultural groups, see Brather, ʻKulturgruppe und Kulturkreisʼ. ʻFirst contact’ did not exist in late antique and early rnedieval Europe, as every acting ʻforeignʼ group in this period had contact with the Roman Empire before entering Roman territory, or was a product of the Roman Empire itself. For acculturation as a problem of methodology in historical research, see Gotter, ʻAkkulturation als methodisches Problemʼ. 14 See, for example, Bhabha, The Location of Culture. 15 As to these problems cf. Pieterse, Globalization and Culture.

358

Philipp von Rummel

Critical approaches towards this practice are usually countered with the allegation that, if archaeology were to follow recent critical tendencies, it would lose its capacity to work historically, and that the discussion poses a real threat to archaeology’s status as an independent academic field. Besides, the discussion has again become increasingly politicized; this shows that different conceptions of the Migration Period largely depend on one’s understanding of ancient ethnicity and identity. Historians, therefore, face the constant challenge to assess the multiple levels of ʻcollective memoryʼ and ʻsocial memoryʼ of different generations.16 Reassessing familiar presuppositions does not inevitably lead to the disastrous outcomes that have been predicted by some European scholars in recent years. Ancient societies can be imagined in a number of different ways, and thus reveal the varying importance |369| of the classical world for the explication and structuring of the modern world. It is crucial to study and to discuss the rules according to which the differences and similarities of human beings were shaped. For the study of ethnic identity in this period, it is important to recognize that traditional ways of thinking about rulership and Roman identity within a Roman imperial framework underwent significant changes from the fifth century onwards. They did not, however, disappear entirely. Ethnographers were still able to describe the traditional distance between the uncivilized peoples and their own society in ways that had not changed much since the time of Herodotus. Time-honoured models persisted, yet the world which they were supposed to explain was constantly changing. The discourse within which the old models were used had to be continually adjusted to new circumstances, a process that continues to the present day. Ancient Roman conceptions of social classification still form part of our social memory, mainly by virtue of the surviving Roman texts and their cultural authority which was reinvigorated since the Renaissance. This also holds true for the sharp distinction between Romans and barbarians discernible in different genres of Roman art and literature. If we use dualistic models of Romanness and ʻOthernessʼ to explain early medieval phenomena, we need to consider the historical changes and continuities of the concepts of ʻRomanʼ and ʻbarbarianʼ. To this end, we can distinguish three general phases: (I) Imperial Roman conceptions of Romans and barbarians (II) Ambiguities and challenges to the concept in the post-imperial West (III) Modern uses of the binary system Of course, within these phases, modifications occurred in the perception and depiction of barbarians. The important point for us, however, is that the general aspects of the

16 Cf. Halbwachs, On Collective Memory, trans. by Coser; Fentress and Wickham, Social Memory; Assmann, Das kulturelle Gedächtnis; and on late Antiquity in particular Diefenbach, Römische Erinnerungsräume, esp. pp. l–l9.

The Fading Power of Images

359

conceptual dichotomy between Romans and barbarians survived surprisingly unchanged from Roman times tight into modern historiography. It seems that the redefinition of Romanness in the time of Augustus, its later permanence, and its transformation in Christian thought has a much wider impact on recent historiography than we usually tend to admit.17 The question therefore is about the heuristic value of this concept for modern historiography and archaeology, especially for interpreting cemeteries, which will be discussed in Section 4 of this paper. Sections 2 and 3 lead up to this question by discuss|370|ing the apparent immutability and yet steady transformation of the contrast between ‘Roman’ and ‘barbarian’. Section 5 concludes with a bid for a more prudent use of the term ‘Roman’ in early medieval archaeology, and for an explanatory framework that is more suitable to the period under consideration.

2 The Power of Images: Imperial Conceptions of Romans and Barbarians (Phase 1) Within the Roman Empire, it had been common for centuries to set one’s own Roman position within a binary system which was derived directly from Greek thought, but which also built upon traditions that can be traced back as far as Egypt and the Near East in the fourth century BC.18 According to this model, the Greco-Roman world was surrounded by barbarians who embodied the qualities, both positive and negative, of the Other. Imperial art and literature forcefully instantiated this Gegenwelt, a clearly delineated opposite that illuminated the uniqueness of the Roman world.19 It was a construct that had always been based more on a theoretical discourse than on practical experience. The model provided a neat and easily understandable means of expressing belonging and difference. Multifarious phenomena were thus reduced to simplified images, which lent structure to their complexity and made it easier to articulate them. The number of visual representations of outsiders rose dramatically under the Emperor Augustus. From then on, they would be among the most popular themes of Roman representational art, and can be found in almost every type of monument. The internal consolidation of the principate demanded external success in order to legitimize Augustus’s reconfiguration of the political structures of the Empire.20 The public expressions of the contrast between outsiders and Romans, as well as of the subjugation of

17 Paschoud, Roma aeterna. As to the transformation in Christian thought, cf. Corradini, ʻDie Ankunft der Zukunftʼ, and the contribution by Maya Mascarinec in this volume [Post-Roman traditions (Turnhout 2013)]. 18 Moscati, Historical Art in the Ancient Near East; Frankfort, The Art and Architecture of the Ancient Orient, pp. 33–35 and 43–44. 19 Zanker, ʻDie Gegenwelt der Babarenʼ. 20 Kienast, Augustus, pp. 92–100.

360

Philipp von Rummel

the Other, also served to underline the ideology of Roman world domination, stressed at the time and claimed throughout the following centuries.21 This contrast between Roman and barbarian, and the overthrowing of the latter, remained a constant theme in texts and images during the consolidation of the Empire under the tetrarchs, as well as under the Constantinian and Theodosian dynasties. It |371/372| clarified Rome’s mission to civilize the barbarians and simultaneously justified Roman imperialism. This Roman self-image was unimaginable without the sharp otherness of the barbarian. The well-known Ludovisi Battle Sarcophagus, dating from c. AD 260, is a prime example of this iconography (Fig. 1). The Roman army’s triumph which it depicts hardly looks like a real battle. It is more a representation, almost a caricature, even – which is just as purposeful – of the humiliation of two defeated hordes of barbarians. The barbarian enemies, relegated to the lower section, are portrayed in wild disorder through gesture, facial expression, clothing, and weaponry, while the Romans proceed above them upright and in disciplined lines.22 The Roman Empire’s unique identity was continually called to mind and reproduced in different genres of art and literature, through the marked contrast with the Other, the outsider. The ‘Other’ was a stereotype, moulded, in part, after form inherited from Greek art; it did not describe a ‘real world’ which existed in opposition to the

Figure 1: ʻThe Ludovisi Battle Sarcophagusʼ, Roma, Museo Nazionale Romano, Palazzo Altemps. c. AD 260. Photo: Deutsches Archäologisches Insitiut Rom, Inst. Neg. 58.2011.

21 Cf. Schneider, ʻBarbar II (ikonographisch)ʼ. 22 See the entry by Lucilla de Lachenal, in Giuliano, ed., Museo nazionale Romano, I, 5, no. 25, p. 56; Künzl, Ein Traum von Imperium.

The Fading Power of Images

361

Roman Empire. It was an ideological construct which formed part of the conceptual background of every fairly well-educated Roman.23 At the same time, everyone who had actually come into contact with the ‘outsiders’ or had taken part in a battle knew that the contrasts were not quite as clear as they tended to be represented in image and text. Romans in the different regions of the Empire were very different from one another and often hardly ‘Romanized’ at all outside the regional centres, while their neighbours and those further beyond the frontiers were seldom as barbaric as artists and writers liked to claim.24 Such propagandistic images must have seemed grotesque in situations where their distance from reality was obvious. Lactantius’s description of the encounter between the Sassanid King Shapur and the Roman Emperor Valerian vividly makes this point. According to Lactantius, whenever Shapur wanted to mount a horse or climb into a carriage, he commanded the captured Emperor to bend over, so that the King could then set his foot on the Roman’s back and say, laughing reproachfully, that this was the real world, not what Romans liked to depict in paintings and on walls.25 |373|

3 A Long Life: Ambiguities and Challenges to the Concept in the Post-Imperial West (Phase II) Even as the military situation of the Roman Empire became increasingly tense in the late fourth and above all early fifth centuries, this did not bring an end to the old images. On the contrary, against the backdrop of a renewed intensification of the ideology at the end of the fourth century, the old image of the barbarian became especially vital for describing the positive and distinctive qualities of Romanness. In the late fourth and first half of the fifth centuries, the answers that the intellectual elite developed in response to the pressing question about the continuity of the Empire were not trendsetting but traditional. Given the rapidly increasing re-

23 Christ, ʻRömer und Barbarenʼ; Dauge, Le Barbare. 24 Cf. for example Woolf, Becoming Roman, who states (p. 241) that nothing was more characteristic of life in the Roman Empire than being ʻculturally peripheralizedʼ; Kulikowski, Rome’s Gothic Wars, pp. 34–43. 25 Lactantius, De mortibus persecutorum, trans. by Städele, v. 2–3. pp. 100–03: ʻHic captus a Persis non modo imperium, quo fuerat insolenter usus, sed etiam libertatem, quam ceteris ademerat, perdidit vixitque in servitute turpissime. Nam rex Persarum Sapor, is qui cum ceperat, si quando libuerat aut vehiculum ascendere aut equum, inclinare sibi Romanum iubebat ac terga praebere et imposito pede supra dorsum eius illud esse verum dicebat exprobans ei cum risu, non quod in tabulis aut parietibus Romani pingerent’.

362

Philipp von Rummel

gionalization of the Empire and the differences between the various barbarian groups who both faced and settled within it from the late fourth century onwards, the old Roman/barbarian dichotomy became wholly divorced from reality. Still, this did not prevent the continued success of the concept.26 The Suda contains a story of Attila’s disgust over Roman images of victory, which precisely captures the inadequacy of the old Roman iconographic vocabulary: Milan: A city filled with men, which Attila took and whose population he sold into slavery. When he saw a picture of the Roman emperor sitting on a golden throne with dead Scythians lying at his feet, he called a painter and demanded that he himself be depicted on a throne with Roman emperors carrying sacks of gold on their shoulders and emptying them at his feet.27

This story underlines the power of images. Even the most conservative iconographic patterns cannot be dismissed as mere rhetoric removed from contemporary reality, but need to be understood as forms of representation which |374| were discussed and taken seriously as agents of identity. As part of a broader discourse, they help to define the boundaries within which identity and otherness are continually negotiated and adjusted. In a slightly different vein, this is also true of the nave mosaics of Santa Maria Maggiore in Rome, created between 432 and 440, which also underline |375| the persistence of old imagery (Fig. 2). The depiction of the first victory of the Israelites over the Amorites (Ios. 10. 9–10) draws upon a model comparable to the relief on the above-mentioned Ludovisi Battle Sarcophagus.28 In the case of Santa Maria Maggiore, the ancient symbolism and motifs of the Roman/barbarian theme are transferred to a Christian context and projected onto the Old Testament. A similar interplay between biblical texts, traditional Roman principles of order and contemporary realities can also be observed with regard to late antique exegesis of biblical texts.29 Even after the fall of the western Empire in 476, when there were no more western Roman emperors left to appear in triumphal iconography, the ancient images and their underlying notions continued to flourish. The process of social and political change did not significantly alter the strategies deployed for antibarbarian propaganda in representational art, which by definition catered to the political need to

26 Cf. for example Heather, ʻThe Barbarian in Late Antiquityʼ, p. 242; Dewar, ʻWe’re All Romans Nowʼ. 27 Suda, Adler mu 405, s.v. ‘Μεδιόλανον’: · πολυάνθρωπως πόλις, ἣν καταλαβὼν Ἀττήλας ἠνδραποδίσατο. ὡς δὲ εἶδεν ἐν γραφῇ τοὺς μὲν Ῥωμαίων βασιλεῖς ἐπὶ χρυσῶν θρόνων καθημένους, Σκύθας δὲ ἀνηρημένους καὶ πρὸ τῶν σφῶν ποδῶν κειμένους, ζητήσας ζωγράφον ἐκέλευσεν ἁυτὸν μὲν γράφειν ἐπι θάκου, τοὺς δὲ Ῥωμαίων βασιλεῖς κωρύκους φέρειν ἐπὶ τῶν ὤμων καὶ χρυσὸν πρὸ τῶν αὑτοῦ χέειν ποδῶν;. [accessed l June 2010]. Cf. Priscus, Fragmenta, XXII. 3, in The Fragmentary Classicising Historians, trans. by Blockley, II, p. 314. 28 Deckers, Der alttestamentliche Zyklus von S. Maria Maggiore, no. R l7a, pp. 253–59. 29 Pohl, ‘Introduction: Strategies of Identification’, pp. 32–33; Heydemann, ‘Biblical Israel and the Christian gentes’.

The Fading Power of Images

363

Figure 2: ‘Victory of the Israelites over the Amorites’, Roma, Santa Maria Maggiore. c. AD 432–40. Reproduced after Brandenburg, Die frühchristlichen Kirchen Roms, p. 187, Abb. 104.

legitimize Roman rule.30 Romanness and ‘barbarianness’ therefore retained their appeal as tools for mapping the world. They were even adopted by the Empire’s successor states. The Byzantine historian Procopius of Caesarea transferred the old role models to the context of the Vandal kingdom, with the Vandals fulfilling the part

30 Schneider, ʻBarbar II (ikonographisch)ʼ, p. 944.

364

Philipp von Rummel

traditionally played by the Romans and the Moors taking the barbarian side.31 The educated Roman senators in the Ostrogothic kingdom of Italy likewise hearkened back to the ancient images.32 One of the most famous depictions of defeated barbarians is the Barbarini ivory, dating to the reign of Justinian. The ivory depicts the mounted Emperor in armour with a cruciform sceptre, trailed by a barbarian leader in much smaller scale, all beneath Christ, who bestows blessings upon the scene. In the lower panel, two lines of defeated barbarians flock together to pay homage.33 Although there is a marked decline in the number of depictions of barbarians produced in reliefs and sculptures, this does not mean that the concepts associated with them lost their relevance. Instead, elites changed their strategies of representation. Not only did the barbarian topoi remain in use, there is |376| also evidence from the sixth-century West that the concept of Romanness continued to function as a category to order the contemporary world. In his mid-sixth-century account of Justinian’s Gothic wars, Procopius reports on Gaul: Now other Roman soldiers, too, had been stationed at the frontiers of Gaul to serve as guards. And these soldiers, having no means of returning to Rome, and at the same time being unwilling to yield to the enemy, who were Arians, gave themselves, together with their military standards and the land which they had long been guarding for the Romans, to the Arborychi and Germans; and they handed down to their offspring all the customs of their fathers, which were thus preserved, and this people has held them in sufficient reverence to guard them even up to my time. For even at the present day they are clearly recorded in the traditional registers to which they were assigned when they served in ancient times,34 and they always carry their own standards when they enter battle, and always follow the customs of their fathers. And they preserve the dress of the Romans (σχῆμα τῶν Ῥωμαίων) in every particular, even as regards their shoes.35

Procopius thus affirms that, in fifth-century Gaul, there were still soldiers who were recognizably Roman from their outward appearance. Agathias, writing some decades later, adds one further point in support of seeing outward appearance as a criterion of distinction. With regard to the Franks, he states: […] the Franks are no nomads, as indeed some of the barbarian peoples are, but their system of government, administration, and law is modelled more or less on the Roman pattern, apart from which they uphold similar standards with regard to contracts, marriage, and religious

31 Procopius, Bella, ed. and trans. Dewing. III. 25.5–8, II, pp. 200–03. 32 von Rummel, Habitus barbarus, pp. 76–82. 33 Delbrueck, Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler, no. 48, pp. 188–96; Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike, pp. 47–48 (no. r. 48 with table 26). 34 Dewing translated ‘they are clearly recognized as belonging to the legions to which they were assigned’. I changed this as the original ἔκ τε γὰρ τῶν καταλόγων ἐς τόδε τοῦ χρόνου δηλοῦνται, ἐς οὕς τὸ παλαιὸν τασσόμενοι ἐστρατεύοντο does not refer to a legion as an army unit but to lists, registers (κατάλογοι). 35 Procopius, Bella, trans. Dewing, v. l2. l6–19, III, p. 123. For ethnography in Procopius, see Cesa, ‘Etnografia e geografia’.

The Fading Power of Images

365

observance. They are in fact all Christians and adhere to the strictest orthodoxy. They also have magistrates in their cities, and priests, and celebrate the feasts in the same way as we do, and, for a barbarian people, strike me as extremely well-bred and civilized and as practically the same as ourselves except for their uncouth style of dress and peculiar language (μόνον τὸ βαρβαρικòν τῆς στολῆς καὶ τò τῆς φωνῆς ἰδίάζον).36 |377|

The old elements of distinction – otherness, dress, and appearance – once again fulfil a crucial function here. As before, ‘Roman’ and ‘civilized’ were an inseparable pair; Agathias puts Catholic Christian orthodoxy to the foreground as a unifying bond. This clearly demonstrates a change in priorities during the sixth century. The dichotomy between civilization and barbaricum still functioned as an interpretative framework, but its structure had changed. Other criteria had now replaced the contrast between Romans and barbarians as the main object of interest.37 But what does the difference between Roman and barbarian mean in the light of these changes? With regard to the usefulness of the Roman/barbarian binary model in the early Middle Ages, it is significant that, according to Procopius, there were Gaulish Romans who distinguished themselves from their neighbours not only by their appearance, but by their lineage. Before the passage about the remaining Romans, Procopius writes of the Arborychi, who were in the service of Rome. As he moves on to the passage just cited, he comments that there were also ‘other Roman soldiers’ (καὶ στρατιῶται δὲ Ρωμαίων ἕτεροι) on the frontiers of Gaul. This is a common feature in Procopius. When writing on the wars, he regularly describes soldiers in Roman service as Romans, even when it is clear that they are not actually Romans, but people of different origin. Nonetheless, these ‘Romans’ are on the emperor’s payroll and under his orders, which accounts for their political loyalty as Romans. Among the Gauls, this is clearly not the case. While they have allied themselves, faute de mieux, with the Franks, they also preserve the traditions of the Roman army, including outward appearance. This information provided by Procopius is much more difficult to integrate with our wider understanding of this problem than the passage from Agathias. Other sources, in contrast to Procopius’s observations, much more often point towards the conclusion that within the military sphere in particular, sharp divisions between Romans and non-Romans were not easy to come by. Rather, ‘military’ and ‘barbarian’ became closely intertwined notions.38 It is especially interesting to note that Procopius alludes to traditional lists or personnel rosters (κατάλογοι). Hence Procopius adds another dimension to the social and professional aspect of the military, namely the category of ancestry, which brings his perception of this group of ‘Romans’

36 Agathias, Historiae, ed. by Keydell, I. 2. 3–4, p. 11 (Agathias, The Histories, trans. by Frendo, p. l0). Cf. Cameron, Agathias; Maas, ‘“Delivered from their Ancient Customs”’, pp. l7l–74. 37 Cf. e.g. Greatrex, ʻRoman Identity in the Sixth Centuryʼ; Maas, ʻ“Delivered from their Ancient Customs”ʼ; Newbold, ʻAttire in Ammianus and Gregory of Toursʼ. 38 von Rummel, Habitus barbarus.

366

Philipp von Rummel

in Gaul close to a gens in the original meaning of the word. As a consequence of |378| political events in Gaul, the Roman military unit was apparently compelled to act independently, and the strategies they developed to do so made them comparable to barbarian groups that had developed from army units.39 If Procopius is reliable, some Gaulish Romans drew on traditions of the Roman army; yet as ‘Romans’, they were no longer part of a large interregional organization, but formed a group of small or middling size, not dissimilar from other gentes which surrounded them. Unfortunately, we cannot be sure as to what these soldiers really looked like, or, most importantly, whether their dress indeed differed from that of their Frankish neighbours in aspects beyond the use of ancient unit emblems (and perhaps other military features which were no longer common elsewhere). It is nonetheless clear that Romanness in this case could no longer be conceptualized as part of a binary pattern, but had to be redefined as merely one unit among many within a world of gentes.

4 A Successful Reanimation: Modern Uses of the Roman-Barbarian Binary Model (Phase III) If we can thus observe a remarkable persistence in concepts from the imperial period (Phase I) in late Antiquity, they also had to be constantly adapted to new circumstances (Phase II). Nonetheless, modern historical and archaeological discussion still mainly employs the two poles of ‘Roman’ and ‘barbarian’ as they were used in Phase I. A socalled ‘Germanic’ fibula, for instance, regularly becomes ‘Roman’ in archaeological interpretations if there are enough examples of the type in the Mediterranean. The main point of contention with regard to Childeric’s grave still remains the question of whether it is ‘Roman’ or ‘barbarian’, or both, while a Grubenhaus is so utterly un-Roman that it is uncritically taken as the final proof of the end of Roman civilization. But is this really the question we should be asking? The fact that ancient terminology survived into the early Middle Ages does not imply that phenomena of this period can be interpreted like second- or third-century problems. Romans and barbarians should rather be analysed as part of a shared world, differentiated between centres and peripheries, not as separate, clearly distinguishable cultures.40 In Roman literature, we can observe a conscious debate about this idea of cultural change. Writers of the Greco-Roman East, for example, described |379| how intellectuals of Roman, Celtic, or Syrian origin, through their acceptance of Greek paideia, gained membership within a prestigious group of scholars and

39 Cf. Steinacher, ʻZwischen Rom und den ʻBarbarenʼ. 40 Cf. Dick, Der Mythos vom ʻgermanischenʼ Königtum; Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, pp. 63–162.

The Fading Power of Images

367

acquired skills in Attic Greek.41 Transformation was indeed possible, not least from an intellectual point of view. Barbarians did change, and Romans also changed. Following the rapid political developments of the late fourth and fifth centuries, Roman intellectuals were forced to readjust their Romanness, not only (albeit mainly) in the Roman West. To be Roman had lost one of its most important qualities in the late fifth-century West, namely that of being part of the political and administrative system represented by the Roman Empire. Other elements of the complex phenomenon that we call ‘Rome’ survived, but in the sixth and seventh centuries it became increasingly difficult to define what was Roman and what was not.42 It was now no longer possible – even if we assume that this had ever been the case – to distinguish easily between barbarian and Roman, a development that already became apparent with Cassiodorus’s effort to combine Gothic rule and Italian romanitas.43 What did survive, of course, was the binary system that set the boundaries between ‘Us’ and ‘the Others’; it was, after all, very convenient. But both poles of the binary model had changed. In archaeology, the particular persistence of the Roman/barbarian dichotomy was based on the assumption that old concepts retained their meaning, but that the channels and media of transmission shifted from text and image to archaeological finds. As the evidence from literary and iconographic sources declines in quantity from the second half of the fifth century onwards, the number of large cemeteries with richly furnished graves increases, a phenomenon found in every part of the former western Empire with the exception of North Africa.44 And the building blocks of the new political order, the barbarian successor states, were at least nominally ethnic.45 While most archaeologists agree that it is difficult to distinguish between single Germanic groups in the archaeological evidence, the contrast in the later fifth century between Romans |380| and barbarians is widely considered to be more obvious than in the preceding centuries.46 Based upon authors such as Procopius and Agathias, who suggest a distinction between ‘Roman’ and ‘non-Roman’ forms of costume and outward appearance, early medieval archaeology, from its very beginnings as a discipline, has ventured to identify material evidence according to this binary model.47 Our point of departure is thus a paradox: whereas the groups which originated in the political disintegration of the Roman Empire ultimately prevailed as a structuring

41 Cf. Swain, Hellenism and Empire; Goldhill, ed., Being Greek under Rome; Steinacher, ‘Transformation und Integration’. 42 Cf. the paper by Maya Maskarinec in this volume [Post-Roman traditions (Turnhout 2013)]. 43 Moorhead, Theoderic in Italy, pp. 66–89; Amory, People and Identity in Ostrogothic Italy, pp. 43–78; Hen, Roman Barbarians, pp. 27–58. 44 Ament, ‘Reihengräberfriedhöfe’. 45 Pohl, ʻDie Anfänge des Mittelaltersʼ; Pohl, ʻThe Politics of Changeʼ; Pohl, ʻRegnum und gensʼ; Goetz, ʻIntroductionʼ. 46 Cf. Bierbrauer. ʻZur ethnischen Interpretationʼ, esp. pp. 50–57. 47 Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich; von Rummel. Habitus barbarus, pp. 18–64.

368

Philipp von Rummel

principle for supra-regional order, pointing towards a Europe of nation states,48 the number of sources describing the visual expressions of belonging to one of these groups declines. Simultaneously, archaeological finds which are interpreted as strategies of differentiation increase in number from the sixth century onwards, particularly burials. The so-called Reihengräber (row graves) and new forms of material objects now dominate the picture; they even appear in regions where barbarian influence was weaker than it was in northern Gaul, southern Germany, or along the Danube.49 Thus, within certain spheres of material culture, there seems to appear a clear contrast between the graves attributed to the Roman population on the one hand,50 and the barbarian migrants on the other. The contrast on which this powerful image rests is an old friend: the contours of barbarian, or un-Roman, culture are defined and identified only against the backdrop of traditional Roman culture. In view of this situation, it is debatable whether we are dealing with a change in media of transmission. Can we really still trace the old dichotomy between Romans and barbarians after the political collapse of the western Roman Empire, albeit now with archaeological finds instead of texts and images? Scholarly debate on this question turns above all on the distinction between northern barbarian influences and Roman peculiarities in material culture. Similar problems and questions, which arise in other parts of the Empire, for example in Africa, Egypt, Arabia, or the Asian frontier, have been com|381|paratively neglected. With regard to the question of the distinction between Germans and Romans, Volker Bierbrauer has recently compiled all the relevant data on the archaeology of Roman burial customs for the Reallexikon der Germanischen Altertumskunde.51 He persuasively demonstrates that burial customs varied widely, even within relatively small regions. This makes establishing a norm difficult. The general taste was for west-east oriented graves, sometimes stone-lined in varying ways, crypts, or slab graves with the corpse lying on its back. In contrast to so-called ‘Germanic’ burials, grave goods are generally absent from these ‘Roman’ graves.52 With respect to the overwhelming lack of grave goods, Roman graves are distinctive, according to the widely accepted traditional view, first and foremost due to the lack of weapons in male burials, and the absence of substantial metal finds in certain positions in female burials.53 The identification of Roman elements thus proceeds largely from the definition of so-called Germanic

48 Geary, The Myth of Nations. 49 See for example Zeiß, Die Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich; Ripoll López, Toréutica de la Bética; Sasse, ‘Westgotische’ Gräberfelder auf der iberischen Halbinsel; Jepure, ʻInterpretationsprobleme der Westgotenarchäologieʼ; Barbiera, Changing Lands in Changing Memories; Gastaldo, ʻI corredi funerari nelle tombe “tardo romane”ʼ; Bierbrauer, ʻArchäologie der Langobarden in Italienʼ. 50 Bierbrauer, ʻRomanenʼ, p. 212. 51 Bierbrauer, ʻRomanenʼ, passim. 52 Bierbrauer, ʻRomanenʼ, p. 213. 53 Riemer, Romanische Grabfunde, p. 21.

The Fading Power of Images

369

material. The migration-period horizon of the Lombards in Italy is commonly regarded as an especially clear example of this distinctiveness. It is distinguished by ‘the initial appearance of an external cultural facies within a completely differently structured environment, that is, the otherness of the Roman environment’.54 Out of two fixed frames of reference, therefore, one immigrant and one native, only one is – supposedly – precisely defined. The often-invoked ‘Roman cultural model’ takes shape primarily with reference to the ‘Germanic model’. Coherence is derived not with reference to one culture – however multifaceted and varied in itself – but by its contrast with the Other. The element of alterity within this binary system, formerly conceived as the barbarian world outside the Roman Empire, is transformed into Vandal, Ostrogothic, Lombard, or Frankish culture within the borders of the former Empire. In early medieval archaeology, therefore, the overwhelming lack of ‘Germanic’ features remains the decisive criterion for the identification of Roman graves. There is a well-established consensus among scholars on the outward appearance of the Other, the non-Roman groups, at least with regard to burial archaeology, from which most of the relevant evidence is derived. Above all, rich personal furnishings are taken to be incompatible with the Christian belief that the modes of burial will not make a difference in the life to come.55 |382| Traditional scholarship regarded the Romance-speaking population as largely Christian, whereas the immigrant barbarian groups, despite their superficial, or partial, Christianization, were thought to have preserved their pagan heritage, along with a belief in the importance of endowing their dead with goods. Grave goods in general were therefore seen as signs of the Other. Grave goods which were, and still are, singled out for their non-Roman character include certain types of weapons in men’s graves, above all two-edged slashing swords and shields, and certain types and combinations of brooches (the ‘peplos dress’ or ‘multiple brooch dress’), jewellery and belt fittings among women. The ‘Roman cultural model’ (romanisches Kulturmodell), by contrast, is primarily defined by the lack of these features. This can complicate the distinction, given that, for example, Gothic men’s graves are likewise defined by the lack of |383| weapons, while there are, of course, occasionally unfurnished graves to be found among barbarian groups. Difficulties also arise when the number of grave goods in burials increases, but not according to a ‘Germanic model’.56 Furthermore, there is a logical problem with the identification of Roman graves: it is hard to see |384| how Roman burials should be distinguishable through both the accumulation of Roman objects and the overwhelming lack of grave goods at the same time.57 54 55 56 57

Bierbrauer, ʻArchäologie der Langobarden in Italienʼ, p. 25. Cf. now Bierbrauer, ʻChristliche Jenseitsvorstellungenʼ, passim. Bierbrauer, ʻRomanenʼ, pp. 213–14. Riemer, Romanische Grabfunde, p. 21.

370

Philipp von Rummel

Two examples may serve to illuminate the difficulties of making the distinction. In what remains the standard work on Roman grave goods in Italy, Ellen Riemer devotes an entire chapter to ‘Germanic brooches’ (Fig. 4).58 The Silberblechfibeln (silver plate fibulae) of Castel Bolognese, the cloisonné-decorated pair of Vogelwirbelfibeln (birdshaped fibula) from Imola, Villa Clelia Grave 185, or the pair of silver Zikadenfibeln (cicada-shaped fibula) from Ladispoli Grave C come from cemeteries with otherwise Roman material. Yet these finds are automatically attributed to Germanic graves, on the basis of the brooches’ form and type. Why the brooches should be taken as signs of ethnic differentiation, however, is not explained. A detailed argument as to what exactly makes these brooch types, and not others, signifiers of non-Roman group identity has yet to be made. The fact that these objects are found in Roman as well as supposedly Lombard cemeteries, also challenges this line of thinking. This is a general problem when dealing with the Migration Period: to our current state of knowledge, ‘distinctive cultures’, with clearly definable groups as bearers of these cultures, did not exist in early medieval Europe. If only individual elements could be designated as ‘foreign’ with some confidence, this could contribute in important ways to our understanding of the coexistence of immigrants and natives. However, most of the criteria distinguishing ‘Roman’ from ‘Germanic’ material culture have been in use since the nineteenth century and have been rather uncritically adopted. Archaeologists in turn have combined these criteria with a selective presentation of burial finds to build up working hypotheses which are presented as if they rest on well-grounded evidence. Hence, to interested non-specialists, it is impossible to assess the adequacy of the conclusions presented without conducting further extensive research. The problem of weapon furnishings, which in German-speaking literature is often regarded as a ‘Germanic’ ritual, is another case in point.59 Since, in most cases, the assessment of the material begins with the assumption that the lack of weapons is a valid criterion for identifying ‘Roman’ male burials, it comes as no surprise that archaeologists hardly ever find weapons in ‘Roman’ graves. Otherwise, these graves would by definition not be Roman. It is therefore all |385| the more remarkable that catalogues of ‘Roman’ grave goods list significant numbers of male graves which do include weapons. In order to safeguard the theory of ‘Germanic’ Weapon furnishings, many weapons (above all one-edged swords [scramasax] and arrows) are denied the status as weapons. In this way, the graves in which they appear can still be categorized as ‘Roman’. Yet when counting the graves listed in Riemer’s catalogue which contain saxes, sparthas, lances, or arrowheads,60 fourteen out of seventy-one definitely

58 Riemer, Romanische Grabfunde, pp. 133–36. 59 Bierbrauer, ʻArchäologie der Langobarden in Italienʼ, p. 26; Bierbrauer, ʻAlboin aduxit Langobardos in Italiaʼ. Weapons in graves not specifically Lombard: Brogiolo and Possenti, ʻAlcuni riscontri archaeologiciʼ, p. 170; Settia, ʻLongobardi in Italia: necropoli altomedievaliʼ. 60 Cf. Riemer, Romanische Grabfunde, p. 242: Firmano, grave 5 (no. 1: arrowheads); Romans d’Isonzo (no. 7, grave 118: arrowhead); Laino d’Intelvi (no. 23: scramasax); Imola, Villa Clelia grave 165 (no. 59:

The Fading Power of Images

371

male burials with grave goods in Italy exhibit weapons, seven of them swords or lances. To these one might add, depending on the respective ethnic identification, the weapon burials from the ‘mixed’ cemetery of Romans d’Isonzo and other more recently discovered cemeteries. Altogether, considering the total number of catalogued graves, this adds up to a significant amount. Do these represent ‘Roman’ graves with exceptional status, or minimally furnished ‘Germanic’ graves? With regard to this question, five of the Sardinian graves that Riemer lists as displaying weapons are particularly noteworthy. These graves pose a challenge to traditional interpretations, since, according to the written sources, there was no Lombard settlement on the island. Further research is needed to determine whether these are really ‘exceptional cases’ which break ‘the rule of weaponless burials’.61 Irene Barbiera, in her contribution to this volume, demonstrates from a different angle that weapon burial was not a ‘foreign’ element which was only brought to Italy by the immigrants in the sixth century.62 Other types of grave goods, such as earrings, buckles, combs, or gold-leaf crosses, present similar problems. In many publications, the relevant criterion for labelling individual finds as ‘Roman’ as opposed to ‘Germanic’ is not revealed. This further complicates any assessment of the situation as a whole, since only those familiar with the material are in a position to judge how many |386| relevant finds are not taken into account due to unstated premises. The recurring assertion that such furnished graves should be regarded as exceptional and merely departing from the ‘typically unfurnished character of Roman graves’ becomes highly questionable given the considerable number of known furnished graves of non-Germanic character. For the Bavarian region, Arno Rettner has recently enlarged the set of criteria for identifying Roman populations, adding a paucity of certain features as characteristic, including a low number of weaving swords, food offerings, or animal burials.63 In addition, there is the criterion of weapon furnishing, an analysis of which demonstrates that these occurred more than twice as frequently outside of Bavaria than within the region.64 Rettner thus concludes: ‘Anyone who crossed the Iller from the west or from the Danube from the north between the fifth and sixth

lance); Fiesole, via Riobico (no. 67) grave 4 (lances) and grave 11 (lance); Grosseto. loc. Grancia grave 61 (no. 72: scramasax; no. 104: arrowheads); Borutta (no. 184: lances, scramasax or sword); Bultei (no. 185: lances); Laerru (no. 186; scramasax); Nuoro (no. 195: lances); Tonara (no. 196: lance). 61 Riemer, Romanische Grabfunde, p. 243. Cf. the different view of Barbiera, ‘La morte del guerriero’, p. 358: ‘Dunque, come è stato già in altre occasioni evidenziato, anche alla luce di questi dati, mi pare si possa affermare sempre con maggior sicurezza che le sepulture con armi non sono l’espressione di gruppi di longobardi in contrapposizione ad autoctoni, quanto semmai l’espressione di gruppi aristocratici (autoctoni, longobardi, o altro che fossero) che si andavano affermando o riaffermando in aree interessate da nuovi sviluppi sociali’. 62 Cf. the paper by Irene Barbiera in this volume [Post-Roman traditions (Turnhout 2013)]. 63 Rettner, ‘Baiuaria romana’. 64 Rettner, ‘Baiuaria romana’, p. 259.

372

Philipp von Rummel

centuries would have entered a region which followed a different burial custom. Though the grave goods themselves, for example the brooches used in female dress, are wholly comparable in their form, the frequency with |387| which they were included in burials is not’.65 The presupposition of certain burial practices as Roman in turn led Rettner to conclude that there was a large Roman population in Bavaria, which successfully introduced the newly arrived immigrants to their own fashions and customs: the latter thus would have abandoned burial mounds and chambers, furnishings indicative of social tank, opulent foodstuffs and animal burials, as well as extensive weapon assemblages, and buried their dead ‘according to the late Roman pattern’ (Map 1).66 In southern Bavaria around c. 500, we cannot detect a significant break from its late Roman development, but rather clear continuity. In contrast to other regions north of the Alps, typically ‘Merovingian’

Map 1: Weapon Furnishings in the Southern German Region. Reproduced after Rettner, ‘Baiuaria romana’, p. 261, Abb. 5.

65 Rettner, ʻBaiuaria romanaʼ, p. 261: ʻÜberschritt man zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert von Westen her die Iller oder von Norden her die Donau, betrat man einen Raum, wo ein anderes Brauchtum gepflegt wurde. Die Formen der Beigaben an sich, zum Beispiel Fibeln der Frauentracht, bleiben durchaus vergleichbar, nicht aber die Häufigkeiten, mit denen sie in den Gräbern vorkommenʼ. 66 Rettner, ʻBaiuaria romanaʼ, p. 261: ʻeben ganz nach spätrömischem Schemaʼ.

The Fading Power of Images

373

cemeteries appear in Bavaria only in the middle of the sixth century.67 This observation is of particular relevance with regard to our question. It underlines the fact that the processes of economic and social change during the fifth and sixth centuries followed a very different course in different regions. Yet, when attempting to refine the definition of ‘Roman’ material in contrast to non-Roman material, it does not take us much further. This holds true at least until we arrive at a better understanding of the reasons for the different developments of particular regions. Was Romanness still strong enough in some regions to influence the newcomers? This may have been the case – but exactly what do we mean by ‘Romanness’? Despite archaeologists’ reluctance to discuss terminology, it is nonetheless important to remain constantly aware of the problem. ‘Romans’ and ‘Germans’, with all the different implications these concepts carry with them, exert a pervasive influence on archaeological research. The concept of ‘Germans’,68 as well as its Roman counterpart, presumes the existence of large groups known by these names, or implicitly constitutes them as such. In combination with the equally problematic concept of archaeological cultures and the deep-rooted but ultimately unprovable premise of a Roman-Germanic dualism,69 the ‘Germanic’ |388| still continues to figure as the subject of archaeological-historical narratives.70 Yet, there never existed a group of this name, or at least no group which ever considered or identified itself as ‘German’. The same is true of ‘eastern’, ‘western’, or ‘northern Germans’. Jörg Jarnut, therefore, has justly argued that the term ‘Germanic’ should be abandoned in early medieval studies.71 While the concept of the Germans has been convincingly deconstructed, the complementary concept of the Romans has not yet been sufficiently problematized, and it is still too often used in an essentialist sense. No doubt there were indeed ‘Romans’. Within the Roman Empire, however, the conceptual distinction between populus and gens points to a more differentiated relationship to ethnicity than in the barbarian regna.72 The – at least theoretical – importance of the Roman populus headed by the senate, as a political actor, rapidly diminished from the middle of the fifth century onwards. Since the middle of the sixth century, it was no longer possible to relate the concept of ‘Romans’ to any meaningful political unit in the western Empire; its meaning becomes increasingly blurred. Romanness remains as a linguistic, Christian, and historical-symbolic category. These aspects, however, can only to a certain extent be used as a contrast to Goths, Lombards, and Franks. The concept of

67 Rettner, ʻBaiuaria romanaʼ, p. 270. 68 Pohl, ʻDer Germanenbegriff vom 3. bis 8. Jahrhundertʼ; Pohl, ʻVorn Nutzen des Germanenbegriffesʼ; Jarnut, ʻGermanischʼ. 69 Cf. the synthesis in Brather, ʻKulturgruppe und Kulturkreisʼ. 70 Pohl, ʻUrsprungserzählungen und Gegenbilderʼ, pp. 32–34. 71 Jarnut, ʻGermanischʼ. 72 Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter.

374

Philipp von Rummel

Romans or Romanness, at least a priori, has only limited heuristic value for archaeology. It is therefore only slightly more useful than the concept of Germans that Jarnut rejected. One can also hear and read of the ‘Roman world’, in which particular things were common or uncommon. ‘Germanic’ or ‘barbaric’ elements are generally recognized by the fact that they were unknown in the Roman world. Barbarian culture is thereby sometimes credited with a remarkably strong resistance to absorption by the Roman world. Yet Vandals, Ostrogoths, Visigoths, but also Franks and Lombards, no matter how far it is possible to trace their origins outside the imperium Romanum, were not just products but also part of the ‘Roman world’. In archaeology, the ‘Roman world’, which also functioned as the frame of reference for the barbarians, therefore does not seem particularly suitable as an analytical category, at least not if our focus remains within the borders of the Empire. This does not mean, however, that questions about migration, foreigners, and ethnicity within the Roman world are not feasible ones. Even less it is intended to deny ruptures and fundamental processes of change between late Antiquity and the early Middle Ages.73 |389| The archaeological problem begins even before the point of applying labels, that is, with assessing which of the features identified in the archaeological record provide access to past identities, and which do not. If A engages in trade with B and B thus acquires an object which is common in A’s region, this does not necessarily tell us anything about any relation of identity or alterity between A and B. Only once the phenomena keep recurring and can be grouped according to regular patterns can we attempt to proceed to farther-reaching claims. Still, when it comes to considering possible expressions of Roman identity in material culture, this is precisely the problem. We cannot observe either sufficient frequency nor homogeneity; quite the contrary is the case. The vast Romania of the sixth century, stretching from North Africa to Spain, Gaul, and beyond Italy to the Danube, displays a high degree of archaeological variation. Statistically significant clusters of grave goods can he observed only at a regional level, but certainly not in general. Homogeneity seems totally absent.74 This is not a distinctively late antique or early medieval phenomenon. Even the intact Roman Empire was characterized by a high degree of cultural diversity which nevertheless tends to be eclipsed by striking trans-regional similarities, especially with regard to public representation. For various reasons, Roman identity always remained ‘incomplete’.75 Provincial and regional characteristics remained strong under the cover of a unified and highly visible imperial culture. As Chris Wickham

73 Cf. for example Ward-Perkins, The Fall of Rome; Valenti, ʻMa i “barbari” sono veramente arrivati in Italia?ʼ 74 Bierbrauer, ʻRomanenʼ, passim. 75 Giardina, L’Italia romana; Pohl, ʻRegnum und gensʼ, pp. 439–40.

The Fading Power of Images

375

has shown, the post-imperial development of the different regions of the Empire had more to do with their specific pre-imperial history than with their fate in late Antiquity. Thus, North Africa experienced a different development than Italy, Gaul, or Britain: ‘Social change is overwhelmingly the result of internal factors, not external influences’.76 If we assume that grave goods reflect forms of familial self-perception, the heterogeneity of the archaeological record fits well with the observation drawn from written sources that self-perception was differentiated and could emphasize a delimited place of origin (town or region) as well as broader claims to imperial or supra-ethnic rule.77 The very heterogeneity of that which is labeled ‘Roman’ in the post-imperial era, as well as earlier, dooms to failure any attempt |390| to define one single, specific form of Roman dress and burial. Until now, the response to this problem has consisted in describing and unifying this ‘Roman’ heterogeneity by defining it in contrast to the Other: the Germanic element, which was thought to be securely identifiable. Romanness, therefore, was defined by not being Germanic. This tactic of explaining one unknown by reference to another is, however, hardly satisfactory in the long term. Fortunately, archaeology does offer an alternative to this uncomfortable situation. The nature of the material record allows archaeologists to determine communication networks and cultural-geographical contexts at a deeper, more focused level than is possible on the basis of surviving written sources. One can detect in many places the dissatisfaction among archaeologists who sense the impossibility of reconstructing a homogeneous concept of ‘Romanness’. Yet, there is no need for this dissatisfaction, which proceeds from a conception which ascribes to ‘the Romans’ a uniform way of behaving as a culturally homogeneous ethnic community. If we put aside this implicit conception of homogeneity, which is supported by neither the written nor the archaeological sources, a whole range of new interpretative possibilities is revealed. Thus the most important result of Ellen Riemer’s catalogue of ‘Roman’ grave goods is precisely her finding that individual regions, such as the district of Grosseto, stand out due to the highly idiosyncratic customs of dressing the dead for burial (Fig. 3).78 An ‘archaeology of identity’ seems indeed possible, but ‘Romanness’, defined in an ethnic or linguistic sense, is a category much too imprecise to adequately describe these phenomena. Addressing regional phenomena, however, is still problematic, for the written sources provide hardly any concrete information on which to base identification, and the graves themselves, in the absence of inscriptions, do not provide appropriate evidence concerning the social identity of the deceased. Consequently, it remains unclear whether groups that are archaeologically visible represent emic groups, that is,

76 Wickham, Framing the Early Middle Ages, p. 831. Cf. also Wickham, The Inheritance of Rome. 77 Pohl, ʻRegnum und gensʼ. 78 Riemer, Romanische Grabfunde; Bierbrauer, ʻChristliche Jenseitsvorstellungenʼ, pp. 45–49.

376

Philipp von Rummel

Figure 3: ‘Roman’ Grave Goods from Grosseto, loc. Grancia. Reproduced after Riemer, Romanische Grabfunde, Tafel 62.

The Fading Power of Images

377

Figure 4: Characteristic ‘Germanic’ Grave Goods from Erpfting, Bavaria. Sixth century. Reproduced after Wührer, ‘Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Erpfting, Stadt Landsberg am Lech’, p. 312, Abb. 6.

whether they are meaningful points of reference to members of the social group, WirGruppen, which can be described from the perspective of the members themselves. A priori assumptions about ethnic differentiation cannot serve as a basis of argument here. The etic perspective, that of the external observer, which modern archaeologists and historians are forced to take, also meets its limits when they attempt to label and interpret recognized phenomena and to integrate their findings with the written sources. This is especially true with regard to ethnic interpretation. Archaeological interpretations of ‘culture’ and their |391| incorporation into ‘culture models’ differentiated

378

Philipp von Rummel

according to ethnicity cannot simply be based on the premise that these groups existed as recognizable entities.79 In these cases, early medieval archaeologists must consider the material evidence using methodologies for prehistoric archaeology, meaning that they should analyse temporal and spatial congruencies of a sum of features and finds, and classify the material according to prehistoric criteria. This may sound disappointing if we consider the passage from Procopius cited earlier, who claims that Roman soldiers in Gaul retained the σχῆμα τῶν Ῥωμαίων in every detail.80 If there was such a distinctly Roman appearance, this must have been more true in Italy than in Gaul. Yet it still awaits discovery there, despite the identification of so-called Lombard cemeteries. Not far from Rome, the centre of abstract Romanitas, there are cemeteries dating to the late sixth and seventh centuries, which, though they arguably demonstrate a degree of heterogeneity, are also very reminiscent of furnished row-grave cemeteries as are found in early medieval southern Germany, France, Spain, and along the Danube.81 These burials, accordingly, are usually identified as belonging to incoming ‘Germans’. Again, the argument in favour of this interpretation essentially consists of two parts: first, the custom of burying the dead richly furnished, for example with offerings of food and drink; second, the type of goods and their particular combination in costume, which point towards a northern origin. We have already seen the difficulties associated with the first aspect. But the second aspect is also hard to substantiate. Comparison between the finds from the monastic workshop in the Crypta Balbi in Rome with those of necropolises reveals that it is difficult to divide Italian craftwork of the seventh century into Roman and Lombard forms,82 while forms of clothing also defy grouping according to a distinct Roman-Germanic dichotomy.83 With regard to row-grave cemeteries, an increasing number of scholars are now arguing that the clothing and weapons which they preserve should no longer be regarded as |392| expressions of ethnic identity, but as evidence of social competition.84 There is no need to assume that the necropolises of Nocera Umbra, Castel Trosino, or Collegno stand out from their surroundings due to

79 The term ‘cultural model’ (Kulturmodell) was first used in this context of funerary archaeology by Bierbrauer, ‘Romanen im fränkischen Siedelgebiet’. 80 Procopius, Bella, ed. and trans. by Dewing, v. 12. 16–19, III, pp. 122–23. 81 Cf. for Nocera Umbra: Paribieni, La necropoli barbarica di Nocera Umbra; Rupp, ʻDas langobardische Gräberfeld von Nocera Umbraʼ; Rupp, Das langobardische Gräberfeld von Nocera Umbra; Castel Trosino: Mengarelli, ʻLa necropoli barbarica di Castel Trosinoʼ; Paroli, ʻLa necropoli di Castel Trosinoʼ. 82 Ricci, ʻRelazioni culturali e scambi commercialiʼ. 83 Cf. the contrary view of Bierbrauer, ʻZur ethnischen Interpretationʼ, esp. pp. 50–53. 84 The traditional interpretation of row graves was first suggested by Werner, ‘Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation’. As to the recent discussion see amongst many others: Brather, Ethnische Interpretationen der frühgeschichtlichen Archäologie, passim; Halsall, Cemeteries and Society in Merovingian Gaul, pp. 91–197; Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich.

The Fading Power of Images

379

the ethnic differentiation |393| between Roman and barbarian culture,85 when there could be various other reasons for this difference.86 They could, for instance, indicate a process of social reorientation within which burials became one form of expressing social claims within a military group.87 To once again prevent a common misunderstanding: Supporting this view does not mean that there were no ‘barbarian’ groups on Roman soil, nor that they could not have been distinctive in their clothing and other strategies of identification. The reinterpretation proposed here merely addresses the question of why they might have differed. Clearly, this cannot be attributed to their being ‘alien’ to their immediate environment. The furnished burials of Italy, Gaul, or Spain all belong to a shared post-imperial ‘Roman’ world. These finds cannot be used to build a model which could then serve to define ‘Romanness’. Quite to the contrary, distribution maps of the so-called row-grave cemeteries show that the phenomenon was roughly coincident with the frontiers of the Roman Empire, and that the majority of cemeteries lay inside, not outside, the Empire. To understand Procopius’s σχῆμα τῶν Ῥωμαίων, we can take a look back into a time when Roman habitus was still represented with utter self-confidence. A statue from the forum baths in Ostia, dated to c. AD 400, depicts a man who is probably to be identified with the praefectus annonae Ragonius Vincentius Celsus (Fig. 5). Above his tunic, the man is wearing a toga with u-shaped umbo and equestrian calcei. His clothing embodies the Roman ideal.88 This ideal is emphasized by the bundle of scrolls, which often form the base of toga statues. On the one hand, the scrolls underline the role of the togatus as an office holder; on the other hand, they symbolize the education which was one of the defining features of the late Roman aristocracy.89 Παιδεία also provided the possibility of actively incorporating the topoi associated With the barbarians for centuries in literary and iconographic tradition into the conflict between the senatorial elite, with its civilian traditions, and those who had risen from imperial administration and the military. Whereas the Romanitas of the traditional elites was symbolized by the toga, the military uniform of their competitors could |394| be placed firmly in the barbarian corner, whenever it seemed necessary.90 The military-civilian conflict can also be detected in certain laws contained in the Codex Theodosianus, which forbade wearing elements of military costume in Rome.91 In 1741, Jacques Godefroy, followed by dozens of scholars, described these elements as ‘barbarian’. And they were indeed barbarian, but only in the sense that they did not

85 As to Noceta Umbra and Castel Trosino, cf. n. 81; Collegno: Pejrani Baricco, ‘Longobardi da guerrieri a contadini’. Cf. also Irene Barbiera in this volume [Post-Roman traditions (Turnhout 2013]. 86 Cf. Pohl, ‘Introduction: Strategies of Identification’, pp. 8, 50. 87 Cf. Kossack, ‘Prunkgräber’, pp. 3–33. 88 von Rummel, Habitus barbarus, pp. 83–96; Goette, Studien zu römischen Togadarstellungen. 89 Brown, Power and Persuasion in Late Antiquity. 90 von Rummel, Habitus barbarus, passim. 91 von Rummel, Habitus barbarus, pp. 156–66.

380

Philipp von Rummel

Figure 5: ‘Togatus from Ostia’, Ostia, Museo Archeologico, Scavi di Ostia Antica. c. AD 400. Photo: Deutsches Archäologisches Institut Rom. Inst. Neg. 67.1076.

symbolize the civilian romanitas of the toga.92 The civilian/military distinction and the blurring of ethnic differentiation is also evident in narratives about symbolic change of clothing. Olympiodorus, for example, writes that the Visigothic King Athaulf, who according to Orosius regarded himself as the preserver of Romanitas,93 wore a chlamys at his wedding to Galla Placidia as an expressly Roman vestment.94 The description functions like a painting. The husband of Galla Placidia, the emperor’s daughter (σχήματι βασιλικῷ), was naturally expected to wear a chlamys, just like the officer on the diptych of Monza (Fig. 6) or Justinian in San Vitale in Ravenna. The marriage

92 Godefroy, Codex Theodosianus cum perpetuis commentariis, v, pp. 237–38. 93 Orosius, Historiae adversum paganos, ed. by Zangemeister, VII. 43. 5–6, p, 560. 94 Olympiodorus, Fragmenta, XXIV, in The Fragmentary Classicising Historians, trans. by Blockley, II, pp. 186–89: ‘ἔνθα προκαθεσθείσης Πλακίδιας ἐν παστάδι τε Ῥωμαικῶς ἐσκευσασμένῃ καὶ σχήματι βασιλικῷ, συγκαθέζεται αὐτῇ καὶ Αδαοῦλφος ἐνδεδυμένος χλανίδα καὶ τὴν ἄλλων Ῥωμαίων ἐσθῆτα’.

The Fading Power of Images

381

Figure 6: ‘Monza-Diptychon’, Monza, Tesore del Duomo. c. AD 400. Reproduced after Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike, Tafel 19.

between the Goth and the imperial princess, between the barbarian and Rome, was thus framed in a rhetorical image, without any intention to imply that Athaulf had not been wearing Roman military dress before the wedding as well. In a similar vein, Theoderic, who, according to Jordanes’s narrative, put aside the dress of his own people after the conquest of Italy and adopted regal costume as a ruler of both Goths and Romans.95 In this case, too, the integration of new, barbarian aspects with Roman tradition is depicted in writing. Theoderic, who had previously spent some years in Byzantium, was not used to wearing non-Roman tribal dress. Still,

95 Jordanes, Getica, ed. by Mommsen, c. 57, p. 134: ‘Suae gentis vestitum reponens, insigne regii amictus, quasi iam Gothorum Romanorumque regnator adsumit’.

382

Philipp von Rummel

he was recognizable as the leader of his troops, the Ostrogothic army, which was a necessary precondition to his rule. In Ravenna, the army general had to reinvent himself as the ruler of an entire region, one which also formed the centre of the old Roman Empire. The King adopted the insignia of his rule over Goths and Romans, thereby symbolizing |395| his position in between the competing civilian and military elites, a position formerly occupied by the Roman emperor. This did involve the continual negotiation of distinctions, but these were not necessarily ethnic differences. In all of these cases, clothing served as a convenient means of symbolically expressing the most pressing social conflicts of the time. Two hundred years later, the situation had changed. While the senate in Constantinople continued to function, the senate of Rome, under Gothic rule, still embodied the antique traditions; one need only think of Boethius or Cassiodorus. This tradition, however, had disappeared by the second half of the sixth century. The senatorial class, as the bearers of Roman tradition par excellence, had been unable to sustain the conflict in which they had been so actively engaged around 400. The western Empire had ended, the last senatus consultum was issued in 533. With the exception of the prefect of the city in Rome, Justinian had abolished all senatorial officials in 554, and in 590, Pope Gregory could state that there was no longer a senate.96 Bishops such as Gregory of |396| Tours, Venantius Fortunatus, or Avitus of Vienne continued to be recruited from the circles of the senatorial aristocracy, but at the same time, a new form of rulership, based on military power, had asserted itself. ‘Romanness’ had to be reconceptualized, and the old senatorial elite needed to adapt itself to new circumstances.97 The toga and the chlamys could no longer function as a pair of opposites. Yet elements of the old iconography survived, as illustrated by the silver plate from the treasure of Isola Rizza (Fig. 7), dating from the (later) sixth century.98 The central decoration of the plate shows a rider aiming a lance at a fleeing figure. The mounted warrior is wearing a helmet and plate armour fastened by a belt. The two figures attacked by the rider have beards and belted tunics with clavus and trousers. They are armed with shields, while the fallen figure holds a sword in his hand.99 According to iconographical convention, the two warriors on foot represent subjugated barbarians, whereas the rider would be identified as a triumphant Roman.100 One might think of a battle between Byzantines and Lombards, with the

96 Demandt, Geschichte der Spätantike, pp. 265–66. Gregory I, Homiliae in Hiezechielem prophetam, ed. by Adriaen, II. 6. 22, p. 12: ‘senatus deest, populous interiit […], vacua ardet Roma’. 97 Cf. Reimitz, ‘Cultural Brokers of a Common Past’. 98 La Rocca, ‘Piatto di Isola Rizza’. For an earlier dating of the treasure and the plate, see Bolla, ‘Il “tesoro” di Isola Rizza: osservazioni’; Bolla, ‘Il tesoro di Isola Rizza’. 99 von Hessen, I ritrovamenti barbarici, pp. 68–70, with pl. 41–42. 100 Interpretation as barbarians: Volbach, ‘Il tesoro di Canoscio’; von Hessen, I ritrovamenti barbarici, p. 69.

The Fading Power of Images

383

Figure 7: ‘Silver Plate from the Treasure of Isola Rizza’, Verona, Museo di Castelvecchio, Inv. 13871. Sixth century. Reproduced with the permission of the Museo. Photo: G. Stradiotto.

Byzantines continuing the iconographic traditions of ancient Rome. So far, so good. The problem is, however, that the rider’s weaponry is of the sort typically found in graves which are identified as burials of barbarian leaders. Examples include a grave from Niederstotzingen in modern Baden-Württemberg (Germany), or grave 119 from Castel Trosino (Ascoli Piceno, Marche, Italy).101 Segmented armour and helmets were used across Europe and as far as East Asia throughout a long period; they are characteristic pieces of equipment for mounted warriors.102 In Italy, it is above all Castel Trosino grave 119, which, like many graves from the necropolis with rich furnishings and military character, points towards a Lombard context. Even if the deceased was a Lombard, there is no doubt that his armour and helmet were of the type also worn by soldiers in the Byzantine army.103 Thus, it remains unclear |397| whether the mounted figure on the plate from Isola Rizza actually depicts a Byzantine or Lombard warrior. We certainly cannot rule out the possibility 101 Paulsen, Alemannische Adelsgräber, pp. 133–39; Paroli and Ricci, La necropoli altomedievale di Castel Trosino, pp. 79–86, pl. 83–110. 102 Kory, ʻSchuppen- und Lamellenpanzerʼ. 103 Kory, ʻSchuppen- und Lamellenpanzerʼ, pp. 391, 399.

384

Philipp von Rummel

that he is a Lombard: the so-called ‘Plaque of Agilulf’ from the Val di Nievole in the Museo Bargello, Florence, depicts a ruler identified by embossed letters as Agilulf, flanked by two warriors wearing helmets and armour which closely resemble that of the rider of Isola Rizza. It is therefore conceivable that on the plate of Isola Rizza, Lombards are cast in the traditional role of the triumphant victor, while the barbarians have been depicted in a style similar to that seen on Theodosius’s obelisk in Constantinople.104 Yet, it is equally possible that the plate is a wholly conventional depiction of the victory of a Byzantine warrior over Lombards. These difficulties of interpretation could hardly be more illustrative of our problem: with the old dualism between cultured civilization (Kulturwelt) and barbarians fading away, received images of this dichotomy have lost much of their power as interpretive models, for they had lost their univocal meaning. The plate from Isola Rizza shows that the images lived on, but the actors depicted had become interchangeable. Barbarians, within the same social milieu, could look like Romans, and Romans like barbarians. The σχῆμα τῶν Ῥωμαίων was a recollection of the past rather than a depiction of the present, a fact that is also underlined by the passages from Procopius and Agathias quoted earlier. In the early medieval period, costume which we usually describe as Germanic or Roman was not a medium for expressing membership in a group defined by a common language. The structural changes which led to the end of imperial rule in the West in the fifth century meant that tools for ordering and categorizing which had still been meaningful in the fourth century could not be sustained two hundred years later.105

5 The Faded Power of Roman Images: Other Ways of Explaining the Evidence If we return with this discussion in mind to our original question about the power of images and the problem of ethnicity, and ask how far sources on dress and outward appearance can provide information about the role of ethnicity as a constituent part of early medieval societies, our conclusion is sobering. First of all, the evidence is too heterogeneous to allow the definition of clear archaeo|398|logical groups. This is, however, a prerequisite of archaeological interpretation. ‘Ethnicity without groups’, in Roger Brubaker’s words, cannot be traced by archaeology,106 even if it certainly existed. In the sixth and seventh centuries, the situation of confrontation depicted three hundred years earlier on the Ludovisi Sarcophagus simply

104 Bruns, Der Obelisk und seine Basis. 105 Halsall, Barbarian Migrations and the Late Roman West, pp. 499–518. 106 Brubaker, Ethnicity without Groups.

The Fading Power of Images

385

did not exist anymore within the borders of the former Roman Empire; along with it any straightforward dichotomy which allowed certain cultural phenomena to be ascribed to one side or the other had vanished. There is no archaeological means to distinguish ethnicity from other possible forms of expressing identity and of defining it apart from them. Archaeology can no longer work autonomously at this level of historical interpretation. The limits of plausible argumentation are defined not only by archaeological material, but as much by texts and images. Archaeology, in its attempt to address and describe the material evidence, has to rely on terminology derived from written sources; yet both historians and archaeologists need to acknowledge that developments which appear in their respective sources may follow different rhythms, even if they form part of a shared discourse. In the sixth and seventh centuries, Roman and non-Roman became increasingly ambiguous categories and are thus highly problematic as a starting point for archaeological explanation. This is not to say, however, that archaeology cannot contribute to the question of ethnic identification. On the contrary, archaeological sources can provide information about all three categories defined in Walter Pohl’s essay on strategies of identification in the companion to this volume. They can describe the individual act of expressing allegiance to a social group; they can give hints as to the collective self-representation of a group; and they sometimes provide insight into the classification of social groups by outsiders. The basis and the precondition for such studies have to be archaeological finds that clearly belong to a specific person or group. A grave, for example, is a deliberate statement made by the group burying the dead, and a cemetery is the sum of such specific statements. The finds can therefore be seen as traces of a ‘process of communication’, and a ‘body of social knowledge’.107 However, this raises other problems. In contrast to texts, archaeological finds offer insights into a process of communication that became completely silent with the death of the people involved. Whereas texts provide names of groups, and more or less clear hints to the rules of discourse and the grammar according to which a society communicates about these social groups, such information, in archaeology, is already the result of a complex process of interpretation. This begins with the classification, typo|399|logy, and the dating of finds – what belongs together and what not? – and it continues with the verbalization of these results. Until they can be understood as ‘repertoires’ for a symbolic language that allowed the negotiation of identity and difference among groups, archaeological finds have already been (silently) subjected to extensive interpretation. Archaeological methodology has always insisted on the necessity of separating purely archaeological work from historical interpretation. In Germany in particular, this claim is regularly combined with the famous directive voiced by General Helmuth von Moltke: ‘getrennt marschieren und vereint schlagen’, march separately, strike together. This is very true. What remains open to debate, however, is the

107 Pohl, ‘Introduction: Strategies of Identification’, p. 6.

386

Philipp von Rummel

starting point of the joint strike. Marking a fibula as Germanic, or a belt as a Roman, already ventures deep into the field of combined action. Presumably, this is why archaeological discussion about ethnic interpretation has become quite polemical in recent years. This does not, however, absolve us from the duty to clarify the implicit foundations of our explicit concepts. The term ‘Roman’ in early medieval archaeology is in sore need of a phase of deconstruction. The material evidence should be evaluated in all its complexity, rather than forced into systems which do not suit the period we hope to explain. Archaeologists are in fact able to distinguish between different groups, and they can recapture some of the complexity and variety of the early medieval social world, but in doing so, they should respect the fact that the Roman images had, in both a material and a virtual sense, by then lost much of their ancient authority.

Works Cited Primary Sources Agathias, Historiae, ed. by Rudolf Keydell, Corpus Fontium Historiae Byzantinae, 2 (Berlin, 1967) Agathias, The Histories, trans. by Joseph D. Frendo, Corpus Fontium Historiae Byzantinae, 2A (Berlin, 1975) The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire: Eunapius, Olympiodorus, Priscus und Malchus, ed. and trans. by Roger C. Blocklex, 2 vols (Liverpool, 1981–83) Gregory I, Homiliae in Hiezechielem prophetam, ed. by Marc Adriaen, Corpus Christianorum, series latina, 142 (Turnhout, 1971) |400| Jordanes, Getica, ed. by Theodor Mommsen, in Monumenta Germaniae Historica: Auctores antiquissimi, 15 vols (Berlin. 1877–1919), v. I: Iordanis Romana et Getica (1882), pp. 53–138 Lactantius, De mortibus persecutorum, ed. and trans. by Alfons Städele, Fontes Christiani, 43 (Turnhout, 2003) Orosius, Historiarum adversum paganos libri VII, ed. by Karl Zangemeister, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 5 (Wien, 1882) Procopius, Bella, ed. and trans. by Henry B. Dewing, Procopius: History of the Wars, 5 vols (Cambridge, MA, 1954; orig. publ. 1914–28)

Secondary Studies Ament, Hermann, ʻReihengräberfriedhöfeʼ. in Reallexikon der germanischen Altertumskunde, ed. by Heinrich Beck, Dieter Geuenich, and Heiko Steuer, 2. Aufl., 35 vols (Berlin: 1972–2008), XIV: Quadriburgium-Rind (2003), pp. 362–65 Amory, Patrick, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489–544 (Cambridge, 1997) Asmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen, 3rd edn (München, 2006) Barbiera, Irene, Changing Lands in Changing Memories: Migration and Identitiy during the Lombard Invasions, Biblioteca di archeologia medievale, 19 (Firenze, 2005)

The Fading Power of Images

387

Barbiera, Irene, ʻLa morte del guerriero e la rappresentazione della identità funerarie in Friuli tra VI e VIII secolo d. c.ʼ, in Archeologia e società tra tardo antico e alto medioevo, ed. by Gian Pietro Brogiolo and Alexandra Chavarría Arnau (Mantova, 2007), pp. 345–61 Bergmann, Marianne. ʻRepräsentationʼ, in Klassische Archäologie: Eine Einführung, ed. by Adolf H. Borbein, Tonio Hölscher and Paul Zanker (Berlin, 2000), pp. 166–88 Bhabha, Homi, The Location of Culture (London, 1994) Bierbrauer, Volker, ʻAlboin adduxit Langobardos in Italia: Langobarden nach der Einwanderergeneration: Verliert die Archäologie ihre Spuren im 7. Jahrhundert?ʼ, in Kulturwandel in Mitteleuropa: Langobarden, Awaren, Slawen, ed. by Jan Bemmann und Michael Schmauder, Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte, 11 (Bonn, 2008), pp. 467–89 Bierbrauer, Volker, ʻArchäologie der Langobarden in Italien: Ethnische Interpretation und Stand der Forschungʼ. in Die Langobarden: Herrschaft und Identität, ed. by Walter Pohl and Peter Erhart, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 9 (Wien, 2005), pp. 21–66 Bierbrauer, Volker, ʻChristliche Jenseitsvorstellungen und romanische Beigabensitten vom 5. bis 6./7. Jahrhundertʼ, in Grosso Modo: Quellen und Funde aus Spätantike und Mittelalter; Festschrift Gerhard Fingerlin (Weinstadt, 2012), pp. 39–50 Bierbrauer, Volker, ʻRomanenʼ, in Reallexikon der germanischen Altertumskunde, ed. by Heinrich Beck, Dieter Geuenich and Heiko Steuer. 2. Aufl., 35 vols (Berlin: 1972–2008), XXV: Rindenboot–Rzucewo-Kultur (2003), 210–42 Bierbrauer, Volker, ʻRomanen im fränkischen Siedelgebietʼ, in Die Franken: Wegbereiter Europas, vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben, ed. by Alfried Wieczorek (Mannheim, 1996), pp. 110–20 Bierbrauer, Volker, ʻZur ethnischen Interpretation in der frühgeschichtlichen Archäologieʼ. in Die Suche nach den Ursprüngen: Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, ed. by Walter Pohl, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 8 (Wien, 2004), pp. 45–84 |401| Bolla, Margherita, ʻIl “tesoro” di Isola Rizza: osservazioni in occasione del restauroʼ, in Numismatica e antichità classiche, 28 (1999), 275–303 Bolla, Margherita, ʻIl tesoro di Isola Rizzaʼ, in Roma e i Barbari: la nascita di un nuovo mondo, ed. by Jean-Jacques Aillagon (Milano, 2008), pp. 392–93 Brandenburg, Hugo, Die frühchristlichen Kirchen Roms vom 4. bis zum 7. Jahrhundert (Regensburg, 2004) Brather, Sebastian, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie: Geschichte, Grundlagen und Alternativen, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 42 (Berlin, 2004) Brather, Sebastian, ʻKulturgruppe und Kulturkreisʼ, in Reallexikon der germanischen Altertumskunde, ed. by Heinrich Beck, Dieter Geuenich, and Heiko Steuer, 2. Aufl., 35 vols (Berlin: 1972–2008), XVII: Kleinere Götter–Landschaftsarchäologie (2001), 442–52 Brogiolo, Gian Pietro, and Elisa Possenti, ʻAlcuni riscontri archaeologici di processi di acculturazione in Italia settentrionale (secoli VII e IX–X)ʼ, in Società multiculturali nei secoli V–IX: scontri, convivenza, integrazione nel mediterraneo occidentale, ed. by Marcello Rotili (Napoli, 2001), pp. 169–89 Brown, Peter L., Power and Persuasion in Late Antiquity: Towards a Christian Empire (Madison, 1992) Brubaker, Rogers, Ethnicity without Groups (Cambridge, MA, 2004) Bruns, Gerda, Der Obelisk und seine Basis auf dem Hippodrom zu Konstantinopel, Istanbuler Forschungen, 7 (Istanbul, 1935) Cameron, Averil, Agathias (London, 1970) Cesa, Maria, ʻEtnografia e geografia nella visione storica di Procopio di Cesareaʼ, Studi Classici e Orientali, 31 (1982), 189–215

388

Philipp von Rummel

Christ, Karl, ʻRömer und Barbaren in der hohen Kaiserzeitʼ, Saeculum, 10 (1959), 273–88 Corradini, Richard, ʻDie Ankunft der Zukunft: Babylon, Jerusalem und Rom als Modelle der Aneignung und Entfremdung bei Augustinusʼ, in Strategies of Identification: Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe, ed. by Walter Pohl and Gerda Heydemann, Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 13 (Turnhout, 2013) Dauge, Yves A., Le Barbare: recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation (Bruxelles, 1981) Deckers, Johannes G., Der alttestamentliche Zyklus von S. Maria Maggiore in Rom: Studien zur Bildgeschichte (Bonn, 1976) Delbrueck, Richard, Die Consulardiptychen und verwandte Denkmäler (Berlin, 1929) Demandt, Alexander, Geschichte der Spätantike (München, 2008) Dench, Emma, Romulusʼ Asylum: Roman Identities from the Age of Alexander to the Age of Hadrian (Oxford, 2005) Dewar, Michael, ʻWe’re All Romans Now (Except for the Foreigners): Multi-Ethnic Armies and the Ideology of Romanitas in the Poetry of Claudianʼ, Syllecta Classica, 14 (2003), 143–59 Dick, Stephanie, Der Mythos vom ‘germanischen’ Königtum: Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungs|402|zeit, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 60 (Berlin, New York, 2008), pp. 167–202 Diefenbach, Steffen, Römische Erinnerungsräume: Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr., Millennium-Studien, 11 (Berlin, 2007) Fehr, Hubert, Germanen und Romanen im Merowingerreich: Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 68 (Berlin, 2010) Fentress, James, and Chris Wickham, Social Memory (Oxford, 1992) Frankfort, Henri, The Art and Architecture of the Ancient Orient, 3rd edn (Harmondsworth, 1963) Gastaldo, Guido, ʻI corredi funerari nelle tombe “rardo romane” in Italia settentrionaleʼ, in Sepolture tra IV e VIII secolo, ed. by Gian-Pietro Brogiolo and Gisela Cantino Wataghin, Documenti di archeologia, 13 (Mantova, 1998), pp. 15–59 Geary, Patrick, The Myth of Nations: The Medieval Origins of Europe (Princeton, 2002) Geary, Patrick, Europäische Völker im frühen Mittelalter: Zur Legende vom Werden der Nationen (Frankfurt a.M., 2002) Giardina, Andrea, L’Italia Romana: storie di un’identità incompiuta (Roma, 1997) Gillett, Andrew, ʻThe Mirror of Jordanes: Concepts of the Barbarian, Then and Nowʼ, in A Companion to Late Antiquity, ed. by Philip Rousseau and Jutta Raithel (Chichester, 2009), pp. 392–408 Giuliano, Antonio, ed., Museo nazionale Romano: le sculture (Roma, 1983) Godefroy, Jaques, Codex Theodosianus cum perpetuis commentariis, 6 vols (Leipzig, 1741) Goette, Hans R., Studien zu römischen Togadarstellungen (Mainz, 1990) Goetz, Hans-Werner, ʻIntroduction’, in Regna et Gentes: The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World, ed. by HansWerner Goetz, Jörg Jarnut and Walter Pohl, The Transformation of the Roman World, 13 (Leiden, Boston, 2003), pp. 1–13 Goldhill, Simon, ed., Being Greek under Rome: Cultural Identity, the Second Sophistic, and the Development of Empire (Cambridge, 2001) Gotter, Ulrich, ʻAkkulturation als methodisches Problem der historischen Wissenschaftenʼ, in Wir/ ihr/sie: Identität und Alterität in Theorie und Methode, ed. by Wolfgang Essbach, Identitäten und Alteritäten, 2 (Würzburg, 2000), pp. 373–406

The Fading Power of Images

389

Greatrex, Geoffrey, ʻRoman Identity in the Sixth Centuryʼ, in Ethnicity and Culture in Late Antiquity, ed. by Stephen Mitchell and Geoffrey Greatrex (London, 2000), pp. 267–92 Halbwachs, Maurice, On Collective Memory, trans. by Lewis A. Coser (Chicago, 1992) Halsall, Guy, Barbarian Migrations and the Late Roman West, 376–568 (Cambridge, 2007) Halsall, Guy, Cemeteries and Society in Merovingian Gaul: Selected Studies in History and Archaeology, 1992–2009 (Leiden, 2010) Heather, Peter J., ʻThe Barbarian in Late Antiquity: Image, Reality and Transformationʼ, in Constructing Identities in Late Antiquity, ed. by Richard Miles (London, 1999), pp. 234–58 |403| Hen, Yitzhak, Roman Barbarians: The Royal Court and Culture in the Early Medieval West (Basingstoke, 2007), pp. 143–208 Heydemann, Gerda, ʻBiblical Israel and the Christian gentes: Social Metaphors and the Language of Identity in Cassiodorus’ Expositio psalmorumʼ, in Strategies of Identification: Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe, ed. by Walter Pohl and Gerda Heydemann, Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 13 (Turnhout, 2013) Hölscher, Tonio, ʻBildwerke: Darstellungen, Funktionen, Botschaftenʼ. in Klassische Archäologie: eine Einführung, ed. by Adolf H. Borbein, Tonio Hölscher, and Paul Zanker (Berlin, 2000), pp. 147–65 Jarnut, Jörg, ʻGermanisch: Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschungʼ, in Die Suche nach den Ursprüngen, ed. by Walter Pohl, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 8 (Wien, 2004), pp. 107–13 Jepure, Antonel, ʻInterpretationsprobleme der Westgotenarchäologieʼ, in Zwischen Spätantike und Frühmittelalter: Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, ed. by Sebastian Brather, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 57 (Berlin, 2008), pp. 193–209 Kienast, Dietmar, Augustus: Prinzeps und Monarch (Darmstadt, 1982) Kory, Raimar, ʻSchuppen- und Lamellenpanzerʼ, in Reallexikon der germanischen Altertumskunde, ed. by Heinrich Beck, Dieter Geuenich, and Heiko Steuer. 2. Aufl., 35 vols (Berlin: 1972–2008), XXVII: Schere–Secundus von Trient (2004), pp. 375–403 Kossack, Georg, ʻPrunkgräber: Bemerkungen zu Eigenschaften und Aussagewertʼ, in Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner, 2 vols. ed. by Georg Kossack and Günter Ulbert (München, 1974), I, 3–33. Kulikowski, Michael, Rome’s Gothic Wars: From the Third Century to Alaric (Cambridge, 2007) Künzl, Ernst, Ein Traum von Imperium: Der Sarkophag Ludovisi, Grabmal eines Feldherren Roms (Regensburg, 2010) La Rocca, Cristina. ʻPiatto di Isola Rizzaʼ, in Il futuro dei Longobardi: L’Italia e la costruzione dell’Europa di Carlo Magno, ed. by Carlo Bertelli and Gian Pietro Brogiolo (Milano, 2000), p. 44. Maas, Michael, ʻ“Delivered from their Ancient Customs”: Christianity and the Question of Cultural Change in Early Byzantine Ethnographyʼ, in Conversion in Late Antiquity and the Early Middle Ages: Seeing and Believing, ed. by Kenneth Mills and Anthony Grafton (Rochester, 2003), pp. 152–88 Maas, Michael, ʻEthnicity, Orthodoxy and Community in Salvian of Marseillesʼ, in Fifth-Century Gaul: A Crisis of Identity?, ed. by John F. Drinkwater and Hugh Elton (Cambridge, 1992), pp. 275–84 Mengarelli, Raniero, ʻLa necropoli barbarica di Castel Trosino presso Ascoli Picenoʼ, Monumenti antichi, 12 (1902), 145–380 Moorhead, John, Theoderic in Italy (Oxford, 1992) Moscati, Sabatino, Historical Art in the Ancient Near East (Roma, 1963) |404|

390

Philipp von Rummel

Newbold, Ron F., ʻAttire in Ammianus and Gregory of Toursʼ, in Studia Humaniora Tartuensia, 6. A. 4 (2005), 1–14 < http://www.ut.ee/klassik/sht/2005/newbold1.pdf> [accessed 25 November 2012] Paribieni, Raniero, La necropolis barbarica di Nocera Umbra (Roma, 1928) Paroli, Lidia, ʻLa necropoli di Castel Trosino: un laboratorio archeologico per lo studio dellʼetà longobardaʼ, in L’Italia centro-settentrionale in età longobarda, ed. by Lidia Paroli, Biblioteca di archeologia medievale, 13 (Firenze. 1997), pp. 91–111 Paroli, Lidia, and Marco Ricci, La necropolis altomedivale di Castel Trosino, Ricerche di archeologia altomedievale e medievale, 32–33, 2 vols (Borgo S. Lorenzo, 2005) Paschoud, François, Roma aeterna: études sur le patriotisme romain dans l’occident latin à l’époque des grandes invasions (Roma, 1967) Paulsen, Peter, Alemannische Adelsgräber von Niederstrotzingen (Kreis Heidenheim) (Stuttgart, 1967) Pejrani Baricco, Luisella, ‘Longobardi da guerrieri a contadini: le ultime ricerche in Piemonte’, in Archeologia e società tra tardo antico e alto medioevo: XII seminario sul tardo antico e l’alto medioevo, Padova 29 settembre–1 ottobre 2005, ed. by Gian Pietro Brogiolo and Alexandra Chavarria Arnau (Mantova, 2007), pp. 363–86 Pieterse, Jan Nederveen, Globalization and Culture: Global Mélange (Oxford, 2004) Pohl, Walter, ‘Die Anfänge des Mittelalters: Alte Probleme, neue Perspektiven’, in Mediävistik im 21. Jahrhundert, ed. by Hans-Werner Goetz and Jörg Jarnut (München, 2003), pp. 361–78 Pohl, Walter, ‘Archaeology of Identity: Introduction’, in Archaeology of Identity/Archäologie der Identität, ed. by Walter Pohl and Mathias Mehofer, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 17 (Wien, 2010), pp. 9–24 Pohl, Walter, ‘Der Germanenbegriff vom 3.–8. Jahrhundert: Identifikationen und Abgrenzungen‘, in Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch-deutsch‘, ed. by Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer and Dietrich Hakelberg, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 34 (Berlin, 2004), pp. 163–83 Pohl, Walter, ‘The Politics of Change: Reflections on the Transformation of the Roman World‘, in Integration und Herrschaft: Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter, ed. by Walter Pohl and Maximilian Diesenberger, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 3 (Wien, 2002), pp. 275–88 Pohl, Walter, ‘lntroduction: Strategies of ldentification: A Methodological Profile’, in Strategies of Identification: Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe, ed. by Walter Pohl and Gerda Heydemann, Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 13 (Turnhout, 2013), pp. 1–64 Pohl, Walter, ‘Regnum und gens’, in Der frühmittelalterliche Staat: Europäische Perspektiven, ed. by Walter Pohl and Veronika Wieser, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 16 (Wien, 2009), pp. 435–50 Pohl, Walter, ‘Ursprungserzählungen und Gegenbilder: Das archaische Frühmittelalter’, in Meistererzählungen vom Mittelalter, ed. by Frank Rexroth, Historische Zeitschrift, Beiheft 46 (München, 2007), pp. 23–41 Pohl, Walter, Die Völkerwanderung: Eroberung und Integration, 2nd edn (Stuttgart, 2005) |405| Pohl, Walter, ‘Vom Nutzen des Germanenbegriffs zwischen Antike und Mittelalter: Eine forschungsgeschichtliche Perspektive’, in Akkulturation: Probleme einer germanischromanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, ed. by Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs, and Jörg Jarnut, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 41 (Berlin, 2004), pp. 18–34 Pohl, Walter, and Mathias Mehofer, eds, Archaeology of Identity/Archäologie der Identität, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 17 (Wien, 2010)

The Fading Power of Images

391

Redfield, Robert, Ralph Linton, and Melville J. Herskovits, ‘Mermorandum for the Study of Acculturation’, American Anthropologist, 38 (1936), 149–52 Reimitz, Helmut, ‘Cultural Brokers of a Common Past: History, Identity and Ethnicity in Gregory of Tours and the Chronicles of Fredegar’, in Strategies of Identification: Ethnicity and Religion in Early Medieval Europe, ed. by Walter Pohl and Gerda Heydemann, Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 13 (Turnhout, 2013) Rettner, Arno, ‘Baiuaria romana: Neues zu den Aufängen Bayerns aus archäologischer und namenkundlicher Sicht’, in Hüben und Drüben: Räume und Grenzen un der Archäologie des Frühmittelalters, Festschrift für Max Martin zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, ed. by Gabriele Graenert et al., Archäologie und Museum, 48 (Liestal, 2004), pp. 255–86 Ricci, Marco, ‘Relazioni culturali e scambi commerciali nell’Italia centrale romano-lon-gobarda alla luce della Crypta Balbi di Roma’, in L’Italia centro-settentrionale in età longobarda, ed. by Lidia Paroli, Biblioteca di archeologia medievale, 13 (Firenze, 1997), pp. 239–73 Riemer, Ellen, Romanische Grabfunde des 5.–8. Jahrhunderts in Italien, Internationale Archäologie, 57 (Rahden, 2000) Ripoll López, Gisela, Toréutica de la Bética (Barcelona, 1998) Ritter, Stefan, Alle Bilder führen nach Rom: Eine kurze Geschichte des Sehens (Stuttgart, 2009) Rupp, Cornelia, ‘Das langobardische Gräberfeld von Nocera Umbra’ (unpublished doctoral thesis, Universität Bonn, 1993) Rupp, Cornelia, Das langobardische Gräberfeld von Nocera Umbra, 1: Katalog und Tafeln (Firenze, 2005) Sasse, Barbara, ‘Westgotische’ Gräberfelder auf der iberischen Halbinsel am Beispiel der Funde aus El Carpio de Tajo (Torrijos, Toledo), Madrider Beiträge, 26 (Mainz, 2000) Schneider, Rolf Michael, ‘Barbar II (ikonographisch)’, in Reallexikon für Antike und Christentum, Ergänzungsband, 1 (2001), pp. 895–962 Settia, Aldo A., ‘Longobardi in Italia: necropoli altomedievali e ricerca storica’, in La storia dell’alto medioevo italiano (VI–X secolo) alla luce dell’archeologia, ed. by Riccardo Francovich and Ghislaine Noyé, Biblioteca dell‘archeologia medievale, 11 (Firenze, 1994), pp. 57–69 Steinacher, Roland, ‘Transformation und Integration oder Untergang und Eroberung? Gedanken zu politischen, staatlichen und ethnischen Identitäten im postimperialen Europa’, in Das Ereignis: Geschichtsschreibung zwischen Vorfall und Befund, ed. by Martin Fitzenreiter (London, 2009), pp. 265–82 Steinacher, Roland, ‘Zwischen Rom und den “Barbaren”: Anmerkungen zu militärischen Organisationsformen der Spätantike’, in Krieg und Wirtschaft: Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, ed. by Wolfram Dornik, Walter lber and Johannes Gießauf (Innsbruck, 2010), pp. 161–79 Swain, Simon, Hellenism and Empire: Language, Classicism, and Power in the Greek World, A. D. 50–250 (Oxford, 1996) Valenti, Marco, ‘Ma i “barbari” sono veramente arrivati in Italia?’. in V Congresso Nazionale di Archaeologia Medievale, 30 settembre–3 ottobre 2009, ed. by Giuliano Volpe and Pasquale Favia (Firenze, 2009), pp. 25–30 Volbach, Wolfgang Fritz, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters, 3rd edn (Mainz, 1976) Volbach, Wolfgang Fritz, ‘Il tesoro di Canoscio’, in Richerche sull’Umbria tardoantica e preromanica: atti del il convegno di studi Umbri (Gubbio, 1965), pp. 303–16 von Hessen, Otto, I ritrovamenti barbaric nelle collezioni civiche Veronesi del Museo di Castelvecchio (Verona, 1968) von Rummel, Philipp, ‘Gotisch, barbarisch oder römisch? Methodologische Überlegungen zur zur ethnischen interpretation von Kleidung’, Archaeology of Identity/Archäologie der Identität, ed.

392

Philipp von Rummel

by Walter Pohl and Mathias Mehofer, Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 17 (Wien, 2010), pp. 51–77 von Rummel, Philipp, Habitus barbarus: Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband, 55 (Berlin, 2007) Ward-Perkins, Bryan, The Fall of Rome and the End of Civilisation (Oxford, 2005) Werner, Joachim, ‘Zur Entstehung der Reihengräberzivilisation: ein Beitrag zur Methode der frühgeschichtlichen Archäologie’, Archaeologia Geographica, 1 (1950), pp. 23–32 Wickham, Chris, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800 (Oxford, 2005) Wickham, Chris, The inheritance of rome: A History of Europe from 400 to 1000 (Cambridge, 1998) Woolf, Greg, Becoming Roman: The Origins of Provincial Civilization in Gaul (Camebridge, 1998) Wührer, Barbara, ‘Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Erpfting, Stadt Landsberg am Lech’, in Hüben und Drüben: Räume und Grenzen in der Archäologie des Frühmittelalters: Festschrift für Max Martin zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, ed. by Gabriele Graenert et al., Archäologie und Museum, 48 (Liestal, 2004), pp. 305–18 Zanker, Paul, ‘Die Gegenwelt der Barbaren und die Überhöhung der häuslichen Lebenswelt: Überlegungen zum System der kaiserzeitlichen Bilderwelt‘, in Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike, ed. by Tonio Hölscher (Leipzig, 2000), pp. 409–33 Zanker, Paul, The Power of Images in the Age of Augustus (Ann Arbor, 1988) Zeiß, Hans, Die Grabfunde aus dem spanischen Westgotenreich (Berlin, 1934)

Kommentar

393

Kommentar Die Neubewertung, für die wie bereits erläutert u. a. H. Fehr, aber ebenso Guy Halsall und Frans Theuws sowie weitere Archäologen stehen, hat weitere Folgen. Wenn die eindeutige archäologische Unterscheidung zwischen Römern und Germanen in einer eng verflochtenen Welt nicht mehr plausibel gelingt – jedenfalls gerade dort, wo man es in Kontaktsituationen lange versucht hat –, wie sind dann veränderte Kleidungsformen der Spätantike und zeitgenössische Diskurse darüber zu bewerten? Es gibt eine Reihe sowohl bildlicher Darstellungen als auch textlicher Zeugnisse, die nicht nur neue Kleidung zeigen, sondern sie zugleich in einen ‚barbarischen‘ Zusammenhang stellen, beginnend bei den langhaarigen Leibgardisten des spätrömischen Kaisers auf silbernen Missorien. Es lag bislang nahe, sie mit Germanen als den Nordbarbaren in Verbindung zu bringen und ihr Eindringen in das römische Reich daran festzumachen. Stehen diese Quellen damit im Widerspruch zur veränderten Interpretation der Reihengräberfelder? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer interdisziplinären und detaillierten Untersuchung der entsprechenden Zeugnisse, um sowohl die archäologischen Funde – meist metallene Kleidungsbestandteile – als auch zahlreiche Bild- sowie Textzeugnisse sorgfältig mustern und plausibel bewerten zu können. Der Blick muss daher umgekehrt bzw. komplettiert werden: Erst die Kombination der archäologischen Funde und Befunde mit der in Bildern und Texten greifbaren römischen Sicht ergibt ein kohärentes Bild. Ausgangspunkt der einschlägigen Freiburger Dissertation Philipp von Rummels,1 inzwischen Generalsekretär des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin, die dies leistet, waren Beobachtungen zum vandalenzeitlichen Nordafrika. Dort lassen sich nur wenige, geradezu vereinzelte Grabfunde mit Vandalen in Verbindung bringen,2 jedenfalls in einer ‚migrationistischen‘ Sicht – oder vorsichtiger: einer Elite im Vandalenreich zuordnen. Was aber meinte Viktor von Vitas Erwähnung einer spezifischen Kleidung am nordafrikanischen Vandalenhof, die in einschlägigen Untersuchungen stets angeführt wird?3 Der Bischof hatte im 5. Jahrhundert eine Historia persecutionis Africanae provinciae geschrieben – eine Geschichte der Verfolgung in der Byzacena. Verfolgt wurden, so

1 Philipp von Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 55 (Berlin, New York 2007). 2 Entgegen der vehement vorgetragenen, aber dennoch problematischen Auffassung von Christoph Eger, Spätantikes Kleidungszubehör aus Nordafrika I. Die Funde der spätesten römischen Kaiserzeit und der vandalischen Zeit (um 400 bis mittleres 6. Jahrhundert). Münchner Beiträge zur provinzialrömischen Archäologie 5 (Wiesbaden 2012); ders., Vandalische Grabfunde aus Karthago. Germania 79, 2001, 347–390. 3 Philipp von Rummel, Habitus Vandalorum? Zur Frage nach einer gruppenspezifischen Kleidung der Vandalen in Nordafrika. Antiquité tardive 10, 2002, 131–141.

394

Philipp von Rummel

die Tendenz seiner Schrift, die Anhänger des ‚wahren‘ Glaubens unter der Herrschaft der arianischen Vandalenkönige. Entscheidend ist die Schilderung einer Situation, in der arianische Bischöfe ihren ‚katholischen‘ Kollegen Eugenius aufforderten, Personen in habitu barbaro in seine Kirche zu lassen. Interpretiert wurde dies lange als Beleg dafür, dass Vandalen – barbarische Germanen aus Europa – entsprechend aussahen und auf diese Weise leicht identifiziert werden konnten. Warum lassen sie sich dann kaum in den Gräbern ausmachen, die demzufolge ‚fremde‘ Kleidungsbestandteile enthalten müssten? Victors Beschreibung zielte wohl auf etwas anderes: zwar ging es um an ihrer Kleidung erkennbare Gruppen, doch waren dies primär Leute am vandalischen Königshof, die – vielleicht in Hosen, mit Tunika und Mantel wie auf zeitgleichen Mosaiken – als Bedienstete kenntlich waren. Es ging nicht um ‚Fremde‘, sondern um Leute bei Hofe – was sich im besonderen Fall des nordafrikanischen Vandalenreichs zugleich als religiöser Konflikt zwischen ‚Katholiken‘ und Arianern darstellte. Die wenigen Grabfunde heben mit ihrem Gold vor allem Rang und Status hervor. Das deutet darauf hin, dass es zwei Ebenen des spätantiken Diskurses zu unterscheiden gilt. Einerseits bewertete die antike Ethnographie die nichtmediterrane Welt als fundamentalen Gegensatz zur eigenen Zivilisation. Barbaren waren prinzipiell anders als Griechen und Römer – sie lebten auf dem Lande statt in Städten, sie waren in Ethnien organisiert und nicht zivilisiert (und diese Verschiedenheit bedeutet zugleich eine inferiore Stellung) – und sie repräsentierten gewissermaßen den vollkommenen Gegenentwurf zur römischen Zivilisation.4 Andererseits musste auf dem politischen Feld ein Umgang mit diesen anscheinend prinzipiell anderen Gruppen gefunden werden – d. h. in der Praxis von Militär und Administration führte kein Weg an Vereinbarungen und Kooperation mit den ‚natürlich‘ unzuverlässigen Gruppen vorbei. Theoretische Betrachtungen konnte man dabei zwar nicht beiseitelassen, aber doch pragmatisch zu relativieren versuchen, auch wenn dies nicht selten Schwierigkeiten bereitete.5 Es ist nun das Verdienst Ph. von Rummels, für die spätantike Kleidung gezeigt zu haben, wie diese beiden Sichtweisen einander überlagerten. Äußerliche Kennzeichen, die als ‚barbarisch‘ im Sinne von nicht traditionell-römisch galten, tauchten immer häufiger im römischen Kontext auf. Das zeigen sowohl etliche Textstellen als auch viele Bilddarstellungen, die auf angeblich ‚Fremdes‘ deutlich hinweisen und es entsprechend in Szene setzen. Die langen Haare sind bereits genannt; ergänzen lassen

4 Klaus E. Müller, Geschichte der antiken Ethnographie und ethnologischen Theoriebildung. Von den Anfängen bis auf die byzantinischen Historiographen 1–2. Studien zur Kulturkunde 29, 52 (Wiesbaden 1972, 1980); Yves Albert Dauge, Le barbare. Recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation. Collection Latomus 176 (Bruxelles 1981). 5 Christine Trzaska-Richter, Furor teutonicus. Das römische Germanenbild in Politik und Porpaganda von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert. n. Chr. Bochumer altertumswissenschaftliches Colloquium 8 (Trier 1991); Thomas S. Burns, Barbarians within the gates of Rome. A study of Roman military policy and the barbarians, ca. 375–425 A.D. (Bloomington, Indianapolis 1994).

Kommentar

395

sich an Kleidungsstücken Hosen und Schuhe sowie Tuniken – sie wurden der traditionellen Toga entgegengesetzt, doch diese war auch zuvor eine anlassgebundene Kleidung, die nur in bestimmten Situationen angemessen schien und erwartet wurde. Spezielle Schuhe wurden dem Codex Theodosianus zufolge verboten, doch bezog sich diese Regelung auf das römische Forum – und stellte keine grundsätzliche Festlegung dar.6 Die Liste vermeintlich ‚barbarischer‘ Kennzeichen ließe sich beliebig verlängern. In jedem Fall – meist sind ja spezifische Situationen beschrieben worden, in denen sie eine Rolle spielten – führt die genauere Analyse des Kontexts zu einer differenzierten Einschätzung. Zunächst ist nicht eindeutig, weshalb einzelne Elemente ‚nicht-römisch‘ sein sollten, wenn sie doch im römischen Milieu eine Rolle spielten. Um ein Beispiel von Rummels zu anzuführen: Was bedeutete es, wenn Julian in Paris 360 mit einem torques gekrönt wurde?7 Auf den ersten Blick griffen die ‚germanischen‘ Soldaten zu einem ihnen vertrauten Ritual, das sich im römischen Kontext sonderlich ausnahm. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass zunächst nach dem Halsring gegriffen wurde, weil ein Diadem nicht vorhanden war – das Ritual blieb dann dasselbe; außerdem wurden Halsringe schon in der frühen Kaiserzeit als militärische Auszeichnungen verliehen, so dass sie mitnichten ‚fremd‘ waren.8 Die genaue Analyse unterstreicht, dass die Barbaren-Assoziation meist ein innerrömisches Diskurs-Argument war. Zwar gab es auch eher pittoreske Barbarenschilderungen, doch dann ging es um Verhältnisse außerhalb des Imperiums. Anders sah es aus mit ‚innerrömischen‘ Germanen. Ungeachtet dieser Unterscheidung benutzte man die ‚Barbaren‘ als ‚Feindbild‘. Vereinfacht ausgedrückt, etablierte eine traditionell orientierte römische Führungsschicht den Habitus barbarus als Negativattribut einer neuen, militärisch geprägten und mit ihr um Macht und Einfluss konkurrierenden Elite. Bildliche und textliche Darstellungen zu ‚fremder‘ Kleidung entstammten dem senatorischen Umfeld: „Ihnen gemeinsam ist die latente Feindseligkeit, die tief in den Fundus alter Bilder greift, um die Konkurrenz zu diskreditieren.“9 Was also jeweils als ‚barbarisch‘ erscheint, spielt zwar mit entsprechenden Assoziationen, belegt aber keinesfalls dessen ‚tatsächlichen‘ barbarischen Ursprung, sondern dessen tatsächliche und dessen ‚propagandistische‘ Verknüpfung mit einer militärischen Elite. Gold und (Halb-)Edelsteine, wie sie aus

6 Codex Theodosianus XIV,10,2 (389 Apr. 7?): Usum tzangarum adque bracarum intra urbem venerabilem nemini liceat usurpare; ebd. XIV,10,3 (399 Juni 6): Intra urbem Romam nemo vel bracis vel tzangis utatur. 7 Ammianus Marcellinus, 20, 4, 17–18. 8 Philipp von Rummel, Ambrosius, Julianus Valens und die „gotische Kleidung“. Eine Schlüsselstelle historisch-archäologischer Interpretation. In: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, hrsg. Sebastian Brather. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 57 (Berlin, New York 2008) 45–64. 9 von Rummel, Habitus barbarus (Anm. 1), 405.

396

Philipp von Rummel

manchen Grabfunden wie im vandalischen Nordafrika bekanntgeworden sind, unterstreichen daher auch eher Status in einer mobilen Welt als irgendeine Form von Fremdheit.10 Dass der hier wieder abgedruckte Beitrag Ph. von Rummels auf Englisch erschien und hier in der Originalfassung abgedruckt ist, zeigt schließlich zweierlei. Zum einen ist die Diskussion über grundlegende Entwicklungen in Spätantike und Frühmittelalter inzwischen derart international geworden, dass ein rascher Austausch und eine schnelle Verständigung eine von möglichst vielen beherrschte lingua franca voraussetzen. Dieses Forschungsfeld erweist sich in den letzten Jahrzehnten als besonders fruchtbar. Zum anderen erhöht sich mit englischsprachigen Publikationen die internationale Wahrnehmung der deutschsprachigen Archäologie beträchtlich. Seitdem die zunächst ‚innerdeutsche‘ Debatte auch in fremdsprachigen Publikationen vorgetragen wird, ist sie überall präsent und ein fester Bestandteil der internationalen Forschung geworden. S.B.

10 Vgl. auch Peter Brown, Der Schatz im Himmel. Der Aufstieg des Christentums und der Untergang des römischen Reiches (Stuttgart 2017).

Nachweis der Originalpublikationen Dannenbauer, Heinrich, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen. Historisches Jahrbuch 61, 1941, 1–50. Fehr, Hubert, Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes. In: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, hrsg. Sebastian Brather. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 57 (Berlin, New York 2008) 67–102. Jarnut, Jörg, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Leges, Gentes, Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schriftkultur bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hrsg. Gerhard Dilcher/Eva-Marie Distler (Berlin 2006) 69–78. Kossinna, Gustaf, Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 6, 1896, 1–14. Lindenschmit, Ludwig/Lindenschmidt, Wilhelm, Das germanische Todtenlager von Selzen in der Provinz Rheinhessen (Mainz 1848) 29–38 (Zeitbestimmung unserer Alterthümer). Pohl, Walter, Vom Nutzen des Germanenbegriffs zwischen Antike und Mittelalter. Eine forschungsgeschichtliche Perspektive. In: Akkulturation. Probleme einer germanischrömischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. Dieter Hägermann/ Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsband 41 (Berlin, New York 2004) 18–34. von Rummel, Philipp, The Fading Power of Images. Romans, Barbarians, and the Uses of a Dichotomy in Early Medieval Archaeology. In: Post-Roman Traditions. Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West, ed. Walter Pohl/Gerda Heydemann. Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages 14 (Turnhout 2013) 365–406. Schlesinger, Walter, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte. Historische Zeitschrift 176, 1953, 225–275. Steuer, Heiko, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Zur Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. In: Geschichtswissenschaft und Archäologie. Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte, hrsg. Herbert Jankuhn/Reinhard Wenskus. Vorträge und Forschungen 22 (Sigmaringen 1979) 595–633. Waitz, Georg, Zur deutschen Verfassungsgeschichte. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3, 1845, 6–50. Wenskus, Reinhard, Einleitung. In: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln, Wien 1961; 21977). 1–13. ©Böhlau Verlag. Zeiß, Hans, Die geschichtliche Bedeutung der Völkerwanderungskunst. Vergangenheit und Gegenwart 27, 1937, 369–382.

https://doi.org/10.1515/9783110563061-015