Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland: Kontrollverfahren und Verfassungsrechtsprechung. Zugleich eine Untersuchung über die parlamentarische Geschäftsordnung [1 ed.] 9783428488469, 9783428088461

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Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland: Kontrollverfahren und Verfassungsrechtsprechung. Zugleich eine Untersuchung über die parlamentarische Geschäftsordnung [1 ed.]
 9783428488469, 9783428088461

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 38

Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland

Von

Gerassimos Theodossis

Duncker & Humblot · Berlin

GERASSIMOS THEODOSSIS

Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland

Beiträge zum Parlaments recht Herausgegeben von

Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen

Band 38

Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland Kontrollverfahren und Verfassungsrechtsprechung Zugleich eine Untersuchung über die parlamentarische Geschäftsordnung

Von

Dr. Gerassimos Theodossis

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Theodossis, Gerassimos:

Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland: Kontrollverfahren und Verfassungsrechtsprechung ; zugleich eine Untersuchung über die parlamentarische Geschäftsordnung I von Gerassimos Theodossis. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 38) Zug!.: Hamburg, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08846-8 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-08846-8 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Zoe gewidmet

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 1994 abgeschlossen und im Dezember 1995 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Mein außerordentlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Professor Dr. Philip Kunig (Berlin), für seine langjährige Betreuung und Professor Dr. Helmut Steinberger (Heidelberg), der das Zweitgutachten anfertigte. Ferner mächte ich an dieser Stelle der Public Benefedit Foundation Alexander S. Onassis (Athen), der Hans-Merensky-Stipendien-Stiftung (Hamburg) und dem Freundeskreis der Universität Heidelberg, deren Stipendiat ich gewesen war, danken. Nicht zuletzt mächte ich mich ganz besonders bei meinem Freund Andreas Jäckle für die Computer-Betreuung, für zahlreiche Diskussionen und Anregungen sowie den immer gewährten Rückhalt bedanken. Heidelberg, im Juni 1996

Gerassimos Theodossis

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

A. Parlamentarische Geschäftsordnungen im Rechtsgebilde der nationalen Verfassungen - Der Weg zur Verfassungskontrolle .

18

I.

Parlamentarische Geschäftsordnungen . . . . . . .

11. Parlaments- bzw. Geschäftsordnungsautonomie und Verfassung .

m.

18 19

Autonome Geschäftsordnungsgebung als probates Verfahren zur Umgehung der Verfassung durch die Parlamente - eine Exemplifikation . . ..

23

1. Griechenland: Art. 63 Abs. 4 der Geschäftsordnung des griechischen Parlaments von 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

2. Frankreich: Änderungen der Geschäftsordnung des Rates der Republik während der IV. französischen Republik . . . . . . . . . . . . . . ..

26

3. Deutschland: Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages am 23. März 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

IV. Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

B. Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

I.

Die Geschäftsordnungsautonomie des griechischen Parlaments

1. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung bis zur geltenden Verfas-

sung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 31

2. Das griechische Parlament und seine Geschäftsordnungsautonomie nach der Verfassung von 1975. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

32

3. Der Regelungsumfang der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

4. Das Verfahren zur Geschäftsordnungsgebung bzw. -änderung

34

a) Geschäftsordnung

......

34

b) Dienstliche Geschäftsordnung

36

5. Zeitlicher und personeller Geltungsbereich der Geschäftsordnung des griechischen Parlaments. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . ..

36

6. Rechtsnatur und Rang der Geschäftsordnung des griechischen Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Inhaltsverzeichnis

10

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen im Zugriffs bereich der griechischen Gerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

38

1. Die parlamentarischen Geschäftsordnungen und die griechische Gerichtsbarkeit nach der Verfassung von 1975 . . . . . . . . . . . . . ..

38

2. Die Kontrollbefugnis der griechischen Gerichte nach der Verfassung von 1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

III. Parlamentarische Geschäftsordnungen als Prüfungsgegenstand der Inzidentkontrolle durch die griechischen Gerichte . . . . . . . .

42

1. Die Gerichtskontrolle gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 . . . . . . .

42

2. Die Verfassungskontrolle der griechischen Gerichte und die Geschäftsordnung des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43

IV. Zusammenfassung: Parlamentarische Geschäftsordnungsgebung bzw. -anwendung in Griechenland ohne Verfassungskontrolle . . . . . . . . . . .

45

C. Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Verfassungsgerichtsbarkeit und parlamentarische Geschäftsordnungen in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

1. Die französischen Verfassungen und die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

47

2. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung bis zur Verfassung von 1958 - Verfassungskontrolle in Frankreich . . . . . . . . . . . . . .

48

3. Der historische Hintergrund der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich im Jahre 1958 - Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen . . . . . . . . . . . . . . .

51

4. Die Geschäftsordnungsautonomie des französischen Parlaments . . ..

55

11. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den französischen Verfassungsrat - Verfahren . . . . . ..

57

1. Das Verfahren zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen . . . . . . .

57

I.

a) Rechtsgrundlagen des Verfahrens

57

b) Kontrollgegenstand . . . . . . . .

59

c) Ingangsetzen des Verfahrens - Fristen

60

d) Bekanntmachung der Entscheidungen des Verfassungsrates .

62

2. Die ersten Entscheidungen des Verfassungsrates über die Geschäftsordnungen von Nationalversammlung bzw. Senat - Verfahrensrechtliche Schwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

3. Der Kontrollmaßstab nach der Rechtsprechung des Verfassungsrates ..

65

Inhaltsverzeichnis

11

a) Die Ordonnanzen nach Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958 als Kontrollmaßstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

b) (Einfache) Gesetze als Kontrollmaßstab . . . . . . . . . . . . . ..

69

III. Die Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den französischen Verfassungsrat - Ziele und Resultate . . . . ..

71

1. Entscheidungen des Verfassungsrates zum Schutz der einzelnen Abgeordneten bzw. der Parlamentsminderheiten . . . . . . . . . . . . . ..

71

2. Entscheidungen des Verfassungsrates zugunsten der Prärogativen des Parlaments bzw. der Parlamentarier . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

73

3. Die Entscheidungen des Verfassungsrates zum Schutz der Regierungsprärogativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

a) Die Entscheidungen des Verfassungsrates im Jahre 1959

...

b) Die Entscheidungen des Verfassungsrates bis zum Jahre 1968. c) Die Entscheidungen des Verfassungsrates nach 1968

.....

IV. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den französischen Verfassungsrat - Entscheidungstechniken und Entscheidungswirkungen . . . . .

77 80 83

86

1. Die Methoden zur Verfassungsauslegung

86

2. Der Verfassungsmäßigkeitsbegriff .

90

3. Die Entscheidungsvarianten . . . .

91

4. Die Bindungswirkung der Entscheidungen

94

V. Zusammenfassung: Parlamentarische Geschäftsordnungsgebung in Frankreich unter dem Vorbehalt der Verfassungsratsentscheidungen . . . . . ..

96

D. Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . .

99

I.

Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit

99

1. Der historische Hintergrund der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

2. Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter der Weimarer Reichsverfassung

100

3. Das Bundesverfassungsgericht des Grundgesetzes . . . . . . . .

102

4. Der Charakter der grundgesetzlichen Verfassungsgerichtsbarkeit .

104

a) Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts . . .

104

b) Keine Kontrolle von Amts wegen und keine "a priori"Verfassungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

106

c) Das Bundesverfassungsgericht als Kontrolleur der Staatsgewalten .. 107

12

Inhaltsverzeichnis d) Das Bundesverfassungsgericht als Kontrolleur des parlamentarischen Geschäftsordnungsgebers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

109

11. Die parlamentarischen Geschäftsordnungen nach deutschem Recht und deren Rechtscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

109

1. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat als parlamentarische Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

109

2. Die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages und Bundesrates..

111

a) Verfassungsrechtliche Garantie der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

b) Regelungsgehalt der autonomen Geschäftsordnungsgebung . . . ..

112

c) Das autonome Geschäftsordnungsgebungs- bzw. Geschäftsordnungsänderungsverfahren - Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . ..

113

d) Das Publikationsverfahren - (Geltende) Fassungen der Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat . . . . . . . . . . . . ..

115

3. Die Charakteristika der Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116

a) Die Geltungsdauer der Geschäftsordnungen des Bundesrats bzw. des Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

116

b) Die Reichweite des personellen Geltungsbereichs der parlamentarischen Geschäftsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

118

c) Der Regelungsgehalt der Geschäftsordnungsautonomie nach den geltenden Geschäftsordnungsvorschriften

120

.....................

123

4. Die Kategorisierung der Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . ..

124

III. Das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht und die bundesdeutsche Gerichtsbarkei t. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

126

1. Das richterliche Prüfungsrecht der deutschen Gerichte und die Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . ..

126

2. Vorlagefähigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen gemäß Art. 100 Abs. 1 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

3. Beschwerdeführung gegen parlamentarische Geschäftsordnungsvorschriften gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG? . . . . . . . . . . . . . ..

130

4. Parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht als Prüfungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG . . . . ..

132

5. Die parlamentarischen Geschäftsordnungen und das Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

136

d) Das Abweichungsverfahren

Inhaltsverzeichnis

13

a) Die Bundestags-bzw. Bundesratsgeschäftsordnung als Gegenstand von Streitigkeiten über die ,,Rechte und Pflichten" der obersten Bundesorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 b) Die Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnungen als zulässige Maßnahme bzw. als zulässiger Prüfungsgegenstand i. S. der §§ 64ff BVerfGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 142 c) Parteifähigkeit und Antragsbefugnis einer Organklage mit parlamentarischem Geschäftsordnungsrecht als Angriffsgegenstand . . . .. 144 d) Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Organstreitverfahrens mit dem parlamentarischen Geschäftsordn,ungsrecht als Kontrollgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 148 e) Die "aktuelle rechtliche Betroffenheit des Antragstellers" und die Zulässigkeitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 64 BVerfGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149 IV. Verfassungs gerichtliche Entscheidungen über das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 155 1. Entscheidungsformen, Entscheidungsvarianten und Entscheidungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht . . . . . . . . . .

163

a) Das Urteil des Zweiten Senats vom 6. März 1952 . . .

163

b) Die inzidente Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts

168

c) Das Urteil des Zweiten Senats vom 13. Juni 1989

175

d) Das Urteil des Zweiten Senats vom 16. Juli 1991

178

V. Zusammenfassung: Das deutsche Bundesverfassungsgericht als Mitgeschäftsordnungsgeber? . . . . . . .

181

Epilog. . . . . . . . . . . . . .

187

Anhang: Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen

190

I.

Griechische Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen .

190

1. Die Verfassung von 1975 . . . . . . . . . . . . . .

190

2. Das Gesetz über den Obersten Sondergerichtshof 345/1976

193

11. Französische Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen

195

1. Die Verfassung von 1958 . . . . . . . . . . . . . .

195

2. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789

198

3. Die Ordonnanz Nr. 58-1067 vom 7. November 1958 .

198

lli. Deutsche Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen . . .

199

14

Inhaltsverzeichnis 1. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BOBl.I S. 1) (BOBl. m 100-1) . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

2. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BOBl. I S. 243) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BOBl. I S. 1473) (BOBl. m 1104-1) . . . . . . . . . . . . . . 202

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Abkürzungsverzeichnis a.A. Abs. a. F. Anm. AöR

anderer Ansicht Absatz alte Fassung Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts

Art.

Artikel

BayVBl. BGBl. I (II) BVerfGE BVerfGG BVerwG BWahlG bzw. d.h.

Bayerische Verwaltungsblätter Bundesgesetzblatt Teil I (II) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht Bundeswahlgesetz beziehungsweise das heißt Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Grundrechte- Zeitschrift folgende Seite folgende Seiten Fußnote französisch Festschrift Grundgesetz Geschäftsordnung des Bundestages Geschäftsordnung des Bundesrates Geschäftsordnung der Nationalversammlung Geschäftsordnung des Parlaments Geschäftsordnung des Senats griechisch Herausgeber herausgegeben in der Fassung

DÖV DVBl. EuGRZ f. ff. Fn. franz. FS GG GOBT GOBR GOdNV GOdP GOdS griech. Hrsg. hrsg. i. d. F.

16 i. V. mit

JöR JR

JuS JZ Komm. N.F.

NJW Nr. RDP RFDC

RFSP Rn.

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S. s.

s. a. sog.

u. a. Verf. v. vgl. v.H. Vorb. VVDStRL VwGO WRV z.B. ZfGb ZfP

ZParl ZRP /I

Abkünungsverzeichnis in Verbindung mit Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Kommentierung Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nummer Revue du Droit public et de la science politique Revue fran~aise de Droit constitutionnel Revue fran~aise de la science politique Randnummer Revue politique des idees et des institutions Seite siehe siehe auch sogenannt unter anderen Verfassung von vergleiche vom Hundert Vorbemerkungen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungs gerichtsordnung Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik Der doppelte Schrägstrich trennt in den Fußnoten die deutschsprachigen, griechischen, französischen und englischen Zitate voneinander

Einleitung

Ziele und Schwerpunkte der Untersuchung Ziel dieser Arbeit ist es, drei grundverschiedene Verfassungsordnungen d. h. die griechische, die französische und die deutsche - auf dem Gebiet der Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen (im einzelnen) darzustellen bzw. sie zu erläutern, Regelungsmängel und Anwendungsdefizite aufzuzeigen und vorteilhafte Strukturen zu skizzieren. Vorrangig wird hiermit angestrebt, die Rechtsdiskussion auf nationaler Ebene anzuregen und zugleich einen kleinen Beitrag zur Entwicklung eines "gemeineuropäischen Verfassungsrechts" auf dem Rechtsgebiet zu leisten. "Der nationale Verfassungsgeber und -interpret kann sich aus dem Vorrat an schon verallgemeinerten oder doch verallgemeinerungsfähigen Verfassungsprinzipien bereichern (... ) er kann dank rechtsvergleichender Umschau mit Hilfe des Fremden das Eigene lösen"t . Anband der Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen wird ferner die Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Einhaltung des organisatorischen Teiles der Verfassung unter die Lupe genommen; dabei sollen insbesondere verfahrenstechnische Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Entwicklung, Bedeutung und Funktion der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie werden hier ebenfalls auf nationaler Ebene behandelt2 • Im Epilog erfolgt eine AnalySe des Spannungsverhältnisses zwischen parlamentarischer Geschäftsordnungsautonomie und (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit, betrachtet jedoch aus einer allgemein-theoretischen Perspektive. Spezifische, die Rechtsordnungen Griechenlands, Frankreichs und Deutschlands betreffende Schlußfolgerungen stehen jeweils am Ende der sich auf sie beziehenden Ausführungen in Form von konklusiven Darlegungen bzw. Zusammenfassungen. IHäberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: EuGRZ 1991, S. 269. 2Um der Wahrung des Gleichgewichts der Untersuchung willen wird die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und deren Gerichtskontrolle in bezug auf Deutschland lediglich auf Bl;!Ildesebene ermittelt, was auch mit der Bezeichnung Bundesrepublik Deutschland in der Uberschrift angedeutet wird. 2 Theodossis

A. Parlamentarische Geschäftsordnungen im Rechtsgebilde der nationalen Verfassungen Der Weg zur Verfassungskontrolle

I. Parlamentarische Geschäftsordnungen Die Parlamente sind Kollegialorgane und haben eine Vielzahl von Mitgliedern, deshalb benötigen sie eine organisatorische Grundlage, um ihren Gesamtwillen formulieren und ihre Geschäfte akkurat abwickeln zu können. Für ein geordnetes Funktionieren des Parlamentsbetriebs sind vor allem schriftlich fixierte Normen nötig, die die innere Ordnung des Parlaments, das Verfahren zur Durchführung der parlamentarischen Aufgaben sowie die Disziplin der Parlamentsmitglieder regeln. Solche Vorschriften werden dem juristischen Sprachgebrauch folgend parlamentarische Geschäftsordnungen genannt!. Die Wichtigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen wird vorweg begreiflich, wenn man überlegt, wieviele Entscheidungen im staatlichen Leben eines Parlamentsbeschlusses bedürfen, der nach den Vorschriften der Parlamentsgeschäftsordnungen zustandekommen soll. Mit anderen Worten: Die parlamentarischen Körperschaften sind dazu berufen, den Gesamtwillen eines Volkes Ausdruck zu verleihen, und die Geschäftsordnungen dienen ihnen als Hilfsmittel dazu, diesen Willen zu ermitteln. Ein Parlament ohne Geschäftsordnung wäre ein anarchisches Gebilde, denn ohne sie wären Störungen und Hemmungen im Parlamentsleben unüberwindbar2. Geschäftsordnungsvorschriften lObwohl sich die Tennini der griechischen und französischen Rechtsordnung ("K Ckund ,,reglements des assembl~s parlementaires") aus disparaten Rechtsbegriffen zusammensetzen, wird im folgenden zwecks Vereinheitlichung der Untersuchung - der deutsche Tenninus "parlamentarische Geschäftsordnung" auch als Übersetzung der ausländischen Bezeichnungen verwendet. Es ist anzumerken, daß alle drei Fachausdrücke inhaltlich kongruieren. 2Hierzu vgl. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 48; Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung mit besonderer Berücksichtigung der Geschäftsordnungen des preußischen Landtags und des Reichstags, 1929, lIoll~aJ.tOi TWII Cklln7rpOaW7rEVnK,WII EWj.tOTWII"

11. Parlaments- bzw. Geschäftsordnungsautonomie und Verfassung

19

rühren also von der Ratio des Rechts her; sie verfolgen dessen Ziele, bezogen allerdings auf das Parlamentsleben. Geschäftsordnungen zielen darauf ab, dem Parlament ein bestimmtes, zweckentsprechendes Handlungsverfahren zu ermöglichen. Machtmißbrauch wird zwar durch sie aus dem Parlamentsleben nicht ausgeschlossen; die Geschäftsordnungen als Rechtsnormen stellen aber eine sichtbare Schwelle dar, die Überschreitungen manifest macht3 • Darüber hinaus werden durch sie die Entscheidungen des Parlaments bzw. der Volksvertretung für das Volk selbst nachvollziehbar und transparent.

11. Parlaments- bzw. Geschäftsordnungsautonomie und Verfassung

Die Parlamente früherer Zeiten haben auf das fortdauernde Eingreifen anderer Staatsorgane in ihre Rechtsetzung bzw. in ihre Angelegenheiten damit reagiert, daß sie Anspruch darauf erhoben, ihre Geschäftsordnung im Alleingang zu beschließen 1• Diesen Anspruch begründeten die parlamentarischen Gremien damit, daß sie spezifische, auf ihren Aufbau zugeschnittene Regelungen bzw. S. 3ft'; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 22; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1934, S. 2ft'; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 9Off; Vogler, Die Ordnungsgewalt der deutschen Parlamente, 1926, S. 2. // Prelot, Droit parlementaire fran~ais, 1954-56, S. 14ft'. /I Daskalakis, (griech.) Die Rechtsnatur der Satzungen der volksvertretenden Körperschaften, 1937 S. 19ft'. 3Unter dem Terminus ,,Rechtsnormen" sind hier alle Normen zu verstehen, die schriftlich fixiert sind und zwingenden bzw. staatlichen Charakter haben. lEingehend dazu s. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 39ft'; Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 18ft'; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 29 (206ff); Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung mit besonderer Berücksichtigung der Geschäftsordnungen des preußischen Landtags und des Reichstags, 1929, S. 5ft'; Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetz und Geschäftsordnung, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 334, Rn. 3; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1934, S. 6ft'; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 201; Stein, Staatsrecht, 14. Auflage, 1993, § 9 III, S. 74. /I DebbaschIPontier/Bourdonl Ried, Droit constitutionnel et institutions politiques, 3. Auflage, 1990, S. 811; HaurioulGicquel, DroH constitutionnel et institutions politiques, 7. Auflage, 1980, S. 1067; Parodi, Les rapports entre le Legislatif et l'Executive sous la Cinquieme Republique (1958-1962), 1972, S. 17ft'; Pocher, Le Senat, 2. Auflage, 1983, S. 64; PrelotlBoulouis, Institutions politiques et droit consitutionnel, 10. Auflage 1987, S. 630. /I Daskalakis, (griech.) Die Rechtsnatur der Satzungen der volksvertretenden Körperschaften, 1937 S. 71ft'; Pararas, (griech.) Die Verfassung von 1975, Band 11, 1985, S. 198; Saripolos, (griech.) Griechisches Staatsrecht, Band 11, 1915, S. 385f; Sgouritsas, (griech.) Griechisches Staatsrecht, Band I, 1959, S. 304f; Tsatsos,

20

A. Parlamentarische Geschäftsordnungen

Geschäftsordnungen benötigten, um ihre Sacharbeit effektiv leisten zu können. Deshalb sollten sich derartige Normen - anders als die Gesetze - dem Promulgationsverfahren durch den Monarchen bzw. den Staatspräsidenten entziehen und in Staaten, in denen das Parlament aus zwei Kammern bestand, nicht von der Zustimmung der anderen Kammer abhängen2• Dadurch entstand die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments, welche auf die funktionelle Unabhängigkeit der parlamentarischen Kammern bei der Geschäftsordnungsgebung abzielt und einen Eckpfeiler der Parlamentsautonomie darstellt. Eine rechtliche Absicherung dieser Autonomie hätte keine sonderliche Bedeutung gehabt, solange die Verfassungsurkunden keine ausgeprägte (normative) Bestandskraft aufweisen konnten. Die Parlamente jener Zeit hatten fortwährend auf ihre Selbständigkeit bzw. ihre Unabhängigkeit zu pochen und resolut auf jede drohende Beeinträchtigung ihres (empirischen) Privilegs zu reagieren, um es zu bewahren. Erst im vergangenen Jahrhundert, als allmählich den nationalen Verfassungen Vorrang und Normativität zugeschrieben wurde, war die Aufnahme der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie in das Verfassungsrecht von bezeichnender Bedeutung3 • Es ist charakteristisch für modeme Verfassungen, daß in ihnen Novitäten gegenüber der Tradition verankert werden und daß viele ihrer Bestimmungen Abwehr - und Antwortcharakter gegenüber überwundenen Gefährdungen haben. Grundlegende Entscheidungen des staatlichen Lebens erhalten vor allem dann eine rechtliche Fixierung in den Verfassungsurkunden, wenn sie in der Vergangenheit angefochten bzw. in Frage gestellt wurden. In diesem Sinne wurde in vielen Ländern die Frage der Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Parlaments bei der Regelung seiner Geschäftsordnungsangelegenheiten durch die Verfassung konziliant geregelt. Von einem ausdrücklichen Niederschlag der Geschäftsordnungsautonomie in der Verfassung wird hingegen abgesehen, insofern als die Parlamentsautonomie als gesicherter bzw. unumstrittener Bestandteil der Staatsordnung erscheint. Die autonome Setzung parlamentarischer Geschäftsordnungen ist allerdings ohne eine Verfassungsgarantie - d. h. ohne daß der souveräne Verfassungs geber als pouvoir constituant dem Parlament diese Autonomie (explizit) gewährt - nicht ewig garantiert. Eine apriori Funktionenordnung kann es im Rahmen eines ge(griech.) Staatsrecht, Band I, 1981, S. 119f. Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1994, S.396ff. 2Das Promulgationsverfahren umfaßt den Gesamtvorgang der Ausfertigung und der Verkündung von Gesetzen durch den Monarchen bzw. den Staatspräsidenten 31m folgenden ist unter Verfassung ausschließlich die "Verfassung im formellen Sinn" zu verstehen. Mit der Prädizierung verfassungsrechtlich werden ferner Institutionen bzw. Verfahren des Staatsrechts bezeichnet, die in die Verfassung im formellen Sinn aufgenommen wurden

11. Parlaments- bzw. Geschäftsordnungsautonomie und Verfassung

21

waltenteilenden Verfassungssystems nicht geben, und der Status des Parlaments als Verfassungsorgan - diese Bezeichnung hat lediglich einen umschreibenden bzw. zusammenfassenden Charakter - reicht nicht aus, um der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie gegenüber anderen (expliziten bzw. impliziten) KompeteDZzuweisungen vorrangige Geltung zu verschaffen. Ohne eine Verfassungsgarantie könnten parlamentarischen Kammern fremdbestimmte Regelungen über deren Organisation auferlegt werden, was eine Bevormundung des Parlaments herbeiführen könnte. Dies hat sich z. B. in Frankreich in der Zeit des Zweiten Kaisertums (zwischen 1852 und 1869) zugetragen, als Organisation, Arbeitsweise und Disziplin im Parlament durch Dekrete der Exekutive geregelt wurden4• Ein (expliziter) Delegationszusammenhang der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie mit der jeweiligen Verfassung ist ferner auch aus rechtsdogmatischen Gründen erforderlich. Denn aus der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie folgt eine (verfahrenserleichternde) Rechtsetzungsbefugnis, die eine Rückführbarkeit auf die Verfassung verlangf. Umgekehrt bedürfen Einschränkungen der in der Verfassung verbürgten Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments verfassungsrechtlicher Ermächtigung. Ebenfalls der französischen Verfassungsgeschichte wird das folgende Beispiel entnommen, das die andere Seite des Verhältnisses zwischen Verfassung und parlamentarischen Geschäftsordnungen zu beleuchten vermag. Die (mit insgesamt 377 Artikeln) artikelreiche Direktorialverfassung vom 5. Fruktidor des Jahres III (1795) regelte detailliert die Arbeitsweise des Parlaments. Darüber hinaus wurden unter dem Regiment des Direktoriums Parlamentsangelegenheiten durch das Gesetz vom 28. Fruktidor desselben Jahres geregelt, und bis zum Jahre VIII waren alle weiteren Geschäftsordnungsangelegenheiten im Wege der formellen Gesetzgebung zu normieren6• 4Eingehend dazu s. Haagen, (Anm. 1), S. IOf; Rösch, (Anm. 1), S. 17f. // Beaut6,

L' Antinomie de la Suprematie de la Constitution et de l' Autonomie Reglementaire des

Assemblees, in: Politique 6, 1963, S. 98f; Bonnard, Les reglements des assemblees legislatives de la France, depuis 1789, 1926, S. 9ff; Laportetrulard, Droit parlementaire, 1986, S. 32; Parodi, (Anm. 1), S. 18; Prelot, Droit parlementaire fran~ais, 1954-56, S. 26ft'; Ruzie, Le nouveau reglement de l' Assemblee Nationale, in: RDP 75, 1959, S. 866; Vier, Le contröle du Conseil Constitutionnel sur les reglements des assemblees in: RDP 88, 1972, S.169f. sDazu s. Achterberg, (Anm. 1), S. 325:"Die Ermächtigung zur Geschäftsordnungsgebung ist in den Verfassungen enthalten. Sie ist deshalb erforderlich, weil im innerstaatlichen (Außen- oder Innen-) Bereich Rechtsetzung nur auf Grund verfassungsrechtlicher Ermächtigung gestattet ist". 6Dazu s. Bonnard, (Anm. 4), S. 15f; Prelot, (Anm. 4), S. 27.

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A. Parlamentarische Geschäftsordnungen

Demnach wird also klar, daß die geltenden Verfassungen einerseits der Absicherung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie dienen können, andererseits aber deren Regelungsumfang einschränken, indem sie selbst Rechtsnormen aufführen, die sich auf die Organisation und Arbeitsweise des Parlaments beziehen, oder solche Regelungsbereiche der formellen Gesetzgebung zuweisen. Vorausgesetzt, daß die geltende Verfassung die höchstrangige Stelle in der innerstaatlichen Normenhierarchie einnimmt bzw. ihre Abänderbarkeit an besondere, erschwerte Voraussetzungen gebunden ist, hat sich das Parlament als Geschäftsordnungsgeber den verfassungsrechtlichen Entscheidungen zu fügen. Geschäftsordnungsrecht kann dann Verfassungsrecht nicht ändern. Jede verfassungsrechtliche Normierung bedeutet mithin eine Einschränkung der in der Verfassung selbst verbürgten Geschäftsordnungsautonomie, ohne daß sich dadurch ein Widerspruch im inneren Zusammenhang des Verfassungstextes bildet. Dabei ist davon auszugehen, daß der Verfassungsgeber diese Autonomie eben unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Geschäftsordnungsvorschriften gewähren wollte7 • ,,Demgemäß kann der Geschäftsgang durch die autonome Geschäftsordnung nur insoweit geregelt werden, wie dies nicht durch die Verfassung geschehen ist"S. Verfassungstexte enthalten in der Regel nur vereinzelt das Parlament betreffende Organisations- und Verfahrensvorschriften, so daß sich dessen Geschäftsgang (zum größten Teil) nur anband von Geschäftsordnungsvorschriften bewerkstelligen läßt. Vorausgesetzt, daß dem Parlament kraft Verfassung oder Verfassungsgewohnheitsrechts (bzw. stillschweigend) ein Selbstorganisationsrecht zukommt, werden offengelassene Bereiche des Parlamentslebens durch geschäftsordnungsrechtliche Regelungen ausgefüllt und unklare Fragen erst durch sie normiert. Darüber hinaus eignet sich die autonome Rechtsetzung des Parlaments aufgrund der Sachlichkeit und Flexibilität, die sie kennzeichnet, als Experimentierfeld des Staatsrechts, insoweit als in diesem Rahmen am besten neue Verfahren bzw. neue Strukturen gestaltet und erprobt werden können. Allerdings stehen auch solche originellen Geschäftsordnungsvorschriften rangmäßig unter der Verfassung. Mit anderen Worten: Parlamentsgeschäftsordnungen dürfen zwar die Verfassung konkretisieren bzw. fortbilden, sie aber nicht widerlegen bzw. unterlaufen. Der autonome Geschäftsordnungsgeber ist also kraft Autonomie zur Rechtsfortbildung bzw. zur konstitutiven Rechtsetzung berechtigt, nachdem er (unter sukzessiver bzw. kursorischer Anwendung der einzelnen Interpretationsme7Hienu vgl. Art. 178 Buchst. a) der portugiesischen Verfassung von 1976 "Die Versammlung der Republik ist befugt: a) ihre Geschäftsordnung unter Beachtung der Bestimmungen der Verfassung auszuarbeiten und zu verabschieden". Die Übersetzung stammt aus Kimmel, (Hrsg.) Die Verfassungen derEG-Mitgliedstaaten, 3. Auflage, 1993, S. 284ft'. 8Achterberg, (Anm. 1), S. 329.

III. Autonome Geschäftsordnungsgebung

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thoden) die Sinnennittlung der verfassungsrechtlichen Vorgaben erschöpft hat9 . Auch konstitutives (autonomes) Geschäftsordnungsrecht ist als konkretisiertes Verfassungsrecht zu verstehen; es stellt Rechtsfindung dar und hat sich demnach an der Verfassung zu orientieren. Die Verfassung im formellen Sinn steht an der Spitze der Normenhierarchie, deshalb müssen alle Rechtsnormen an ihr gemessen werden. Sie bietet Konkretisierungsmaximen für jedes Rechtsgebiet, auch für ihre eigenen Normen. Eine Verfassungsbestimmung ist auch an Hand der leitenden Grundsätze und Prinzipien, die der Verfassung immanent sind, zu konkretisieren lO • Auf gleiche Weise sollten auch die Verfassungsbestimmungen, die die Parlamentsautonomie bzw. das Parlamentsleben betreffen, ihre optimale Wirkungskraft erreichen. Insbesondere das in der Verfassung verankerte Demokratieprinzip bzw. das ihm innewohnende Gebot zum Minderheitenschutz müßten dem Geschäftsordnungsgeber bei seiner autonomen Rechtsetzung als Orientierungsmaxime dienen 11 • Beide darf er durch seine Nonnierungen weder einengen noch überspielen. Positionen bzw. Rechte, die die Verfassung Parlamentsminderheiten (explizit oder implizit) gewährt, dürfen demnach durch konstitutives autonomes Geschäftsordnungsrecht nicht eingeschränkt bzw. relativiert werden. Denn Verfassungsrecht bricht Geschäftsordnungsrecht.

m.

Autonome Geschäftsordnungsgebung als probates Verfahren zur Umgehung der Verfassung durch die Parlamente eine Exemplifikation

Zweifelsohne stellen parlamentarische Geschäftsordnungen wichtige Rechtsquellen des Staatsrechts dar, die das Zusammenspiel der im Parlament vertretenen politischen Kräften entscheidend prägen. Dieses geschmeidige Instrument 9Grundsätzlich handelt es sich bei den Verfassungsinterpretationsmethoden um die wörtliche, historische bzw. genetische und systematiche Auslegung; keine Auslegungsmethode darf jedoch verabsolutiert werden; und jedes Anzeichen von Willkür oder Zufälligkeit ist dabei manifest zu venneiden IODazu s. Theodossis, Die griechische Verfassung von 1975/1986 und die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Grundsätzliches aus Anlaß eines Einzelfalles, in: JöR N.F. 38, 1989, S. 375. llNach Auffassung des Verfassers stellt das in der Verfassung (bzw. Staatstrukturbestimmung) verankerte Demokratieprinzip herauskristallisiertes Recht dar, das deduktiv (unter Zuhilfenahme der allgemeinen Staatslehre) auf das parlamentarische Selbstorganisationsrecht Anwendung finden soll, dazu s. Theodossis, (Anm. 10), S. 363ft'. S. a. Bollmann, (Anm. 1), S. 134. Die Untersuchung Bollmanns skizziert ferner eindrücklich die enge Verbindung zwischen den Elementen des (grundgesetzlichen) Rechtsstaatsprinzips - wie dem Gebot der Rechtssicherheit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - und dem parlamentarischen Verfahren.

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A. Parlamentarische Geschäftsordnungen

zur parlamentarischen Willensbildung steht jedoch in der Regel zur Disposition der jeweiligen Parlamentsmehrheit und kann ihr zu einer unzulässigen Willensdurchsetzung verhelfen. Im Schrifttum wird häufig hervorgehoben, daß sich hinter Geschäftsordnungsfragen Machtfragen verbergen und daß beim Erlaß der (verfahrenstechnischen) Vorschriften einer Geschäftsordnung ein Kampf zwischen Parlamentsmehrheit und Opposition um die Verteilung von Einflußmöglichkeiten bzw. Machtpositionen ausgetragen wird l . "Für die politische Dynamik eines Staates sind die Bestimmungen zur Regelung des inneren Parlamentsbetriebs oft wichtiger als die Verfassung selbst"2. In diesem Zusammenhang wären die (im französischen Schrifttum recht häufig zitierten) Kommentare von Eugene Pierre: "Die Geschäftsordnung ist dem Schein nach nur ein inneres Gesetz der Kammer (... ). In Wirklichkeit aber ist sie ein furchtbares Instrument in den Händen der Parteien; sie hat oft mehr Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten als die Verfassung selbst" und von Raymond Poincar~: "Ich verzichte auf eine Verfassungsänderung, wenn jemand mir eine gute Geschäftsordnung der Kammer gibt; eine solche genügt, die Verfassung in der Tat zu ändem"nicht fehl am Platz3 • Dadurch könnte gewissermaßen das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsvorrang und parlamentarischer Geschäftsordnungsautonornie skizziert werden. Folgende Beispiele aus der Verfassungsgeschichte Griechenlands, Frankreichs und Deutschlands vermögen jedoch besser zu verdeutlichen, daß Manipulationen der 1Hierzu vgl. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 14ff (17); Haug, Bindungsprobleme und Reehtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 22; Kretschmer, Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 292, Rn. 4; Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnungen in: Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 93; H. Schneider, Die Bedeutung der Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane für das Verfassungsleben, in: FS für R. Smend, 1952, S. 318; Szmula, Stichwort: Geschäftsordnung (allgemeine Problematik), in: RöhringlSontheimer (Hrsg.) Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 160. // AvrillGicquel, Droit parlementaire, 1988, S. 9; Baufum6, La r6habilitation des r6solutions: une n6cessit6 constitutionelle, in: RDP 1994, S. 1041; Bonnard, Les r~gle­ ments des assembl6es 16gislatives de la France, depuis 1789, 1926, S. 9f; Bourdon, Les assemblus parlementaires sous la V' R6publique, 1978, S. 69; Burdeau, Manuel de droit constitutionnel et institutions politiques, 20. Auflage, 1984, S. 572; LaportelThlard, Droit parlementaire, 1986, S. 32f; Pocher, Le S6nat, 2. Auflage, 1983, S. 64; Pr6lot, Droit parlementaire fran~ais, 1954-56, S. 23ff. 2Loewenstein, Verfassungslehre, Übersetzt von Boemer, 1959, S. 99. 3Die deutsche Übersetzung der Zitate stammt vom Verfasser. Zu den französischen Texten s. Bourdon, (Anm. 1), S. 69; Hamon, Quand les assembl6es parlementaire ont des juges. Quelques r6flexions sur 1'6quilibre constitutionnel, in: Reeueil Dalloz, 1959, S. 255; Lapporte/Thlard, (Anm. 1), S. 33; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980, S. 99f; Pocher, (Anm. 1), S. 64; Rousseau, Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 108, 1992, S. 66; Turpin, Contentieux constitutionnel, 1986, S. 101.

III. Autonome Geschäftsordnungsgebung

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parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie Manipulationen der Verfassungen herbeiführen können und daß Verfassungsbestimmungen bzw. Verfassungsinstitutionen unter Zuhilfenahme der parlamentarischen Geschäftsordnungen unzulässig (bzw. kontrakonstitutionell) abgeändert bzw. stillgelegt werden können.

1. Griechenland: Art. 63 Abs. 4 der Geschäftsordnung des griechischen Parlaments von 1975

Die Formulierung des Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Verf. v. 1975 weist gewisse Unklarheiten auf, die verschiedene Auslegungen erlauben4 . Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Verf. v. 1975 ist nicht klar, ob die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ein Minderheitenrecht darstellt. Die Unklarheit bzw. die Unzulänglichkeit des Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Verf. v. 1975 wird aber vor allem deutlich, wenn die für die Einsetzung stimmenden Parlamentsabgeordneten weniger als die absolute Mehrheit der bei der Abstimmung anwesenden Abgeordneten sind5 • Die vier Monate nach Verabschiedung der Verfassung von 1975 beschlossene Geschäftsordnung des Parlaments (GOdP v. 1975) konkretisierte die unklare Verfassungsbestimmung des Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Verf. v. 1975, und der Wortlaut der einschlägigen Geschäftsordnungsbestimmung Art. 63 Abs. 4 GOdP v. 1975 lautete: ,,Ein Vertrauensantrag der Regierung oder ein Antrag auf Einsetzung von Untersuchungsausschüssen können nur mit der absoluten Mehrheit der anwesenden Abgeordneten angenommen werden; diese darf aber nicht geringer als zwei Fünftel der Gesamtzahl der Abgeordneten sein. ,,6

Auf dieser Grundlage wies das Präsidium des griechischen Parlaments im Mai 1987 einen von der Opposition gestellten Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit der Begründung zurück, daß die (absolute) Mehrheit der im Plenum anwesenden Abgeordneten dagegen stimmten. Trotz des Verfassungsgebots aus Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 4Die Vorschrift lautet: "Auf Antrag eines Fünfteis der Gesamtzahl der Abgeordneten setzt das Parlament mit der Mehrheit von zwei Fünftein der Gesamtzahl der Abgeordneten Untersuchungsausschüsse aus den Reihen seiner Mitglieder ein". Die Übersetzung der Bestimmungen der griechischen Verfassung von 1975 stammt aus Kimmel (Hrsg.) Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 3. Auflage, 1993, S. 122ff. sZu einem Beschluß des griechischen Parlaments ist gemäß Art. 67 Abs. 1 Verf. v. 1975 die absolute Mehrheit der anwesenden Abgeordneten erforderlich; diese muß jedoch mindestens ein Viertel der Gesamtzahl der Abgeordneten betragen. 6Die deutsche Übersetzung stammt vom Verfasser.

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A. Parlamentarische Geschäftsordnungen "Das Parlament bestimmt die Art seiner freien und demokratischen Arbeitsweise durch eine Geschäftsordnung, die gemäß Artikel 76 vom Plenum zu beschließen ist und auf Anordnung seines Präsidenten im Gesetzesblatt zu veröffentlichen ist."

Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 verpflichtet das Parlament zu einer freien und demokratischen Geschäftsordnungsgebung - und trotz Geltung des verfassungsrechtlichen Demokratieprinzips wurde in diesem Fall die Opposition mittels geschäftsordnungsrechtlicher Regelung von der Einsetzung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse ausgeschlossen, obgleich Untersuchungsausschüsse bzw. deren Einsetzung im Parlament ein unabdingbares Kampfmittel zur Profilierung der Opposition darstellen7 •

-

Auch die im Juni 1987 neu beschlossene Geschäftsordnung des griechischen Parlaments enthält eine inhaltsgleiche Regelung (Art. 144 Abs. 5 GOdP v. 1987). Damit wurde wiederum den parlamentarischen Minderheiten das Recht abgesprochen, einen Untersuchungsausschuß einsetzen zu können, wenn das Machtkartell von Regierung und Parlamentsmehrheit dem Antrag nicht zustimmt. Dabei wurde jedoch das Demokratieprinzip, das durch die Staatsstrukturbestimmung der griechischen Verfassung Art. 1 Abs. 1 Verf. v. 1975: "Die Staatsform Griechenlands ist die republikanische parlamentarische Demokratie."

garantiert wird, überspielt. Wie eine vorangegangene Untersuchung des Verfassers zu zeigen vermag, besteht kraft Verfassung in Griechenland ein deduktives Verhältnis zwischen der Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und dem dem Demokratieprinzip innewohnenden Gebot zum Minderheitenschutz, welches den autonomen Geschäftsordnungsgeber zur Ausgestaltung des Einsetzungsrechts als Minderheitenrecht verpflichtet8 •

2. Frankreich: Änderungen der Geschäftsordnung des Rates der Republik während der IV. französischen Republik

Der französische Verfassungsgeber von 1946 wollte mit dem Rat der Republik keine Zweite Kammer einrichten, sondern ein zweitrangiges (parlamentarisches) Gremium schaffen und dadurch den mächtigen Senat der Ill. französischen Republik ersetzen. Diese Differenzierung zwischen Nationalversammlung und Rat der Republik ging vor allem aus dem Wortlaut der Artikel Art. 5, Art. 14 Abs. 1, 'Hierzu vgl. Theodossis, Die griechische Verfassung von 1975/1986 und die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Grundsätzliches aus Anlaß eines Einzelfalles, in: JöR N.F. 38, 1989, S. 374. 8S. Theodossis, (Anm. 7), S. 361ff.

III. Autonome Geschäftsordnungsgebung

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Art. 13 Satz 1 und Art. 48 Abs. 2 der französischen Verfassung von 1946 hervor9 . Trotzdem gelang es dem Rat der Republik, im nachhinein im Wege seiner autonomen Geschäftsordnungsgebung etliche Vorrechte des alten Senats zu erlangen und dadurch seine Position als Zweite Kammer zu konsolidieren 10. Zuvordest verlieh er durch eine Geschäftsordnungsänderung seinen Mitgliedern den Titel "Senator" und schickte sich damit an, die Nachfolge des Senats der III. Republik anzutreten. Nach einer Geschäftsordnungsänderung im Jahre 1949 waren ferner die von den Senatoren vorgelegten Gesetzesvorschläge dem zuständigen oder einem speziellen Ausschuß des Rates der Republik zu überweisen und dann mit einem Bericht dieses Ausschusses versehen der Nationalversammlung zuzuleiten. Der ursprünglichen Fassung des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 Verf. v. 1946 war allerdings zu entnehmen, daß die von den Mitgliedern des Rates der Republik eingebrachten Gesetzesentwürfe ohne eine Diskussion im Rat der Republik dem Präsidium der Nationalversammlung zuzuleiten wären. Gestützt auf diese Verfassungsbestimmung hielt die Nationalversammlung alle Vorlagen, die ihr nach Beratung durch einen Ausschuß des Rates der Republik zugeleitet wurden, für verfassungswidrig und modifizierte dementsprechend ihre Geschäftsordnung. Alle Gesetzesentwürfe, die vorher durch den Rat der Republik in öffentlicher Sitzung oder von einem seiner Ausschüsse beraten wurden, wären gemäß dieser Geschäftsordnungsänderung unzulässig gewesen I I. Ungeachtet der vehementen Reaktion seitens der Nationalversammlung setzte jedoch der Rat der Republik seine verfassungswidrige Geschäftsordnungsgebung im Jahre 1949 fort. Durch eine weitere Geschäftsordnungsänderung wan9Dazu s. Art. 5 Verf. v. 1946: "Das Parlament besteht aus der Nationalversammlung und dem Rat der Republik", Art. 14 Abs. 1 Verf. v. 1946: "Der Präsident des Ministerrates und die Mitglieder des Parlaments haben die Gesetzesinitiative", Art. 13 Satz 1 Verf. v. 1946 ,,Die Nationalversammlung beschließt allein die Gesetze" und Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1946 "Sie (d. h. die Minister) sind gegenüber dem Rat der Republik nicht verantwortlich". Der Text der französischen Verfassung von 1946 stammt aus Duverger, Constitutions et documents politiques, 10. Auflage, 1986, S. 24Off; die deutsche Übersetzung stammt vom Verfasser. IODazu s. Beautt, V Antinomie de la Supr6matie de la Constitution et de l' Autonomie Reglementaire des Assemblees, in: Politique 6, 1963, S. 100ff; Bourdon, (Anm. 1), S. 69; Laporte/Thlard, (Anm. 1), S. 33ft'; Laporte/Thlard, (Anm. 1), S. 33ft'; Parodi, Les rapports entre le Legislatif et l' Executive sous la Cinqui~me Republique (1958-1962), 1972, S. 18; Ruzie, Le nouveau reglement de l' Assemblee Nationale, in: RDP 75, 1959; Vier, Le contr8le du Conseil Constitutionnel sur les r6glements des assemblees in: RDP 88, 1972, S.168f. "Das Verfassungsgesetz vom 7. 12. 1954 löste diesen Konflikt zugunsten des Rates der Republik. Danach lautete der revidierte Art. 14 Abs. 3 Satz 1 Verf. v. 1946: "Die von den Mitgliedern des Parlaments eingebrachten Gesetzesentwürfe sind dem Präsidium der Kammer, der sie ange~~ren, vorzulegen und nach Annahme der anderen Kammer zuzuleiten". Die deutsche Ubersetzung stammt vom Verfasser, der Text aus Duverger, (Anm.9).

28

A. Parlamentarische Geschäftsordnungen

delte er das ihm zukommende Interpellationsrecht in eine quasi-Kontrolle um. Trotz Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1946 (dazu s. Anm. 9) führte der Rat der Republik die mündlichen Anfragen mit Debatte und anschließender Abstimmung geschäftsordnungsrechtlich ein und begründete damit indirekt eine Art politischer Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder gegenüber ihm. Auch diese Geschäftsordnungsänderung des Rates der Republik schien dem Präsidium der Nationalversammlung "weder mit dem Geist noch mit den Buchstaben der Verfassung vereinbar"12. Der Präsident der Nationalversammlung sah darin eine erneute Bedrohung der Vorrechte seiner Kammer und wandte sich an den Präsidenten der Republik, der jedoch nur seine Ohnmacht diesbezüglich bekunden konnte. Die Antwort des Staatspräsidenten V. Auriol an den Präsidenten der Nationalversammlung E. Herriot lautete: ,,Die Verfassung sieht absolut kein Mittel vor, um die Artikel der Geschäftsordnung einer parlamentarischen Kammer aufzuheben. Weder die Nationalversammlung noch die Regierung noch der Präsident der Republik kann sich in diesen Bereich einmischen. Jede Einmischung wäre selbst verfassungswidrig. Jede Kammer ist Herrin ihrer Geschäftsordnung" 13 •

3. Deutschland: Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages am 23. März 1933

Im Jahre 1933 verfügte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) zusammen mit ihren Koalitionspartnern nur über 340 der insgesamt 647 Sitze im Reichstag. Die Nationalsozialisen bedienteten sich deshalb zuerst der Geschäftsordnung des Reichstages, um den Beschluß des verfassungsändernden Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich bzw. des sog. "Ermächtigungsgesetzes" zuwege zu bringen und damit ihre Diktatur zu errichten 14. 12Zitiert nach Beaute, (Anm. 10), S. 101 und übersetzt vom Verfasser. Dazu s. a. AvrillGicquel, Le Conseil Constitutionnel, 1992, S. 29ff; Bourdon, (Anm. 1), S. 69; Laporte/Thlard, (Anm. 1), S. 35; Parodi, (Anm. 10), S. 18; Ruzi~, (Anm. 10), S. 868. 13Nach Zitat von Beaute, (Anm. 10), S. 101 und Übersetzung des Verfassers. 14Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933 ermächtigte die Reichsregierung dazu, Gesetze zu erlassen, ohne die die Gesetzgebung betreffenden Verfassungsbestimmungen (Art. 68 bis Art. 77 WRV) anzuwenden. Diese Gesetze waren vom Reichskanzler auszufertigen und durften sogar von der Verfassung abweichen. Dazu s. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen. 1951, S. 7; Bollmann. (Anm. 1), S.14; Haug, (Anm. 1), S. 23; Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Band III, 1984, S. 603f; Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Auflage, 1990, S. 184ff; Morsey, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933,1992; H. Schneider, (Anm. 1), S. 317f; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auflage, 1992, S. 31Off.

IV. Verfassungsmäßigkeitskontrolle

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Zu diesem Gesetzesvorhaben war gemäß Art. 76 Abs. 1 Satz 2 WRV die Anwesenheit vom ZweidritteI der Reichstagsabgeordneten und die Zustimmung vom Zweidritteln der anwesenden Abgeordneten erforderlich. Aber nach der zwangsläufigen Abwesenheit der Abgeordneten der Kommunistischen Partei, die nach dem Reichtstagsbrand verhaftet wurden oder untergetaucht waren, hätte das Fernbleiben der Abgeordneten der Sozialdemokratische Partei von der Abstimmung das Zustandekommen des Gesetzes zu Fall bringen können. Die Sozialdemokraten hätten also durch ihre Abwesenheit die Beschlußunfähigkeit des Reichstages bewirken können, dennoch wurde am 23. März 1933 trotz ihres Widerstandes eine Geschäftsordnungsänderung mehrheitlich vom Reichstag beschlossen. Demnach galten alle nach Ansicht des Reichstagspräsidenten unentschuldigt fehlenden und damit ausgeschlossenen Reichstagsabgeordneten als anwesend. Auf diese Weise konnten die Sozialdemokraten nicht mehr die Beschlußunfähigkeit des Reichstages durch ihr Fernbleiben von der Abstimmung herbeiführen 1s • Das "Ermächtigungsgesetz" kam danach zustande. Diesem Gesetz, das unter scheinbarer Wahrung der Legalität die Weimarer Verfassung aus den Angeln hob und der nationalsozialistischen Alleinherrschaft den Weg ebnete, ging also eine Manipulation der parlamentarischen Geschäftsordnung voraus. Durch eine flinke Umgestaltung der Geschäftsordnung des Reichstages wurde mithin die geltende Weimarer Reichsverfassung stillgelegt.

Iv. Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen Aus allen oben angeführten historischen Beispielen geht deutlich hervor, daß die parlamentarischen Geschäftsordnungen in der Tat "ein furchtbares Instrument in den Händen der Parteien" werden können, und daß die Parlamente die ihnen zugewiesene Geschäftsordnungsautonomie in vieler Hinsicht mißbrauchen können. Im Gegensatz zum Verfassungsgeber, der auf einen historischen Konsens zwischen den politischen Kräften seiner Zeit angewiesen ist, könnte sich eine beliebige Parlamentsmehrheit im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie über das anvisierte Ziel einer jeden demokratischen und rechts staatlichen VerfasISDazu s. Bollmann, (Anm. 1), S. 14ff; Meißner, Staatssekretär unter EbertHindenburg-Hitler, 1950, S. 291; Poetzsch-Heffter, Vom deutschen Staatsleben, in: JöR der Gegenwart 22, 1935, S. 9Of; H. Schneider, (Anm. 1), S. 316; Vonderbeck, Die parlamentarische Beschlußfähigkeit, in: Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 194ff.

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A. Parlamentarische Geschäftsordnungen

sung - d. h. eine funktionsfähige Symbiose zwischen Mehrheitsherrschaft und Minderheitenschutz zu schaffen und aufrechtzuerhalten - hinwegsetzen. Sind insofern keine Sanktionen vorgesehen, welche die Achtung der Verfassung seitens des autonomen Geschäftsordnungsgebers erzwingen sollen, können Parlamentsmehrheiten jederzeit durch Geschäftsordnungsvorschriften in vielen wichtigen Bereichen des Staatslebens von der Verfassung bzw. von deren Entscheidungen abweichen und dadurch mehr Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten erzielen, als wenn sie gezwungen wären, sich im Rahmen einer herrschaftsbegründenden und zugleich herrschaftsbeschränkenden Verfassung zu bewegen. Das den Gerichten eingeräumte Recht, die Verfassungsmäßigkeit von Parlamentsakten zu kontrollieren, gilt allgemein als "eine der mächtigsten Barrieren gegen die Tyrannei der politischen Versammlungen"!. Sieht mithin eine Verfassung explizit oder implizit eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungsgebung vor, dann kann das (zuständige) Gericht kraft seiner Zuständigkeit und anband der Bindungen, die die Verfassung der parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie setzt, Geschäftsordnungsvorschriften verwerfen, die in Mißachtung der Verfassung zustande gekommen sind. Stellt hingegen die Verfassung keine Kontrollinstanz zur Verfügung, dann unterliegen die im Weg der Geschäftsordnungsautonomie getroffenen Entscheidungen lediglich der politischen Verantwortung des Parlaments. Dadurch wird aber dem Vorrang und der Normativität der Verfassung nicht Genüge getan. Im folgenden wird das Spannungsverhältnis zwischen parlamentarischer Geschäftsordnungsautonomie und (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit anband der griechischen, französischen und deutschen Verfassungsordnunguntersucht. Alle drei Rechtsordnungen erkennen den Vorrang bzw. die Schutzfunktion der Verfassung an, sie effektivieren sie jedoch auf unterschiedliche Weise durch ihre Gerichte.

IDazu s. de Tocqueville, Oe la ~mocratie en Amerique, 1864, Band I, Kapitel VI,

S.I72.

B. Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Griechenland

I. Die Geschäftsordnungsautonomie des griechischen Parlaments 1. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung bis zur geltenden Verfassung l

Bereits durch die Verfassungen des Befreiungskrieges bzw. die Verfassung von 1827 wurde in Griechenland die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie konzediert. Kraft Art. 98 der Verfassung von 1827 wurde das Parlament ermächtigt, alle Vorschriften zu erlassen, die es zu seinem wohlgeordneten inneren Funktionieren (eawrept/\,r, wro:eio:) benötigte. Die dieser Verfassung folgende sog. Königliche Verfassung von 1832 implizierte hingegen die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie durch die Artikel 110 und 141, gewährleistete sie aber nicht. Erst die monarchische Verfassung von 1844 sprach den parlamentarischen Kammern erneut ausdrücklich das Recht zu, durch ihre Geschäftsordnung zu bestimmen, wie sie ihre Befugnisse ausüben (Art. 58)2. Die Verfassung von 1864, welche die konstitutionelle Monarchie verwirklichte und die Funktion einer Mutter-Verfassung in der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung Griechenlands hatte, übernahm fast wörtlich die Regelung der Verfassung von 1844. Gleiches gilt auch für die Verfassung von 1911 (Art. 65). Die republikanischen Verfassungen von 1925 und von 1927 modifizierten bzw. komplementierten diese Regelung, indem sie den Kammern zusätzlich das I Literaturhinweise zur Verfassungsgeschichte Griechenlands bei Theodossis, Die griechische Verfassung von 1975/1986 und die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Grundsätzliches aus Anlaß eines Einzelfalles, in: ]öR N. F. 38, 1989, S.363ff. 2Anzwnerken ist hier, daß nur die königliche und die m~narchische Verfassung von 1832 bzw. 1844, sowie die zwei republikanischen Verfassungen von 1925 bzw. 1927 das Zweikammersystem vorsahen.

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B. Griechenland

Recht verbrieften, Personalfragen sowie die Funktion ihrer Dienststellen bzw. Bibliothek durch Geschäftsordnung zu regeln. Beide republikanischen Verfassungen sahen ferner vor, daß die parlamentarischen Geschäftsordnungen Gesetzeskraft besaßen, und durch eine auslegende Erklärung in der Verfassung von 1927 wurde klargestellt, daß die parlamentarischen Geschäftsordnungen trotz Gesetzeskraft nur im Wege der Geschäftsordnungsgebung und nicht durch ein Gesetz abgeändert werden dürften. Beide republikanischen Verfassungen legten ferner fest, daß die Geschäftsordnungen in zwei verschiedenen und mindestens zwei Tage auseinanderliegenden Sitzungen durch die betreffende Kammer zu beraten und zu beschließen wären3 . Im Gegensatz dazu sah Art. 65 der Verfassung von 1952 - die Verfassung von 1952 geht der geltenden Verfassung von 1975 voraus -lediglich vor: "Die Kammer bestimmt durch eine Geschäftsordnung die Art und Weise, in der sie ihre Befugnisse ausübt, und alles, was ihr Personal betrifft...4

2. Das griechische Parlament und seine Geschäftsordnungsautonomie nach der Verfassung von 1975

Das griechische Parlament besteht aus einer Kammer und stellt Volksvertretung und gesetzgebende Körperschaft Griechenlands dar. Es beschließt die Gesetze, die vom Präsidenten der Republik ausgefertigt und verkündet werdens. Während des Promulgationsverfahrens hat der Präsident der griechischen Republik die formelle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze bzw. deren Zustandekommens zu überprüfen. Ihm steht also ein formelles Prüfungsrecht zu, das kraft Art. 42 Verf. v. 1975 mit einem suspensiven Veto verbunden worden ist6 • Das griechische Parlament wird gemäß Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 ermächtigt, seine Geschäftsordnung im Gesetzgebungsverfahren (mehrheitlich) zu beschließen und auf Anordnung des Parlamentspräsidenten durch Publikation im Geset-

3 Ähnliches Geschäftsordnungsgebungsverfahren sah schon die Parlaments geschäftsordnung von 1911 vor. Zuvor wurde darüber nur einmal abgestimmt, wobei über Gesetzesentwürfe dreimal an drei verschiedenen Tagen beraten und abgestimmt werden mußte. Dazu s. Saripolos, Das Staatsrecht des Königreichs Griechenland, 1909, S. 62. /I Voloudakis, (griech.) Die Geschäftsordnung des Parlaments von 1987,2. Auflage, 1988, S. 28f. 4Die Übersetzung stammt aus JöR N. F. 3, 1954, S. 343ff. ~Dazu s. Art. 26 Abs. 1 Verf. v. 1975 (im Anhang). 6Dazu s. Art. 42 Verf. v. 1975 (im Anhang).

I. Geschäftsordnungsautonomie des griechischen Parlaments

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zesblatt in Kraft zu setzen7 • Damit wird verfassungsrechtlich dem griechischen Parlament Geschäftsordnungsautonomie gewährleistet. Die Publikationspflicht der parlamentarischen Geschäftsordnungen wurde erst durch die Verfassung von 1975 normiert und vollzieht sich, wie gesagt, auf Anordnung des Parlamentspräsidenten8• Damit entzieht sich die Parlamentsgeschäftsordnung dem (dem Promulgationsverfahren innewohnenden) Prüfungsrecht des Staatspräsidenten; der Geschäftsordnungsautonomie des griechischen Parlaments wurden dennoch andere Grenzen durch die Verfassung gesetzt9 •

3. Der Regelungsumfang der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie

Das griechische Parlament verfügt über eine Geschäftsordnungsautonomie, deren Regelungsumfang jedoch durch die Verfassung umgrenzt wird. Zunächst stellen die in Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 verankerten Gebote inhaltliche Bindungen für den autonomen Geschäftsordnungsgeber dar; demnach hat er die Arbeitsweise des Parlaments "frei und demokratisch" zu gestalten. Wenn eine Geschäftsordnungsgebung bzw. -änderung diesen Geboten nicht gerecht wird, ist sie mithin verfassungswidrig 10 . Nur die Art seiner freien und demokratischen Arbeitsweise darf also das griechische Parlament im Wege der autonomen Geschäftsordnungsgebung regeln. Einzelne Verfassungsermächtigungen erweitern jedoch den Regelungsgehalt dieser Autonomie, und danach (bzw. nach ausdrücklicher Verfassungsermächtigung) können auch weitere Regelungsgegenstände geschäftsordnungsrechtlich

1Dazu s. Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 (im Anhang). Das Parlament kann allerdings auch einen anderen Zeitpunkt bestimmen. 8Die vorausgegangenen Verfassungen sahen die Publikation der parlamentarischen Geschäftsordnungen im Gesetzesblatt nicht vor. Vor 1975 traten die Geschäftsordnungen mit der Beglaubigung des Sitzungsprotokolls oder vom Zeitpunkt an, den der Parlamentsbeschluß setzte, in Kraft. Mit der 1975 eingeführten Publikationspfticht erhärt sich jedoch unter anderem die Rechtsnormqualität der Parlamentsgeschäftsordnungen. 9Dem Wortlaut des Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 ist kein Prüfungsrecht des Parlamentspräsidenten analog dem der Ausfertigung des Staatspräsidenten gemäß Art. 42 Verf. v. 1975 zu entnehmen. IOFür den parlamentarischen Geschäftsordnungsgeber ergeben sich ähnliche (inhaltliche) Bindungen aus der Staatstrukturbestimmung der Verfassung Art. 1 Abs. 1 Verf. v. 1975: "Die Staatsform Griechenlands ist (... ) Demokratie." Demnach hat auch er seine Funktion im Lichte des Demokratieprinzips bzw. dessen allgemeinen Inhalts wahrzunehmen. Eingehend dazu s. Theodossis, (Anm. 1), S. 375ff. 3 Theodossis

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B. Griechenland

nonniert werden 11. Wenn hingegen die Verfassung dies ausdrücklich vorschreibt, dann hat das Parlament als Geschäftsordnungsgeber auch gesetzlichen Bestimmungen Folge zu leisten 12.

4. Das Verfahren zur Geschäftsordnungsgebung bzw. -änderung

a)Geschäftsordnung Seit Entstehung des griechischen Staates (1821) bis heute wurden einundzwanzig parlamentarische Geschäftsordnungen erlassen und angewandt l3 . Drei von ihnen (1844, 1862 und 1865) hatten nur "provisorischen" Charakter; sie hatten von vornherein beschränkte Geltungsdauer und galten nur bis zur Verabschiedung der "endgültigen" Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnungen der revolutionären Versammlungen (während des griechischen Befreiungskrieges) und die zwei Geschäftsordnungen der verfassungsgebenden Versammlungen (1843 und 1863) hatten ebenfalls beschränkte Geltungsdauer. Letztere waren auf die spezifischen Funktionen der Versammlungen, die sie erlassen hatten, zugeschnitten und unterlagen keinen Verfassungsbindungen. Sie blieben in Kraft, solange die verfassungsgebenden Versammlungen tätig waren. Nur neun von den einundzwanzig Geschäftsordnungen waren Geschäftsordnungen im eigentlichen Sinne (1845, 1865, 1911, 1927, 1933, 1952, 1964, 1975,1987), und von diesen wurden nur vier (1845,1865,1975,1975) vollständig neu beschlossenl 4 • Als erste Parlamentsgeschäftsordnung im eigentlichen Sinne gilt die Geschäftsordnung von 1845; sie wurde durch die provisorische Geschäftsordnung von 1862 ersetzt, die ihrerseits bis zur Verabschiedung der endgültigen Geschäftsordnung des Parlaments von 1865 galt. Die parlamentarischen GeschäftsllDazu s. Artikel 32 Abs. 1,65 Absätze 4 und 5, 68 Abs. 3,70 Absätze 3 und 6, 74 Abs. 1,76 Abs. 5 Verf. v. 1975 im Anhang. 12Z. B. Art. 86 Abs. 1 Verf. v. 1975 sieht vor, daß das Parlament die im Dienst oder außer Dienst befindlichen Mitglieder der Regierung und die Vizeminister gemäß den Bestimmungen des Ministerverantwortungsgesetzes anklagen kann, wobei durch die folgenden Absätze dieses Verfassungsartikels weitere Fragen des Anklagevefahrens geregelt werden. 13Dazu s. Voloudakis, (Anm. 3), S. I1ff. 14Dazu s. Voloudakis, (Anm. 3), S. 21f.

I. Geschäftsordnungsautonomie des griechischen Parlaments

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ordnungen von 1911, 1927, 1933, 1952 und 1964 stellen eigentlich nur umfassendere Modifizierungen der Geschäftsordnung von 1865 dar. Kraft Art. 113 Abs. 1 Verf. v. 1975 blieb die Geschäftsordnung von 1964 bis zum Inkrafttreten der Geschäftsordnung von 1975 in Kraft lS . Im Juni 1975 wurde per Parlamentsbeschluß das Verfahren bestimmt, wonach die (endgültige) Geschäftsordnung des Parlaments zu beschließen wäre, und am 23. Oktober 1975 wurde die neu beschlossene Geschäftsordnung im Gesetzesblatt veröffentlicht. Durch Art. 171 Abs. 1 dieser Geschäftsordnung (GOdP v. 1975) wurde die bis dahin geltende Geschäftsordnung von 1964 außer Kraft gesetzt. Die heute geltende Geschäftsordnung des griechischen Parlaments ist die Geschäftsordnung von 1987 (GOdP v. 1987). Obwohl die Geschäftsordnung von 1975 ein Änderungsverfahren vorsah, wurde die neue Geschäftsordnung (GOdP v. 987) nach dem Kodifizierungsverfahren der Gesetze vom Parlamentsplenum beschlossen und am 24. Juni 1987 im Gesetzesblatt veröffentlicht l6 • Damit wurden aber eindeutig die Mitwirkungsrechte der Parlamentarier eingeschränkt l7 • Änderungen der Geschäftsordnung von 1987 sind danach gemäß Art. 118 GOdP v. 1987 vorzunehmen. Demgemäß steht das einschlägige Initiativrecht ausschließlich dem Präsidenten des Parlaments und den Abgeordneten zu. Deren Vorschläge sind dem Geschäftsordnungsausschuß zuzuleiten; das Parlamentsplenum hat nur dann über die Entwürfe dieses Ausschusses zu beraten, falls ihm welche vorgelegt werden. Wie jeder Beschluß des Parlaments werden auch diejenigen, die die Geschäftsordnungsgebung betreffen, gemäß Art. 67 Abs. 1 Verf. v. 1975 mehrheitlich getroffen l8 . Es ist aber anzumerken, daß im Geschäftsordnungsausschuß die jeweilige Parlamentsmehrheit die Oberhand behält l9 .

ISDazu s. Art. 113 Abs. 1 Verf. v. 1975 (im Anhang). 16Hierzu vgl. Art. 76 Abs. 6 Verf. v. 1975 (im Anhang). 17 Ähnlich Voloudakis, (Anm. 3), S. 24. 18Hierzu vgl. Art. 67 Abs. 1 Verf. v. 1975 und Art. 76 Absätze 1 oder 2 Verf. v. 1975 (im Anhang). Dazu s. Theodossis, (Anm. 1), S. 366f. // Saripolos, (griech.) Griechisches Staatsrecht, Band 11, 1915, S. 394; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band 11, 1993, S. 236; Voloudakis, (Anm. 3), S. 29ff. 19Bis jetzt wurde die geltende Geschäftsordnung von 1987 zweimal (1990 und 1993) modifiziert bzw. ergänzt. Dazu s. Tsatsos, (Anm. 18), S. 21lf; Papadimitriou, (griech.) Die Geschäftsordnung des Parlaments und die Geschäftsordnung des europäischen Parlaments, 1993, S. 13f. 3'

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B. Griechenland

b) Dienstliche Geschäftsordnung Ursprünglich bestanden die griechischen Geschäftsordnungen aus zwei Teilen, dem parlamentarischen (ersten) Teil und dem dienstlichen (zweiten) Teil. Seit 1950 wird aber der zweite Teil als Sondergeschäftsordnung erlassen und wird "dienstliche Geschäftsordnung des Parlaments" genannt20 • Unter Geltung der Verfassung von 1975 wird das Parlament gemäß Art. 65 Abs. 6 Satz 1 Verf. v. 1975 ausdrücklich ermächtigt, den Aufbau seiner Dienststellen bzw. deren Funktion sowie Personalfragen seiner Bediensteten durch Sondergeschäftsordnung zu regeln21 • Aber auch durch die Verfassung selbst wird der Unterschied zwischen Geschäftsordnung und dienstlicher Geschäftsordnung nicht deutlich. Im Wortlaut des Art. 103 Abs. 6 Verf. v.1975 ist z. B. von Geschäftsordnung die Rede, wobei damit eigentlich die dienstliche Geschäftsordnung gemeint ist22 • Geschäftsordnung und dienstliche Geschäftsordnung sind allerdings in der griechischen Rechtsnormenhierarchie auf eine Stufe zu stellen23 • Dennoch kann die dienstliche gemäß Art. 118 Abs. 6 GOdP v. 1987 nur auf Initiative des Parlamentspräsidenten abgeändert werden. Seine Vorschläge werden vom Geschäftsordnungsausschuß ausgearbeitet und vom Plenum nach dem Kodifizierungsverfahren beraten und beschlossen.

S. Zeitlicher und personeller Geltungsbereich der Geschäftsordnung des griechischen Parlaments

Nach griechischer Parlamentspraxis haben die Geschäftsordnungen unbeschränkte Geltungsdauer. Sie unterliegen nicht dem Diskontinuitätsprinzip und gelten, bis sie durch neue inhaltsgleichen Geschäftsordnungsvorschriften ersetzt werden. Kraft der Verfassungsermächtigung des Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 kann sich jedoch jedes (neugewählte ) Parlament zu jedem Zeitpunkt eine (neue) Geschäftsordnung geben, ohne sich an die bestehenden Geschäftsordnungsvorschriften über das Modifikationsverfahren halten zu müssen, vorausgesetzt aber, daß das 20Dazu s. Tsatsos, (Arun. 18), S. 236; Voloudakis, (Arun. 3), S. 17ff. 21Dazu s. Art. 65 Abs. 6 Satz 1 Verf. v. 1975 im Anhang. Hierzu vgl. unten C 1.4. 22Dazu s. Art. 103 Abs. 6 Verf. v. 1975 (im Anhang). 23Gemäß Art. 103 Abs. 6 Verf. v. 1975 unterliegen jedoch die dienstlichen Geschäftsordnungen des Parlaments zusätzlichen verfassungsrechtlichen Bindungen.

I. Geschäftsordnungsautonomie des griechischen Parlaments

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Zustandekommen der neuen Geschäftsordnung gemäß Art. 76 Verf. v. 1975 erfolgt. Trotz autonomen Rechtsetzungsverfahrens sind die Geschäftsordnungsvorschriften nicht nur für Parlamentarier verbindlich. Parlamentsbedienstete unterstehen gemäß Art. 103 Abs. 6 Verf. v. 1975 der dienstlichen Geschäftsordnung des Parlaments, und das Verhalten der Zuhörer auf den Tribünen während der Öffentlichen Sitzungen des Parlaments ist geschäftsordnungsrechtlich zu normieren. Fragen des Interpellations- und Zitierrechts werden ebenfalls eingehend durch die Parlamentsgeschäftsordnung geregelt. Vor allem die Ausübung des Fragerechts der Abgeordneten wird weit über die bestehenden Verfassungsbestimmungen hinaus durch Geschäftsordnungsvorschriften gestaltet, und somit werden Minister zu Handlungen oder zu Unterlassungen verpftichtet24 •

6. Rechtsnatur und Rang der Geschäftsordnung des griechischen Parlaments

Die Rechtsnormqualität der parlamentarischen Geschäftsordnungen wurde in Griechenland nie in Frage gestellt; darüber herrschte im griechischen Schrifttum immer Einigkeit25 • Parlamentsgeschäftsordnungen werden nach dieser Lehre als "Gesetze besonderer Art (sui generis)" qualifiziert26 • Demgemäß sind alle autonom gesetzten Rechtsakte des Parlaments, die dessen Organisation und Arbeitsweise in Ergänzung der Verfassung regeln und die nach einer verfassungsunmittelbaren Ermächtigung erlassen werden, im materiellen Verfassungsrecht anzusiedeln. Parlamentsgeschäftsordnungen sind jedoch keine formellen Gesetze; sie dürfen nur im Wege der autonomen Geschäftsordnungsgebung abgeändert werden, und sie dürfen inhaltlich weder die Verfassung noch die formellen Gesetze modifizieren. Umgekehrt darf ein formelles Gesetz keine Parlamentsangelegenheiten regeln, es sei denn, die Verfassung sieht dies vor. Ein formelles Gesetz, das un24Hierzu vgl. Art. 66 Abs. 3 Satz 1 Verf. v. 1975 (im Anhang). 2sDazu s. Saripolos, (Anm. 3), S. 62. // Daskalakis, (griech.) Die Rechtsnatur der Satzungen der volksvertretenden Körperschaften, 1937, S. 49ff (l05t); Pararas, (griech.) Die Verfassung von 1975, Band 11, 1985, S. 198ff; Saripolos, (Anm. 18), S. 388ff; Sgouritsas, (griech.) Griechisches Staatsrecht, Band I, 1959, S. 80 (305); Svolos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1934, S. 153; Voloudakis, (Anm. 3), S. 33f; S. 62. 26Hierzu vgl. Saripolos, (Anm. 3), S. 62. // Daskalakis, (Anm. 25) S. 49ff; Pararas, (Anm. 25), S. 198ff; Raikos, (griech.) Vorlesungen über Staatsrecht, Band I, 1984, S. 68; Saripolos, (Anm. 18), S. 389; Sgouritsas, (Anm. 25), S. 305; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I; 1981, S. 121; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1994, S. 398f; Voloudakis, (Anm. 3), S. 33ff.

B. Griechenland

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berechtigt interne Angelegenheiten des Parlaments regelt, würde gegen Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 verstoßen; dadurch würde die parlamentarische Geschäftsordnungsautonornie unzulässig eingeschränkt werden. Die parlamentarische Geschäftsordnungssautonornie in Griechenland ergibt sich aus der Verfassung und kann nur in dem von ihr vorgegebenen Rahmen (zulässig) ausgeübt werden. Damit läßt sich auf die Nachrangigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen gegenüber der Verfassung schließen27 • Die parlamentarische Geschäftsordnungsautonornie stellt allerdings eine dem Gesetzesvorbehalt ähnliche Institution dar; aus diesem Grund sollte eine Kollision zwischen Geschäftsordnung und formellen Gesetzen immer als Kompetenzfrage behandelt werden28 • In einem Kollisionsfall braucht man also in Griechenland weder die Nachrangigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen noch die Vorrangigkeit der formellen Gesetze nachzuweisen; man hat nur den Regelungsgehalt der Kompetenzvorschriften zu ermitteln und Übergriffe als Verfassungsverstöße zu rügen.

II. Parlamentarische Geschäftsordnungen im ZugritTsbereich der griechischen Gerichte? 1. Die parlamentarischen Geschäftsordnungen und die griechische Gerichtsbarkeit nach der Verfassung von 1975

Aufgrund der verfassungsunrnittelbaren Ermächtigung des Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 kann die Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen nur als Verfassungskontrolle aufgefaßt werden. Nicht die Gesetzesmäßigkeit bzw. die Rechtmäßigkeit, sondern die Verfassungsmäßigkeit der Parlamentsgeschäftsordnung kann demnach gerichtlich überprüft werden. Keine der geltenden Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen macht jedoch die Geschäftsordnung des griechischen Parlaments explizit zum Gegenstand einer Gerichtskontrolle 1• 27Dazu s. Saripolos, (Anm. 3), S. 62; Theodossis, (Anm. 1), S. 371. // Pararas,

(Anm. 25), S. 204.

28Hierzu vgl. unten D V. 1Im griechischem Schrifttum werden nur sporadisch Meinungen über die gerichtliche Überprüfbarkeit der Parlamentsgeschäftsordnung vertreten, und sowohl diese als auch deren Begründungen divergieren. Hierzu vgl. Foundedaki, (griech.) Die Rechte der Parlamentsabgeordneten, Band I, 1993, S. 69; Papalampros, (griech.) Einige Gedanken über die Bedeutung des Gesetzes und über das Problem der Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze, in: To Syntagma, 1988, S. 3f; Pararas, (griech.) Die Verfassung von 1975,

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen im Zugriffsbereich

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Art. 65 Abs. 6 Satz 2 Verf. v. 1975 begründet lediglich die Zuständigkeit des griechischen Staatsrates bei Beschwerden bzw. Aufhebungsklagen der Parlamentsbediensteten gegen Handlungen des Parlamentspräsidenten, was aber als argumentum e contrario gegen eine gerichtliche Überprüfbarkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen verwendet wird2 • Diejenigen von den Parlamentsangelegenheiten, die die Verfassung ausnahmsweise dem Richterspruch unterwerfen wolle, lautet diese These, seien ausdrücklich vorgesehen. Die Verfassungsbestimmungen aber, die das richterliche Prüfungsrecht in Griechenland regeln, weisen einen allgemeinen Regelungsgehalt auf, so daß (nach Meinung des Verfassers) es einer eingehenden Überprüfung bedarf, um festzustellen, ob die Parlamentsgeschäftsordnungen unter diese Bestimmungen fallen, oder nicht3 •

2. Die KontroUbefugnis der griechischen Gerichte nach der Verfassung von 1975

Die griechische Gerichtsbarkeit gliedert sich in Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit4• An der Spitze der Zivil- und Strafgerichte steht der Areopag (als Kassationsgericht) und an der Spitze der Verwaltungsgerichte der Staatsrat. Der griechische Rechnungshof fungiert ebenfalls als Gericht letzter Instanz, denn seine rechtsprechenden Entscheidungen unterliegen nicht der Prüfung anderer GerichteS. In Griechenland gibt es also drei oberste Gerichtshöfe, die jeweils die letzte Instanz ihres Gerichtszweiges darstellen, und deren Entscheidungen gerichtlich nicht revisibel sind. Gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 sind alle griechischen Fach- und Instanzgerichte verpflichtet, auf Antrag eines der Prozeßbeteiligten oder von Amts wegen Band II, 1985, S. 201; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1981, S. 119f; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1994, S. 397; Voloudakis, (griech.) Die Geschäftsordnung des Parlaments von 1987,2. Auflage, 1988, S. 43f. lDazu s. Art. 65 Abs. 6 Satz 2 Verf. v. 1975 (im Anhang). Hierzu vgl. Voloudakis, (Anm. 1), S. 44. 3Hierzu vgl. Art. 87 Abs. 2 Verf. v. 1975, Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 und Art. 100 Abs. 1 Buchst. e) Verf. v. 1975 (im Anhang). 4Art. 93 Abs. 1 Verf. v. 1975 (im Anhang). ~Dazu s. Dagtoglou, Verfassungsgerichtsbarkeit in Griechenland, in: Starck/Weber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 367f (390); Skouris, Die Überprüfung staatlicher Akte auf ihre VerfassungsmäBigkeit in Griechenland, in: Revue Hel16nique de Droit international, 1985-1986, S. 367; Theodossis, Die gerichtliche Prüfung der VerfassungsmäBigkeit der Gesetze nach der griechischen Verfassung von 1975, in: AöR 117,1992, S.570.

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B. Griechenland

die Verfassungsmäßigkeit der "Gesetze" nachzuprüfen, bevor sie diese auf den zu behandelnden Fall anwenden6 • Allerdings wird das "Gesetz", das nach Auffassung des Gerichts gegen die Verfassung verstößt, nur auf den Fall, der den Anlaß zu dieser Kontrolle gab, nicht angewandt? Die Auffassung des Gerichts über die materielle Verfassungswidrigkeit des geprüften "Gesetzes" entfaltet weder Rechtskraft noch andere Bindungswirkung; sie ist nur in den Entscheidungsgründen enthalten und bindet weder andere Gerichte bzw. Staatsorgane noch Privatpersonen noch das Gericht selbst in anderen Fällen. Das beanstandete "Gesetz"bleibt also in diesem Rahmen gültig und ist für seine Adressaten, die am Prozeß nicht beteiligt gewesen waren, weiterhin verbindlich. Akte der Verwaltung können hingegen gemäß Art. 95 Abs. 1 Buchst. a) Verf. v. 1975 i. V. mit Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 wegen Verfassungswidrigkeit durch die griechischen Verwaltungsgerichte bzw. durch den Staatsrat mit Wirkung erga ornnes für nichtig erklärt werdens. Ebenfalls kann ein Gerichtsurteil im Instanzenzug beanstandet werden, wenn es nach Auffassung des zuständigen Gerichts auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht oder wenn dies ein verfassungsmäßiges Gesetz außer acht läßt. Eine die Verfassungsmäßigkeit verneinende höchstinstanzliche Entscheidung bleibt zwar unanfechtbar, aber sie hat nicht die Unwirksamkeit des Gesetzes zur Folge. Das griechische Recht sieht keinen Rechtsbehelf vor - wie z. B. die Verfassungsbeschwerde vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GO (s. Anhang) - , womit der Bürger gegen verfassungswidrige höchstinstanzliche Gerichtsurteile vorgehen könnte 9 • Nur eine Entscheidung des Obersten Sondergerichtshofs (Art. 100 Abs. 4 Verf. v. 1975) würde kraft Verfassung die Unwirksamkeit einer von ihm geprüften Gesetzesbestimmung bewirken, und solchen Entscheidungen des Obersten Sondergerichtshofes haben sich alle griechischen Behörden und Gerichte zu fügen 10. Die Auffassung des Obersten Sondergerichtshofes über die Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit der ihm zur Prüfung vorgelegten formel6Dazu s. a. unten III. 1. 7 Auch vor Inkrafttreten der Verfassung von 1975 konnten die griechischen Gerichte verfassungswidrige Gesetze nicht anwenden, damals aber aufgrund eines durch die Rechtsprechung entwickelten (praeter constitutionem) Gewohnheitsrechtes. Dazu s. Theodossis, (Anm. 5), 568f. 8Dazu s. Art. 95 Abs. 1 Buchst. a) Verf. v. 1975 (im Anhang). Mehr dazu s. Dagtoglou, (Anm. 5), S. 369; Skouris, (Anm. 5), S. 369; Theodossis, (Anm. 5), S. 572. 9Hierzu vgl. Theodossis, (Anm. 5), S. 574. //Theodossis, (griech.) Verfassungsgericht in Griechenland? Gründung und Funktion eines Verfassungsgerichts im Rahmen des in Griechenland geltenden Systems der gerichtlichen Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze, in: Papadimitriou (Hrsg.), Gerichtsbarkeit und Verfassung, 1993, S. 39f. // Skouris, Constitutional Disputes and ludicial Review in Greece, in: Landfried (Hrsg.) Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 187. IOHierzu vgl. Art. 100 Abs. 4 Verf. v. 1975 und Art. 21, Art. 48, Art. 50 Abs. 3 und Art. 51 OSG-Gesetz von 1976 (im Anhang). Mehr über die Funktion des Obersten Sonder-

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen im Zugriffsbereich

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len Gesetzesbestimmung stellt den Entscheidungsgegenstand des Gerichtsprozesses dar. Somit erwächst sie - wie jedes Gerichtsurteil - in Rechtskraft. Darüber hinaus entfaltet sie gemäß Art. 51 Abs. 1 OSGG eine allgemeine Bindungswirkung. Alle Akte der Verwaltung bzw. alle Gerichtsurteile, die den Entscheidungen des Obersten Sondergerichtshofes zuwiderlaufen, können revidiert werden. Bezüglich der Entscheidungen des Areopages, des Staatsrates oder des Rechnungshofes kann sogar die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt werden. Der Oberste Sondergerichtshof kann sich aber nur dann mit den Bestimmungen eines formellen Gesetzes befassen, wenn über deren materielle Verfassungswidrigkeit widersprechende Entscheidungen des Areopages, des Staatsrates oder des Rechnungshofes ergangen sind 11 • Gesetze im formellen Sinn sind nach griechischem Staatsrecht diejenigen Rechtsnormen, die vom Parlament beschlossen, vom Staatspräsidenten ausgefertigt und nach Gegenzeichnung des zuständigen Ministers im Gesetzesblatt veröffentlicht werden, was zweifelsohne auf die Geschäftsordnung des Parlaments nicht zutrifft 12 • Daraus folgt, daß die Bestimmungen der Parlamentsgeschäftsordnung nicht dem Obersten Sondergerichtshof zur Prüfung vorgelegt werden können. Aufgrund des Art. 100 Abs. 1 Buchstabe e) Verf. v. 1975 fallen sie also nicht unter die Zuständigkeit des Obersten Sondergerichtshofes, deshalb können sie ebensowenig durch ihn anulliert werden. Die Geschäftsordnung des Parlaments stellt ferner keinen Akt der Verwaltung dar, deshalb kann sie durch Verwaltungsgerichte oder den Staatsrat wegen Verfassungswidrigkeit nicht aufgehoben werden. Die griechischen Gerichte sind zwar aufgrund des Art. 87 Abs. 2 Verf. v. 1975 zu einer weiteren Kontrolle ermächtigt, das damit eingeräumte Prüfungsrecht bezieht sich aber ausschließlich auf den Maßstab der Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975, d. h. auf die Verfassungsbestimmungen selbst 13 • Es bleibt also nur zu untersuchen, ob der Regelungsgehalt des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 auch die Geschäftsordnung des Parlaments als Gesetz sui generis umfaßt.

gerichtshofs bei Dagtoglou, (Anm. 5), S. 372ff; Skourls, (Anm. 5), S. 369ff; Theodossis, (Anm. 5), S. 580ft'. llDazu s. Art. 100 Abs. 1 Buchst. e) Verf. v. 1975 (im Anhang). 12Eingehend zum Begriff des formellen Gesetzes s. Theodossis, (Anm. 5), S. 57lf mit zahlreichen Hinweise auf die Literaur. 13 Aufgrunddessen könnten griechische Gerichte auch Verfassungsbestimmungen außer acht lassen, wenn sie in Mißachtung des vorgeschriebenen Verfassungsänderungsverfahrens erlassen wurden. Mehr dazu s. Theodossis, (Anm. 5), S. 584ff. // Theodossis, (Anm. 9), S. 27ff.

B. Griechenland

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m.

Parlamentarische Geschäftsordnungen als Prüfungsgegenstand der Inzidentkontrolle durch die griechischen Gerichte 1. Die GerichtskontroUe gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975

Den griechischen Gerichten wurde gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 nicht die Aufgabe zugewiesen, die anderen Staatsgewalten bei der Handhabung der Verfassung zu überwachen. Griechische Gerichte sind nicht dazu ermächtigt, verfassungswidrige Rechtsakte aufzuheben. Aufgrund des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 sind sie eigentlich nur dazu verpflichtet, bei ihrer rechtsprechenden Tätigkeit selbst der Verfassung Folge zu leisten. Griechische Gerichte dürfen mithin kein Recht anwenden, das gegen die Verfassung verstößt. Unter "Gesetz" im Wortlaut des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 sind nicht nur die formellen Gesetze zu verstehen, da der Wortlaut des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 keine Einschränkung des Prüfungsgegenstandes auf diese enthält, wie dies in der Bestimmung des Art. 100 Abs. 1 Buchstabe e) Verf. v. 1975 der Fall ist!. Aufgrund des Vorrangs, den die Verfassung vor allen innerstaatlichen Normen genießt, und behufs einer verfassungsmäßigen Rechtsprechung ist also der Gesetzesbegriff des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 dahin auszulegen, daß er (und damit die gerichtliche Verfassungsmäßigkeitskontrolle in Griechenland) alle rechtsverbindlichen Normen umfaßt, die von einem griechischen Gericht aus Anlaß eines Prozesses anzuwenden sind2 ; nur Gerichtsurteile fallen in diesem Rahmen nicht unter den Gesetzesbegriff des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 19753 • Unter diesem Gesichtspunkt steht den griechischen Fach- und Instanzgerichten eigentlich nichts im Wege, parlamentarische Geschäftsordnungen auf ihre lHierzu vgl. Art. 93 Abs. 4 und Art. 100 Abs. 1 Buchstabe e) Verf. v. 1975 (im Anhang). Auch angesichts der Bestimmung des Art. 111 Abs. 1 Verf. v. 1975 (im Anhang) wäre es verfehlt zu behaupten, daß der Gesetzesbegriff des Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 nur die Gesetze im formellen Sinn umfasse, denn dies würde bedeuten, daß unter Geltung der Verfassung von 1975 Rechtsverordnungen erlassen werden dürften, die der Verfassung widersprächen. Mehr dazu s. Theodossis, Die gerichtliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nach der griechischen Verfassung von 1975, in: AöR 117, 1992, S. 571. 2Dazu s. Theodossis, (griech.) Verfassungsgericht in Griechenland? Gründung und Funktion eines Verfassungsgerichts im Rahmen des in Griechenland geltenden Systems der gerichtlichen Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze, in: Papadimitriou (Hrsg.), Gerichtsbarkeit und Verfassung, 1993, S. 18ff. 3Hierzu ist anzumerken, daß die Zuständigkeit des Obersten Sondergerichtshofes gemäß Art. 100 Abs. 1 Buchst. e) Verf. v. 1975 (im Anhang) in diesem Rahmen eher der Vereinheitlichung der Rechtsprechung bezüglich der verfassungswidrigen Gesetze im formellen Sinn beiträgt. Mehr dazu s. Theodossis, (Anm. 1), S. 579ft'.

III. Parlamentarische Geschäftsordnungen als Prüfungs gegenstand

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(inhaltliche) Übereinstimmung mit der Verfassung hin zu überprüfen, falls diese für einen konkreten Fall entscheidungserheblich sind.

2. Die Verfassungskontrolle der griechischen Gerichte und die Geschäftsordnung des Parlaments

In Griechenland können Gerichte gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 Gesetze nur wegen ihrer materiellen Verfassungswidrigkeit außer acht lassen. Jedes Prozeßgericht hat mithin von der fonnellen Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes abzusehen und hat es anzuwenden, auch wenn es sich vom verfassungswidrigen Zustandekommen des Gesetzes hätte überzeugen können. Die griechische Verfassung räumt mithin den Gerichten nur ein materielles Prüfungsrecht ein. Dennoch kann ein Gesetz, das die verfassungsrechtlichen äußeren Merkmale eines fonnellen Gesetzes nicht aufweist, nicht angewandt werden, da es ex tunc ungültig ist4 • In diesem Sinne sind Vorschriften ungültig, die das Parlament in Überschreitung der Verfassungsennächtigung des Art. 65 Abs. 1 Verf. v. 1975 erläßt - d. h. wenn es im Wege seiner Geschäftsordnungsautonomie andere (unzulässige) Gegenstände regeln sollte. Solchen Vorschriften würden die äußeren, fonnellen Elemente fehlen - z. B. die Unterschrift des Staatspräsidenten und die Gegenzeichnung des zuständigen Ministers - und sie wären damit automatisch ungültig. Das diesbezügliche Prüfungsrecht, das allen griechischen Gerichten über Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 hinaus zukommt, bezieht sich ausschließlich auf die sog. äußeren, fonnellen Elemente und hat die Nichtanwendung eines bereits ungültigen Gesetzes zur Folge. Geschäftsordnungsvorschriften bleiben in diesem Rahmen unberührt, auch wenn sie die Ungültigkeit herbeigeführt haben sollten, denn sie können in diesem Zusammenhang nicht geprüft werden. Außerdem können Geschäftsordnungsvorschriften selten für die rechtsprechende Tätigkeit der Zivil-, Straf-, und Verwaltungsgerichte in Frage kommen, da sich der (verfassungsmäßige) Regelungsgehalt der parlamentarischen Geschäftsordnungen grundsätzlich auf die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte bezieht. Entscheidungen des Parlaments bzw. des Parlamentspräsidiums, die keine formellen Gesetze darstellen, können ferner nicht gerichtlich angefochtet werden, auch wenn sie eine Streitigkeit entfacht haben sollten, denn dafür ist kein grie-

4Eingehend dazu s. Theodossis, (Anm. 1), S. 574ft' mit Hinweisen auf die Literatur.

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B. Griechenland

chisches Gericht zuständig5• Das gleiche gilt für Disziplinarmaßnahmen, welche der Parlamentspräsident aufgrund der Geschäftsordnung gegen Parlamentsabgeordnete beschließen kann6• Der Parlamentspräsident ist für seine Handlungen nur gegenüber der Parlamentsmehrheit, die ihn gewählt hat, und der er in der Regel angehört, verantwortlich 7• Die Indemnität des Parlamentspräsidenten als Parlamentsabgeordneter schließt ferner das Einschalten der Gerichte aus8 • Dem einzelnen Parlamentsabgeordneten steht also kein Rechtsmittel bzw. kein Rechtsbehelf zur Verfügung, um gerichtlich gegen ihn gerichtete Maßnahmen des Parlamentspräsidenten vorzugehen, auch wenn er geltend machen kann, daß sein verfassungsrechtlicher Status dadurch verletzt werde. Im Gegensatz dazu sind - wie bereits oben erwähnt - aufgrund des Art. 65 Abs. 6 Satz 2 Verf. v. 1975 die Handlungen des Parlamentspräsidenten im Zusammenhang mit der Einstellung und der dienstlichen Stellung des Personals des Parlaments dem Richterspruch des Staatsrates unterworfen, obwohl sie keine Akte der Verwaltung sind9 • Falls Geschäftsordnungsvorschriften als Ermächtigungsgrundlage bzw. Rechtsgrundlage für die Handlungen des Parlamentspräsidenten gedient haben, könnte sich mithin der Staatsrat in diesem Zusammenhang gemäß Art. 93 Abs. 4 Verf. v. 1975 mit der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsordnung befassen. Aber auch in diesem Rahmen können nur die verfassungswidrigen Handlungen des Parlamentspräsidenten und nicht die Geschäftsordnungsvorschriften selbst für nichtig erklärt werden; in bezug auf letztere bleibt die Kontrolle des Staatsrates inzident. Falls Besucher des Parlamentsgebäudes bzw. Zuhörer bei den öffentlichen Parlamentssitzungen aufgrund ihres Verhaltens auf Anordnung des Parlamentspräsidenten gemäß der Geschäftsordnung strafrechtlich verfolgt werden, kann sich das zuständige Gericht wiederum inzident mit der materiellen Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Geschäftsordnungsbestimmungen befassen. Der griechische Bürger kann jedoch weder Maßnahmen, die der Parlamentspräsident aufgrund der Geschäftsordnung zur Wahrung der Ordnung im Parlamentsgebäude bzw. im Plenarsaal getroffen hat, noch (nach seiner Auffassung) verfassungswidrige Geschäftsordnungsbestimmungen gerichtlich anfechten. Wenn er z. B. Geschäftsordnungsvorschriften, die den Zugang zu öffentlichen Sitzungen SHierzu vgl. Theodossis, (Anm. 1), S. 372f. // Theodossis, (Anm. 2), S. 3lf. Demzufolge können Geschäftsordnungsbestimmungen, auf deren Grundlage die strittigen Parlamentsentscheidungen erlassen wurden, auch nicht inzident geprüft werden. 6Nur in diesem Zusammenhang könnte das obige argumentum e contrario (aus Art. 65 Abs. 6 Satz 2 Verf. v. 1975) stichhaltig verwendet werden. 7Hierzu vgl. Art. 65 Abs. 4 Verf. v. 1975 und Art. 65 Abs. 3 Unterabs. 3 Verf. v. 1975 (im Anhang). 8Dazu s. Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 197~ (im Anhang). 9Dazu s. Art. 65 Abs. 6 Satz 2 Verf. v. 1975 (im Anhang).

IV. Zusammenfassung

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des Parlaments bzw. den Aufenthalt im Parlamentsgebäude erheblich einschränken bzw. von unzumutbaren Bedingungen abhängig machen, für verfassungswidrig hält, kann der Bürger in Griechenland dagegen gerichtlich nicht vorgehen.

IV. Zusammenfassung: Parlamentarische Geschäftsordnungsgebung bzw. -anwendung in Griechenland ohne Verfassungskontrolle Aus den obigen Ausführungen geht deutlich hervor, daß nur ein Bruchteil der Geschäftsordnungsvorschrifen (von einer außerparlamentarischen Kontrollinstanz) an der griechischen Verfassung gemessen werden kann. Das Herzstück der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie - Organisation, Arbeit des Parlaments und Disziplin der Parlamentarier - ist nachträglich nicht überprüfbar. Ebenfalls die Geschäftsordnungsanwendung bleibt in Griechenland unantastbar, obgleich die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie durch die Verfassung gewährleistet wird und ihr deshalb untersteht. Wenn also der Erlaß bzw. der Regelungsgehalt einer Geschäftsordnungvorschrift gegen die griechische Verfassung verstößt, besteht kaum eine Möglichkeit, sie gerichtlich anzufechten. Eine verfassungswidrige Geschäftsordnungsvorschrift bleibt also weiterhin in Kraft, bis sie geschäftsordnungsrechtlich ersetzt wird. Das griechische Parlament ist also Herr seiner Geschäftsordnung. Ohne eine institutionalisierte Verfassungskontrolle wird es ihm bzw. seiner jeweiligen Mehrheit nicht allzu schwer fallen, mittels der Geschäftsordnungsgebung die Verfassung beliebig anzuwenden, gegebenfalls sie zu umgehen. Das griechische Parlament kann also in flagranter Mißachtung des Verfassungsvorrangs seine autonom erlassene Geschäftsordnung zum ausschließlichen Maßstab seiner Handlungen machen. Auf ihrer Grundlage kann sich jede Parlamentsmehrheit Legitimation verschaffen, wenn sie die Opposition verfassungswidrig vom Parlamentsleben ausschließen bzw. mittels undemokratischer Entscheidungen marginalisieren will. Dieses Defizit an Verfassungskontrolle beschränkt sich jedoch nicht nur auf die parlamentarische Geschäftsordnungsgebung. Zweifel bzw. Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit von Handlungen der Verfassungsorgane, die keine Gesetze im formellen Sinn darstellen, können in Griechenland durch das Eingreifen einer gerichtlichen Kontrollinstanz nicht geschlichtet werden. Eine solche Instanz existiert nicht! . 1Dazu s. Skouris, Constitutional Disputes and Judicial Review in Greece, in: Landfried (Hrsg.) Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 180ft'. // Theodossis, (griech.) Ver-

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B. Griechenland

Der griechische Verfassungsgeber von 1975 hatte vor allem aus Angst vor einer "Regierung der Richter", welche sich über die Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers hinwegsetzen könnten, auf die Schaffung einer gerichtlichen Instanz verzichtet, die die Vorrangigkeit und Normativität der Verfassung sichern sollte. Dennoch würde ein Verfassungsgericht, das angerufen werden könnte, um Akte bzw. Rechtsakte der Verfassungsorgane zu überprüfen und Verfassungsverstöße zu ahnden, nicht nur als Hüter der Verfassung, sondern zugleich als Hüter der Demokratie fungieren 2 . Dadurch könnten Parlamentsminderheiten vor Willkür der regierenden Mehrheit geschützt werden. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Parlamentsgeschäftsordnung würde ferner entscheidend dazu beitragen, daß Demokratiegebot und Organisations- und Verfahrensvorschriften der Verfassung angesichts einer effizienten Parlamentsautonomie nicht leere Buchstaben bleiben. Bei der Überwachung der verfassungsrechtlichen Organisations- und Verfahrensnormen läuft außerdem eine institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit in der Regel weniger Gefahr, an Stelle des Gesetzgebers sozial-politische Interessenkonflikte schlichten zu müssen. Gefahren der Gewaltenverschiebung bzw. übergreifung, die eventuell eine institutionalisierte Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen mit sich bringt, werden im Folgenden anband des französischen und des deutschen Beispiels geortet und im jeweiligen Rahmen behandelt - die französische Verfassungsordnung sieht diese Kontrolle obligatorisch vor, die deutsche ermöglicht sie.

fassungsgericht in Griechenland? Gründung und Funktion eines Verfassungsgerichts im Rahmen des in Griechenland geltenden Systems der gerichtlichen Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze, in: Papadimitriou (Hrsg.), Gerichtsbarkeit und Verfassung, 1993,

S.3lf.

2Hierzu vgl. Theodossis, (Anm. 1), S. 29ff. // Theodossis, (griech.) Das deutsche Bundesverfassungsgericht, 1991, S. 15ff.

C. Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Frankreich

I. Verfassungsgerichtsbarkeit und parlamentarische Geschäftsordnungen in Frankreich 1. Die französischen Verfassungen und die parlamentarische ~häftsordnungsautononUe

Gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 unterliegen die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern und die Organgesetze obligatorisch der präventiven Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Verfassungsrates, während die Gesetze gemäß Art. 61 Abs. 2 Verf. v. 1958 nur fakultativ auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden 1• Abgesehen von der Bestimmung des Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 enthält die französische Verfassung keine Bestimmungen über das Zustandekommen bzw. über den Regelungsgehalt der pariamentarischen Geschäftsordnungen, wohingegen Inhalt und Zustandekommen der Organgesetze ausdrücklich durch sie normiert werden2• I Dazu s. Art. 61 Absätze 1 und 2 Verf. v. 1958: ,,(1) Die Organgesetze müssen vor ihrer Verkündung und die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern vor ihrer Anwendung dem Verfassungsrat vorgelegt werden, der über ihre Verfassungsmäßigkeit befindet. (11) Zum gleichen Zweck können die Gesetze vor ihrer Verkündung vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten von einer der beiden Kammern oder von 60 Abgeordneten oder von 60 Senatoren zugeleitet werden." Die Übersetzung der französischen Verfassung von 1958 stammt von Kimmei, in: Kimmel (Hrsg.) Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 3. Auflage, 1993, S. 98ft'. 2 Organgesetze stellen Gesetze dar, die im Wege eines besonderen, durch Art. 46 Verf. v. 1958 (s. im Anhang) festgelegten Verfahrens zustande kommen. Sie regeln Organisation und Funktion der Staatsorgane und ergänzen somit die Verfassung. Deshalb werden sie nur dann erlassen, wenn die Verfassung dies ausdrücklich vorsieht. Eingehend zu Organgesetzen s. u. a. Goose, Die Normenkontrolle durch den französischen Conseil Constitutionnel, 1973, S. 41ft'; Schlette, Konzeption des Gesetzes im französischen Ver-

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C. Frankreich

Auch die vorangegangenen (modemen) französischen Verfassungen hatten die Parlamentsgeschäftsordnungsautonomie weder proklamiert noch näher geregelt. Dennoch gilt Frankreich zusammen mit England als die Wiege der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie. In den Wirren der französischen Revolution wurde die Forderung nach einer schriftlich fixierten bzw. kodifizierten Geschäftsordnung der Nationalversammlung akut. Am 29. Juni 1789 gab sich die Volksvertretung auf Antrieb von Sieyes eine Geschäftsordnung, welche jedoch stark von der Geschäftsordnung des englischen House of Commons beeinflußt war3. Das Gesetz vom 13. Juni 1791 sicherte dem Parlament das Recht, die Arbeitsweise und die Disziplin durch Geschäftsordnung zu regeln, aber die Direktorialverfassung von 1795 und die Konsulatsverfassung von 1799 hoben diese Geschäftsordnungsautonomie wieder auf. Gemäß der Charte von 1830 kamen die parlamentarischen Geschäftsordnungen im Wege der Gesetzgebung zustande, und wie bereits oben erwähnt, wurde während des Zweiten Kaisertums (1852-1869) der Geschäftsgang des Parlaments sogar durch Dekrete geregelt. Im Gegensatz dazu setzten die französischen Verfassungen nach 1875 die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments voraus 4 •

2. Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung bis zur Verfassung von 1958 Verfassungskontrolle in Frankreich

Nach der Revolution von 1789 war das französische Parlament völlig souverän. Die von ihm beschlossenen Gesetze stellten die volonte generale und damit fassungsrecht, in: JöR N. F. 33, 1984, S. 298. // AvrillGicquel, Lexique. Droit constitutionnel, 1986, S. 78; Chantebout, Droit constitutionnel et science politique, 9. Auflage, 1989, S. 4lf; Debbasch/ Pontier/BourdonlRicci, Droit constitutionnel et institutions politiques, 3. Auflage, 1990. S. 513ff; Luchaire, Chroniques Constitutionnelles. Les Lois Organiques devant le Conseil Constitutionnel, in: RDP 108, 1992, S. 404ff; Poullain, La pratique franyaise de la justice constitutionnelle, 1990, S. 71; Rousseau, Droit du contentieux constitutionnel, 1993, S. lOlf; Thrpin, Contentieux constitutionnel, 1986, S. 98f. 3Zur geschichtlichen Entwicklung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie in Frankreich s. u. Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung mit besonderer Berücksichtigung der Geschäftsordnungen des preußischen Landtags und des Reichstags, 1929, S. 8ff; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1934, S. 14ff. // Bonnard, Les reglements des assemblees I~gis­ latives de la France, depuis 1789, 1926, S. 9ff; Laporte/Thlard, Droit parlementaire, 1986, S. 32; Prelot, Droit parlementaire franyais, 1954-56, S. 26ff. 4Eingehend dazu s. Laporte/Thlard, (Anm. 3), S. 32ff; Prelot, (Anm. 3) S. 28ff.

I. Verfassungs gerichtsbarkeit und Geschäftsordnungen

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die höchste Autorität im Staat dar5. Demzufolge hatten die französischen Gerichte die Akte der Legislative bedingungslos anzuwenden, ohne sie vorher an den Verfassungsbestimmungen zu messen6 • Der Vorschlag Sieyes von 1795, eine ,jury constitutionnaire" mit 108 Mitgliedern bzw. Repräsentanten einzurichten, stieß zwar auf Interesse in der Verfassungskommission, wurde aber in die Verfassung nicht aufgenommen7• In den folgenden Jahren, und bis zur Verfassung von 1958, galt in Frankreich die Verfassungs gerichtsbarkeit als undemokratisch, zumal der nächste Versuch ihrer Einführung auf zwei autoritäre Regimes zurückging 8 • Die Verfassungen des Ersten (1799) und Zweiten (1852) Kaiserreichs sahen einen Senat vor, der eine präventive Verfassungsmäßigkeitskontrolle ausüben sollte. Die Senatoren wurden aber in beiden Gremien vom Kaiser ernannt und standen in Abhängigkeit von ihm. Die vorgesehene Kontrolle fand letztendlich nie statt, und der Senat des Zweiten Kaiserreichs avancierte zur Zweiten Parlamentskammer. Das Senatskonsult von 1870 und die Verfassung der III. französischen Republik (1875-1940) führten ebenfalls (explizit) das Zweikammersystem ein9 • In der IV. französischen Republik (1946-1958) bestand das Parlament wieder5Dazu s. Art. 6 Satz 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 "Das Gesetz ist der Ausdruck des Gemeinwillens" und Titel III, Kapitel 11, Sektion I, Art. 3 Satz 1 der französischen Verfassung von 1791: ,,Es gibt in Frankreich keine höhere Autorität als die des Gesetzes". Der Text der Bestimmungen der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und der französischen Verfassung von 1791 stammt aus Duverger, Constitutions et documents politiques, 10. Auflage, 1986, S. 17ff, übersetzt vorn Verfasser. 6Dazu s. Caue de Malberg, La Loi, expression de la volon~ generale. Etude sur le concept de la loi dans la Constitution de 1875, 1951, S. 22ff; Chantebout, (Anrn. 2), S. 5lf; Favoreu/Philip, Le Conseil Constitutionnel, 1978, S. 8f; Franck, Les fonctions juridictionnelles du Conseil Constitutionnel et du Conseil d' Etat dans l' ordre constitutionnel, 1974, S. 43f; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980. S. 14ff. 7Eingehend zum Entwurf Siey~s, dessen Vorläufem und deren Resonanz s. Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1990, S. 21ff; Robbers, Emmanuel J. Siey~s. Die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit in der französischen Revolution, in: FS für W. Zeidler, Band I, 1987, S. 247ff. // Blondei, Le contröle juridictionnel de la constitutionnalite des Lois, 1928, S. 179ff; Thrpin, (Anrn. 2), S. 16. 8Dazu s. W. Buerstedde, ,,Le comi~ constitutionnel"der französischen Verfassung von 1946, in: JöR N. F. 7, 1958, S. 168ff; Goose, (Anrn. 2), S. 23ff; Kimmei, Zum ungewollten Erstarren der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich, in: ZParl17, 1986, S. 53Off; Robbers, (Anrn. 7), S. 257; Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: StarcklWeber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 31. /I Ashworth, Le contröle de la Constitutionnali~ des lois par le Senat du Second Empire, in: RDP 110, 1994, S. 48ff; Blondei, (Anrn. 7), S. 185ff; Franck, (Anrn. 6), S. 44ff; Favoreu/Philip, (Anrn. 6), S. 8f; Luchaire, (Anrn. 6), S. lOf; Thrpin, (Anrn. 2), S. 17. 9Dazu s. u.a. W. Buerstedde, (Anrn. 8), S. 171; Kimmei, (Anrn. 8), S. 531. /I Franck, (Anrn. 6), S. 45. 4 Theodossis

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C. Frankreich

um aus zwei Kammern, der Nationalversammlung und dem Rat der Republik (Art. 5 Verf. v. 1946). Die Gesetze aber wurden allein von der Nationalversammlung beschlossen(Art. 13 Satz 1 Verf. v. 1946). Der Rat der Republik hatte ursprünglich zu den (von der Nationalversammlung bei der ersten Lesung beschlossenen) Gesetzesentwürfen bzw. -vorschlägen nur Stellung zu nehmen (Art. 20 Abs. 1 Verf. v. 1946). Allerdings hatte unter der Verfassung von 1946 der Verfassungsausschuß, der sich aus dem Präsidenten der Republik, den Präsidenten der beiden Kammern und zehn weiteren Parlamentariern zusammensetzte, zu entscheiden, ob ein von der Nationalversammlung beschlossenes Gesetz eine Verfassungsänderung erforderlich machte (Art. 91 Abs. 3 Verf. v. 1946). Der Verfassungsausschuß konnte vom Präsidenten der Republik und vom Präsidenten des Rates der Republik gemeinsam angerufen werden und hatte zuerst die Vereinbarkeit des gerügten Gesetzes mit den Bestimmungen des I. bis X. Titel der Verfassung von 1946 zu prüfen und dann zwischen der Nationalversammlung und dem Rat der Republik zu vermitteln (Art. 92 Abs. 2 Satz 1 Verf. v. 1946). Gelang es dem Verfassungsausschuß nicht, im Falle einer Verfassungswidrigkeit ein Übereinkommen zwischen den beiden Kammern herbeizuführen, dann konnte das beanstandete Gesetz erst nach einer entsprechenden Verfassungsänderung verkündet werden (Art. 93 Abs. 2 Verf. v. 1946). Das Gremium des Art. 91 f Verf. v. 1946 war also eher ein "Vermittlungsausschuß" als ein Verfassungsgericht lO• Seine Tätigkeit sollte jedoch das Inkraftreten von Gesetzen verhindern, die in Mißachtung der Verfassung beschlossen worden waren. Allerdings konnte der Verfassungsausschuß ein Gesetz nur wegen einer eventuellen Mißachtung der verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften rügen 11. Die Grundsätze der Präambel, die Bestimmungen des Titels XI, welche sich auf die Revision der Verfassung bezogen, sowie die Übergangsbestimmungen des XII. Titels waren gemäß Art. 92 Abs. 3 Verf. v. 1946 seiner Prüfung entzogen 12 • IODie Charten von 1814 und von 1830, die Verfassung von 1848, die als Verfassung der II. französischen Republik(1848-1852) bekannt ist, sowie die Verfassungsgesetze von 1875, die die Verfassung der III. französischen Republik (1875-1940) darstellten, sahen keine Verfassungskontrolle vor. 11 Dazu s. Art. 92 Abs. 3 Verf. v. 1946 ,,Er ist zuständig über die Möglichkeit der Revision der Bestimmungen der Titel I. bis X. der vorliegenden Verfassung zu entscheiden". Der Text der f~ösischen Verfassung von 1946 stammt aus Duverger, (Anm. 5), S. 240fT; die deutsche Ubersetzung stammt vom Verfasser. 12Der XI. Titel beinhaltete femer die Regelungen über die Organisation und Funktion des Verfassungsausschusses (Artikel 91-93 Verf. v. 1946). Mehr dazu s. W. Buerstedde, (Anm. 8), S. 178ft'; Goose, (Anm. 2), S. 26; Kimmei, (Anm. 8), S. 532; Kimmei, Die Nationalversammlung in der V. französischen Republik, 1983, S. 49. /I Franck, (Anm. 6), S. 46ft'; Luchaire, (Anm. 6), S. 12ft'; Pemot, Du Comiti constitutionnel au Conseil Constitutionnel, in: RPII 47, 1958, S. 546ft'.

I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Geschäftsordnungen

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Da der Gegenstand der Kontrolle des Verfassungsausschusses die formelle Verfassungsmäßigkeit der (von der Nationalversammlung beschlossenen) Gesetze war, konnte er sich im Rahmen seiner vermittelnden Funktion inzident auch mit Geschäftsordnungsbestimmungen befassen. Insofern waren Gegenstand der ersten (und zugleich der einzigen) Entscheidung des Verfassungsausschusses vom 18. Juni 1948 Geschäftsordnungsbestimmungen der Nationalversammlung, die ein Notverfahren zum Beschluß von Gesetzen vorsahen 13 • Der Rat der Republik sah darin eine Bedrohung des ihm durch die Verfassung eingeräumten Stellungnahmerechts und veranlaßte aus Anlaß eines Gesetzes die Intervention des Verfassungsausschusses. Letzterer war ebenfalls der Auffassung, daß die gerügten Geschäftsordnungsbestimmungen der Nationalversammlung gegen die Verfassung verstießen, und die Nationalversammlung fügte sich anschließend diesem Urteil. Danach modifizierte sie ihre Geschäftsordnung entsprechend. Dennoch ist hier hervorzuheben, daß während der VI. Republik die Geschäftsordnung der Nationalversammlung nicht direkt angefochten werden konnte und daß sich die Geschäftsordnung des Rates der Republik jeglicher Verfassungskontrolle entzog. Die Gründe, die zehn Jahre später, mit der Verfassung von 1958, zur Errichtung des französischen Verfassungsrates führten, sind jedoch komplexer und universaler als die (hier und im ersten Teil der Untersuchung aufgezeigten) Dissense bzw. Kontroversen zwischen Nationalversammlung und Rat der Republik 14 •

3. Der historische Hintergrund der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich im Jahre 1958 - Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen

Wegen der vielen Staatskrisen in der III. und IV. Republik verlor das französische Parlament allmählich an Glaubwürdigkeit. In den Augen der Bürger hatte es die Macht, die ihm mit der Revolution anvertraut worden war, mißbraucht und den Staat in die Ohnmacht geführt. Vor allem nach der Algerien-Krise war eine Wende bzw. eine Neuordnung des Staatswesens wegen der wachsenden Unzu13Dazu s. W. Buerstedde, (Anm. 8), S. 182; Loewenstein, Verfassungslehre (Übersetzt von Boemer), 1959, S. 257f. // Boudet, La force juridique des resolutions parlementaires, in: RDP 74, 1958, S. 280; Luchaire, (Anm. 6), S. 13; Chantebout, (Anm. 2), S. 54; Lemasurier, La Constitution et le Contrc)le juridictionnel du Ugislateur, 1954, S. 221ft'; Soulier, S. 195ft'; La deliberation du Comite Constitutionnel du 18. Juin 1948, in: RDP 65, 1949, S. 195ft'; Turpin, (Anm. 2), S. 23; Vier, Le contrÖle du Conseil Constitutionnel sur les reglements des assembl6es in: RDP 88, 1972, S. 168f. 14Dazu s. gleich unten. 4'

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C. Frankreich

friedenheit in der Bevölkerung unausweichlich 15. Diese vollzog sich mit der Verabschiedung der Verfassung von 1958, die die Entmachtung des Parlaments zur Folge hatte, und als "Rationalisierung des Parlamentarismus" bezeichnet wurde. Zuvörderst wurde durch die Verfassung von 1958 das Zweikammersystem eingeführt. Gemäß Art. 24 Verf. v. 1958 besteht das französische Parlament aus der Nationalversammlung, die die unmittelbare Volksvertretung ist, und aus dem Senat, der die Vertretung der Gebietskörperschaften der Republik gewährleistet und an der Gesetzgebung gleichberechtigt mitwirkt l6 . Die gesetzgeberische Funktion des Parlaments wurde ferner zugunsten der Verordnungsgewalt der Exekutive bzw. der Regierung eingegrenzt l7 • Die Macht der Regierung wurde mithin auf Kosten des Parlaments erweitert, und die Funktion des Parlaments wurde streng reglementiert. Darüber hinaus wurden Prozeduren geschaffen, welche den Zusammenhalt im Regierungslager und die Handlungsfähigkeit der Regierung sichern sollten. Es mag anfangs überraschen, daß sich in einem Mehrheitsparlamentarismus wie dem französischen der politische Kampf um Einftuß- und Machtfragen nicht (nur) zwischen dem Machtkartell von Parlaments- und Regierungsmehrheit, sondern auch zwischen den Institutionen bzw. zwischen Parlament und Regierung abspielt. Wenn man aber die traditionelle Einstellung der französischen Parlamentarier berücksichtigt, die sich in erster Linie als Anwälte der Interessen ihrer Wähler fühlen und die sich nicht so stark an die Partei- und Fraktionsdisziplin gebunden sehen, wird dies verständlicher. Nach der Wende war also ein Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Exekutive zu erwarten, deshalb wurde der Verfassungsrat geschaffen, der das

l'Eingehend dazu s. u. a. Baring, Ein Hüter der Verfassung? General de Gaulle und die fünfte französische Republik, in: DVBl. 1961, S. 101ff; L. Buerstedde, Kontrolle der rechtsetzenden Gewalt durch Conseil Constitutionnel und Conseil d'Etat nach der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958, in: JöR N. F. 12, 1963, S. 147; Fromont, Der Conseil Constitutionnel, in: Zeitschrift für Politik N. F. 26, 1979, S. 15lf; Goose, Zur Einführung: Französisches Verfassungsrecht, in: JuS 1973, S. 599f; Kimmei, (Anm. 12), S. 17ff; Lottig, Die Verfassung der französischen Republik, 1961, S. 5ff; Schabert, Wider die Allmacht des Parlaments. Die Verfassungstheorie von Michael Debre , in: Der Staat 18, 1979, S. 271ff; Wittig, Die Stellung des Präsidenten nach der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958, Dissertation Köln, 1962, S. If; G. Ziebura, Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem, 1960, S. 13ff. 16Dazu s. Art. 45 Abs. 1 Verf. v. 1958 (im Anhang). Hierzu vgl. Goguel, Le Senat de la me ä ce1ui de la Ve ,in: Pouvoirs 44, 1988, S. 5ff; Tardan, Le röle legislatif du Senat, in: Pouvoirs 44, 1988, S. 97ff. 17Hierzu vgl. Ziebura, (Anm. 15), S. 16f: ,,Nicht mehr das Parlament, sondern der Präsident wird Eckstein des ganzen Systems".

I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Geschäftsordnungen

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französische Parlament vor allem dazu zwingen sollte, die neuen verfassungsrechtlichen Konstellationen zu respektieren 18 . Der Verfassungsrat hat danach jeden Versuch des Parlaments zu unterbinden, seine Vorherrschaft mittels seiner Rechtsetzungsbefugnis zuruckzugewinnen. "Er sollte (... ) der Exekutive zur Seite stehen, um eine (Fehl)entwicklung zu einem "regime d' assemblee"zu vereiteln"19. Deshalb fallen unter die Kontrolle des französischen Verfassungsrates nur Akte des Parlaments und keine der Regierung bzw. des Präsidenten der Republik2o . In Anbetracht dessen, daß sich häufig in der Vergangenheit die parlamentarischen Kammern ihrer traditionellen Geschäftsordnungsautonomie bedienten, um über die Verfassung hinaus das Gesetzgebungsverfahren bzw. die Beziehung zueinander und zur Exekutive neu zu regeln, wurden zuerst die Geschäftsordnungen der Kontrolle des Verfassungsrates unterworfen21 . Darüber hinaus 18Dazu s. Art. 56 Verf. v. 1958 und Art. 57 Verf. v. 1958 (im Anhang). Mehr zur Zusammensetzung und Organisation des französischen Verfassungsrates s. u. a. L. Buerstedde, (Anm. 15), JöR N. F. 12, 1963, s. 149ff; Fromont, Der französische Verfassungsrat, in: Starclc/Weber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 314ff; Goose, (Anm. 2), S. 51ff. // DebbaschIPontier/BourdonlRicci, (Anm. 2), S. 573ff; Favoreu/Philip, (Anm. 6), S. Ilff; Luchaire, (Anm. 6), S. 57ff; S. 87ff; Poullain, (Anm. 2), S. 24f (31ff); PrelotIBoulouis ,Institutions politiques et droit constitutionnel, 10. Auflage, 1987, S. 910ft'; Roussillon, Le Conseil constitutionnel, 1991, S. 7ff; Turpin, (Anm. 2), S. 206ff. // Favoreu, The Constitutional Review and Parliament in France, in: Landfried (Hrsg.) Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 87ff. 19Kimmel, (Anm. 8), S. 535. // Hierzu vgl. Favoreu, (Anm. 18), S. 81: ,,( ... ), that the Constitutional Council had been created especially to oversee Parliament and to keep it from reacquiring the jurisdiction it had under the Third and Fourth Republies the opposite phenomenon took place: the constitutional judges contribute today to the reinforcement of the legislative powers of Parliament". 2°Der Verfassungsrat wacht ferner über die Einhaltung der (materiellen) A~grenzung von Gesetzen und Verordnungen gemäß Art. 34 Verf. v. 1958, um ebenfalls Ubergriffe des Parlaments auf den Bereich der Verordnungen zu verhindern. Dazu s. a. Autexier, Der neue Conseil Constitutionnel. Versuch, die Funktion eines Verfassungskontrollorgans in den westlichen Demokratien zu definieren, in: Der Staat 15, 1976, S. 103; L. Buerstedde, (Anm. 18), S. 147; Gerster, Richterliche Normenkontrolle im heutigen französischen Verfassungs- und Reehtssystem, in: JR 1965, S. 13; Starck, (Anm. 8), S. 34. // Chantebout, (Anm. 2), S. 475; Favoreu/Philip, (Anm. 6), S. 5ff; Favoreu, Le Conseil Constitutionnel regulateur de I' activite normative de pouvoirs publies, in: RDP 83, 1967; S. 12f; Hamon, Quand les assembl6es parlementaire ont des juges. Quelques reflexions sur l' equilibre constitutionnel, in: Reeueil Dalloz 1959, S. 253f; Knaub, Le Conseil Constitutionnel et la regulation des rapports entre les organes de l'Etat, in: RDP 99, 1983, S. 1149ff; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel et la protection des droits et libert6s du citoyen, in: Melanges M. Waline, Band 11, 1974, S. 563; Luchaire, (Anm. 6), S. 19ff; Roussillon, (Anm. 18), S.105ff. 21Erstaunlicherweise wurde der abstrakt-präventive und obligatorische Charakter der Verfassungskontrolle von Parlamentsgeschäftsordnungen und Organgesetzen erst durch die Abänderungsvorschläge des Beratenden Komitees zur Verfassung von 1958, das

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wurden Regelungsgegenstände, welche traditionell der autonomen Geschäftsordnungsgebung vorbehalten waren, in die Verfassung aufgenommen. Der Umfang der Angelegenheiten, die traditionsgemäß das Parlament autonom regeln konnte, wurde also durch die Verfassungsbestimmungen und ferner durch die Organgesetze umgrenzt, welche vor den parlamentarischen Geschäftsordnungen Vorrang haben22 • Der französische Verfassungsgeber hatte also nicht die Beachtung des Demokratieprinzips bzw. des Minderheitenschutzes ins Auge gefaßt, als er im Jahre 1958 die obligatorische Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen einführte. Vielmehr wollte er durch die Errichtung des Verfassungsrates die neue Verfassungsordnung vor verfassungswidrigen Übergriffen des Parlaments schützen. Die einschlägige Kompetenz des Verfassungsrates allein bedeutet jedoch nicht automatisch das Ende der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie in Frankreich23 • Die Bestimmung des Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 impliziert sie, insofern als die Geschäftsordnungsgebung ausschließlich der Verfassungskontrolle des Verfassungsrates unterliegt und demnach das Mitwirken anderer Staatsorgane weiterhin ausgeschlossen bleibt. Im Folgenden werden Geltung und Umfang der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie in Frankreich genauer untersucht.

überwiegend mit Parlamentariern besetzt war, festgelegt, während der (von der Regierung ausgearbeitete und dem Beratenden Komitee zur Stellungnahme vorgelegte) Verfassungsvorentwurf nur eine fakultative Kontrolle der Geschäftsordnungen auf Verlangen der Präsidenten der Kammer vorsah. Dazu s. L. Buerstedde, (Anm. 18), S. 158ff; 000se, (Anm. 2), S. 41ff; Kimmei, (Anm. 12), S. 39f; Kimmei, (Anm. 8), S. 535; Lotig, (Anm. 15), S. 54ff; Ziebura, (Anm. 17), S. 80. /I AvrillOicquel, Droit parlementaire, 1988, S. 9f; Beauti, L' Antinomie de la Suprematie de la Constitution et de I' Autonomie R6glementaire des Assembl6es, in : Politique 6, 1963, S. 105; Bourdon, Les assembl6es parlementaires sous la V· R6publique, 1978, S. 69; Chantebout, (Anm. 2), S. 474; DebbaschIPontierlBourdonlRicci, (Anm. 2), S. 523; Duverger, (Anm. 5), S. 314; Duverger, Les Institutions de la Cinquieme R6publique, in: RFSP 9, 1959, S. 115f; Favoreu/Philip , Les grandes d6cisions du Conseil Constitutionnel, 6. Auflage, 1991. S. 39; Hamon, (Anm. 19), S. 255; LaportelTulard, (Anm. 3), S. 35f; Parodi, Les rapports entre le Legislatif et l'Executive sous la Cinquieme Republique (1958-1962), 1972, S. 18; Rousseau, Chronique dejurisprudence constitutionnelle, in: RDP 108,1992, S. 66; PrelotiBoulouis, (Anm. 18), S. 629; Ruzi6 , Le nouveau reglement de I' Assembl6e Nationale, in: RDP 75, 1959, S. 866ff; Vier, (Anm. S. 13), 167ff; 22Ferner wird im Ergebnis der Geschäftsgang des französischen Parlaments auch durch gesetzesvertretende Verordnungen (Ordonnanzen) - vor allem durch die Ordonnanz Nr.58- 1100 betreffend die Arbeitsweise der parlamentarischen Kammern vom 17. 11. 1958 - geregelt. Eingehend dazu s. unten 11.3 a). 23 "Autonomie, oui; h6g6monie, non!" s. Thrpin, (Anm. 2), S. 102.

I. Verfassungsgerichtsbarkeit und Geschäftsordnungen

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4. Die Geschäftsordnungsautonomie des französischen Parlaments

Auch nach 1958 verfügen die parlamentarischen Kammern in Frankreich über eine Organisationsautonomie, deren wichtigster Ausdruck die Geschäftsordnungsautonomie ist. Die Geschäftsordnungen der Nationalversammlung und des Senats kommen auch nach der Verfassung von 1958 kraft Verfassungsgewohnheitsrechts als Resolutionen zustande; abgeändert werden sie wiederum durch Resolutionen24 • Nach französischem Staatsrecht sind die Resolutionen Entschließungen der Kollegialorgane bzw. der parlamentarischen Kammern, die im Gegensatz zu Gesetzen im Alleingang bzw. ohne Mitwirkung anderer Staatsorgane durch die entsprechende Kammer beraten bzw. beschlossen werden und nicht dem Promulgationsverfahren unterliegen2S • Resolutionsvorschläge, die die parlamentarische Geschäftsordnungsgebung bzw. -änderung betreffen, können nur von den Mitgliedern der entsprechenden Kammer eingebracht werden. Diese Resolutionsvorschläge werden dem für die Gesetzgebung zuständigen Ausschuß überwiesen; aufgrund des Berichts, den der Ausschuß dem Plenum anschließend vorlegt, werden sie dann in öffentlicher Sitzung beraten und bei der ersten Lesung beschlossen26 • Bejaht der Verfassungsrat ihre Verfassungsmäßigkeit, dann gelten sie ohne Zeitbeschränkung über die Legislaturperiode hinaus. Die Geschäftsordnungen der französischen Nationalversammlung und des Senats unterliegen also nicht dem Diskontinuitätsprinzip und gelten bis zu ihrer Modifizierung fort27 • Beide Geschäftsordnungen beinhalten ferner im Grunde nicht nur Vorschriften mit internem Charakter. Durch sie wird die Beziehung der parlamentarischen Kammern zueinander und zu den anderen Verfassungsorganen näher geregelt. Sie enthalten z. B. wichtige Regeln über das Gesetzgebungsver-

24Hierzu vgl. Ardant, Institutions politiques et droit constitutionnel, 2. Auflage, 1990, S. 546; Baufum6, La r6habilitation des r6so1utions: une n6cessit6 constitutionelle, in: RDP 1994, S. 14OOff; DebbaschIPontier/BourdonJRicci, (Anm. 2), S. 134; Favoreu, (Anm. 19), S. 24; Hauriou/ Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 7. Auflage, 1980, S. 1067; Pocher, Le S6nat, 2. Auflage, 1983, S. 64f; Pr6lot, (Anm. 3), S. 24ft"; Pr61otIBoulouis, (Anm. 18), S. 774f; Ruzi6, (Anm. 21), S. 866f; Vier, (Anm. 13), S. 17Off. 25Eingehend zur Resolution s. Avri1lGicquel, (Anm. 2), S. 99; Boudet, (Anm. 13), S. 271ft"; Laporte/ Tulard, (Anm. 3), S. 36. 26Dazu s. Bourdon, (Anm. 21), S. 70; LaPOrte/ Tulard, (Anm. 3), S. 38. 27Dazu s. Ardant, (Anm. 24), S. 546; Burdeau, Manuei de droit constitutionnel et institutions politiques, 20. Auflage, 1984, S. 572.

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fahren und über die parlamentarische Kontrolle und regeln somit Gegenstände, die sich auch auf Nicht-Parlamentarierbeziehen28 • Darüber hinaus wird jede parlamentarische Kammer geschäftsordnungsrechtlich (Art. 15 GOdNV bzw. Art. 102 GOdS) dazu ermächtigt, sich durch ihre Präsidien Regeln über Organisation, Arbeitsweise ihrer Dienststellen und Personalangelegenheiten ihrer Bediensteten sowie die zur Geschäftsordnungsauslegung nötigen Ausführungsvoschriften zu geben29 • Diese Regelungen werden allgemeine Vorschriften des Präsidiums (instructions generales du bureau) genannt und vervollständigen seit 1848 die parlamentarischen Geschäftsordnungen, wobei sie der Kontrolle des Verfassungsrates gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 nicht unterliegen30 • Die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie bzw. die autonome Parlamentsgeschäftsordnungsgebung in Frankreich besteht mithin ohne Verfassungsgarantie (weiterhin) traditionsgemäß; in der Verfassung von 1958 ist jedoch erstmals ihre präventiv-obligatorische Kontrolle verankert. 1958 brach man - wie bereits dargestellt - mit der Tradition und führte eine Verfassungsgerichtsbarkeit ein, ohne daß man zugleich die Gefahren, die die Tätigkeit dieser neuen Gewalt mit sich bringt, berücksichtigt hätte 31 • Statische Elemente, wie eine verfassungsrechtliche Absicherung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie, die im Kollisionsfall die Dynamik einer präventivobligatorischen Kontrolle kompensieren könnten, wurden in das System der Gewaltenbalancierung (gewollt oder ungewollt) nicht eingebaut. In Anbetracht dessen kann im Grunde die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie vor Übergriffen der Kontrollinstanz (bzw. des Verfassungsrates) nicht geschützt werden. Im Folgenden ist also das Spannungsverhältnis zwischen parlamentarischer Geschäftsordnungsautonomie und (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit angesichts einer fehlenden Verfassungsgarantie zu untersuchen.

28Hierzu vgl. Fromont, (Anm. 18), S. 320. II Avril, Droit parlementaire et droit constitutionnel sous la V· Republique, in: RDP WO, 1984, S. 579; Beaute, (Anm. 21), S. 104f; DebbaschIPontier/BourdonlRicci, (Anm. 2), S. 812f; Maus, Le Parlement sous la V· Republique, 1988, S. 61; Ruzie, (Anm. 21), S. 865; Vier, (Anm. 13), S. 193. 29Dazu s. Bourdon, (Anm. S. 21), 70; DebbaschIPontier/BourdonlRicci, (Anm. 2), S. 813; Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 9. Auflage, 1987, S. 755; Pocher, (Anm.24), S. 65f; Rousseau, (Anm. 2), S. 163; Ruzie, (Anm. 21), S. 866; Vier, (Anm. 13), S. 175. 30 Dazu s. unten 11. 1 b). 31 "Unter den öffentlichen Gewalten, die die Verfassung von 1958 schuf, ist der Verfassungsrat ein Eindringling. Seine Entstehung gleicht der Geburt eines unerwünschten Kindes" , Chantebout, La Constitution franyaise. Propos pour un debat, 1992, S. 105; übersetzt vom Verfasser.

11. Verfahren

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11. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den französischen Verfassungsrat Verfahren 1. Das Verfahren zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen

a) Rechtsgrundlagen des Verfahrens Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958: "Die Organgesetze müssen vor ihrer Verkündung und die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern vor ihrer Anwendung dem Verfassungsrat vorgelegt werden. der über ihre Verfassungsmäßigkeit befindet."

und Art. 61 Abs. 2 Verf. v. 1958:

,,zwn gleichen Zweck können die Gesetze vor ihrer Verkündung vom Präsidenten der Republik. vom Premierminister, vom Präsidenten von einer der beiden Kammern oder von 60 Abgeordneten oder von 60 Senatoren zugeleitet werden." begründen das Kontrollverfahren vor dem Verfassungsrat; Art. 61 Abs. 3 Verf. v. 1958: "In den Fällen. die die zwei vorangegangenen Absätze vorsehen. muß der Verfassungsrat seine Entscheidung innerhalb eines Monats treffen. Auf Verlangen der Regierung wird jedoch diese Frist in dringenden Fällen auf 8 Tage verkürzt."

sowie Art. 62 Verf. v. 1958: ,,(1) Eine für verfassungswidrig erklärte Bestimmung kann nicht verkündet oder angewandt werden. (11) Gegen die Entscheidungen des Verfassungsrates gibt es kein Rechtsmittel. Sie binden die öffentliche Gewalt und alle Verwaltungsbehörden und Gerichte."

finden darauf Anwendung!. Art. 56 Abs. 3 Satz 2 Verf. v. 1958: "Seine Stimme (d. h. die Stimme des Präsidenten des Verfassungsrats) gibt bei Stimmengleichheit den Ausschlag."

ist ebenfalls relevant für die einschlägigen Kontrollverfahren. Obwohl gemäß Art. 63 Verf. v. 1958 ein Organgesetz die Organisation und die Arbeitsweise des Verfassungsrates sowie das von ihm anzuwendende Verfahren regeln sollte, wurden diese Regelungsbereiche durch eine gesetzesvertreten1 Die Übersetzung des Art. 61 Abs. 3 Satz 1 Verf. v. 1958 stammt ausnahmsweise vom Verfasser, hierzu vgl. Art. 61 Abs. 3 Satz 1 Verf. v. 1958 im Anhang.

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de Verordnung, nämlich die Ordonnanz Nr. 58-1067 betreffend das Organgesetz über den Verfassungsrat, näher bestimmt2 • Gemäß Art. 91 Abs. 1 Verf. v. 1958 sollten alle Institutionen der V. französischen Republik, wie sie die Verfassung vorsah, innerhalb von vier Monaten nach Verkündung der Verfassung geschaffen werden, obgleich während dieser Zeit das Parlament nicht tagte 3 • Ohne Parlament konnte kein Organgesetz zustande kommen, deshalb wurden Organisation und Arbeitsweise des Verfassungsrates aufgrund des Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958 vom Ministerrat durch die Ordonnanz Nr. 58-1067 näher bestimmt4 • Artikel 14, 17 Abs. 2, 19,20,23 Abs. 2 dieser Ordonnanz regeln demnach das Verfahren zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen5• Die meisten dieser Vorschriften werden in den "visas"(d. h. in der Präambel) der Verfassungsratsentscheidungen angeführt, wo sie (in der Regel) nach den Rechtsnormen, die den Kontrollmaßstab des Verfassungsrates bilden, aufgezählt werden6• 2Art. 63 Verf. v. 1958: ,,Ein Organgesetz regelt die Organisation und die Arbeitsweise des Verfassungsrates, das von ihm anzuwendende Verfahren und insbesondere die Fristen, innerhalb welcher er mit Anfechtungen befaßt werden kann". 3Dazu s. Art. 90 Abs. 1 Verf. v. 1958 und Art. 91 Abs. 1 Verf. v. 1958 (im Anhang). 4Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958: "Die gesetzlichen Maßnahmen, welche für die Bildung der Institutionen und bis zu dieser Bildung für die Tätigkeit der öffentlichen Gewalt erforderlich sind, werden vom Ministerrat nach Stellungnahme des Staatsrates durch gesetzesvertretende Verordnungen mit Gesetzeskraft getroffen". Hierzu ist anzumerken, daß Ordonnanzen Gesetzeskraft besitzen. Eingehend dazu s. unten II. 3 a). 5Art. 14: ,,Die Entscheidungen und die Stellungnahmen des Verfassungsrates werden von mindestens sieben Räten gefällt, ausgenommen im Falle von höherer Gewalt, der im Sitzungsprotokoll gebührend zu vermerken ist", Art. 17 Abs. 2: "Die von der einen oder der anderen Kammer beschlossenen Geschäftsordnungen und die Änderungen der Geschäftsordnungen sind durch den Präsidenten jeder Kammer dem Verfassungsrat vorzulegen", Art. 19: ,,Die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit wird anhand des Berichts eines Mitgliedes des Verfassungsrates innerhalb der in Art. 61 Abs. 3 der Verfassung vorgesehenen Fristen durchgeführt", Art. 20: "Die Erklärung des Verfassungsrates muß begründet sein. Sie wird im Staatsanzeiger veröffentlicht" und Art. 23 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 58-1067: "Wenn der Verfassungsrat erklärt, daß die ihm vorgelegte parlamentarische Geschäftsordnung eine verfassungswidrige Bestimmung enthält, dann kann diese Bestimmung von der sie beschlossen habenden Kammer nicht angewandt werden". Die deutsche Übersetzung stammt vom Verfasser; zum Text der Ordonnanz Nr. 58-1067 s. Duverger, Constitutions et documents politiques, 10. Auflage, 1986, S. 368ff. 6Durch folgendes, sehr typisches Beispiel einer Verfassungsratsentscheidung über parlamentarische Geschäftsordnungen soll Plazierung und Funktion der oben genannten "visas" in der Verfassungsratsentscheidung skizzieren - die kursiv gedruckten Stellen beziehen sich auf die Rechtsgrundlagen: "Der Verfassungsrat, angerufen am (... ) vom Präsidenten der Nationalversammlung (bzw. des Senats) gemäß Artikel 61 der Verfassung, befaßte sich mit der Resolution vom (... ) betreffend die

11. Verfahren

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b) Kontrollgegenstand Aus dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 58-1067 folgt, daß nur die Geschäftsordnungen der zwei Kammern des französischen Parlaments, d. h. Nationalversammlung und Senat, dem Verfassungsrat vorgelegt werden müssen. Dennoch wurde auch die Geschäftsordnung des Kongresses - wenn das Parlament gemäß Art. 89 Verf. v. 1958 einberufen wird, um eine Revision der Verfassung zu beschließen - dem Verfassungsrat zur Prüfung vorgelege. Wie bereits erwähnt, unterliegen die sog. allgemeinen Vorschriften des Präsidiums (instructions generales du bureau) hingegen nicht der Kontrolle des Verfassungsrates. Nur wenn sie Teil einer (formellen) Geschäftsordnung werden, kann sich der Verfassungsrat damit befassen8 • Die provisorischen Geschäftsordnungen, die sich gemäß Art. 2 der Ordonnanz vom 17. Oktober 1958 die Nationalversammlung am 21. Januar 1959 und Geschäftsordnung bzw. Modifikationen der Geschäftsordnung der Nationalversammlung (bzw. des Senats); gestützt au/ die Verfassung, insbesondere au/ihre Artikel (... ); gestützt au/die Ordonnanz Nr. 58-1067, insbesondere au/ihre Artikel 17 Abs. 2,19.20 und 23 Abs. 2; in der Erwägung, daß (... ); entscheidet: ( ...)". Das Beispiel ist dem Recueil des d&:isions du Conseil constitutionnel (im folgenden: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen) entnommen und vom Verfasser übersetzt. 7Dazu s. Entscheidung des Verfassungsrats (Nr. 63-24DC) vom 20. 12. 1963, in: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen, 1963, S. 16. Dies wurde im französischen Schrifttum damit begründet, daß der Kongreß bzw. deren Tätigkeit ebenfalls an die Verfassung gebunden sei. Hierzu vgl. Fromont, Der französischer Verfassungsrat, in: Starclc/ Weber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 320. /I Beautt, L' Antinomie de la Supr6matie de la Constitution et de l' Autonomie R6g1ementaire des Assembl6es, in : Politique 6, 1963, S. 119; DebbaschIPontier/BourdonlRicci, Droit constitutionnel et institutions politiques, 3. Auflage, 1990, S. 609; FavoreulPhilip, Les grandes d6cisions du Conseil Constitutionnel, 6. Auflage, 1991, S. 38; Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 9. Auflage, 1987, S. 755; HamonlEmeri, Vie et droit parlementaires, in: RDP 80, 1964, S. 76f; Luchaire, Kommentierung der Art. 61-63 Verf. v. 1958, in: Luchaire/Conac (Hrsg.) La constitution de la r6publique fran~aise, 2. Auflage, 1987, S. 1115; Vier, Le contr61e du Conseil Constitutionnel sur les r6glements des assembl6es in: RDP 88, 1972, S. 173. 8Die allgemeinen Vorschriften des Präsidiums sind zumeist Ausführungsbestimmungen der Geschäftsordnungen und werden aufgrund einer geschäftsordnungsrechtlichen Ermächtigung erlassen. Dazu s. AvrillGicquel, Droit parlementaire, 1988, S. 11; Giquel, (Anm. 7), S. 755; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980, S. 102f; Vier, (Anm. 7), S. 175. Entscheidungen bzw. Akte der Präsidien der Kammern, welche Personalangelegenheiten der Parlamentsbediensteten regeln, unterliegen hingegen gemäß Art. 8 Abs. 3 Satz 2 Ordonnanz Nr. 58-1100 der Kontrolle der Verwaltungsgerichte. Hierzu vgl. Art. 65 Abs. 6 Satz 2 der griechischen Verfassung von 1975 (im Anhang).

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der Senat am 16. Januar 1959 gaben, wurden vom Verfassungsrat nicht geprüft9• Mit seiner Entscheidung vom 14. Mai 1959 (Nr. 59-1 DC) hatte er erklärt, daß er gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 nur über die Verfassungsmäßigkeit der gesamten (definitiven) Geschäftsordnung jeder Kammer zu befinden habe. Nationalversammlung und Senat berieten und beschlossen sie auf der Grundlage der provisorischen Geschäftsordnungen ihre definitiven Geschäftsordnungen, und die Kammerpräsidenten legten sie am 6. Juni 1959 bzw. am 11. Juni 1959 dem Verfassungsrat zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle vor lO • Gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 i. V. mit Art. 17 Abs. 2 OrdonnanzNr. 581067 haben jedoch die Präsidenten beider Kammern nicht nur die ursprünglichen Geschäftsordnungen (obligatorisch) dem Verfassungsrat vorzulegen, sondern auch jede spätere Geschäftsordnungsänderung. Denn nur nach einer die Verfassungsmäßigkeit bejahenden Entscheidung des Verfassungsrates kann eine Geschäftsordnungsvorschrift gelten 11.

c) Ingangsetzen des Verfahrens - Fristen

Auch wenn die Kontrolle des Verfassungsrates gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 einen obligatorischen Charakter hat, verfügt der Verfassungsrat über kein Selbstanrufungsrecht (autosaisine ) 12 • 9Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen, 1959, S. 57. Hienu vgl. Beaute, (Anm. 7), S. 108; Vier, (Anm. 7), S. 174. lOEin stattlicher Teil der provisorischen Geschäftsordnungen beider Kammern wurde in den definitiven aufgenommen. Hienu ist anzumerken, daß sich die provisorische Geschäftsordnung des Senats stark an die Geschäftsordnung des Senats der IV. französischen Republik anlehnte. Hienu vgl. Ziebura, Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem, 1960, S. 185ff. // Baufume, La rehabilitation des resolutions: une necessite constitutionelle, in: RDP 1994, S. 1402; Beaute, (Anm. 7), S. l06f; Parodi, Les rapports entre le Legislatif et l' Executive sous la Cinquieme Republique (1958-1962), 1972, S. 18ff; Vier, (Anm. 7), S. 173f. 11 Dazu s. Art. 62 Abs. 1 Verf. v. 1958 i. V. mit Art. 23 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 58-1067 (im Anhang). 12Der Verfassungsänderungsentwurf von 1975 sah die Möglichkeit der Selbstanrufung vor, dennoch wurde sie nicht in der Verfassung aufgenommen. Dazu s. Kimmei, Zum ungeWOllten Erstarren der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frankreich, in: ZParl 17, 1986, S. 538f. /I Favoreu/Philip, Le Conseil Constitutionnel, 1978, S. 29; Knaub, Le Conseil Constitutionnel et la regulation des rapports entre les organes de I'Etat, in: RDP 99, 1983, S. 1165; Luchaire, (Anm. 8), S. 3Of; ROllssillon, Le Conseil constitutionnel, 1991, S. 26; Vier, (Anm. 7), S. 176.

11. Verfahren

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Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen kann nur durch die Vorlage der Kammerpräsidenten in Gang gesetzt werden. Weder die Verfassung noch die Ordonnanz Nr. 58-1067 bestimmen jedoch eine Frist, innerhalb derer die Geschäftsordnung bzw. deren Änderungen dem Verfassungsrat vorzulegen sind. Dennoch ist zu erwarten, daß die Kammerpräsidenten jede die Geschäftsordnung betreffende Resolution ihrer Kammer innerhalb angemessener Zeit nach deren Beschluß dem Verfassungsrat übermitteln werden, denn ohne die (vorausgegangene) Entscheidung des Verfassungsrates darf eine Geschäftsordnungsvorschrift nicht angewendet werden. Für den Fall allerdings, daß die Kammerpräsidenten ihre Vorlagepflicht nicht erfüllen, sieht weder die Verfassung von 1958 noch die Ordonnanz Nr. 58-067 eine Sanktion vor. Die Folgen dieses Versäumnisses können nur politischer Natur sein, es sei denn, der Präsident der Republik - gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Verf. v. 1958 hat er über die Einhaltung der Verfassung zu wachen - wäre im Falle der Geschäftsordnung der Nationalversammlung bereit, deswegen ihre Auflösung gemäß Art. 12 Abs. 1 Verf. v. 1958 anzuordnen 13 . Der Verfassungsrat selbst kann auf das Unterlassen der Kammerpräsidenten nicht reagieren. Gemäß Art. 61 Abs. 3 Satz 1 Verf. v. 1958 hat er seinerseits innerhalb eines Monats nach seiner Anrufung seine Entscheidung über die Geschäftsordnungsregelungen zu fällen. Die Bestimmung des Art. 61 Abs. 3 Satz 2 Verf. v. 1958 dürfte hier keine Anwendung finden, denn im Gegensatz zu Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Ordonnanz Nr. 58-1067 enthält die Bestimmung des Art. 17 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 58-1067 keine "Dringlichkeitsklausel"14. Wird aber diese einmonatige Frist vom Verfassungsrat versäumt, ist wiederum keine Sanktion vorgesehen. Der Verfassungsrat hat jedoch bis jetzt stets diese Frist eingehalten.

13Dazu s. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Verf. v. 1958 und Art. 12 Abs. 1 Verf. v. 1958(im Anhang). Hierzu vgl. Favoreu/Philip, (Anm. 12), S. 37; Vier, (Anm. 7), S. 176 Fn. 43. 14Art. 17 Ordonnanz Nr. 58-1067: ,,(1) Die vom Parlament beschlossenen Organgesetze werden durch den Premierminister dem Verfassungsrat vorgelegt. Erforderlichenfalls weist das Vorlageschreiben auf die Dringlichkeit hin. (11) Die von der einen oder der anderen Kammer beschlossenen Geschäftsordnungen und die Änderungen der Geschäftsordnungen sind durch den Präsidenten jeder Kammer dem Verfassungsrat vorzulegen". Hierzu vgl. Goose, Die Normenkontrolle durch den französischen Conseil Constitutionnel, 1973, S. 85 (161).// Luchaire, (Anm. 8), S. 100; Pocher, Le Senat, 2. Auflage, 1983, S. 64; Vier, (Anm. 7), S. 176.

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d) Bekanntmachung der Entscheidungen des Verfassungsrates

Die Entscheidungen des Verfassungsrates werden im Staatsanzeiger veröffentlicht und dem Präsidenten der betreffenden Kammer mitgeteilt. Bis zur Entscheidung vom 18. Mai 1971 (Nr. 71-42DC) war im letzten Absatz der Entscheidungsformel die Verfügung: ,,Die vorliegende Entscheidung wird im Staatsanzeiger veröffentlicht" zu finden 1s • Seitdem lauten aber alle Entscheidungsformeln: "Die vorliegende Entscheidung wird dem Präsidenten der Nationalversammlung bzw. des Senats zugestellt und im Staatsanzeiger veröffentlicht", was eigentlich korrekter erscheint, denn vor allem die jeweilige Kammer interessiert die Entscheidung des Verfassungsrates, so daß deren Zustellung an deren Präsidenten vor der Veröffentlichung im Staatsanzeiger erfolgen sollte 16 •

2. Die ersten Entscheidungen des Verfassungsrates über die Geschäftsordnungen von Nationalversammlung bzw. Senat - Verfahrensrechtliche Schwerpunkte

Am 24. Juni 1959 bzw. am 25. Juni 1959 hatte der Verfassungsrat vierzehn Artikel der im Jahre 1959 beschlossenen (definitiven) Geschäftsordnung der Nationalversammlung bzw. zwölf Artikel der (definitiven) Geschäftsordnung des Senats durch seine Entscheidungen Nr. 59-2 DC bzw. Nr. 59-3 DC ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt 17 • Trotz Art. 20 Ordonnanz Nr. 58-1067 begründete der Verfassungsungsrat in beiden Fällen nur seine Verfassungswidrigkeitserklärungen 18.

Die Nationalversammlung überarbeitete unmittelbar nach der Entscheidung des Verfassungsrates ihre gesamte Geschäftsordnung und legte sie am 24. Juli 1959 dem Verfassungsrat als Ganzes zu einer zweiten Prüfung vor. Der Senat hingegen ließ über ein Jahr verstreichen und befaßte sich erst im Oktober 1960

lSDazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen, 1959, S. 60; 1959, S. 62; 1959, S. 63; 1960, S. 16; 1960, S. 17; 1960, S. 18; 1961, S. 17; 1962, S. 18; 1962, S. 19; 1964,S.24; 1964,S.25; 1966,S. 16; 1967,S. 15; 1968,S. 16; 1969,S. 17; 1970,S.21. 16Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen, 1971, S. 20. Hierzu vgl. FavoreuJ Philip, (Anm. 7), S. 39; Vier, (Anm. 7), S. 177. 17Eingehend dazu s. unten m. 18Der Verfassungsrat begann erst mit ßeiner Entscheidung vom 15. Januar 1960 (Nr. 595 DC) Verfassungsmäßigkeitserklärungen zu begründen.

11. Verfahren

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mit seiner definitiven Geschäftsordnung. Damit wollte er seine Verdrossenheit manifestieren 19 • Der französische Senat war mit der Entscheidung des Verfassungsrates nicht einverstanden, und in der Zwischenzeit wandte er seine provisorische Geschäftsordnung weiter an. Erst am 28. Oktober 1960 legte er seine (neu gefaßte) Geschäftsordnung dem Verfassungsrat zur Kontrolle vor. Beide Kammern hätten allerdings ihre Geschäftsordnungen bis auf die für verfassungswidrig erklärten Vorschriften anwenden und nur die einzelnen (den Verfassungswidrigkeitserklärungen folgenden) Resolutionen als Geschäftsordnungsänderungen dem Verfassungsrat zur Prüfung vorlegen können2o • Der französische Verfassungsrat ist bei der Kontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen nicht dazu berechtigt, den Gesamttext wegen einzelner verfassungswidriger Vorschriften für verfassungswidrig zu erklären. Im Gegensatz zu den Gesetzen kann er Geschäftsordnungsvorschriften nicht als untrennbar erklären und damit die Verfassungswidrigkeit der gesamten Vorlage aussprechen. Dafür fehlt es ihm an einer Rechtsgrundlage 21 • Nach der zweiten Vorlage entschied der Verfassungsrat erneut über die gesamten Geschäftsordnungen. Sein Urteil vom 24. Juli 1959 (Nr. 59-4 DC) bzw. vom 18. November 1960 (Nr. 60-9 DC) fällte er jedoch unter Bezugnahme auf seine ersten Entscheidungen (Nr. 59-2 De bzw. Nr. 59-3 DC) - beide wurden in den "visas"der Entscheidungen Nr. 59-4 De bzw. Nr. 60-9 De nach dem Kontrollrnaßstab und den Verfahrensvorschriften der Ordonnanz Nr. 58-1067 angeführt22 • 19Dazu s. Goose, (Anm. 14), S. 190; Fromont, (Anm. 7), S. 334. /I Avril/Gicquel, (Anm. 8), S. 10; AvrilJGicquel, Le Conseil Constitutionnel, 1992, S. 32; Beaut6, (Anm. 7), S. 108; DebbaschIPontier/BourdonlRicci, (Anm. 7), S. 812; FavoreuIPhilip, (Anm. 7), S. 169; Luchaire, (Anm. 8), S. l00f; Parodi, (Anm. 10), S. 19; Rousseau, Droit du conten-

tieux constitutionnel, 1993, S. 164; Ruzi6, Le nouveau ~glement de I' Assembl6e Nationale, in: RDP 75, 1959, S. 876; Vier, (Anm. 7), S. 201. 20 Hierzu vgl. Art. 62 Abs. 1 Verf. v. 1958 i. V. mit Art. 23 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 581067 (im Anhang). 21Hierzu vgl. Art. 22 der Ordonnanz Nr. 58-1067: "Wenn der Verfassungsrat erklärt, daß ein ihm vorgelegtes Gesetz eine verfassungswidrige und vom Gesamttext des Gesetzes untrennbare Bestimmung enthält, dann kann das Gesetz nicht verkündet werden." 22Die Präambel der Entscheidungen des Verfassungsrates Nr. 59-4 DC bzw. Nr. 609 DC lautete folgendermaßen: "Der Verfassungsrat, angerufen erneut am 24. Juli 1959 (bzw. am 28. Oktober 1960) vom Präsidenten der Nationalversammlung (bzw. vom Präsidenten des Senats) gemäß Artikel 61 der Verfassung, befaßte sich mit der endgültigen Geschäftsordnung der Nationalversammlung (bzw. der Geschäftsordnung des Senat); gestützt auf die Verfassung; gestützt auf die Ordonnanz Nr. 58-1067. insbesondere auf ihre Artikell7 Abs. 2.19. 20 und 23 Abs. 2;

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C. Frankreich

Wegen der Identität des Kontrollgegenstandes befaßte sich also der Verfassungsrat nicht mit den bereits für verfassungsmäßig erklärten Geschäftsordnungsvorschriften, was sich mit der Rechtskraft der Entscheidungen des Verfassungsrates erklären läßt23 • Anzumerken ist hier jedoch, daß in den folgenden Jahren der Verfassungsrat diesen Vorgang nicht wiederholte 24 • Aufgrund des obligatorischen Charakters der Kontrolle ist im Falle einer Verfassungswidrigkeitserklärung die Entstehung eines "Pendels" zwischen Kammer und Verfassungsrat zu erwarten. Dennoch begründet weder die Verfassung noch die Ordonnanz Nr. 58-1067 die Pflicht zu einer zweiten Vorlage 25 • Demzufolge kann eine Kammer nach einer abweisenden Entscheidung des Verfassungsrates entweder eine neue Regelung beschließen und diese dem Verfassungsrat vorlegen, oder auf ihre Regelung, die vom Verfassungsrat gerügt wurde, verzichten. Auch wenn es nach einer Verfassungswidrigkeitserklärung zu keiner Resolution kommt, handeln Nationalversammlung bzw. Senat verfassungsmäßig, solange sie keine verfassungswidrige Bestimmung anwenden. Durch diese freizügige Prozedur wird mithin Nationalversammlung und Senat trotz präventiv-obligatorischer Verfassungskontrolle gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 und trotz fehlender (expliziter) Verfassungsgarantie ein Stück faktischer Organisations- bzw. Geschäftsordnungsautonomie gesichert 26. Nicht zu vergessen sind ferner in diesem Zusammenhang die sog. allgemeinen Vorschriften des Präsidiums, die - wie bereits erwähnt - nicht der Kontrolle des Verfassungsrats unterliegen27 •

gestützt auf die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsordnung der Nationalversammlung (bzw. der Geschäftsordnung des Senats), die vom Verfassungsrat in den Sitzungen vom 17, 18 und 24. Juni 1958(bzw. 24. und 25. Juni 1959) beraten wurde; entscheidet: (bzw. in der Erwägung, daß ( ...) entscheidet:) (... )". Hierzu vgl. oben Anm. 6. s. a. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S.63; 1960, S. 17.

23Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 63; 1960, S. 17. Hierzu vgl. Favoreu/Philip, (Anm. 7), S. 40; Lebreton, Les particularites de la Juridiction constitutionnelle, in: RDP 99, 1983, S. 454; Vier, (Anm. 7), S. 188. 24In den "visas"der Verfassungsratsentscheidung vom 6. Juni 1990 (Nr. 90-275 DC) ist jedoch die Entscheidung Nr. 59-2 DC zu finden, wie die Entscheidung Nr. 90-278 DC in den "visas"der Verfassungsratsentscheidung (Nr. 91-301 DC) vom 15. Januar 1992. Hierzu vgl. unten IV.4. 25Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 63; 1960, S. 17; 1964, S.23; 1964, S. 25; 1969, S. 15ff; 1970, S. 21. Hiezu vgl. Favoreu/Philip, (Anm. 7), S. 40; Favoreu/Philip, (Anm. 12), S. 58; Luchaire, (Anm. 8), S. l00f. 1/ Favoreu, The Constitutional Review and Parliament in France, in: Landfried (Hrsg.) Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 104. 26Wie bereits erwähnt, besteht keine explizite Frist zur Vorlage. 27Hierzu vgl. unten Anm. 41.

11. Verfahren

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3. Der Kontrollmaßstab nach der Rechtsprechung des Verfassungsrates

Der Verfassungsrat erklärt die ihm zur Prüfung vorgelegten Geschäftsordnungsbestimmungen nur dann für verfassungsmäßig, wenn sie der Verfassung, den Organgesetzen und den Gesetzen nicht widersprechen28 • Verfassungsbestimmungen, Organgesetze und Gesetze, die die Aktivitäten des Parlaments regeln, stellen demnach den Maßstab seiner Kontrolle dar; damit entsteht eine Rangordnung. Parlamentarische Geschäftsordnungen stehen danach rangmäßig unter den Organgesetzen, den Ordonnanzen gemäß Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958 und den Gesetzen29 • Eine Verfassungsgarantie der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie, welche dieser rangmäßigen Unterordnung der parlamentarischen Geschäftsordnungen unter das Gesetzesrecht im Wege stehen würde, gibt es in Frankreich nicht.. Eine Verfassungsgarantie im Sinne des Art. 65 Abs. I der griechischen Verfassung v. 1975 (s. Anhang) würde als verfassungsunmittelbare Ermächtigung zur Rechtsetzung dienen, und damit würden Geschäftsordnungen und Gesetzesrecht im Verhältnis zur Verfassung gleichrangig nebeneinander stehen3o • Eine Verfassungsgarantie vermag also nicht nur die autonome Setzung der parlamentarischen Geschäftsordnungen zu konsolidieren, sondern zusätzlich auch die Nachrangigkeit der Geschäftsordnungen gegenüber anderen Rechtsnormen zu verhindern. Im bestehenden Rahmen kann jedoch der Verfassungsrat den Maßstab seiner Kontrolle gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 frei nach unten gestalten, d. h. er kann außer der Verfassung auch andere Regelungen in die Prüfung der parlamentarischen Geschäftsordnungen einbeziehen und somit steht ihm auch die Gestaltung des Kontrollumfangs anheim31 • 28Dazu s. Goose, (Anm. 14), S. 152f. // Avril, Droit parlementaire et droit constitutionnel sous la V· Republique, in: RDP 100, 1984, S. 576; DebbaschIPontier/BourdonIRicci, (Anm. 7), S. 524; FavoreuIPhilip, (Anm. 7), S. 42ff; Gaia, Contröle du r~glement des Assemblees parlementaire, in: RFDC 1993, S. 134; Luchaire, (Anm. 7), S. 1118; Luchaire, Les R~glements des Assemblees parlementaires, in: RDP 109, 1993, S. 303; Maus, Le Parlement sous la V· Republique, 1988, S. 62; Pocher, (Anm. 14), S. 64; Renoux, Contröle du reglement des Assemblees parlementaire, in : RFDC 1992, S. 546f; Rousseau, (Anm. 19), S. 164; Rousseau, Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 110, 1994, S. 132; Turpin, Contentieux constitutionnel, 1986, S. 103; Vier, (Anm. 7), S. 173ff. 29Hierzu vgl. Gaia, (Anm. 28), S. 134; Luchaire, (Anm. 28), S. 303; Renoux, (Anm. 28), S. 546f; Rousseau, (Anm. 28), S. 132. 30 Hierzu vgl. oben B I. 6; vgl. auch Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 187. 31 Hierzu vgl. Roussillon, (Anm. 12), S. 44ff (52). 5 Theodossis

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C. Frankreich

a) Die Ordonnanzen nach Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958 als Kontrollrnaßstab Der Rechtsprechung des Verfassungsrates zufolge dienen also auch die gesetzesvertretenden Verordnungen (Ordonnanzen), die gemäß Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958 (s. Anhang) durch den Ministerrat erlassen wurden und Gesetzeskraft besitzen, als Kontrollmaßstab 32 • Der Verfassungsrat bezieht sie in den "Verfassungsblock (block de la constitutionnali~)"- woran die Geschäftsordnungsregelungen zu messen sind - mit ein und schafft damit Konstellationen, die verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Als in den Jahren 1958 und 1959 die Ordonnanzen aufgrund der Übergangsbestimmung des Art. 92 Abs. 1 Verf. v. 1958 vom Ministerrat erlassen wurden, hatte der Verfassungsrat seine Tätigkeit noch nicht aufgenommen und konnte sie somit nicht überprüfen33 • Der Ausschuß gemäß Art. 91 Abs. 7 Verf. v. 1958 vertrat zwar den Verfassungsrat bis zu seiner Bildung, aber nur in Sachen der Wahlprüfung 34• Deshalb wurden die Ordonnanzen ohne jegliche Kontrolle erlassen, was mit deren Einbeziehung in den sog. Verfassungsblock zur Folge hat, daß die Arbeit des Parlaments mittelbar von (ungeprüften) Dekreten der Exekutive geregelt wird3S • 32Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1966, S. 15; 1969, S. 15; 1992, S. 10; 1992, S. 66ft'; Hierzu vgl. Knaub, (Anrn. 12), S. 1158; Lebreton, (Anrn. 23), S. 449; Luchaire, (Anrn. 8), S. 103; Luchaire, (Anrn. 28), S. 303; Renoux, (Anrn. 28), S. 546f; Vier, (Anrn. 7), S. 179. 33Dazu s. Goose, (Anrn. 14), S. 44f; L. Buerstedde, Kontrolle der rechtsetzenden Gewalt durch Conseil Constitutionnel und Conseil d' Etat nach der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958, in: ]öR N. F. 12, 1963, S. 156f; Schlette, Konzeption des Gesetzes im französischen Verfassungsrecht, in: ]öR N. F. 33, 1984, S. 304. /I EmerilSeurin, Chronique Constitutionnelle et parlementaire Fran~aise. Vie et droit parlementaires, in: RDP 86, 1970, S. 678; Favoreu, Le Conseil Constitutionnel regulateur de I' activite normative de pouvoirs publics, in: RDP 83, 1967; S. 6Of; Favoreu/Philip, (Anrn. 12), S. 73f; Favoreu/Philip, (Anrn. 7), S. 43; Lebreton, (Anrn. 23), S. 45Of; Luchaire, Chroniques Constitutionnelles. Les Lois Organiques devant le Conseil Constitutionnel, in: RDP 108, 1992, S. 394; Paoli, Kommentierung der Artikel 90-92 Verf. v. 1958, in: Luchaire/Conac (Hrsg.) La constitution de la republique fran~aise, 2. Auflage, 1987, S. 1368; Rousseau, (Anrn. 19), S. 101; Vier, (Anrn. 7), S. 179f. 34Dazu s. Art. 91 Abs. 7, Art. 58 und Art. 59 der Verf. v. 1958 (im Anhang). 35Dazu s. Thrpin, (Anrn. 28), S. 75; Vier, (Anrn. 7), S. 181 (198). Darüber hinaus wird es grundSätzlich problematisch, Ordonnanzen durch Organgesetze zu ändern, denn der Verfassungsrat sollte jedes sie abändernde Organgesetz, das ihm gemäß Art. 61 Abs. I Verf. v. 1958 zur Prüfung vorgelegt wird, für verfassungswidrig erklären, insofern die einschlägige Ordonnanz im Kontrollmaßstab stehen würde. Anderenfalls wäre er gezwungen, unterschiedliche Maßstäbe für Organgesetze und für parlamentarische Geschäftsordnungen anzuwenden, obgleich sich beide Kontrollverfahren auf eine und dieselbe Verfassungsbestimmung - d. h. Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 - beziehen, dazu s. a. Thrpin, (Anrn. 28), S. 76; Vier, (Anrn. 7), S. 179.

11. Verfahren

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Folgender Ordonnanzen hat sich der Verfassungsrat immer wieder als Kontrollmaßstab bei der Kontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen bedient.

Die Ordonnanz Nr. 58-1100 vom 17. November 1958 betreffend das Organgesetz über die Arbeitsweise der parlamentarischen Kammern. Die Ordonnanz Nr. 58-1100 kommt häufig in den "visas" der Entscheidungen des Verfassungsrats über die parlamentarischen Geschäftsordnungen vor36 • Zuerst erschien sie in den "visas"der Entscheidung vom 30. Mai 1961 (Nr. 61-12 DC), aber in die Begründung dieser Entscheidung wurde sie nicht einbezogen. Im Gegensatz dazu begründete der Verfassungsrat durch sie seine Entscheidung vom 8. Juli 1966 (Nr. 66-28 DC). Die geprüfte Geschäftsordnungsbestimmung widerspreche, lautete die Entscheidungsbegrüdung diesmal, den Bestimmungen der Ordonnanz Nr. 58-1100, und deshalb sei sie verfassungswidrig 37 • Seitdem gilt die Ordonnanz Nr. 58-1100 unumstritten als wesentlicher Bestandteit des "Verfassungsblocks" bei der Kontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen38 •

Die Ordonnanz Nr. 58-998 vom 24. Oktober 1958 betreffend das Organgesetz über die Wählbarkeitsbedingungen und die Unvereinbarkeiten der Parlamentarier. Einige Geschäftsordnungsbestimmungen der Nationalversammlung und des Senats wurden im Jahre 1959 vom Verfassungsrat für verfassungswidrig erklärt, da sie die Folgen der (Wahl-) Unvereinbarkeit anders als die Ordonnanz Nr. 58-998 regelten. In der Begründung dieser Entscheidung hieß es, die Amtsenthebung als Folge der Unvereinbarkeit gemäß Art. 19 i. V. mit Art. 20 Ordonnanz Nr. 58-998 vom 24. Oktober 1958 schließe andere Folgen "geringer Gewichtigkeit" aus und solche geringfügigen Folgen sahen die beanstandeten Geschäftsordnungsregelungen in Anlehnung an frühere Geschäftsordnungsregelungen vor3 9 • 360azu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1961, S. 17; 1966, S. 15; 1968 S. 15; 1969, S. 15; 1971, S. 19; 1972, S. 17; 1977, S. 18; 1989, S. 39; 1989, S. 40; 1990, S.67; 1990, S. 69; 1990, S. 79; 1991, S. 64; 1991, S. 81; 1992, S. 9f; 1992, S. 66; 1992, S. 126; Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in: ROP 1993, S. 316. Hierzu vgl. Luchaire, (Anm. 8), S. 103; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel et la protection des droits et libertes du citoyen, in: Melanges M. WaHne, Band 11, 1974, S. 569. Zum Text der Ordonnanz Nr. 58-1100 s. Duverger, Constitutions et documents politiques, 10. Auflage, 1986, S. 351ff. 370azu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1966, S. 15f. Hierzu vgl. Becane, Reglement du Senat. A la recherche du temps mäitrise, in: Pouvoirs 44, 1988, S. 88; Luchaire, (Anm. 8), S. 105; Pocher, (Anm. 14), S. 65. 38Hierzu vgl. Luchaire, (Anm. 28), S. 303; Renoux, (Anm. 28), S. 546f. 390azu s. a. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 59f; 1959, S. 62. Hierzu vgl. Beaute , (Anm. 7), S. 117; Favoreul Philip, (Anm. 7), S. 42; Favoreu, (Anm. 33), S. 60; Hamon, Constitution et Pouvoirs Publics, Conseil Constitutionnel, Re5·

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Die Ordonnanz Nr. 58-1066 vom 7. November 1958 betreffend das Organgesetz über die ausnahmsweise Übertragung des Stimmrechts der Parlamentarier. Diese Ordonnanz wurde zum ersten Mal in den "visas"der Entscheidungen vom 31. Juli 1962 (Nr. 62-19 DC) angeführt, und der Verfassungsrat begründete durch sie eine Verfassungsmäßigkeitserklärung 40• Die damit geprüften Geschäftsordnungsbestimmungen des Senats wurden als Ausführungsbestimmungen eines bereits für verfassungsmäßig erklärten Organgesetzes, welches die Ordonnanz ergänzte, durch den Verfassungsrat abgesegnet. Eine Geschäftsordnungsänderung des Senats, wonach die Übertragung des Stimmrechts für geheime Abstimmungen nicht gelten sollte, wurde hingegen im Jahre 1973 für verfassungswidrig erklärt. Der Verfassungsrat führte diesmal aus, daß die vorgelegte GeschäftsordnungsvorschriftArt. 27 Verf. v. 1958 widerspräche 41 • Die Fälle, in denen ausnahmsweise die Übertragung des Stimmsrechts zugelassen ist, seien - hieß es in der Begründung dieser Entscheidung vom 17. Mai 1973 (Nr. 73-49 DC) - in Art. 1 der Ordonnanz Nr. 58-1066 enumerativ aufgezählt, so daß eine weitere Einschränkung dieser Übertragungsmöglichkeiten mittels einer Geschäftsordnungsänderung unzulässig sei42 •

Die Ordonnanz Nr. 59-2 vom 2. Januar 1959 betreffend das Organgesetz über die Finanzgesetze43 • Durch die Entscheidung des Verfassungsrates (Nr. 79110DC) vom 24. Dezember wurde eine Geschäftsordnungsvorschrift der Nationalversammlung zurückgewiesen, da sie Art. 40 der Ordonnanz Nr. 59-2 vom 2. Januar 1959 nicht genügend Rechung trüge. Die Nationalversammlung fügte sich den Hinweisen des Verfassungsrates und modifizierte entsprechend ihre Reglement des Assemplees, Controle, in: Recueil Dalloz 1959, S. 503; Luhaire, (Anm. 8), S. 103. Zum Text der Ordonnanz Nr. 58-998 s. Duverger, (Anm. 36), S. 343ff. 40Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1961, S. 24; 1962, S. 19. 41D~u s. Art. 27 Abs. 3 Verf. v. 1958 (im Anhang). Eine inhaltsgleiche Bestimmung (:"Die Ubertragungen des Stimmrechts sind für geheime Abstimmungen nicht wirksam") ist jedoch in den allgemeinen Vorschriften des Präsidiums der Nationalversammlung zu finden, welche der Kontrolle des Verfassungsrates gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 nicht unterliegt. Hierzu vgl. Berlia, Vie et droit parlementaires, in: RDP 89, 1973, S. 1042ff; Chiroux, Kommentierung der Art. 27 Verf. v. 1958, in: Luchaire/Conac (Hrsg.) La constitution de la republique fran~aise, 2. Auflage, 1987, S. 701f; Genevois, Lajurisprudence du Conseil Constitutionnel. Principes Directeurs, 1988, S. 133f; Luchaire, (Anm. 8), S. 103; Roussillon, (Anm. 12), S. 118f. . 42Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1973, S. 16. 43Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1971, S. 19; 1976, S. 21; 1979, S. 37; 1980, S. 19; 1990, S. 81; 1991, S. 69; 1992, S. 10; 1992, S. 66. Mehr dazu s. Drago, L' execution des decisions du Conseil Constitutionnel, 1991, S. 106f; Favoreu/Philip, (Anm. 7), S. 47; Philip/ Favoreu, Chronique constitutionnelle et parlementaire fran~aise. Iurisprudence du Conseil Constitutionnel, RDP 91, 1975, S. 1326; Roussillon, (Anm. 12), S. 121; Turpin, (Anm. 28), S. 75.

11. Verfahren

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gelung; am 30. Juni 1980 wurde sie (erneut) dem Verfassungsrat vorgelegt und von ihm gebilligt44 • Durch die Entscheidung Nr. 92-309 DC vom 9. Juni 1992 wurden noch einmal Geschäftsordnungsvorschriften aufgrund der Ordonnanz Nr. 59-2 vom Verfassungsrat für verfassungswidrig erklärt; diese Verfassungsratsentscheidung wird als das Ergebnis einer (restriktiven) wörtlichen Auslegung der Ordonnanz durch den Verfassungsrat verstanden4S

b) (Einfache) Gesetze als Kontrollrnaßstab Da die Ordonnanzen Gesetzeskraft haben und durch (einfache) Gesetze modifiziert werden können, können einfache Gesetze ebenfalls zum Maßstab seiner Kontrolle gemacht werden46 • Fr. Luchaire, ehemaliges Mitglied des Verfassungsrates und Juraprofessor, rechtfertigt dies mit dem Verfassungsprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz47 • Das Eingreifen des Verfassungsrates gegen eine gesetzeswidrige Geschäftsordnungsbestimmung könne, so Luchaire, durch Art. 2 Abs. 1 Satz 2 Verf. v. 1958 i. V. mit Art. 6 Sat 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte begründet werden48 • Darüber hinaus würde, da die Resolutionen des Parlaments nicht der Kontrolle des Staatsrates (Conseil d' Etat) unterliegen, ein "toter Winkel" in der richterlichen Kontrolle entstehen, wenn der Verfassungsrat die Gesetzmäßigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen nicht überprüfen würde 49 • Wenn jedoch Gesetzesbestimmungen als Maßstab bei der Kontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen dienen, dann wird die vorgeschriebene "Verfassungskontrolle"zwangsläufig zur Rechtmäßigkeitskontrolle, welche die fran44Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1980, S. 19. Der Senat hingegen befolgte (freiwillig) die Hinweise des Verfassungsrates, und seine die gleiche Materie betreffenden Regelung (Art. 47a RdS) wurde für verfassungsmäßig erklärt, dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1980, S. 20. 4sDazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 68. Hierzu vgl. PhiHp, Contf(~le du R~glement des Assemblees parlementaires, in: RFDC 109, 1992, S. 752ff. 46Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1971, S. 19; 1977, S. 18; 1992, S. 10; 1992, S. 127; Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in: RDP 1993, S. 316. 47Luchaire, (Anm. 8), S. 104f; Luchaire, (Anm. 7), S. 1118. 48Dazu s. Art. 2 Abs. 1 Satz 2 Verf. v. 1958 und Art. 6 Satz 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (im Anhang). 49Luchaire, (Anm. 28), S. 303. Hierzu vgl. Poullain, La pratique fran~aise de la justice constitutionnelle, 1990, S. 70; Turpin, (Anm. 28), S. 75.

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zösische Verfassung von 1958 zwar nicht vorsieht, aber auch nicht untersagt bzw. ausschließt. Anders als die verfassungsergänzenden bzw. verfassungsausführenden Organgesetze, die immer auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden, sind aber die (einfachen) Gesetze aufgrund des Art. 61 Abs. 2 Verf. v. 1958 nicht unbedingt "verfassungsmäßig". Obwohl parlamentarische Geschäftsordnungen erst nach eingehender Verfassungsmäßigkeitskontrolle gelten dürfen, werden sie bei der Verfassungskontrolle der Gesetze gemäß Art. 61 Abs. 2 Verf. v. 1958 nicht in den "Verfassungsblock" miteinbezogenso . Der Verfassungsrat berücksichtigt dabei nur Bestimmungen mit Verfassungsrang, und diesen Rang erkennt er den parlamentarischen Geschäftsordnungen nicht ZUSl. Demnach können Gesetze, welche geschäftsordnungswidrig zustande gekommen sind, gerichtlich nicht beanstandet werden, während Geschäftsordnungsbestimmungen zurückgewiesen werden, insoweit sie einem Gesetz widersprechens2 • Der Verfassungsrat hat ferner mit seiner Entscheidung vom 3. November 1977 (Nr. 77-86 DC) erklärt, er habe Geschäftsordnungsbestimmungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen, auch wenn sie mit einem Gesetz übereinstimmen, das jedoch vorher noch nicht geprüft worden warS 3 • Damit entzog er sich dem Manko, wegen Gesetzmäßigkeit einen Verfassungsbruch hinnehmen zu müssen, und sicherte seine Domäne, parlamentarische Geschäftsordnungen in jeder Hinsicht kontrollieren zu können.

50Hienu vgl. Goose, (Anm. 14), S. 142. // Avril, (Anm. 28), S. 577f; Favoreu/Philip, (Anm. 7), S. 43; Knaub, (Anm. 12), S. 1162; LaportelThlard, Droit parlementaire, 1986, S. 39; Maus, (Anm. 28), S. 62. 51Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1975, S. 57; 1978, S. 31; 1979, S. 29; 1980, S. 4lf; 1981, 1982, S. 89; 1984, S. 19; 1989, S. 81. Hienu vgl. Avril, (Anm. 28), S. 576ff; Avril/Gicquel, (Anm. 8), S. 12; Favoreu/Philip, (Anm. 7), S. 47; Genevois, (Anm. 41), S. 126; Lebreton, (Anm. 23), S. 446ff; Luchaire, (Anm. 8) S. 139ff; Luchaire, (Anm. 7) S. 1118f; Philip/ Favoreu, (Anm. 43), S. 1326; Philip, Chronique constitutionnelle fran~aise. La Jurisprudence financiere. Les saisines printernps 1978, in: RDP 95, 1979, S. 504f; PrelotIBoulouis, Institutions politiques et droit constitutionnel, 10. Auflage, 1987, S. 632; Rousseau, Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 108, 1992, S. 68. . 52Trotz Rechtsprechung des Verfassungsrates schließt ein Teil des Schrifttums die Einbeziehung der parlamentarischen Geschäftsordnungen in die (formelle) Verfassungsmäßigkeitskontrolle der (einfachen) Gesetze nicht aus. Hienu vgl. Avril, (Anm. 28), S. 577; Rousseau, (Anm. 19), S. 102f; Roussillon, (Anm. 12), S. 54; Turpin, (Anm. 28), S. 75f. 53Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1977, S. 18; Avril/Gicquel, Chroniques constitutionnels (1976-1982), 1983, S. 16; Luchaire, (Anm. 7), S. 1123; Luchaire, (Anm. 28), S. 303; Rousseau, (Anm. 19), S. 164.

III. Ziele und Resultate

m.

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Die Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den französischen Verfassungsrat - Ziele und Resultate

1. Entscheidungen des Verfassungsrates zum Schutz der einzelnen Abgeordneten bzw. der Parlamentsminderheiten

Im französischen Schrifttum werden eine Reihe von Entscheidungen des Verfassungsrates angeführt, welche im Rahmen der Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen den einzelnen Abgeordneten bzw. Parlamentsminderheiten zugute kamen l . Als erste von ihnen kommt die Entscheidung des Verfassungsrates vom 24. Juni 1959 Nr. 59-2 De in Betracht2• Im Rahmen dieser Entscheidungen hat der Verfassungsrat Folgendes festgestellt: Gemäß einer Geschäftsordnungsregelung der Nationalversammlung sollte die Erklärung über die politischen Ziele, die für die Bildung der Fraktionen erforderlich wäre, der Prüfung des Präsidiums unterworfen werden. Bis aber das Plenum darüber entscheiden würde, könnte demgemäß das Präsidium die Veröffentlichung einer Erklärung aussetzen und damit die Fraktionsbildung verhindern, wenn nach seiner Auffassung die vorgelegte Erklärung Art. 4 Verf. v. 1958 widersprechen würde 3 • Der französische Verfassungsrat verwarf diese Geschäftsordnungsregelung als verfassungswidrig. Die Prüfung, ob die politischen Ziele einer Fraktion bzw. einer Gruppe den Grundsätzen der Volkssouveranität und der Demokratie zuwiderlaufe oder nicht, könne, so der Verfassungsrat, nicht nur der Nationalversammlung überlassen werden, denn somit könnte willkürlich die Bildung von Fraktionen verhindert werden4 • 1 Dazu s. Beauti, L' Antinomie de 1a Suprematie de la Constitution et de l' Autonomie Reglementaire des Assemblees, in : Politique 6, 1963, S. 117f; Genevois, La jurisprudence du Conseil Constitutionnel. Principes Directeurs, 1988, S. 133f; Hamon, Constitution et Pouvoirs Publics, Conseil Constitutionnel, R~glement des Assemblees, Contr81e, in: Reeueil Dalloz, 1959, S. 503; Favoreu/Philip, Les grandes decisions du Conseil Constitutionnel, 6. Auflage, 1991. S. 43f; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980, S. 106; Rousseau, Droit du contentieux constitutionnel, 1993, S. 165; Vier, Le contr81e du Conseil Constitutionnel SUT les reglements des assemblees in: RDP 88, 1972, S. 205f. /I Favoreu, The Constitutional Review and Parliament in France, in: Landfried (Hrsg.) Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 89. 2Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 58ft'. 3Dazu s. Art. 4 der Verf. v. 1958 ..Die politischen Parteien und Gruppen wirken bei den Wahlentscheidungen mit. Thre Bildung und die Ausübung ihrer Tätigkeit sind frei. Sie haben die Grundsätze der Volkssouveränität und der Demokratie zu achten". 4Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 58. Hierzu vgl. Beauti, (Anm. 1), S. 117; Favoreu/Philip, (Anm. 0, S. 46; Favoreu/Philip, Le Conseil Con-

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Auch wenn in diesem Fall kein (direkter) Verstoß gegen eine Verfassungsbestimmung festzustellen war, trat der Verfassungsrat einem eventuellen Mißbrauch des vorgesehenen Prüfungsverfahrens durch die jeweilige Mehrheit mit einer Ablehnung entgegen. Zwölf Jahre später erklärte er hingegen eine Geschäftsordnungsregelung des Senats, die die Fraktionsbildung unter anderem von der Bekanntmachung einer Erklärung über die Ziele und Mittel der Fraktion abhängig machte, für verfassungmäßig5• Diesmal begründete der Verfassungsrat seine Entscheidung damit, daß die vorgeschriebene Pflicht mit keinerlei Kontrolle über den Inhalt der Erklärungen verbunden war. Obwohl der Verfassungsrat sich das erste Mal mit einer Kassation und das zweite Mal mit einer Affirmation äußerte, verfestigte er mit beiden Entscheidungen das Recht der Parlamentarier, sich frei in Fraktionen zusammenzuschließen. Das Recht der einzelnen Abgeordneten, gemäß Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 Fragen an die Regierung zu richten, schien der Verfassungsrat mit seiner Entscheidung vom 20. Novemer 1969 konsolidieren zu wollen6 • Darin sprach er eine Verfassungswidrigkeitserklärung aus, nachdem er die Bestimmung des Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 ausgelegt und aufgrunddessen entschieden hatte, daß das Fragerecht nicht den Parlamentsorganen, sondern ausschließlich den einzelnen Abgeordneten zustehe. Drei zur Prüfung vorgelegte Geschäftsordnungsbestimmungen der Nationalversammlung, wonach es dem Präsidenten eines ständigen Ausschusses erlaubt war, im Namen des Ausschusses nach einer Sonderentscheidung des Ausschusses bzw. aus Anlaß einer Petition Fragen an die Regierung zu richten, wurden somit (bzw. mit der Entscheidung Nr. 69-37 DC) für verfassungswidrig erklärt8 • stitutionnel, 1978, S. 59; Genevois, (Anrn. 1), S. 133; Hamon, (Anrn. 1), S. 503; Knaub, Le Conseil Constitutionnel et la r6gulation des rapports entre les organes de l' Etat, in: RDP 99, 1983, S. 1162; Seurin, Kommentierung des Art. 4 franz. Verf. v. 1958, in: Luchaire/Conac (Hrsg.) La constitution de la r6publique fran~aise, 2. Auflage, 1987, S. 214; Vier, (Anrn. 1), S. 206. 5Dazu s. Entscheidungen vom 18. Mai 1971 (Nr. 71-42 DC), in: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1971, S. 19f. Hierzu vgl. CotteretlEmeri, Chronique Constitutionnelle et Parlementaire Fran~ais, in: RDP 88, 1972, S. 419ff; Favoreu/Philip, (Anrn. 1), S. 46; Genevois, (Anrn. 1), S. 133; Luchaire, Le Conseil Constitutionnel et la protection des droits et libert6s du citoyen, in: M61anges M. Waline, Band 11, 1974, S. 569; Rousseau, (Anrn. 1), S. 165; Seurin, (Anrn. 4), S. 215. 6Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1969, S. 15ff. Hierzu vgl. EmerilSeurin, Chronique Constitutionnelle et parlementaire Fran~aise. Vie et droit parlementaires, in: RDP 86, 1970, S. 681; Turpin, Contentieux constitutionnel, 1986, S. 103; Vier, (Anrn. 1), S. 184. 7Dazu s. Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 ,,Eine Sitzung wöchentlich ist vorrangig den Fragen der Mitglieder des Parlaments und den Antworten der Regierung vorbehalten". 8Dazu s. a. unten IV.l

III. Ziele und Resultate

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Die Nationalversammlung fügte sich danach der Entscheidung des Verfassungsrats. Sie befolgte die Auslegung des Verfassungsrates über Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 und änderte ihre Geschäftsordnung entsprechend ab. Die für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen wurden aus dem Text der Geschäftsordnung gestrichen9 • Obwohl durch diese Verfassungsratsentscheidung eine Verfassungsbestimmung verbindlich für das Parlament auslegte wurde - die Rechtsprechung des Verfassungsrats wirkte damit restriktv auf die Geschäftsordnungsautonomie der Nationalversammlung - , zählt auch sie gemäß der (oben erwähnten) Einteilung des französischen Schrifttums zu den Entscheidungen des Verfassungsrates, welche dem Schutz des einzelnen Abgeordneten vor Übergriffen des Parlaments dienten 10.

2. Entscheidungen des Verfassungsrates zugunsten der Prärogativen des Parlaments bzw. der Parlamentarier

Der französische Verfassungsrat nutzte ferner seine Kontrollbefugnis gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958, um geschäftsordnungsrechtliche Einschränkungen der Vorrechte des Parlaments als Verfassungsinstitution zu vereiteln. Mit der Entscheidung Nr. 59-2 oe stellte er fest, daß die Nationalversammlung in beiden Fällen, in denen ein Öffentlichkeitsausschluß (von einem Zehntel ihrer Mitglieder oder vom Premierminister) verlangt wird, mittels einer formellen Abstimmung über die Zweckmäßigkeit dieses Vorgehens urteilen kannlI. Damit verwarf er die ihm zuvor zur Prüfung vorgelegte Geschäftsordnungsregelung der Nationalversammlung als verfassungswidrig, welche beide Fälle des Öffentlichkeitsausschlusses differenzierte 12 • Ferner gestaltete der Verfassungsrat damit den 9Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1970, S. 21. 10 Hierzu vgl. Verfassungsratsentscheidung vom 17. Mai 1973 (Nr. 73-49 DC) in: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1973, S. 15ff. l1Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 58. Hierzu vgl. Beaute, (Anm. 1), S. 116f; Favoreu/Philip, (Anm. 4), S. 59; Favoreu/Philip, (Anm. 1), S. 46; Genevois, (Anm. 1), S. 132f; Hamon, (Anm. 1), S. 504; Turpin, (Anm. 6), S. 103; Vier, (Anm. 1), S. 205. 12Die zur Prüfung vorgelegte und für verfassungswidrig erklärte Geschäftsordnungsbestimmung lautete: "Die Versammlung tagt auf Verlangen des Premierministers von Rechts wegen unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Auf Verlangen eines Zehntels ihrer Mitglieder kann sie mittels einer formellen Abstimmung und ohne Debatte entscheiden, unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu tagen". Der Text stammt aus Beaute, (Anm. 1), S. 116, die deutsche Übersetzung vom Verfasser.

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Regelungsgehalt des Art. 33 Abs. 2 Verf. v. 1958 näher 13 • Demgemäß hat das Parlament forthin auf Verlangen des Premierministers nicht von Rechts wegen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu tagen. Die daraufhin modifizierte Geschäftsordnungsbestimrnung sah ebenfalls die vorgeschriebene Abstimmungsmöglichkeit für beide Fälle vor l4 • Demnach lautete Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GOdNV: "Die Versammlung kann entweder auf Antrag des Premierministers oder eines Zehntels ihrer Mitglieder mittels einer formellen Abstimmung und ohne Debatte entscheiden, unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu tagen."lS Durch dieses Urteil bewahrte der Verfassungsrat mithin die Nationalversammlung davor, eine ihr zukommende verfassungsrechtliche Prärogative geschäftsordnungsrechtlich einzuschränken bzw. zu relativieren. Zum gleichen Zweck verwarf er mit derselben Entscheidung (Nr. 59-2 DC) eine weitere Geschäftsordnungsregelung der Nationalversammlung, welche das Verfahren zur Schließung der außerordentlichen Sitzungen gemäß Art. 29 Verf. v. 1958 regelte, ohne jedoch (nach Auffassung des Verfassungsrates) den Besonderheiten des Art. 29 Abs. 2 Verf. v. 1958 Rechnung zu tragen l6 • Der Verfassungsrat sah die Möglichkeit einer Verfassungsumgehung bzw. Verfassungsverletzung, insofern als die gerügte Geschäftsordnungsregelung nicht beide Fälle klar voneinander trennte, nämlich das Schließungsdekret einer außerordentlichen Sitzung auf Verlangen des Premierministers und das Schließungsdekret einer außerordentlichen Sitzung auf Verlangen der Parlamentarier l7 • Nach Einschätzung des Verfassungsrats bestand dadurch die Gefahr, daß die Nationalversammlung die beanstandete Geschäftsordnungsregelung auf beide Fälle hätte anwenden können. Er befürchtete, daß somit das Vorrecht, das der

13Dazu s. Art. 33 Abs. 2 Verf. v. 1958(in der Übersetzung: Art. 33 Satz 3 Verf. v. 1958) ,,Jede Kammer kann auf Verlangen des Premierministers oder eines Zehntels ihrer Mitglieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagen". 14Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 63. 1SDer Text des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GOdNV stammt aus Duverger, Constitutions et docwnents politiques, 10. Auflage, 1986, S. 402, die deutsche Übersetzung vom Verfasser. 16Dazu s. Art. 29 Verf. v. 1958 (im Anhang). Die angefochtene Geschäftsordnungsregelung hatte gelautet "Die Lesung des Schließungsdekrets einer außerordentlichen Sitzung stellt sofort jede Diskussion ein. Der Präsident hat unverzügli~p die Sitzung zu schließen". Der Text stammt aus Beaut6, (Anm. 1), S. 116, die deutsche Ubersetzung vom Verfasser. 17Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 58. Hierzu vgl. Beaut6, (Anm. 1), S. I 15f; FavoreuIPhilip, (Anm. 4), S. 59; FavoreuIPhilip, (Anm. 1), S. 46; Genevois, (Anm. 1), S. 132; Hamon, (Anm. 1), S. 504; Knaub, (Anm. 4), S. 1159; Vier, (Anm. 1), S. 205.

III. Ziele und Resultate

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Nationalversammlung kraft Art. 29 Abs. 2 Verf. v. 1958 zukam, ausgehöhlt werden könnte 18 • Ebenfalls eine Prärogative des Parlaments und der Parlamentarier, nämlich das Recht, Änderungsanträge beim Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 44 Abs. 1 Verf. v. 1958 zu stellen, schien der Verfassungsrat mit seiner Entscheidung vom 17. Mai 1973 (Nr. 73-49 DC) wahren zu wollen 19 • Zur Prüfung wurde ihm eine Geschäftsordnungsänderung des Senats vorgelegt, welche er als verfassungswidrig verwarf, insoweit sie eine zusätzliche Bedingung an die Zusatzanträge (sous-amendements) hatte knüpfen wollen2o • Gemäß der verworfenen Regelung wären Zusatzanträge nur dann zulässig gewesen, wenn sie zu keiner Entartung des Änderungsrechts geführt hätten. Der Verfassungsrat befand aber, daß es dafür keine objektiven Kriterien geben könne. Diese Geschäftsordnungsänderung hätte zur Aufhebung des Änderungsrechts führen können,lautete 1973 die Entscheidung des Verfassungsrates, deshalb wurde die vorgelegte Geschäftsordnungsregelung zurückgewiesen, und nach der Entscheidung des Verfassungsrates wurde der einschlägige Textteil aus dem Wortlaut der Vorschrift gestrichen. Mittels der zurückgewiesenen Geschäftsordnungsänderung wollte der Senat eigentlich eine Regulierung der Sperrabstimmungen seitens der Regierung gegen Zusatzanträge der Parlamentarier (auf der Grundlage des Art. 44 Verf. v. 1958) erreichen, aber der Verfassungsrat wollte die somit entstehende Restriktion der Änderungsrechts der Parlamentarier nicht hinnehmen21 • Im Jahre 1986 übte er hingegen Zurückhaltung gegenüber dem Selbstorganisationsrecht des Senats, als letzterer wiederum mittels einer (restriktiven) Geschäftsordnungsänderung Obstruktionen im Gesetzgebungsverfahren Einhalt gebieten wollte und die Bedingungen, an die die FesteIlung seiner Beschlußfähigkeit gebunden war, erschwerte22 • Mit der Erklärung, die geprüfte Geschäftsord18Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 63. Hierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 132. 19Dazu s. Art. 44 Verf. v. 1958 (im Anhang). 20Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1973, S. 15ff. 21Hierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 131 (135); Maus, Kommentierung der Art. 44 franz. Verf. v. 1958, in: LuchaireiConac (Hrsg.) La constitution de la republique fran\!aise, 2. Auflage, 1987, S. 869; Pocher, Le Senat, 2. Auflage, 1983, S. 65. Hier ist vorerst anzumerken, daß das Vetorecht der Regierung gemäß Art. 44 Verf. v. 1958 (bzw. die Sperrabstimmungen) aufgrund der Erfahrungen der IV. Republik eingeführt wurde. Die Verfassungsväter wollten dadurch den Mißbrauch der Änderungsanträge durch die Parlamentarier und somit Obstruktionen im Gesetzgebungsverfahren vereiteln. Eingehend zu Sperrabstimmungen s. unten 111.3 b) 22Dazu s. Entscheidung vom 3. Juni 1986 (Nr. 86-206 DC), in: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1986, S. 43ff.

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nungsregelung widerspräche keiner Verfassungsbestimmung - das Recht der Parlamentarier, die Beschlußfähigkeitsfeststellung anfordern zu können, werde dadurch nicht beeinträchtigt - ließ der Verfassungsrat die geprüfte Geschäftsordnungsänderung des Senats gelten23 • Allerdings machte er in diesem Zusammenhang keine weiteren Ausführungen, wie z. B. daß dieser Regelungsgegenstand der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie immanent wäre was die Geschäftsordnungsautonomie des Senats auf dem Gebiet hätte konsolidieren können. Mit derselben Entscheidung (Nr. 86-206 DC) billigte jedoch der Verfassungsrat eine Geschäftsordnungsergänzung des Senats, wonach für die Zusatzanträge (sous-amendements) bzw. für deren Einbringen und Diskussion gleiche Bedingungen wie für die Änderungsanträge gemäß Art. 44 Abs. 1 Verf. v. 1958 (s. Anhang) gelten sollten. Mit dieser Geschäftsordnungsregelung wollte der Senat (erneut) faktischen Einschränkungen des Änderungsrechts der Parlamentarier zuvorkommen, die durch eine extensive Ausübung des Vorrechts der Regierung aus Art. 44 Abs. 2 Verf. v. 1958 (bzw. der Sperrabstimmungen) hätten entstehen können. Im Hinblick auf die zahlreichen Einschränkungen, die die Rechte der Parlamentarier durch die Verfassung von 1958 erfahren hatten, billigte diesmal der Verfassungsrat die ihm zur Prüfung vorgelegte Geschäftsordnungsergänzung, um mögliche Restriktionen des parlamentarischen Änderungsrechts auf der Grundlage des Art. 44 Abs. 2 Verf. v. 1958 zu kompensieren, auch wenn dadurch das Vetorecht der Regierung, d. h. die Sperrabstimmungen, hätte relativiert werden können. Im bestehenden Rahmen gilt das Änderungsrecht der Parlamentarier als die einzige reale Möglichkeit für sie, an der Gesetzgebung mitzuwirken, und das Urteil aus dem Jahre 1986 könnte mithin als das Ergebnis einer Interessenabwägung angesehen werden, die diesmal zugunsten der Parlamentarier bzw. des Parlaments ausfiel 24 • Ebenfalls eine Beeinträchtigung des Änderungsrechts der Parlamentsmitglieder schien der Verfassungsrat verhindern zu wollen, als er im Jahre 1990 eine Geschäftsordnungsänderung des Senats zurückwies, wonach ein kürzeres Verfahren bei der Annahme eines Gesetzes durch den Senat erlaubt gewesen wäre. Die Möglichkeit einer Abstimmung im Senatsplenum ohne Diskussion nach der Vorlage des ständigen Ausschusses verstieß aber nach Auffassung des Verfassungsrates (unter anderem) gegen Art. 44 Abs. 1 Verf. v. 1958 und wurde zurückgewiesen; ausschlaggebend dafür war jedoch die Befürchtung des 23Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1986, S. 44f. Hierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 134f. 24Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1986, S. 44f; s. a. KimmeI, Die Nationalversammlung in der V. französischen Republik, 1983, S. 92ff.l/ Genevois, (Anm. 1), S. 136f; Maus, (Anm. 21), S. 863ff.

III. Ziele und Resultate

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Verfassungsrates, daß dadurch die Macht der ständigen Ausschüsse hätte ausgedehnt werden können25 • Im Jahre 1992 bewilligte hingegen der Verfassungsrat eine Geschäftsordnungsregelung zur Beschleunigung der Diskussionen im Senat, diesmal allerdings unter dem (expliziten) Vorbehalt, daß dadurch das Änderungsrecht der Parlamentarier und die Prärogativen der Regierung nicht beeinträchtigt werden würden26 •

3. Die Entscheidungen des Verfassungsrates zum Schutz der Regierungsprärogativen

Abgesehen von den oben behandelten, zugunsten der Parlamentarier bzw. des Parlaments ausgefallenen Entscheidungen des Verfassungsrates galt die Mehrzahl der Verfassungswidrigkeitserklärungen, mit denen der französische Verfassungsrat durchaus in die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie eingriff, dem Schutz der verfassungsrechtlichen Prärogativen der Regierung.

a) Die Entscheidungen des Verfassungsrates im Jahre 1959 Vor allem durch die ersten Entscheidungen des Verfassungsrates im Jahre 1959 wird diese Tendenz manifest. Mit den Entscheidungen Nr. 59-2 DC bzw. Nr. 59-3 DC wurden die Geschäftsordnungsregelungen beider Kammern bezüglich der Entschließungsanträge (propositions de r6solution) für verfassungswidrig erklärt27 • Nach Auffas2SDazu s. Entscheidung vom 7. November 1990 (Nr. 90-278 DC), in: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1990, S. 80. Hierzu vgl. unten 111.3 c); Favoreu/ Philip, (Anm. 1), S. 755ff; Rousseau, Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 108, 1992, S. 67. 26Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 13f. Hierzu vgl. Renoux, ContrÖle du reglement des Assemblees parlementaire, in: RFDC 1992, S. 550. 27Hierzu vgl. Goose, Die Normenkontrolle durch den französischen Conseil Constitutionnel, 1973, S. 170; Ziebura, Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem, 1960, S. 227. /I Avril/Gicquel, L' apport de la revision a la proc&lure parlementaire, in: RFDC 11, 1992, S. 453ff; Beaute, (Anm. 1), S. 112f; Denis, L' Application des nouvelles R~gles du Proc&lure parlementaire, Etablies par la Constitution de 1958, in: RFSP 10, 1960, S. 9Olf; Favoreu/Philip, (Anm. 4), S. 60; Genevois, (Anm. 1), S. 127f; Hamon, (Anm. 1), S. 505ff; Hamon, Quand les assemblees parlementaire ont des juges. Quel-

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sung des Verfassungsrates könnten solche Anträge von den Kammern dazu benutzt werden, um über die Verfassung hinaus die Regierung zur Verantwortung zu ziehen bzw. eine Art Kontrolle über deren Politik auszuüben28 • In diesem Zusammenhang merkte der Verfassungsrat an, daß die Parlamentarier aufgrund der ihnen kraft Verfassung zukommenden Gesetzesinitiative nicht zu Entschließungsanträgen ennächtigt wären, insofern deren Regelungsgehalt über die Arbeitsweise bzw. die Disziplin im Parlament hinausgehen würde. Auch wenn somit der Verfassungsrat den Kammern einen autonomen Regelungsbereich hätte einräumen wollen, ist hierzu zu vennerken, daß die interne Arbeitsweise der Kammern nicht immer klar von deren Rechtsverhältnis zur Regierung bzw. zu den anderen Verfassungsorganen zu trennen ist29 • Mit denselben Entscheidungen wies der Verfassungsrat eine Reihe von Geschäftsordnungsvorschriften zurück, die grundsätzlich die interne Arbeitsweise der Kammern betrafen, da er darin den Versuch des Parlaments sah, seine Befugnisse über die Verfassung hinaus auf Kosten der Regierung auszudehnen und ihr Pflichten aufzuerlegen. Eine dieser Regelungen war die Geschäftsordnungsvorschrift des Senats, die die Kammer nach einer mündlichen Anfrage mit Debatte zu einer Abstimmung ennächtigte30 • Darin sah der Verfassungsrat die Möglichkeit einer unzulässigen Kontrolle über die Regierung und verwarf die Geschäftsordnungsregelung als verfassungswidrig 3!. Ebenfalls wegen angenommener Verfassungswidrigkeit wurde eine weitere Geschäftsordnungsregelung des Senats zurückgewiesen, wonach die Genehmigung des Protokolls jeder Sitzungsperiode in der letzten Sitzung erfolgen sollte32 • Nach Auffassung des Verfassungsrates könnte dadurch unzulässig die Dauer einer außerordentlichen Sitzungsperiode verlängert werden, welche durch Art. 29 und 30 Verf. v. 1958 fixiert wurde 33 • Der Senat fügte sich dem Urteil des Ver-

ques reflexions sur l' 6quilibre constitutionnel, in: Reeueil Dalloz, 1959, S. 257; Hauriou/Gicquel, Droit constitutionnel et institutions politiques, 7. Auflage, 1980, S. 1069. 28Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 59; 1959, S. 6lf. 29Hierzu vgl. Baufwn~, La r~habilitation des resolutions: une n~essite constitutionelle, in: RDP 1994, S. 1411; Favoreu/Philip, (Anm. 1), S. 46; Luchaire, (Anm. 1), S. 105. 30 Hierzu vgl. Beaute, (Anm. 1), S. 112; Genevois, (Anm. 1), S. 127f; Hamon, (Anm. 1), S. 504ft'; Pocher, (Anm. 21), S. 64; Roche, Le S~nat de la R~publique dans la Constitution de 1958, in: RDP 75, 1959, S. 1174; Rousseau, (Anm. 1), S. 28 (165). 31 Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 6lf. 32Hierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 129; Hamon, (Anm. 1), S. 504. 33Dazu s.Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 62. Hierzu vgl. Art. 29 Verf. v. 1958 und Art. 30 Verf. v. 1958 (im Anhang).

III. Ziele und Resultate

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fassungsrates und verpflichtete sich durch eine Neuregelung, am Anfang jeder Sitzungsperiode das Protokoll der vorherigen zu genehmigen34• In bezug auf eine andere Geschäftsordnungsregelung des Senats, wonach im Falle der Ablehnung des Protokolls die Diskussion bzw. die Beratung darüber auf den Anfang der folgenden Sitzung verlegt werden könnte, stellte der Verfassungsrat ebenfalls eine Verfassungsumgehung fest35 • Nach seiner Auffassung hätte der Senat durch den Mißbrauch der beanstandeten Geschäftsordnungsregelung die Prärogative der Regierung bei der Festlegung der Tagesordnung bzw. die sog. prioritäre Tagesordnung aus Art. 48 Abs. 1 Verf. v. 1958, vereiteln können36 • Die betreffende Geschäftsordnungsregelung wurde somit zurückgewiesen37 • Einen Verstoß, diesmal gegen Art. 43 Verf. v. 1958, rügte der Verfassungsrat, insoweit als Geschäftsordnungsvorschriften der Nationalversammlung diese dazu ermächtigten, Gesetzesentwürfe bzw. Gesetzesvorschläge auch von einem ständigen Ausschuß behandeln lassen, obwohl sich damit zuvor schon ein zu diesem Zweck geschaffener Ausschuß befaßt hatte 38 • Die einst beim Gesetzgebungsverfahren dominierenden ständigen Ausschüsse erfuhren durch Art. 43 Verf. v. 1958 eine erhebliche Machtrninderung. Der Wortlaut der obigen Verfassungsbestimmung kann dergestalt interpretiert werden, daß die Behandlung eines Gesetzesentwurfes bzw. eines Gesetzesvorschlages durch einen ständigen Ausschuß nicht angängig ist, nachdem der Gesetzesentwurfbzw. der Gesetzesvorschlag einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Ausschuß überwiesen worden ist39 • Der Verfassungsrat verzichtete jedoch in seinem Urteil darauf, den methodischen Vorgang seiner Entscheidung zu erläutern bzw. darzustellen, wie er zu seinem Entschluß kam. 34Dazu s. Art. 33 Abs. 4 GOdS "Am Anfang jeder Sitzungsperiode legt der Präsident dem Senat das Protokoll der vorherigen Sitzungsperiode zur Genehmigung vor". Der Text stamt aus Pocher, (Anm. 21), S. 243, die deutsche Übersetzung vom Verfasser. 35Hierzu vgl. Beaut6, (Anm. 1), S. 113f; B&:ane, R~glement du Senat. A la recherche du temps mrutrise, in: Pouvoirs 44, 1988, S. 88; Genevois, (Anm. 1), S. 129; Hamon, (Anm. 1), S. 504. 36Dazu s. Art. 48 Abs. 1 Verf. v. 1958 (im Anhang). 37Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 62. 38Dazu s. Art. 43 Verf. v. 1958: ,,(I) Die Gesetzesentwürfe bzw. Gesetzesvorschläge werden auf Verlangen der Regierung oder der mit ihnen befaßten Kammer den eigens zu diesem Zweck geschaffenen Ausschüssen überwiesen. (11) Die Gesetzesentwürfe bzw. Gesetzesvorschläge, für die ein solches Verlangen nicht vorgebracht wurde, werden einem der ständigen Ausschüsse überwiesen, deren Zahl auf 6 in jeder Kammer begrenzt ist". 39Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 59. Hierzu vgl. unten III.3 c); Kimmel, (Anm. 24), S. 218ff. /I Hamon, (Anm. 1), S. 503; Hamon, Kommentierung der Art. 43 Verf. v. 1958, in: LuchaireiConac (Hrsg.) La constitution de la republique fran~aise, 2. Auflage, 1987, S. 843ff.

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In einer Geschäftsordnungsvorschrift der Nationalversammlung, welche die Redezeit der Regierungsmitglieder auf fünf Minuten festsetzte, sah der Verfassungsrat (Entscheidung Nr. 59-2 DC) einen direkten Verstoß gegen Art. 31 Verf. v. 1958 40 • Die Intervention der Regierungsmitglieder, so der Verfassungsrat, sei aufgrund des Art. 31 Verf. v. 1958 uneinschränkbar41 • Geschäftsordnungsrechtliche Fristen des Senats, innerhalb derer die Regierungsmitglieder die ihnen überwiesenen Petitionen zu beantworten hatten, wurden ebenfalls mit der Entscheidung Nr. 59-3 DC zurückgewiesen, ohne daß jedoch der Verfassungsrat diesmal die Verfassungsbestimmungen angab, gegen welche die beanstandeten Geschäftsordnungsregelungen des Senats verstießen 42 •

b) Die Entscheidungen des Verfassungsrates bis zum Jahre 1968 Auch nach seinen ersten Entscheidungen blieb das Hauptanliegen des Verfassungsrates, die verfassungsrechtlichen Prärogativen der Regierung vor geschäftsordnungsrechtlichen Restriktionen zu bewahren. Zwischen den Jahren 1959 und 1968 - nach 1968 strebten beide Kammern umfassendere Geschäftsordnungsänderungen an - setzte der Verfassungsrat seine "strenge Verfassungsmäßigkeitskontrolle" fort und brachte zahlreiche Geschäftsordnungsänderungen der Nationalversammlung bzw. des Senats zu Fall. Bereits am 15. Januar 1960 versagte der Verfassungsrat mit seiner Entscheidung Nr. 59-5 DC einer Geschäftsordnungsänderung die Geltung, da nach seiner Auffassung damit das Vorrecht der Regierung aus Art. 44 Abs. 3 Verf. v. 1958 hätte eingeschränkt werden können43 • Gemäß Art. 44 Abs. 3 Verf. v. 1958 kann die Regierung Sperrabstimmungen (vote bloqu~) in der Nationalversammlung bzw. im Senat veranlassen44 • Sperrabstimmungen stellen einen wesentlichen Bestandteil der im Jahre 1958 voll4OS. Art. 31 Verf. v. 1958: "Die Mitglieder der Regierung haben Zutritt zu den beiden Kammern. Sie sind auf ihr Verlangen anzuhören. Sie können von den Regierungskommissaren begleitet werden". 41Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 58. Hierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 129; Vier, (Anm. 1), S. 188; Thrpin, (Anm. 6), S. 102. 42Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 62. Hierzu vgl. Entscheidung des Verfassungsrates vom 20. November 1969 (Nr. 69-37 DC), in: Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1969, S. 16f; Hamon, (Anm. 1), S. 504; Luchaire, (Anm. 1), S. 105. 43Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1960, S. 15f. 44Dazu s. Art. 44 Abs. 3 Verf. v. 1958: "Wenn die Regierung es verlangt, äußert sich die befaßte Kammer durch eine einzige Abstimmung über die gesamte zur Beratung stehende

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zogenen "Rationalisierung des Parlamentarismus" dar. Sie sind einfach einzusetzen und erlauben es der Regierung, die von ihr gewünschte Fraktionsdisziplin herzustellen, bzw. unerwünschte Änderungsanträge und Forderungen seitens der Nationalversammlung abzuwehren, ohne die schwere Waffe der Vertrauensfrage gemäß Art. 49 Verf. v. 1958 ins Spiel bringen zu rnüssen45 • Nach der Verfassungsratsentscheidung Nr. 59-5 DC gilt diese Prärogative der Regierung uneingeschränkt. Der Verfassungsrat stellte deren Handhabung der Regierung anheim, auch wenn dadurch die Parlamentarier gezwungen werden könnten, über unterschiedliche Fragen in einer Abstimmung zu entscheiden. Mit anderen Worten: Sperrabstimmungen können der Regierung als Pressionsmittel zum Durchbringen von Gesetzesvorlagen dienen. Die Regierung kann sie zu jedem Zeitpunkt der Diskussion - und nach der Verfassungsratsentscheidung Nr. 59-5 DC sogar bezüglich der gesamten Vorlage und bezüglich einzelner Teile der Vorlage (tout et partie) - erzwingen46 • Somit kann sie eine Sperrabstimmung für ein- und denselben Text mehrfach (in bezug auf einzelne Artikel und/oder in bezug auf das Ganze bei verscheidenen Lesungen) verlangen 47 • Durch häufige Einsetzung der Sperrabstimungen kann jedoch das Änderungsrecht der Parlamentarier entscheidend eingeschränkt werden. Damit werden die Parlamentarier faktisch ihres Rechts beraubt, Korrekturen bzw. wichtige Nuancen im Gesetzestext anzubringen. "Geht man (... ) davon aus, daß sich die Mitwirkung des Parlaments bei der Gesetzgebung in aller Regel auf eine Korrektur der Regierungsvorlagen beschränkt, so ist die potentielle Bedrohung der parlamentarischen Möglichkeiten im Bereich der Gesetzgebung durch eine mißbräuchliche Anwendung des an sich im Kontext des französischen Parteiensystems und der spezifischen Parlamentstradition sinnvollen und notwendigen Instruments des" vote bloque"nicht zu übersehen"48. Deshalb wollte die Nationalversammlung mit der einschlägigen Geschäftsordnungsänderung der Regierung auf diesem Gebiet Grenzen setzen, aber der Verfassungsrat bezog in diesem Fall die Möglichkeit einer mißbräuchlichen AnwenVorlage oder einen Teil q~rselben, wobei sie nur die von der Regierung ausgehenden oder von ihr angenommenen Anderungsanträge berücksichtigt". 4sDie Sachdiskussion über die Vorlage kann jedoch durch eine Sperrabstimmung nicht verhindert werden, was bei der Vertrauensfrage der Fall wäre. 46 Anzumerken ist jedoch hier, daß im Wortlaut des Art. 44 Abs. 3 Verf. v. 1958 von "tout ou partie"die Rede ist. 47Mehr zu Sperrabstimmungen s. Kimmei, (Anm. 24), S. 95ff. // Avril, Droit parlementaire et droit constitutionnel sous la Ve Republique, in: RDP 100, 1984, S. 579f; Avril, Le vote bloque, in: RDP 81, 1965, S. 404ff; Beaute, (Anm. 1), S. 114f; Chantebout, La Constitution franyais. Propos pour en debat, 1992, S. 73; FavoreulPhilip, (Anm. 1), S. 47; Genevois, (Anm. 1), S. l30f; Knaub, (Anm. 4), S. 1158; Luchaire, (Anm. 1), S. 105; Maus, (Anm. 21), S. 872ff; Vier, (Anm. 1), S. 187f. 48Kimmel, (Anm. 24), S. 103. Hierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 131. 6 Theodossis

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dung der Sperrabstimmungen seitens der Regierung in seine Entscheidung nicht mit ein; das Änderungsrecht der Parlamentarier blieb dabei ungeschützt. Wie noch folgende Ausführungen zu zeigen vennögen, zog hingegen der Verfassungsrat fast immer die Möglichkeit der mißbräuchlichen Anwendung in Betracht, wenn es um eventuelle Beeinträchtigungen von Regierungsprärogativen ging. Mag auch diese Tendenz nicht allzu sehr überraschen - der Verfassungsrat sollte, wie bereits oben (I. 3) erwähnt, mit seiner Rechtsprechung verhindern, daß das französische Parlament im Wege seiner Geschäftsordnungsautonomie seine Vonnachtstellung zurückgewänne -, läßt sich dennoch in diesem Zusammenhang der Vorwurf einer mangelnden Objektivität seitens des Verfassungsrates nicht von der Hand weisen. Mit seiner Entscheidung vom 21. Januar 1964 (Nr. 63-25 DC) monierte der Verfassungsrat die (eventuelle) Beeinträchtigung der sog. prioritären Tagesordnung der Regierung aus Art. 48 Verf. v. 1958 mittels einer Geschäftsordnungsänderung der Nationalversammlung49 • Die wöchentliche Sitzung, die gemäß Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 den Fragen der Parlamentarier und den Antworten der Regierung vorbehalten war, sollte aufgrund der beanstandeten Geschäftsordnungsregelung am Donnerstag morgen und in der ersten Stunde der Sitzung am Donnerstag nachmittag stattfindenso. Der Verfassungsrat aber wies diese Regelung als verfassungswidrig zurück, nachdem er mittels einer systematischen Auslegung die Verfassungsbestimmung des Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 als bloße Ausnahme von der Regel der sog. "prioritären Tagesordnung" bezeichnet hatte. Eine zweite Sitzung für denselben Zweck am selben Tag war demnach unzulässig; dadurch könnte der Einfluß der Regierung auf die Festsetzung der Tagesordnung vermindert werden. Von derselben Entscheidung des Verfassungsrates rührt ferner das Recht des Premierministers her, frei den Minister zu bestimmen, der die Antworten der Regierung auf Fragen der Parlamentarier gemäß Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 gibts 1• Die Geschäftsordnungsänderung der Nationalversammlung, wonach die Intervention eines anderen als des zuständigen Ministers nur mit der Zustimmung des Fragestellers möglich gewesen wäre, wurde somit verworfen. Der Verfassungsrat war diesbezüglich der Auffassung, daß die EntsCheidung des Premier49Dazu s. Sammlung der Yerfassungsratsentscheidungen 1964, S. 23. Hierzu vgl. Goose, (Anm. 32), S. 171; Kimmei, (Anm. 24), S. 72ff. // Becane, (Anm. 35), S. 82ft'; FavoreuIPhilip, (Anm. 1), S. 47; Genevois, (Anm. l),S. 129; Knaub, (Anm. 4), S. 1159; M. Morin, La presence du Gouvernement dans les assemblees parlementaires sous la y e Republique, in: RDP 102, 1986, S. 1370; Luchaire, (Anm. 1), S. 105; Thrpin, (Anm. 6), S.102. sODazu s. Art. 48 Yerf. v. 1958 (im Anhang). slHierzu vgl. Genevois, (Anm. 1), S. 130; Luchaire, (Anm. I), S. 105; Morin, (Anm. 49), S. 137Off; Rousseau, (Anm. 1), S. 165.

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ministers nicht der Zustimmung der Parlamentarier bedürfe, und in diesem Sinne könnte die beanstandete Geschäftsordnungsänderung nicht als verfassungsmäßig betrachtet werden52 •

c) Die Entscheidungen des Verfassungsrates nach 1968 Die die Regierungsvorrechte protegierende Rechtsprechung des Verfassungsrates wurde auch nach 1968 fortgesetzt. Mit den Entscheidungen vom 20. November 1969 (Nr. 69-37 DC) bzw. vom 17. Mai 1973 (Nr. 73-49 DC), die nach den umfassenden Geschäftsordnungsänderungen der Nationalversammlung bzw. des Senats im Jahre 1969 bzw. 1973 erlassen wurden, verteidigte der Verfassungsrat noch einmal die sog. "prioritäre Tagesordnung" aus Art. 48 Verf. v. 1958 und die uneingeschränkte Intervention der Regierungsmitglieder im Parlament kraft Art. 31 Verf. v. 195853 . Mit der Entscheidung vom 2. Juni 1976 (Nr. 76-64 DC) wurde ferner herausgehoben, daß gemäß der Verfassung keinerlei politische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Senat bestehe54 • Laut Verfassungsrat schließe Art. 49 Abs. 1 Verf. v. 1958 den Senat von dem Ablauf der Vertrauensfrage aus55 • Demnach hätten eine Regierungserklärung bzw. eine Lesung des Regierungsprogramms im Senat nur informativen Charakter. Zwar könne, so der Verfassungsrat, der Premierminister gemäß Art. 49 Abs. 4 Verf. v. 1958 die Zustimmung des Senats zu einer Regierungserklärung verlangen, den Senatsmitgliedern komme aber damit kein Erwiderungsrecht zu 56 • Mit dieser Begründung wurde eine Geschäftsordnungsänderung des Senats zurückgewiesen, wonach die Senatsmitglieder zu diesem Anlaß Erklärungen abgeben könnten. In diesem Zusammenhang befürchtete der Verfassungsrat wiederum die Herausbildung einer Praxis, die die Regierung zu einer quasi-politischen Verantwortlichkeit gegenüber dem Senat führen könnte 57 . 52 Dazu

s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1964, S. 23. s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1969, S. 16f; 1973, S. 15ff. Hierzu vgl. Berlia, Vie et droit parlementaires, in: RDP 89, 1973, S. 1031ff; EmerilSeurin, (Anm. 6), S. 68Off; FavoreuIPhilip, (Anm. 1), S. 47; Genevois, (Anm. 1), S. 129f; Luchaire, (Anm. 1), S. 105; Rousseau, (Anm. 1), S. 165; Thrpin, (Anm. 6), S. 103. 54Hierzu vgl. FavoreuIPhilip, La Jurisprudence du Conseil Constitutionnel en 1976, in: RDP 93, 1977, S. 466ff; Genevois, (Anm. 1), S. 128; Pocher, (Anm. 21), S. 65. 5SDazu s. Art. 49 Abs. 1 Verf. v. 1958 (im Anhang). 56 Hierzu vgl. Art. 49 Abs. 4 Verf. v. 1958 (im Anhang). 57Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1976, S. 21f. Hierzu vgl. FavoreuIPhilip, (Anm. 54), S. 467f. 53 Dazu

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Um den absoluten Charakter der Bestimmung des Art. 40 Verf. v. 1958 zu bewahren, verwarf der Verfassungsrat im Jahre 1978 eine vom Senat beschlossene Geschäftsordnungsänderung, wonach der Finanzausschuß die Zulässigkeit der von den Senatoren eingebrachten Gesetzesvorschläge und Änderungsanträge im Sinne des Art. 40 Verf. v. 1958 nachzuprüfen gehabt hätte 58 • Ein solches Kontrollverfahren hätte zur Folge gehabt, daß sowohl zulässige als auch unzulässige Gesetzesvorschläge bzw. Änderungsanträge der Senatoren hätten eingetragen und in öffentlicher Sitzung angekündigt werden müssen, und dies schien dem Verfassungsrat unzulässig. In diesem Zusammenhang merkte er an, daß unzulässige Gesetzesvorschläge bzw. Änderungsanträge weder abgedruckt noch verteilt, noch einem Ausschuß überwiesen werden dürfen, und oktroyierte somit dem Senat ein der Ankündigung vorausgehendes Verfahren auf5 9 • Diese (präventive) Prüfung habe der Senat ebenfalls durchzuführen bzw. zu achten, falls das Einbringen eines Gesetzesentwurfes bzw. -vorschlages zwischen den Sitzungsperioden erfolgen sollte60 • Dies entschied der Verfassungsrat im J ahre 1992, als er die geschäftsordnungsrechtlichen Modalitäten des Einbringungsverfahrens im Senat auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfte 61 • Die Zulassung dieser (eine Regelungslücke ausfüllende) Geschäftsordnungsänderung wurde diesmal ferner - im Falle eines Organgesetzes - von der Einhaltung der in Art. 46 Abs. 2 Verf. v. 1958 vorgesehenen Frist und von der Beachtung der Priorität der speziellen Ausschüsse gemäß Art. 43 Abs. 1 Verf. v. 1958 abhängig gemacht62 • Wie bereits oben erwähnt, verteidigte der Verfassungsrat im Jahre 1990 die Machtminderung der ständigen Ausschüsse 63 • Unter anderem wies er auf die subsidiäre, vorbereitende Rolle der ständigen Ausschüsse im Gesetzgebungsverfahren hin und wies eine ihm zur Prüfung vorgelegte Geschäftsordnungsänderung des Senats zurück, wonach die Abstimmung eines Gesetzes nach der Vorlage des

S8Dazu s. Art. 40 Verf. v. 1958 "Gesetzesvorschläge und Änderungsanträge von Mitgliedern des Parlaments sind unzulässig, wenn ihre Annalune eine Verringerung der öffentlichen Einnalunen oder die Begründung oder Erhöhung öffentlicher Ausgaben zur Folge hätte". s9Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1978, S. 15f. Hierzu vgl. EmerilLalumi~re, Kommentierung der Art. 40 franz. Verf. v. 1958, in: LuchaireiConac (Hrsg.) La constitution de la republique fran~aise, 2. Auflage, 1987, S. 823; Favoreu/Philip, (Anm. 1), S. 47; Genevois, (Anm. 1), S. 130; Pocher, (Anm. 21), S. 65. 60Dazu s. Renoux, (Anm. 26), S. 548f. 61 Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 12. 62Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 14. Hierzu vgl. Art. 46 Abs. 2 Verf. v. 1958 und Art. 43 Abs. 1 Verf. v. 1958 (im Anhang). 63Hierzu vgl. Rousseau, (Anm. 25), S. 67; Rousseau, (Anm. 1), S. 166.

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damit befaßten ständigen Ausschusses auch ohne Diskussion im Plenum hätte erfolgen können 64. Mit der Entscheidung vom 23. Mai 1991 (Nr. 91-292 DC) wurde die Nationalversammlung wiederum in die durch die Verfassung gezogenen Grenzen verwiesen. Auch dieses Urteil zielte auf die Wahrung wichtiger Prärogativen der Regierung ab, wie das Recht der Regierung, sich Änderungsanträgen der Parlamentarier zu widersetzen, Einfluß auf die Tagesordnung der Kammern zu nehmen und Sonderausschüsse zur Prüfung von Gesetzesentwürfen bzw. -vorschlägen zu schaffen65 • Dafür bediente sich der Verfassungsrat diesmal der Entscheidungsvariante der eingeschränkten Verfassungsmäßigkeitserklärung66• Auch 1992 bzw. 1993 wurden vom Verfassungsrat eine Reihe von Geschäftsordnungsänderungen unter der Bedingung zugelassen, daß die Kammern seine in den Entscheidungsgründen enthaltenen Darlegungen bei deren Anwendung zu befolgen hätten67 • Dabei ging es wiederum um die Bewahrung der Prärogativen der Regierung68 • Die einzige Verfassungswidrigkeitserklärung, die in diesem Zusammenhang vom Verfassungsrat ausgesprochen wurde, stützte sich aber nicht nur auf die verfassungsrechtlichen Vorrechte der Regierung, obgleich Artikel 20,31 und 48 Verf. v. 1958 zu ihrer Begründung gereicht hätten69 • Die dem Verfassungsrat vorgelegte Geschäftsordnungsänderung der Nationalversammlung sah vor, daß die Kammer innerhalb eines Monats (gemäß Art. 88-4 Verf. v. 1958) Stellung zu "Vorlagen von (europäischen) Gemeinschaftsregelungen" nehmen müsse, wohingegen die entsprechende Geschäftsordnungsregelung des Senats eine "Bearbeitungszeit von mehr als einem Monat" erlaubt hätte70. Der Verfassungsrat verwarf die Geschäftsordnungsregelung des Senats. Die Regierung benötige, so seine Begründung, "angesichts der internationalen Ver64Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1990, S. 8Off. 65Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1991, S. 64ff. Hierzu vgl. FavoreuIPhilip, (Anm. 1), S. 753ff; Renoux, Jurisprudence du Conseil Constitutionnel. ContrÖle du Reglement des Asseml~s parlementaires, in: RFDC 1991, S. 501ff; Rousseu, (Anm. 25), S. 54. 66Dazu s. a. unten IV.3. 67Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992 , S. 14; 1992, S. 131; Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in: RDP 109, 1993, S.319. 68Dazu s. a. unten IV.3. 69Dazu s. Art. 20 Verf. v. 1958, Art. 31 Verf. v. 1958 und Art. 48 Verf. v. 1958 (im Anhang). Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 129; Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in: RDP 109, 1993, S. 317. 70 Dazu s. Art. 88-4 Verf. v. 1958 (im Anhang); s. a. Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in: RDP 109, 1993, S. 317. Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 129.

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pflichtungen Frankreichs" eine kurze Frist dafür71 • Der Verfassungsrat sprach in diesem Fall eine Verfassungswidrigkeitserklärung aus, aber er begründet sie nicht mit einem konkreten Verstoß gegen die "Buchstaben der Verfassung" , sondern mit den "internationalen Verpflichtungen der Regierung", womit eigentlich die Arbeit des Rates der Gemeinschaften gemeint warn.

Iv. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen durch den französischen Verfassungsrat Entscheidungstechniken und Entscheidungswirkungen 1. Die Methoden zur Verfassungsauslegung

Daß sich der Verfassungsrat nicht immer objektiv bei der Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen verhält, kommt auch durch den methodischen Vorgang seiner Urteilsbildung zutage!. Im Folgenden wird dies an Beispielen der Verfassungsauslegung durch den Verfassungsrat aufgezeigt. Der Verfassungsrat hat sich im Jahre 1960 (Verfassungsratsentscheidung Nr. 59-5 DC) das erste (und einzige) Mal der historischen Auslegungsmethode bedient, um den durch die Verfassung von 1958 vollzogenen Bruch mit der Tradition hervorzuheben. Was die Regierung mittels der Vertrauensfrage und aufgrund von Verfassungsgewohnheitsrecht unter Geltung der Verfassung von 1946 erreichen konnte, könne sie fortan, so der Verfassungsrat, kraft Art. 44 Abs. 3 Verf. v. 1958 mittels der Sperrabstimmungen durchsetzen, ohne ihre Existenz aufs Spiel zu setzen2 • Diese Darlegungen des Verfassungsrates waren jedoch Teil einer umfassenderen teleologischen Auslegung des Art. 44 Abs. 3 Verf. v. 1958, womit er die sog. "Rationalisierung des Parlamentarismus" und die damit anvisierte Stärkung der Regierung untermauern wollte3 • 71Dazu s. Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in: RDP 109, 1993, S. 317ff. 12Dazu s. Oaia, Contr81e du reglement des Assemblees parlementaire, in: RFDC 1993, s. 135; Luchaire, Les R~glements des Assemblees parlementaires, in: RDP 109, 1993, S. 312; Rousseau, (Anm. 1), S. 166. IHierzu vgl. J. Roche, Le S~nat de la R~publique dans la Constitution de 1958, in: RDP 75, 1959, S. 1176; Vier, Le contr81e du Conseil Constitutionnel sur les ~glements des assemblees in: RDP 88, 1972, S. 207f. 2Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1960, S. 15f. 3Hierzu vgl. Ooose, Die Normenkontrolle durch den französischen Conseil Constitutionnel, 1973, S. 170. // Genevois, Lajurisprudence du Conseil Constitutionnel. Principes Directeurs, 1988, S. 130;Vier, (Anm. 1), S. 186f.

IV. Entscheidungstechniken und Entscheidungswirkungen

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Der Verfassungsrat griff also nur das eine Mal auf verfassungsgeschichtliche Gesichtspunkte zurück, als er die veränderte Rechtslage betonen wollte. Verfassungsgeschichtliche Gesichtspunkte können aber ebenfalls sehr aufschlußreich sein, wenn es sich um die Sinnermittlung von Verfassungsnormen handelt, die eine Kontinuität aufweisen. Dann vermag die wörtliche Auslegung allein den zu ermittelnden Inhalt der Verfassungsbestimmung nicht zu erschöpfen. Die Berücksichtigung von Tradition und Praxis würde in diesem Fall zu einer nuancierteren Wortauslegung führen, die für die konkrete Verfassungsanwendung von ausschlaggebender Bedeutung sein könnte. Ferner ist hier anzunehmen, daß eine Verfassungsauslegung im Lichte einer Tradition wie der französischen dem Parlament bzw. den Parlamentariern mehr Autonomie sichern würde. Beispiele sukzessiver bzw. kursorischer Anwendung der einzelnen Auslegungsmethoden fehlen jedoch ostentativ in der Rechtsprechung des Verfassungsrates 4 • Bei etlichen Beispielen wörtlicher Auslegung orientiert sich der Verfassungsrat strikt am Wortlaut der Verfassung bzw. an den "Buchstaben der Verfassung (la lettre de la Constitution)"s. In anderen Fällen hingegen beruft sich der Verfassungsrat zwar auf die Buchstaben der Verfassung, hätte sich aber in Wirklichkeit nicht nur daran orientieren können. Dabei handelt es sich um auf Verfassungsbestimmungen fußende Urteile, deren Wortlaut für die geprüfte Geschäftsordnungsregelung nichts hergeben6• Wie aber der Verfassungsrat selbst zu seiner Verfassungsinterpretation gelangte, ist meist in der Entscheidungsbegründung nicht aktenkundig. Ferner wurden häufig Geschäftsordnungsregelungen als verfassungswidrig zurückgewiesen, ohne daß dabei eine Verfassungsbestimmung bezeichnet wurde7 • 4Hierzu vgl. oben A 11. 5Gemäß Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 käme z. B. nach der Verfassungsratsentscheidung Nr. 69-37 oe das Fragerecht nicht den Ausschußpräsidenten, sondern nur den einzelnen Abgeordneten zu. Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1969, S. 16; s. a. oben III.1. 6Mit den Entscheidungen Nr. 59-2 oe und Nr. 59-3 oe wurden z. B. Geschäftsordnungsvorschriften über die Entschließungsanträge bzw. über die Redezeit der Minister auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft und mit der Begründung zUlÜckgewiesen, daß sie gegen die Artikel 40 und 41 Verf. v. 1958 bzw. gegen Art. 31 Verf. v. 1958 (im Anhang) verstießen. Der Wortlaut der einschlägigen Verfassungs bestimmungen sagt jedoch darüber nichts aus. Das aus der Entscheidung Nr. 63-25 oe hervorgehende Recht des Premiers, die Intervention eines anderen als des zuständigen Ministers ohne die Zustimmung des Fragestellers anordnen zu können, kann ebensowenig nur aus dem Wortlaut des Art. 48 Abs. 2 Verf. v. 1958 abgeleitet worden sein. Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 59; 1959, S. 6lf; 1964, S. 23; Goose, (Anm. 3), S. 170. 11 Vier, (Anm. 1), S. 188. 7Als der Verfassungsrat z. B. mit der Entscheidung Nr. 59-3 oe geschäftsordnungsrechtliche Fristen zur Beantwortung der an die Minister gerichteten Petitionen verwarf, trug er zur Begründung lediglich vor, es gebühre sich nicht für die Senatsgeschäftsord-

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All diese Urteile sind in Wirklichkeit vielmehr das Ergebnis einer teleologischen Auslegung und gehen nicht nur aus den Buchstaben, sondern auch aus dem "Geist der Verfassung (1' esprit de la Constitution)" hervor. Verfassungsnormen bieten häufig nur vage bzw. unzulängliche Vorgaben, und der französische Verfassungsrat greift ebensooft zur teleologischen Auslegung, wobei in seinen Entscheidungsgründen die methodischen Schritte bzw. die Beweggründe nicht immer zu entnehmen bzw. nachzuvollziehen sind. Wie bereits erwähnt, wurde eine Reihe von Geschäftsordnungsregelungen mit der simplen Begründung, sie könnten die sog. "prioritäre Tagesordnung" der Regierung gefährden, und ohne weitere Erläuterungen zurückgewiesen. Aber auch wenn der Verfassungsrat die Verfassung zugunsten des Parlaments bzw. der Parlamentarier auslegt, werden in der Regel in den Entscheidungsgründen weder der historische Hintergrund bzw. die aktuellen Erfahrungen, die den Verfassungsrat zu diesem Urteil bewegt haben, noch die einzelnen methodischen Schritte, die ihm zu seiner Willensbildung verholfen haben, sichtbar. "Für die Überzeungungskraft von Entscheidungen kommt es darauf an, welchen Gebrauch man von den canones macht, das heißt insbesondere, wie man mit ihrer Hilfe die Begründung führt"s. Ferner kann als allgemeingültige Auslegungsregel betrachtet werden, daß keine Auslegungsmethode verabsolutiert werden darf - die Sinnermittlung sollte unter sukzessiver bzw. kursorischer Anwendung der einzelnen Interpretationsmethoden erfolgen - und daß vor allem im Hinblick auf die teleologische Auslegung jedes Anzeichen von Willkür oder Zufälligkeit zu vermeiden ist9 . Aber auf die Befolgung inhaltsgleicher Auslegungsnung, den Ministern Fristen aufzuerlegen, dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 62. 8Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 1992, § 164, S. 203. 9Hierzu vgl. oben A 11. Allgemein zu Verfassungsinterpretationsmethoden s. Depleree, La Constitution et son interpretation, in: van de Kerchove (Hrsg.) L' interpretation en Droit. Approche pluridisciplinaire, S. 195ff; Hamon, Sur une Notion en Debat, in: RDP 100, 1984, S. 306ff; Rousseau, Droit du contentieux constitutionnel, 1993, S. 128ff; Troper, Le probleme de I' interpretation de la Constitution et la theorie de la supralegalit6 constitutionnelle, in: Melanges Ch. Eisenmann, 1975, S. 133ff; Troper, La theorie dans l' enseignement du droit constitutionnel, in: RDP 100, 1984, S. 269ff; Zakrzewski, De l' interpretation de la Constitution, in: JöR N. F. 26, 1977, S. 427ff; // E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S. 2089ff; Burmeister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: Koenig/Rüfner (Hrsg.) Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeitskontrolle in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 46ff; Chryssogonos, Verfassungs gerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zur Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle, 1987, S. 104ff; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: Dreier/ Schwegmann (Hrsg.) Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 169; Gusy, Die Offenheit des Grundgesetzes, in: JöR N. F. 33, 1984, S. 119; Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS für H. Huber, 1981, S. 272; Hesse,

IV. Entscheidungstechniken und Entscheidungswirkungen

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regeln ist aus der Rechtsprechung des Verfassungsrates nicht zu schließen. Der französische Verfassungsrat begründet (nach Ansicht des Verfassers) seine methodischen Grundsätze nicht ausreichend; in seinen Urteilen lassen sich die Zusammenhänge zwischen seinen Aussagen und seiner Begründungstechnik nicht immer deutlich erkennen, was allerdings angesichts seiner wortkargen Ausführungen wenig verwundert 10. Dennoch läßt sich mit dem Argument der ständigen Begründungstechnik in Frankreich die damit verbundene Verminderung der Transparenz nicht rechtfertigen. Zwar wird durch die knappen Begründungen des französischen Verfassungsrates die Klippe der Verfassungserstarrung umschifft, aber bei solch unnachvollziehbaren Verfassungskonkretisierungen ist es schwer, den Vorwurf der interpretatorischen Beliebigkeit von der Hand zu weisen, wenn der Verfassungsrat mit seiner Rechtsprechung Rechte der Parlamentarier bzw. des Parlaments rechtsbildend protegieren will, oder wenn er versucht, den durch die Verfassung von 1958 vollzogenen Bruch in der französischen Parlamentstradition zu wahren. Der Anspruch der adäquaten Begründung von gerichtlichen Entscheidungen stellt ein unerläßliches Element der Rechtsstaatlichkeit dar, und dessen Defizit vereitelt das rechtsstaatliche Anliegen der Limitierung staatlicher Macht durch Rationalität. "Die Methode der Verfassungsinterpretation ist nicht nur eine Frage des Stils juristischer Argumentation, sondern eine Zentralfrage der verfassungsgerichtlichen Kompetenzbegrenzung" 11. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, 1993, S. 25ff; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Auflage, 1976, S. 67ff; Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band 11, 1976, S. 24ff; Starck, (Anm. 8), S. 199ff; Stein, Einleitung 11, Methoden der Verfassungsinterpretation und der Verfassungskonkretisierung in: Denninger, Ridder, Simon, Stein (Hrsg.) Alternativkommentar zum Grundgesetz, Band I, 2. Auflage, 1984, S. 92ff; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1,2. Auflage, 1984, S. 123ff; Theodossis, Die griechische Verfassung von 1975/1986 und die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen. Grundsätzliches aus Anlaß eines Einzelfalles, in: JöR N. F. 38, 1989, S. 373ff; Walter, Die Entwicklung der Reinen Rechtslehre und das Auslegungsproblem, in: Fischer/Mock/Schreiner (Hrsg.) Hermeneutik und Strukturtheorie des Rechts, 1984, S. 132. // Magiera, The Interpretation of the Basic Law, in: Starck (Hrsg.) Main Principles ofthe German Basic Law, 1983, S. 89ff. // Manessis, (griech.)Verfassungsrecht, Band I, 1980, S. 183ff; Papadimitriou, (griech.) Der methodische Aufbau der Verfassungsinterpretation, in: To Syntagma, 1991, S. 201ff; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1985, S. 148ff; Tsatsos, (griech.) Staatsrecht, Band I, 1994, S. 256ff; Veniselos, (griech.) Die Interpretation der Verfassung und die Grenzen der gerichtlichen Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze, 1994, S. 53ff(103). IOHierzu vgl. Art. 20 Ordonnanz Nr. 58-1067 "Die Erklärung des Verfassungsrates muß begründet sein. Sie wird im Staatsanzeiger veröffentlicht"; Roussillon, Le Conseil constitutionnel, 1991, S. 33ff. llBurmeister, (Anm. 9), S. 49.

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Angesichts des obligatorischen Charakters der Verfassungskontrolle aufgrund des Art. 62 Verf. v. 1958 (s. Anhang) entfalten die knappen Ausführungen des Verfassungsrates zwangsläufig einen rechtsverbindlichen Charakter, und wie die im Abschnitt III dargelegten Verfassungsratsentscheidungen zu zeigen vermögen, zeichnet sich deutlich eine Entscheidungspraxis ab, die in der Regel dem Parlament das ausdrücklich Vorgesehene erlaubt und das nicht ausdrücklich Vorgesehene unterbindet!2. In diesem Rahmen können Vorhaben der parlamentarischen Kammern wie z. B. sachgemäße Institutionen bzw. Verfahren zu entwickeln - was eigentlich den Kern der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie ausmacht - erheblich erschwert bzw. unmöglich gemacht werden, wenn es an ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Vorgaben für den parlamentarischen Geschäftsordnungsgeber fehlt. Auch in diesem Zusammenhang wird die Bedeutung einer expliziten Verfassungsgarantie der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie sichtbar, denn eine solche ist als eine (stillschweigende) Verfassungsermächtigung zu verstehen, dem Parlament bzw. seiner Regelungsmacht auf diesem Gebiet das nicht ausdrücklich Vorgesehene zu überlassen. In diesem Sinne würde also eine solche Verfassungsgarantie der obigen Praxis des Verfassungsrates im Wege stehen.

2. Der Verfassungsmäßigkeitsbegriff

Wie bereits oben angedeutet, werden vom Verfassungsrat Verfassungswidrigkeitserklärungen über Geschäftsordnungsvorschriften unter Zuhilfenahme einer teleologischen Auslegung ausgesprochen; dabei beharrt er nicht mehr auf den "Buchstaben der Verfassung". Verfassungsmäßigkeitserklärungen werden hingegen nur nach dem ehernen Maßstab der sog. "Verfassungskonformität" ausgesprochen, und die wird als Reproduzierung des verfassungsrechtlichen Modells bzw. dessen inhärenten Schemas verstanden!3. Mit anderen Worten: Verfassungsmäßigkeitserklärungen wer12Hierzu vgl. Goose, (Anm. 3), S. 170. /I Beau~, L' Antinomie de la Suprematie de la Constitution et de I' Autonomie R6glementaire des Assembl6es, in : Politique 6, 1963, S. 111; Baufum6, La rehabilitation des resolutions: une n6cessi~ constitutionelle, in: RDP 1994, S. 1414; Debbaschl PontierlBourdonIRicci, Droit constitutionnel et institutions politiques, 3. Auflage, 1990, S. 592; Favoreu/Philip, Les grandes d6cisions du Conseil Constitutionnel, 6. Aufage, 1991, S. 44; Hamon, Constitution et Pouvoirs Publics, Conseil Constitutionnel, Reglement des Assembl6es, Contr61e, in: Reeueil Dalloz, 1959, S. 506; Ruzi6, Le nouveau reglement de I' Assembl6e Nationale, in: RDP 75, 1959, S. 876; Vier, (Anm. 1), S. 183f. 13Hierzu vgl. oben 1V.1; Avril, Droit parlementaire et droit constitutionnel sous la Ve R6publique, in: RDP 100, 1984, S. 581; Avril/Gicquel, Droit parlementaire, 1988,

IV. Entscheidungstechniken und Entscheidungswirkungen

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den nur durch die Übereinstimmung mit (allen) höherrangigen Normen; abweisende Entscheidungen hingegen mit dem (neuen) "Geist der Verfassung" begründet. Daraus folgt, daß sich der Verfassungsrat bei seinen die Geschäftsordnungsregelungen bejahenden Entscheidungen eines anderen Verfassungsmäßigkeitsbegriffes bedient, als bei den abweisenden Entscheidungen. Dazu kommt, daß der Verfassungsrat in der Regel mit einem "Kompatibilitätsbegriff" operiert, wenn der Prüfungsgegenstand Gesetze sind, und dabei gegebenenfalls den Boden des Verfassungswortlauts verläßt, um eine Verfassungsmäßigkeitserklärung auszusprechen l4 •

3. Die Entscheidungsvarianten

Schon im Jahre 1959 hatte der Verfassungsrat etliche Geschäftsordnungsregelungen für verfassungsmäßig "unter Vorbehalt (sous reserve)" erklärtl5 • Dabei handelt es sich um eine Entscheidungsvariante, die der Verfassungsrat selbst entwickelt hat. Durch Formulierungen, wie z. B. "Die Bestimmungen sind verfassungsmäßig unter dem Vorbehalt bzw. nach Maßgabe der Anmerkungen (bzw. der Gründe) der Entscheidung", deren sich der Verfassungsrat seitdem immer wieder bei seiner Kontrolle bedient, schränkt er seine Verfassungsmäßigkeitserklärungen ein 16. Die Vorbehalte des Verfassungsrates beinhalten meistens Interpretations- und Anwendungsmöglichkeiten des Kontrollgegenstandes. Die geprüften Geschäftsordnungsregelungen gelten zwar unmittelbar nach der EntS. 11; Chantebout, Droit constitutionnel et science politique, 9. Auflage, 1989, S. 42; Drago, Vex&ution des d&isions du Conseil Constitutionnel, 1991, S. 73; Favoreu/Philip, (Anm. 12), S. 44; Roussillon, (Anm. 10), S. 35; Thrpin, Contentieux constitutionnel, 1986, S. 103 (230); Vier, (Anm. 1), S. 183ff. 14Hierzu vgl. Luchaire, Le Conseil Constitutionnel, 1980, S. 99; Vier, (Anm. 1), S. 183. lsDazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1959, S. 60. Hierzu vgl. 000se, (Anm. 3), S. 172f. // Beauti, (Anm. 12), S. 109f; Hamon, (Anm. 12), S. 502; Oenevois, (Anm. 3), S. 129. 16Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1962, S. 17f; 1969, S. 17; 1972, S. 17f; 1976, S. 2lf; 1991, S. 70. Hierzu vgl. Ooose, (Anm. 3), S. 171ff; Weber, Generalbericht: Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, in: Starclc/Weber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 112. /I AvrillOicquel, (Anm. 13), S. 11; Beauti, (Anm. 12), S. 110; Drago, (Anm. 13), S. 148ff; Favoreu/Philip, (Anm. 12), S. 45; Favoreu/Philip, Le Conseil Constitutionnel, 1978, S. 59; Laporte/Thlard, Droit parlementaire, 1986, S. 39; J.-P. Lebreton, Les particularitis de la Juridiction constitutionnelle, in: RDP 99, 1983, S. 474ff; Luchaire, (Anm. 14), S. 101; B. Poullain, La pratique fran~aise de la justice constitutionnelle, 1990, S. 63; Rousseau, Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 108, 1992, S. 54; Thrpin, (Anm. 13), S. 228; Vier, (Anm. 1), S. 191ff. /I Favoreu, The Constitutional Review and Parliament in France, in: Landfried (Hrsg.) Constitutional Review and Legislation, 1988, S. 100.

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scheidung des Verfassungsrates, aber die in diesem Zusammenhang gemachten Darlegungen des Verfassungsrates sind für die Kammern verbindlich, auch wenn darin nur darauf hingewiesen wird, daß die für als verfassungsmäßig erklärten Geschäftsordnungsbestimmungen im Sinne der Verfassungsbestimmungen bzw. der Organgesetze oder der Entscheidungen des Verfassungsrates zu interpretieren bzw. anzuwenden seien 17 • Angesichts der vorgeschriebenen Kontrollbefugnis des Verfassungsrates kann es sich dabei weder um eine Einschränkung der Gültigkeit der Verfassungsratserklärung noch um eine (schlichte) Reduzierung des Wortlauts der geprüften Vorschrift handeln 18. Dadurch wird eher eine Umgrenzung bzw. verbindliche Erläuterung des Inhalts der parlamentarischen Geschäftsordnungsregelung hervorgerufen. In der Regel wird der einschlägige Abschnitt der Verfassungsentscheidung als Fußnote unter dem Text der Geschäftsordnungsbestimmung angeführt, und die betreffende Kammer hat sie stets zu beachten. Diese Entscheidungstechnik führt zwar zur Aufrechterhaltung der geprüften Geschäftsordnungsregelung, die Kontrollbefugnis des Verfassungsrates wird aber dadurch bis zur Rechtsetzung überdehnt, zumal die parlamentarischen Kammern die Vorbehalte bzw. Anmerkungen des Verfassungsrates stets bei der Geschäftsordnungsanwendung zu beachten haben. Argumente, wie z. B. wer annullieren kann, kann auch interpretieren, sind (nach Auffassung des Verfassers) irreführend. Eine-Bestimmung-(verbindlich)-zu-interpretieren bedeutet meistens einen stärkeren Eingriff als ihr-wegen-Verfassungswidrigkeit-die Geltung-zu versagen 19 • Dies bezeugt zumal die Entscheidung Nr. 91-292 DC aus der jüngsten Vergangenheit, als der Verfassungsrat am 23. Mai 1991 alle ihm zur Prüfung vorgelegten Geschäftsordnungsvorschriften unter dem Vorbehalt seiner Anmerl7Die (ebenfalls vom Verfassungsrat entwickelte) Entscheidungsvariante der ,,NichtVerfassungswidrigkeitserklärung" unterscheidet sich insbesondere bei Gesetzen (Art. 22 Ordonnanz Nr. 58-1067 unterbindet in bezuf auf Gesetze eine partielle Verfassungswidrigkeitserklärung) von der "eingeschränkten Verfassungsmäßigkeitserklärung", insofern als sie nur Warnungen signalisiert bzw. unverbindliche Appelle beeinhaltet. Hierzu vgl. Drago, (Anm. 13), S. 73; Poullain, (Anm. 16), S. 63; Roussillon, (Anm. 10), S. 35; Thrpin, (Anm. 13), S. 228. l8Der Verfassungsrat könnte allerdings eine Wortlautreduzierung der angefochtenen Geschäftsordnungsvorschrift herbeiführen, wenn er nur Textteile der geprüften Vorschrift für verfassungswidrig erklären würde. Dann würde es bei der Kammer liegen, ob sie die verfassungswidrigen Textteile aus dem Wortlaut der Vorschrift streicht und sie gekürzt anwendet oder sie neu formuliert. Hierzu vgl. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1973, S. 15ff; Pocher, Le Senat, 2. Auflage, 1983, S. 248f. 19Hierzu vgl. unten D IV.1. Im französischen Schrifttum spricht man diesbezüglich von einer "pädagogischen Funktion", die der Verfassungsrat mittels der ,,~.ingeschränk­ ten Verfassungsmäßigkeitserklärungen" ausübt und die seine (fuktionelle) Uberlegenheit gegenüber dem Parlament manifestiert. Hierzu vgl. Chantebout, (Anm. 13), S. 114f; Drago, (Anm. 13), S. 74(148ff); Poullain;(Anm. 16), S. 63f(92f); Roussillon, (Anm. 10), S. 34f(70); Thrpin, (Anm. 13), S. 227f.

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kungen gelten ließ 2o. In der ungewöhnlich langen Begründung dieser Entscheidung (ca. sechs Seiten) wurden Darlegungen gemacht, die sich auf viele wichtige Bereiche des Geschäftsordnungsrechts bezogen und sie im Ergebnis mitgestalteten. Gleiches geschah auch durch die Verfassungsratsentscheidungen Nr. 92-314 DC vom 17. Dezember 1992 bzw. Nr. 92-315 DC vom 12. Januar 1993 21 • Ende 1992 wurden Nationalversammlung und Senat geschäftsordnungsgebend tätig, um ihre Geschäftsordnungen den Geboten des Art. 88-4 Verf. v. 1958 (s. Anhang) anzupassen. Am 20. November 1992 bzw. am 16. Dezember 1992 legten die Präsidenten der parlamentarischen Kammern gemäß Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 die zur Durchführung des Art. 88-4 Verf. v. 1958 notwendigen Geschäftsordnungsänderungen dem Verfassungsrat vor. Abgesehen von einer Geschäftsordnungsregelung des Senats, die als verfassungswidrig zurückgewiesen wurde, wurden vom Verfassungsrat die geschäftsordnungsrechtlichen Modalitäten des (durch die Verfassung vorgesehenen) Abstimmungsverfahrens abgesegnet, nachdem er sie mit einer Reihe von "Vorbehalten" angereichert hatte22 • Nach Luchaires Auffassung schwiegen jedoch die Geschäftsordnungsergänzungen der Nationalversammlung zu wichtigen Bereichen des Verfassungsauftrags (gemäß Art. 88-4 Verf. v. 1958), und die des Senats beruhten auf einer "verdrehten" Interpretation der Verfassung, so daß der Verfassungsrat die Vorlagen beider Kammern hätte zurückweisen und damit die Kammern zur neuen Geschäftsordnungsgebung veranlassen sollen; dafür gab es aber keine Zeit. Die parlamentarische Sitzungsperiode war bereits beendet, und die Nationalversammlung würde erst nach den Neuwahlen wieder zusammentreten23 • Durch diese Verfassungsratsurteile wurden allerdings die in der Verfassung vorgesehenen Resolutionen (bzw. Beschlüsse) der Kammern zu einfachen Meinungen (bzw. Stellungnahmen) "degradiert", die sog. prioritäre Tagesordnung der Regierung (gemäß Art. 48 Verf. v. 1958) wurde auch auf Resolutionen der 20Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1991, S. 65ft'. Hierzu vgl. Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 108, 1992, S. 54; Renoux, Jurisprudence du Conseil Constitutionnel. Contröle du Reglement des Assemlees parlementaires, in: RFDC 1991, S. 501ft'. 21Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, 126ft'; Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), in RDP 1993, S. 315ft'. 22Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1992, S. 131; Verfassungsratsentscheidung vom 12. Januar 1993 (Nr. 92-315 DC), inRDP 1993, S. 319; RDP 1993, S. 324. Hierzu vgl. Dreyfus-Schmidt, Jurisprudence du Conseil Constitutionnel. Contröle du Reglement des Assemlees parlementaires, in: RFDC 1993, S. 371ft'; Gaia, Contröle du reglement des Assemblees parlementaire, in: RFDC 1993, S. 131ft'; Luchaire, Les Reglements des Assemblees parlementaires, in: RDP 109, 1993, S. 301ft'; Rousseau, (Anm. 9), S.166. 23Luchaire, (Anm. 22), S. 314.

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Nationalversammlung ausgedehnt, und den Ausschüssen der Kammern wurde per Gerichtsdekret die Pflicht auferlegt, sich innerhalb "angemessener Zeit" über die einschlägigen Regierungsvorlagen zu äußern24 • Erläutern statt anullieren lautet also der Trend der letzten Jahre. Der Verfassungsrat kann allerdings seine Vorbehalte auch zum Ausdruck bringen, ohne daß damit automatisch (konstitutives) Geschäftsordnungsrecht festgelegt wird. Im Jahre 1990 hat er mit seiner Entscheidung Nr. 90-275 DC eine Geschäftsordnungsergänzung zugelassen, wonach die ständigen Ausschüsse der Nationalversammlung einen oder mehrere ihrer Mitglieder mit dem Auftrag betrauen können, Informationen über die Bedingungen der Gesetzesausführung einzuholen25 • Vorbehalte bzw. Anmerkungen des Verfassungsrates, daß diese quasi-Delegation der Kontrollbefugnis der Nationalversammlung (gegenüber der Regierung) an ihre Ausschüsse bzw. an deren Mitglieder nur informativen bzw. zeitlich begrenzten Charakter habe, wurden diesmal an den Tenor der Entscheidung nicht angeknüpft. Die Verbindlichkeit der Vorbehalte bzw. Hinweise des Verfassungsrates hängt danach davon ab, inwieweit sie als "EntscheidungsgTÜnde" an der Bindungswirkung der Entscheidung teilnehmen können26 • In diesem Sinne erscheint die (oben erwähnte) Entscheidungsvariante der "Nicht-Verfassungswidrigkeitserklärung", welcher sich der Verfassungsrat vor allem bei der Kontrolle der Gesetze bedient, auch für die Verfassungsmäßigkeitskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen adäquat27 •

4. Die Bindungswirkung der Entscheidungen

Die Entscheidungen des Verfassungsrates entfalten Rechtskraft. Dabei handelt es sich um die Rechtskraft der entschiedenen Sache (autorite de la chose jug6e), - die aufgrund Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958 i. V. mit Art. 62 24Hierzu vgl. AvriVGicquel, L' apport de la revision

a la

proc6dure parlementaire,

in: RFDC 1992, S. 454f; Baufume, (Anm. 12), S. 1424; Dreyfus-Schmidt, (Anm. 22), S. 373ft'; Gaia, (Anm. 22), S. 137ft'; Luchaire, (Anm. 22), S. 304ft'; Rousseau, Chronique de jurisprudence constitutionnelle, in: RDP 110, 1994, S. 133.

2sDazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1990, S. 67f. Hierzu vgl. Renoux, Jurisprudence du Conseil Constitutionnel. Contröle du Reglement des Assemlees parlementaires, in: RFDC 1990, S. 498f. 26Dazu s. gleich unten. 27Hierzu vgl. oben Anm. 17; Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1977, S. 18f; 1990, S. 83f; Avril, (Anm. 13), S. 581; AvriVGicquel, Chroniques constitutionnels (1976-1982), 1983, S. 16; Prelotl BouloJ,lis, Institutions politiques et droit constitutionnel, 10. Auflage 1987, S. 630.

IV. Entscheidungstechniken und Entscheidungswirkungen

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Verf. v. 1958 bzw. 17 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 58-1067 als Allgemeinverbindlichkeit zu verstehen ist - , und um die formelle Rechtskraft (Art. 62 Abs. 2 Satz 1 Verf. v. 1958)28. Nach einer Verfassungsmäßigkeitserklärung ist die geprüfte Geschäftsordnungsregelung für alle verbindlich. Weder die Regierung noch einzelne Parlamentarier bzw. Fraktionen können danach deren Verfassungsmäßigkeit in Frage stellen. Eine geltende Geschäftsordnungsregelung kann jedoch weiterhin nur durch Resolution der jeweiligen Kammern abgeändert werden29 . Laut Verfassungsrat umfaßt allerdings die Bindungswirkung der Verfassungsratsentscheidungen nicht nur den Tenor der Entscheidung, sondern auch die Gründe, die sein Urteil tragen bzw. es stützen30 • Gemäß der Rechtsprechung des Verfassungsrates nehmen also auch die Entscheidungsgründe an der Bindungswirkung der Entscheidungen teil. Insbesondere den Darlegungen des Verfassungsrates, die durch eine Vorbehaltsklausel mit der Entscheidungsformel verknüpft sind, haben die Kammern Rechnung zu tragen31 • Anzumerken ist hier jedoch, daß sich diese (restriktive) Verfassungskontrolle nur auf die Geschäftsordnungsgebung beschränkt. Unter Geltung der Verfassung von 1958 sind Geschäftsordnungsanwendungen, wenn sie nicht die Form einer Geschäftsordnungsänderung annehmen, weder überprüfbar noch anfechtbar, auch wenn sie nach Auffassung der anderen Kammer, der Regierung oder der Parlamentarier verfassungswidrig sein sollten. Andere Verfahren zur Anfechtung verfassungs28Dazu s. Art. 61 Abs. 1 Verf. v. 1958, Art. 62 Verf. v. 1958 und 17 Abs. 2 Ordonnanz Nr. 58-1067 (im Anhang). Hierzu vgl. L. Buerstedde, Kontrolle der rechtsetzenden Gewalt durch Conseil Constitutionnel und Conseil d' Etat nach der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958, in: JöR N. F. 12, 1963, S. 171; Fromont, Der französische Verfassungsrat, in: Starclc!Weber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 335f; Goose, (Anm. 3), S.16lf; Müller, Der Conseil d' Etat, in: AöR 117, 1992, S. 404. /I Favoreu/Philip, (Anm. 16), S. 58; Favoreu/Philip, (Anm. 12), S. 169; Luchaire, Kommentierung der Art. 61-63 Verf. v. 1958, in: Luchaire/Conac (Hrsg.) La constitution de la republique fran\(aise, 2. Auflage, 1987, S. 1124ff; Vier, (Anm. 1), S. 20lf. 29Parlamentarischen Geschäftsordnungen wird kein Verfassungsrang zuerkannt, so daß Geschäftsordnungsänderungen als Abweichungen von dem (durch den Verfassungsrat erweiterten) Verfassungskonformitätsbegriff zu verwerfen wären. Außerdem sind gemäß Art. 62 Abs. 2 Verf. v. 1958 (s. Anhang) die Kammern an die Entscheidung bzw. an die Erklärungen des Verfassungsrates und nicht an den Kontrollgegenstand selbst gebunden. 30 Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1962, S. 31; Fromont, (Anm. 28), S. 335; Goose, (Anm. 3), S. 162ff; Weber, (Anm. 16), S. 112 // Drago, (Anm. 13), S. 156; Rousseau, (Anm. 9), S. 139ff; Roussillon, (Anm. 10), S. 37f; Thrpin, (Anm. 13), S. 201 (226); hierzu vgl. unten D IV.!. Angesichts kurzer Begründungen ist hier zu vermerken, daß der Relativierung: "Gründe, die sein Urteil tragen bzw. es stützen" keine allzu große Bedeutung beizumessen ist. 31Wenn der Verfassungsrat die eigenen Entscheidungen in die "visas" einer neuen Entscheidung einbezieht - wie das bei seinen Entscheidungen Nr. 90-275 DC und Nr. 91301 DC der Fall war - , erkennt er den einschlägigen Entscheidungen Verfassungsrang zu und avanciert insofern zum formellen Geschäftsordnungsgeber. Dazu s. Sammlung der Verfassungsratsentscheidungen 1990, S. 67f; 1992, S. 10; s. a. oben 11.2.

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widriger Entschließungen bzw. Maßnahmen der Kammern, welche keine Geschäftsordnungsänderungen sind, gibt es in Frankreich nicht.

V. Zusammenfassung: Parlamentarische Geschäftsordnungsgebung in Frankreich unter dem Vorbehalt der Verfassungsratsentscheidungen

Die französische Verfassung von 1958 nimmt die höchste Stelle in der französischen Nonnenhierarchie ein und regelt selbst Funktion, innere Organisation und Arbeitsweise des Parlaments, während die parlamentarischen Geschäftsordnungen (traditionsgemäß) als Resolutionen erlassen werden und auch für NichtParlamentarier verbindlich sein können. Der parlamentarische Geschäftsordnungsgeber in Frankreich ist wie jede staatliche Gewalt an die Verfassung gebunden, und insofern ist auch diesbezüglich eine Verfassungskontrolle unabdingbar. Die französische Verfassung sieht diese Verfassungskontrolle ausdrücklich vor und beauftragt damit den Verfassungsrat. Dieser aber beansprucht für sich das Recht, den Kontrollrnaßstab selbst zu gestalten bzw. ihn frei nach unten auszudehnen, und dadurch erzielt er eine beachtliche Restriktion der (in Frankreich nicht verfassungsrechtlich verbürgten) parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie, insoweit als aufgrund des (vom Verfassungsrat erweiterten) Kontrollrnaßstabs nicht nur eine Kollision mit der Verfassung, sondern jeder Widerspruch zu den Organgesetzen, Ordonnanzen und Gesetzen die Kassation der autonomen Geschäftsordnungsgebung bewirken kann. All diese Rechtsnonnen, die nicht autonom beschlossen werden, regeln demnach vorrangig Organisation, Arbeitsweise und Disziplin der Mitgleider des französischen Parlaments. Dadurch entsteht eine Nachrangigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen gegenüber den Gesetzen; parlamentarische Geschäftsordnungen werden somit faktisch einer Rechtrnäßigkeitskontrolle durch den Verfassungsrat unterworfen, welche die "Buchstaben" der französischen Verfassung von 1958 zwar nicht vorsehen, aber auch nicht ausschließen l . IDie Einführung einer (expliziten) Verfassungsgarantie über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie (im Sinne des Art. 65 Abs. I der griechischen Verfassung von 1975) würde also nicht nur den Rang der parlamentarischen Geschäftsordnungen in der Normenhierarchie konsolidieren, sondern auch die Durchführung einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Verfassungsrat Einhalt gebieten. Demnach wären die Geschäftsordnungen der Nationalversammlung und des Senats keiner weiteren als der Verfassungsmäßigkeitskontrolle zu unterbreiten, denn deren Vorschriften wären aufgrund einer verfassungsunmittelbaren Ermächtigung erlassen.

V. Zusammenfassung

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Darüber hinaus werden manchmal Urteile des Verfassungsrates selbst zum Maßstab der Kontrolle gemacht. Mittels Vorbehaltsklauseln werden ferner die zusammenhängenden Darlegungen des Verfassungsrates zu einer Quelle des französischen Geschäftsordnungsrechts. Beide parlamentarischen Kammern haben sich demnach nicht nur nach den ablehnenden Verdikten des Verfassungsrates, sondern auch nach seinen zustimmenden Entscheidungen zu richten. Insofern kommt dem französischen Verfassungsrat eine "pädagogische Funktion" zu, aber hierzu ist negativ zu vermerken, daß der methodische Vorgang des Verfassungsrates bei seiner Urteilsbildung nicht immer von seiner Objektivität zu überzeugen vermag. In den ersten Jahren seiner rechtsprechenden Tätigkeit befolgte der Verfassungsrat strikt das von den Vätern der Verfassung anvisierte Ziel, die neue Verfassungsordnung vor Übertretungen des Parlaments zu schützen, und zwar vor allem durch Verfassungswidrigkeitserklärungen. Verfassungsmäßigkeitserklärungen wurden damals meistens durch die Übereinstimmung mit höherrangigen Normen, abweisende Entscheidungen hingegen mit dem "Geist der Verfassung" begründet. Letztere rührten vom "Telos" bzw. von der Zielrichtung der als Kontrollmaßstab dienenden Rechtsnormen her, während sich der Verfassungsrat bei Verfassungsmäßigkeitserklärungen sowie bei den zugunsten des Parlaments ausfallenden Entscheidungen zumeist der wörtlichen Auslegung allein bediente. Die geringe Anzahl der Verfassungswidrigkeitserklärungen bezüglich der Geschäftsordnungen in der letzten Zeit deutet zwar auf eine Abkehr von der Anwendung des restriktiven Verfassungsmäßigkeitsbegriffes der ersten Jahre hin, gleichzeitig aber macht der Verfassungsrat neuerdings immer mehr von der Entscheidungsvariante der eingeschränkten Verfassungsmäßigkeitserklärungen Gebrauch. Was der Verfassungsrat am Anfang seiner rechtsprechenden Tätigkeit durch Kassationen zu erreichen suchte, bringt er mittlerweile mit seinen Vorbehaltsklauseln zuwege, die er heutzutage fast an jede seiner Verfassungsmäßigkeitserklärungen anknüpft. In den ersten zwanzig Jahren seiner rechtsprechenden Tätigkeit genügten dem Verfassungsrat schon der Verdacht bzw. die Möglichkeit einer Verfassungsverletzung bzw. -umgehung, um eine Geschäftsordnungsregelung durch knappe bzw. unzureichende Begründungen zu Fall zu bringen, während er heutzutage geprüfte Geschäftsordnungsvorschriften mit seinen Vorbehalten erläutert und hierdurch auf die zulässigen Interpretations- bzw. Anwendungsmöglichkeiten hinweist. Angesichts des präventiv-obligatorischen Charakters der Verfasungskontrolle - der die parlamentarische Geschäftsordnungsgebung in Frankreich ohne verfahrensrechtliche Einschränkungen bzw. Filter unterworfen wird - sind Verdikte und Vorbehalte des Verfassungsrates für das Parlament verbindlich, und somit ist seine Geschäftsordnungsgebung völlig dem Spruch des Verfassungsrats 7 Theodossis

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c. Frankreich

ausgeliefert. Bei seiner rechtsprechenden Tätigkeit ist er an keinen Antrag gebunden, braucht die Interessen von streitenden Parteien nicht zu erwägen, und spricht nicht Recht, um einen verfassungsrechtlichen Konflikt zu bereinigen. Ohne eine kontradiktorische Ausrichtung des Kontrollverfahrens lassen sich die zur Prüfung stehenden Entscheidungen am einfachsten durch die Urteile des Kontrolleurs ersetzen. Das abstrakte und präventiv-obligatorische Kontrollverfahren eignet sich dafür, die Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in eine "Bevormundung"desParlaments umzuwandeln. An mögliche Verfahrensüberschreitungen seitens des Verfassungsrates wurde im Jahre 1958 nicht gedacht, diese sind demnach schlicht hinzunehmen. Die (formelle) Geschäftsordnungsgebung des französischen Parlaments steht also unter dem Vorbehalt der Verfassungsratsentscheidungen. Will jedoch das französische Parlament die stringenten Darlegungen des Verfassungsrates nicht befolgen, kann es geschäftsordnungsrechtlich nicht tätig werden und die sog. allgemeinen Vorschriften des Präsidiums in Anspruch nehmen. Parlament bzw. Parlamentsminderheiten und Regierung können in Frankreich vor verfassungswidrigen bzw. mißbräuchlichen Geschäftsordnungsanwendungen nicht geschützt werden, solange sie nicht die Form einer Geschäftsordnungsänderung annehmen. "Verfahrenstechnisch"kann man aus dem französischen Beispiel die Schlußfolgerung ziehen, daß zwar die Verfassungskontrolle über die parlamentarischen Geschäftsordnungen unabdingbar ist, nicht aber ihr abstrakter und präventivobligatorischer Charakter.

D. Gerichtskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen in der Bundesrepublik Deutschland

I. Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Der historische Hintergrund der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz

Die geltende deutsche Verfassung (das Grundgesetz von 1949) enthält keine Regelung, welche das Inkrafttreten einer Rechtsnorm vom Spruch eines Gerichts abhängig macht. Im Gegensatz zur französischen Verfassung von 1958 sieht das Bonner Grundgesetz keine antizipierte Normenkontrolle vor, wohingegen mit der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 92ff GO eine starke und konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeiteingeführt wurde!. Die Aufgabe des deutschen Bundesverfassungsgerichts besteht grundSätzlich darin, die Vorrangigkeit und Normativität der Verfassung zu sichern, und es ist dazu berechtigt, Akte der Legislative auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Nach den traumatischen Erfahrungen der Weimarer Republik und der NaziHerrschaft wollte man die Verfassungskontrolle nicht mehr nur dem Parlament oder dem an der Gesetzgebung beteiligten Staatsoberhaupt überlassen. Die Machtfülle des deutschen Bundesverfassungsgerichts auch gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber ist also auf die Erfahrungen der Weimarer Republik bzw. des Ermächtigungsgesetzes von 1933 zurückzuführen und bezeugt das lDurch ,,Nonnenkontrollen" wird die Beachtung höherrangigen Rechts bzw. höherrangiger Rechtsnonnen erzwungen. Der Tenninus ,,Nonnenkontrolle" hat sich im deutschen Schrifttum eingebürgert,.pbwohl es eigentlich ,,Rechtsnonnenkontrolle" heißen sollte. Zu einem umfassenden Uberblick über Typen und Systeme der Nonnenkontrolle bzw. der Verfassungsgerichtsbarkeit s. Weber, Generalbericht: Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, in: StarckIWeber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S.62ft'. 7"

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D. Bundesrepublik Deutschland

Mißtrauen des deutschen Verfassungsgebers von 1949 gegenüber dem Parlament und seinen jeweiligen Mehrheiten2 • "Für die Schöpfer des Grundgesetzes waren zweifellos die unmittelbaren Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit, aber auch die Erinnerung an die Schwächen der Weimarer Republik, für die Entscheidung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit ausschlaggebend"3.

2. Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter der Weimarer Reichsverfassung

Unter der Weimarer Reichsverfassung (1919-1933) verfügten die Gerichte nicht über das sog. richterliche Prüfungsrecht4 • Es fehlte vor allem an einer expliziten Anordnung über den Verfassungsvorrang gegenüber den nachkonstitutionellen Gesetzens . Gemäß Art. 102 WRV waren zwar die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen, ob aber unter "Gesetz"auch die Verfassung zu verstehen war, war in der zeitgenössischen Staatsrechtswissenschaft sehr umstritten6• "Weder hat sich der Verfassungsgeber eindeutig für das richterliche Prüfungsrecht ausgesprochen, noch hatte er sich ausdrücklich dagegen entschieden" 7. Nach herrschender Lehre stellte die Reichsverfassung keine Norm höheren Ranges gegenüber den einfachen Gesetzen dar, und demnach konnte die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze gerichtlich nicht angezweifelt werdenS. Dennoch 2Dazu s. a. oben A III c). 3Benda/Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, S. 7. Dazu s. a. Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnonnen, 1951, S. 7. 4Dazu s. u. a. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 1933, S. 37Of; Gusy, Richterliches Prüfungsrecht, S. 75ff. 5Für vorkonstitutionelle Gesetze und Verordnungen bestand hingegen eine solche Anordnung, dazu s. Art. 178 Absätze 1 und 2 WRV: ,,(1) Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 und das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 sind aufgehoben. (11) Die übrigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben in Kraft, soweit ihnen die Verfassung nicht entgegensteht. Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrags werden durch die Verfassung nicht berührt". Der Text der Weimarer Reichsverfassung stammt aus R. Schuster (Hrsg.) Deutsche Verfassungen, 19. Auflage, 1989, S. 99ff. 6Dazu s. Anschütz, (Anm. 4), S. 475f; Gusy, (Anm. 4), S. 75f. 7Gusy, (Anm. 4), S. 78. 8Dazu s. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 11, 1911, S. 39: "Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich", Anschütz, (Anm. 4), S. 401: "Der Gedanke einer besonderen, von der gesetzgebenden verschiedenen Gewalt ist, im Gegensatz zu Nordamerika, dem Deutschen Staatsrecht nach wie vor fremd" und Anschütz, (Anm. 4), S. 475f: ,,Er (d. h. der Richter) darf und muß vielmehr prüfen ( ... ) c) ob das anzuwendende Gesetz nicht etwa einer (sei es später sei es früher ergangenen Nonn) höheren Ranges widerspricht. Ein solches

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haben die Gerichte seit 1925 das richterliche Prüfungsrecht für sich beansprucht und es in einigen Fällen auch ausgeübt9 • Insbesondere der Staatsgerichtshof er war gemäß Art. 19 Abs. 1 WRV dafür zuständig, über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Beilegung bestand, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande zu entscheiden - erklärte die Normenkontrollkompetenz als eine "Annexkompetenz"zu seinen sonstigen Zuständigkeiten mit der Begründung, er sei im Unterschied zu den anderen Gerichten zur Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitfragen berufen 10. Demzufolge stand ihm (primär) das richterliche Prüfungsrecht zu, wenn er in einem durch die Verfassung zugewiesenen Streitverfahren rechtsprechend tätig war. In diesem Rahmen konnte er gegebenfalls einem Reichsgesetz wegen Verfassungswidrigkeit die Anwendung versagen. Das beanstandete Reichsgesetz konnte jedoch dabei nicht beseitigt werden; die Urteile des Staatsgerichtshofes diesbezüglich waren lediglich FeststellungsurteilelI. Für Streitigkeiten über die Auslegung bzw. die Anwendung der Reichsverfassung war weder der Staatsgerichtshof noch ein anderes deutsches Gericht zuständig l2 • Zwar konnten Entscheidungen des Reichsgerichts - das gemäß Art. 13 WRV und dem Reichsgesetz vom 8. April 1920 zuständig war, auf Antrag über die Vereinbarkeit von Landesrecht mit Reichsrecht zu entscheiden Gesetzeskraft entfalten, aber vor dem Reichsgericht konnten keine ReichsgesetRangverhältnis besteht zwischen (... ), nicht aber zwischen den einfachen Reichsgesetzen und der Reichsverfassung, auch nicht - vorbehaltlich abweichender Bestimmungen des Landesrechts - zwischen den einfachen Gesetzen und den Verfassungsgesetzen der Länder". 9Dazu s. u. a. BendalKlein, (Anm. 3), S. 3; Betterman, Die verfassungskonforme Auslegung. Grenzen und Gefahren, 1986, S. 21; Gusy, (Anm. 4) , S. 79ff; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 3. Auflage, 1994, S. 76 Rn. 108; Stuth, Vorbemerkungen vor §§ 76ff. BVerfGG Rn. 3, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Ulsamer, Kommentierung des § 78 BVerfGG Rn. 2, in: Maunz/SchmidtBleibtreuiKleinlUlsamer Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1978. IODazu s. Art. 19 WRV: ,,(1) Über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, sowie über Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher Art zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen dem Reiche und einem Lande entscheidet auf Antrag eines der streitenden Teile der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs zuständig ist. (11) Der Reichspräsident vollstreckt das Urteil des Staatsgerichtshofs". Hierzu vgl. Anschütz, (Anm. 4) S. 369ff; BendalKlein, (Anm. 3), S. 3; Gusy, (Anm. 4), S. 85; Stuth, (Anm. 9), Rn. 5. 11 Dazu s. Anschütz, (Anm. 4) S. 173ff. 12Dazu s. Anschütz, (Anm. 4), S. 163f; Schlaich, (Anm. 9), S. 56 Rn. 76 (S. 77 Rn. 109); Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: BendaiMeihoferlVogel (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 1257f; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht. Die Verfassungs gerichtsbarkeit des Bundes und der Länder mit einem Anhang zum Internationalen Rechtsschutz, 3. Auflage, 1991, S. 98.

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D. Bundesrepublik Deutschland

ze beanstandet werden 13 • Reichsgesetze stellten den Prüfungsmaßstab und nicht den Prüfungsgegestand der Kontrolle des Reichsgerichts dar 14 • Schon während der Weimarer Zeit mehrten sich die Stimmen im Schrifttum, die diese Rechtslage für unbefriedigend und daher für verbesserungsbedürftig hielten lS • Der 34. Deutsche Juristentag von 1926 hatte ebenfalls die Ausdehnung der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes auf Verfassungsstreitigkeiten zwischen den obersten Reichsorganen und die Einführung einer (zentralen) Normenkontrolle für die Reichsgesetze gefordert; verwirklicht hat jedoch all das erst das Grundgesetz 16 •

3. Das Bundesverfassungsgericht des Grundgesetzes Die Verfassungsbestimmungen über das Bundesverfassungsgericht befinden sich im IX. Abschnitt des Grundgesetzes, der die Überschrift: "Die Rechtsprechung" trägt. Jeder Zweifel, ob das Bundesverfassungsgericht ein Gericht sei, wird durch den Wortlaut des Art. 92 GG ausgeräumt17 • Durch die Bestimmung des § 1 Abs. 1 BVerfGG wird ferner das Bundesverfassungsgericht allen anderen obersten Bundes- und Verfassungsorganen gleichgestellt, und durch die (im Jahre 1975 vom Plenum des Gerichts verabschiedete) Bundesverfassungsgerichtsgeschäftsordnung wird es als oberstes kollegiales Verfassungsorgan proklarniert 18 . 13 Art. 13 WRV: ,,(I) Reichsrecht bricht Landesrecht. (11) Bestehen Zweifel oder Meinungsverschiedenheiten darüber, ob eine landesrechtliche Vorschrift mit dem Reichsrecht vereinbar ist, so kann die zuständige Reichs- und Landeszentralbehörde nach näherer Vorschrift eines Reichsgesetzes die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reichs anrufen". 14Dazu s. Anschütz, (Anm. 4), S. 100ff; Gusy, (Anm. 4), S. 76f; von Mutius, Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Jura 1987, S. 536; Schlaich, (Anm. 9), S. 285 Rn. 462; Simon, (Anm. 12), S. 1257. I~Dazu s. Anschütz, (Anm. 4), S. 163 (373f); Gusy, (Anm. 4), S. 79ff; Schlaich, (Anm. 9), S. 77 Rn. 109. 16Hierzu vgl. v. Mutius, (Anm. 14), S. 536; Pestalozza, (Anm. 12), S. 98; Schlaich, (Anm. 9), S. 77 Rn. 109; Simon, (Anm. 12), S. 1258. 17 Art. 92 GO: "Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt" 18Dazu s. § 1 Abs. 1 BVerfGO (im Anhang). Es ist hier anzumerken, daß das Bundesverfassungsgericht keinem anderen Bundesorgan oder Bundesministerium untergeordnet ist, und daß es im Haushaltsplan ein eigenes Kapitel erhält. Eingehend zum Bundesverfassungsgericht, seiner Stellung und Organisation s. u.a. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 485; Benda/Klein, (Anm. 3), S. 25ff; Benda, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bundesrepublik Deutschland, in: StarcklWeber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in West-

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Das Bundesverfassungsgericht ist ein Verfassungsorgan, da es sich aus dem Grundgesetz unmittelbar und konstitutiv ableitet; Bestehen und Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts konstituieren den deutschen Staat und sichern seine Einheit 19 • Dem Artikel 20 Absätze 1, 2 und 3 GO i. V. mit Art. 79 Abs. 3 GO (im Anhang) entspringt ferner eine Ewigkeitsgarantie für den Kernbereich seiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle; demnach darf eine Grundgesetzänderung weder das Gericht abschaffen noch seine Befugnisse drastisch einschränken20• Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts sind im Grundgesetz (GO) und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGO) aufgezählt und können nur durch eine bundesgesetzliche Regelung ausgeweitet werden21 • Das Bundesverfassungsgericht selbst darf seine Zuständigkeiten nicht ausdehnen. Das Bundesverfassungsgericht hat anband der Verfassung Recht zu sprechen. Seine Tätigkeit ist rechtsprechender Natur, und seine Urteilsbildung sollte das Ergebnis von Rechtserkenntnissen sein. Die Verfassung stellt die Rechtsgrundla-

europa, 1986, S 124f; Böttcher, Kommentierung des § 1 Abs. 1 BVerfGG Rn. 5ff, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommenttar und Handbuch, 1992; Häberle, Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: JZ 1976, S. 377ff. S. 377f; E. Klein, Verfassungprozeßrecht - Versuch einer Systematik an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 108, 1983, S. 416; Korioth, Die Bindungswirkung normverwerfender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für den Gesetzgeber, in: Der Staat 30, 1991, S. 571; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: IsenseeiKirchof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 56, 1987, S. 738f; Pestalozza, (Anm. 12), S. 37f; Pieroth, Kommentierung der Art. 93 GG Rn. 2, in: JarasslPieroth (Hrsg.) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 53,1987, S. 668f; Schlaich, (Anm. 9), S. 2OffRn. 25ff; Schmidt-Bleibtreu, Kommentierung des Art. 93 GG Rn. 2, in: Schmidt-BleibtreulKlein (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1980, S. 344ff. 19Dazu s. u. a. BendalKlein, (Anm. 3) S. 26; Ritterspach, Die Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1976, S. 58; Umbach, Kommentierung des § 1 Abs. 2 BVerfGG Rn. 32ff, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane. Bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsfiguren zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1988, S. 34ff. 20 Dazu s. Benda/Klein, (Anm. 3), S. 26; Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 354; Umbach, (Anm. 9), Rn. 35. 21Hierzu vgl. Art. 93 Abs. 2 GG: "Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig".

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D. Bundesrepublik Deutschland

ge und zugleich die Grenzen der rechtsprechenden Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts da.r22 •

4. Der Charakter der grundgesetzlichen Verfassungsgerichtsbarkeit

a) Das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts Aufgrund Art. 100 Abs. 1 00, der das (allgemeine) richterliche Prüfungsrecht in Deutschland begründet, können alle Fach- und Instanzgerichte über die Verfassungsmäßigkeit "nachkonstitutioneller Gesetze" (frei) entscheiden, nicht aber über ihre Verfassungswidrigkeit23 • Unter Geltung des Grundgesetzes ist jedes (in der Sache zuständige) Gericht berechtigt und verpflichtet, die Verfassungsmäßigkeit der (für den konkreten Rechtsstreit maßgeblichen) Rechtsnonnen vor deren Anwendung zu überprüfen. Ist aber das zuständige Gericht von der Verfassungswidrigkeit eines "nachkonstitutionellen Gesetzes" überzeugt, dann darf es das "Gesetz"nicht ohne weiteres außer acht lassen, sondern hat es dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen24• Denn gemäß Art. 100 Abs. 1 00 kann nur das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit bzw. Ungültigkeit des vorgelegten "Gesetzes" allgemeinverbindlich entscheiden25 • 22Dazu s. BendalKlein, (Anm. 3), S. 30; Gusy, Die Offenheit des Grundgesetzes, in: JöR N. F. 33, 1984, S. 109; Schlaich, (Anm. 9), S. 25 Rn. 33. 23Dazu s. Art. 100 Abs. 1 GG: "Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichts des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit dem Bundesgesetze handelt". 24Hienu vgl. Art. 93 Abs. 4 der griechischen Verfassung von 1975 (im Anhang). 2sHiervon ist jedoch das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren gemäß § 47 VwGO zu trennen, wonach das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit - also hinsichtlich solcher Rechtsnormen, aus deren Vollzug öffentiichrechtliche Streitigkeiten entstehen können - entscheidet und dessen negativer Ausspruch allgemeinverbindlich (inter omnes) wirkt. Die Durchführung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO geht der Verfassungsbeschwerde (als "Erschöpfung des Rechtswegs" s. Art. 93 Abs. 4a GG bzw. § 90 Abs. 2 BVerfGG Anhang) voraus; sie ist hingegen versperrt, insofern gesetzlich der (Landes-) Verfassungsrechtsweg "ausschließlich" für zulässig erklärt worden ist. Da der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO nur "untergesetzliche Rechtsnormen" unterliegen, besteht

I. Die deutsche Verfassungs gerichtsbarkeit

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Vorrangiger Zweck dieser (restriktiven) Verfassungsregelung ist es, die Autorität des Gesetzgebers vor Übergriffen der Dritten Gewalt zu schützen. Den deutschen Gerichten steht also das sog. richterliche Prüfungsrecht bezüglich des Bundes- und Landesrechts, nicht aber eine Verwerfungskompetenz (wegen Verfassungswidrigkeit) zu26. In der Bundesrepublik Deutschland können mithin Gerichte über die Verfassungswidrigkeit "untergesetzlicher Rechtsnonnen" und "vorkonstitutioneller Gesetze" frei entscheiden; im Falle der Verfassungswidrigkeit kann jedoch das Bundesverfassungsgericht diese - im Wege der abstrakten Nonnenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bzw. § 76 BVerfGG - endgültig beseitigen27 • Dem deutschen Bundesverfassungsgericht kommt mithin ein Verwerfungsmonopol zu; seine Kontrolle hat jedoch weder präventiven noch obligatorischen Charakter.

die Vorlagepflicht des Oberverwaltungsgerichts; sie bezieht sich jedoch nicht auf die zu prüfende Rechtsnorm, sondern nur auf die Maßstabsnorm Dazu s. Achterberg, Probleme der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren, in: Verwaltungsarchiv 1981, S. 163ff; Rinken, Kommentierung des Art. 100 GG Rn. 21, in: Denninger, Ridder, Simon, Stein (Hrsg.) Alternativkommentarzum Grundgesetz, Band H, 2. Auflage, 1989; Schmidt-Bleibtreu, Kommentierung des Art. 100 GG Rn. 1, in: Schmidt-BleibtreuiKlein (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995. 26Eingehend dazu s. u. a. BendalKlein, (Anm. 3), S. 298ff; Berkemann, Zur Auslegung des einfachen Gesetzes im Verfahren der konkreten Normenkontrolle, in: AöR 99, 1974, S. 63; Bettermann, Die konkrete Normenkontrolle und sonstige Gerichtsvorlagen, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 347; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, 1993, Rn. 682ff; E.K1ein, (Anm. 18), S.576ff; LeibholzlRupprecht, Komm. § 80 BVerfGG Rn. 3, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Rechtsprechungskommentar, 1968, S. 234ff; Löwer, (Anm. 18), S. 781ff; MaunzlZippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Auflage, 1994, § 41 IV, S. 356ff; Pestalozza, (Anm. 12), S. 202ff; Rinken, (Anm. 25), Rn. 4ff; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der Gerichtsbarkeit, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band H, § 54, S. 689 Rn. 16; SChmidt-Bleibtreu, (Anm. 25), Rn. 1; Simon, (Anm. 12), S. 1266; Stein, Staatsrecht, 14. Auflage, 1993, § 22 V, S. 184; Stern, (Anm. 18), S. 988ff; Ulsamer, Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: BayVBI. 1980, S. 519. 27Dazu s. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bzw. § 76 BVerfGG (im Anhang). Hierzu vgl. (oben Anm. 25) die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO.

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b) Keine Kontrolle von Amts wegen und keine "a priori" Verfassungskontrolle Gemäß dem Grundgesetz ist dem Bundesverfassungsgericht keine von Amts wegen auszuübende Überwachungspflicht auferlegt. Das Verfassungsgericht des Grundgesetzes kann nur auf Antrag tätig werden. Nur wenn eine Verfassungsverletzung bzw. eine Verfassungsgefährdung erfolgreich geltend gemacht wird, kann das Bundesverfassungsgericht rechtsprechend tätig werden. Auch für das sog. abstrakte Normenkontrollverfahren gilt in der Bundesrepublik Deutschland der Grundsatz: wo kein Kläger, da kein Richter2 8 • Das deutsche Bundesverfassungsgericht kann ferner seine Kontrollkompetenz nur "nachträglich" ausüben. Zwar würde gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGE auch eine "unmittelbare Gefährdung" einer (konkreten) Verfassungsposition durch die Staatsgewalten genügen, um das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts zu rechtfertigen, diese Modalität ändert aber nicht den grundsätzlichen Charakter der grundgesetzlichen Verfassungsgerichtsbarkeit29 • Strikte Prozeßvoraussetzungen erschweren prinzipiell die Handhabung des Verfahrens gemäß § 64 BVerfGG als ein präventives Normenkontrollverfahren3o• Es ist also festzuhalten, daß unter dem Grundgesetz keine Rechtsnorm der "präventiven"Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen werden muß, um in Kraft treten zu können3!. Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können zwar Vertragsgesetze, mit denen das deutsche Parlament völkerrechtlichen Verträgen zustimmt, vor ihrer Verkündung vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden; dies wird aber durch die Besonderheit der Vertragsgesetze begründet und gerechtfertigt32 • Hervorzuheben 28Dazu s. a. unten m.4. 29Dazu s. § 64 Abs. 1 BVerfGG (im Anhang). 30Hierzu vgl. Holzer, Präventive Nonnenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, 1978, S. 205; Pestalozza, (Anm. 12), S. 124. 31 Hierzu vgl. Art. 61 Abs. 1 der französischen Verfassung von 1958 (im Anhang). 32Dazu s. u.a. Benda/Klein, (Anm. 3), S. 284f; Bunneister, Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Gewaltengliederung, in: KoenigIRüfner (Hrsg.) Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkcitskontrolle in Frankreich und in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 53; Holzer, (Anm. 30), S. 127ft'; von Mutius, (Anm. 14), S. 539; Pestalozza, (Anm. 12), S. 124; Söhn, Die abstrakte Nonnenkontrolle, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 314f; Ulsamer, Kommentierung des § 76 BVerfGG Rn. 17, in: Maunz./Schmidt-BleibtreulKleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1978; K. Vogel, (Anm. 19), S. 100; Weber, (Anm. 1), S. 72f;Zeidler, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland. Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen. Arten, Inhalt und Wirkungen der Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsnonnen, in: EuGRZ 1988, S.207.

I. Die deutsche Verfassungs gerichtsbarkeit

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ist ferner hier, daß es dafür keine verfassungsrechtliche Anordnung bzw. Bestimmunggibt. Die Institution der einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG (aufgrund des Art. 93 Abs. 2 GG bzw. Art. 94 Abs. 2 GG) verändert ebenfalls den Charakter der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit nicht grundlegend33 • Dadurch kann zwar das Bundesverfassungsgericht das Inkrafttreten von Rechtsnormen bzw. Maßnahmen einstweilen verhindern, ihr Erlaß zielt jedoch nur darauf ab, die Durchführung des Verfassungsprozesses und die Wirksamkeit der noch zu ergehenden Hauptentscheidung zu sichern34 •

c) Das Bundesverfassungsgericht als Kontrolleur der Staatsgewalten Das Bundesverfassungsgericht stellt nicht die Spitze einer untergeordneten Gerichtsbarkeit dar. Das Bundesverfassungsgericht ist ein auf die Verfassung spezialisiertes Fachgericht; in Ausübung seiner (weitreichenden) Befugnisse hat es sich jedoch zu einem Gericht sui generis entwickelt, das den Prozeß der staatlichen Integration in Deutschland geprägt hat und weiterhin prägt. Seine Einrichtung ist vom deutschen Schrifttum als eine Wohltat für das rechtstaatlichdemokratisch verfaßte Gemeinwesen gepriesen worden, und oft ist dem Schrifttum zu entnehmen, daß erst mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verfassung als Verfassungswirklichkeit und ihre normative Kraft als politische Realität erfaßt worden sind 35 • 33Dazu s. Art. 93 Abs. 2 GO, Art. 94 Abs. 2 GO und § 32 Abs. 1 BVerfGG(im Anhang). 34Hienu vgl. Benda/Klein, (Anm. 3), S. 296 (466ff); Berkemann, Kommentierung des § 32 BVerfGO, in: Umbach/C1emens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Geiger, Einige Besonderheiten im verfassungs gerichtlichen Prozeß, 1981, S. 10; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 125; Holzer, (Anm. 30), S. 207; Erichsen, Die einstweilige Anordnung, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S.174ff; E. Klein, (Anm. 18), S. 616f; Pestalozza, (Anm. 12), S. 242ff; Schlaich, (Anm. 9), S. 263ff; Schlaich, Verfassungsprozessuale Auswirkungen des materiellen Verfassungsrechts - Am Beispiel des Organstreits um die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages, in: FS für O. Bachof, 1984, S. 336ff; Umbach, Parlamentsauflösung in Deutschland. Verfassungsgeschichte und Verfassungsprozeß, 1989, S. 634ff; K. Vogel, (Anm. 19), S. 137ff; Weber, (Anm. 1), S. 65; Zeh, Bundestagsauflösung und Neuwahlen, in: Der Staat 22, 1983, S.19f. 35Hienu vgl. E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S. 2099; Benda/Klein, (Anm. 3), S. 8ff; Chryssogonos, Verfassungs gerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zur Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle, 1987, S. 63f; Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsvergleichung

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D. Bundesrepublik Deutschland

"In der Kontrolle des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht, die ein wirksames Korrektiv gegen absolute Mehrheitsherrschaft darstellt, kann man mit Fug die Krönung des Rechtsstaates erblicken"36. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes ist nicht nur Bundesaufsicht über die Länder. Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung gibt es unter dem Grundgesetz kaum einen Staatsakt, den das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich nicht überprüfen könnte 37 . In einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland wäre es jedoch verfehlt, das Verfassungsgericht als alleinigen "Hüter der Verfassung" zu bezeichnen38 . Eine Überwachungsfunktion zur Durchsetzung des Verfassungsvorrangs steht jedem Staatsorgan zu; gemäß Art. 20 Abs. 3 (s. Anhang) hat jede Staatsgewalt vor Ausübung der (ihm durch die Verfassung zugewiesenen) Befugnisse die Verfassung zu interpretieren und sich danach zu richten. Allerdings lassen Verfassungsnormen häufig einen großen interpretatoriund des Völkerrechts, 3. Auflage, 1984, S. 136; Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politischeVerfassungsorgane. Die Geeignetheit des Entscheidungsverfahrens als Kriterium verfassungsgerichtlicher Kompetenz, 1982, S. 29; Forsthoft', Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Dreier/Schwegmann (Hrsg.) Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 74ft'; Häberle, Die oft'ene Gesellschaft der Verfassungsinterpretation. Ein Beitrag zur pluralistischen und "prozessualen"Verfassungsinterpretation, in: JZ 1975, S. 303; Karpen, Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes, 1987, S. 59f; Löwer, (Anm. 18), S. 796; Säcker, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Konvent von Herrenchiemsee, in: FS für W. Zeidler, Band I, 1987, S. 265; Schlaich, (Anm. 9), Rn. 515; Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: DVBI. 1988, S. 1206; Schulze-Fielitz, Der Fraktionslose im Bundestag: Einer gegen alle?, in: DÖV 1989, S. 837f; Simon, (Anm. 12), S. 1289; Starck, Das Bundesverfassungsgericht im politischen Prozeß der Bundesrepublik, 1976, S. 7ft'; Stein, (Anm. 26), § 22 I, S. 179; Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20, 1981, S. 514.1/ Theodossis, (griech.) Das deutsche Bundesverfassungsgericht, 1991, S. 3Of. 36Säcker, (Anm. 35), S. 265. 37Hierzu vgl. Benda/Klein, (Anm. 3), S. 9; Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, in: ZPR 1977, S. 3; Bryde, (Anm. 20), S. 310(441); Chryssogonos, (Anm. 35), S. 174; Doehring, Allgemeine Staatslehre. Eine systematische Darstellung, 1991, S. 198f; Säcker, (Anm. 35), S. 265; Simon, (Anm. 12), S. 1262. 38Hierzu vgl. BVerfGE 1, (l84)194ft'; Chr. Böckenförde, Die sogennante Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze. Eine Untersuchung über Inhalt und Folgen der Rechtssatzkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1966, S. 134; Chryssogonos, (Anm. 35), S. 30ft'; Eckertz, Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts und die Eigenheit des Politischen, in: Der Staat 17, 1978, S. 197ft'; Eisenblätter, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen Prozeß. Ein Beitrag zur Überparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR N. F. 29, 1980, S. 82f; Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, S. 79; Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 1931, S. 47ft'; Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDstRL 5, 1929, S. 78; Maassen, Probleme der Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1975, S. 1346; W. Meyer, Kommentierung der Art. 93 GG Rn. 3, in: v. Münch (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Band III, 2. Auflage, 1983; Pieroth, (AI\m. 18), Rn. 3; Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 11 (158). /I Theodossis, (Anm. 35), S. 3Of.

H. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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sehen Spielraum zu, und dem Bundesverfassungsgericht ist durch die Verfassung die Aufgabe zugewiesen, über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen anderer Staatsorgane und somit über deren Verfassungsbewahrungspflicht letztverbindlich zu entscheiden.

d) Das Bundesverfassungsgericht als Kontrolleur des parlamentarischen Geschäftsordnungsgebers

Die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeitsbestimmungen des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes weisen einen hohen Abstraktionsgrad auf; meistens ist der Kontrollgegenstand darin nicht genau umgrenzt. In groben Zügen handelt es sich dabei um die Verfassungsmäßigkeit bzw. Verfassungsmäßigkeit von "Gesetzen", von "Recht bzw. Rechtsnormen" und von "Maßnahmen bzw. Entscheidungen" öffentlicher Gewalt. Obwohl der Prüfungsmaßstab immer derselbe ist, nämlich das Grundgesetz, sind Prüfungs- und Entscheidungsgegenstand in jedem Verfahren unterschiedlich. Eine explizite Zuständigkeitsbestimmung für die Kontrolle parlamentarischer Geschäftsordnungen - wie die des Art. 61 Abs. 1 der französischen Verfassung von 1958 - gibt es im Grundgesetz nicht. Infolgedessen ist die Ermittlung des Rechtscharakters bzw. der Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnungen für ihre Nachprüfbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht erforderlich. Danach ist die Frage zu beantworten, welche Rechtsbehelfe dazu in Frage kämen und unter welchen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen sich das Bundesverfassungsgericht damit befassen könnte.

ß. Die parlamentarischen Geschäftsordnungen nach deutschem Recht und deren Rechtscharakter 1. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat als parlamentarische Gremien

In der Bundesrepublik Deutschland ist der Deutsche Bundestag das (haupt) gesetzgebende Bundesorgan, obgleich der Bundesrat entscheidend bei der Gesetzgebung mitwirkt. Unter dem Grundgesetz ist der Bundestag das vom Bundesvolk unmittelbar gewählte Vertretungsorgan (Volksvertretung). Gemäß Art. 38 Abs. 1 GO werden seine Mitglieder "in allgemeiner, unmittelbarer, freier, glei-

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D. Bundesrepublik Deutschland

cher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzes Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Im Gegensatz zum Bundestag hat der Bundesrat, durch den die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken, keine unmittelbare demokratische Legitimation und kennt keine Legislaturperioden!. Der Bundesrat setzt sich aus Mitgliedern der Landesregierungen zusammen, welche in unregelmäßigen Zeitabständen wechseln und welche an Aufträge und Weisungen gebunden sind. Bundesgesetze werden zwar vom Bundestag beschlossen, aber gemäß Art. 77 Abs. 1 Satz 2 GO sind sie unverzüglich nach ihrer Annahme durch den Bundestagspräsidenten dem Bundesrat zuzuleiten. Gemäß Art. 78 GO (s. Anhang) kommt ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz zustande, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 nicht stellt, innerhalb der Frist des Artikels 77 Abs. 3 keinen Einspruch einlegt oder ihn zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestag überstimmt wird2 . Der Bundesrat verfügt ferner über das Initiativrecht (Art. 76 Abs. 1 GO), das Recht auf Stellungnahme zu Regierungsvorlagen (Art. 76 Abs. 2 GO) und die Möglichkeit der Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GO). Den Bundestag kann man somit als das deutsche Parlament betrachten, wobei dem Bundesrat "im Gesetzgebungsverfahren von seiner Funktion her faktisch die Stellung einer parlamentarischen Zweiten Kammer zukommt"3. 1Hierzu vgl. Art. 39 Abs. 1 Satz 1 00, Art. 50 00 und Art. 51 Abs. I Satz I 00 (im Anhang). 2Gemäß Art. 77 Abs. 3 00 kann der Bundesrat gegen alle Bundesgesetze Einspruch einlegen, wobei der Bundestag gemäß Art. 77 Abs. 4 00 diesen Einspruch überstimmen kann. Wenn aber das Grundgesetz die Zustimmung des Bundesrates vorschreibt, kann der Bundesrat das Gesetzgebungsverfahren blockieren. Die "grundgesetzlichen" Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Bundesrates sind allerdings Ausnahmen. 3D. Wyduckel, Der Bundesrat als Zweite Kammer. ~~ verfassungsrechtlichen Stellung des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren, in: OOV 1989, S. 191. Hierzu vgl. BVerfGE 37, (363) 38Of; Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 11; Herzog, Stellung des Bundesrates im demokratischen Bundesstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1987, § 44, S. 480; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, 1993, Rn. 615; Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 1992, S. 15ft'; Fr. Klein, Komm. des Art. 50 00 Rn. 1, in: Schmidt-BleibtreulKlein (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995; MaunzJZippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Auflage, 1994, § 32 I; von Münch, Staatsrecht, 5. Auflage, 1993, Rn. 728; Pieroth, Komm. des Art. 50 00 Rn. 3, in: JarasslPieroth (Hrsg.) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995; Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetz und Geschäftsordnung, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10, S. 333; Reuter, Der Bundesrat als Parlament der Länderregierungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 1551ft'; Scholl, Der Bundesrat in der deutschen Verfassungsentwicklung. Reichsverfassung und Grundgesetz, 1982, S. 71ft'; Seifert, Komm. des Art. 50 Rn. 2 00, in: Seifert/Hömig (Hrsg.) Grundgesetz für die Bundesrepu-

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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2. Die Geschäftsordnungs&utonomie des Bundestages und Bundesrates

a) Verfassungsrechtliche Garantie der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie Unter dem Grundgesetz wird das Selbstorganisationsrecht von Bundestag und Bundesrat durch Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG: ,,Er (d. h. der Bundestag) gibt sich eine Geschäftsordnung."

bzw. durch Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GG: ,,Er (d. h. der Bundesrat) gibt sich eine Geschäftsordnung."

begrundet4 • Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GG dienen einerseits als verfassungsrechtliche Ermächtigungen zum Erlaß der Geschäftsordnungen, andererseits als Garantie für deren autonome Setzung. Bundesrat und Bundesblik Deutschland, 3. Auflage 1988; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage, 1984, S. 743f; Ziller/Oschatz, Der Bundesrat, 9. Auflage, 1993, S.22ft'. 4Hierzu vgl. Art. 26 Satz 2 WRV "Er (d.h. der Reichstag) gibt sich seine Geschäftsordnung" bzw. Art. 66 Abs. 2 WRV "Der Reichsrat regelt seinen Geschäftsgang durch eine Geschäftsordnung", Art. 27 Satz 2 der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 und der Reichsverfassung von 1871: ,,Er (d.h. der Reichstag) regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer" - in diesen Verfassungsperioden beschloß der Bundesrat auch ohne eine verfassungsrechtliche Ermächtigung autonom seine Geschäftsordnung -, Art. 78 Abs. 1 Satz 2 der preußischen Verfassungsurkunde von 1850: "Sie (d.h. jede Kammer) regelt ihren Geschäftsgang und ihre Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer" und § 114 Abs. 1 der Paulskirchenverfassung von 1849: ,,Jedes Haus hat das Recht, seine Mitglieder wegen unwürdigen Verhaltens im Hause zu bestrafen und äußerstenfalls auszuschließen. Das Nähere bestimmt die Geschäftsordnung jedes Hauses". Die obigen Verfassungstexte stammen aus Schuster (Hrsg.), Deutsche Verfassungen, 19. Auflage, 1985. Zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie in Deutschland s. u.a. Amdt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 18ft'; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 193ft'; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 31ft'; Kretschmer, Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 9, S. 293f; Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 27ft'; Reuter, Praxishandbuch-Bundesrat, 1991, S. 274f; H. Schneider, Die Bedeutung der Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane für das Verfassungsleben, in: FS für R. Smend, 1952, S. 304ft'; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 20lf.

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D. Bundesrepublik Deutschland

tag sind demnach bei der Verabschiedung ihrer Geschäftsordnung nicht an die Zustimmung anderer Organe gebunden. Deren Geschäftsordnungsrecht kommt mithin ohne das Mitwirken anderer Verfassungsorgane zustande 5 . Kraft Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GG sind Bundestag und Bundesrat (alleinige) Herren ihrer Geschäftsordnungsangelegenheiten. Darüber hinaus kann man hier der Ansicht folgen, daß die grundgesetzliche Geschäftsordnungskompetenz von Bundestag bzw. Bundesrat aufgrund Art. 20 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 79 Abs. 3 GG (s. Anhang) nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers steht6 • Angesichts der in Deutschland geltenden parlamentarischen Regierungssystems trägt die Verfassungsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG eher zur Begründung einer Sachkompetenz des Bundestages als zur Absicherung seiner funktionellen Unabhängigkeit gegenüber den anderen Staatsorganen bzw. der von ihm abhängigen Bundesregierung bei. Beim föderativen Bundesrat hingegen, dem gegenüber die Bundesregierung nicht verantwortlich ist, bleibt weiterhin das verfassungsrechtlich garantierte Autonomieprinzip (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GG) ein funktionelles Abwehrrecht gegenüber den unitaristischen Verfassungsorganen (Bundestag bzw. Bundesregierung)7 •

b) Regelungsgehalt der autonomen Geschäftsordnungsgebung Der Regelungsgehalt der parlamentarischen Geschäftsordnungen wird durch das Grundgesetz nicht festgelegt. Beide parlamentarischen Gremien werden zwar verfassungsrechtlich ermächtigt, sich ihre Geschäftsordnungen (autonom) zu geben, der Regelungsumfang dieser Autonomie wird aber nicht festgesetzt. Danach ist er anband verfassungs geschichtlicher und empirisch-sachlicher Gesichtspunkte zu ermitteln. Es wird oft darauf verwiesen, daß um einer sachgerechten Funktionserfüllung bzw. einer effizienten Arbeitsweise willen die herkömmlichen Geschäftsordnungsangelegenheiten weiterhin der autonomen Satzungsgewalt des Bundestages bzw. des Bundesrates überlassen werdenS. Und nach den Worten des BunSHierzu vgl. Art. 77 Abs. 2 Satz 2 00, Art. 65 Satz 3 00, Art. 78 00, Art. 82 Abs. 1 Satz 1 00 (im Anhang). 6S. Haug, (Anm. 4), S. 71. 7Hierzu vgl. BVerfGE 70, 36Of; Bollmann, (Anm. 4), S. 33; Maunz, Komm. des Art. 52 00 Rn. 1, in: MaunzlDürig (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 1961; Reuter, (Anm. 4), S. 275f; Schröder, (Anm. 4), S. 202. 8Dazu s. u. a. Arndt, (Anm. 4), S. 64ft'; Hesse, (Anm. 3), Rn. 577; Kretschmer, (Anm. 4), S. 29lf; F. Klein, (Anm 3), Komm. des Art. 40 00 Rn. 8; MaunzlZippelius,

H. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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desverfassungsgerichts haben die parlamentarischen Geschäftsordnungen das geordnete Funktionieren des Parlaments im Staats- und Verfassungsleben zu sichern und regeln das Verfahren für die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte9 • Innere Ordnung, Geschäftsgang und Aufrechterhalung der Disziplin zählen demnach zu den Bereichen, die Bundestag bzw. Bundesrat im Wege ihrer autonomen Geschäftsordnungsgebung regeln dürfen. Mag die obige, vom Schrifttum und der Verfassungsrechtsprechung stammende Auftistung aufschluß- bzw. lehrreich sein, kann sie jedoch keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vor allem wäre es verfehlt, sie als eine (den Regelungsgehalt der autonomem Geschäftsordnungsgebung einschränkende) Richtlinie zu betrachten, solange darüber keine inhaltsgleiche Verfassungsregelung besteht. Es kommt vielmehr auf die jeweilige Materie an, bzw. es ist jedesmal im konkreten Fall die Frage zu beantworten, ob Bundestag bzw. Bundesrat ihre Geschäftsordnungsautonomie überschritten haben.

c) Das autonome Geschäftsordnungsgebungs- bzw. Geschäftsordnungsänderungsverfahren - Minderheitenschutz Das Grundgesetz sagt nichts zum Geschäftsordnungsgebungsverfahren. Demzufolge wird die Geschäftsordnung des Bundestages mit der (einfachen) Mehrheit der abgegebenen Stimmen beschlossen und kann daher jeden Moment von der Bundestagsmehrheit geändert bzw. ergänzt werden 10 . Mangels einer spezi(Arun. 3), S. 257; Pieroth, (Arun. 3), Komm. des Art. 40, Rn. 6; Pietzcker, (Arun. 3), S. 344ff; Reuter, (Arun. 4), S. 275f; H.-P. Schneider, Komm. des Art. 40 GG Rn. 2, in: Denninger, Ridder, Simon, Stein (Hrsg.) Alternativkommentar zum Grundgesetz, Band H, 2. Auflage 1989; Seifert, in: (Arun. 3), Komm. des Art. 40 GG Rn. 3; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band H, 1980, S. 83; Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, in: JuS 1991, S. 29f; Ziller, Der Bundesrat, 1987, S. 19ff. 9Dazu s. BVerfGE 1, (144) 148; 10, (4) 19; 44, (308) 314; 70, (324) 360; 70, (366) 378; 80, (188) 218ff. Meistens beziehen sich solche Ausführungen der Rechtsprechung und des Schrifttums nur auf die Geschäftsordnung des Bundestages. Im größten Teil sind sie aber auch auf die Geschäftsordnung des Bundesrates übertragbar, dazu s. Reuter, (Arun. 4), S. 276. Wenn im folgenden von parlamentarischen Geschäftsordnungen oder parlamentarischem Geschäftsordnungsrecht die Rede ist, sind (kumulativ) die Geschäftsordnungen von Bundestag und von Bundesrat zu verstehen. lODazu s. Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG (im Anhang). Hierzu vgl. Art. 32 Abs. 1 Satz 2 Verfassung von Baden-Württemberg "Der Landtag gibt sich eine Geschäftsordnung, die nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten geändert werden kann". Der Text stammt aus Pestalozza (Hrsg.) Verfassungen der deutschen Bundesländer, 4. Auflage, 1995. 8 Theodossis

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D. Bundesrepublik Deutschland

ellen Regelung gilt ähnliches auch für die Geschäftsordnung des Bundesrates. Auch sie wird wie die sonstigen Beschlüsse des Bundesrates erlassen 11 D. h. die Geschäftsordnungsgebung bzw. eine Änderung bedarf einer Entscheidung des Bundesrats, welche mit der Mehrheit der möglichen Stimmen bzw. mit der absoluten Mehrheit zu fassen ist 12 • Abgesehen davon, daß sich die Mehrheitsregeln mit der Geschäftsordnungsautonomie jedes Gremiums rechtfertigen lassen, kennzeichnet der mehrheitlich bedingte Abänderungsmodus auch die sonstigen Rechtsetzungsverfahren. Zwar ist das Autonomieprinzip an das Demokratieprinzip und das ihm inhärente Gebot zum Minderheitenschutz gebunden, trotzdem können die (die Flexibilität der Parlamentsarbeit bewahrenden und Obstruktionen verhindernden) Bundestagsbzw. Bundesratsgeschäftsordnungen in der Praxis ebensowenig bzw. ebensoviel wie jede andere Rechtsnorm dem Minderheitenschutz Rechnung tragen, so daß man von einem unbestreitbaren bzw. jederzeitigen Minderheitenschutz durch sie nicht ausgehen kann 13 • Somit wird die Erforderlichkeit einer Verfassungsmäßigkeitskontrolle evident, und in diesem Sinne hat ein Verfassungsgericht wie das Bundesverfassungsgericht (auf Antrag) die Rechtsetzung des autonomen Geschäftsordnungsgebers zu überprüfen und sie zu Fall zu bringen, wenn der parlamentarische Geschäftsordnungsgeber mit seinen Regelungen die sog. absoluten Minderheitenrechte (d. h. die Minderheitenrechte, die das Grundgesetz selbst konzendiert) beiseite schiebt bzw. stillegt oder wenn er sich über das dem Demokratieprinzip inhärente Gebot zum Minderheitenschutz hinwegsetzt 14 •

11 Dazu s. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GG (im Anhang). 12Dazu s. Fr. Klein, (Anm. 3), Komm. Art. 52 GG Rn. 9; Maunz, (Anm. 7), Komm. Art. 52 GG Rn. 21; Pieroth, (Anm. 3), Komm. Art. 52 GG Rn. 5; Reuter, (Anm. 4), S.679ft'; Seifert, (Anm. 3), Komm. Art. 52 GG Rn. 4. 13Hierzu vgl. BVerfGE 70, (366) 377ft' (abweichende Meinung Richter Mahrenholz); Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung mit besonderer Berücksichtigung der Geschäftsordnungen des preußischen Landtags und des Reichstags, 1929, S. 62f; Jellinek, Ausgewählte Schriften und Reden, Band 11, 1911, S. 269f; Pietzcker, (Anm. 3), S. 351; Reuter, (Anm. 4), S. 275f; Szmula, Stichwort: Geschäftsordnung (allgemeine Problematik), in: RöhringiSontheimer (Hrsg.) Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 160; Troßmann, Vor §§ 16-22, Rn. 8f, in: Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts, 1977. Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11,1987, § 42 S. 402. 14Hierzu vgl. oben Allund IV.

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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d) Das Publikationsverfahren - (Geltende) Fassungen der Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat

Auch wenn eine Publikation der Geschäftsordnungen von Bundestag bzw. Bundesrat nicht vorgeschrieben ist, werden die Fassungen bzw. die Geschäftsordnungsänderungen zur Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt veröffentlichtlS . Dadurch wird die Rechtsstaatlichkeit des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts gestärkt 16 • Geschäftsordnung und Geschäftsordnungsänderungen erlangen jedoch ihre Geltung mit dem Beschluß des Gremiums oder von dem Zeitpunkt an, den dieser Beschluß festsetzt. Am 2. Juli 1980 wurde die (am 25. Juni 1980 beschlossene) Geschäftsordnung des Bundestages im Bundesgesetzblatt (BGBL I, S. 1237) veröffentlicht und trat am 1. Oktober 1980 in Kraft. Trotz der zahlreichen Änderungen und der neuen Paragraphenfolge blieb sie dem Konzept ihrer Vorgängerinnen treu. Der Bundesrat beschloß seine noch heute geltende Geschäftsordnung am 1. Juli 1966 (BGBL I, S. 437), die am 1. Oktober 1966 in Kraft trat. Am 10. Juni 1988 wurde sie ergänzt, und seitdem gilt sie in dieser Fassung (BGBL I, S. 857).

Die Geschäftsordnung des Bundestages i. d. F. v. 1980 und die Geschäftsordnung des Bundesrates i. d. F. v. 1988 dienen als rechtliche Grundlage dieser Untersuchung; ohne weitere Angaben wird hier auf deren Paragraphen verwiesen 17.

lSEin Teil des Schrifttums hält allerdings zur Bekanntmachung der parlamentarischen Geschäftsordnungen die Verteilung der entsprechenden Drucksachen an die Adressaten für ausreichend. Hierzu vgl. Bücker, Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. in: RitzeVBücker (Hrsg.) Handbuch für die parlamentarische Praxis. 1993. Einleitung S. 6; Kretschmer. (Anm. 4). S. 330; Maunz. (Anm. 7). Komm. Art. 52 GG Rn. 13; Maunz. Kommentierung des Art. 40 GG Rn. 19. in: MaunzlDürig (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz. 1960; Reuter. (Anm. 4). S. 279. 16Nicht nur Parlamentarier. sondern auch Bürger. die als Zuhörer. Auskunftspersonen oder Aspiranten eines parlamentarischen Mandats am Parlamentsleben interessiert sind. müssen sich über die dort geltenden Regeln problemlos informieren können. Ähnlich Haug. (Anm. 4). S. 169. 17ZU den Vorgängern der Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnung s. Lechner/Hülshoff. Parlament und Regierung. 3. Auflage. 1971. S. 186; Reuter. (Anm. 4). S. 313ff. S*

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D. Bundesrepublik Deutschland

3. Die Charakteristika der Bundestags- bzw. Bundesratsgeschätlsordnungen

a) Die Geltungsdauer der Geschäftsordnungen des Bundesrats bzw. des Bundestages Was die Geltungsdauer der Bundesratsgeschäftsordnung betrifft, ist man sich im deutschen Schrifttum einig, daß sie unbeschränkte Geltungsdauer besitzt l8 • Der Bundesrat ist ein permanentes Bundesorgan. Im Gegensatz zum Bundestag, der auf Zeit gewählt wird, kennt er keine Wahl- und Legislaturperioden. Seine Geschäftsordnung würde fortgelten, auch wenn er einmal zu einem Zeitpunkt personell vollständig erneuert werden sollte. Die Geschäftsordnung des Bundesrates gilt also ohne eine zeitliche Beschränkung; sie gilt, bis sie nach dem allgemeinen Grundsatz lex posterior derogat legi priori ganz oder teilweise ersetzt wird. Im Hinblick auf die Souveränität des volksgewählten Bundestages bzw. auf dessen Diskontinuität wird hingegen vom deutschen Schrifttum der Geschäftsordnung des Bundestages nur eine befristete Geltungsdauer zugesprochen (Diskontinuitätsthese)19. Die Geschäftsordnung des Bundestages, lautete die Diskontinuitätsthese, gelte nur für die Dauer der Legislaturperiode des Bundestages, der sie erlassen hat, und verliere mit dem Ende der Legislaturperiode ihre Gültigkeit. Jeder neu gewählte Bundestag sollte demgemäß bei seinem Zusammentritt frei von den geschäftsordnungsrechtlichen Gebundenheiten seines Vorgängers sein und uneingeschränkt bzw. ungehindert seine Geschäftsordnungsangelegenheiten regeln können. Außerdem ergebe sich (mittels der systematischen Auslegung) aus dem Wortlaut des Art. 40 Abs. 1 GG (s. Anhang), daß es sich darin nicht um die kontinuierlich bestehende Verfassungsinstitution, sondern um den Bundestag in der jeweils 18Dazu s. u. a. Maunz, (Anm. 7), Komm. Art. 52 GG Rn. 15; Pieroth, (Anm. 3), Komm. Art. 52 GG Rn. 3; Reuter, (Anm. 4), S. 278; Reuter, (Anm. 3), S. 1529. 19Dieser These schließen sich auch Verfassungsrechtsprechung und Parlamentspraxis an. Dazu s. u. a. BVerfGE I, (144) 148; G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919,1933, S. 202; Ardnt, (Anm. 4), S.128f; Bollmann, (Anm. 4), S. 117ff; Ismayr, (Anm. 3), S. 154; Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages, in: ZParl1986, S. 340; Lechner/Hülshof, (Anm. 17), S. 187; Maunz, (Anm. 15), Rn. 19; Maunz, (Anm. 7), Rn. 15 ; Pieroth, (Anm. 3), Komm. Art. 39 GG, Rn. 4; Reuter, (Anm. 4), S. 90; Seifert, (Anm. 3), Komm. Art. 40 GG Rn. 3; Zum Diskontinuitätsprinzip s. u. a. Bücker, (Anm. 15), Vorbern. zu § 125 GOBT, S. 2ff; v. Münch, (Anm. 3), Rn. 622; Schröder, (Anm. 4), S. l30ff; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems. Eine Untersuchung zur rechtlichen Stellung des Deutschen Bundestages, 1973, S. 58ff.

II. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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durch Wahl bestimmten Zusammensetzung handele; seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer könne nur jeder neu gewählte Bundestag wählen, und nur derselbe könne sich mithin eine Geschäftsordnung geben2o • Die Diskontinuitätsthese (und die damit verbundenen Konstruktionen der stillschweigenden bzw. konkludenten Übernahme) begegnen jedoch erheblichen Bedenken, welche einen Teil des Schrifttums dazu veranlaßten, sie als "leere Konstruktionen zur Aufrechterhaltung einer Fiktion" anzuprangern21 • Insbesondere im Falle der konkludenten Übernahme erhebt sich die Frage, wie eine erloschene Rechtsnorm bzw. Geschäftsordnung ohne eine ausdrückliche Willenserklärung bzw. ohne einen formellen Beschluß wieder in Kraft treten kann. Handelt der neugewählte Bundestag nicht verfassungswidrig, wenn er nach seinem Zusammentritt zu keinem Beschluß über seine Geschäftsordnung kommt, obgleich er dazu nicht nur berechtigt, sondern gemäß Art. 40 Abs. 1 GG auch verpflichtet ist? Vor allem nach der 33. Grundgesetzänderung, die das "nahtlose Aneinanderschließen der Wahlperioden"einführte und damit eine parlamentslose Zeit ausschloß, fällt es schwer, einer zeitlichen Limitierung der Bundestagsgeschäftsordnung, welche eine geschäftsordnungslose Zeit zur Folge hätte, beizupflichten. Darüber hinaus läßt es sich schwer mit der Ermächtigung des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbaren, daß dadurch die kodifizierte Geschäftsordnung auf die gleiche Stufe mit einem einfachen Parlamentsbeschluß gestellt wird und daß das parlamentarische Gewohnheitsrecht (Observanz) und der bloße Parlaments-

20Wenn man jedoch der Diskontinuitätsthese und der daraus folgenden Auffassung von der beschränkten Geltungsdauer der Bundestagsgeschäftsordnung folgt, müßte jeder neugewählte Bundestag seine erste Sitzung gemäß Gewohnheitsrecht abhalten. Außerdem ist er demnach dazu verpflichtet, sofort eine neue Geschäftsordnung zu beschließen, da zu diesem Zeitpunkt keine mehr gilt. Die einschlägige Parlamentspraxis ist jedoch eine andere. In der Regel wird die inzwischen "kraftlos gewordene" Geschäftsordnung des vorausgegangenen Bundestages stillschweigend übernommen, d. h. sie tritt dadurch wieder in Kraft, daß im Bundestagsplenum dem Vorschlag des Bundestagspräsidenten auf ihre Übernahme nicht widersprochen wird; wird gegen den Vorschlag des Bundestagspräsidenten Widerspruch erhoben, dann muß es im Bundestag zu einem Beschluß darüber kommen. Aber auch ohne den Vorschlag des neuen Bundestagspräsidenten kann die Geschäftsordnung des vorangeg!lI1genen Bundestages angewandt werden. Dabei spricht man von einer "konkludenten" Ubernahme. Hierzu vgl. Achterberg, (Anm. 3), S. 330; Anschütz, (Anm. 19), S. 202; Amdt, (Anm. 3), S. 129ff; Haagen, (Anm. 13), S. 41; Lechner/Hülshoff, (Anm. 17), S. 186; Maunz, (Anm. 15), Komm. Art. 40 GG Rn. 19; Pietzcker, (Anm. 3), S. 348; Troßmann, (Anm. 13), § 1 GOBT Rn. 9. 2IDazu s. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984, S. 25; Haagen, (Anm. 13), S. 4Off; Haug. (Anm. 4), S. 79ff (198) ; Jellinek, (Anm. 13), S. 253f; Pietzcker, (Anm. 3), S. 350; H. Schneider, (Anm. 4), S. 314.

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brauch (Übung) die Legislaturperiode überdauern können, die Geschäftsordnung hingegen nicht22 • Solange die Verfassung keinen besonderen Geschäftsordnungsänderungsmodus vorschreibt, könnte also die Diskontinuitätsthese, deren Annahme eine Reihe von Fragen bzw. Widersprüchen mit sich bringt, problemlos aufgegeben werden. Die Souveränität bzw. die Autonomie jedes neugewählten Bundestages wird dadurch nicht angetastet. Denn aufgrund des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG würde es weiterhin jedem neugewählten Bundestag anheimstehen, sich eine neue Geschäftsordnung zu geben bzw. sie ganz oder teilweise zu ändern. Aber auch bei Bejahung der Diskontinuitätsthese dürfte jedoch der Rechtscharakter der Bundestagsgeschäftsordnung nicht angezweifelt werden. Denn auch Rechtsnormen mit befristeter Geltungsdauer stellen "Recht"dar.

b) Die Reichweite des personellen Geltungsbereichs der parlamentarischen Geschäftsordnungen Die herrschende Lehre in Deutschland geht von der personellen Beschränkung des Geltungsbereichs der parlamentarischen Geschäftsordnungen aus 23 • Demnach betreffen parlamentarische Geschäftsordnungen nur die Mitglieder der jeweiligen Gremien, haben keine Außenwirkung und stellen "intraparlamentarische Rechtsnormen" dar. Geschäftsordnungsrechtliche Regelungen können danach andere Verfassungsorgane bzw. deren Mitglieder nicht verpflichten, wenn 22Hierzu vgl. Arndt, (Anm. 4), S. l3lf; Haagen, (Anm. 13), S. 45f; Pietzcker, (Anm. 3) ; S. 348; Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1934, S. 77; H.-P. Schneider, (Anm. 7), Komm. Art. 40 Rn. 12. Die Diskontinuitätsthese führt außerdem zum folgenden Paradox: Ungeschriebene Regeln dauern über die legislaturperioden hinweg, falls sie aber in die Bundestagsgeschäftsordnung aufgenommen werden, würden sie mit dem Ende der Legislaturperiode ihre Geltungskraft verlieren. Der Annahme, das Diskontinuitätsprinzip erfasse auch Parlamentsbrauch bzw. Gewohnheitsrecht, läuft deren Natur zuwider; Parlamentsbrauch bzw. Gewohnheitsrecht setzt wiederholte, unerschütterte Praktizierung voraus. 23Hierzu vgl. Achterberg, (Anm. 3), S. 54ft'; Arndt, (Anm. 4), S. IIOff; Bollmann, (Anm. 4), S. 12Off; Bücker, (Anm. 15), Vorbem. zu § 100 GOBT, S. 20; Haagen, (Anm. 13), S. 38f; Ismayr, (Anm. 3), S. 154; Kretschmer, (Anm. 4), S. 305f; Kretschmer, (Anm. 19), S. 34lf; Magiera, Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 52, S. 1431; Pietzcker, (Anm. 3), S. 346f; Reuter, (Anm. 4), S. 277; H.-P. Schneider, (Anm. 8), Komm. Art. 40 GO Rn. 10; Troßmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, in: JöR N. F. 28, 1979, S. 42 (120) ; Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1987, § 43, S. 432f.

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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keine andere inhaltsgleiche Verfassungsbestimmung (bzw. Gesetzesbestimmung oder sogar Gewohnheitsrecht) besteht. Vergleicht man aber z. B. die wortkarge Formulierung des Art. 43 Abs. 1 GG: "Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung verlangen."

- diese Verfassungsbestimmung gilt als die Rechtsgrundlage des Zitierungs-, Frage-und Interpellationsrechts des Bundestages - mit den entsprechenden Geschäftsordnungsbestimmungen des Bundestages (§§ 42,68, 75 Abs. 1 Buchst. f, 75 Abs. 3 und 100 ff. GOBT), welche diese Verfassungsbestimmung konkretisieren, kann man kaum von einer inhaltlichen Kongruenz sprechen. Geschäftsordnungsrechtliche Vorschriften regeln ferner das Verhalten von Nichtparlamentariem, wie z. B. das Verhalten von Privatpersonen, die als Mitglieder von Enquetekommissionen oder als Sachverständige, Interessenvertreter oder Auskunftspersonen zu öffentlichen Anhörungssitzungen berufen wurden. Auch wenn sie am Parlamentsgeschäftsgang freiwillig teilnehmen, werden sie ohne eine inhaltsgleiche Verfassungsbestimmung in den Geltungsbereich des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts einbezogen und haben sich den sie betreffenden Geschäftsordnungsbestimmungen zu fügen 24 • Demnach läßt es sich nicht überzeugend bestreiten, daß "der Wirkungsbereich der Geschäftsordnung des Bundestages im demokratisch-parlamentarischen System des Grundgesetzes multifunktional (ist) und (sich) nicht mehr allein auf den Intra-Organ-Bereich beschränkt"25. Das Parlamentsrecht muß also in vielen Bereichen Rechtsverbindlichkeit für Nichtparlamentarier herstellen, um sachgerechte Regelung zu schaffen26 • Die Frage des personellen Geltungsbereichs sollte mithin unter Zuhilfenahme der sachlichen Reichweite der autonomen Geschäftsordnungsautonomie beantwortet werden. Da sich der Regelungsgehalt dieser Sachkompetenz unter dem Grundgesetz nur in gröbsten Umrissen zeichnen läßt, kommt es wiederum auf den Einzelfall an, - d. h. es ist in jedem konkreten Fall unter Zuhilfenahme der Verfassungsauslegung bzw. Verfassungskonkretisierung zu beurteilen, ob eine parlamentarische Geschäftsordnung Regelungsgegenstände normiert, die sachlich jenseits dieses Bereiches liegen. Ferner kommt es auf die Bindungswirkung an, die die einschlägige Verfassungsauslegung bzw. -konkretisierung entfalten kann.

24Eingehend dazu s. Haug, (Anm. 4), S. IIOff (198). 25Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses. Ein Beitrag zur Frage der Substitution des fönnlichen Gesetzes durch schlichten Parlamentsbeschluß, in: AöR 119, 1994, S. 94. 26Dazu s. Bollmann. (Anm. 4), S. 150.

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c) Der Regelungsgehalt der Geschäftsordnungsautonomie nach den geltenden Geschäftsordnungsvorschriften Schon durch einen flüchtigen Blick in die Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnung läßt sich feststellen, daß wichtige Regelungsbereiche des Parlamentslebens ihre Rechtsgrundlage erst in ihnen finden. Die Beschlußfähigkeit von Bundestag und Bundesrat wird durch ihre Geschäftsordnungen ohne eine entsprechende Verfassungsermächtigung geregelt27 • Ebenso ohne eine inhaltsgleiche Verfassungsbestimmung legt die Geschäftsordnung des Bundestages die Fraktionsmindeststärke fest, nach der den Gruppen im Bundestag der Fraktionsstatus zuerkannt wird. Gesetzesinitiativen, Zitierungsrecht, Kleine und Große Anfragen, sowie das Einbringen von Anträgen kommen kraft Geschäftsordnungsbestimmungen nur den Fraktionen zu, oder sie bedürfen der Unterstützung einer der Fraktionsmindeststärke entsprechenden Anzahl von Bundestagsmitgliedern28 • Könnte die jeweilige Bundestagsmehrheit mittels des Geschäftsordnungsrechts die Frakti27Dazu s. Vonderbeck, Die parlamentarische Beschlußfähigkeit, in: Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 193ff; S. a. unten IV.2 b). 28Hierzu ist anzumerken, daß auch andere wichtige parlamentarisch~ Vorrechte mit dem Fraktionsstatus zusammenhängen, wie z. B. die Teilnahme an dem Altestenrat und den Ausschüssen des Bundestages, die Vergabe von Ausschußvorsitzen und die Teilnahme an dem Gemeinsamem Ausschuß des Art. 53a Satz 2 GG. Gruppierungen von Bundestagsabgeordneten, die die Fraktionsmindeststärke nicht erreichen, werden von all diesen Vorrechten ausgeschlossen. Darüber hinaus bekommen sie keinen Grundbetrag, der den Fraktionen zu ihrer Finanzausstattung grundsätzlich zusteht. Es liegt ferner auf der Hand, daß heutzutage effektive Parlamentsarbeit durch die Bundestagsabgeordneten nur im Rahmen einer Fraktion bzw. eines Ausschusses geleistet werden kann. Hierzu vgl. BVerfGE 10, (4) 14ff; 44, (308) 318; BVerfGE 70, (324) 365; 80, (188) 225; 84, (304) 321ff; Abmeier, (Anm. 21), S. 25ff (290ff) ; Bollmann, (Anm. 4), S. 69f; Bücker, (Anm. 15), Vorbem. zu § 10 GOBT, S. 6ff; Haug, (Anm. 4). S. 24; Dexheimer, Die Mitwirkung der Bundestagsfraktionen bei der Besetzung der Ausschüsse, in: Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 259; Hölscheidt, Die Ausschußmitgliedschaft Fraktionsloser Abgeordneter, in: DVBI. 1989, S. 293; Ismayr, (Anm. 3) S. 38; Jekewitz, Die Bundestagsfraktionen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 37, S. 1040; Kürschner, (Anm. 4), S. 82ff; H. Meyer, Die Fraktionen auf dem Weg zur Emanzipation von der Verfassung, in: FS für E.G. Mahrenholz, 1994, S. 330ff; Morlok, Parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht zwischen Abgeordnetenrechten und politischer Praxis, in: JZ 1989, S. 1039ff; Schüttenmeyer, Der Bundestag als Fraktionenparlament, in: Hartmann! Thaysen (Hrsg.) Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis, S. 114ff; Schulze-Fielitz, Der Fraktionslose im Bundestag: Einer gegen alle?, in: DÖV 1989, S. 83Off; Troßmann, (Anm. 23), S. 154f; Trute, Der fraktionslose Abgeordnete - Die Wüppesahl-Entscheidung des BVerfG, in: Jura 1990, S. 184ff; Zeh, (Anm. 13), S. 397ff; Ziekow, (Anm. 8), S. 30.

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onsmindeststärke beliebig festsetzen, dann eröffneten sich Manipulationsmöglichkeiten, wodurch die Mitwirkungsrechte der Opposition schwer beeinträchtigt werden könnten. Mitwirkungs- bzw. Stimmrechte der einzelnen Bundestagsabgeordneten werden ferner durch die Bundestagsgeschäftsordnung bestimmt. Die Ausübung des den Bundestagsabgeordneten zukommenden Rechts, im Bundestag das Wort zu ergreifen, unterliegt außerdem geschäftsordnungsrechtlichen Schranken. Das Verfahren, wonach Gestaltung und Dauer der Aussprachen im Bundestag festgelegt wird, wird ebenfalls geschäftsordnungerechtlich normiert. Wortentziehung oder Ausschluß der Bundestagsmitglieder erfolgt auch nach geschäftsordnungsrechtlichen Vorschriften. Die sehr knapp gehaltene, auf Courtoisie bzw. Rücksichtnahme seiner Mitglieder abstellende Geschäftsordnung des Bundesrates verzichtet hingegen auf Regelungen über die Redezeiten der Bundesratsmitglieder und auf Ordnungsrnaßnahmen gegen sie 29 . Dennoch ging auch der Bundesrat nicht gerade zurückhaltend mit seiner Geschäftsordnungsautonomieum, als er am 10. Juni 1988 durch einen Geschäftsordnungsbeschluß bzw. durch eine Ergänzung seiner Geschäftsordnung die EG-Kammer errichtete und diese Kammer mit Beschlußrechten ausstattete 30 • Bei der Bildung eines Organs im Weg der Geschäftsordnungsautonomie, dessen Organ typus im Grundgesetz nirgends vorkommt und dessen Wirkungsbereich sich nicht nur auf das Innenleben des Bundesrates beschränkt, handelt es sich eigentlich um eine Verfassungskonkretisierung (mit rechts schöpferischem Charakter), wozu der Bundesrat (im Rahmen) und aufgrund seiner Geschäftsordnungsautonomie befugt ist, soweit er mit dem Ergebnis seiner Rechtsetzung gegen keine "implizite Regelung"des Grundgesetzes verstößt bzw. den verfassungsrechtlichen Organisationsprinzipien genügend Rechnung trägt31 • Anders ist hingegen die Frage zu behandeln, ob z. B. die Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat eine Redezeitbeschränkung bzw. die Wortentziehung sowie den Ausschluß der Regierungsmitglieder vom Parlament normieren können. Diese Materien hat das Grundgesetz selbst zum Gegenstand von Verfassungsregelungen (Art. 43 Abs. 2 Satz 2 00 bzw. Art. 53 Satz 2 00) gemacht, und somit ergibt sich (nach sukzessiver Anwendung der Interpretationsmethoden) die Unzulässigkeit einer solchen Geschäftsordnungsregelung 32• 29Dazu s. u. a. Reuter, (Anm. 4), S. 445. 30Hierzu vgl. Fr. Klein, (Anm. 3), Komm. Art. 52 GO Rn. 13; von Münch, (Anm. 3), Rn. 766; Reuter, (Anrn. 4), S. 646ff; Reuter (Anrn. 3), S. 1559; Schütz, Die EG-KammerDelegationsbefugnis und Geschäftsordnungsautonomie des Bundesrates, in: NJW 1989, S.2161ff. 31 Ähnlich Reuter, (Anrn. 4), S. 648 Rn. 4. Hierzu vgl. oben A 11. 32Dazu s. Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 53 Satz 2 GG (im Anhang). Hierzu vgl. BVerfGE 10, (4) 17f; Fr. Klein, (Anrn. 3), Komm. Art. 43 GG Rn. 9; Pietzcker, (Anm. 3),

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Festzuhalten ist jedoch, daß Bundestag und Bundesrat bei ihrer Geschäftsordnungsgebung weder die einzigen noch die "authentischen"Interpreten der Verfassung sind. Im Gegensatz dazu sind aber beide Gremien Herren über ihre Geschäftsordnungsauslegung33 • Kraft Geschäftsordnungsregelung obliegt dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Bundestages die Auslegung der Bundestagsgeschäftsordnung. Die Präsidenten beider Gremien sind ferner geschäftsordnungsrechtlich befugt, Auslegungsfragen bezüglich der Geschäftsordnungsbestimmungen, welche während einer Sitzung auftreten, im Einzelfall (und ohne präjudizierende Wirkung) zu entscheiden34• Diese Befugnis ist den Präsidenten zugedacht, um den ordnungsgemäßen Ablauf der Verhandlungen zu sichern und unnötige Geschäftsordnungsdebatten in den Gremien zu verhindern. Eine auf diese Weise erfolgte Auslegung ist allerdings für die Zukunft nicht bindend35 • Den Präsidenten steht es jedoch frei, die strittige Frage (während einer Sitzung) dem Gremium zur Entscheidung vorzulegen. Im Gegensatz zum Auslegungsverfabren enthalten beide Geschäftsordnungen keine Regelung über die Folgen eines Geschäftsordnungsverstoßes. Nach traditioneller, obgleich nicht mehr einhelliger Auffassung im deutschen Schrifttum beinflußt ein Geschäftsordnungsbruch nur dann die Wirksamkeit bzw. die Gültigkeit eines parlamentarischen Beschlusses, wenn dadurch eine Verfassungsver-

S. 347; Seifert, (Anm. 3), Komm. Art. 43 GG Rn. 2; Schröder, Rechte der Regierung im Bundestag, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 52, S. 1453; Troßmann, (Anm. 23),S. 4lf. 33Hierzu vgl. § 127 GOBT: ,,(1) Während einer Sitzung des Bundestages auftretende Zweifel über die Auslegung dieser Geschäftsordnung entscheidet der Präsident für den Einzelfall. Im übrigen obliegt die Auslegung dieser Geschäftsordnung dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung; der Präsident, ein Ausschuß, eine Fraktion, ein Viertel der Mitglieder des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages können verlangen, daß die Auslegung dem Bundestag zur Entscheidung vorgelegt wird. (I1) Wird ein entsprechendes Verlangen gemäß Absatz 1 Satz 2 nicht vorgebracht, entscheidet der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, in welcher Form seine Auslegung bekanntzumachen ist" und § 47 GOBR ,,(1) Während einer Sitzung entscheidet der Präsident Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung dieser Geschäftsordnung für diese Sitzung. (I1) Im übrigen entscheidet auf Verlangen des Präsidenten oder eines Landes der Bundesrat". 34Da es im Bundesrat keinen solchen Ausschuß gibt, ist die Auslegungsbefugnis der Bundesratspräsidenten umfassender. Hierzu vgl. oben § 47 GOBR und § 127 GOBT. 3sHierzu vgl. Bücker, (Anm. 15), Komm. des § 127 GOBT, S. lff; Ismayr, (Anm. 3), S. 182f; Reuter, (Anm. 4), S. 672ft'; Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung, in: Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 99.

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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letzung erfolgt ist36 • Damit wird aber das in beiden Geschäftsordnungen vorgesehene Abweichungsverfahren übersehen bzw. übergangen37

d) Das Abweichungsverfahren Beide Geschäftsordnungen sehen ein (fönnliches) Abweichungsverfahrenvor, wonach für jede Abweichung von den Geschäftsordnungsvorschriften im Einzelfall mehr als ein einfacher Mehrheitsbeschluß verlangt wird 38 • Auf den ersten Blick erscheint das geschäftsordnungsrechtliche Abweichungsverfahren als eine starke Relativierung des Rechtscharakters der parlamentarischen Geschäftsordnungen. Diese Dispensmöglichkeit ist für das Staatsrecht untypisch und könnte die Qualifizierung der parlamentarischen Geschäftsordnungen als Rechtsnonnen erschweren. Wenn man aber dabei die Besonderheiten des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts berücksichtigt, kommt man zu einer entgegengesetzten Schlußfolgerung. Sieht man die Funktion der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie darin, dem Parlament ein geordnetes, möglichst reibungsloses und effektives Verfahren zu sichern - eine parlamentarische Parlamentsgeschäftsordnung hat einerseits die Minderheit vor verfahrenstechnischen Willkürlichkeiten der Mehrheit, andererseits die Mehrheit vor Obstruktionen der Minderheit zu schützen 36Zur Problematik vgl. Achterberg, (Anm. 3), S. 61f; Ardnt, (Anm. 4), S. 164f; Badura, Staatsrecht, 1986, S. 314f; Jellinek, (Anm. 13), S. 268; Lechner/Hülshoft', (Anm. 17), S. 186; Maunz, (Anm. 15), Komm. Art. 40 GG Rn. 23; Maunz/Zippelius, (Anm. 3), § 30 III 2b, S. 257; Pieroth, (Anm. 3), Komm. Art. 40 GG Rn. 7; Pietzcker, (Anm. 3), S. 355f; Reuter, (Anm. 4), S. 280; Rösch, (Anm. 22), S. 5; H.-P. Schneider, (Anm. 8), Komm. Art. 40 GG Rn. 10; Seifert, (Anm. 3), Komm. Art. 40 Rn. 3; Stern, (Anm. 8), S. 84; Versteyl, Kommentienmg des Art. 40 GG Rn. 18, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.) Gnmdgesetz-Kommentar, Band 11, 3. Auflage, 1995. 37Dazu s. gleich unten. 38Hierzu vgl. § 126 GOBT "Abweichungen von den Vorschriften dieser Geschäftsordnung können im einzelnen Fall mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages beschlossen werden, wenn die Bestimmungen des Gnmdgesetzes dem nicht entgegenstehen" und § 48 GOBR "Will der Bundesrat im einzelnen Fall von der Geschäftsordnung abweichen, so bedarf es eines einstimmigen Beschlusses". Hierzu vgl. Anschütz, (Anm. 19), S. 202; Ardnt, (Anm. 4), S. 156ft'; Bücker, (Anm. 15), Komm. des § 126 GOBT, S. 1ft'; Haagen, (Anm. 13), S. 52ft'; Jellinek, (Anm. 13), S. 270; Pietzcker, (Anm. 3), S. 35lf; Reuter, (Anm. 4), S. 680; Rösch, (Anm. 22), S. 41; Roll, (Anm. 35), S. 103; Schäfer, Der Bundestag. Eine Darstellung seiner Aufgaben und seiner Arbeitsweise, 3. Auflage, 1977, S. 66; H.-P. Schneider, (Anm. 8), Komm. Art. 40 GG Rn. 11; Stern, (Anm. 8), S. 84; Schweizer, Aktuelle Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, in: NJW 1956, S. 86; Troßmann, (Anm. 13), Komm. § 127 GOBT; Zeh, (Anm. 23), S. 434 Rn. 15.

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- , ist das Abweichungsverfahren, welches zur Flexibilität und Geschmeidigkeit der Parlamentsarbeit entschieden beiträgt, mit dem Wesen der parlamentarischen Geschäftsordnungen kongruent. Ähnlich wie die Auslegungsbefugnis der Präsidenten beider Gremien läßt sich auch diese geschäftsordnungsrechtliche Ermächtigung - im Einzelfall mit Einstimmigkeit bzw. mit der Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit von der Geschäftsordnung abweichen zu dürfen - aus dem Autonomieprinzip ableiten. Um der Effektivität der Parlamentsarbeit willen wird dadurch jede Kammer - die ohnehin mehrheitlich ihre Geschäftsordnung beschließt, sie ändert oder beseitigt - nach einem qualifizierten Mehrheitsbeschluß von der Bindungskraft der Geschäftsordnung befreit, das aber nur während der laufenden Sitzung. Eine auf diese Weise erfolgte Geschäftsordnungsabweichung tangiert den Bestand der einschlägigen Geschäftsordnungsbestimmung nicht und hat keine präjudizierende Wirkung. Umgekehrt wird aber dadurch die Parlamentsminderheit vor Augenblicksentscheidungen der Mehrheit gegen ihre Interessen geschützt39 • Geschäftsordnungsabweichende Beschlüsse sind danach nur dann rechtlich nicht fehlerhaft, wenn sie nach dem einzuhaltenden Abweichungsverfahren mit Einstimmigkeit bzw. Zweidrittelmehrheit gefaßt werden. Anderenfalls bleibt die Mehrheit weiterhin an die Geschäftsordnungsvorschriften gebunden. Das geschäftsordnungsrechtliche Abweichungsverfahren wird mithin dem Demokratiegebot bzw. dem verfassungsrechtlich gebotenen Minderheitenschutz gerecht, und darin könnte man eine Kompensation der "lex imperfecta"-Natur der Parlamentsgeschäftsordnungen sehen. Denn danach stellt jeder Geschäftsordnungsverstoß seitens der Parlamentsmehrheit, der das Abweichungsverfahren umgeht, zugleich einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip bzw. gegen den verfassungsrechtlich gebotenen Minderheitenschutz dar. Unter diesem Gesichtspunkt könnten grundsätzlich geschäftsordnungswidrige Beschlüsse - auch beim Gesetzgebungsverfahren - gerügt werden, ohne daß sie zugleich gegen eine andere Verfassungsbestimmung zu verstoßen brauchen.

4. Die Kategorisierung der Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat

Faßt man das Abweichungsverfahren nach § 126 GOBT bzw. § 48 GOBR als eine angängige Besonderheit des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts auf, kann man nicht mehr an der Rechtsnorrnqualität der Bundestags-bzw. 39Hierzu vgl. Bollmann, (Anm. 4), S. 41; Bücker, (Anm. 15), Komm. § 126 GOBT, S. 2; Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, in: ZParl 1986, S. 331; Haug, (Anm. 4), S. 199; Pietzcker, (Anm. 3), S. 35lf; Troßmann, (Anm. 13), Komm. § 127 GOBT Rn. 4.

11. Parlamentarische Geschäftsordnungen nach deutschem Recht

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Bundesratsgeschäftsordnungen zweifeln40 • Beide sind schriftlich fixierte Normen, die dem Parlament als Rechtsgrundlage zur Willensbildung dienen, und sie sind dem Staatsrecht zuzuordnen bzw. sie zählen unbestritten zum materiellen Verfassungsrecht. Unter Geltung des Grundgesetzes stellt also jede Geschäftsordnungsgebung bzw. -änderung von Bundestag und Bundesrat einen Staatsakt dar, der aufgrund einer verfassungsrechtlichen Ermächtigung bzw. Sachkompetenz autonom erlassen wird. Die autonome Geschäftsordnungsgebung des Bundestages bzw. des Bundesrates läßt sich unter keine Rechtsetzungsform im Bereich der Exekutive einordnen, und die parlamentarischen Geschäftsordnungen sind keine Gesetze im formellen Sinn. Darüber ist man sich im deutschen Schrifttum einig. Im Laufe der Jahre wurde in Deutschland jeder Qualifizierungsversuch der parlamentarischen Geschäftsordnungen in Frage gestellt; die "sui generis" Qualifizierung scheint neuerdings diese langjährige Auseinandersetzung beenden zu wollen41 • Zutreffender erscheint jedoch die Qualifizierung der Bundestags40Über die Rechtsnorrnqualität der parlamentarischen Geschäftsordnungen besteht heutzutage in Deutschland Einigkeit. Dies geht zumal auf die herrschende Lehre über die Qualifikation der Geschäftsordnung als "autonome Satzung" zurück. Hierzu vgl. Abmeier, (Anm. 21), S. 21f; Achterberg, (Anm. 3), S. 329; Bollmann, (Anm. 4), S. 41; Bücker, (Anm. 15), Einleitung S. 2ff; Bücker, (Anm. 39), S. 333; Haug, (Anm. 4), S. 168 (197); HerzoglPietzner, Stichwort: Geschäftsordnung, in: Kunst/Herzog (Hrsg.) Evangelisches Staatslexikon, 1975, Spalte 835; Ismayr, (Anm. 3), S. 154; Jellinek, (Anm. 13), S. 253; Kretschmer, (Anm. 4), S. 304f; Maunz, (Anm. 15), Komm. Art. 40 GG Rn. 21; Pietzcker, (Anm. 3), S. 353f; Rösch, (Anm. 22), S. 82f; H. Schneider, (Anm. 4), S. 309ff; SchulzeFielitz, Parlamentsbrauch, Gewohnheitsrecht, Observanz, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 11, S. 365Rn. 17; Steiger, (Anm. 19), S. 37 (44). 41 Zur Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnungen s. BVerfGE I, (144) 148; 44, (308) 315; Abmeier, (Anm. 21), S. 22f; Achterberg, (Anm. 3), S. 43ff und S. 53ff; Amdt, (Anm. 4), 148ff (162ff); E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1964, S. I 15ff; Bollmann, (Anm. 4), S. 136f; Bücker, (Anm. 15), Einleitung S. 4; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band 1,1973, S. 48Of; Haagen, (Anm. 13), S. 32ff; Ismayr, (Anm. 3), S. 154; Haug, (Anm. 4), S. 195 (200); Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1966. S. 353; Kretschmer, (Anm. 4), S. 305f; Lechner/Hülshoff, (Anm. 17), S. 186; Maunz, (Anm. 15), Komm. Art. 40 GG Rn. 21; Maunz, (Anm. 7), Komm. Art. 52 GG Rn. 13; Morlok, (Anm. 28), S. 1037; Ossenbühl, Satzung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band III, 1988, S. 484f; Perels, Das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 3; Pieroth, (Anm. 3), Komm. Art. 40 GG Rn. 5; Pietzcker, (Anm. 3), S. 353ff; Reuter, (Anm. 4), S. 276f; Rösch, (Anm. 22), S. 82f; Schäfer, (Anm. 38), S.64ff; Seifert, (Anm. 3), Komm. Art, 40 GG Rn. 3; R. Scholz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, in: AöR 117, 1992, S. 265; H.-P. Schneider, Das parlamentarische System, in: Benda/MeihoferlVogel (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 265; Schulze-Fielitz, (Anm. 40), S. 365;

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D. Bundesrepublik Deutschland

bzw. Bundesratsgeschäftsordnung als "Verfassungssatzung", denn somit kommt die Konkretisierungs-und Ergänzungsfunktion der Bundestags-bzw. Bundesratsgeschäftsordnungen gegenüber der Verfassung am besten zum Ausdruck42 . Ungeachtet einer Qualifizierung steht jedoch fest, daß das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht in Deutschland im Rang unter der Verfassung im formellen Sinn steht - da es aufgrund einer Verfassungsermächtigung erlassen wirdund daß im Kollisionsfall das Verfassungsrecht (aufgrund seines Vorrangs) Geschäftsordnungsrecht bricht43 •

III. Das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht und die bundesdeutsche Gerichtsbarkeit 1. Das richterliche Prüfungsrecht der deutschen Gerichte und die Bundestagsbzw. Bundesratsgeschäftsordnung

Solange die Geschäftsordnungen von Bundestag bzw. Bundesrat aufgrund einer verfassungsunmittelbaren Ermächtigung erlassen werden, unterliegen sie nur einer Verfassungsmäßigkeitskontrolle. Ein anderes höherrangiges Recht außer der Verfassung, an dem sie zu messen wären, existiert nicht, und Kollisionen mit dem Gesetzesrecht sind als Kompetenzfrage aus verfassungsrechtlicher Sicht zu überprüfen. Auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 3 00 scheint keine (besondere) Rechtmäßigkeitskontrolle erforderlich, zumal die grundgesetzliche Bindung an "Gesetz und Recht" im Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 00 (i. V. mit Art. 97 Abs. 1 00) als Tautologie verstanden wird; beachten ferner die deutschen Gerichte bei ihrer Rechtsprechung die grundgesetzlichen Grundsätze bzw. Prinzipien, tun sie der "allgemeinen Gerechtigkeit" Genüge!. Schweizer, (Anm. 38), S. 85f; Steiger, (Anm. 19), S. 41ft'; Stern, (Anm. 8), S. 82ft'; Verstey1, (Anm. 36), Komm. Art. 40 GG Rn. 17; Vogler, Die Ordnungsgewalt der deutschen Parlamente, 1926, S. 3ft'. 42Dazu s. a. Haug, (Anm. 4), S. 182ft' (194f). 43Hierzu vgl. BVerfGE 44, (308), 315; Achterberg, (Anm. 3), S. 327f; Arndt, (Anm. 4), S. 71; Böckenförde, aaO, (Anm. 41), S. 124; Bollmann, (Anm. 4), S.188; HerzoglPietzner, (Anm. 40), Spalte 835; Maunz, aaO, (Anm. 15), Komm. Art. 40 GG Rn. 22; Pieroth, (Anm. 3), Komm. Art. 40 GG Rn. 5; Pietzcker, aaO, (Anm. 3), S. 355; H. Schneider, aaO, (Anm. 4), S. 304; Schulze-Fielitz, (Anm. 40), S. 365; Seifert, (Anm. 3), Komm. Art. 40 GG Rn. 3 ; Steiger, (Anm. 19), S. 41ft'; Stern, (Anm. 8), S. 83. 1Dazu s. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 97 Abs. 1 GG (im Anhang). Hierzu vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 135ft'; Jarass,

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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Deutsche Gerichte sind hingegen aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG allgemein verpflichtet, nur verfassungsmäßiges Recht anzuwenden, um Recht zu sprechen. Nach herrschender Meinung können allerdings parlamentarische Geschäftsordnungen (auf Bundesebene) nur im Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. mit § 64 Abs. 1 BVerfGG (im Anhang) und im abstrakten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (im Anhang) durch das Bundesverfassungsgericht auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin überprüft werden2 •

2. Vorlagefähigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen gemäß Art. 100 Abs.l GG?

Im Hinblick auf die (die Autorität des Gesetzgebers schützende) Funktion der Richtervorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Vorlagepflicht der Fach-und Instanzgerichte nur auf die (nachkonstitutionellen) Gesetze im formellen Sinn beschränkt3 • Werden allerKommentierung der Art. 20 GG Rn. 26, in: JarasslPieroth Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995. 2Hierzu vgl.Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 165; BendalKiein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, S. 281 Rn. 654; Bettermann, Die konkrete Normenkontrolle und sonstige Gerichtsvorlagen, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 328; E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung. Eine Untersuchung zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1964, S. 125f; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 212; Bücker, Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, in: RitzeUBücker (Hrsg.) Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung S. 4; Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses. Ein Beitrag zur Frage der Substitution des förmlichen Gesetzes durch schlichten Parlamentsbeschluß, in: AöR 119, 1994, S. 101; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 54f (156) ; Morlok, Parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht zwischen Abgeordnetenrechten und politischer Praxis, in: JZ 1989, S. 1037ff; Lechner/ Hülshoff, Parlament und Regierung, 3. Auflage, 1971, S. 93; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Auflage, 1994, § 30 III 2b, S. 257; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder mit einem Anhang zum Internationalen Rechtsschutz, 3. Auflage, 1991, S. I1Of; Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetz und Geschäftsordnung, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10, S. 356f; Reuter, Praxishandbuch-Bundesrat, 1991, S. 279 Rn. 34; Versteyl, Kommentierung des Art. 40 GG Rn. 18, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Band II, 3. Auflage, 1995. 3Seit BVerfGE 1, (184) 201ff ständige Rechtsprechung. Diese Einschränkung des Vorlagegegenstandes ist jedoch weder aufgrund des Wortlauts des Art. 100 Abs. 1 GG -

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dings die parlamentarischen Geschäftsordnungen in das negative Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 Abs. 1 GO nicht einbezogen, dann würde sich jedes deutsche Gericht über die Entscheidungen des Geschäftsordnungsgebers hinwegsetzen können, indem es in eigener Zuständigkeit - trotz der verfassungsrechtlich garantierten Geschäftsordnungsautonomie darüber entscheiden könnte. Theoretisch würde jedoch die verfassungsunmittelbare Sachkompetenz der autonomen Geschäftsordnungsgebung dafür ausreichen, den dem Gesetzgeber zugedachten Schutz auch dem Geschäftsordnungsgeber zukommen zu lassen4 • Die Frage, die sich jedoch hier zurecht erhebt, ist, ob sich deutsche Fachund Instanzgerichte mit dem parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht befassen können bzw. ob parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht in einem Prozeßfall überhaupt entscheidungserheblich sein kann. Denn nur entscheidungserhebliche "Gesetze" können dem Bundesverfassungsgericht als Vorfrage zur Entscheidung vorgelegt bzw. von ihm verworfen werden5 • Und parlamentarische Geschäftsordnungsbestimmungen könnten für einen Prozeßfall entscheidungs-

diese Bestimung gilt als die verfassungsrechtliche Garantie des richterlichen PfÜfungsrechts in Deutschland - noch gemäß dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz obligat. In den besonderen Verfahrensvorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ist von ,,Recht"(§ 13 Nr. 11 BVerfGG) bzw. von ,,Rechtsvorschrift"(§§ 80 Abs. 2 Satz 1 und 82 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG) die Rede. Ferner kann Art. 100 Abs. 1 GG auch dahingehend ausgelegt werden, daß es sein Zweck ist, Mißhelligkeiten eines (diffusen) richterlichen Prüfungsrechts zu vermeiden bzw. die Rechtseinheit zu sichern. 4Hierzu vgl. BVerfGE 1, (184) 195ff; Bettermann, (Anm. 2), S. 336f. SFragen, die zwar nach Auffassung des Prozeßgerichts von großer theoretischer Bedeutung sein könnten, aber nicht erkennbar zur Fallentscheidung beitragen, sind nicht vorlagefähig. Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit ist die Auffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich, aber das Bundesverfassungsgericht kann eine Vorlage zurückweisen, wenn nach seiner Auffassung ihre Begründung "nicht offensichtlich unhaltbar" oder "nicht nachvollziehbar" ist; letztendlich kommt es mithin auf den Rechtsstandpunkt des Bundesverfassungsgerichts an. Hierzu vgl. BVerfGE 43, (27) 31; 46, (268) 283; 54, (1) 7; 69, (150) 159f; 75, (1) 12ff; 78, (1) 5; 79, (245) 249; Benda/Klein, (Anm. 2), S. 324ff; Bettermann, (Anm. 2), S. 361; E. Klein, VerfassungsprozeßrechtVersuch einer Systematik an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 108, 1983, S. 580; H. Klein, Kommentierung des § 80 BVerfGG Rn. 37, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992, Rinken, Kommentierung des Art. 100 GG Rn. 11, in: DenningerlRidder/SimonlStein (Hrsg.) Alternativkommentarzum Grundgesetz, Band 11, 2. Auflage, 1989; Pestalozza, (Anm. 2), S. 210; Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 3. Auflage, 1994, Rn. 14Offff; Ulsamer, Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: BayVBl. 1980, S.52Off.

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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erheblich werden, wenn das Prozeßgericht bei ihrer Verfassungswidrigkeit bzw. Ungültigkeit anders entscheiden würde, als bei ihrer GÜltigkeit6• In bezug auf Geschäftsordnungsbestimmungen ist das Eintreten eines solchen Falles praktisch kaum denkbar, obwohl es aufgrund des Art. 19 Abs. 4 GG: "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt."

i. V. mit § 40 Abs. 1 VwGO: "Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind."

nicht von vornherein auszuschließen ist? Würde es also im Rahmen eines Prozesses auf die Entscheidungserheblichkeit bzw. Gültigkeit einer Geschäftsordnungsbestimmung ankommen, dann hätte das Prozeßgericht diese Frage dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen8 . Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht für Streitigkeiten zwischen Parlament und Abgeordneten bzw. zwischen Parlament und anderen Staatsorganen, in denen es auf die Gültigkeit des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts ankommen könnte, prinzipiell (direkt) zuständig9 •

6Dazu s. § 80 Abs. 2 BVerfGG "Die Begründung muß angeben, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig ist und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Die Akten sind beizufügen". 7Mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG werden subjektiv-öffentliche Rechtspositionen des Bürgers gegenüber dem Staat geschützt. Darauf kann sich jedoch der Bürger berufen, wenn § 40 Abs. 1 VwGO seine Rechtspositionen erfaßt bzw. wenn sie in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte fallen und nicht aufgrund der Subsidiaritätsklausel ( "Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art") der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung entzogen worden sind. Hierzu vgl. Butzer, (Anm. 2), S. 101; Haug, (Anm. 2), S. 153ff; Kästner, Parlamentarisches Untersuchungsrecht und richterliche Kontrolle, in: NJW 1990, S. 2649f; Pestalozza, (Anm. 2), S. 110 Fn. 90; Pietzcker, (Anm. 2), S. 357 Rn. 46; Versteyl, (Anm. 2), Komm. Art. 40 GG Rn. 18. 8Die Vorlage eines geschäftsordnungswidrigen Gesetzes hingegen, das nach Überzeugung des zuständigen Richters entscheidungserheblich ist, würde daran scheitern, daß im konkreten Normenkontrollverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG nur das Grundgesetz den Prüfungsmaßstab darstellt. Ein Geschäftsordnungsverstoß kann also in diesem Rahmen dem Bundesverfassungsgericht nicht vorgelegt werden, insoweit keine Verfassungsverletzung geltend gemacht werden kann. 9Dazu s. unten III.5 c). 9 Theodossis

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D. Bundesrepublik Deutschland

3. Beschwerdefiihrung gegen parlamentarische Geschäftsordnungsvorschriften gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr.4a GG?

Staatsorgane und deren Organteile haben keine Grundrechte i. S. des Art. 93 Abs. Nr. 4a 00, sondern nur grundgesetzlieh abgesicherte Funktionsbereiche, die sie nur im Wege des Organstreitsverfahrens gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00 verteidigen können. Bundestagsabgeordnete haben ebenfalls den Weg des Organstreitverfahrens zu beschreiten, falls Geschäftsordnungsregelungen bzw. Parlamentsbeschlüsse ihre statusbezogenen Rechte verletzen'o. Im Gegensatz dazu steht dem Bürger nur die Verfassungsbeschwerde zur Verfügung, um seine Verfassungsrechte zu verteidigen. Jeder staatliche Akt, welcher unmittelbar in die Rechtssphäre des einzelnen eingreift, kann vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten werden, vorausgesetzt, daß das verletzte Grundrecht in der Liste des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a 00 steht und dem konkreten Beschwerdeführer zusteht. Ein Geschäftsordnungsgebungsakt stellt zweifelsohne die Ausübung öffentlicher Gewalt dar. Bürger bzw. Privatpersonen, die in den Regelungsbereich der parlamentarischen Geschäftsordnungen einbezogen werden, könnten also prinzipiell parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht vor dem Bundesverfassungsgericht anfechten, wenn sich dadurch die ihnen zustehenden Grundrechtspositionen zu ihrem Nachteil verändert haben sollten. Nach der vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelten Auslegung des Art. 2 Abs. 1 00: IODazu s. BVerfGE 6, (445) 448f; 80, (188) 208f; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984, S. 247f; BendalKlein, (Anm. 2), S. 167 Rn. 393; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, 1993, Rn. 679; F. Klein, Kommentierung des Art. 38 GO Rn. 25, in: Schmidt-BleibtreulKlein (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995; Kley, Kommentierung des § 90 Abs. 1 BVerfGO Rn. 22, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Kommentierung des Art. 38 GO Rn. 651 ff, in: Grundgesetz. Kommentar an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band 11, 7. Auflage, 1993; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: IsenseelKirchof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 56; 1987, S. 752; Pieroth, Kommentierung des Art. 38 GO Rn. 36, in: JarasslPieroth (Hrsg.) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995; Pieroth, Kommentierung des Art. 93 GO Rn. 6, in: JarasslPieroth (Hrsg.) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995; Ulsamer, Kommentierung des § 63 BVerfGO Rn. tO, in: MaunzlSchmidt-BleibtreulKleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1987, S. 13; Umbach, Parlamentsauflösung in Deutschland. Verfassungsgeschichte und Verfassungsprozeß, 1989, S. 526f.

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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,,Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt."

umfaßt diese Verfassungsbestimrnung die allgemeine Handlungsfreiheit und gewährt somit den Bürgern "das Recht auf Freiheit von staatlicher Rechtsbeeinträchtigung, die ihre Grundlage nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung findet"ll. Jede die Handlungsfreiheit des Bürgers verfassungswidrig (inhaltlich oder formell) einschränkende Rechtsnorm gehört demnach nicht zur "verfassungsmäßigen Ordnung" bzw. zur "verfassungsgemäßen Rechtsordnung", und ihre Geltung bzw. Anwendung würde gegen das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen 12. Unter diesem Gesichtspunkt könnte theoretisch eine verfassungswidrige Geschäftsordnungsregelung, welche z. B. in Abweichung von Art. 42 Abs. 1 GG bzw. Art. 52 Abs. 3 Sätze 3 und 4 GG (s. Anhang) den Ausschluß der Öffentlichkeit im Bundestag bzw. im Bundesrat zur Regel macht, im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden und durch das Bundesverfassungsgericht auf ihre sämtlichen verfassungsrechtlichen Mängel hin geprüft werden, auch wenn der vorliegende Verfassungsverstoß keine direkte Grundrechtsverletzung darstellen würde. Die Zulässigkeit bzw. die Annahme dieser wie jeder anderen Verfassungsbeschwerde wird jedoch durch das Vorliegen der Betroffenheit des Beschwerdeführers bedingt. Jede Verfassungsbeschwerde kann nur dann zulässig erhoben werden, wenn die damit angegriffene Rechtsnorm geeignet ist, den Beschwerdeführer "selbst, gegenwärtig und unmittelbar" zu beeinträchtigen. Diese durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Orientierungskriterien für die Betroffenheit müssen nicht nur dann erfüllt sein, wenn der Beschwerdegegenstand ein (auf der Geschäftsordnung beruhender) Parlamentsakt oder eine (auf sie bezogene) Gerichtsentscheidung ist, sondern auch wenn die Geschäftsordnung selbst der Beschwerdegegenstand ist. llLöwer, (10), S. 833 Rn. 153. Dazu s. BVerfGE 6, (32) 36ft'; 80, (137) 152. 12Dazu s. Benda, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bundesrepublik Deutschland, in: StarckIWeber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 135; E. Klein, (Anm. 5), S. 597; Löwer, (Anm. 10), S. 833f; W. Meyer, Kommentierung des Art. 93 GG Rn. 65, in: von Müoch (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Band III, 2. Auflage, 1983; Pestalozza, (Anm. 3), S. 176f; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der Gerichtsbarkeit, in: IsenseeiKirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11,1987, § 54, S. 693 Rn. 25; Schlaich, (Anm. 5), Rn 213; Stein, Staatsrecht, 14. Auflage, 1993, § 30 III, S. 252f; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11,1980, S. 1017 (1022f); Weber, Generalbericht: Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, in: StarcklWeber (Hrsg.) Verfassungs gerichtsbarkeit in Westeuropa, 1986, S. 90; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1979, S. 104.11 Theodossis, (griech.) Das deutsche Bundesverfassungsgericht, 1991, S. 67f. 9"

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D. Bundesrepublik Deutschland

Ausgeschiedene Bundestagsabgeordnete, die keine Parteifähigkeit im Organstreit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG mehr besitzen, wären z. B. berechtigt, eine Verfassungsbeschwerde gegen eine (ihren verfassungsrechtlichen Status verletzende) Geschäftsordnungsbestimmung zu erheben. Nach Ablauf der Legislaturperiode würde es ihrer Betroffenheit jedoch an Gegenwärtigkeit fehlen, es sei denn, sie wären von den Auswirkungen der Bundestagsgeschäftsordnung weiterhin betroffen. Es ist also hier festzuhalten, daß theoretisch beim Vorliegen einer eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit des Beschwerdeführers eine Grundgesetzverletzung durch das Geschäftsordnungsrecht im Wege des Verfassungsbeschwerdeverfahrens angefochten werden könnte, insofern es keinen anderen Rechtsweg i. S. des § 90 Abs. 2 BVerfGG (s. Anhang) dafür gibt. Allerdings räumen § 93 a und § 93 b BVerfGG (s. Anhang) dem Bundesverfassungsgericht einen beachtlichen Ermessensspielraum bei der Annahme der Verfassungsbeschwerden ein, so daß es im Grunde dem Gericht anheimsteht, ob es sich mit einer Grundrechtsverletzung bzw. einer Verfassungsverletzung befaßt oder nicht l3 .

4. Parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht als Prüfungsgegenstand der abstrakten NormenkontroUe gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG

Im Gegensatz zu den erschwerten Prozeßvoraussetzungen der Richtervorlage und der Verfassungsbeschwerde reichen im Wege der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bloße Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel dazu aus, um ein Normenkontrollverfahren in Gang zu setzen 14. Die Bestimmung des § 76 BVerfGG engt allerdings den Regelungsgehalt des Art. 93 13Hierzu vgl. BendalKlein, (Anm. 2), S. 192f; Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, 1988, S. 111ff; Herzog, Senat und Kammer, in: FS für E. -G. Mahrenholz, 1994, S. 899ff; E. Klein, Konzentration durch Entlastung? in: NJW 1993, S. 2073ff; E. Klein, (Anm. 5), S. 592ff; Kley, (Anm. 10), Komm. § 90 BVerfGG Rn. 74ff; Löwer, (Anm. 14), S. 828ff; W. Meyer, (Anm. 12), Komm. Art. 93 GG Rn. 65; Pieroth, (Anm. 10), Komm. Art. 93 GG Rn. 37; Rinken, Kommentierung des Art. 93 GG Rn. 52ff, in: Denninger, Ridder, Simon, Stein (Hrsg.) Altemativkommentarzum Grundgesetz, Band H, 2. Auflage, 1989; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band H, § 53, 1987, S. 669 Rn. 9; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 248ff; Wieland, Der Herr des Verfahrens, in: FS für E.-G. Mahrenholz, 1994, S. 888; Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 1988, S. 126ff. 14Dazu s. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 "Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages".

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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Abs. 1 Nr. 2 GG insofern ein, als sie vorschreibt, daß der Antragsberechtigte die Rechtsnorm für nichtig zu halten habe, und demzufolge reichen bloße Zweifel zum Ingangsetzen des Verfahrens nicht aus 15. Das Bundesverfassungsgerichthält jedoch einen Normenkontrollantrag für zulässig, wenn über die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm innerhalb der Rechtsordnung Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel entstanden sind und diese einen der Antragsberechtigten dazu veranlassen, einen Normprüfungsantrag zu stellen l6 • Danach unterliegen Rechtsnormen aller Art ohne Rücksicht auf ihren Charakter - unbefristet und losgelöst von einer subjektiven Rechtsbeeinträchtigung - der abstrakten Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht kann sich nicht hinter dem Subsidiaritätsprinzip zurückziehen; dem abstrakten Normenkontrollverfahren geht kein anderes (zuerst zu erschöpfendes) Verfahren voraus 17 • Um des allgemeinen Klarstellungsinteresses willen hat also das Bundesverfassungsgericht über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit vom Recht mit dem Grundgesetz zu entscheiden, insofern ein Antrag gestellt wurde und bisher keine Entscheidung von ihm ergangen ist. Das Klarstellungsinteresse wird demnach durch die Antragstellung indiziert. Ein weitergehendes Rechtsschutzinteresse oder die Bezeichnung eines Antragsgegners bzw. dessen verfassungsrecht-

lS§ 76 BVerfGG "Der Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages gemäß Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes ist nur zulässig, wenn einer der Antragsberechtigten Bundes-und Landesrecht 1. wegen seiner förmlichen oder sachlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht für nichtig hält oder 2. für gültig hält, nachdem ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes das Recht als unvereinbar mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht nicht angewendet hat". 16Trotz Geltung des § 76 BVerfGG ist bis jetzt kein Antrag an fehlendem Klarstellungsinteresse gescheitert. Hierzu vgl. BVerfGE 6, (104) 109f; 12, (205) 22lf; BendalKlein, (Anm. 2), S. 286f; E. Klein, (Anm. 5), S. 572f; LeibholzlRinck/Hesselberger, Komm. Art. 93 GG Rn. 131, in: Grundgesetz. Kommentar an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band II, 7. Auflage, 1993; LeibholzlRupprecht, Komm. § 76 BVerfGG Rn. 4, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Rechtsprechungskommentar, 1968; Löwer, (Anm. 10), S. 774 Rn. 55; Meyer, (Anm. 12), Komm. Art. 93 GG Rn. 38f; Pestalozza, (Anm. 2), S. 126ff; Pieroth, (Anm. 10), Komm. Art. 93 GG Rn. 21; Rinken, (Anm. 14), Komm. Art. 93 GG Rn. 22ff; Schlaich, (Anm. 5), S. 85 Rn. 122; Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 300ff; Stern, (Anm. 12), S. 983ff; Stuth, Kommentierung des § 76 BVerfGG Rn. 7, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Ulsamer, Kommentierung des § 76 BVerfGG Rn. 49ff, in: MaunzJSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1978. 17Hierzu vgl. BVerfGE 8, (104) 110; 20, (56) 95; 22, 407; Bendal Klein, (Anm. 2), S. 295 Rn. 685; Meyer, (Anm. 12), Komm. Art. 93 GG Rn. 37; Pieroth, (Anm. 10), Komm. Art. 93 GG Rn. 21; Schlaich, (Anm. 5), S. 82 Rn. 116; Stuth, (Anm. 16), Komm. § 76BVerfGG Rn. 33; Ulsamer, (Anm. 16), Komm. § 76BVerfGG Rn. 5ff.

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licher Beziehung zum Prüfungsgegenstand ist für die Einleitung des abstrakten Normenkontrollverfahrens nicht erforderlich 18. Wie bereits oben festgelegt, stellen die Bundestags-und Bundesratsgeschäftsordnung (öffentliches) Recht dar, deshalb genügt auch in bezug auf sie das objektive Interesse eines der Antragsberechtigten an der Klarstellung der verfassungsrechtlichen Lage, um das Bundesverfassungsgericht einzuschalten. In diesem Rahmen würde das bundesdeutsche Verfassungsgericht die Zuständigkeit des Geschäftsordnungsgebers, das Geschäftsordnungsgebungsverfahren sowie den Inhalt des gerügten Geschäftsordnungsrechts an den grundgesetzlichen Bestimmungen und Grundsätzen bzw. Organisationsprinzipien messen. Das Bundesverfassungsgericht ist hinsichtlich des Prüfungsumfanges nicht an den verfahrenseinleitenden Antragsinhalt gebunden. Die Funktion des Antrags erschöpft sich im Ingangsetzen des Verfahrens, und das Bundesverfassungsgericht hat die zur Prüfung vorgelegte Bestimmung unter allen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu überprüfen l9 . Die Antragsberechtigung gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GO und § 76 BVerfGO ist also nur ein prozessuales Anstoßrecht. Der Kreis der dazu Antragsberechtigten ist jedoch sehr beschränkt und abschließend aufgezählt. Weder im Wege der Auslegung noch der Analogie kann er erweitert werden. Nur die Bundesregierung, eine der Landesregierungen oder ein Drittel der (gesetzlichen) Bundestagsmitglieder (ohne Rücksicht auf Partei-oder Fraktionszugehörigkeit) können parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht (zu jedem Zeitpunkt und ohne Selbstbetroffenheit) dem Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle vorlegen. Im deutschen Schrifttum sind jedoch Meinungen vertreten, wie z. B. parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht sei aufgrund seiner Rechtscharakters als internes Recht im Wege der abstrakten Normenkontrolle nicht überprüfbar; eine solche Kontrolle würde eine Gefährdung bzw. eine Beeinträchtigung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie darstellen; oder nur das Mitgliederdrittel des Bundestages sei diesbezüglich berechtigt, ein abstraktes Normenkontrollverfahren einzuleiten, die Bundesregierung hingegen sei nur dann dazu be18Dazu s. u. a. E. Klein, (Anm. 5), S. 573; LeibholzIRupprecht, (Anm. 16), S. 216 Rn. 5; Löwer, (Anm. 10), S. 775f Rn. 56; Pestalozza, (Anm. 2), S. 128 Rn. 14; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GO Rn. 23; Schlaich, (Anm. 5), S. 86 Rn. 122; Stuth, (Anm. 16), Komm. § 76 BVerfGG Rn. 7. 19Dazu s. BVerfGE I, (14) 41; 7, (305) 311; 37, (363) 397. S. a. E. Klein, (Anm. 5), S. 572; LeibholzIRupprecht, (Anm. 16), Komm. § 76 BVerfGO Rn. 7; Löwer, (Anm. 10), S. 778 Rn. 61; Meyer, (Anm. 12), Komm. Art. 93 Rn. 46; Pieroth, (Anm. 10), Komm, Art. 93 GO Rn. 23; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GO Rn. 28; Stuth, (Anm. 16), Komm. § 76BVerfGO Rn. 27.

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rechtigt, wenn es um sie betreffende Geschäftsordnungsbestimmungen gehe2o • Danach scheiden zuvörderst automatisch die Länderregierungen als Antragsberechtigte aus. Auch wenn diese Einengung des Kontrollgegenstandes bzw. der Antragsberechtigung Eingriffe des Bundesverfassungsgerichts in die Parlamentsautonomie abzuwenden vermag, läßt sie sich schwer mit dem Zweck und dem (rein objektiven) Charakter des abstrakten Normenkontrollverfahrens vereinbaren. Bundesregierung, Länderregierungen und ein Drittel der Bundestagsmitglieder werden kraft Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GO zu Wächtern der Bundesverfassungsordnung bestellt, um die Wächterfunktion des Bundesverfassungsgericht zu aktivieren21 • Diesbezüglich wird, wie bereits erwähnt, weder eine subjektivrechtliche Beziehung des Antragstellers zum Antragsgegenstand noch ein subjektives Rechtsschutzinteresse noch ein subjektives Kontrollinteresse gefordert. Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GO sind auch einseitige Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der beanstandeten Rechtsnorm zum Ingangsetzen des Verfahrens hinreichend. Der Antragsteller macht sich mit der Antragstellung die geäußerten Zweifel zu eigen, und dadurch entsteht ein öffentliches Kontrollbedürfnis. Insofern ist festzuhalten, daß sowohl die Bundesregierung als auch jede der Landesregierungen sowie ein Drittel der Bundestagsmitglieder eine Überprüfung der Vereinbarkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungsbestimmungen mit dem Grundgesetz beantragen können22 • Dabei sind die Antragsteller an keine Frist gebunden und brauchen nicht eine Verletzung bzw. Gefährdung ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen geltend zu machen23 . Im Wege des abstrakten Normenkontrollverfahrens kann sogar eine der Länderregierungen die Kontrolle von fremden Landesrecht beantragen, ohne daß

20Dazu s. Amdt, (Anm. 2), S. 165; Bücker, Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, in: Ritzel/Bücker (Hrsg.) Handbuch für die parlamentarische Praxis, Einleitung, 1993, S. 5; Haug, (Anm. 2), S. 55; Pietzcker, (Anm. 2), S. 356f; Schäfer, Der Bundestag. Eine Darstellung seiner Aufgaben und seiner Arbeitsweise, 3. Auflage, 1977, S.66. 21 Dazu s. BendalKlein, (Anm. 2), S. 289 Rn. 670; Löwer, (Anm. 10), S. 774 Rn. 54; von Mutius, Die abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Jura 1987, S. 537; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GO Rn. 21; Söhn, (Anm. 16), S. 305. 22Hierzu vgl. BVerfGE 10, (20) 54; Hamburgisches Verfassungs gericht, Urteil vom 5. 11. 1975, in: DVBl. 1976, S. 446; BVerwG, Beschluß vom 31. 5. 1979, in: NIW 1980, S.304. 23Die Fortsetzung eines eingeleiteten Normenkontrollverfahrens gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GO wäre sogar noch nach Ablauf der Legislaturperiode und dem damit angenommenen Außerkrafttreten der beanstandeten Geschäftsordnungsbestimmung möglich, solange sich aus ihr noch Rechtswirkungen ergeben. Hierzu vgl. BVerfGE 5, (25) 28; 20, (56) 94; 79, (311) 327f; BendalKlein, (Anm. 2), S. 284; Söhn, (Anm. 16), S. 315.

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sie eine besondere Legitimation dafür nachweisen muß 24 . Insofern könnten die Mitglieder des Bundesrates das Antragsrecht ihrer Landesregierung in Anspruch nehmen, um die Bundesratsgeschäftsordnung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz hin überprüfen zu lassen. Ob das Einschalten des Bundesverfassungsgerichts durch die Bundesregierung oder eine der Landesregierungen eine - wenn nicht rechtliche, dann aber tatsächliche - Beeinträchtigung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie zur Folge haben kann, hängt letztendlich davon ab, ob sich das Bundesverfassungsgericht bei der beantragten Kontrolle an seine Kompetenzen hält.

5. Die parlamentarischen Geschäftsordnungen und das Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG

a) Die Bundestags-bzw. Bundesratsgeschäftsordnung als Gegenstand von Streitigkeiten über die "Rechte und Pflichten" der obersten Bundesorganen Schon im ersten Jahr seiner Tätigkeit wurde das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG angerufen, um festzustellen, daß ein Paragraph der Bundestagsgeschäftsordnung dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 widerspreche und daß er das Bundeshaushaltsrecht verletze. Die antragstellende Bundestagsfraktion hatte ferner die Feststellung beantragt, daß das Recht, aus der Mitte des Bundestages Gesetzesvorlagen einzubringen, ohne Änderung des Grundgesetzes sachlich nicht beschränkbar wäre 25 . Obwohl gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG die Auslegung des Grundgesetzes der Verfahrensgegenstand eines Organstreit zu sein scheint - demnach ist dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz der "prinzipalen Verfassungsinterpretation"zugewiesen - , ist gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGG ein Antrag im Organstreitverfahren nur dann statthaft, "wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist"26. § 67 BVerfGG macht ferner die Feststellung des gerügten Verfassungsverstoßes zum Gegenstand der Ent24Dazu s. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 289 Rn. 670; Löwer, (Anm. 10), S. 776 Rn. 56; von Mutius, (Anm. 21), S. 538; Pestalozza, (Anm. 2), S. 123; Söhn, (Anm. 13), S. 306. 25 BVerfGE 1, (144) 146. 26Hierzu vgl. § 13 Nr. 5 BVerfGG "Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in den vom Grundgesetz bestimmten Fällen, und zwar über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines ober-

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scheidung des Bundesverfassungsgerichts und stellt die Grundgesetzauslegung in das Ennessen des Gerichts27 • Zwischen Grundgesetz und Gesetzesbestimmungen ist eine Diskrepanz zu erkennen, was die Verfassungsmäßigkeit letzterer in Frage stellt, zumal aus der Entstehungsgeschichte des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG hervorgeht, daß sich der parlamentarische Rat für ein Verfassungsinterpretationsverfahren und nicht für ein Verfassungsstreitverfahren entschieden hatte 28 • Dennoch werden §§ 64 Abs. 1 und 67 Satz 1 BVerfGG weiterhin auf das Organstreitverfahren angewandt. Deren Erlaß bzw. Anwendung wird vom Schrifttum und Bundesverfassungsgericht als das Ergebnis einer "harmonisierenden Interpretation" des Art. 93 Abs. Nr. 1 GG aufgefaßt. Dabei wird auf die Begriffe "Streitigkeit" und "Beteiligte" im Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG abgestellt, und demnach beschreibt Art. 93 Abs. Nr. 1 GG vielmehr die materiellen Voraussetzungen des Organstreitverfahrens als das Verfahren selbst29 . Obwohl sten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind". 27Dazu s. § 67 BVerfGG "Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Die Bestimmung ist zu bezeichnen. Das Bundesverfassungsgericht kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt". 28 Art. 98 Nr. 2 des Entwurfs von Herrenchiemsee, wonach das Bundesverfassungsgericht über Verfassungsstreitigkeiten zwischen obersten Bundesorganen zu entscheiden hätte, wurde vom allgemeinen Redaktionsausschuß, dem sich auch der Hauptausschuß des parlamentarischen Rates anschloß, durch die heutige Fassung ersetzt. Letztere entsprach durchaus der traditionellen Auffassung in Deutschland über den Organstreit. Mehr dazu und zur geschichtlichen Entwicklung des Organstreitverfahrens s. u. a. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 378f; von DoemningIFüßleiniMatz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: ]öR N. F. I, 1951, S. 669ff; Lorenz, Der Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 233f; W. Meyer, (Anm. 12), Komm. Art. 93 GG Rn. 24; ; Pestalozza, (Anm. 2), S. 96ff; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 75ff; Umbach, Vormerkungen vor § 63BVerfGG, Rn. 15ff, in: UmbachiClemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992. 29Dazu s. u.a. BVerfGE I, (208) 23lf; I, (351) 359; 2, (143) 156f; 2, (347) 365; Benda/Klein, (Anm. 2), S. 376ff; LeibholzlRupprecht, (Anm. 16), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 1; Lorenz, (Anm. 28), S. 233ff(258f); Löwer, (Anm. 10), S. 748f; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GG Rn. 4; Schlaich, (Anm. 5), S. 56 Rn. 77; Ulsamer, (Anm. 10), Komm. § 63BVerfGG Rn. 2; Umbach, (Anm. 28), Vorb. § 63BVerfGG Rn. 18ff; Ulsamer, Kommentierung des § 64 BVerfGG Rn. 2, in: MaunzlSchmidt-BleibtreuiKleini Ulsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1987; Umbach, (Anm. 10), S. 529ff; Umbach, Kommentierung des § 67 BVerfGG Rn. 5ff, in: Umbachl Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Wischermann, (Anm. 12), S. 76. Kritisch dazu Pestalozza, (Anm. 2), S. 99 Rn. 5 und S. 119fRn. 43; er hält § 67 BVerfGG für verfassungswidrig.

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mit "Beteiligter" im Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00 derjenige gemeint ist, der am Verfahren teilnehmen darf, handelt es sich bei "Beteiligung" um eine sachliche Beziehung zum Streitgegenstand und nicht um ein allgemeines Klarstellungsinteresse30 • Insofern setzte § 64 BVerfOO zu Recht voraus, daß in Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00 eine streitige verfassungsrechtliche Beziehung zwischen den Parteien besteht31 • Gemäß §§ 64 Abs. 1 und 67 Satz 1 BVerfOO kommt dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zu, konkrete Streitigkeiten anband der Verfassung zu entscheiden, das Verfassungsgericht hat aber zuvor das Grundgesetz auszulegen, um zu entscheiden, ob die beanstandete Maßnahme gegen das Grundgesetz verstößt oder nicht32 • Die gesetzlichen Verfahrensregeln sind mithin das Ergebnis einer Verfassungskonkretisierung bzw. einer inhaltlichen Fortbildung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00. Dafür bietet der Wortlaut der Verfassungsbestimmung selbst Anhaltspunkte; ferner wird diese Konkretisierung durch Art. 93 Abs. 2 00 gedeckt: "Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig." Verfassungsrechtliche Bedenken treten insofern auf, als gemäß der KannVorschrift des § 67 Satz 3 BVerfOO die Grundgesetzauslegung in das Ermessen des Bundesverfassungsgerichts gestellt wird und als solche von ihm gehandhabt wird. Gemäß § 67 Satz 3 BVerfOO entscheidet das Bundesverfassungsgericht von Amts wegen darüber, ob es die Rechtsfrage in die Entscheidungsformel aufnimmt, und aus dem tenorierten Auslegungsrechtssatz soll ohnehin die FesteIlung abgeleitet werden, daß die beanstandete Maßnahme bzw. Unterlassung gegen das Grundgesetz verstößt. Die als Kompromiß zu verstehende Regelung des § 67 Satz 3 BVerfOO vermindert zwar die Gefahr - angesichts der Bindungswirkung, welche kraft § 31 Abs. 1 BVerfOO die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entfaltendie Verfassung durch verfassungsgerichtliche Entscheidungen zum Erstarren zu bringen, ist aber dem Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00 (inhaltlich) nicht kongruent33 • Dennoch hatte sich das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1952 (mit 30BVerfGE 2, (143) 156. 31Dazu s. BVerfGE 2, (143) 157. 32Dazu s. BVerfGE 2, (347) 365; Löwer, (Anm. 10), S. 749. 33Hierzu vgl. BVerfGE 1, (144) 148; 1, (351) 371; 1, (372) 380; 2, (143) 172; 2, (347) 365; E. Klein, (Anm. 5), S. 570; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 303; Murswiek, Der Umfang der verfassungsgerichtlichen Konr:rolle staatlicher Öffentlichkeitsarbeit. Zum Grundsatz des judicial self-restraint, in: OOV 1982, S. 538; Pestalozza, (Anm. 2), S. 120 Rn. 46; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 Rn. 18; Seuffert, Über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Bindungswirkung, in: AöR 104, 1979, S. 191; G. Ulsamer, Kommentierung des § 67BVerfGG Rn. 6, in: MaunzlSchmidt-BleibtreuiKleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar

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seiner Entscheidung vom 6. März 1952) in Anwendung des § 67 BVerfGG geweigert, über das Initiativrecht aus der Mitte des Bundestages Recht zu sprechen. Die hierauf gerichtete Anregung der antragstellende Fraktion sei, so das Bundesverfassungsgericht, gemäß § 67 Satz 3 BVerfGG nicht als ein echter Antrag anzusehen. Demzufolge brauchte es darüber nicht fönnlich zu entscheiden34 • Gäbe es § 67 Satz 3 BVerfGG nicht, dann hätte das Bundesverfassungsgericht auch darüber Recht zu sprechen gehabt. Eine weitere Frage, die sich bezüglich des Organstreits gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG erhebt, ist, ob die obersten Bundesorgane oder die anderen parteifähigen Beteiligten überhaupt Träger disponibler Rechte sind, um damit über deren Umfang streiten und diesbezüglich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen zu können 35 • Staatsorgane bzw. deren Organteile haben bekanntlich keine "Rechte und Pflichten"; sie haben nur Kompetenzen (Zuständigkeiten), welche ihnen verfassungsrechtlich bzw. geschäftsordnungsrechtlich zugewiesen sind. Aufgrund dieser Kompetenzordnung, die zugleich ein Einmischungsverbot in fremde Funktionen bedeutet, nimmt sich jedoch jedes Staatsorgan das "Recht", seine Zuständigkeiten gegen Übergriffe anderer Staatsorgane zu verteidigen36 • Den Staatsor ganen kommt also ipso iure eine Überwachungsfunktion zu, welche (dem helkömmlichem prozessualen Denken entsprechend) zu einer Subjektivierung der Kompetenzen führt. Diese Überwachungsfunktion rechtfertigt es, von "Rechten der Staatsorgane" zu sprechen, und rechtfertigt darüber hinaus das Einschreiten einer (dritten) Kontrollinstanz, welche rechtsprechend tätig wird, um den Verfassungsfrieden zu bewahren. Wenn ein Staatsorgan seine Pflicht nicht erfüllt, bei Ausübung seiner Zuständigkeiten die verfassungsmäßigen Kompetenzen anderer Staatsorgane zu achten, kann mithin sein Verhalten - sei es Maßnahme, sei es Unterlassung - verfassungsgerichtlich beanstandet werden. Aufgrund der Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. mit §§ 63 und 64 Abs. 1 BVerfGG kann allerdings nur ein "organstreitzum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1987; Umbach, (Anm. 29), Komm. § 67 BVerfGG Rn. 5ff; Umbach, (Anm. 28), Vorb. vor §§ 63 ff BVerfGG Rn. 33ff; Umbach, (Anm. 10), S. 623; Wischermann, (Anm. 12), S. 75. 34Dazu s. BVerfGE I, (144) 148. Das Bundesverfassungsgericht befaßte sich zwar in dieser Entscheidung mit dem Initiativrecht des Bundestages, die diesbezüglichen Ausführungen wurden jedoch in die Entscheidungsformel nicht aufgenommen, dazu s. BVerfGE I, (144) 153f. 3SVon ,,Rechten und Pflichten" ist auch in § 64 Abs. 1 BVerfGG (s. Anhang) die Rede. Hierzu vgl. § 65 Abs. 1 BVerfGG (s. Anhang). 36Hierzu vgl. BVerfGE 2, (143) 152; BendalKlein, (Anm. 2), S. 380; Jekewitz, Bundesverfassungsgericht und Organisationsrecht des Grundgesetzes, in: FS für R. Wassermann, 1985, S. 388; E. Klein, (Anm. 5) S. 563; Lorenz, (Anm. 28), S. 237f; Löwer, (Anm. 10), S.745f; Schlaich, (Anm. 5), S. 53f; Stern, (Anm. 12), S. 980.

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fähiges Staatsorgan" zulässigerweise das Organstreitverfahren in Gang setzen. Der parteifähige Antragsteller soll ferner geltend machen, daß er durch das Verhalten des im Antrag bezeichneten (und parteifähigen) Gegners eine Verletzung bzw. eine unmittelbare Gefährdung seiner ihm durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzen erfahren hat. Und nur dann kann sich das Bundesverfassungsgericht zulässig mit dem dadurch entstandenen Konflikt befassen. Ob auch tatsächlich die behauptete Verletzung bzw. unmittelbare Gefährdung vorliegt, ist eine Sache der Begründetheit der Entscheidung und nicht der Zulässigkeit des Antrags. Bei der Zulässigkeitsprüfung hat also das Bundesverfassungsgericht nur darüber zu entscheiden, ob die beanstandete Maßnahme bzw. Unterlassung des Antragsgegners rechtliche Bedeutung für den Antragsteller haben kann und (prinzipiell) geeignet wäre, den verfassungsrechtlichen Status des Antragstellers zu verletzen bzw. zu gefährden 37 • Dies ist grundsätzlich der Fall, wenn Antragsteller und Antragsgegner in einem verfassungsrechtlichen Verhältnis zueinander stehen und wenn der Antragsgegner aufgrund des Grundgesetzes oder der ihn betreffenden Geschäftsordnung entscheidungsbefugt bzw. beschlußfähig ist. Hierzu ist anzumerken, daß sich der Terminus "Geschäftsordnungen der obersten Bundesorgane" im Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht auf den Verfahrensgegenstand, sondern auf die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren bezieht. Die Geschäftsordnungen der obersten Bundesorgane sind nur zur Feststellung der Parteifähigkeit von Antragsteller und Antragsgegner relevant38 • Streitigkeiten über "Rechte und Pflichten", die die einfachen Gesetze oder die Geschäftsordnungen der Bundesorgane normieren, können im Organstreitverfahren

37Das Bundesverfassungsgericht hält ferner das Vorliegen eines Rechtsschutzinteresses auf Seiten des Antragstellers für erforderlich, auch wenn dies in der Regel mit der Geltendmachung der Verfassungsverletzung indiziert wird. Dazu s. BVerfGE I, (351) 359: "Das Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin ergibt sich daraus, daß sie als Teil eines Verfassungsorganes die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte geltend macht"; s. a. BVerfGE 2, (347) 364f; 41, (291) 303; 62, (1) 33; 67, (100) 127; 68, (1) 77. Hierzu vgl. BendalKlein, (Anm. 2), S. 403 Rn. 403; Clemens, Kommentierung der §§ 63,64 BVerfGG Rn. 169ff; in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Lorenz, (Anm. 28), S. 257; Pestalozza, (Anm. 2), S. 118 Rn. 39; Schlaich, (Anm. 5), S. 64 Rn. 86. 38Dazu s. Pestalozza, (Anm. 2), S. .113 Rn. 28; Ulsamer, (Anm. 29), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 2.

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nicht entschieden werden39 . Aus diesem Grund wird der Organstreit auch Verfassungsstreit genannt40 • Zurecht wies also das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 6. März 1952 den ihm gestellten Antrag zurück, insofern als damit die Verletzung der Bundeshaushaltsordnung beanstandet wurde: "Ein Verstoß gegen ein einfaches Bundesgesetz kann in diesem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht geltend gemacht werden"41. Gemäß § 64 Abs. 2 BVerfGG (s. Anhang) ist in jedem Antrag die Bestimmung des Grundgesetzes zu bezeichnen, wogegen die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstößt. Damit werden die verfassungsrechtlichen Pflichtenpositionen des Antragsgegners umschrieben, und daraus geht der Prüfungsmaßstab bzw. der Prüfungsumfang der Verfassungskontrolle hervor. Der Antrag begrenzt mithin den Streitgegestand, und im Organstreitverfahren ist das Bundesverfassungsgericht an den konkreten, durch den Antrag bezeichneten und sachlich umrissenen Rechtsstreit gebunden 42 . Ein unbestimmter Antrag hingegen, wenn wie im vorliegenden Fall (lediglich) beantragt wird festzustellen, daß eine Bundestagsgeschäftsordnung "dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 widerspricht", läuft dem Verfahrenszweck des Organstreits zuwider. Denn damit wird nicht mehr eine Konfliktbeilegung durch das Bundesverfassungsgericht, sondern ein (abstraktes) Normenkontrollverfahren beantragt43 . Es ist jedoch anzunehmen, daß das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1952 eine "förmelnde Enge" vermeiden wollte, denn das Gericht berichtigte mit Hilfe der Antragsbegründung 39WUrde allerdings der Bundestag Gegenstände der Gesetzgebung im Wege der Geschäftsordnungsgebung regeln, dann wUrde diese Kompetenzüberschreitung einen Verfassungsverstoß darstellen, welcher vor dem Bundesverfassungsgericht im Organstreitverfahren beanstandet werden könnte. Eine solche Geschäftsordnungsbestimmung würde gegen Art. 40 Abs. I Satz 2 GG und gegen die Verfassungsbestimmungen, welche die Gegenstände der Gesetzgebung des Bundes regeln, verstoßen. 40Dazu s. BVerfGE I, (208) 221; 60, (175) 199; E. Klein, (Anm. 5), S. 563; Lorenz, (Anm. 28), S. 230; Pestalozza, (Anm. 2), S. 95fRn. I; Stern, (Anm. 12), S. 979. 41Dazu s. BVerfGE 1, (144) 147. Der Ausführung des Gerichts hingegen, (BVerfGE 1, (144) 148: "Daher würde die Verletzung eines einfachen Bundesgesetzes durch die Geschäftsordnung stets auch gegen das Grundgesetz verstoßen"), die in diesem Zusammenhang gemacht wurde und auf der Nachrrangigkeit der Bundestagsgeschäftsordnung gegenüber den Gesetzen fußt, kann hier nicht bedingungslos gefolgt werden. Denn es ist immer erforderlich, die Kompetenzfrage vorab zu klären. Hierzu vgl. oben Anm. 39; Bollmann, (Anm. 2), S. 185ft'. 42Dazu s. E. Klein, (Anm. 5), S. 563 und S. 569; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GG Rn. 16. 43Hierzu vgl. BVerfGE 20, (134) 140: "Sie (d. h. die Antragstellerin) zielt mit ihrem Hauptantrag auf eine Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm ab. Ein solcher Antrag ist im Organstreitverfahren nach § 64 BVerfGG nicht zulässig".

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D. Bundesrepublik Deutschland

die (im Antrag fehlende und durch § 64 Abs. 2 BVerfOO vorgeschriebene) Bezeichnung der verletzten Verfassungsbestimmung44• Somit gestaltete das Gericht jedoch im Ergebnis selbst den Kontrollgegenstand und tat dabei dem zwingenden Charakter des § 64 Abs. 2 BVerfOO nicht Genüge; insofern ist seiner Vorgehensweise nicht zuzustimmen45 • Darüber hinaus führte das Bundesverfassungsgericht 1952 im vorliegenden Fall eine Verfassungskontrolle durch, ohne daß die Antragstellerin in ihrem Antrag die Beeinträchtigung eigener Verfassungsrechte oder der Rechte des Organs, dem sie angehörte, geltend gemacht hätte. Siebenunddreißig Jahre später, als sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit einer Geschäftsordnungsvorschrift im Rahmen eines Organstreits befaßte, stellte es jedoch fest: "Im Organstreit kann die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Maßnahme nur insoweit begehrt werden, als der Antragsteller durch sie in eigenen, durch das Grundgesetz geschützten Rechten verletzt zu sein behauptet. Eine allgemeine verfassungsrechtliche Überprüfung der beanstandeten Maßnahme findet im Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00, § 13 Nr. 5 BVerfOO nicht statt (BVerfGE 73,1,29)"46.

b) Die Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnungen als zulässige Maßnahme bzw. als zulässiger Prüfungsgegenstand i. S. der §§ 64ff BVerfOO Obwohl angesichts des Verfahrenszwecks des Organstreits eine eingehende Zulässigkeitsprüfung unabdingbar ist, ging das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 6. März 1952 nicht auf die Frage ein, ob die beanstandete Geschäftsordnungsbestimmung rechtliche Bedeutung für die Antragstellerin haben könnte und ob sie geeignet wäre, den verfassungsrechtlichen Status der Antragstellerin zu verletzen bzw. unmittelbar zu gefährden. Ferner unterließ es in diesem Zusammenhang festzustellen, ob eine Geschäftsordnungsbestimmung Maßnahme i. S. des § 64 Abs. 1 BVerfGG sei. Das Bundesverfassungsgericht stellte zwar fest: "Die Annahme der Geschäftsordnung ist nicht eine Maßnahme der einzelnen Fraktionen, deren Mitglieder für sie gestimmt haben. Sie ist vielmehr ein Akt des Bundestages als Gesamtheit, der sich eine Geschäftsordnung gegeben hat", diese Ausführungen wurden aber 44BVerfGE 1, (144) 146: "Sie (d. h. die Antragstellerin) meint, daß § 96 GOBT gegen die Art. 76 Abs. 1, 40 Abs. 1 S. 2 und 113 GG verstoße". Dazu s. a. BVerfGE 2, (143) 172; 4, (115) 123; 21, (312) 319; 68, (1) 64; BendaiKlein, (Anm. 2), S. 403f; Clemens, (Anm. 37), Komm. §§ 63-64 BVerfGG Rn. 146; Leibhol:zJRupprecht, (Anm. 16), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 6. 4~Hienu vgl. BVerfGE 24, (252) 258f; Löwer, (Anm. 10), S. 755 Rn. 23. 46BVerfGE 80, 188,212. Dazu s. unten III.5 e).

m. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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nur im Zusammenhang mit der Passivlegitimation der (im Bundestag für die Geschäftsordnung gestimmt habenden) Fraktionen gemacht47 . Erst siebenunddreißig Jahre später, als das Bundesverfassungsgericht von einem Bundestagsabgeordneten angerufen wurde, um festzustellen, daß eine Reihe von Geschäftsordnungsbestimmungen "gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes, das Prinzip der repräsentativen Demokratie, den verfassungsrechtlich garantierten Minderheitenschutz und gegen den strengen Gleichheitssatz" verstößen, stellte es bei der Zulässigkeitsprüfung fest, daß der Erlaß einer Geschäftsordnungsvorschrift ebenso wie der Erlaß eines Gesetzes eine Maßnahme i. S. des § 64 Abs. 1 BVerfGG darstelle48 • Das Bundesverfassungsgericht hob jedoch in diesem Zusammenhang hervor, daß eine Geschäftsordnungsvorschrift eine Maßnahme im Sinne von § 64 Abs. 1 BVerfGG darstellt, "wenn sie je nach der gegebenen Situation beim Antragsteller eine aktuelle rechtliche Betroffenheit auszulösen vermag"49. Damit wurde der Zulässigkeitsvoraussetzung der "möglichen Rechtsbeeinträchtigung" seitens des Antragstellers, welche § 64 Abs. 1 BVerfGG impliziert, Rechnung getragen. Für die Zulässigkeit eines Antrags wird gefordet, daß darin die behauptete Verletzung bzw. unmittelbare Gefährdung als möglich erscheint. Letztere müsse sich, so das Bundesverfassungsgericht (dazu s. BVerfGE 2, 347, 365; 60, 374, 381), aus dem Sachvortrag als mögliche Rechtsfolge ergeben. Sind hingegen Rechtsnachteile des gerügten Verhaltens des Antragsgegners im Antrag nicht erkennbar, ist er "nicht schlüssig"so. In bezug auf den am 19. Juli 1988 eingelegten Antrag, insofern er die Geschäftsordnungsregelungen betraf, hatte das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf die "Schlüssigkeit" seine Zulässigkeit bejahts 1• Im Jahre 1991 wurde das Bundesverfassungsgericht wieder mittels einer Organklage, diesmal aber von einer Gruppe von Bundestagsabgeordneten angerufen, um unter anderem festzustellen, daß eine Geschäftsordnungsbestimmung des Bundestages gegen die Rechte der Antragstellerin aus Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG verstoßeS2 • Das Bundesverfassungsgericht verzichtete diesmal auf eine eingehende Zulässigkeitsprüfung der angegriffenen "Maßnahme", wies auf seine Entscheidung 47BVerfGE 1, (144) 147. Hierzu vgl. unten III.5 c). 48BVerfGE 80, (188) 209. 49BVerfGE 80, (188) 209. Hierzu vgl. unten III.5 e). s°Demnach indiziert die fehlende Schlüssigkeit des Antrags die Unmöglichkeit der behaupteten Verletzung bzw. Gefährdung, dazu s. BendalKlein, (Anrn. 2), S. 402 Rn. 957; Pestalozza, (Anrn. 2), S. 116 Rn. 35. slDazu s. BVerfGE 80, (188) 209. Hierzu vgl. BVerfGE 80, (188) 216. s2BVerfGE 84, (304) 304ft'. Hierzu vgl. unten III.5 e)

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D. Bundesrepublik Deutschland

vom 13. Juni 1989 hin und bejahte anschließend die Antragsbefugnis der parteifähigen Gruppe im Bundestag53 • Dennoch ist daran festzuhalten, daß im Organstreit eine antragstellerbezogene Überprüfung des Antrags jedesmal unabdingbar ist54 • Nur so wird den vorgeschriebenen Prozeßvoraussetzungen Genüge getan.

c) Parteifähigkeit und Antragsbefugnis einer Organklage mit parlamentarischem Geschäftsordnungsrecht als Angriffsgegenstand Im Rahmen einer Organklage ist zunächst immer zu überprüfen, ob die verletzten bzw. die unmittelbar gefährdeten Verfassungsrechte tatsächlich dem Antragsteller zustehen und ob der Angriffsgegenstand von dem durch den Antrag bezeichneten Antragsgegner ausgeht. Zugleich muß jedesmal überprüft werden, ob Antragsteller und Antragsgegner zu dem in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. mit § 63 BVerfGG (s. Anhang) genannten Kreis von Verfassungsorganen bzw. Organteilen gehören und ob der in Anspruch genommene Antragsgegner der "richtige" ist55 • In diesem Sinne befaßte sich das Bundesverfassungsgericht 1952 mit der passiven Legitimation und wies zu Recht den ihm gestellten Antrag insoweit zurück, als er gegen die (für den Geschäftsordnungsbeschluß gestimmt habenden) Bundestagsfraktionen gerichtet war5 6 • Die Geschäftsordnung des Bundestages wird mehrheitlich beschlossen und gilt als Maßnahme des Bundestages in seiner Gesamtheit57 • Sie ist also weder eine Maßnahme der im Plenum dafür gestimmt habende (n) Bundestagsfraktion (en) noch eine Maßnahme des Bundestagspräsidenten, der (bei stillschweigender Übernahme) den entsprechenden Vorschlag gemacht hat58 • Im Organstreit53Dazu s. BVerfGE 84, (304) 318. Kritisch hierzu Sachs, Rechtsstellung parlamentarischer Gruppierungen ohne Fraktionsstatus-PDSI Linke Liste, in: JuS 1992, S. 255. 54Dazu s. a. unten III. 5 e). 55Der Organstreit ist ein kontradiktorisches Verfahren. Ohne Antragsgegner gibt es keine verfassungsrechtliche Streitigkeit, die das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. mit §§ 64 und 67 BVerfGG zu beurteilen hat. Hierzu vgl. BVerfGE 2, (143) 159: "Das setzt zunächst eine Untersuchung der Parteifähigkeit und Sachlegitimation der als Antragsteller auftretenden und von ihnen als Antragsgegner in Anspruch genommenen Personen und Gebilde voraus". 56 Dazu s. BVerfGE 1, (144) 147. 57 Dazu s. BVerfGE 1, (144) 147: "Sie (d. h. die Annahme der Geschäftsordnung) ist vielmehr ein Akt des Bundestages als Gesamtheit, der sich eine Geschäftsordnung gegeben hat". 58Nur wenn die Geschäftsordnungsauslegung des Präsidenten eines Gremiums bzw. die Geschäftsordnungsauslegungen des Bundestagsgeschäftsordnungsausschusses durch

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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verfahren kann ein Staatsorgan oder ein Organteil nur wegen seines eigenen Verhaltens als Antragsgegner in Anspruch genommen werden59 • Zu Recht wies also das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 16. Juli 1991 den Antrag als unzulässig zurück, insofern er gegen den Bundestagspräsidenten gerichtet war60 . Im Organstreitverfahren gibt es keine passive Prozeßstandschaft. Im Gegensatz dazu begründet § 64 Abs. 1 BVerfGG eine (aktive) Prozeßstandschaft und sieht die Organteilklage vor. Danach sind auch Teile eines parteifähigen Organs berechtigt, die Verfassungsrechte des Gesamtorganes, dem es angehört, vor dem Bundesverfassungsgericht prozessual geltend zu machen, auch wenn sie selbst nur über Rechte geschäftsordnungsrechtlicher Natur verfügen - d. h. über solche, die im Organstreit weder den Prüfungsmaßstab noch das verletzte Recht darstellen können. Für eine Monopolisierung bzw. für eine Beschränkung der Prozeßstandschaft nur auf die Bundestagsfraktionen gibt es im Wortlaut des § 64 Abs. 1 BVerfGG keine Anhaltspunkte 61 • Stellt man hingegen auf den Ausdruck "Teilen" im Wortlaut des § 63BVerfGG ab, dann ist für jeden Teil des Bundestages bzw. des Bundesrates eine Prozeßstandschaftsberechtigung zu bejahen. Herrschende Lehre und Verfassungsrechtsprechung machen dies aber den einzelnen Abgeordneten streitig62 • Ein einzelner Bundestagsabgeordneter kann demnach eine ihn bedie Organklage beanstandet werden, ist der Bundestags-bzw. Bundesratspräsident oder der Bundestagsgeschäftsordnungsausschuß der richtige Antragsgegner. Ähnliches gilt für die Bundesratsgeschäftsordnung. 59 Dazu s. BVerfGE 2, (143) 166; BendalKlein, (Anm. 2), S. 400 Rn. 953; Bücker, Präsident und Präsidium, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 27, S. 797; LeibholzlRupprecht, (Anm. 16), Komm. § 64BVerfGG Rn. 3, S. 179; Pestalozza, (Anm. 2), S. 116 Rn. 36; Ulsamer, (Anm. 29), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 22. 60Dazu s. a. BVerfGE 84, (304) 32Of: "Antragsgegner aller Anträge kann allein der Deutsche Bundestag sein. Die von der Antragstellerin gerügten Maßnahmen und Unterlassungen sind nur von ihm ausgegangen". 61 Außerdem ist ihnen bereits ein verfassungsrechtlicher Status zuerkannt worden, so daß sie im Organstreitverfahren unter anderem das Recht auf Minderheitenschutz im eigenen Namen geltend machen könnten. Dazu s. BVerfGE 1, (351) 359; 70, (324) 351; Jekewitz, (Anm. 36), S. 391; E. Klein, (Anm. 5), S. 566f; Lorenz, (Anm. 28), S. 253; Pestalozza, (Anm. 2), S. 113 Rn. 28; Ulsamer, (Anm. 29), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 20. 62Dazu s. BVerfGE 2, (143) 160; Clemens, (Anm. 37), Komm. §§ 63-64 BVerfGG Rn. 8; E. Klein, (Anm. 5), S. 567; LeibholzlRupprecht, (Anm. 16), Komm. § 63 BVerfGG Rn. 2; Löwer, (Anm. 14), S. 752 Rn. 19; Lorenz, (Anm. 28), S. 253; Schlaich, (Anm. 5), S. 60 Rn. 83; Umbach, Der "eigentliche"Verfassungsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht: Abgeordnete und Fraktionen als Antragsteller im Organstreit, in: FS für W. Zeidler, Band 11,1987, S. 1253ff. Kritisch jedoch dazu Pestalozza, (Anm. 2), S. 115 (S. 105 Fn. 58) ; Magiera, Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 52, S. 1421ff, S. 1446 Rn. 84. 10 Theodossis

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O. Bundesrepublik Deutschland

treffende parlamentarische Geschäftsordnungsvorschrift nur im eigenen Namen (und kraft eigener Organstellung) beanstanden, wenn er eine Beeinträchtigung seines verfassungsrechtlichen Status dadurch geltend machen kann63 • Der repräsentative verfassungsrechtliche Status des Bundestagsabgeordneten entspringt aus Art. 38 Abs. I Satz 2 00: "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. ,,64

Diese Verfassungsbestimmung - sie erfüllt eine lückenschließende Auffangsfunktion - stellt die verfassungsrechtliche Grundlage der Stimm- und Mitwirkungsrechte der Bundestagsabgeordneten und somit auch der Gruppen im Bundestag bzw. der Bundestagsfraktionen dar, aber sie bedarf einer weiteren rechtlichen Gestaltung, die im Wege der Geschäftsordnungsautonomie gemäß 40 Abs. 1 S. 2 00 erfolgen soll. Falls ein Bundestagsabgeordneter auf der Grundlage des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 00 eine Geschäftsordnungsvorschrift anfechten will, liegt somit die geforderte verfassungsrechtliche Beziehung bzw. das verfassungsrechtliche Rechtsverhältnis zwischen den einzelnen Abgeordneten, Gruppen bzw. Fraktionen als Antragsteller und dem Bundestag als Antragsgegner und Inhaber der verfassungsrechtlichen Befugnis, seine Angelegenheiten autonom zu regeln, vor. In solchen Fällen ist Art. 38 Abs. 1 Satz 200 das verletzte Verfassungsrecht, und das Bundesverfassungsgericht hat im Ergebnis zwischen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 00 und Art. 40 Abs. 1 Satz2 00 (s. Anhang) zu entscheiden65 • Mit anderen Worten, das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung einer von diesen beiden (vagen) Verfassungsnormen - deren Regelungsgehalt zwar umrissen, aber nicht genau bestimmt ist - im konkreten Fall den Vorrang zu geben66 • Mitglieder des Bundesrates haben zwar im Gegensatz zu den Bundestagsabgeordneten keinen "verfassungsrechtlichen repräsentativen" Status, sie können aber, insofern ihnen verfassungsrechtliche Positionen zukommen, diese im Wege des Organ streits verteidigen67 • Ulsamer verneint allerdings die Parteifähigkeit 630azu s. BVerfGE 70, (324) 350; 80, (188) 208f. 640azu s. BVerfGE 10, (4) 12; 70, (324) 355; 80, (188) 217. Hierzu vgl. Abmeier, (Anm. 10), S. 34ff; Hölscheidt, Oie Ausschußmitgliedschaft Fraktionsloser Abgeordneter, in: OVBl. 1989, S. 29lf; F. Klein, (Anm. 10), Komm. Art. 38 GG Rn. 200; Pieroth, (Anm. 10), Komm. 38 GG Rn. 25ff; Ziekow, Der Status des fraktionslosen AbgeordnetenBVerfGE 80, 190, in: JuS 1991, S. 28f. 6S0azu s. BVerfGE 80, (188) 220: "Andere als die sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ergebenden Maßstäbe kommen zur Beurteilung der im vorliegenden Verfahren gestellten Anträge nicht in Betracht". 660azu s. a. unten IV.2 c). 670azu s. Art. 43 Ab. 2 GG und Art. 51 Abs. 1 und Abs. 3 GG (im Anhang). S. a. BendalKlein, (Anm. 2), S. 390 Rn. 389; Pieroth, (Anm. 10), Komm. Abs. 93 GG Rn. 6.

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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einzelner Bundesratsmitglieder mit der Begründung, daß sie keine eigenen Entscheidungsbefugnisse haben68 • Politischen Parteien würde (trotz Organstreitfähigkeit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 00) die Beanstandung von Geschäftsordnungsrecht im Organstreitverfahren nicht gelingen, da parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht nicht geeignet ist bzw. da es von vornherein als ausgeschlossen erscheint, sie (als NichtAdressaten) in ihrem verfassungsrechtlichen Status aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 00 (s. Anhang) zu beeinträchtigen69 • Damit wird zwar ein Stück der Begründetheit in die Zulässigkeitsprüfung miteinbezogen, diese Abweichung soll aber verhindern, daß Auseinandersetzungen zwischen obersten Bundesorganen ohne wirkliche Not vor dem Bundesverfassungsgericht durchgeführt werden; darüber hinaus wird diese Abweichung durch den Wortlaut des § 64 Abs. 1 BVerfOO (s. Anhang) gedeckt1° . Ebenfalls unzulässig wäre die Organklage, die ein Staatsbürger gegen eine Geschäftsordnungsvorschrifterheben würde. Mag auch der einzelne Staatsbürger Rechte und Pflichten haben, bleibt Privatpersonen bzw. stimmberechtigten Bürgern der Weg des (kompetenzwahrenden) Organstreits stets verschlossen. Auch die Gesamtheit der Aktivbürger bzw. das Staatsvolk ist nicht organstreitfähig. Das Volk übt aufgrund der Volkssouveranität die Staatsgewalt aus, indem es mit seiner Wahlentscheidung die Staatsgewalt legitimiert. Dabei wird aber die Gesamtheit der stimmberechtigten Bürger nicht als Staatsorgan, sondern als der Staat selbst tätig. Weder das Staatsvolk in seiner Gesamtheit noch der einzelne Aktivbürger kann demnach als oberstes Bundesorgane bzw. anderer Beteiligte qualifiziert werden. TImen kann also die Parteifähigkeit im Organstreit nicht zuerkannt werden71. Als (unwnstrittenes) parteifähiges Teil des Bundesrates kommt der Bundesratspräsident in Betracht, der auch Rechte des Bundesrates in Prozeßstandschaft (z. B. gegenüber dem Bundestag) geltend machen könnte, dazu s. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 398 Rn. 949. 68Dazu s. Ulsamer, (Anm. 10), Komm. § 63 BVerfGG Rn. 17. 69Über die Problematik der Organstreitfähigkeit der politischen Parteien s. u.a. BVerfGE 13, (54) 8lf; 60, (53) 6lf; 73, (40) 65f; Benda/Klein, (Anm. 2), S. 391 Rn. 937; E. Klein, (Anm. 5), S. 564; Kunig, Politische Parteien, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 33, 1987, S. 145 Rn. 84; Lorenz, (Anm. 28), S. 250; W. Meyer, (Anm. 12), Komm. Art. 93 GG Rn. 33; Stern, (Anm. 12), S. 981; Ulsamer, (Anm. 10), Komm. § 63 BVerfGG Rn. 21. 70Dazu s. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 401 Rn. 956; E. Klein, (Anm. 5), S. 566; Löwer, (Anm. 10), S. 754 Rn. 22; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GG Rn. 13. 71 Dem Staatsbürger steht also nur die Verfassungs beschwerde zur Verfügung, wn gegen die organisierte Staatlichkeit zu prozessieren. Dazu s. BendaiKlein, (Anm. 2), S. 386 Rn. 923; Clemens, (Anm. 37), Komm. §§ 63-64 BVerfGG Rn. 128ff; E. Klein (Anm. 5), S. 564; LeibholzlRupprecht, (Anm. 16), Komm. § 63 Rn. SI, S. 174; Löwer, (Anm. 10), S. 751 Rn. 18; Lorenz, (Anm. 28), S. 247; Pestalozza, (Anm. 2), S. 106 Rn. 12; Rinken, (Anm. 13) Komm. Art. 93 GG Rn. 9; Stern, (Anm. 12), S. 98Of. 10*

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D. Bundesrepublik Deutschland

Privatpersonen also, die als Mitglieder von Enquetekommissionen oder als Teilnehmer an öffentlichen Anhörungssitzungen und Bundestags- bzw. Bundesratssitzungen Adressaten geschäftsordnungsrechtlicher Regelung sein könnten, besitzen keine Organstreitfähigkeit, so daß sie eine Verletzung bzw. eine unmittelbare Gefährdung ihrer grundrechtlichen Positionen im Organstreitverfahren nicht geltend machen könnten. Die Prozeßvoraussetzungen der Parteifähigkeit und der Antragsbefugnis (bzw. des Rechtsschutzinteresses) beschränken die Eingriffe des Bundesverfassungsgerichts in die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie von vornherein auf "mögliche"verfassungswidrige Kompetenzüberschreitungen72• Durch deren Einhaltung wird also die Gefahr eines unberechtigten Einflusses geschmälert.

d) Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Organstreitverfahrens mit dem parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht als Kontrollgegenstand Aus § 64 BVerfGG (s. Anhang) ergeben sich - wie bereits dargelegt - eine Reihe von Verfahrensvoraussetzungen, welche vom Zweck bzw. der Ratio des Organstreits herrühren, und dem Bundesverfassungsgericht zur optimalen Erfüllung der Funktion des Organstreitverfahrens verhelfen. § 23 Abs. 1 BVerfGG (s. Anhang) schreibt ferner eine bestimmte Form für den Antrag einer Organklage vor. Demnach hängt die Zulässigkeit einer Klage, womit der Erlaß verfassungswidriger Geschäftsordnungsvorschriften als Maßnahme im Wege des Organstreits angefochten wird, auch davon ab, ob die Form- bzw. Fristerfordernisse des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes erfüllt worden sind73 . Vor allem nach Ablauf der Sechsmonatsfrist gemäß § 64 Abs. 3 BVerfGG: "Der Antrag muß binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden." 72Die Bestimmung des § 63 BVerfGG (s. Anhang) engt durch ihre abschließende Aufzählung den Kreis der AntragssteIler und Antragsgegner im Organstreitverfahren ein, deshalb ist auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zurückzugreifen, um die Parteifähigkeit im Organstreit festzustellen. Dazu s. BendaiKlein, (Anm. 2), S. 382 Rn. 14; E. Klein, (Anm. 5), S. 564; Löwer, (Anm. 10), S. 750 Rn. 17; Pestalozza, (Anm. 2), S. 108 Rn. 15; Rinken, (Anm. 13), Komm. Art. 93 GG Rn. 8; Schlaich, (Anm. 5), S. 60 Rn. 82; Umbach, (Anm. 10), S. 523f (566). 73Dazu s. BVerfGE 24, (252) 257f; BendalKlein, (Anm. 2), S. 403f; Clemens, (Anm. 37), Komm. §§ 63-64 BVerfGG, Rn. 166ff; Löwer, (Anm. 10), S. 754fRn. 23; Puttler, Kommentierung des § 23 BVerfGG Rn. 1ff, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Schlaich. (Anm. 5), S. 65 Rn. 87; Ulsamer, (Anm. 29), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 3lf.

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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ist eine Organklage als unzulässig zurückzuweisen, auch wenn der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis vorweisen würde 74 • Für die Geschäftsordnungen von Bundestag bzw. Bundesrat gibt es allerdings keine gesetzliche Verkündungspflicht. Geschäftsordnungen sind aber mit ihrem Erlaß rechtsverbindlich, und die Parlamentarier haben sich danach nach ihren Vorschriften zu richten. Es ist deshalb davon auszugehen, daß sie den Parlamentariern mit ihrem Erlaß bekannt werden75 • Darüber hinaus ist die Prolongation eines Organstreitverfahrens mit "parlamentarischer Beteiligung" - was bei der Anfechtung von Bundestagsgeschäftsordnungsvorschriften der Fall ist - nicht möglich, solange keine positiv-rechtliche Grundlage dafür besteht16 . All die oben erwähnten Prozeßvoraussetzungen wurden auf der Grundlage des Art. 94 Abs. 2 GG (s. Anhang) eingeführt und sind mit dem Grundgesetz vereinbar77 • Solange die einschlägigen Gesetzesbestimmungen in Kraft sind, hat das Bundesverfassungsgericht sie strikt zu befolgen. Unterliefe ihm jedoch ein "Zulässigkeitsfehler", dann würde es unzulässigerweise in die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages eindringen, indem es ein verbindliches Urteil (darüber) fällen würde, obwohl es dazu nicht berechtigt wäre.

e) Die "aktuelle rechtliche Betroffenheit des Antragstellers" und die Zulässigkeitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts gemäß § 64 BVerfGG Als sich das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1952 mit der gerügten Bundestagsgeschäftsordnungsbestimmung befaßte, ging es auf die Frage der Sachlegitimation der Klage nicht ein. Dabei übersah das Gericht, daß die Vorprüfung dieser Frage die Weichen seiner Entscheidung stellt. Im Organstreit ist ein zulässiger Antrag nicht schon dann begründet, wenn die beanstandete Maßnahme verfassungswidrig ist, sondern nur dann, wenn durch diese Maßnahme auch Rechte des Antragstellers, die ihm von der Ver74Hierzu vgl. BVerfGE 80, 190ff (235) ; BVerfG, Beschluß v. 14. 10. 1992, in: NVwZ 1993, S. 357; Löwer, (Anm. 10), S. 747 Rn. 12; Ulsamer, (Anm. 29), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 17. 7sHierzu vgl. BVerfGE 13, (1) 10; 16, (6) 18; 24, (252) 258. Dazu s. a. unten III.5 e). 76Nach Ablauf der Legislaturperiode würde es unter anderem an Rechtsschutzbedürfnis mangeln, da der Antragsgegner nicht mehr derselbe ist. Aus diesem Grund könnte für den Antragsteller einer solchen Organklage eine einstweilige Anordnung gemäß § 32BVerfGG von Nutzen sein. 77Hierzu vgl. BVerfGE1, (351) 359: "Als Ausgestaltung des Verfahrens wäre § 64 insoweit durch Art. 94 Abs. 2 GG, als Erweiterung der Antragsbefugnis durch Art. 93 Abs. 2 GG gedeckt". S. a. BVerfGE 2, (143) 159; 2, (347) 366.

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fassung übertragen sind, verletzt oder unmittelbar gefährdet werden78 • Dennoch beschränkte das Bundesverfassungsgericht damals seine Zulässigkeitsprüfung nur auf die Frage der Passiv legitimation. Aus seinen Ausführungen geht nicht hervor, daß es sich zuvor mit dem Rechtsverhältnis der Antragstellerin zum Angriffsgegenstand und mit der Fristfrage befaßt hatte 79 • Ferner unterließ es das Bundesverfassungsgericht zu monieren, daß die gerügte Geschäftsordnungsvorschrift als solche und nicht als Maßnahme beanstandet worden war80 • Die Antragstellerin hatte eigentlich, wie bereits dargelegt, eine Verfassungsmäßigkeitskontrolle der beanstandeten Geschäftsordnungsvorschrift beantragt, ohne die Beeinträchtigung eigener Verfassungsrechte oder Rechte des Organs, dem sie angehörte, geltend zu machen. Erst das Urteil vom 14. Januar 1986 sollte herausstellen: "Im Urteil vom 6. März 1952 ist das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, daß Geschäftsordnungsbestimmungen des Bundestages das Recht der antragstellenden Fraktion zur Gesetzesinitiative nach Art. 76 Abs. 1 GO verletzen können", woraus man folgen kann, daß es sich damals um eigene Verfassungsrechte der Antragstellerin handelte8l . Im Jahre 1952 entschied das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Organstreits über die Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeit einer parlamentarischen Geschäftsordnungsregelung, ohne sich also penibel an die gesetzlichen Verfahrensregeln des § 64 BVerfGO zu halten82 • Anders ging das Gericht jedoch mit der am 19 Juli 1988 eingelegte Organklage eines Bundestagsabgeordneten vorS3 • Vor allem durch den Vergleich dieser beiden Entscheidungsvorgänge treten die Versäumnisse des Gerichts bei der Entscheidung im Jahre 1952 zutage. Mit seiner Entscheidung vom 13. Juni 1989 hob das Gericht hervor, daß im Organstreitverfahren eine allgemeine verfassungsrechtliche Überprüfung der beanstandeten Maßnahme nicht statthaft sei84 • Ferner befaßte es sich, wie bereits

78Dazu s. a. Murswiek, (Anm. 33), S. 538. 79Dazu s. BVerfGE 1, (144) 147. Hierzu vgl. BVerfGE 1, (351) 359; 1, (372) 378; 2, (347) 367. 80Hierzu vgl. BVerfGE 1, (144) 146f. 81Dazu s. BVerfGE 70, (324) 351. Mit seiner Entscheidung vom 6. März 1952 hatte das Bundesverfassungsgericht zwar festgestellt, daß das Initiativrecht nicht dem Bundestag, sondern den Abgeordneten in einer zahlenmäßig bestimmten Gruppierung zustehe und daß der Bundestag das Initiativrecht seiner eigenen Mitglieder geschäftsordnungrechtlich nicht beschränken dürfe (BVerfGE 1, 153ff). Diese Ausführungen wurden aber nicht im Zusammenhang mit der Sachlegitimation der Antragstellerin gemacht. 82Dazu s. BVerfGE 1, (144) 145ff. 83Dazu s. BVerfGE 80, (188) 190ft'. 84Dazu s. BVerfGE 80, (188) 212.

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erwähnt, mit dem Rechtsverhältnis des Antragstellers zum Angriffsgegenstand, und die Fristfrage wurde ebenfalls eingehend überprüft85 • In diesem Zusammenhang betonte das Gericht, daß im Interesse der Rechtssicherheit angreifbare Maßnahmen nach einer bestimmten Zeit kraft § 64 Abs. 3 BVerfGG außer Streit gestellt werden müßten86 • Es bezog aber die Fristfrage auf die "aktuelle rechtliche Betroffenheit" des Antragstellers und knüpfte den Tatbestand des § 64 Abs. 3 BVerfGG "an das Wirksamwerden" der beanstandeten Geschäftsordnungsvorschriften an87 • Obwohl das Bundesverfassungsgericht davon ausging, daß der Antragsteller als Bundestagsabgeordneter von dem Erlaß der Geschäftsordnung am 18. Februar 1987 Kenntnis erlangte, entschied es, daß bezüglich der gerügten Geschäftsordnungsvorschriften - welche fraktionslose Abgeordneten von wichtigen Bereichen der parlamentarischen Arbeit ausschließen und damit ihre Mitwirkungsrechte verfassungswidrig beschränken - die Anfechtungsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG von dem Fraktionsausschluß des Antragstellers am 27. Januar 1988 an liefe. Erst zu diesem Zeitpunkt trete die Beeinträchtigung der Rechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein, hieß es in der Entscheidungsbegründung, und somit erklärte das Bundesverfassungsgericht die am 19. Juli 1989 eingegangene Organklage für teilweise fristgerecht88 • Gemäß den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ist mithin nicht der Zeitpunkt relevant, zu dem die angegriffenen Geschäftsordnungsvorschriften dem Antragsteller bekannt wurden, sondern der Zeitpunkt, zu dem sie ihm gegenüber wirkten. Im Gegensatz dazu wurde die Organklage insofern als unzulässig zurückgewiesen, als sie gegen das erforderliche Quorum der Bundestagsmitglieder für Vorlagen bzw. für Änderungsanträge zu Gesetzesentwürfen in dritter Beratung gerichtet war. Diesbezüglich beträfe die Beschwerde, so das Bundesverfassungsgericht, den Antragsteller schon mit dem Erlaß der Geschäftsordnungsvorschriften, und nur insoweit versäumte der Antragsteller die Anfechtungsfrist89 • Mit diesen Ausführungen ersetzte jedoch das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis das Tatbestandmerkmal "Bekanntwerden" im § 64 Abs. 3 BVerfGG durch das des "Wirksamwerdens" , beschränkte den Angriffsgegenstand nur auf die abstrakte Regelung, zugleich hob es aber (teilweise) für den Fristbeginn des Antrags

8'Dazu s. BVerfGE 80, (188) 209ff. 86Dazu s. BVerfGE 80, (188) 210. 87Dazu s. BVerfGE 80, (188) 209ft'. 88Dazu s. BVerfGE 80, (188) 21Of. 89Dazu s. BVerfGE 80, (188) 210.

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auf die konkrete Situation ab 90 • Zurecht also stieß dieser Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit § 64 Abs. 3 BVerfGG auf heftige Kritik im Schrifttum91 • Die Rechtserheblichkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen beginnt - wie bereits oben erwähnt - für die Bundestagsabgeordneten mit ihrem Erlaß92 • Unter diesem Gesichtspunkt war also der Antrag (des erst am 27. Januar 1988 fraktionslos gewordenen Bundestagsabgeordneten) auch gegen die übrigen Geschäftsordnungsregelungen verfristet, und infolgedessen befaßte sich das Bundesverfassungsgericht unzulässig damit93 • Natürlich wäre eine Organklage des konkreten Antragstellers zur Zeit seiner Fraktionszugehörigkeit bzw. vor seinem Fraktionsausschluß ebenfalls unzulässig gewesen, denn ihm hätte es dann an einer "Verletzung" bzw. an einer "unmittelbaren Gefährdung" gefehlt. Aber auch nach dem Fraktionsausschluß hätte man die Anwendung der Geschäftsordnung auf den Einzelfall als "Vollziehungs- bzw. Anwendungsakt" verselbständigen und auf ihn abstellen können, um dem fraktionslosen Bundestagsabgeordneten den Rechtsschutz zu ermöglichen94 • Dann hätte er fristgemäß klagen können. Diese Konstellation präkludierte aber das Bundesverfassungsgericht bereits zu 90Dazu s. BVerfGE 80, (188), 210: "Demgemäß wirkten die genannten Vorschriften bereits von diesem Zeitpunkt an gegenüber dem Antragsteller als Maßnahme (... ). Die weiteren vom Antragsteller angegriffenen Vorschriften betreffen ihn als fraktionslosen Abgeordneten und wirken daher ihm gegenüber erst seit seinem Fraktionsausschuß am 27. Januar 1988 als Maßnahme; insoweit ist der Antrag fristgerecht gestellt", BVerfGE 80, (188) 209: "Sie (d. h. die Vorschrift der Geschäftsordnung) ist auch dann alleiniger Angriffsgegenstand im Organstreitverfahren, wenn auf ihrer Grundlage weitere Entscheidungen getroffen werden, diese aber die Geschäftsordnung lediglich anwenden und daher ihrerseits keine weitere Beschwer enthalten" und BVerfGE 80, (188) 211: "Hierin kann eine Verletzung der Rechts des Antragstellers nach Art. 38 Abs. I Satz 2 GG liegen, die erst mit dem Ausscheiden aus der Fraktion eingetreten ist". 91Dazu s. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 404 Fn. 148: "Sehr problematisch BVerfGE 80, 188/209, wonach bei Geschäftsordnungsbestimmungen der Fristbeginn mit dem Zeitpunkt gleichgesetzt wird, in dem sich ihr Inhalt dem Antragsteller gegenüber realisiert wird", Morlok, (Anm. 2), S. 1040: "Es erscheint nicht ganz widerspruchs frei, einerseits bereits die abstrakte Regelung als Angriffsgegenstand anzusehen, andererseits aber auf die konkrete Situation bei einem Antragsteller für den Fristlauf abzuheben", Pestalozza, (Anm. 2), S. 110 Fn. 90: "Ich verstehe nicht, wie man das Tatbestandsmerkmal ,Bekanntwerden'durch ,Wirksamwerden'ersetzen kann". Hierzu vgl. Clemens, (Anm. 37), Komm. §§ 63-64 BVerfGG Rn. 151. 92 Ähnlich Pestalozza, (Anm. 2), S. 110 Fn. 90 und S. 119 Rn. 41. 93Nur im Falle einer späteren Mitgliedschaft eines Bundestagsabgeordneten, wenn er z. B. über die Reserveliste sein Mandat erlangt, kommt ein späterer Zeitpunkt als der Erlaß für die Anfechtungsfrist in Betracht. Nur dann fallen der Zeitpunkt des Erlasses und der Zeitpunkt der Kenntnisnahme nicht mehr zusammen. 94 Ähnlich Morlok, (Anm. 2), S. 1040 und Pestalozza, (Anm. 2), S. 110 Fn. 90. Diese Konstellation könnte ebenfalls von Nutzen sein, wenn beim Verzicht auf die sog. Diskontinuitätsthese (dazu S. oben II3a) eine Organklage gegen Geschäftsordnungsregelungen (fristgemäß) erhoben werden würde.

III. Geschäftsordnungsrecht und Gerichtsbarkeit

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Beginn seiner Zulässigkeitsprüfung: "Sie (d. h. die Vorschrift der Geschäftsordnung) ist auch dann alleiniger Angriffsgegenstand im Organstreitverfahren, wenn auf ihrer Grundlage weitere Entscheidungen getroffen werden, diese aber die Geschäftsordnung lediglich anwenden und daher ihrerseits keine weitere Beschwer enthalten"95.

Am 3. Januar 1991 erhob eine im Bundestag anerkannte Gruppe eine Organklage unter anderem gegen den Erlaß des § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT (am 20. Dezember 1990) durch den Bundestag, wonach die Fraktionsmindeststärke geregelt wurde, mit der Begründung, diese Geschäftsordnungsregelung verstoße gegen ihre Rechte aus Art. 38 Abs. 1 00 und Art. 21 Abs. 1 0096 • Mit einem am 21. Juni 1991 eingereichten Schriftsatz ergänzte allerdings die Antragstellerin ihren Hauptantrag und machte zusätzlich geltend, daß ihr ein Grundmandat in sämtlichen Ausschüssen, Unterausschüssen und Untersuchungsausschüssen, dem Vermittlungsausschuß und in den Enquetekommissionen als Fraktion zustehe97 . Dadurch wurde im Ergebnis mittelbar die (stillschweigende) Entscheidung des Bundestages vom 21. Februar 1991 beanstandet, die Antragstellerin auf der Grundlage des § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT als Fraktion nicht anzuerkennen. Hätte das Bundesverfassungsgericht (im Anschluß an seine vorherige Rechtsprechung) diesen Anwendungsakt hervorheben bzw. darauf abstellen wollen, dann wäre auch der ergänzende Schriftsatz fristgerecht gestellt worden. Diesmal aber beharrte das Gericht auf dem Erlaß der Bundestagsgeschäftsordnung als für den Fristbeginn des Schriftsatzes relevanten Zeitpunkt, obgleich dadurch keine (allgemeine) Geschäftsordnungsregelung beanstandet worden war98 • Das Bundesverfassungsgericht wies den ergänzenden Schriftsatz als verfristet zurück99 • In Bezug auf den Hauptantrag war hingegen die Organklage fristgerecht erhoben worden. Das Gericht hatte insofern die Zulässigkeit der Klage überprüft und bejaht 1OO • Demzufolge war die im Bundestag als Gruppe anerkannte Antragstel95 BVerfGE 88, 209. Paradoxerweise bemängelte jedoch das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 13. Juni 1989 nicht etwa die (allgemeine) Geschäftsordnungsvorschrift, sondern letztendlich den Anwendungsakt des Bundestages. Dazu s. BVerfGE 80, S. 190, S. 217 und S. 222 und unten IV2c. 96Dazu s. BVerfGE 84, (304) 309ff. 97Dazu s. BVerfGE 84, (304) 320. 98Dazu s. BVerfGE 84, (304) 320: "Die Frage, ob die Fraktionen ein Anspruch auf ein Grundmandat in diesen Gremien zusteht, regeln die §§ 12, 57 Abs. 1 GOBT abschließend". 99Vergleicht man die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts in den Jahren 1989 und 1991 bezüglich der Fristenfrage, ist der Vorwurf der Beliebigkeit im Umgang mit § 64 BVerfGG nicht von der Hand zu weisen. 100 Auch in diesem Zusammenhang hatte das Bundesverfassungsgericht angemerkt: "Streitgegenstand sind ( ... ) die verfassungsrechtlichen Organbeziehungen zwischen der

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lerin antragsbefugt, die am 20. Dezember 1990 vom Bundestag beschlossene Geschäftsordnung zu beanstanden, soweit sie die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 21 Abs. 1 GG dadurch geltend machte. Das Bundesverfassungsgericht hätte allerdings den Teil des Antrags, wonach die gerügte Geschäftsordnungsvorschrift die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 GG (s. Anhang) verletzt hätte, schon im Rahmen seiner Zulässigkeitsprüfung verwerfen können. Wie bereits erwähnt, muß das Verhalten des Antragsgegners - hier der Erlaß der die Fraktionsmindeststärke betreffenden Geschäftsordnungsregelung - die geltend gemachten Verfassungsrechte des Antragstellers - hier seine Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG - zu gefährden oder zu verletzen geeignet sein 101 • Ebenfalls nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich der Regelungsgehalt dieser Verfassungsbestimmung auf die Chancengleicheit der Parteien bei den Wahlen, so daß er nicht den Status der Abgeordneten im Parlament beeinflußt und somit eine Rechtsverletzung durch den Antragsgegner von vornherein ausscheidet 102 • Dennoch bejahte das Gericht auch insofern die Zulässigkeit der Klage und wies sie später als unbegründet zurück 103 • Bei der Zulässigkeitsprüfung des Urteils vom 16. Juli 1991 fällt ferner die verklausulierte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts auf: "Die Antragstellerin ist eine vom Bundestag nach § 10 Abs. 4 GOBT anerkannte Gruppe. Als solche ist sie im Streit um ihre geschäftsordnungsmäßigen Rechte parteifähig (§ 63 BVerfGG)", die auch in den Leitsätzen der Entscheidung zu finden ist und insofern Verwirrung stiftet104 • Dabei kann es sich entweder um eine unglückliche Formulierung oder um den Versuch des Bundesverfassungsgerichts handeln, unter Zuhilfenahme einer von ihm entwickelten Klausel seine Kontrolle auch auf geschäftsordnungsrechtliche Positionen auszudehnen. Laut Grundgesetz sind allerdings die Verfassungsrichter nicht dafür zuständig, die Rolle des Schlichters zwischen Parteien, die um ihre geschäftsordnungsmäßigen Rechte streiten, einzunehmen. "Es reicht nicht aus, wenn sie (d. h. die Rechte und Pflichten) im einfachen Gesetz oder in anderen Rechtsvorschriften, wie z. B. einer Geschäftsordnung, wurzeln"IOS. "Einfaches Recht scheidet als verletztes Recht und als Antragstellerin und dem Bundestag als Inhaber der Befugnis, seine Angelegenheiten zu regeln (vgl. BVerfGE 80, 218f) (. .. ) wie der Senat bereits ausgesprochen hat, kann auch eine Vorschrift der Geschäftsordnung - hier § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT - eine Maßnahme im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG sein (vgl. BVerfGE 80,209)", dazu s. BVerfGE 84, (304) 318. 101 Hierzu vgl. oben Anm. 50 und Anm. 70. I02Dazu s. BVerfGE 84, (304) 324. 103Dazu s. BVerfGE 84, (304) 321. Hierzu vgl. oben III5 c. I04Dazu s. BVerfGE 84, (304) 318. Dazu s. a. Sachs, (Anm. 54), S. 255. lO5pestalozza, (Anm. 2), S. 113 Rn. 28. Dazu s. a. Ulsamer. (Anm. 29), Komm. § 64 BVerfGG Rn. 2.

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Prüfungsmaßstab aus"!06. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Vorwurf des laxen Umgangs mit den Organisations- bzw. Verfahrensformen nicht von der Hand zu weisen, und die obige Kritik darf nicht als Beckmesserei abgestempelt werden, sondern bedarf gediegener Beachtung.

IV. Verfassungsgerichtliche Entscheidungen über das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht 1. Entscheidungsformen, Entscheidungsvarianten und Entscheidungsfolgen

Wird parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht im Rahmen des Organstreitverfahrens als Maßnahme zulässig beanstandet und ist keine Verfassungsverletzung festzustellen, dann wird der Tenor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nur auf die Antragsabweisung beschränkt. Der Urteilstenor wird dann lauten: Der Antrag wird zurückgewiesen, und eventuell wird er um einen erläuternden Satz ergänzt: "Der Bundestag bzw. der Bundesrat hat dadurch, daß er die (beanstandete) Geschäftsordnungsvorschrifterlassen hat, nicht gegen die (im Antrag bezeichnete) Verfassungsbestimmung verstoßen"!. Obwohl die Formulierung des § 67 Satz 1 BVerfGG (s. Anhang) eine positive Tenorierung rechtfertigen bzw. erlauben würde - letztere wird durch § 67 BVerfGG weder vorgesehen noch verboten - , wird heutzutage in Abkehr von der früheren Praxis des Bundesverfassungsgerichts die Entscheidungsformel nicht um den erläuternden Satz ergänzt. Sowohl unzulässige als auch unbegründete Organklagen werden demnach lediglich zurückgewiesen bzw. verworfen2 • Folgender Urteilstenor: "Die (beanstandete) Geschäftsordnungsvorschrift ist vereinbar mit dem Grundgesetz" ist hingegen unzulässig. Denn die beanstandeI06Löwer, (Anm. 10), S. 754 Rn. 22. Dazu s. a. Pieroth, (Anm. 10), Komm. Art. 93 GG Rn. 9. 1Hierzu vgl. BVerfGE I, 145: "Im übrigen wird der Antrag zurückgewiesen. Absatz 3 und Absatz 4 des § 96 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 6. Dezember 1951 verstoßen nicht gegen das Grundgesetz". 2Hierzu vgl. BendaiKlein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, S. 407 Rn. 973; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder mit einem Anhang zum Internationalen Rechtsschutz, 3. Auflage, 1991, S. 285 Rn. 26; Umbach, Komm. § 67 BVerfGG Rn. 14, in: Umbach/C1emens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; illsamer, Kommentierung des § 67BVerfGG Rn. 2, in: MaunzlSchmidt-BleibtreuJ Kleinlillsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1987.

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te Maßnahme bzw. Geschäftsordnungsvorschrift wird im Rahmen eines Organstreitverfahrens verfassungsrechtlich nicht in vollem Umfang geprüft. Im Gegensatz dazu ist das Bundesverfassungsgericht bei einer antragsabweisenden (abstrakten) Normenkontrollentscheidung wie bei einer unbegründeten Richtervorlage dazu berechtigt, im Tenor seiner Entscheidung (im Falle der Verfassungsmäßigkeit) die Vereinbarkeit der angegriffenen Rechtsnorm mit dem Grundgesetz festzustellen, auch wenn § 78 BVerfGG nichts darüber sagt3 • Die Vereinbarerklärung ist in § 31 Abs. 2 BVerfGG als Entscheidungsform für beide Fällen vorausgesetzt4 • Außerdem stellt die Vereinbarerklärung bei Normenkontrollentscheidungen deshalb eine zulässige Entscheidungsform dar, weil das Bundesverfassungsgericht alle in Betracht kommenden (höhemangigen) Verfassungsvorschriften in seine Kontrolle einbezieht. Bei Verfassungsbeschwerdeentscheidungen hingegen macht das Bundesverfassungsgericht keinen Gebrauch davon, obgleich sich § 31 Abs. 2 BVerfGG auch auf diese bezieht. Unbegründete Verfassungsbeschwerden werden in der Regel zurückgewiesen, ohne daß die Verfassungsmäßigkeit der mittelbar oder unmittelbar angegriffenen Rechtsnorm im Tenor der Entscheidung festgestellt wird5 . Je nach eingeleitetem Verfahren hat mithin das Bundesverfassungsgericht im Falle der Verfassungsmäßigkeit entweder festzustellen, daß der Bundestag bzw. der Bundesrat beim Erlaß ihrer Geschäftsordnung nicht gegen die (im Antrag bezeichnete) Grundgesetzbestimmung verstoßen haben, oder es hat die geprüfte Geschäftsordnungsregelung für vereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären, nachdem es sich damit im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens umfassend befaßt hat. 3Diese Gesetzesbestimmung gilt für beide Verfahren als die Tenorierungsvorschrift. Dazu s. § 78 BVerfGG und § 82 Abs. 1 BVerfGG (im Anhang). Hierzu vgl. BendaiKlein, (Anm. 2) S. 293f (348) ; Pestalozza, (Anm. 2) S. 129 (285) ; Söhn, Die abstrakte Nonnenkontrolle, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 318f; Ulsamer, Kommentierung des § 78 BVerfGG Rn. 11, in: MaunzlSchmidt-BleibtreulKleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1978. 4Dazu s. § 31 Abs. 2 BVerfGG (im Anhang). Hierzu ist ferner anzumerken, daß die im Herrenchiemsee-Entwurf vorgesehene Beschränkung der Gesetzeskraft nur auf die Nichtigerklärungen in das Grundgesetz nicht aufgenommen wurde. sNach einer Verfassungsbeschwerde ist jedoch eine Vereinbarerklärung in der Entscheidungsfonnel vor allem dann angebracht, wenn die Entscheidung auf der Grundlage des Art. 2 Abs. 1 GG ergangen ist. Hierzu vgl. BendaiKlein, (Anm. 2), S. 248; Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 409f; E. Klein, Verfassungsprozeßrecht - Versuch einer Systematik an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 108, 1983, S. 596; Pestalozza, (Anm. 2), S. 191 (285f); Schlaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 3: Auflage, 1994, Rn. 21Off.

IV. Verfassungs gerichtliche Entscheidungen

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Demnach kommt es also auf die Klage an, die bei dem Bundesverfassungsgericht anhängig gemacht wird; die Art des eingeleiteten Verfahrens soll die Tragweite des verfassungsgerichtlichen Spruchs über das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht bestimmen. Nach einem Normenkontrollverfahren bzw. nach einer Verfassungsbeschwerde kann allerdings eine Vereinbarerklärung dadurch relativiert bzw. eingeschränkt werden, daß das Bundesverfassungsgericht in die Entscheidungsformel Prämissen setzt, die die Verfassungsmäßigkeit der geprüften Geschäftsordnungsregelung bedingen. Die Verfassungsmäßigkeit wird in diesem Fall "nach Maßgabe der Gründe" oder "in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung" bejaht. Das Bundesverfassungsgericht hat die Entscheidungsvariante der "eingeschränkten Verfassungsmäßigkeitserklärung" selbst kreiert und durchgesetzt6 • Und danach erwächst ohne eine explizite, gesetzliche Grundlage der kohärente Gehalt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung (aufgrund des § 31 Abs. 2 BVerfGG) in Gesetzeskraft. Im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens könnte also das Bundesverfassungsgericht auch parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht "verfassungskonform" auslegen. Unter dem Hinweis auf die Entscheidungsgründe bzw. durch 6Eingehend zu Entscheidungsvarianten der "verfassungskonfonnen Auslegung"bzw. der "qualitativen Teilnichtigerklärung"s. u. a. Achterberg, Bundesverfassungsgericht und Zurückhaltungsgebote. Judicial, political, processual, theoretical self-restraints, in: DÖV 1977, S. 658; Bettennann, Die verfassungskonfonne Auslegung. Grenzen und Gefahren, 1986; Benda/Klein, (Anm. 2), S. 490f (498ft); Bryde, (Anm. 5), S. 41Of; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zur Methode der Verfassungsinterpretation bei der Nonnenkontrolle, 1987, S. 162ff; Häfelin, Die verfassungskonforme Auslegung und ihre Grenzen, in: FS für H. Huber, 1981, S. 241ff; Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS für H. Huber, 1981, S. 268f; Lange, Rechtskraft, Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: JuS 1978, S. 7; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band H, § 56, 1987, S. 802ff; Pestalozza, (Anm. 2), S. 275f (339) Rn. 111; Rinken, Kommentierung des Art. 94 GO Rn. 54f, in: DenningerlRidder/SimonlStein (Hrsg.) Alternativkommentar zum Grundgesetz, Band H, 2. Auflage, 1989; Rennert, Kommentierung der § 31 BVerfGO Rn. 103, in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 405ff; Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1973, S. 9Off; Starck, Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, 1992, S. 209ff; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane. Bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsfiguren zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1988, S. 243ff; Zippelius, Verfassungskonfonne Auslegung von Gesetzen, in: Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band H, 1976, S. 108ff. /I Beguin, Le contröle de la constitutionnalite des lois en R6publique F~6rale d' Allemange, 1982, S. 184ff. /I Theodossis, (griech.) Das deutsche Bundesverfassungsgericht, 1991, S. 62ff.

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einen "Soweit-Satz" im Entscheidungstenor könnten danach verfassungswidrige Auslegungs- bzw. Anwendungsaltemativen ausgeschlossen werden, ohne daß damit der Inhalt der geprüften Regelung reduziert wird. Eine weitere Entscheidungsvariante bei Normenkontrollentscheidungen ist die (schlichte) "Unvereinbarerklärung"; damit erklärt das Bundesverfassungsgericht eine für verfassungswidrig befundene Geschäftsordnungsregelung (lediglich) als mit dem Grundgesetz unvereinbar. Im Gegensatz zu einem Nichtigkeitsausspruch, der die Regelung aus der Rechtsordnung eliminieren würde, läßt der Unvereinbarkeitsausspruch "den Bestand der Norm unangetastet"7. Das Bundesverfassungsgericht hebt also die unvereinbare Regelung nicht auf; sie bleibt bestehen, bis der Normgeber darauf reagiert und seine Restitutionspflicht (d. h. seine Pflicht zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Rechtslage) erfüllt8 • Eine Fristangabe dafür braucht das Bundesverfassungsgericht nicht zu machen. Dies ist hingegen erforderlich, wenn das Gericht (ausnahmsweise) anordnet, daß die für unvereinbar erklärte Regelung (für eine bestimmte Zeit) weiterangewandt werden darf> . Auch nach einer stattgebenden Organklage mit einer Geschäftsordnungsvorschrift als Gegenstand bleibt der Bestand der angegriffenen Regelung grundsätz7Löwer, (Anm. 6), s. 806 Rn. 107. Dazu s. a. Heußner, Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne Nichtigerklärung, in: NJW 1982, S. 257f; Ulsamer, (Anm. 3), Komm. § 78 BVerfGG Rn. 32f. 8Dazu s. BendaiKlein, (Anm. 2), S. 494 Rn. 1190; Heußner, (Anm. 7), S. 258; E. Klein, (Anm. 5), S. 433; Pestalozza, (Anm. 2), S. 351 Rn. 126; Ulsamer, (Anm. 3), Komm. § 78BVerfGG Rn. 32; K. Vogel, (Anm. 6), 239ft'. 9Dazu s. BVerfGE 35, (79) 148; 55, (100) 110; Benda/Klein, (Anm. 2), S. 494f Rn. ll9Of; E. Klein, (Anm. 5), S. 433; Rinken, (Anm. 6), Komm. Art. 94 Rn. 50. Hierzu ist anzumerken, daß die Entscheidungsvariante der (schlichten) "Unvereinbarerklärung" in §§ 31 Abs. 2 und 79 Abs. 1 BVerfGG (s. Anhang) vorgesehen ist. Eingehend zu dieser Entscheidungsvariante s. u. a. BendaiKlein, (Anm. 2), S. 492ft'; ehr. Böckenförde, Die sogennante Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze. Eine Untersuchung über Inhalt und Folgen der Rec~tssatzkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 1966. S. 127ft'; Frowein, Anderung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Rechtsproblem, in: DÖV 1971, S. 796; Gerontas, Die Appellentscheidungen, Sondervotumsappelle und die bloße Unvereinbarkeitsfeststellung als Ausdruck der funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 1982, S. 488; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 21Of; Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 122ft' (212ft'); E. Klein, (Anm. 5), S. 432f; Löwer, (Anm. 6), S. 804ft'; Pestalozza, (Anm. 2), S. 35lf; Rinken, (Anm. 6), Komm. Art. 94 Rn. 46f; Rupp-von BrUnneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren, in: FS. für G. Müller, 1970, S. 366ff; Schlaich, (Anm. 5), S. 208ft'; Skouris, (Anm. 6), S. 47ft'; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1980, S. 984 (l04Of); Ul~amer, (Anm. 3), Komm. § 78 BVerfGG Rn. 12. // Theodossis, (Anm. 6), S. 56ft'.

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lich unberührt10 • Eine Entscheidung gemäß § 67 Abs. 1 BVerfGG hat bloß feststellenden Charakter, und das Bundesverfassungsgericht kann in diesem Rahmen weder die Rechtsunwirksamkeit noch die Nichtigkeit der verfassungswidrigen Maßnahme bzw. der verfassungswidrigen Regelung aussprechen. "Die Entscheidung des BVerfG läßt zwar den Bestand der Maßnahme unberührt, aber die stattgebende Feststellungsentscheidung im Organstreitverfahren verpflichtet den Antragsgegner durchaus"ll. Wie nach einer (schlichten) Unvereinbarerklärung hat der Antragsgegner (und Normgeber) auch nach einer stattgebenden Organklage aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG (s. Anhang) die (gestörte) Verfassungsordnung zu restitutieren, indem er die für unvereinbar erklärte Geschäftsordnungsvorschrift durch eine neue (beanstandungsfreie ) ersetzt. Aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG ist also der Normgeber in beiden Fällen verpflichtet, (unverzüglich) eine der Verfassung entsprechende Rechtslage herzustellen; in den Unvereinbarerklärungen kann jedoch, wie bereits erwähnt, der Entscheidungstenor in der Regel eine ausdrückliche Anordnung über den Zeitraum beinhalten, innerhalb dessen der Normgeber seine Restitutionspflicht zu erfüllen hat. Allerdings kann das Bundesverfassungsgericht auch nach einer Entscheidung gemäß § 67 BVerfGG seinen Richterspruch bzw. seine zeitlichen Vorstellungen zur N ormkorrektur mittels einer Vollstreckungsanordnung gemäß § 35 BVerfGG (s. Anhang) durchsetzen 12 . Unverbindlich hingegen scheinen die Appelle des Bundesverfassungsgerichts an den Normgeber, den Eintritt der Verfassungswidrigkeit zu verhindern, falls das Gericht dies im Zusammenhang mit einer "noch verfassungsmäßigen" Rechtsnorm prognostiziert haben sollte 13 • IODazu s. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 408 Rn. 974 (494f); Lücke, Die stattgebende Entscheidung im verfassungsrechtlichen Organstreitverfahren und ihre Konsequenzen, in: JZ 1983, S. 38Off; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 78f (389) ; Ulsamer, (Anm. 2), Komm. § 67 BVerfGG Rn. 4. 11 Schlaich, (Anm. 5), Rn. 78. 12Dazu s. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 408 Rn. 974 (522ft); Geiger, Einige Besonderheiten im verfassungsgerichtlichen Prozeß, 1981, S. 37; LeibholzlRupprecht, Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Rechtsprechungskommentar, 1968, Komm. § 35 BVerfGG Rn. 3, S. 133f; F. Klein, Kommentierung des § 35BVerfGG Rn. 10, in: MaunzlSchmidt-Bleibtreu/KleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1987; Pestalozza, (Anm. 2), S. 263f Rn. 6; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 52; Stern, (Anm. 9), S. 1044; Umbach, (Anm. 2), Komm. § 67 BVerfGG Rn. 17. // Theodossis, (Anm. 6), S. 71ff. 13Dazu s. Achterberg, (Anm. 6), S. 655; Benda/Klein, (Anm. 2), S. 496f; ehr. Böckenförde, (Anm. 9), S. 127f; Bryde, (Anm. 5), S. 397ff; Gerontas, (Anm. 9), S. 486f; Gusy, (Anm. 9), S. 208ff; Ipsen, (Anm. 9), S. 96 (268); E. Klein, (Anm. 5), S. 434; Löwer, (Anm. 6), S. 807f Rn. 109; Pestalozza, (Anm. 2), S. 338f Rn. 110; Rinken, (Anm. 6), Komm. Art. 94 GG Rn. 5lf; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 396ff; Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: DVBl. 1988, S. 1204; Stuth, Kommentierung des § 78 BVerfGG Rn. 22f, in: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992.

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Im Gegensatz zu den bisher eröterten Entscheidungsvarianten wird bei einer Nichtigerklärung bzw. bei einer (quantitativen) Teilnichtigerklärung, die wohlgemerkt das Bundesverfassungsgericht nur im Rahmen eines Normenkontrollverfahren aussprechen kann, eine für verfassungswidrig befundene Geschäftsordnungsvorschrift mit der Verkündung des Urteils aus der Rechtsordnung entfernt. Eine verfassungs gerichtliche Nichtigerklärung ändert das materielle Recht und gestaltet die Rechtsordnung neu!4. Im Wortlaut des § 78 BVerfGG (s. Anhang) ist zwar nur von "Gesetz" die Rede, aber im § 79 Abs. 1 BVerfGG (s. Anhang) ist der Terminus "Normen" zu finden, so daß nicht die Ansicht vertreten werden kann, daß das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens eine Geschäftsordnungsvorschrift nicht für nichtig erklären dürfte!5. Die Frage, die sich hier hingegen stellt, ist, ob sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Nichtigerklärung oder mit einer eingeschränkten Vereinbarerklärung mehr in die Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments einmischt, wenn in der Regel letztere eine Reihe von verbindlichen Hinweisen auf Neuregelungen bzw. auf Handlungsalternativen enthält, die den autonomen Geschäftsordnungsgeber binden!6. In der Bundesrepublik Deutschland sind die parlamentarischen Gremien als Träger öffentlicher Gewalt gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG (s. Anhang) an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden und haben ihnen Folge zu leisten, auch wenn sie nicht Parteien des Prozesses gewesen sind. Darüber hinaus kommt allen (zulässigen) Entscheidungsvarianten der Normprüfungsentscheidungen gemäß Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG i. V. mit § 31 Abs. 2 BVerfGG (s. Anhang) Gesetzeskraft zu, und die ist als "Allgemeinverbindlichkeit" bzw. ,,Jedermannsverbindlichkeit" zu verstehen!7. 14Dazu s. u. a. Achterberg, (Anm. 6), S. 653f; BendalKlein, (Anm. 2), S. 485ft'; Chr. Böckenförde, (Anm. 9), S. 62 (123ft) ; Ipsen, (Anm. 9), S. S. 152ft' (313); Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, 1960, S. 278; E. Klein, (Anm. 5), S. 432f; Löwer, (Anm. 6), S. 801; Pestalozza, (Anm. 2), S. 277f Rn. 14ft'; Schlaich, (Anm. 5), Rn. 344ft'; Stern, (Anm. 9), S. 1039f; Ulsamer, (Anm. 3), Komm. § 78 BVerfGG Rn. 13. // Theodossis, (Anm. 6), S. 56f. lsHierzu vgl. BendaiKlein, (Anm. 2) S. 485ft'; Schlaich, (Anm. S. 5), Rn. 343ft'; Ulsamer, (Anm. 3), Komm. § 78 BVerfGG Rn. 17f. 16Hierzu vgl. oben C IV.3. 17Eingehend zur "Gesetzeskraft"und deren Wirkungen s. u. a. Benda/Klein, (Anm. 2), S. 507ft'; Bryde, (Anm. 5), S. 406; Chryssogonos, (Anm. 6), S. 49; Geiger, (Anm. 12), S. 24; Gusy, (Anm. 9), S. 247; E. Klein, (Anm. 5), S. 439; Lange, (Anm. 6), S. 6f; Löwer, (Anm. 6), S. 799f Rn. 98f; Maassen, Probleme der Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1976, S. 1345; Ma1lIl7iBethge, Kommentierung des § 31 BVerfGG, Rn. 28ft' in: Ma1lIl7iSchmidt-BleibtreuiKleinlUlsamer (Hrsg.) Kommentar zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1993; von Mutius, Allgemeine Bindungswirkung verfassungskonformer Gesetzesinterpretation durch das Bundesverfassungsgericht? in: Ver-

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Nach einer eingeschränkten Vereinbarerklärung bzw. durch einen "SoweitSatz" werden die damit zusammenhängenden Entscheidungsgründe in die Gesetzeskraft miteinbezogen, und somit werden sie für den Nonngeber bzw. Geschäftsordnungsgeber bindend. In diesem Sinne liegt es auf der Hand, daß der Verfassungsrichter durch ein verbindliches "nicht so, sondern so" den autonomen Geschäftsordnungsgeber mehr desavouiert, als wenn er sich mit einem schlichten "so nicht" begnügen würde; mit jeder "eingeschränkten Vereinbarerklärung" bzw. mit jeder "verfassungskonfonnen Auslegung" des Verfassungsrichters erwachsen dem autonomen Geschäftsordnungsgeber aus den Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen neue Nonnen, die er zu befolgen hat. Insofern schränkt das Bundesverfassungsgericht mit jeder eingeschränkten Vereinbarerkärung - wenn das Gericht damit eine Refonnation bzw. Konversion des autonomen Geschäftsordnungsrechts intendiert - die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments mehr ein, als mit einer Nichtigerklärung bzw. mit einer schlichten Normkassation wegen Verfassungswidrigkeit, die keiner weiteren (verbindlichen) Erläuterungen im Entscheidungstenor bedarf18 . Wenn der Tenor der Entscheidung keinen "Soweit-Satz" enthält - was bei Organklagen die Regel ist - , ist hingegen umstritten, ob sich die sog. Bindungswirkung aufgrund des § 31 Abs. 1 BVerfGG auch auf die "tragenden Entscheidungsgründe" ausdehnt. Ist dies der Fall, geht man von einer extensiven Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG aus. Befolgt man hingegen eine restriktive Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG, dann beschränkt sich die sog. Bindungswirkung nur auf den Urteilstenor. Aufgrund des § 64 Abs. 1 BVerfGG i. V. mit § 67 BVerfGG scheint die restriktive Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG "gesetzes- bzw. systemkonfonn". Demnach wird dem Bundesverfassungsgericht die schlichte Kompetenz zugewiesen, als Schiedsrichter die ihm vorgelegten Streitigkeiten im Lichte des Grundgesetzes zu schlichten. Aber auf der Grundlage des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG bleibt die extensive Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG weiterhin "verfassungskonfonn" . Hervorzuheben ist hier ferner, daß bei extensiver Auslegung des § 31 Abs. 2 BVerfGG jedes Urteil des Bundesverfassungsgerichts ein Korrektur- bzw. ein waltungsarchiv 1976, S. 407; Pestalozza, S. 334fRn. 105; Rennert, (Anrn. 6), Komm. § 31 BVerfGG Rn. l00f; Rinken, (Anrn. 6), Komm. Art. 94 GG Rn. 62; Schlaich, (Anrn. 5), Rn. 459ff.// Theodossis, (Anrn. 6), S. 42ft'. ISS. a. Bettennann, (Anrn. 6), S. 22ft' (47ft); Chryssogonos, (Anrn. 6), S. 163ft'; Holzer, Präventive Nonnenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, 1978, S. 209, Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 56, 1987, S. 811 Rn. 112; Strehle, Rechtswirkungen verfassungsgerichtlicher Nonnenkontrollentscheidungen, 1980, S. 47ft'. 11 Theodossis

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Wiederholungsverbot für den zuständigen Normgeber bedeuten würde 19 • Das Bundesverfassungsgericht lehnt jedoch die Selbstbindung an sein Präjudiz ab; die Träger der öffentlichen Gewalt können zwar nicht eigenmächtig von seinem Urteil abweichen, können aber - auch bei extensiver Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG - das Gericht unter Heranziehung der subjektiven Begrenzung der Rechtskraft bzw. der zeitlichen Grenzen der sog. Bindungswirkung erneut anrufen. Bei extensiver Auslegung des § 31 BVerfGG und ohne eindeutige Änderung der Verfassungsrechtsprechung würde sich allerdings der autonome Geschäftsordnungsgeber trotz seiner verfassungsunmittelbaren Sachkompetenz außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung begeben, wenn er seine Geschäftsordnung in Abweichung von der "Entscheidung"des Bundesverfassungsgerichts abändern wollte. Es ist ferner ein gewichtiger Unterschied, ob sich der autonome Geschäftsordnungsgeber den Auffassungen des Bundesverfassungsgerichts anschließt, weil er davon überzeugt ist oder weil er dazu verpflichtet ist. Und es läßt sich nicht von der Hand weisen, daß verfassungsgerichtliche Entscheidungen

19 Allgemein zu sog. ,,Bindungswirkung" und deren Wirkungen vgl. Achterberg, (Anm. 6), S. 657f; BendaiKlein, (Anm. 2), S. 511ff; Bryde, (Anm. 5), S. 421ff;Busse, Kontinuität und Wandelbarkeit in der verfassungsgerichtlichen Judikatur, in:ZfGb 1988, S. 356f; Geiger, Die Grenzen der Bindung verfassungs gerichtlicher Entscheidungen (§ 31 Abs. 1BVerfGG),in: NJW 1954, S. 1057ff; Geiger, (Anm. 12), S. 29ff; Gusy, (Anm. 9), S. 235ff; Gusy, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Faktor, in: EuGRZ 1982, S. 101; Gusy, Richterrecht und Grundgesetz, in: DÖV 1992, S. 467; Hesse, (Anm. 6), S. 271; Hofmann-Riem, Beharrung oder Innovation - zur Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: Der Staat 13, 1974, S. 34Off; Eckertz, Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts und die Eigenheit des Politischen, in: Der Staat 17, 1978, S. 186ff; E. Klein, (Anm. 5), S. 442; Korioth, Die Bindungswirkung normverwerfender Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für den Gesetzgeber, in: Der Staat 30, 1991, S. 551ff; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Auflage, 1976, S. 29Off; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 433; Löwer, (Anm. 6), S. 795ff Rn. 9lff; Maassen, (Anm. 17), S. 1345; Maunz, (Anm. 17), Komm. § 31 BVerfGG Rn. 15ff; von Mutius, (Anm. 17), S. 407; Pestalozza, (Anm. 2), S. 319ff Rn. 82ff; Rennert, (Anm. 6), Komm. § 31 BVerfGG Rn. 5Off; Rinken, (Anm. 6), Komm. Art. 94 GG Rn. 64ff; Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 66f; Schlaich, (Anm. 2), Rn. 253ff; Schnapp/Henkenötter, Zur Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG, in: JuS 1994, S. 123ff; H.-P. Schneider, Richter oder Schlichter? Das Bundesverfassungsgericht ~s Integrationsfaktor, in: Festschrift für W. Zeidler, Band I, 1987, S. 293ff; Seuffert, Uber Gesetzgebung, Rechtsprechung und Bindungswirkung, in: AöR 104, 1979, S. 199ff; Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Benda/Meihofer/Vogel (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 1271ff; Stern, (Anm. 9), S. 1037ff; f!;.-J. Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: OOV 1978, S. 668; Wischermann, Rechtskraft und Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, 1979, S. 12Off.// Theodossis, (Anm. 6), S. 45ff.

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auch ohne eine ausdrückliche Rechtsgrundlage eine faktische Bindungswirkung entfalten.

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht

a) Das Urteil des Zweiten Senats vom 6. März 1952 Wie bereits erwähnt, hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Entscheidung vom 6. März 1952 den Prüfungsmaßstab seiner Kontrolle selbst festgelegt2o • Das Gericht hatte zunächst die Grundgesetzbestimmungen aufgezählt, wogegen die beanstandete Geschäftsordnungsregelung verstoßen könnte, dehnte im nachhinein seine Kontrolle auf die Grundsätze der demokratischen Ordnung aus und ist abschließend zu dem Urteil gekommen, daß die ersten zwei Absätze der beanstandeten Geschäftsordnungsregelung nicht gegen das Grundgesetz verstoßen21 • Laut Bundesverfassungsgericht verstieß der (durch die beanstandete Geschäftsordnungsregelung bedingte) Wegfall der ersten Lesung bei Finanzvorlagen nicht gegen das Grundgesetz22 • Art. 42 Abs. 1 S. 100 besage lediglich, daß das Bundestagsplenum öffentlich verhandelt; diese Verfassungsbestimmung sage hingegen nicht, wann im Plenum verhandelt werden müsse, und schließe es nicht aus, daß die Verhandlungen in den Ausschüssen nicht öffentlich sein können und daß die erste von den drei öffentlichen Beratungen im Plenum wegfallen könne23 • Im Gegensatz dazu sei aber der Bundestag, so das Bundesverfassungsgericht, nur der Adressat der Gesetzesinitiative gemäß Art. 76 Abs. 1 00, er könne über sie nicht verfügen: "Die Worte "aus der Mitte des Bundestages"bedeuten nicht, daß der Bundestag als solcher ein Initiativrecht hat (... ). Das Initiativrecht steht nicht 20Dazu s. BVerfGE 1, (144) 146: "Sie (d. h. die Antragstellerin) meint, daß § 96 gegen die Art. 76 Abs. 1,40 Abs. 1 S. 2 und 113 GG verstoße". 21 Dazu s. BVerfGE 1, (144) 145ff. Hierzu vgl. Mengel, Die verfassungsmäßigen Pflichten des Gesetzgebers und ihre verfassungsgerichtliche Kontrolle, in: ZfGb 1990, S. 198f. 22Dazu s. BVerfGE 1, (144) 155. Hierzu vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 361; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 132f; Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses. Ein Beitrag zur Frage der Substitution des förmlichen Gesetzes durch schlichten Parlamentsbeschluß, in: AöR 119, 1994, S. 85; W. Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1987, § 43, S. 446 Rn. 43. 23Dazu s. BVerfGE 1, (144) 152. 11'

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dem Bundestag, sondern den Abgeordneten in einer zahlenmäßig bestimmten Gruppierung zu"24. Jede sachliche bzw. inhaltliche Beschränkung des Initiativrechts durch die Bundestagsgeschäftsordnung ist danach keine "Selbstbeschränkung" des Bundestages, sondern eine (unzulässige) Einschränkung der Rechte der Abgeordneten bzw. der mit eigenen Rechten ausgestatteten Gruppen im Bundestag. Und in diesem Sinne war nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der Ausgleichsantrag bzw. der Deckungsvorschlag, der nach der geprüften Geschäftsordnungsregelung nur für Gesetzesvorlagen von Bundestagsmitgliedern gefordert wurde, unzulässig2S • Das Initiativrecht gemäß Art. 76 Abs. 1 GG könne nur Grundgesetzvorschriften inhaltlich umgrenzen bzw. einschränken, der Bundestag bzw. seine Geschäftsordnung können das nicht, konstatierte das Bundesverfassungsgericht, hob zugleich die Gleichwertigkeit des Initiativrechts aller Berechtigten hervor und untermauerte mit seinen Ausführungen den Anspruch jedes Initianten, daß sich der Bundestag mit seiner Vorlage beschäftigt; das Initiativrecht des Grundgesetzes erschöpfe sich mit der Beratung bzw. mit einem Beschluß im Bundestagsplenum26 . Dem Obigen ist mithin zu entnehmen, daß dem Initiativrecht des Grundgesetzes keine geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen im Wege stehen dürfen, allerdings gestaltete das Bundesverfassungsgericht selbst es inhaltlich aus. Auch wenn sich das Gericht, wie bereits erwähnt, geweigert hatte, die "für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage" in die Entscheidungsformel aufzunehmen (§ 67 Satz 3 BVerfGG), können seine einschlägigen Darlegungen als "entscheidungstragende Gründe" an der sog. Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG (bei extensiver Auslegung) teilnehmen und somit Rechtverbindlichkeit entfalten27 . Auf jeden Fall haben sie faktische Bindung entfaltet, denn Praxis und Wissenschaft berufen sich stets darauf. Durch diese Ausführungen wurde jedoch nicht nur das grundgesetzliche Initiativrecht ausgefüllt, sondern auch das kohärente parlamentarische Geschäftsordnungsrecht verbindlich ausgelegt bzw. festgelegt. Aus den Entscheidungsgründen ergeben sich eine Reihe von Rechten und Pflichten, die die nähere Gestaltung des Initiativrechts betreffen, und denen der autonome Geschäftsordnungsgeber stets bei seiner Rechtsetzung Folge zu leisten hat. 24BVerfGE 1, (144) 153. 2sDazu BVerfGE 1, (144) 158f. 26Dazu s. BVerfGE 1, (144) 153, 161. 27Dazu S. a. Bollmann, (Anm. 22), S. l30ff.

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Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1952 war es z. B. gleichgültig, von wem die Gesetzesvorlage eingebracht wurde, weshalb sich der parlamentarische Geschäftsordnungsgeber veranIaßt sah, auf seine ursprüngliche Aufzählung der Initiativen zu verzichten28 • Eine (der geltenden Geschäftsordnungsregelung entnommene) Begründungspflicht des Antragstellers ist unter diesem Gesichtspunkt ebenfalls "als nicht zwingend" zu betrachten29 • Darüber hinaus wurde die Pflicht der Ausschüsse, die ihnen überwiesenen Aufgaben schleunigst zu erledigen, insofern durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erweitert, als sie demgemäß ihren Bericht an das Plenum binnen angemessener Frist zu erstatten hätten3o • Eine geschäftsordnungsrechtliche Delegation von Befugnissen des Bundestages an seinen Präsidenten, d. h. über die Zuständigkeit der Fachausschüsse zu entscheiden, wurde gleichfalls durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 1952 gerechtfertigt, wonach der Bundestag kraft seiner autonomen Satzungsgewalt berechtigt wäre, seinem Präsidenten Entscheidungsbefugnisse zu übertragen31 • Schon mit dem Urteil vom 6. März 1952 zeichnet sich also die Tendenz ab, daß Geschäftsordnungsrecht auch außerhalb der Parlamentsautonomie ausgestaltet wird, wenn sich das Bundesverfassungsgericht damit befaßt. Neben dem Grundgesetz ist demnach an die Gestaltungsfreiheit des Geschäftsordnungsgebers ein weiterer Maßstab anzulegen, nämlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und zwar nicht nur in Form der die Verfassungsmäßigkeit verneinenden, sondern auch in Form der die Verfassungsmäßigkeit bejahenden Entscheidungen des Gerichts 32 • 28Hierzu vgl. § 96 GOBT in der Bekanntmachung vom 6. Dezember 1955 (BGBL 11 S. 1048). Dazu s. a. Lechner/Hülshoff, Parlament und Regierung, 3. Auflage, 1971, S. 231. 29S. § 76 Abs. 2 GOBT"Gesetzentwürfe müssen, Anträge können mit einer kurzen Begründung versehen werden" und § 96 Abs. 3 Satz 1 GOBT ,,Finanzvorlagen von Mitgliedern des Bundestages müssen in der Begründung die finanziellen Auswirkungen darlegen". Dazu s. a. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984, S. 134f. Pieroth, Kommentierung des Art. 76 GG Rn. 3, in: JarasslPieroth (Hrsg.) Grundgesetz für die Bundesrublik Deutschland, 3. Auflage, 1995; Troßmann, Kommentierung § 96 Rn. 6.1 und § 97 Rn. 4, in: Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts, 1977. 30Dazu s. BVerfGE 1, (144) 154. Hierzu vgl. § 60 Abs. 2 Satz. 1 GOBT in der Bekanntmachung vom 28. Januar 1952 (BGBL 11 S. 395); Lechner/Hülshoff, Parlament und Regierung, 1. Auflage, 1953, S. 119; Pieroth, (Anm. 29), Komm. Art. 76 Rn. 4. 31Hierzu vgl. BVerfGE 1, (144) 156; Lechner/Hülshoff, (Anm. 30), S. 132; Lechner/Hülshoff, Parlament und Regierung, 2. Auflage, 1958, S. 207. 32Mit dem Urteil vom 6. März 1952 wurde jedoch die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie auch in formell-rechtlicher Hinsicht beeinträchtigt. Nicht der Bundestag, wie es zu erwarten gewesen wäre, ersetzte die für verfassungswidrig befundene Geschäftsordnungsregelung durch eine verfassungsmäßige, sondern der Bundesminister des Inneren merzte sie durch Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt aus der Geschäftsordnung aus.

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Das Bundesverfassungsgericht entschied z. B. damals, daß der Fortfall der ersten Lesung im Gesetzgebungsverfahren - der die (in der Geschäftsordnung vorgesehene, unmittelbare) Überweisung der Finanzvorlagen an einen Ausschuß zur Folge hatte - nicht gegen Art. 76 Abs. 1 GG verstieß, und stellte damit fest, daß die parlamentarische Geschäftsordnung zwar nicht den Inhalt des Initiativrechts, aber die Art und Weise der Handhabung der Gesetzesvorlagen näher regeln dürfe 33 • Der Bundestag bzw. seine Geschäftsordnung durfte danach bei Finanzvorlagen, anders als bei den üblichen Gesetzesvorlagen die Zahl der Lesungen bzw. die Ausschußüberweisung bestimmen34 • Diesbezüglich hatte sich das Bundesverfassungsgericht darauf berufen, daß das Grundgesetz die Ordnung des Verfahrens innerhalb des Bundestages dessen autonomer Satzungsgewalt überlasse und daß die einschlägige Geschäftsordnungsvorschrift als reine Verfahrensvorschrift unter die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages falle 35 • Dennoch unterließ es in diesem Zusammenhang nicht anzumerken, daß die illoyale bzw. unsachgemäße Behandlung einer Vorlage im Ausschuß ihre Beratung bzw. Beschlußfassung im Plenum verhindern könne, denn danach könnte es zu einer faktischen Einschränkung des Initiativrechts der Abgeordneten kommen. Nur die Möglichkeit eines solchen verfassungswidrigen Gebarens, hob das Bundesverfassungsgericht anschließend hervor, rechtfertige allerdings nicht die Feststellung, daß die beanstandete Geschäftsordnungsregelung das Initiativrecht aus der Mitte des Bundestags sachlich beschränke36 • Auch wenn diese Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine (direkte) rechtsverbindliche Folgen haben konnte, da im Tenor der Entscheidung nicht darauf verwiesen wurde, legDarin war von der Rechtsungültigkeit der verfassungswidrigen Geschäftsordnungsvorschrift die Rede, und von der Bindungswirkung, die die Entscheidung kraft § 31 Abs. 1 BVerfGG entfaltet. Das Feststellungsurteil des Bundesverfassungsgerichts wurde also so gehandhabt, daß es im Ergebnis die gleichen Folgen wie die bei einer Nichtigerklärung entfaltet hat. Der Bundestag füllte erst am 27. Oktober 1955 die dadurch entstandene Lücke mit einer neuen Fassung der Geschäftsordnungsvorschrift aus. Dazu s. BGBl. 11, 1952 S. 604; BGBl. 11,1955 S. 1048; Lechner/Hülshoft' (Anm. 30), S. 131. 33Dazu s. BVerfGE 1, (144) 152ft'. Hierzu vgl. Bollmann, (Anm. 22), S. 130ft'. 34Dazu s. BVerfGE 1, (144) 148f. 3~Dazu s. BVerfGE 1, (144) 151ft'. Hierzu vgl. Mengel, (Anm. 21), S. 198. In den obiter dicta der Entscheidung hat sich ferner das Gericht über die Rechtsnatur der Geschäftsordnung als autonome Satzung, über ihre Nachrangigkeit gegenüber der Verfassung bzw. den Gesetzen und über ihre beschränkte Verbindlichkeit bzw. Geltungsdauer geäußert. Auch wenn solche Ausführungen als nicht "entscheidungstragende Gründe" an der sog. Bindungswirkung nicht teilnehmen können, haben sie faktische Bindung entfaltet; sie sind fast in jedem Hand- bzw. Lehrbuch und Kommentar des Staats- und Parlamentsrechts zu finden. 36Dazu s. BVerfGE 1, (144) 155. Hierzu vgl. oben C III. 3 Rechtsprechung des französischen Verfassungsrates.

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te das Gericht damit die betreffende Geschäftsordnungsvorschrift "verfassungskonform" aus, indem es mißbräuchliche bzw. verfassungswidrige Anwendungsalternativen ausschloß. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sei mithin die Möglichkeit einer mißbräuchlichen Handhabung der Geschäftsordnung nicht Grund genug dafür, die Vorschriften selbst anzufechten; in solchen Fällen sei der Anwendungsakt und nicht die Geschäftsordnungsregelung zu bemängeln. In der Entscheidung vom 6 März 1952 sind folgende Darlegungen zu finden: "Soll eine Bestimmung der Geschäftsordnung an der Verfassung gemessen werden, so muß mithin ihre faire und loyale Anwendung durch die dazu berufenen Organe vorausgesetzt werden. Die bloße Möglichkeit einer mißbräuchlichen Handhabung, die der Verfassung widersprechen würde, ist noch kein hinreichender Grund, die Bestimmung als solche für verfassungswidrig zu erklären. Wer in einem bestimmten Einzelfall durch mißbräuchliche Anwendung in seinen Rechten verletzt wird, kann sie in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren durchsetzen"37. Wenn diese Darlegungen an die obige Feststellung angeknüpft werden, dann scheint das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidungstechnik für die parlamentarischen Geschäftsordnungen entwickelt zu haben, womit es seinen Willen zum "self-restraint" gegenüber dem autonome Geschäftsordnungsgeber kundtut38 . Den Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1952 (: "Bei der Auslegung der Geschäftsordnung ist die parlamentarische Tradition und Praxis mitheranzuziehen, wie sie durch die historische und politische Entwicklung geformt worden ist") ist ferner eine Auslegungsmethode für die parlamentarischen Geschäftsordnungen abzuleiten, wonach Tradition und Parlamentspraxis bei der Ausgestaltung des Regelungsbereichs der Geschäftsordnungsautonomie einbezogen werden müssen. Dabei ist jedoch hervorzuheben, daß Tradition und Praxis auch nach der obigen Äußerung des Bundesverfassungsgerichts weder als Umschreibung der historischen Interpretationsmetheode noch als herausgehobene Auslegungsmaxime bei der Geschäftsordnungsauslegung zu verstehen sind39 . Auch die Interpretation der parlamentarischen Geschäftsordnungen sollte unter 37Dazu s. BVerfGE I, (144) 149; Mengel, (Anm. 21), S. 198. Hierzu vgl. BVerfGE 80, (188) 229; Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994,S.55. 38Die Entscheidungsmethodik weist jedoch frappante Ähnlichkeiten mit der Entscheidungsalternative der "qualitativen Teilnichtigerklärung" auf. Dazu s. a. Maunz, Kommentierung des Art. 40 GO Rn. 20, in: MaunzlDürig (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 1960. 39Meistens wird obige Äußerung des Bundesverfassungsgerichts in bezug auf die Auslegungsmethoden des Geschäftsordnungsrechts als Interpretationshilfe kommentarlos vom Schrifttum übernommen. Dazu s. u. a. Fr. Klein, Komm. des Art. 40 GO Rn. 7, in: Schmidt-BleibtreulKlein (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995; Maunz,

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sukzessiver bzw. kursorischer Anwendung der einzelnen Auslegungsmethoden erfolgen; systematische, teleologische, sogar "topische"Auslegungskriteriem können angesichts einer geltenden Verfassungs garantie der Geschäftsordnungsautonomie, die die Regelungsmacht des Parlaments auf das (explizit oder implizit) nicht Vorgesehene ausdehnt, von ausschlaggebender Bedeutung für die Interpretation bzw. Fortbildung seines Geschäftsordnungsrecht sein40 •

b) Die inzidente Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts Eine Geschäftsordnungsbestimmung kann einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterzogen werden, ohne daß sie den Kontroll- bzw. den Streitgegenstand eines Verfahrens darstellt. Gesetzt den Fall, daß das "Recht", dessen Verfassungsmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht zu beurteilen hat, auf parlamentarischem Geschäftsordnungsrecht beruht, dann hat sich das Gericht inzident auch damit zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht kann also die Vereinbarkeit des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts mit dem Grundgesetz überprüfen, auch wenn dies nicht beantragt worden ist, und ohne daß es dabei seine Kontrollbefugnis überschreitet. Ausführungen wie folgende: "Der Bundestag gibt sich seine Geschäftsordnung im Rahmen seiner durch Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GO gewährleisteten Geschäftsordnungsautonomie (... ). Das bedeutet, daß diejenigen Regelungsgegenstände, die herkömmlich - insbesondere mit Rücksicht auf die Rechtslage z. Z. der Weimarer Reichsverfassung - als autonome Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments gelten, prinzipiell auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen werden ( ... ). Das Recht des Parlaments, seine Geschäftsordnungsangelegenheiten autonom zu regeln, erstreckt sich traditionell auf die Bereiche ,Geschäftsgang'und ,Disziplin'" stammen vom Bundesverfassungsgericht aus dem Jahre 1977, als es sich aufgrund einer Urteilsbeschwerde mit einer Geschäftsordnungsregelung inzident befaßte 41 • Jene im August 1975 eingegangene Verfassungsbeschwerde richtete sich unmittelbar gegen ein Gerichtsurteil, die ihm zugrunde liegende Einziehungsanord(Anm. 38), Komm. § 40 GG Rn. 20; MaunziZippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Auflage, 1994, § 30 III 2 b. 40Hierzu vgl. Achterberg, (Anm. 22), S. 333ff; Bollmann, (Anm. 22), S. 134; Reuter, Praxishandbuch-Bundesrat, 1991, Komm. § 47 GOBR Rn. 9; Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung, in: H.-A. Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 105ff; Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 215ff. 41 Dazu s. BVerfGE 44, (308) 314f. Vgl. auch BVerfGE 70, (324) 360.

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nung und mittelbar gegen eine Bestimmung des (am 22. Juni 1972 vom Bundestag verabschiedeten) Waffengesetzes. Der Beschwerdeführer trug in seinem Schriftsatz vor, daß die auf der Gesetzesbestimmung beruhende, gerichtliche Einziehungsanordnung seiner Waffe verfassungswidrig wäre, denn das Waffengesetz von 1972 wäre wegen mangelnder Präsenz von Bundestagsabgeordneten bei der Schlußabstimmung im Plenum nicht wirksam zustandegekommen. Der Beschwerdeführer rügte mithin die Verletzung seines Grundrechts auf Eigentum nach Art. 14 GG und begründete seine Verfassungsbeschwerde damit, daß an der Schlußabstimmung über das Waffengesetz 36 oder 37 Abgeordnete teilgenommen hätten, wobei das Prinzip der repräsentativen Demokratie eine größere Mindestzahl von Abgeordneten an solchen Schlußabstimmungen erfordere 42 • Dem Wortlaut der Geschäftsordnungsvorschrift, die die Beschlußfähigkeit des Bundestages regelte, war jedoch zu entnehmen, daß der Bundestag als beschlußfähig gelte, wenn vor Beginn einer Abstimmung seine Beschlußfähigkeit nicht angezweifelt werde und es zu keiner Beschlußfähigkeitsfeststellung im Plenum gekommen sei, ungeachtet dessen, ob die Zahl der anwesenden Abgeordneten bei der Abstimmung geringer als das in der Geschäftsordnungsregelung vorgeschriebene Quorum (mehr als die Hälfte der Mitglieder) sei 43 . Das Bundesverfassungsgericht sah sich danach gezwungen, der Frage nach dem zulässsigen Regelungsgehalt der Geschäftsordnungsautonomie auf den Grund zu gehen, um die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Geschäftsordnungsregelung zu beurteilen. In diesem Zusammenhang hob das Gericht heraus, daß die Beschlußfähigkeit des Bundestages eine Geschäftsordnungsangeigenheit darstelle bzw. daß die Vorschriften darüber zum Geschäftsgang des Parlaments gehören. "Die Weimarer Reichsverfassung erkannte dies ausdrücklich an, indem sie die Regelung der Beschlußfähigkeit des Reichstages der Geschäftsordnung überließ (Art. 32 Abs. 2 WRV). Dies ist eine Regelung, an die Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG inhaltlich anknüpft"44 . Das Bundesverfassungsgericht sprach also anband der historischen Auslegung dem Bundestag das Recht zu, die Voraussetzungen seiner Beschlußfähigkeit selbständig und unabhängig zu bestimmen, und es gestaltete damit den Regelungsgehalt des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG näher. Die Verbindlichkeit dieser Determination hängt nur davon ab, ob sie in Form der tragenden Entscheidungsgründen in Bindungswirkung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG erwachsen kann. 42Dazu s. BVerfGE 44, (308) 311. 43Dazu s. BVerfGE 44, (308) 309. 44BVerfGE 44, (308) 315.

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Gleiches gilt für die Auffassung des Gerichts, daß die (inzident) geprüfte Geschäftsordnungsregelung betreffend die Beschlußfähigkeit des Bundestages weder dem Prinzip der repräsentativen Demokratie noch dem Gebot des Minderheitenschutzes zuwiderliefe 45 • Diese Geschäftsordnungsregelung werde, so das Bundesverfassungsgericht, sowohl dem faktischen Zwang der Arbeitsteilung im parlamentarischen Bereich als auch dem Prinzip der repräsentativen Demokratie am ehesten gerecht. "Sie bietet die Gewähr dafür, daß das Volk als Träger der Staatsgewalt beim Zustandekommen parlamentarischer Entscheidungen in der Regel auch dann angemessen repräsentiert ist, wenn bei der Schlußabstimmung im Plenum nur wenige Abgeordnete zugegen sind"46. Der Anspruch der oppositionellen Minderheit, ihre eigene politischen Ansichten im Plenum vorzutragen und die Mehrheit zu kritisieren, werde dadurch, fuhr das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung fort, nicht beeinträchtigt; im parlamentarischen Bereich vollziehe sich die Repräsentation vornehmlich dort, wo die Entscheidung fällt, d.h. in den Fraktionen und in den Ausschüssen47 • Nur wenn die Mehrheit der Abgeordneten aus tatsächlichen Gründen gehindert werde, bei der Schlußabstimmung zu erscheinen, und vorausgesetzt, daß in den Ausschüssen zuvor kein Konsens darüber erzielt worden wäre, könne laut Bundesverfassungsgericht die Vermutung für eine ausreichende Repräsentation im Plenum widerlegt werden, wofür bei der Beratung und Verabschiedung des Waffengesetzes von 1972 keinerlei Anhaltspunkte bestünden48 • Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts begegnete die (inzident) geprüfte Geschäftsordnungsregelung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, und das Waffengesetz von 1972 war mithin rechtswirksam (zustande gekommen). Demzufolge verletzte die damit beanstandete Einziehungsanordnug der Waffe des Beschwerdeführers ihn nicht in seinem Grundrecht aus Art. 14 GO. Wäre jedoch, hob das Bundesverfassungsgericht hervor, die geprüfte Geschäftsordnungsregelung verfassungswidrig gewesen, dann hätte das Waffengesetz der Gültigkeit entbehrt. Die Einziehungsanordnung hätte demnach das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 GO verletzt, und als strafrechtliche Verurteilung hätte sie gegen Art. 103 Abs. 2 GO verstoßen, wonach für die Strafbarkeit einer Tat

4SBVerfGE 44, (308) 317ff. Dazu s. Fr. Klein, (Anm. 39), Komm. Art. 40 GO Rn. 8 und Komm. Art. 42 GO Rn. 1; Menge1, (Anm. 21), S. 202f; Vonderbeck, Die parlamentarische Beschlußfähigkeit, in: Roll (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 202. 46BVerfGE 44, (308) 320. Dazu s. Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 114f; Mengel, (Anm. 21), S. 202f. 47Dazu s. BVerfGE 44, (308) 318ff. Dazu s. u. a. Abmeier, (Anm. 29), S. 8Off; Vonderbeck, (Anm. 45), S. 202f; Zeh, (Anm. 22), S. 447 Rn. 46. 48Dazu s. BVerfGE 44, (308) 321.

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eine geltende Gesetzesbestimmung erforderlich ist49 . Vor allem durch letztere Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts wird die Forderung nach verfassungsgemäßen Geschäftsordnungsrecht evident, ferner die Notwendigkeit einer abschließenden Kontrolle erkennbar. Sieben Jahre vorher (1970) hatte sich das Bundesverfassungsgericht ebenfalls über eine Verfassungsbeschwerde mit der Rüge auseinandersetzen müssen, das damit beanstandete Gesetz sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen und gehöre demnach nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung50• Der Beschwerdeführer hatte damals zur Begründung seiner Verfassungsbeschwerde vorgetragen, daß im Gesetzgebungsverfahren die zweite Lesung unter Umgehung der Geschäftsordnung praktisch "übersprungen" wurde. Das Bundesverfassungsgericht wies jedoch die Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurück und ließ die Frage des Geschäftsordnungsbruchs offen. Verfassungsrecht wäre hier nicht verletzt worden, hieß es in der Entscheidung vom 14. Oktober 1970. Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor das entscheidungserhebliche Verfassungsrecht bzw. Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG ausgelegt und hatte festgestellt: "Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG besagt lediglich, daß der Bundestag die Gesetze beschließt; eine Beratung der Gesetzesentwürfe in drei Lesungen ist weder ausdrücklich vorgesehen noch ist sie Verfassungs gewohnheitsrecht noch gehört sie zu den unabdingbaren Grundsätzen der demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung" 51. All diese Beispiele zeigen, daß das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen seiner inzidenten Kontrolle Prämissen für die Arbeit der autonome Geschäftsordnungsgeber setzten kann, wenn es erhebliche Verfassungsbestimmungen (verbindlich) interpretiert. All diese inzidenten Darlegungen des Bundesverfassungsgerichts liegen ferner seinen späteren Entscheidungen zugrunde, wenn es (im Rahmen eines Organstreitverfahrens) die Verfassungsmäßigkeit vom parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht dezisiv beurteilen mußte52 •

49Dazu s. BVerfGE 44, (308) 313. Hierzu vgl. Art. 103 Abs. 2 GO ,,Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". 50Dazu s. BVerfGE 29, (220) 233f. 51 BVerfGE 29, (220) 234. Hierzu vgl. Art. 77 Abs. 1 Satz 1 (im Anhang). Dazu s. a. BVerfGE I, (144) 152; Abmeier, (Anm. 29), S. 139; LeibholzIRinck/Hesselberger, Komm. Art. 77 GO Rn. I, Grundgesetz. Kommentar an Hand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Band H, 7. Auflage, 1993; Pieroth, (Anm. 29), Komm. Art. 77 GO Rn. 2; Schmidt-Bleibtreu, Kommentierung des Art. 77 GO Rn. 3, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz, 7. Auflage, 1990. 52 Dazu s. unten IV 2 c und d; BVerfGE 80, (188) 218ff; 84, (304) 322.

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Inzident kann sich jedoch das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen eines Organstreitverfahrens mit parlamentarischem Geschäftsordnungsrecht befassen. Mit seinen Urteilen vom 14. Juli 1959 bzw. vom 14. Januar 1986 überprüfte es die Verfassungsmäßigkeit von Geschäftsordnungsvorschriften, obwohl durch die Organklage eine andere Maßnahme des Bundestages und nicht die Geschäftsordnung beanstandet worden wa,r53. Im Jahre 1958 wurde das Bundesverfassungsgericht von Bundestagsabgeordneten angerufen, um festzustellen, daß ihr Status als Abgeordnete bzw. ihre verfassungsmäßig gewährleistete Rechtsstellung durch Beschlüsse des Bundestages über die Redezeitaufteilung beeinträchtigt wären54 . Demnach sah sich das Gericht gezwungen, zuerst die Verfassungsmässigkeit der Geschäftsordnungsregelung über die Redezeitfestsetzung zu überprüfen, um über die angegriffenen Bundestagsbeschlüsse entscheiden zu können. Der Art. 38 Abs. 1 Satz 1 00, der von den Antragstellern als verletzte Verfassungsbestimmung bezeichnet wurde, stellte sowohl für die beanstandeten Maßnahmen als auch für die Geschäftsordnungsregelung den Prüfungsmaßstab da,r55. Das Bundesverfassungsgericht befaßte sich mit dem Regelungsgehalt dieser Verfassungsbestimmung und gestaltete ihn inhaltlich näher aus. Gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 00, so das Bundesverfassungsgericht, gehöre zum verfassungsmäßigen Status der Bundestagsabgeordneten auch die Redebefugnis. Aus der Eigenständigkeitder Bundestagsabgeordneten, die ihm Art. 38 Abs. 1 Satz 1 00 innerhalb des Bundestags verleiht, ergebe sich nicht nur sein Stimmrecht, sondern auch ein Rederechf 6 • Der Ausdruck "verhandeln" im Art. 4200 verpflichte dazu, so das Bundesverfassungsgericht, daß im Bundestag die Fragen der Staatsführung, insbesondere die der Gesetzgebung, in Rede und Gegenrede zwischen den einzelnen Abgeordneten erörtert werden müssen57 . Allerdings fügte das Gericht hinzu: "Die Ausübung dieser Redebefugnis unterliege S3Dazu s. BVerfGE 10, S. 4ff; 70, S. 325ff. s4Dazu s. BVerfGE 10, (4) 8. sSVon den Antragstellern war allerdings die Feststellung beantragt worden, daß die beanstandeten Bundestagsbeschlüsse wegen Verstoßes gegen Art. 38 GG verfassungswidrig und nichtig seien, was im Organstreit, wie bereits dargestellt wurde, nicht möglich ist. Dazu s. oben lVI. s6Dazu s. BVerfGE 10, (4) 12. s7BVerfGE 10, (4) 12. Dazu s. u. a. Achterberg, (Anm. 22), S. 259; Abmeier, (Anm. 29), S. 142ff; Haug, (Anm. 37), S. l00f, F. Klein, (Anm. 39), Komm. Art. 38 GG Rn. 23f; H.-H. Klein, Status der Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1987, § 41, S. 382 Rn. 31; Kürschner, (Anm. 46), S. 8lf; Pieroth, (Anm. 29), Komm. Art. 38 GG Rn. 32; P.Scholz, Rederecht und Redezeit, in: Roll (Hrsg.) Plenarsi~ungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für W. Blischke, 1982, S. 81ff.

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den vom Parlament kraft seiner Autonomie gesetzten Schranken". Im vorliegenden Fall war aber keine Verfassungsverletzung festzustellen 58 . Dennoch unterließ es das Bundesverfassungsgericht auch in diesem Zusammenhang nicht zu betonen, daß Fälle denkbar wären, in denen die Benutzung eines an sich legitimen Mittels wie die (geschäftsordnungsrechtliche) Redezeitfestsetzung mißbräuchlich und verfassungswidrig sein könnten59 . Ein weiterer Antrag der Kläger, die Ministerrede gemäß Art. 43 GO als Reden der Mehrheitsparteien einzustufen, wurde zurückgewiesen60 • Mit der Begründung, die Regierung sei mehr als ein Exponat der Parlamentsmehrheit, wies das Bundesverfassungsgericht ebenfalls das (durch die Kläger vorgeschlagene) Anrechnen der Zeit der Ministerreden auf die Redezeit der Mehrheitsparteien bzw. eine analoge Verlängerung der Redezeiten der oppositionellen Fraktionen zurück. Die aus Art. 43 Abs. 2 GO ableitbare, (zeitlich) unbeschränkte Redebefugnis der Regierungsmitglieder im Bundestag unterliege, so das Bundesverfassungsgericht, nur einem Mißbrauchsverbot, aber in diesem Fall war kein Mißbrauch feststellbar61 • Abschließend stellte das Gericht fest, daß das Parlament in der Gestaltung seiner inneren Ordnung weitgehende Freiheit habe und daß man dabei in Kauf nehmen müsse, daß sich Parlamentsregeln unter Umständen ungleichmäßig auswirken62 • Diese in Kauf zu nehmenden Ungleichmäßigkeiten, die durch Geschäftsordnungsregelungen bewirkt werden können, verteidigte das Bundesverfassungsgericht ebenfalls in seiner Organstreitentscheidung vom 14. Januar 198663 . Obwohl damals die beanstandete Maßnahme die Wahl der Mitglieder des Gremium nach § 4 Abs. 9 des Haushaltsgesetzes von 1984 war, befaßte sich das Gericht inzident mit den Geschäftsordnungsvorschriften über die Zusammensetzung bzw. über die Mitgliederzahl der Bundestagsausschüsse und bejahte deren Verfassungsmäßigkeit64• S8Dazu s. BVerfGE 10, (4) 12f. s9Dazu s. BVerfGE 10, (4) 13. 60Dazu s. BVerfGE 10, (4) 18f. 61Dazu s. BVerfGE 10, (4) 18. Dazu s. u. a. F. Klein, (Anm. 39), Komm. Art. 43 GG Rn. 9; LeibholzlRinck/Hesselberger, (Anm. 51), Komm. Art. 38 GG Rn. 534 und Komm. Art. 43 GG Rn. 11; Pieroth, (Anm. 29), Komm. Art. 43 GG Rn. 5; Schröder, Rechte der Regierung im Bundestag, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 52, S. 1453f. 62Dazu s. BVerfGE 10, (4) 19f. 63Dazu s. BVerfGE 70, (324) 364. 64In diesem Zusammenhang äußerte sich das Bundesverfassungsgericht ebenfalls zustimmend zu der Vorverlagerung der Repräsentation in die Bundestagsausschüsse und begründete ein Informationsrecht für die einzelnen Abgeordneten bzw. deren Recht auf ei-

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Demnach betrachtete es das Bundesverfassungsgericht für nicht verfassungsrechtlich geboten, daß allen die Fraktionsstärke nicht erreichenden Gruppen bzw. allen einzelnen Bundestagsabgeordneten (geschäftsordnungsrechtlich) der Zugang zu den Ausschüssen gewährleistet werden müsse. Eine gleichmäßige Beteiligung aller an kleinen Gremien, so das Bundesverfassungsgericht, hätte es bewirken können, daß die Mehrheit dort nicht mehr als Mehrheit, sondern als Minderheit präsent wäre 65 • Insofern war es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht unzulässig, daß fraktionslosen Abgeordneten bzw. Gruppierungen die Mitgliedschaft in den Ausschüssen verwehrt wird, zumal es "aus zwingenden Gründen des Geheimschutzes" verfassungsrechtlich hinzunehmen wäre, daß einzelne Fraktionen bei der Besetzung eines Ausschusses unberücksichtigt blieben66 • Ungeachtet der Standhaftigkeit derartiger Argumentation ist angesichts der hier behandelten Thematik hervorzuheben, daß sowohl inzident gemachte Darlegungen als auch andere in der Entscheidungsformelnicht enthaltende Auffassungen des Bundesverfassungsgerichts Einflüsse auf die Gestaltung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts haben können, insofern sie an der sog. Bindungswirkung der Entscheidung teilnehmen67 • Auf jeden Fall entfalten sie faktische Bindungswirkung. Sie sind in jedem Hand- und Lehrbuch des Staatsund Parlamentsrechts bzw. in jedem Kommentar zum Grundgesetz und zur Bundestagsgeschäftsordnung zu finden und werden stets zur Auslegung des Grundgesetzes bzw. der parlamentarischen Geschäftsordnungen angeführt. Das Bun-

gene Beurteilung des Regierungshaushaltsentwurfs. Hienu vgl. BVerfGE 70, (324) 355f; 70, (324) 363; 44, (308) 319. MDazu s. BVerfGE 70, (324) 364. 66Dazu s. BVerfGE 70, (324) 365f. Hienu vgl. Bollmann, (Anm. 22), S. 18ff (107) ; Di Fabio, Parlament und Parlamentsrecht. Augaben, Organisation und Konflikte parlamentarischer Arbeit, in: Der Staat 29, 1990, S. 615; Ismayr, Der Deutsche Bundestag, 1992, S. 85; Magiera, Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder, in: Schneider/Zeh (Hrsg.) Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 52, S 1442 Rn. 69; H. Meyer, Die Fraktionen auf dem Weg zur Emanzipation von der Verfassung, in: FS für E.-G. Mahrenholz, 1994, S. 346; Pieroth, (Anm. 29), Komm. Art. 38 GO Rn. 33; Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Januar 1986, in: DÖV 1986, S. 237ff; Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: IsenseelKirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, § 42, 1987, 414 Rn. 47. 67 Sondervoten einzelner Bundesverfassungsrichter haben hingegen als die Entscheidung des Gerichts nicht tragend keine (rechtliche) Wirkung. Zur (faktischen) Bedeutung der Sondervoten S. BendalKlein, (Anm. 2), S. 114f Rn. 264; Geiger, (Anm. 12), S. 30; Pestalozza, (Anm. 2), S. 291ff Rn. 38ff; Schlaich, (Anm. 5), S. 35ff; G. Zöbeley, Kommentierung des § 30 BVerfGO, Rn. 16ff.in: Umbach/Clemens (Hrsg.) Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Mitarbeiterkommentar und Handbuch, 1992.

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desverfassungsgericht selbst beruft sich oft auf diese und begründet damit seine neuen Entscheidungen68 •

c) Das Urteil des Zweiten Senats vom 13. Juni 1989 Sechsunddreißig Jahre nach seiner ersten Entscheidung wurde das Bundesverfassungsgericht wieder, wie bereits erwähnt, im Wege des Organstreitverfahrens angerufen, um unter anderem festzustellen, daß Geschäftsordnungsregelungen gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, gegen das Prinzip der repräsentativen Demokratie, gegen den verfassungsrechtlich garantierten Minderheitenschutz und gegen den strengen Gleichheitssatz verstießen69 • Der Antragsteller, ein fraktionlos gewordener Bundestagsabgeordneter machte in seinem Schriftsatz geltend, daß die beanstandeten Geschäftsordnungsvorschriften fraktionslose Abgeordnete in verfassungswidriger Weise von wichtigen Bereichen der parlamentarischen Arbeit ausschlossen und damit deren verfassungsrechtlichen Status bzw. deren Mitwirkungsrechte erheblich beeinträchtigten70. Das Gericht schloß jedoch das Prinzip der repräsentativen Demokratie, sowie den aus dem Demokratieprinzip folgenden Minderheitenschutz und den Gleichheitssatz aus dem Kontrollrnaßstab aus, denn nach seiner Auffassung hätten sie keine über Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hinausgreifende Wirkung für die parlamentarischen Rechte der Bundestagsabgeordneten. Andere als die sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ergebenden Maßstäbe kämen zur Beurteilung der im vorliegenden Verfahren gestellten Anträge nicht in Betracht, stellte das Bundesverfassungsgericht fest71 • Unter den gerügten Geschäftsordnungsregelungen befanden sich die Vorschriften über die Zusammensetzung bzw. Besetzung der Ausschüsse und des Ältestenrates, über die Mitgliedschaft in den Enquetekommissionen und über die Rededauer72 . 68Dazu s. gleich unten. S. a. Urteil Nordrhein-westfälischer Verfassungsgerichtshofs vom 4. 10. 1993 (15/92) in: DÖV 1994, S. 21lf. 69Dazu s. BVerfGE 80, (188) 19lf. Hierzu vgl. BrenzenlGottschalck, Abgeordnetenstatus und Repräsentation: Anmerkungen zum "Wüppesahl-Urteil"des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl 1990, S. 393ff; Trute, Der fraktions lose Abgeordnete - Die Wüppesahl-Entscheidung des BVerfG, in: Jura 1990, S. 184ff. 10 Dazu s. BVerfGE 80, (188) 194ff. 11 Dazu s. BVerfGE 80, (188) 22Of. 12Bezüglich anderer Geschäftsordnungsvorschriften, die hiermit angefochten wurden, wies das Bundesverfassungsgericht den entsprechenden Teil des Antrags als unzulässig zurück, dazu s. BVerfGE 80, (188) 208ff.

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Drei Jahre nach der Entscheidung vom 14. Januar 1986 mußte sich mithin das Bundesverfassungsgericht erneut mit den Geschäftsordnungsregelungen über die Zusammensetzung bzw. die Besetzung der Bundestagsausschüsse befassen, diesmal aber nicht nur inzident, sondern hauptsächlich73. Dennoch hielt sich das Gericht zurück, den Bestand der gerügten Geschäftsordnungsvorschriften anzugreifen; im Gegensatz zu der Entscheidung vom 6. März 1952 kam es diesmal zu keiner Verfassungsmäßigkeit bzw. -widrigkeitserklärung74. Der Tenor der Entscheidung vom 13. Juni 1989 lautete: "Der Deutsche Bundestag verletzt die Rechte des Antragstellers aus Artikel 38 Absatz I Satz 2 Grundgesetz dadurch, daß er ihm keine Möglichkeit eingeräumt hat, in einem Ausschuß als Mitglied mit Rede- und Antragsrecht mitzuwirken. Im übrigen werden die Anträge zurückgewiesen", und in einer abschließenden Bemerkung ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß der Bundestag unverzüglich dem Antragsteller auf der Grundlage des Urteils die Mitarbeit in einem Ausschuß ermöglichen werde75. Eine Geschäftsordnungsregelung wurde also damit nicht beanstandet16 • Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht in Anwendung seiner Entscheidungstechnik - d. h. die faire und loyale Anwendung der parlamentarischen Geschäftsordnungen sei bei deren Kontrolle vorauszusetzen - die Geschäftsordnungsregelung über die Rededauer verteidigt1 7 • Und unter Hinweis auf die Funktion und die Arbeitsweise des Ältestenrates bzw. der Enquetekommissionen hatte es es ferner für verfassungsrechtlich unbedenklich befunden, daß fraktionslosen Abgeordneten die Mitgliedschaft in diesen Gremien wie im Vorsitz der Ausschüsse in aller Regel verwehrt bleibt1s . 73Dazu s. BVerfGE 80, (188) 221ff. Hierzu vgl. BVerfGE 70, (324) 364ff. 74Dazu s. BVerfGE I, (144) 145: ,,( ... ) H. Absatz 3 und 4 des § 96 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 6. Dezember 1951 verstoßen gegen Artike176 Absatz 1 des Grundgesetzes. III. im übrigen wird der Antrag zurückgewiesen. Absatz 1 und Absatz 2 des § 96 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 6. Dezember 1951 verstoßen nicht gegen das Grundgesetz". 7sDazu s. BVerfGE 80, S. 190 und S. 235. 76Durch das verfassungsgerichtliche Urteil wurden mithin nicht die gerügten Geschäftsordnungsregelungen selbst, sondern ein Anwendungs- bzw. Vollziehungsakt des Bundestages bemängelt. Dazu s. BVerfGE 80, (188) 217: "Der Antrag zu 1) ist im Umfang des Tenors begründet; im übrigen sind die Anträge, soweit zulässig, als unbegründet zurückzuweisen" und BVerfGE 80, (188) 222: "Von daher darf ein Abgeordneter nicht ohne gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden". Im Grunde handelt es sich dabei um eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen Geschäftsordnungsvorschriften durch das Bundesverfassungsgericht, die auch ohne eine Normkassation den Bundestag (aufgrund der Bindungswirkung der Entscheidungsgründe) bindet. 77Dazu s. BVerfGE 80, (188) 229. Hierzu vgl. BrenzeniGottschalck, (Anm. 69), S. 402; Haug, (Anm. 37), S. 101 (126ff) ; Trute, (Anm. 69), S. 192. 78Dazu s. BVerfGE 80, (188) 226ff.

IV. Verfassungs gerichtliche Entscheidungen

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In der Entscheidungsbegründung zählte das Bundesverfassungsgericht die Rechte der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 00 auf und forderte die gleiche Mitwirkungsbefugnis aller, parallel dazu betonte es aber auch hier die Bedeutung der Bundestagsfraktionen und die Wichtigkeit der autonomen Regelungsmacht des Bundestages79 • Die allgemeine Formulierung: "Was aus den Grenzen und Bindungen dieser Regelungsmacht im einzelnen folgt, muß nach dem jeweiligen Gegenstand bestimmt werden" stammt aus diesem Urteil, wenngleich sich diese Tendenz bereits durch die früheren Entscheidungen des Gerichts angebahnt hatte 8o • Obwohl das Urteil vom 13. Juni 1989 auf den ersten Blick streng fallbezogen zu sein scheint, durchziehen die Gründe der Entscheidung eine Fülle von allgemeinen Erklärungen, welche Hinweise und Optimierungsgebote an den Bundestag enthalten81 • Denoch vermögen die zusammenhängenden Ausführungen des Gerichts nicht immer zu überzeugen, und oft weisen sie einen diplomatischen Kompromißcharakter auf. Laut Bundesverfassungsgericht gebe Art. 38 Abs. 1 Satz 2 00 für ein Stimmrecht der einzelnen Abgeordneten im Ausschuß nichts her. Die Stimme eines fraktionslosen Abgeordneten, der im Ausschuß nur für sich spricht und keine Fraktion vertritt, würde ferner überproportional wirken und möglicherweise die im Ausschuß bestehenden Mehrheitsverhältnisse gefährden, stellte das Bundesverfassungsgericht fest. Der verfassungsrechtliche Status eines fraktionslosen Abgeordneten werde (hingegen) nicht beschnitten, wenn er im Ausschuß nicht mitstimmen könne; er könne sein Stimmrecht im Gesetzgebungsverfahren ausüben, das der Ausschußtätigkeit folgt 82 • Abgesehen davon, daß das Gericht damit von seiner früheren Rechtsprechung abweicht (die Repräsentation ist heutzutage in die Ausschüsse vorverlagert), erscheint die Trennung der Rechte der Bundestagsabgeordneten im Ausschuß (: das Rede- und Antragsrecht gehört zum Gewährleistungsbereich des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, das Stimmrecht fällt hingegen unter die Geschäftsordnungsbefugnis des Bundestages gemäß Art. 40 Abs. 1 Satz 2 00), wenn nicht willkürlich, dann opportunistisch. Die damit zusammenhängenden Sondervoten zeigen, daß auch 79Dazu s. BVerfGE 80, (188) 217ff. Hierzu vgl. Trute, (Anm. 69), S. 188f. 80BVerfGE 80, (188) 220. Hierzu vgl. 70, (324) 355; 10, (4) 13. 81Dazu s. BVerfGE 80, (188) 221ff. Hierzu vgl. BrenzenlGottschalck, (Anm. 69), S. 396ff(403); Haug, (Anm. 37), S. 101; DiFabio, (Anm. 66), S. 616f; Ismayr, (Anm. 66), S. 187; Fr. Klein, (Anm. 40), Art. 40 GG Rn. 8 und Art. 43 GG Rn. 3; Leibho1z1 Rinck/Hesse1berger, (Anm. 51), Komm. Art. 38 GG Rn. 596ff; H. Meyer, (Anm. 66), S. 336; Schulze-Fielitz, Der Fraktionslose im Bundestag: Einer gegen alle?, in: DÖV 1989, S. 836; Trute, (Anm. 69), S. 187ff; Ziekow, Der Status des fraktions losen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, in: JuS 1991, S. 28 (34). 82Dazu s. BVerfGE 80, (188) 222ff. Hierzu vgl. Trute, (Anm. 69), S. 189. 12 Theodossis

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diametrale Lösungen, d. h. von der Erweiterung um ein Stimmrecht bis zur Verwehrung der Mitwirkung in den Ausschüssen, vertretbar wären83 . Der Bundestag fügte sich jedoch dem verfassungs gerichtlichen Urteil. Obwohl er nach der Entscheidungstenorierung Geschäftsordnungsvorschriften nicht als verfassungswidrig zurückzuziehen brauchte, sondern lediglich den dadurch beeinträchtigten Status des Antragstellers wiederherzustellen hatte, trug er dem verfassungsgerichtlichen Urteil darüber hinaus Rechnung, indem er seine Geschäftsordnung entsprechend modifizierte. Gemäß dieser Änderung soll jedes Mitglied des Bundestages grundSätzlich einem Ausschuß angehören, ferner soll der Präsident fraktionslose Mitglieder des Bundestages als beratende Ausschußmitglieder benennen84•

d) Das Urteil des Zweiten Senats vom 16. Juli 1991 In einem fast identischen Vorgang und unter starker Anlehnung an die obige Entscheidung verteidigte das Bundesverfassungsgericht drei Jahre später die geltende Geschäftsordnungsregelung über die Fraktionsmindeststärke nach einer Organklage einer Gruppe im Bundestag, die sich dadurch in ihrem verfassungsrechtlichen Status verletzt sah 85 . Wie es seit 1969 der Fall war, schrieb auch die am 20. Dezember 1990 übernommene Bundestagsgeschäftsordnungsregelung eine Fraktionsmindeststärke von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages vor. Die antragstellende Gruppe berief sich unter anderem auf das am 29. September 1990 ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das angesichts der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 eine getrennte fünf vom Hundert Sperrklausel für die Wahlgebiete im Westen und Osten angeordnet hatte 86 • Die Antragstellerin rügte, daß sich die Geschäftsordnungsregelung bzw. das 83Hierzu vgl. BVerfGE 80, (188) 235ff; 80, (188) 241ff. Hierzu vgl. Abmeier, (Anm. 29), S. 167ff; BrenzenlGottschalck, (Anm. 69), S. 399ff; H. Meyer, (Anm. 66), S. 336; Trute, (Anm. 69), S. 191. 84Dazu s. BGBl. 1,1989, S. 2442. 8sDazu s. BVerfGE 84, (304) 321ff. S. a. Sachs, Rechtsstellung parlamentarischer Gruppierungen ohne Fraktionsstatus - PDSlLinke Liste, in: JuS 1992, S. 255. 86 Aufgrund der Änderung des Bundeswahlgesetzes, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschlossenen wurde und eine getrennte Sperrklausei für den Osten und für den Westen bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen vorsah, hatten die Abgeordneten der Antragstellerin Gruppe das ihnen zukommende Mandat erlangt, obgleich ihre politische Partei nur 2,4 vom Hundert der Zweitstimmen im gesamten Wahlgebiet erhalten hatte. Dazu s. BVerfGE 84, (304) 312; 82, 322ff; s. Böhm/Edinger, Frak-

IV. Verfassungs gerichtliche Entscheidungen

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vorgeschriebene Quorum für die Zuerkennung des Fraktionsstatus an die Sperrklausel fünf vom Hundert des § 6 Abs. 6 BWahlG a. F. lehne, deshalb verstieße es gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 00 und Art. 21 Abs. 1 0087 . Einer sich an die alte wahlrechtliche Sperrklausel anlehnender Fraktionsproporz, welcher die besondere Situation nach Herstellung der Einheit Deutschlands nicht berücksichtige, riefe, so die Antragstellerin, eine ungleiche Behandlung ihrer Mitglieder im Bundestag hervor, sie würden damit zu Abgeordneten zweiter Klasse degradiert werden88 • Das Bundesverfassungsgericht ließ jedoch diesmal keine Ausnahme gelten. Wie in seiner Entscheidung aus dem Jahre 1989 bezog es sich auch hier auf die gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten im Bundestag und hob noch einmal den Wesensgehalt des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 00 hervor, abschließend aber betonte es die Unerläßlichkeit von geschäftsordnungsrechtlichen Einschränkungen um der Repräsentationsfähigkeit und Funktionsfähigkeit des Parlaments willen und wies auf die Wichtigkeit der Fraktions- und Ausschußarbeit im Bundestag sowie dessen autonome Regelungsmacht hin 89 • Das Bundesverfassungsgericht trug wiederum die allgemeine Formel vor: "Was aus den Grenzen und Bindungen dieser Regelungsmacht im einzelnen folgt, muß nach dem jeweiligen Gegenstand bestimmt werden" und bestätigte mit seinem Urteil die angegriffene Geschäftsordnungsregelung90• tionsstatus und Verfassung. Gibt es einen Anspruch auf Zuerkennung des Fraktionsstatus für PDS und Bündnis 9O/Grüne? in: ZRP 1991, S. 138f; Sachs, (Anm. 85), S. 255. 1/ Theodossis, (griech.) Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. September 1990 über das Wahlgesetz und seine Rechtsprechung über die Verfassungsmäßigkeit der Sperrklausei von 5%, in: Nomiko Vima, 1991, S. 301ft'. 87Dazu s. BVerfGE 84, (304) 309ft'. 88Dazu s. BVerfGE 84, (304) 311ft'. 89Zuvor hatte es auch hier den vorgetragenen Prüfungsmaßstab eingeschränkt. Der Grundsatz der Chanchengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG beeinflusse nicht den Status der Abgeordneten im Parlament, der Grundsatz der Wahlrechts gleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 beschränke sich nur auf die Wahlen, und das Prinzip der repräsentativen Demokratie bzw. das dem Demokratieprinzip innewohnende Gebot zum Minderheitenschutz hätten keine über Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hinausgreifende Wirkung. Nur Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG kämen zur Beurteilung der im vorliegenden Verfahren gestellten Anträge in Betracht, lautete auch diesmal das Dekret des Bundesverfassungsgerichts. Dazu s. BVerfGE 84, (304) 324ft'. Hierzu vgl. BVerfGE 70, (324) 362f; 80, (188) 220; Sachs, (Anm. 85), S. 256. 90Dazu s. BVerfGE 84, (304) 321ft'. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Juli 1991 (BVerfGE 84,326) lautete: "Durch den Beschluß des Bundestages vom 20. Dezember 1990, die in § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT geregelte Fraktionsmindeststärke von 5 v. H. der Mitglieder des Bundestages für den 12. Deutschen Bundestag zu übernehmen, werden Rechte der Antragstellerin nicht verletzt"; eine inhaltsähnliche Formulierung wurde jedoch in den Tenor der Entscheidung (BVerfGE 84, 305) nicht aufgenommen. Dort hieß es nur: "Im übrigen werden die Anträge zurückgewiesen". Deshalb erlangen die obigen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts insofern Rechtsverbindlichkeit, als sie 12'

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D. Bundesrepublik Deutschland

Die Entscheidung des Bundesgesetzgebers über die Höhe der Sperrklausel bei den Bundestagswahlen markiere, hieß es in der Entscheidungsbegründung, weder die niedrigste noch die oberste Grenze der zulässigen Fraktionsmindeststärke, auch wenn sie seit 1969 mit ausdrücklichen Bezug auf die Sperrklausel des Wahlrechts auf das fünf vom Hundert Quorum festgesetzt wurde 91 . In diesem Sinne befand das Bundesverfassungsgericht, daß der Bundestag weder zur Herabsetzung der Fraktionsmindeststärke noch zur Anerkennung der Antragstellerin als Fraktion verpflichtet wäre, und damit gab es Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG den Vorrang. Allerdings bemängelte das Gericht, daß der Bundestag der Antragstellerin kein Recht auf Mitgliedschaft in den Unterausschüssen bzw. nicht den Status der "Fraktion im Ausschuß" zuerkannt habe, und erklärte somit den zweiten Hilfsantrag der Antragstellerin für teilweise begründet92 • Aber einen Anspruch auf Berücksichtigung bei der Vergabe der Posten der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter bzw. auf vollberechtigte Mitgliedschaft in einer Enquetekommision oder in einem Untersuchungsausschuß, ein Recht auf Einräumung eines Grundmandates bzw. auf Mitgliedschaft im Vermittlungsausschuß habe hingegen die Antragstellerin nicht, hob das Gericht hervor93 • Nach seiner Auffassung waren diese Rechte entweder keine spezifisch mitgliedschaftlichen Rechte, oder sie fielen uneingeschränkt unter die autonome Regelungsmacht des Bundestages. Das Bundesverfassungsgericht beanspruchte mithin noch einmal für sich das Recht, darüber zu entscheiden, was unter Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und was unter Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG falle. Und dazu wird es immer wieder kommen, wenn das Gericht wegen einer Geschäftsordnungsregelung von Abgeordneten, Gruppen oder Fraktionen (zulässig) angerufen wird94 • Damit werden die wortkargen Verfassungsbestimmungen durch verfassungsgerichtliche Dekrete näher bestimmt bzw. umgrenzt; das Bundesverfassungsgericht entscheidet im Ergebnis nicht nur über die "Auslegung dieses Grundgesetzes", sondern auch über als tragende Entscheidungsgründe an der Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG teilnehmen. 91Dazu s. BVerfGE 84, (304) 325. Hierzu vgl. Abmeier, (Anm. 29), S. 208ft'; BöhmlEdinger, (Anm. 89), S. 139ft'; H. Meyer, (Anm. 66), S. 338ft'. 92Dazu s. BVerfGE 84, (304) 305 (3270. Hierzu vgl. Leibholz1Rinck/Hesselberger, (Anm. 51), Komm. Art. 38 GG Rn. 559; Sachs, (Anm. 85), S. 256. 93Dazu s. BVerfGE 84, (304) 328ft'. Der Senat konnte hingegen wegen Stimmengleichheit nicht darüber entscheiden, ob der Bundestag gegen Art. 53 a GG verstoßen hatte, als er der Antragstellerin ein Mandat im Gemeinsamen Ausschuß nicht zuerkannte, dazu s. BVerfGE 84, (304) 334ft'. Hierzu vgl. LeibholzlRinck/Hesselberger, (Anm. 51), Komm. Art. 38 GG Rn. 559;H. Meyer, (Anm. 66), S. 34Of; Sachs, (Anm. 85), S. 256. 94Hierzu vgl. DiFabio, (Anm. 66), S. 615: "Das BVerfG hat im großen und ganzen die parlamentarische Autonomie sensibel gehandhabt, wenngleich mitunter die Rationalität der Entscheidungsbegründung durch politische Pragmatik überschattet wurde".

V. Zusammenfassung

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das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht, wenn es wie im vorliegenden Fall Geschäftsordnungsvorschriften "verfassungskonform" auslegt, bzw. wenn es mit seinen Ausführungen "geschäftsordnungsmäßige Rechte" erweitert oder beschränkt95 •

v.

Zusammenfassung: Das deutsche Bundesverfassungsgericht als Mitgeschäftsordnungsgeber?

Regelungsgehalt bzw. sachliche und personelle Grenzen der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie sind im Grundgesetz nicht genau festgelegt. Eine Vornormierung der Geschäftsordnungsangelegenheiten durch das Grundgesetz würde eine materiellrechtliche Einschränkung der Gestaltungsfreiheit des autonomen Geschäftsordnungsgebers bedeuten. Allerdings kann man nicht von der Unfehlbarkeit des Geschäftsordnungsgebers ausgehen, und nicht jede geschäftsordnungsrechtliche Vorschrift ist als verfassungsmäßige Vorschrift anzusehen. Abgesehen von eventuellen (direkten) Verstößen gegen Verfassungsbestimmungen bzw. Verfassungsprinzipien wie das Demokratieprinzip sind ferner Kollisionen zwischen Parlamentsgeschäftsordnungen und Gesetzesrecht möglich. Es wäre jedoch verfehlt, einen dadurch entstandenen Konflikt unter Zuhilfenahme einer angenommenen Nachrangigkeit der parlamentarischen Geschäftsordnungen gegenüber den formellen Gesetzen beheben zu wollen, denn zwischen Parlamentsgeschäftsordnung und Gesetzen kann es eine Rangordnung nicht geben. Unter dem Grundgesetz ist das Verhältnis von Geschäftsordnungsund Gesetzesrecht kein Rang-, sondern ein Kompetenzproblem 1• Bundestags- bzw. Bundesratsgeschäftsordnung sind nicht gesetzesabhängig; Geschäftsordnungen werden aufgrund einer verfassungsunmittelbaren Fachkompetenz erlassen. Bundesgesetzgebung und autonome Geschäftsordnungsgebung stellen also zwei verschiedene, dem deutschen Parlament zugewiesenen Sachbereiche dar. Aus diesem Grund kann zwischen Gesetzesrecht und Geschäftsordnungsrecht keine Vorrangigkeit festgestellt werden, und demzufolge kann es bei den Geschäftsordnungsvorschriften keine andere als die Verfassungsmäßigkeitskontrolle geben2• 95 Auch durch das Urteil vom 16. Juli 1991 wurde eine Reihe von Geschäftsordnungsvorschriften vom Bundesverfassungsgericht "verfassungskonfonn" ausgelegt, dazu s. BVerfGE 84, (304) 328ff. 1Ähnlich Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 185ff. 2Hierzu vgl. oben C 11.3 und V.

182

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Nach dem Grundgesetz stellt das Bundesverfassungsgericht die (gerichtliche) Instanz zur Verfassungskontrolle dar. Es steht außer Zweifel, daß das Bundesverfassungsgericht ein Gericht ist und daß es im Rahmen seiner rechtsprechenden Tätigkeit auch parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen kann, sowohl inzident und als auch hauptsächlich. Das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht kann im Wege des abstrakten Nonnenkontrollverfahrens ohne prozessuale Filter bzw. Antragsbeschränkungen - wie z. B. die Entscheidungserheblichkeit bei der Richtervorlage und die Beschwerdebefugnis bei den Verfassungsbeschwerden - unbefristet dem Richterspruch des Verfassungsgerichts unterworfen werden. Allerdings ist in diesem Rahmen der Kreis der dazu Antragsberechtigten sehr beschränkt. Im Gegensatz dazu ist das Organstreitverfahren durch das Bundesverfassungsgericht bzw. durch seine Rechtsprechung so ausgestaltet, daß im allgemeinen jedem Adressaten des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts das Ingangsetzen des Verfahrens gelingen müßte, wenn er Organstreitfähigkeit besitzt. Hierzu muß er nur die Verletzung bzw. die Gefährdung seiner Verfassungspositionen durch das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht fristgemäß geltend machen. Nach der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts: ,,Eine Vorschrift der Geschäftsordnung kann Maßnahme i. S. des § 64 Abs. 1 BVerfGG sein" wird das Organstreitverfahren nach §§ 63 ff BVerfGG als das (effiziente) Nonnenkontrollverfahren für das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht gehandhabt. Allerdings zeichnet sich hier eine Tendenz des Bundesverfassungsgerichts zu einem laxen Umgang mit den gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen ab, welche explizit auf die individuelle (rechtliche) Betroffenheit des Antragstellers abstellen. Ferner kann das deutsche Bundesverfassungsgericht eigenständig Entscheidungstechniken und Auslegungsmethoden kreieren und bestimmt gegebenenfalls selbst den Prüfungsurnfang seiner Kontrolle, auch wenn es gemäß den Gesetzesbestimmungen an den Antrag gebunden bleiben sollte. Parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht kann also prinzipiell als konkretes bzw. abstraktes Recht oder als Maßnahme der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts unterworfen werden. Die Wahl des Verfahrens sollte eigentlich die Tragweite des verfassungsgerichtlichen Spruches bzw. seine rechtlichen Folgen bestimmen, aber angesichts der Entscheidungsvarianten, die das Bundesverfassungsgericht im Laufe der Jahre entwickelt und durchgesetzt hat, können die verschiedenen Tenorierungsfonnen fast gleich ausfallen. Dem Bundesverfassungsgericht kommt mithin faktisch eine "Kompetenz-Kompetenz" zu. Obwohl das Bundesverfassungsgericht ein Verfassungsunterworfener ist, kann es frei mit Zulässigkeits- bzw. Verfahrensvorschriften operieren. In diesem Sinne ist es Herr über sein Verfahren3•

3Dazu s. BVerfGE 13, (54), 94; 36, (342) 357; 60, (175) 213.

V. Zusammenfassung

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"Die Verfassung selbst, der Nonnativität zukommen soll, muß die Staatsgewalt so organisieren und die Kompetenzen so verteilen, daß dasjenige Organ, das Macht durch eingeräumte Kompetenz ausübt, über die Bedeutung der kompetenzzuweisenden Nonnen auf Dauer nicht allein verfügen kann"4. Eine Kontrollinstanz über dem Bundesverfassungsgericht, die die Einhaltung der Verfassungs- und Verfahrensnonnen durch dieses überwachen würde, gibt es nicht. Dies ist jedoch kein für die Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen spezifisches Phänomen. Bei den Geschäftsordnungen greift aber die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgrund der Regelungsdichte des Kontrollmaßstabs auf die Geschäftsordnungsgebung über. "Je weniger eindeutig ein Rechtsatz des Grundgesetzes ausgestaltet ist, desto größere Bedeutung erhält der rechtsschöpferische Anteil der Entscheidungsgründe"s. Beruht die Antragsbefugnis auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GO - was bei Abgeordneten, Gruppen und Fraktionen als Antragsteller der Fall ist - dann hat das Bundesverfassungsgericht die damit beanstandete Geschäftsordnungsvorschrift an Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GO und Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GO (bzw. an Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GO) zu messen. Das Bundesverfassungsgericht wird demzufolge dazu angerufen, um zwischen der Bestimmung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GO oder der Bestimmung des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GO (Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GO) zu entscheiden bzw. einer von den beiden den Vorrang zu geben. Wozu diese wortkargen Verfassungsbestimmungen Parlament und Abgeordneten ennächtigen, wird letztendlich das Bundesverfassungsgericht bestimmen. Demnach ist das Bundesverfassungsgerich nicht nur Herr über sein Verfahren, sondern auch "Herr seiner Entscheidung" . "We are not final, because we are infallible, but we are infallible, only because we are final"6. Wenn ferner ein Verfassungsorgan über die Auslegung des Grundgesetzes letztinstanzlieh entscheiden darf, steht es aufgrund dieser Zuständigkeit über den anderen Verfassungsorganen und kann ihnen seine Auffassungen aufoktroyieren. Zwar läßt sich hier einwenden, daß die Bindungswirkung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch seine Prüfungsbefugnis bedingt wird. Das Bundesverfassungsgericht ist weder gemäß Verfassung noch kraft Gesetzes zuständig, über Streitigkeiten um geschäftsordnungsrechtliche Rechte zu entscheiden. Dennoch ist es nicht immer leicht, eine klare Trennlinie zwischen Verfassungsauslegung bzw. -konkretisierung und Geschäftsordnungsgestaltung zu ziehen. ·Starck, Verfassungsauslegung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band VII, § 164, 1992, S. 190f Rn. 2. S Gusy, Die Offenheit des Grundgesetzes, in: JöR N. F. 33, 1984, S. 116. 6 Ausspruch des Richters Jackson vom Supreme Court der USA zitiert nach Rupp von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt. Wechselseitiges Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Parlament, in: AöR 102, 1977, S. 25.

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D. Bundesrepublik Deutschland

Wie aus der oben behandelten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervorgeht, engen auch nicht-stattgebende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie in Deutschland ein. Häufig greift das deutsche Verfassungsgericht mit der Begründung nichtstattgebender Entscheidungen mehr in die autonome Regelungsmacht des Parlaments ein, als mit Urteilen, die zu einer Nonnkassation führen. Der Verfassungsauslegung folgt eine "verfassungskonforme Auslegung" von Geschäftsordnungsvorschriften durch das Bundesverfassungsgericht, womit das Gericht - mittels der Entscheidungsvariante der eingeschränkten Vereinbarerklärungen bzw. bei extensiver Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG - völlig legal Entscheidungen des autonomen Geschäftsordnungsgebers vorwegnimmt bzw. ihn eines stattlichen Teiles seiner Gestaltungsfreiheit beraubt. Deshalb stellt sich hier die Frage, ob sich das Ergebnis der rechtsprechenden Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts, wodurch es geschäftsordnungsrechtliche Rechte erweitert bzw. beschränkt und Parlamentsrecht präzisiert, neu einordnet oder sogar festlegt, grundsätzlich mit den Verfassungsermächtigungen des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GO und des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GO bzw. mit dem System der grundgesetzlichen Gewaltenbalancierung rechtfertigen läßt. "Zweifel werden mit der Gewaltenteilung begründet, die es verbiete, daß eine Staatsfunktion über die andere gestellt werde. Die Gewaltenteilung verlange, daß alle Staatsfunktionen in gleicher Weise unmittelbar zur Verfassung ständen, die sie unter eigenen Gesichtspunkten auslegen und betrachten dürften"7. Die Gefahr einer Denaturierung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie durch den Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts wird mithin in Erwägung dessen deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Verfassungskontrolle der parlamentarischen Geschäftsordnungen oft vor einem vakanten Prüfungsmaßstab steht. Die relevanten Grundgesetzbestimmungen geben meistens keine Lösung zu anstehenden Problemen her. Dennoch handelt es sich dabei nicht um eine unvorhergesehene Lücke, sondern um eine (stillschweigende) Entscheidung des Grundgesetzes, diesen Regelungsbereich dem Parlament bzw. seinem Selbstorganisationsrecht zu überlassen bzw. zuzuweisen8 • "Geschäftsordnungsgebung ist in starkem Maße Verfassungsauslegung und der Bundestag, d. h. dessen Mehrheit ist - unabhängig von der Frage der juristischen Methode der Verfassungsinterpretation - der maßgebende Interpret, wenn es um 7Starck, (Anrn. 3), S. 196 Rn. 12. 8Wie im Allder vorliegenden Untersuchung dargestellt wurde, bedeutet jede verfassungsrechtliche Normierung, die sich auf die Organisation des Parlaments bezieht, aufgrund des Vorrangs der Verfassung eine Einschränkung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie; daraus ist e contrario zu folgern, daß der Verfassungs geber bereits diejenigen "Geschäftsordnungsangelegenheiten" festgelegt hat, die er seiner Regelung unterziehen wollte.

V. Zusammenfassung

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die Auslegung inhaltlich weiter Vorgaben des Grundgesetzes im Zusammenhang mit der Regelung des parlamentarischen Verfahrens geht"9. Angesichts der bisher befolgten Praxis läßt sich allerdings folgende Feststellung nicht von der Hand weisen: Ob die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie aushöhlt, hängt nur davon ab, wie oft sich das Gericht damit befaßt. "Sollte nicht die ihm (d. h. dem Bundesverfassungsgericht) zustehende Letztentscheidungskompetenz in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zu einer die Funktionenordnung des Grundgesetzes sprengenden Überkompetenz des Bundesverfassungsgerichts werden, so muß aus Gründen der unterschiedlichen Funktion, die den einzelnen Verfassungsorganen von der Verfassung zugewiesen worden ist, in näher zu bestimmenden Fällen die Verfassungsauslegung des handelnden Organs der des Bundesverfassungsgerichts vorgehen. Es handelt sich demnach um eine aus der Funktionenordnung herrührende Begrenzung, die als solche ableitbar ist"lO. Das Bundesverfassungsgericht hat also als Verfassungsunterworfener dieser grundgesetzlichen Funktionenordnung Rechnung zu tragen und hat seine Aufgabe in der Einhaltung der normativen Vorgaben der Verfassung seitens des autonomen Geschäftsordnungsgebers zu sehen. Wenn hingegen das Gericht mit seiner Rechtsprechung (aufgrund der umfangreichen Bindungswirkung seiner "Entscheidungen") in das verfassungsrechtlich garantierte Selbstorganisationsrecht des Parlaments eingreift, tritt ein (innerer) Widerspruch in der deutschen Verfassungsordnung auf, der offensichtlich den Vätern und Müttern des Grundgesetzes nicht bewußt gewesen war. In diesem Sinne erscheint entweder die (gesetzeskonforme) Änderung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG oder die Aufgabe des § 31 Abs. 1 BVerfGG bzw. dessen extensiven Auslegung erforderlich. Ferner kann der Vorbehaltsbereich des Parlaments bzw. sein Selbstorganisationsrecht unter den geltenden Regelungen vor der "Beflissenheit"des Bundesverfassungsgerichts insofern geschützt werden, als das Gericht ein restriktives Verständnis für seine Prüfungsbefugnis entwickelt, d. h. wenn es sich strikt an die bestehenden Verfassungs- und Verfahrensvorschriften hält und "the benefit of doubt"gegenüber dem parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht gegebenfalls für sich in Anspruch nimmt. Bis zu einer expliziten Änderung der Rechtslage sollte also das Bundesverfassungsgerichtjedesmal ausführlich überprüfen, ob es auf die beantragte Kontrolle einzugehen hat. Es sollte bereits bei der Überprüfung seiner Prüfungsbefugnis bzw. bei der Zulässigkeitsprüfung der ihm anhängigen 9Bollmann, (Anm. 1), S. 130f. In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, daß Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht im Lichte der Verfassungsrechtsprechung aufgearbeitet wird. lOK. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane. Bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsfiguren zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1988, S. 96.

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D. Bundesrepublik Deutschland

Klage sein "self-restraint" üben und damit nicht erst bis zu seinem Diktum warten. Die schlichte Verwerfung eines Antrags wegen Unzulässigkeit würde den materiellen Gehalt des Interessenkonflikts zwischen den Streitenden nicht berühren, wohingegen sie stabilisierende Wirkung entfalten würde. Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 77, 104: ,,( ... ), daß das Bundesverfassungsgericht Akte der gesetzgebenden Gewalt an der Verfassung selbst und nicht an verfassungsrechtlichen Präjudizien zu messen hat", welche auch dem autonomen Geschäftsordnungsgeber zugute kommen, garantieren keinen hinreichenden Schutz dagegen. Das Gericht sieht sich, wie gesagt, an sein Präjudiz nicht gebunden. Nur rein faktische Bindungen schnüren hingegen die Gestaltungsgewalt des Geschäftsordnungsgebers nicht ein. Wenn der Geschäftsordnungsgeber über die Rechtskraft der Entscheidungsformel hinaus Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts befolgt, weil er davon überzeugt ist, und nicht weil er dazu verpflichtet ist, geschieht es im Rahmen seiner Autonomie.

Epilog

Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und Verfassungsgerichtsbarkeit

Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie wird (traditionsgemäß) um der Flexibilität und Effektivität der Parlamentsarbeit willen gewährleistet. Wenn sie verfassungsrechtlich garantiert ist, dann begründen die einschlägigen Verfassungsbestimmungen eine Sachkompetenz des Parlaments, die die autonome Setzung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts sichern soll. Die Geschäftsordnungsautonomie stellt danach eine verfassungsunmittelbare Fachkompetenz und zugleich einen (förmlichen) Vorbehaltsbereich dar, in dem keine andere Staatsgewalt bzw. keine anderen Staatsorgane operieren dürfen. Eine genauere Determination des Regelungsgehalts dieser Sachkompetenz durch die Verfassung wäre nicht wünschenswert, denn sie würde dem Wesen der parlamentarischen Selbstorganisation zuwiderlaufen, falls sie es dabei nicht bei den Umrissen belassen würde. Kraft der ausdrücklichen Kompetenzzuweisung (bzw. der Verfassungsgarantie über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie ) kommt dem Parlament die Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben und somit die Fortbildung seines Geschäftsordnungsrechts zu. Ohne eine Verfassungs garantie wird hingegen die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie nicht als Vorbehaltsbereich der Parlamentskompetenzen gewährleistet sein. Ist die autonome Geschäftsordnungsgebung verfassungsrechtlich garantiert, kann sie nur einer Verfassungsmäßigkeitskontrolle unterworfen werden. Andere Grenzen bestehen für die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie dann nicht. Eine Verfassungs garantie über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie sollte mithin inhaltlich als eine stillschweigende bzw. verfassungs geschichtlich bedingte Entscheidung der Verfassung verstanden werden, dem Parlament bzw. seiner autonomen Geschäftsordnungsgebung die Regelung der inneren Organisation, der Arbeitsweise und der Disziplin seiner Mitglieder zu überlassen; formell-rechtlich hingegen fixieren die einschlägigen Verfassungsbestimmungen

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die Rangordnung des dadurch erzeugten Rechts; es steht unmittelbar unter der Verfassung. Das Parlament könnte jedoch anhand seiner ihm zukommenden Geschäftsordnungsautonomie Mißbrauch treiben und in den Wirkungsbereich anderer Verfassungsorgane (verfassungswidrig) eingreifen. Es könnte z. B. Gegenstände der Gesetzgebung im Wege der verfahrenserleichternden Geschäftsordnungsgebung regeln und damit selbst gegen die verfassungsrechtliche Funktionsteilung verstoßen. Darüber hinaus könnte sich jede beliebige Parlamentsmehrheit auf der Grundlage der autonomen Geschäftsordnung Legitimation verschaffen, wenn sie die Opposition mittels undemokratischer Entscheidungen marginalisieren will bzw. wenn sie sich außerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens begeben will. Verfassungsrechtliche Bindungen, die das Parlament als der Verfassung untergeordnetes Staatsorgan betreffen, können allerdings den Zugriffsbereich anderer Staatsorgane auf seinen verfassungsrechtlich garantierten Vorbehaltsbereich ausweiten, ohne daß die Verfassung die Mitwirkung der anderen Staatsorgane an der Geschäftsordnungsgebung explizit vorsieht. Dies geschieht in der Regel um des Vorrangs bzw. der Norrnativität der Verfassung willen. Statische Elemente der verfassungsrechtlichen Absicherung bzw. einer Verfassungsgarantie über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie würden im System der Gewaltenbalancierung (theoretisch) die Dynamik einer (impliziten bzw. expliziten) Kontrolle kompensieren. Um dem Odium der Verfassungsüberschreitungen bzw. -verletzungen effizient entgegenzutreten, sehen die modernen Verfassungen meistens eine institutionalisierte Verfassungskontrolle durch deren Gerichte vor. Auch wenn diese Kontrolle verfassungsrechtlich fundiert ist (und nicht nur aus einer transzendenten Gerechtigkeitserwartung abgeleitet wird), birgt die Tätigkeit der als Kontrollinstanz fungierenden Gerichte die Gefahr einer funktionsfremden Machtneuverteilung. Erlaubt bzw. impliziert die betreffende Verfassung die Kassation wegen Verfassungswidrigkeit, dann erfolgt bei durchgeführter Verfassungskontrolle durch die Gerichte bzw. durch das Verfassungsgericht eine Grenzverschiebung der Kompetenzbereiche zwischen ihnen und dem (zuständigen) Norrngeber. Bei erneuter Rechtsetzung durch den letzteren werden aber die dadurch verrückten Grenzen wieder zurechtgerückt. Erlaubt hingegen das Verfassungsprozeßrecht den gerichtlichen "Entscheidungen"eine über die Kassation hinausgehende (unmittelbare) rechtliche Geltung, dann vollzieht sich (anhand verbindlicher Darlegungen des Verfassungsgerichts - auch wenn sie an Verfassungsmäßigkeitserklärungen anhängen) eine schleichende Funktionsänderung, die auf die Dauer zu einer Pervertierung der verfassungsrechtlichen Funktionsteilung führen könnte.

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Solchen Sorgen könnte man entgegensetzen, daß die Verfassungsinterpretation des Verfassungsgerichts durch das geltende Verfassungsprozeßrecht bedingt werde bzw. daß die Verfassungsrechtsprechung darauf angewiesen sei. Wenn jedoch die Einhaltung der Verfahrensregeln lediglich der Selbstkontrolle des Verfassungsgerichts obliegt - was aufgrund der dem Verfassungsgericht zustehenden Letztentscheidungskompetenz in der Regel der Fall ist - kann man dabei eigentlich von einer Begrenzung bzw. Hemmung nicht sprechen. Demzufolge läßt sich nicht ernsthaft bestreiten, daß Verfassungsgerichte "Herren über ihr Verfahren und ihre Entscheidungen" sind und daß die somit bedingte verfassungsgerichtliche Hilfsrechtsetzung zu einer verfassungsdifformen Funktionenverschränkung führt. Es ist zwar zu erwarten, daß durch die Institutionalisierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit die klassische Gewaltenteilung fortentwickelt wird. Aber anband ihrer unkontrollierbaren Verfassungsauslegung bzw. ihrer verfahrenstechnischen Freizügigkeit könnte die gerichtliche Kontrollinstanz (machtusurpatorisch) Recht setzen und damit den zuständigen Normgeber ersetzen. Dabei käme es nur auf die Dichte und die Frequenz der Verfassungskontrolle an. Aus Gründen eines formalen Rechtsrigorismus würde man in diesem Zusammenhang (bzw. bei einer institutionalisierten Verfassungskontrolle der Parlamentsgeschäftsordnungen) den Verzicht auf die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie bzw. auf die explizite Einräumung einer verfassungsrechtlichen Geschäftsordnungsautonomie verlangen. Eine solche Verfassungskonstellation ist jedoch, obwohl folgerichtig, nicht wünschenswert, denn sie würde zu einer weiteren Abschwächung des Parlaments gegenüber einer (jede verfassungsrechtliche Funktionenordnung sprengenden) Superkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit führen. Eine "nur de facta Bindungswirkung"der verfassungs gerichtlichen Entscheidungen bzw. Entscheidungsgründe wäre hingegen effizienter. Aus der obigen Untersuchung geht ferner hervor, daß eine durch die "aktuelle, rechtliche Betroffenheit des Antragstellers"bedingte Verfassungskontrolle die Gefahr der Denaturierung der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie schmälert, wohingegen ein "abstraktes"bzw. ein "präventiv-obligatorisches"Kontrollverfahren sie begünstigt.

Anhang Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen

I. Griechische Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen 1. Die Verfassung von 1975 Die Übersetzung der griechischen Verfassung von 1975 stammt aus Kimmel (Hrsg.) Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 1993,3. Auflage, S. 122ff; s. a. Dagtoglou, in: JöR N. F. Bd. 32 (1983), S. 36Off.

Art. 26 Abs. 1 "Die gesetzgebende Funktion wird durch das Parlament und den Präsidenten der Republik wahrgenommen." Art. 32 Abs. 1 Satz 1 "Die Wahl des Präsidenten der Republik durch das Parlament erfolgt in namentlicher Abstimmung in einer Sondersitzung, die vom Parlamentspräsidenten mindestens einen Monat vor Beendigung der Amtsdauer des amtierenden Präsidenten der Republik nach Maßgabe der Geschäftsordnung einberufen wird." Art. 35 Abs. 1 Satz 1 ,,Ein Akt des Präsidenten der Republik bedarf zur Gültigkeit und Vollziehung der Gegenzeichnung durch den zuständigen Minister, der durch seine bloße Unterschrift verantwortlich wird, sowie der Veröffentlichung im Gesetzesblatt. " Art. 42 ,,(1) Die vom Parlament verabschiedeten Gesetze werden innerhalb eines Monats nach ihrer Verabschiedung vom Präsidenten der Republik ausgefertigt und verkündet. Der Präsident der Republik kann innerhalb der Frist des vorigen Satzes einen vom Parlment verabschiedeten Gesetzesentwurf an das Parlament unter Angabe der Rückverweisungsgründe zurückverweisen. (II) Ein vom Präsidenten der Republik an das Parlament zurückverwiesener Gesetzesvorschlag bzw. Gesetzesentwurf wird dem Plenum zugeleitet; wird dieser von der absoluten Mehrheit der Abgeordneten nach dem Verfahren des Art. 76 Abs. 2 erneut verabschiedet, so muß der Präsident der Republik diesen binnnen zehn Tagen nach seiner Verabschiedung ausfertigen und verkünden." Art. 61 Abs. 1 "Ein Abgeordneter darf wegen einer Äußerung und Abstimmung, die er in Ausübung seiner Abgeordnetenpftichten getan hat, nicht verfolgt oder in irgendeiner Weise vernommen werden."

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Art. 65 Abs. 1 "Das Parlament bestimmt die Art seiner freien und demokratischen Arbeitsweise durch eine Geschäftsordnung, die gemäß Artikel 76 vom Plenum zu beschließen und auf Anordnung seines Präsidenten im Gesetzesblatt zu veröffentlichen ist." Art. 65 Abs. 3 "Der Präsident und die Vizepräsidenten werden zu Beginn jeder Legislaturperiode gewählt. Diese Bestimmung findet auf die vom laufenden 5. Revisionsparlament gewählten Präsidenten und Vizepräsidenten keine Anwendung. Auf Vorschlag von fünzig Abgeordneten kann das Parlament dem Parlamentspräsidenten oder einem Mitglied des Präsidiums einen Tadel aussprechen, der die Beendingung seines Amtes zur Folge hat." Art. 65 Abs. 4 "Der Parlamentspräsident leitet die Arbeit des Parlaments, sorgt für die Sicherung der ungehinderten Durchführung der Arbeit, für die Gewährleistung der freien Meinungsäußerung der Abgeordneten und fUr die Aufrechterhaltung der Ordnung; dabei kann er auch Disziplinarmaßnahmen gegen jeden dagegen verstoßenden Abgeordneten gemäß der Geschäftsordnung des Parlaments ergreifen." Art. 65 Abs. 5 "Durch die Geschäftsordnung kann bei dem Parlament ein wissenschaftlicher Dienst zur Unterstützung der gesetzgeberischen Tätigkeit errichtet werden." Art. 65 Abs. 6 "Die Geschäftsordnung regelt die Organisation der Dienststellen des Parlaments unter Aufsicht seines Präsidenten sowie alle Personalangelegenheiten. Die Handlungen des Präsidenten im Zusammenhang mit der Einstellung und der dienstlichen Stellung des Personals des Parlaments können vor dem Staatsrat durch Beschwerde oder Aufhebungsklage angefochten werden." Art. 66 Abs. 3 Satz 1 "Das Parlament und die parlamentarischen Ausschüsse können die Anwesenheit des Ministers oder Vizeministers verlangen, der für die von ihnen diskutierten Fragen zuständig ist." Art. 67 Abs. 1 ,,zu einem Beschlusse des Parlaments ist die absolute Mehrheit der anwesenden Abgeordneten erforderlich; diese muß jedoch mindesens ein Viertel der Gesamtzahl der Abgeordneten betragen." Art. 68 Abs. 3 "Die parlamentarischen und die Untersuchungsausschüsse sowie die in den Artikeln 70 und 71 vorgesehenen Parlamentsabteilungen setzen sich nach der Geschäftsordnung im Verhältnis zur Stärke der Fraktionen oder Gruppen und der Unabhängigen zusammen." Art. 70 Abs. 3 "Die Geschäftsordnung setzt auch die Aufteilung der Zuständigkeiten nach Ministerien zwischen den Abteilungen fest." Art. 70 Abs. 6 "Die parlamentarische Kontrolle wird vom Parlamentsplenum mindestens zweimal wöchentlich ausgeübt; das Nähere regelt die Geschäftsordnung des Parlaments." Art. 74 Abs. 1 ,,Jeder Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag ist mit einem Begründungsbericht zu versehen und kann, bevor er bei dem Plenum oder einer Abteilung des Parlaments eingebracht wird, zur gesetzestechnischen Ausarbeitung an den in Artikel 65

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Abs. 5 vorgesehenen wissenschaftlichen Dienst, sobald er gebildet ist, verwiesen werden; das Nähere regelt die Geschäftsordnung."

Art. 76 Abs. 1 "Alle Gesetzentwürfe und Gesetzesvorschläge, die im Plenum oder in einer Abteilung eingebracht werden, werden einmal im Grundsatz, einmal artikelweise und einmal als Ganzes beraten und beschlossen." Art. 76 Abs. 2 "Wenn es bis zum Beginn der Beratung im Grundsatz von einem Drittel der Gesamtzahl der Abgeordneten verlangt wird, werden Gesetzentwürfe und Gesetzesvorschläge vom Parlamentsplenum ausnahmsweise zweimal, in zwei verschiedenen, mindestens zwei Tage auseinanderliegenden Sitzungen beraten und beschlossen, und zwar im Grundsatz und artikelweise bei der ersten Beratung artikelweise und als Ganzes bei der zweiten." Art. 76 Abs. 5 "Die Regierung kann verlangen, daß ein Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag von besonderer Bedeutung oder dringendem Charakter in einer bestimmten Zahl von Beratungen, jedoch höchstens in dreien, beraten wird. Das Parlament kann auf Antrag eines Zehntels der Gesamtzahl der Abgeordneten die Beratung um weitere zwei Sitzungen verlängern. Durch die Geschäftsordnung des Parlaments wird die Redezeit bestimmt." Art. 76 Abs. 6 "Kodifizierungen von Justiz- und Verwaltungsgesetzen, die von aufgrund besonderer Gesetze gebildeten Sonderausschüssen verfaßt worden sind, können dadurch verabschiedet werden, daß das Parlamentsplenum sie durch ein besonderes Gesetz als Ganzes sanktioniert." Art. 87 Abs. 2 "Die Richter sind bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nur der Verfassung und den Gesetzen unterworfen; in keinem Fall dürfen sie sich Bestimmungen fügen, die in Auflösung der Verfassung erlassen wurden." Art. 93 Abs. 1 "Die Gerichte unterscheiden sich in Verwaltungs-, Zivil- und Strafgerichte; ihr Aufbau ist in besonderen Gesetzen geregelt." Art. 93 Abs. 4 "Die Gerichte dürfen ein Gesetz, dessen Inhalt gegen die Verfassung verstößt, nicht anwenden." Art. 95 Abs. 1 "Der Staatsrat ist insbesondere zuständig: a) für die Aufhebungsanträge gegen vollstreckbare Akte der Verwaltungsbehörden wegen Befugnisüberschreitung oder Gesetzesverletzung; b) für die Revisionsanträge gegen ansonsten rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte wegen Befugnisüberschreitung oder Gesetzesverletzung; c) für die Entscheidung über die materielle Verwaltungsstreitigkeiten, die ihm nach der Verfassung und den Gesetzen zugewiesen werden; d) für die Ausarbeitung sämtlicher Rechtsverordnungen.

Art. 100 Abs. 1 Es wird ein Oberster Sondergerichtshof errichtet; dieser ist zuständig: a) für Entscheidungen über Einsprüche gemäß Artikel 58;

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b) für die Prüfung der Gültigkeit und der Ergebnisse einer gemäß Artikel 44 Absatz 2 durchgeführten Volksabstimmung; c) für die Entscheidung über Unvereinbarkeiten oder den Verlust des Abgeordnetenmandates gemäß Art. 55 Absatz 2 und Artikel 57; d) für die Konfliktserhebung zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden oder zwischen dem Staatsrat und den allgemeinen Verwaltungsgerichten einerseits und den Zivilund Strafgerichten andererseits, oder schließlich zwischen dem Rechnungshof und den übrigen Gerichten; e) für Entscheidung von Streitigkeiten über die materielle VeIfassungswidrigkeit oder den Sinn von Bestimmungen eines formellen Gesetzes, wenn darüber widersprechende Entscheidungen des Staatsrates, des Areopages oder des Rechnungshofes ergangen sind; t) für die Entscheidung von Streitigkeiten über die Eigenschaft von Regeln des Völkerrechts als allgemein anerkannt gemäß Artikel 28 Abs. 1.

Art. 100 Abs. 4 "Die Entscheidungen des Gerichtshofes unterliegen nicht der Revision. Eine für veIfassungswidrig erklärte Gesetzesbestimmung ist unwirksam mit Verkündung der entsprechenden Entscheidung oder von dem Zeitpunkt an, den die Entscheidung festsetzt. " Art. 103 Abs. 6 "Die Bestimmungen der vorigen Absätze finden auch auf die Parlamentsbeamten Anwendung, die im übrigen der Geschäftsordnung des Parlaments unterstellt sind sowie auf die Beamten der örtlichen Selbstverwaltungskörperschaften und der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts." Art. 111 Abs. 1 "Mit dem Inkrafttreten dieser VeIfassung treten Bestimmungen von Gesetzen oder Rechtsverordnungen, die ihr widersprechen, außer Kraft." Art. 113 Abs. 1 "Die Geschäftsordnung des Parlaments sowie die damit zusammenhängenden VeIfassungsbeschlüsse und die Gesetze über die Arbeitsweise des Parlaments bleiben bis zum Inkrafttreten der neuen Geschäftsordnung des Parlaments in Kraft, soweit sie nicht dieser VeIfassung widersprechen."

2. Das Gesetz über den Obersten Sondergerichtshof 345/1976 Die Übersetzung der Bestimmungen des OSG-Gesetzes stammt aus Starckl Weber (Hrsg.) VeIfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband 11: Dokumentation. Art. 21 ,,(1) Gemäß Art. 100 der VeIfassung unterliegen die Entscheidungen des Sondergerichtshofes nicht der Revision; der Drittwiderspruch ist nicht zugelassen; die Entscheidungen gelten vom Tag ihrer Verkündung an gegenüber jedem, es sei denn, anderes wird durch besondere Regelung bestimmt. (11) Auf Anweisung des Präsidenten des Sondergerichtshofs und ohne sonstiges formelles VeIfahren werden die Entscheidungen in den Fällen des Art. 6 Buchstaben b), d), e) und t) unverzüglich auf einem Sonderblatt der Regierungszeitung abgedruckt." 13 Theodossis

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Art. 48 ,,(1) Erlassen der Staatsrat, der Areopag oder der Rechungshof in der Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit oder des Sinnes eines formellen Gesetzes widersprechende Entscheidungen, so bereinigt der Sondergerichtshof diese Streitigkeit auf Antrag a) des Ministers der Justiz, des Staatsanwalts beim Areopag, des Generalkommissars des Staates beim Rechnungshof oder des Generalkommissars bei der Verwaltungsjustiz, b) jeder Person, die ein Rechtsinteresse hat, (11) Vertritt der Staatsrat, der Areopag oder der Rechnungshof in der Frage der Verfassungsmäßigkeit oder des Sinnes eines formellen Gesetzes eine andere Auffassung als diejenige, die ein anderes dieser Gerichte in einer bereits ergangenen Entscheidung oder ist diese dem Gericht aus anderen Gründen bekannt, so ist das Gericht verpflichtet, dem Sondergerichtshof seine widersprechende Entscheidung zur Bereinigung der Streitigkeit vorzulegen. In diesem Fall bleibt die Sache im übrigen bei dem Gericht anhängig, das die Vorlageentscheidung erlassen hat. Nach Erlaß der Entscheidung des Sondergerichtshofs, die dem vorlegenden Gericht auf Betreiben des Sekretärs zugestellt wird, befaßt sich dieses auf Antrag der Parteien oder auch von Amts wegen erneut mit der Sache. Es ist verpflichtet, sich der Entscheidung des Sondergerichtshofs zu beugen. (III) Die Bestimmungen der vorangehenden Absätze kommen zur Anwendung, wenn mindestens eine der gegensätzlichen Entscheidungen nach dem Inkrafttreten der Verfassung verkündet worden ist."

Art. 50 Abs. 3 ,,Jedes Gericht, bei dem eine Streitsache anhängig ist, auf die Bestimmungen eines formellen Gesetzes Anwendung finden, die den Gegenstand einer vor dem Sondergerichtshof anhängigen Streitigkeit gemäß Art. 48 bilden, ist, sobald ihm letzteres, auf welche Weise auch immer, zur Kenntnis gelangt, verpflichtet, den Erlaß der endgültigen Entscheidung bis zur Verkündung der Entscheidung des Sondergerichtshofs von Amts wegen auszusetzen." Art. 51 ,,(1) Die Entscheidungen des Sondergerichtshofs, durch die die Streitigkeit über die materielle Verfassungswidrigkeit oder den Sinn eines (formellen)Gesetzes bereinigt wird, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen des Abs. 4, vom Zeitpunkt ihrer Verkündung in öffentlicher Zeitung an Geltung gegenüber jedem. (11) Gerichtsentscheidungen und Akte der Verwaltung, die nach der Entscheidung des Obersten Sondergerichtshofs ergehen und ihr widersprechen, unterliegen den vorgesehenen Rechtsmitteln. Handelt sich um eine Entscheidung des Staatsrats, des Areopags oder der Rechnungshofs, so kann aus dem angeführten Grund von jeder Partei innerhalb von zwanzig Tagen vom Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidung an die Wideraufnahme des Verfahrens beantragt werden; im übrigen wird das für jedes der genannten Gerichte vorgeschriebene Verfahren beachtet. (III) Die Bestimmungen des vorstehenden Artikels kommen auch auf die Entscheidungen zur Anwendung, die unter Verletzung der Bestimmungen der Art. 48 Abs. 2 und 50 Abs. 3 vor Verkündung der Entscheidung des Sondergerichtshofs erlassen werden. In diesem Fall ist der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens binnen neunzig Tagen vom Zeitpunkt der Verkündung der Entscheidung des Sondergerichtshofsübrigen an einzureichen. (IV) Der Oberste Sondergerichtshof kann in seiner Entscheidung die als verfassungswidrig beurteilte Bestimmung schon für die Zeit vor der Verkündung der Entscheidung für ungültig erklären; der dahingehende Ausspruch ist gesondert zu begründen. Er hat Geltung gegenüber jedem. (V) Ist im Falle der rückwirkenden Erklärung der Verfassungswidrigkeit nach Abs. 4 während des Zeitraums der Rückwirkung eine nicht revisible Gerichtsentscheidung unter Anwendung der für verfassungswidrig erklärten Bestimmung ergangen, so kann die Wiederaufnahme des Verfahrens, in dem die Entscheidung erlassen wurde, be-

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antragt werden. Antragaberechtigt ist jede Partei; sie kann den Antrag innerhalb einer Frist von sechs Monaten seit Verkündung der Entscheidung des Sondergerichtshofs stellen. Im übrigen kommen die für das Prozeßgericht geltenden Verfahrensvorschriften zur Anwendung. Die Anwendung der für verfassungswidrig erklärten Bestimmung ist diesem nicht gestattet. (VI) Die während des gemäß Abs. 4 geltenden Zeitrawns der Rückwirkung auf der Grundlage des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes erlassenen Akte der Verwaltung werden obligatorisch binnen einer ausschließlichen Frist von sechs Monaten seit der Verkündung der die Verfassungs widrigkeit aussprechenden Entscheidung widerrufen."

ß. Französische Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen 1. Die Verfassung von 1958

Die Übersetzung der französischen Verfassung von 1958 stammt von A. Kimmei, in: A. Kimmel (Hrsg.) Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 3. Auflage, 1993, S. 98ff. Art. 2 Abs. 1 Satz 2 "Es (d. h. Frankreich) gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion". Art. 4 "Die politischen Parteien und Gruppen wirken bei den Wahlentscheidungen mit. Ihre Bildung und die Ausübung ihrer Tätigkeit sind frei. Sie haben die Grundsätze der Volkssouveränität und der Demokratie zu achten." Art. 5 Abs. 1 Satz 1 "Der Präsident der Republik wacht über die Einhaltung der Verfassung." Art. 12 Abs. 1 "Der Präsident der Republik kann nach Beratung mit dem Premierminister und den Präsidenten der Kammern die Auflösung der Nationalversammlung verfügen .... Art. 20 ,,(1) Die Regierung bestimmt und leitet die Politik der Nation. Sie verfügt über die Verwaltung und die Streitkräfte. (11) Sie ist gegenüber dem Parlament unter den in den Artikeln 49 u. 50 festgesetzten Bedingungen und nach dem dort festgelegten Verfahren verantwortlich." Art. 27 Abs. 3 "Das Organgesetz kann ausnahmsweise die Übertragung des Stimmrechts gestatten. In diesem Fall darf niemandem mehr als ein Mandat übertragen werden". Art. 29 ,,(1) Das Parlament tritt auf Verlangen des Premierministers oder der Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung zu einer außerordentlichen Sitzung mit fester Tagesordnung zusammen. (11) Findet die außerordentliche Sitzung auf Verlangen der Mitglieder der Nationalversammlung statt, so ergeht das Schließungsdekret sobald das Parlament die Tagesordnung, für die es einberufen wurde, erledigt hat, spätestens jedoch 12 13'

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Tage nach seinem Zusammentreten. (III) Nur der Premierminister kann vor Ablauf der Monatsfrist, die auf das Schließungsdekret folgt, eine neue Sitzung verlangen." Art. 30 "Ausgenommen in den Fällen, in denen das Parlament von Rechts wegen zusammentritt, werden die außerordentlichen Sitzungsperioden durch ein Dekret des Präsidenten der Republik eröffnet und geschlossen." Art. 31 "Die Mitglieder der Regierung haben Zutritt zu den beiden Kammern. Sie sind auf ihr Verlangen anzuhören. Sie können von den Regierungskommissaren begleitet werden." Art. 33 Abs. 2 (in der Übersetzung als Art. 33 Satz 3 Verf. v. 1958) ,,Jede Kammer kann auf Verlangen des Premierministers oder eines Zehntels ihrer Mitglieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagen." Art. 40 "Gesetzesvorschläge und Änderungsanträge von Mitgliedern des Parlaments sind unzulässig, wenn ihre Annahme eine Verringerung der öffentlichen Einnahmen oder die Begründung oder Erhöhung öffentlicher Ausgaben zur Folge hätte." Art. 41 ,,(1) Wenn sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens herausstellt, daß ein Gesetzesvorschlag oder ein Änderungsantrag nicht zum Bereich der Gesetzgebung gehört, oder einer gemäß Art. 38 erteilten Ermächtigung zuwiderläuft, so kann die Regierung sie als unzulässig zurückweisen. (11) Im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Regierung und dem Präsidenten der betreffenden Kammer entscheidet auf Verlangen einer der beiden Parteien innerhalb von 8 Tage der Verfassungsrat. " Art. 43 ,,(1) Die Gesetzesentwürfe und Gesetzesvorschläge werden auf Verlangen der Regierung oder der mit ihnen befaßten Kammer den eigens zu diesem Zweck geschaffenen Ausschüssen zur Prüfung überwiesen. (11) Die Gesetzesentwürfe und Gesetzesvorschläge, für die ein solches Verlangen nicht vorgebracht wurde, werden einem der ständigen Ausschüsse überwiesen, deren Zahl auf 6 in jeder Kammer begrenzt ist." Art. 44 ,,(1) Die Mitglieder des Parlaments und die Regierung sind berechtigt Änderungsanträge zu stellen. (11) Nach Eröffnung der Aussprache kann sich die Regierung der Erörterung jedes Änderungsantrages widersetzen, der nicht vorher dem Ausschuß vorgelegen hat. (III) Wenn die Regierung es verlangt, äußert sich die befaßte Kammer durch eine einzige Abstimmung über die gesamte zur Beratung stehende Vorlage oder einen Teil derselben, wobei sie nur die von der Regierung ausgehenden oder von ihr angenommenen Änderungsanträge berücksichtigt." Art. 45 Abs. 1 ,,Jeder Gesetzesentwurf oder Gesetzesvorschlag wird nacheinander in den beiden Kammern des Parlaments mit dem Ziel beraten, zur Annahme einer übereinstimmenden Fassung zu gelangen." Art. 46 ,,(1) Die Gesetze, denen die Verfassung den Charakter von Organgesetzen verleiht, werden unter folgenden Bedingungen beschlossen und geändert: (11) Der Gesetzesentwurf oder Gesetzesvorschlag wird der damit zuerst befaßten Kammer erst nach Ablauf einer Frist von 15 Tagen nach seinem Einbringen zur Beratung und Abstimmung vorgelegt. (III) Das Verfahren gemäß Art. 45 ist anwendbar. Bei fehlender Übereinstimmung zwischen den beiden Kammern kann jedoch die Vorlage in letzter Lesung von der Nationalversammlung nur mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder angenommen werden. (IV) Die den Senat betreffenden Organgesetze müssen von beiden Kammern in gleicher

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Fassung beschlossen werden. (V) Die Organgesetze können erst verkündet werden, nachdem der Verfassungsrat ihre Verfassungsmäßigkeit festgestellt hat." Art. 48 ,,(1) Die Tagesordnung der Kammern enthält vorrangig die Beratungen über die von der Regierung eingebrachten Gesetzesentwürfe und die von ihr akzeptierten Gesetzesvoschläge in der von der Regierung bestimmten Reihenfolge. (Il) Eine Sitzung wöchentlich ist vorrangig den Fragen der Mitglieder des Parlaments und den Antworten der Regierung vorbehalten." Art. 49 Abs. 1 "Auf Beschluß des Ministerrates stellt der Premierminister in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage über sein Regierungsprogramm oder gegebenfalls über eine Erklärung zur allgemeinen Politik." Art. 49 Abs. 4 "Der Premierminister hat das Recht, vom Senat die Zustimmung zu einer Regierungserklärung über die allgemeine Politik zu verlangen." Art. 56 ,,(1) Der Verfassungsrat besteht aus 9 Mitgliedern; ihr Amt ist ihnen für 9 Jahre übertragen und es kann nicht erneuert werden. Der Verfassungsrat wird alle drei Jahre zu je einem Drittel erneuert. Drei Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik ernannt, drei vom Präsidenten der Nationalversammlung und drei vom Präsidenten des Senats. (Il) Außer diesen 9 Mitgliedern gehören dem Verfassungsrat von Rechts wegen und auf Lebenszeit die ehemaligen Präsidenten der Republik an. (III) Der Präsident des Verfassungsrats wird vom Präsidenten der Republik ernannt. Seine Stimme gibt bei Stimmengleichheit den Ausschlag. Art. 57 "Das Amt eines Mitglieds des Verfassungsrats ist mit dem eines Ministers oder mit dem Mandat eines Mitglieds des Parlaments unvereinbar. Ein Organgesetz bestimmt die anderen Inkompatibilitäten. " Art. 58 ,,(1) Der Verfassungsrat wacht über die Ordnungsmäßigkeit der Wahl des Präsidenten der Republik. (Il) Er prüft die Beschwerden und gibt das Wahlergebnis bekannt" Art. 59 "Der Verfassungsrat entscheidet im Falle der Anfechtung über die Ordnungsmäßigkeit der Wahl der Abgeordneten und Senatoren." Art. 61 ,,(1) Die Organgesetze müssen vor ihrer Verkündung und die Geschäftsordnungen der parlamentarischen Kammern vor ihrer Anwendung dem Verfassungsrat vorgelegt werden, der über ihre Verfassungsmäßigkeit befindet. (Il) Zum gleichen Zweck können die Gesetze vor ihrer Verkündung dem Verfassungsrat vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten von einer der beiden Kammern oder von 60 Abgeordneten oder 60 Senatoren zugeleitet werden. (III) In den in den beiden vorangehenden Absätzen vorgesehenen Fällen muß der Verfassungsrat seine Entscheidung innerhalb eines Monats treffen. Auf Verlangen der Regierung wird jedoch diese Frist in dringenden Fällen auf 8 Tage verkürzt". Art. 62 ,,(1) Eine für verfassungswidrig erklärte Bestimmung kann nicht verkündet oder angewandt werden. (11) Gegen die Entscheidungen des Verfassungsrates gibt es kein Rechtsmittel. Sie binden die öffentliche Gewalt und alle Verwaltungsbehörden und Gerichte." Art. 63 "Ein Organgesetz regelt die Organisation und die Arbeitsweise des Verfassungsrats, das von ihm anzuwendende Verfahren und insbesondere die Fristen, innerhalb welcher er mit Anfechtungen befaßt werden kann."

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Art. 88-4 ,,Die Regierung leitet der Nationalversammlung und dem Senat unmittelbar nach deren Übermittlung an den Rat der Gemeinschaften die Vorlagen von Gemeinschaftsregelungen zu, die Bestimmungen mit Gesetzescharakter enthalten.

Während oder außerhalb der Sitzungsperioden können Beschlüsse im Rahmen dieses Artikels nach den Bestimmungen der Geschäftsordnungen beider Kammern gefaßt werden." Art. 90 Abs. 1 ,,Die ordentliche Sitzungsperiode des Parlaments wird unterbrochen. Das Mandat der Mitglieder der amtierenden Nationalversammlung erlischt mit dem Tag des Zusammentretens der kraft dieser Verfassung gewählten Versammlung." Art. 91 Abs. 1 "Die Institutionen der Republik, wie sie in dieser Verfassung vorgesehen sind, werden innerhalb von 4 Monaten nach deren Verkündung geschaffen." Art. 91 Abs. 7 "Die dem Verfassungsrat durch die Art. 58 und 59 der Verfassung verliehenen Befugnisse werden bis zur Bildung dieses Rates von einem Ausschuß ausgeübt, der aus dem Vizepräsidenten des Staatsrates als Vorsitzendem, dem ersten Präsidenten des Kassationshofes und dem ersten Präsidenten des Rechnungshofes besteht". Art. 92 Abs. 1 ,,Die gesetzlichen Maßnahmen, welche für die Bildung der Institutionen und bis zu dieser Bildung für die Tätigkeit der öffentlichen Gewalt erforderlich sind, werden vom Ministerrat nach Stellungnahme des Staatsrates durch gesetzesvertretende Verordnungen mit Gesetzeskraft getroffen."

2. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789

Die deutsche Übersetzung stammt von Kimmei, in: Kimmel (Hrsg.) Die Verfassungen der EG-Mitgliedstaaten, 3. Auflage, 1993, S. 117ff. Art. 6 Satz 3 ,,Es (d. h. das Gesetz) soll für alle gleich sein, mag es beschützen oder bestrafen."

3. Die Ordonnanz Nr. 58-1067 vom 7. November 1958

Der Text der Ordonnanz findet sich bei Du-.:~rger, Constitutions et documents politiques, 10. Auflage, 1986, S. 368ff; die deutsche Ubersetzung stammt vom Verfasser. Art. 14 "Die Entscheidungen und die Stellungnahmen des Verfassungsrates werden von mindestens sieben Räten gefällt, ausgenommen im Falle von höherer Gewalt, der im Sitzungsprotokoll gebührend zu vermerken ist".

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Art. 17 ,,(1) Die vom Parlament beschlossenen Organgesetze werden durch den Premienninister dem Verfassungsrat vorgelegt. Erforderlichenalls weist das Vorlageschreiben auf die Dringlichkeit hin. (11) Die von der einen oder der anderen Kammer beschlossenen Geschäftsordnungen und die Änderungen der Geschäftsordnungen sind durch den Präsidenten jeder Kammer dem Verfassungsrat vorzulegen." Art. 19 "Die Beurteilung der Verfassungsmässigkeit wird anhand des Berichts eines Mitgliedes des Verfassungsrates innerhalb der in Art. 61 Abs. 3 der Verfassung vorgesehenen Fristen durchgeführt". Art. 20 "Die Erklärung des Verfassungsrates muß begründet sein. Sie wird im Staatsanzeiger veröffentlicht". Art. 22 "Wenn der Verfassungsrat erklärt, daß ein ihm vorgelegtes Gesetz eine verfassungswidrige und vom Gesamttext des Gesetzes untrennbare Bestimmung enthält, dann kann das Gesetz nicht verkündet werden." Art. 23 Abs. 2 "Wenn der Verfassungsrat erklärt, daß die ihm vorgelegte parlamentarische Geschäftsordnung eine verfassungswidrige Bestimmung enthält, dann kann diese Bestimmung von der sie beschlossen habenden Kammer nicht angewandt werden."

m.

Deutsche Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen

1. Das Grundgesetz für die BundesrepubUk Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBI. I S. 1) (BGBI. m 100-1)

Art. 2 Abs. 1 ,,Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Art. 19 Abs. 4 "Wtrd jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt." Art. 20 ,,(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (11) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (ill) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden." Art. 21 Abs. 1 Satz 1 "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit."

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Art. 38 Abs. 1 Satz 2 "Sie (d. h. die Abgeordneten des Deutschen Bundestages) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen." Art. 39 Abs. I Satz 1 "Der Bundestag wird auf vier Jahre gewählt." Art. 40 Abs. 1 "Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung." Art. 42 Absätze 1 und 2 ,,(1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden. Über den Antrag wird in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. (11) Zu einem Beschluß des Bundestages ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage wahrzunehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen zulassen. Art. 43 ,,(1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. (11) Die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden." Art. 50 "Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union mit." Art. 51 Abs. 1 "Der Bundesrat besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, die sie bestellen und abberufen. Sie können durch andere Mitglieder ihrer Regierungen vertreten werden." Art. 51 Abs. 3 ,,Jedes Land kann so viele Mitglieder entsenden, wie es Stimmen hat. Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich und nur durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter abgegeben werden." Art. 52 Abs. 3 "Der Bundesrat faßt seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. Er verhandelt öffentlich. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen werden." Art. 53 "Die Mitglieder der Bundesregierung haben das Recht und auf Verlangen die Pflicht, an den Verhandlungen des Bundesrates und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie müssen jederzeit gehört werden. Der Bundesrat ist von der Bundesregierung über die Führung der Geschäfte auf dem laufenden zu halten." Art. 65 Satz 4 "Der Bundeskanzler leitet ihre (d. h. die Bundesregierung) Geschäfte nach einer von der Bundesregierung beschlossenen und vom Bundespräsidenten genehmigten Geschäftsordnung." Art. 76 Abs. 1 "Gesetzesvorlagen werden beim Bundestage durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht."

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Art. 77 Abs. 1 "Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen. Sie sind nach ihrer Annahme durch den Präsidenten des Bundestages unverzüglich dem Bundesrate zuzuleiten." Art. 77 Abs. 2 Satz 2 "Die Zusammensetzung und das Verfahren dieses Ausschusses regelt eine Geschäftsordnung, die vom Bundestag beschlossen wird und der Zustimmung des Bundesrates bedarf." Art. 78 "Ein vom Bundestage beschlossenes Gesetz kommt zustande, wenn der Bundesrat zustimmt, den Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 nicht stellt, innerhalb der Frist des Artikels 77 Abs. 3 keinen Einspruch einlegt oder ihn zurücknimmt oder wenn der Einspruch vom Bundestage überstimmt wird." Art. 79 Abs. 3 ,,Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundSätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln I und 20, niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Art. 82 Abs. 1 Satz 1 "Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzesblatte verkündet." Art. 92 "Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt". Art. 93 Abs. I Nr. 1 "Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorganes mit eigenen Rechten ausgestattet sind ;" Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 "Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrechte auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages." Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a "Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33,38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein". Art. 93 Abs. 2 "Das Bundesverfassungsgericht wird ferner in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen tätig." Art. 94 Abs. 2 "Ein Bundesgesetz regelt seine Verfassung und das Verfahren und bestimmt, in welchen Fällen seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben. Es kann für Verfassungsbeschwerden die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges zur Voraussetzung machen und ein besonderes Annahmeverfahren vorsehen."

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Art. 95 Abs. 3 ,,zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist ein Gemeinsamer Senat der in Absatz 1 genannten Gerichte zu bilden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz." Art. 97 Abs. 1 "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen". Art. 100 Abs. 1 "Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit dem Bundesgesetze handelt." Art. 103 Abs. 2 ,,Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde."

2. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBI. I S. 1473) (BGBI. m 1104-1)

§ 1 Abs. 1 ,,Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes." § 13 Nr. 5 ,,Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in den vom Grundgesetz bestimmten Fällen, und zwar über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind". § 23 Abs. 1 "Anträge, die das Verfahren einleiten, sind schriftlich beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Sie sind zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben." § 31 ,,(1) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (11) In den Fällen des § 13 Nr. 6, 11, 12 und 14 hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft. Das gilt auch in den Fällen des § 13 Nr. 8 a, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt. Soweit ein Gesetz als mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig erklärt wird, ist die Entscheidungsformel durch das Bundesministerium der Justiz im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen. Entsprechendes gilt für die Entscheidungsformel in den Fällen des § 13 Nr. 12 und 14". § 32 Abs. 1 "Das Bundesverfassungsgericht kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur

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Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten wird." § 35 "Das Bundesvetfassungsgericht kann in seiner Entscheidung bestimmen, wer sie vollstreckt; es kann auch im Einzelfall die Art und Weise der Vollstreckung regeln." § 63 "Antragsteller und Antragsgegner können nur sein: der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe." § 64 ,,(I) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, daß er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. (11) Im Antrag ist die Bestimmung des Grundgesetzes zu bezeichnen, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstoßen wird. (III) Der Antrag muß binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden. (IV)Soweit die Frist bei Inkrafttreten dieses Gesetzes verstrichen ist, kann der Antrag noch binnen drei Monaten nach Inkrafttreten gestellt werden." § 65 Abs. 1 "Dem Antragsteller und dem Antragsgegner können in jeder Lage des Vetfahrens andere in § 63 genannte Antragsberechtigte beitreten, wenn die Entscheidung auch für die Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten von Bedeutung ist." § 67 "Das Bundesvetfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Die Bestimmung ist zu bezeichnen. Das Bundesvetfassungsgericht kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt". § 76 "Der Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Drittels der Mitglieder des Bundestages gemäß Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes ist nur zulässig, wenn einer der Antragsberechtigten Bundes- oder Landesrecht 1. wegen seiner förmlichen oder sachlichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht für nichtig hält oder 2. für gültig hält, nachdem ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes das Recht als unvereinbar mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht nicht angewendet hat." § 78 "Kommt das Bundesvetfassungsgericht zu der Überzeugung, daß Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig. Sind weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar, so kann sie das Bundesvetfassungsgericht gleichfalls für nichtig erklären." § 79 Abs. 1 "Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nach § 78 für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung

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einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt worden ist, ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung zulässig."

§ 80 Abs. 2 "Die Begründung muß angeben, inwiefern von der Gültigkeit der Rechtsvorschrift die Entscheidung des Gerichts abhängig ist und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar ist. Die Akten sind beizufügen." § 82 Abs. 1 "Die Vorschriften der §§ 77 bis 79 gelten entsprechend". § 90 Abs. 2 "Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtweg verwiesen würde." § 93 Abs. 3 ,,Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz oder gegen einen sonstigen Hoheitsakt, gegen den ein Rechtsweg nicht offensteht, so kann die Verfassungsbeschwerde nur binnen eines Jahres seit dem Inkrafttreten des Gesetzes oder dem Erlaß des Hoheitsaktes erhoben werden." § 93 a ,,(1) Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung. (11) Sie ist zur Entscheidung anzunehmen, a) soweit ihr grundSätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, b) wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht." § 93 b "Die Kammer kann die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen oder die Verfassungsbeschwerde im Falle des § 93 c zur Entscheidung annehmen. Im übrigen entscheidet der Senat über die Annahme." § 93 c ,,(1) Liegen die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 Buchstabe b vor und ist die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, kann die Kammer der Verfassungsbeschwerde stattgeben, wenn sie offensichtlich begründet ist. Der Beschluß steht einer Entscheidung des Senats gleich. Eine Entscheidung, die mit der Wirkung des § 31 Abs. 2 ausspricht, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar oder nichtig ist, bleibt dem Senat vorbehalten. (11) Auf das Verfahren finden § 94 Abs. 2 und 3 und § 95 Abs. 1 und 2 Anwendung." § 93 d Abs. 1 "Die Entscheidung nach § 93 b und § 93 c ergeht ohne mündliche Verhandlung. Sie ist unanfechtbar. Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung."

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