Georg Simmel kompakt [1. Aufl.] 9783839407011

Das Werk von Georg Simmel zählt unbestritten zum klassischen Kanon der Soziologie. Insbesondere in den BA- und MA-Module

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Georg Simmel kompakt [1. Aufl.]
 9783839407011

Table of contents :
Inhalt
Einleitung und Überblick
1. Biographie und Kontext
2. Simmels Werke
2.1 »Über sociale Diff erenzierung«
2.1.1 Was ist der Gegenstand der Soziologie?
2.1.2 Ursachen für Diff erenzierungsprozesse
2.1.3 Diff erenzierung und Individualisierung
2.2 »Die Probleme der Geschichtsphilosophie«
Exkurs: Die Wirklichkeit der Moral
2.3 Die »Philosophie des Geldes«
2.3.1 Wert als gesellschaftliches Verhältnis
2.3.2 Die Wechselwirkung zwischen Geldwirtschaft und Lebensstil
2.4 »Die Großstädte und das Geistesleben«
2.5 Die »Soziologie«
2.5.1 Methodische Aspekte in der »Soziologie«
2.5.2 Formen der Vergesellschaftung
Exkurs: Die Religionssoziologie
2.6 »Rodin« und »Michelangelo«: Simmels Konzeption der Moderne
2.7 Kulturanalyse
2.7.1 »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«
2.7.2 »Der Konfl ikt der modernen Kultur«
2.8 Die »kleine« Soziologie: »Grundfragen der Soziologie«
2.9 Lebensphilosophie: Der Begriff des Lebens
3. Das thematische Zentrum von Simmels Werk: Individualität und Individualisierung
3.1 Historische Ursachen von Individualisierung: Diff erenzierung
3.2 Lebensstile und Geldwirtschaft: Die »Philosophie des Geldes«
3.3 Die Paradoxie der modernen Individualität: Die »Soziologie«
3.4 Individualisierung als Entäußerung und Entfremdung
3.5 Kulturelle Formen der Selbstbeschreibung von Individualität
3.6 Selbstbestimmte Individualisierung – das »individuelle Gesetz«
4. Die Zusammenhänge zwischen den Konzepten
5. Simmel im Vergleich mit Weber und Durkheim
6. Simmel heute
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Literatur
1. Quellenarchiv zu Georg Simmel
2. Primärliteratur
3. Sekundärliteratur zu Simmel
4. Weitere zitierte Literatur
Personenindex
Sachindex

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Matthias Junge Georg Simmel kompakt

Band 1

2009-09-21 13-32-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ea221433511286|(S.

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Editorial Die Reihe transcript Klassiker präsentiert kompakte Einführungen in das Werk bedeutender Denker. Der interdisziplinäre Zugang macht diese Edition nach und nach zu einer umfassenden Bibliothek der wichtigsten klassischen und aktuellen Denkansätze im weiten Spektrum der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften. Die didaktische Rahmung sorgt dafür, dass die Bände sich als nützliches Hilfsmittel in Studium und Lehre eignen und einen schnellen, aber profunden ersten Überblick über ein bedeutendes wissenschaftliches Gesamtwerk ermöglichen. Die Einführungen sind sowohl in Bachelor- wie auch in Master-Studiengängen einsetzbar.

Matthias Junge (Prof. Dr.) lehrt Soziologische Theorien und Theoriegeschichte an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Soziologische Theorie und Metaphernforschung.

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Matthias Junge

Georg Simmel kompakt

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Inhalt

Einleitung und Überblick ..................................................................... 7

1.

Biographie und Kontext ............................................................. 9

Simmels Werke ........................................................................... 13 »Über sociale Differenzierung« ................................................. 13 2.1.1 Was ist der Gegenstand der Soziologie? ............................. 13 2.1.2 Ursachen für Differenzierungsprozesse ........................... 15 2.1.3 Differenzierung und Individualisierung .......................... 18 2.2 »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« ............................. 21 Exkurs: Die Wirklichkeit der Moral ....................................................... 23 2.3 Die »Philosophie des Geldes« ..................................................... 28 2.3.1 Wert als gesellschaftliches Verhältnis ............................... 29 2.3.2 Die Wechselwirkung zwischen Geldwirtschaft und Lebensstil .......................................... 32 2.4 »Die Großstädte und das Geistesleben« .................................... 35 2.5 Die »Soziologie« ........................................................................... 39 2.5.1 Methodische Aspekte in der »Soziologie« ......................... 39 2.5.2 Formen der Vergesellschaftung ........................................ 45 Exkurs: Die Religionssoziologie ............................................................. 48 2.6 »Rodin« und »Michelangelo«: Simmels Konzeption der Moderne ............................................ 52 2.7 Kulturanalyse ............................................................................... 54 2.7.1 »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« ....................... 54 2.7.2 »Der Konflikt der modernen Kultur« ............................... 59 2.8 Die »kleine« Soziologie: »Grundfragen der Soziologie« .......... 59 2.9 Lebensphilosophie: Der Begriff des Lebens .............................. 62 2. 2.1

3.

Das thematische Zentrum von Simmels Werk: Individualität und Individualisierung ....................................... 65 3.1 Historische Ursachen von Individualisierung: Differenzierung ........................................................................... 68 3.2 Lebensstile und Geldwirtschaft: Die »Philosophie des Geldes« ..................................................... 69 3.3 Die Paradoxie der modernen Individualität: Die »Soziologie« ........................................................................... 71 3.4 Individualisierung als Entäußerung und Entfremdung ........................................................................ 72 3.5 Kulturelle Formen der Selbstbeschreibung von Individualität ......................................................................... 73 3.6 Selbstbestimmte Individualisierung – das »individuelle Gesetz« ............................................................ 75 4.

Die Zusammenhänge zwischen den Konzepten ................... 79

5.

Simmel im Vergleich mit Weber und Durkheim .................... 83

6.

Simmel heute .............................................................................. 89

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ............................................... 95 Literatur ................................................................................................ 97 1. Quellenarchiv zu Georg Simmel ..................................................... 97 2. Primärliteratur ................................................................................. 98 3. Sekundärliteratur zu Simmel ........................................................ 100 4. Weitere zitierte Literatur ............................................................... 102 Personenindex ................................................................................... 105 Sachindex ........................................................................................... 107

Einleitung und Überblick

Diese Einführung in das Werk von Georg Simmel wird nach einer kurzen Darstellung der Biographie und des wissenschaftlichen Umfeldes (1.) die wichtigsten Werke Simmels vorstellen (2.), sodann deren inneren Zusammenhang einerseits als thematische Konzentration auf die Frage nach dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft (3.) und andererseits als Werkeinheit interpretieren (4.), um abschließend seine Soziologie mit der von Max Weber und Émile Durkheim zu vergleichen (5.) und seine heutige Bedeutung zu skizzieren (6.). Den Ausgangspunkt der Werksentwicklung von Simmel bildet die von ihm früh aufgegriffene Differenzierungstheorie, d.h. eine Theorie über die Herausbildung auf jeweils eine Aufgabe spezialisierter Funktionszusammenhänge. Sie verfolgt zwei Ziele: Einerseits will sie die Möglichkeiten der Erforschung gesellschaftlichen Wandels sichern, andererseits sucht sie das Grundproblem seiner Soziologie – das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – durch eine differenzierungstheoretische Beschreibung von Individualität aufzugreifen. Im Zuge dieser Überlegungen treten mehr und mehr erkenntnistheoretische Fragen in den Vordergrund. Sind es anfänglich Probleme der Geschichtsphilosophie – beispielsweise: Lassen sich historische Gesetze formulieren? – so rücken unmittelbar darauf die erkenntnistheoretischen Möglichkeiten und Grenzen der Soziologie, exemplarisch vorgeführt in seiner empirisch-soziologischen Kritik an der Moraltheorie in Form seines Entwurfs zu einer Moralwissenschaft, in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Nach dem Abschluss der Arbeiten an der Moralwissenschaft widmet sich Simmel intensiv der Entwicklung der Soziologie, die bereits 1894 in seinem Programmaufsatz »Das Problem der Sociologie« einen ersten Ausdruck findet. Bedeutsam sind vor allem die Überlegungen

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zur Konzeption der Wechselwirkung. Diese geben ihm in inhaltlicher und methodischer Hinsicht einen Ansatz, um anhand exemplarischer Studien zu erproben, welche Erkenntnischancen die Soziologie verspricht. So wird bereits 1900 in der »Philosophie des Geldes« die Wechselwirkung, die wechselseitige Beeinflussung, zwischen geldwirtschaftlichem Tauschverkehr moderner Gesellschaften und dem Lebensstil der modernen Individuen untersucht. Die »Soziologie« schließlich fundiert einerseits das Konzept der Form der Wechselwirkung als Gegenstand der Soziologie weiter, andererseits wird es in methodischer Hinsicht konkretisiert und durch eine Fülle empirischer Beispiele die Fruchtbarkeit der Formenanalyse demonstriert. Zwar eröffnet das Konzept der Wechselwirkung einen Zugang zur Erforschung von Formen der Vergesellschaftung in der Moderne, exemplarisch vor allem in der »Philosophie des Geldes« ausgeführt, so treten zugleich jedoch Grenzen des soziologischen Forschungsprogramms hervor. Lässt sich Individualität auch als Form der Vergesellschaftung differenzierungstheoretisch fassen, so gerät doch etwas Simmel Interessierendes dabei aus dem Blickfeld: das ganze Individuum, vor allem sein inneres Erleben. Diese Einsicht führt Simmel zu einer neuerlichen Aufnahme der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Sie mündet zuletzt in der angeeigneten Lebensphilosophie, der Entwicklung einer Philosophischen Soziologie und den Thesen zum »individuellen Gesetz« in einen Versuch, die Grenzen einer differenzierungstheoretischen Auffassung von Individualität vom Rande der Soziologie her zu überschreiten. Denn das Erleben der Individuen lässt sich im Rahmen einer auf dem Handlungsbegriff auf bauenden Soziologie nicht umfassend thematisieren. Simmels Soziologie kreist beständig um eine überschaubare Anzahl von wichtigen Konzepten – Differenzierung, Moderne sowie Individualität und Individualisierung als substantielle Themen; Wechselwirkungen, die Formen der Vergesellschaftung und die soziologischen Apriori als methodische Instrumente –, die in der Analyse vielfältiger Themen zur Anwendung kommen. Nicht zuletzt wegen der thematischen Vielfalt und eines häufig essayistischen Stils von Simmel stellt sich die Frage, ob das Werk Simmels eine Einheit aufweist oder eine Sammlung von Fragmenten ist. Eine Antwort auf diese Frage verlangt ein über die reine Darstellung von Simmels Arbeiten hinausgehendes Interpretationsangebot des inneren Zusammenhangs zwischen den breit streuenden Themen und ist deshalb eine unverzichtbare Heuristik für ein umfassendes Verständnis von Simmels Soziologie. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Simmel eine zugleich systematische und zeitdiagnostische Soziologie der Moderne entfaltet hat.

1. Biographie und Kontext

Georg Simmel wurde am 1. März 1858 in Berlin als jüngstes von sieben Geschwistern geboren. Die Familie ist jüdischer Herkunft, jedoch trat Simmels Vater schon in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zum Katholizismus, seine Mutter zum Protestantismus über. Georg Simmel selbst wurde evangelisch getauft, trat aber nach dem 1. Weltkrieg aus der Kirche aus. Der Vater gründete in Berlin 1838 die Süßwarenfi rma Felix & Sarotti, die aber wegen finanzieller Schwierigkeiten schon vor der Geburt von Georg Simmel nicht mehr im Besitz der Familie war, so dass sie seitdem in beengten Verhältnissen lebte. Nach dem Tod des Vaters im Jahre 1874 wurde Julius Friedländer, ein Freund der Familie, zum Vormund Simmels bestellt. Simmel erbte später das aus dem Musikgeschäft stammende Vermögen seines Vormunds. Dadurch war es ihm möglich, seine akademische Lauf bahn finanzieren zu können, weil es ihm lange Zeit verwehrt war, eine Professur zu erlangen. Simmel studierte seit dem Sommersemester 1876 an der FriedrichWilhelm-Universität Berlin Geschichte, Völkerpsychologie und Philosophie mit den Nebenfächern Kunstgeschichte und Altitalienisch. Von seinen Lehrern sind insbesondere der Völkerpsychologe Moritz Lazarus (1824-1903), der Geisteswissenschaftler Wilhelm Dilthey (1833-1911), die Historiker Theodor Mommsen (1817-1903) und Gustav Droysen (1808-1884) sowie der Philosoph Eduard Zeller (1814-1908) zu erwähnen. Prägend waren für Simmel vor allem die ihm durch seine Studien vermittelten Einsichten und Perspektiven der Völkerpsychologie, die Entwicklung der Geisteswissenschaften, der Sozialdarwinismus und der Historismus. Die Völkerpsychologie widmete sich der Erforschung der kulturellen Bedingungen von Religion, Sprache, Kunst

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und Tradition und kann als eine frühe Form der Sozialpsychologie angesehen werden. Die von Dilthey im Gegensatz zur Naturwissenschaft entworfene Konzeption der Geisteswissenschaft betrachtet das Sinnverstehen als einzigen Zugang zum Nachvollzug des Sinns von Handlungen und fordert demgemäß für die Geisteswissenschaften einen eigenen Forschungsbereich und die Entwicklung einer eigenen Methode – der Hermeneutik – im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Erklärung. Der Historismus ergänzt diese Perspektiven, indem er postuliert, dass alle historischen Erscheinungen durch ihre Zeitabhängigkeit als je einmalige Phänomene zu begreifen seien, weshalb keine allgemeinen Theorien und Gesetzesaussagen für das Geschichtliche – vor allem Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Geschichte – möglich seien. Schließlich bildet der Sozialdarwinismus – durch die Vermittlung von Herbert Spencer (1820-1903) – mit seiner Konzeption des »survival of the fittest« ein erstes Modell, um die Entwicklung von Gesellschaften als evolutionäre Abfolge verschiedener Entwicklungsstufen zu verstehen. Simmel versucht 1881 an der philosophischen Fakultät mit einer musikethnologischen Arbeit zu promovieren. Diese Arbeit wird von der zuständigen Promotionskommission abgelehnt und stattdessen eine ältere preisgekrönte Schrift aus dem Vorjahr über Kants Materiebegriff als Promotion herangezogen. Bereits 1883 reicht Simmel dann eine Schrift über Kants Lehre von der Idealität von Raum und Zeit als Habilitationsschrift ein und wird habilitiert. Er nimmt jedoch erst nach dem Sommersemester 1885 seine Lehrtätigkeit auf, weil er in der ersten Runde der obligatorischen Probevorlesung Eduard Zeller auf damals unangemessene Weise widersprach. Ab 1887 beginnt Simmel mit der Behandlung soziologischer Problemstellungen. So liegt bereits 1890 Simmels soziologischer Erstling »Über sociale Differenzierung« vor. Ihm folgen in dichter Abfolge weitere soziologische Arbeiten, die ihm viel Anerkennung in Deutschland wie auch im amerikanischen Ausland zuteilwerden lassen. Nach der Arbeit über soziale Differenzierung bringt Simmel vor allem seine »Einleitung in die Moralwissenschaft« von 1892/93 weitere Anerkennung. 1889 bezieht Simmel erstmals eine eigene Wohnung und heiratet unmittelbar danach die Malerin Gertrud Kinel (1864-1938), Tochter eines Eisenbahningenieurs und geheimen Oberregierungs- und Baurats, mit der er einen Sohn Hans (geboren 1891-1943) hat. Simmels Frau hat später unter dem Pseudonym Marie Luise Enckendorff mehrere Bücher veröffentlicht, u.a. über Frauenfragen. Sie war in ähnlicher Weise an der damaligen Frauenfrage interessiert wie Marianne Weber

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(1870-1954), die Frau von Max Weber (1864-1920). Neben intensiven wissenschaftlichen Kontakten zu namhaften Kollegen wie Max Weber und Heinrich Rickert (1863-1936) steht er auch in Beziehung zu zeitgenössischen Künstlern wie Rainer Maria Rilke (1875-1926), August Rodin (1840-1917) und Stefan George (1868-1933). Seit 1889 hatte sich Simmel vergebens um Professuren beworben. Nach 17-jähriger erfolgreicher Privatdozentur in Berlin wird er 1901 Extraordinarius in Berlin, allerdings ohne Bezüge. Das zwingt ihn weiterhin dazu, von den geerbten Vermögenswerten zu leben bzw. durch die Tantiemen seiner besonders einträglichen Bücher über Kant, Goethe und Rembrandt sein Auskommen zu finden. Simmel erhielt in Deutschland keinen Ruf, obwohl sich Max Weber in Heidelberg intensiv darum bemühte, ihn dort auf eine Professur berufen zu können (vgl. zur Biographie insgesamt Gassen/Landmann [Hg.] 1958). Simmels Berufungen auf eine Professur scheiterten immer wieder an Widerständen gegen seine Person und vor allem gegen die von ihm vertretene Soziologie. Trotz Extraordinariat in Berlin dauerte es bis zum Jahre 1913, bevor er einen Ruf an die Universität Straßburg erhielt, wo er ab 1914 als ordentlicher Professor während der Kriegsjahre bis zu seinem Tod am 28. September 1918 lehrte.

2. Simmels Werke

2.1 »Über sociale Dif ferenzierung« Georg Simmel entfaltete bereits 1890 in seinem Erstlingswerk »Über sociale Differenzierung« die Grundlinien seines soziologischen Programms. Die Arbeit beginnt als erkenntnistheoretische Studie, um die Frage zu beantworten: Auf welcher Grundlage kann die Gesellschaft und ihre Entwicklung wissenschaftlich beobachtet und analysiert werden? Im Zuge der Beantwortung dieser – heute würde man sagen methodologischen – Frage entfaltet er die Grundzüge seiner Soziologie. Diese nimmt vom Prozess der Differenzierung und seinen Konsequenzen für die Beschreibung des Individuums ihren Ausgang.

2.1.1 Was ist der Gegenstand der Soziologie? Was verstand Simmel zu diesem Zeitpunkt unter Soziologie? Er geht davon aus, dass die Soziologie sich nicht durch ein eigenes Forschungsgebiet, sondern im Gegensatz hierzu durch eine eigene Methodik auszeichnet. Soziologie wird verstanden als »Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz« (Simmel 1890: 116). Sie bedient sich des von anderen Wissenschaften bereitgestellten Materials und durchdringt es aus einer soziologischen Perspektive neu. Sie bietet also »nur einen Standpunkt für die Betrachtung bekannter Thatsachen« (1890: 116). Soziologie erscheint in diesem Sinne als eine Metawissenschaft, die sich auf die Gegenstände anderer Wissenschaften bezieht und sie unter anderen Gesichtspunkten neu interpretiert. Dieses Verständnis der Soziologie unterscheidet sich deutlich von der alternativen Konzeption von Émile Durkheim (1858-1917), der Gesellschaft als Gegenstand der Soziologie begreift, weil diese aus eigenem Recht, sui generis, existiert. Demge-

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genüber sucht Simmel eine frühe Festlegung der Soziologie auf einen bestimmten Gegenstand zu vermeiden. Vielmehr solle man sich »mit einer nur ungefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen« (1890: 117), weil die Entwicklung abschließender Definitionen und Feststellungen erst am Ende der Entfaltung der soziologischen Programmatik stehen könne. Was bedeutet Soziologie als Metawissenschaft in der Anwendung soziologischen Denkens? Beispielsweise ist das Einkaufen Gegenstand unterschiedlicher Wissenschaften. Die Psychologie interessiert etwa am Einkaufen die Lust-Unlust-Bilanz einkaufender Individuen oder der innerpsychische Umgang mit beständigem Modewechsel. Die Ökonomie würde demgegenüber den Transaktionsvorgang entweder durch die Rekonstruktion individueller Kosten-Nutzen-Kalküle zu verstehen suchen oder den ausgehandelten Preis für ein Gut über die Bestimmung von Angebot und Nachfrage erklären. Die Soziologie im Sinne Simmels würde diese Ergebnisse aufgreifen und fragen: Wie beeinflussen die Wechselwirkungen zwischen Käufer und Verkäufer die Kaufentscheidung, die Lust-Unlust-Bilanz beim Einkaufen, den Endpreis eines Gutes usw.? Aus dieser Aufgabenbeschreibung der Soziologie ergibt sich Simmels Vorstellung zum Begriff der Gesellschaft. Denn wenn die Soziologie nur als Wissenschaft zweiter Potenz auf das Material anderer Wissenschaften zugreift, dann ist es naheliegend, dass der Gesellschaftsbegriff bei Simmel keine Kennzeichnung des Gebiets der Soziologie darstellt. Vielmehr ist der Begriff der Gesellschaft gedacht a) als Summenbegriff aller Wechselwirkungen und b) als ein Gegenbegriff zum Begriff des Individuums. Summenbegriff ist Gesellschaft, weil er nur als zusammenfassendes Kürzel für die Vielzahl von Vergesellschaftungsprozessen und die daraus hervorgehenden Formen der Vergesellschaftung dient. Denn jeder »gesellschaftliche Vorgang […] ist die Erscheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen Teilvorgänge.« (1890: 124) Als Gegenbegriff zum Individuum fungiert er, weil das Individuum den unzähligen Formen der Vergesellschaftung gegenüber steht und diese in ihrem Zusammenhang – Gesellschaft – als Einheit gedeutet werden: »Der Begriff der Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in irgend einem Gegensatz gegen die bloße Summe der Einzelnen steht.« (1890: 126) Von hier aus richtet Simmel sein Augenmerk sowohl auf eine Kritik des Individualismus wie auch auf eine Kritik des Gesellschaftsbegriffs. Denn er kann zeigen, dass weder das Individuum noch die Gesellschaft als eine letzte Einheit angesehen werden können, die einer weiteren Zergliederung nicht zugänglich ist (vgl. 1890: 126). Vielmehr

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sind sowohl das Individuum wie auch die Gesellschaft analytisch zerlegbar und deshalb nur als vorgestellte Einheit zu begreifen. Sein Ansatzpunkt für die Kritik der Begriffe des Individuums und der Gesellschaft ist die Anerkennung der Vielheit innerhalb eines als Einheit verstandenen Phänomens. £ Lektüre: Quelle 14 So erfährt sich beispielsweise ein Individuum zumeist subjektiv als eine einheitliche Person, der es gelingt, Kontinuität und Konstanz seiner Individualität herzustellen. Aber diese Einheitlichkeit setzt eine Leistung des Individuums voraus: ƒdass es seine unterschiedlichen Rollen – also unterschiedliche Elemente seiner Individualität – so miteinander verbinden kann, dass sie als zusammengehörende Elemente erscheinen. So ist eine berufstätige Mutter, die auch Mitglied im Karnevalsverein ist, zumeist in zeitlicher Abfolge einmal in der Rolle der Berufstätigen, ein anderes Mal in der Rolle als Mutter gegenüber ihren Kindern und wiederum bei einer anderen Gelegenheit in der Rolle als Vereinsmitglied. Gerade durch diese Vielfalt von Bestimmungselementen ihrer Individualität entsteht nicht nur eine einzigartige Kombination von Elementen, sondern es wird auch deutlich, dass hinter dem Eindruck der Einheit vielzählige Einzelelemente verborgen sind. Trotz dieser unhintergehbaren Vielheit gibt es Tendenzen, die eine Perspektive auf die Einheit des Individuums wie auch die Einheit der Gesellschaft erlauben. Damit ist das zentrale Postulat von Simmels Soziologie angesprochen: Die Vereinheitlichung der Vielfältigkeit wird durch die »Wechselwirkung der Teile« (1890: 129) realisiert. Wechselwirkung bedeutet vereinfacht gesprochen, dass alles mit allem zusammenhängt oder, dass alles alles beeinflusst. Wechselwirkung meint, dass soziale Elemente aufeinander einwirken und gleichzeitig ihre Einwirkungen Rückwirkungen erzeugen, die das einwirkende Element seinerseits verändern. Wechselwirkungen führen Getrenntes dadurch zusammen, dass sie Beziehungen zwischen Getrenntem herstellen. So entsteht aus Differentem Einheit. Diese bildet den Gegenstand der Soziologie.

2.1.2 Ur sachen für Dif ferenzierungsprozesse Welche Bedeutung hat soziale Differenzierung nun für Simmels soziologisches Programm? Die Fragestellung des Werks über soziale Differenzierung lässt sich verstehen als Frage nach der Entwicklung von Gesellschaften als Ganzem. Alle Gesellschaften unterliegen Entwicklungsprozessen. Diese sind über kurze Zeiträume schlecht festzustellen, jedoch über lange historische Perioden betrachtet, lassen sich evolutionäre Entwicklungen von Gesellschaften beobachten. Die

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Idee evolutionärer Entwicklungen greift Analogien zur biologischen Entwicklungslehre auf und versteht Gesellschaft in einem ersten Zugriff als einen entwicklungsfähigen Organismus. Simmel setzt hier an, um den Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung als Differenzierungsprozess rekonstruieren zu können. Differenzierung wird in Analogie zur Entwicklung eines Organismus betrachtet, d.h., Differenzierung besteht in der Ausbildung zusätzlicher Funktionen innerhalb eines Organismus. »Das entwickeltere Wesen unterscheidet sich von dem niedrigeren so, daß es zunächst die gleichen Funktionen wie dieses, außerdem aber noch andere auszuüben imstande ist.« (1890: 258) Diese Ausdifferenzierung zusätzlicher Funktionen geht mit einer Einsparung von Energie für die Funktionserfüllung einher. Dadurch wiederum werden Energien, Simmel spricht von Kraft, frei, um weitere zusätzliche Funktionen ausbilden zu können und so insgesamt den Organismus immer »vollkommener« (1890: 258) auszubilden und zu gestalten. Er postuliert: »Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Organismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Tendenz zu Kraftersparnis.« (1890: 258) Kraftersparnis wird durch eine innere Differenzierung von Organismen im Sinne funktionaler Spezialisierung einzelner Organe erreicht. Denn durch Spezialisierung wird die Kraft, die Energie, die einem Organismus zur Verfügung steht, gezielter eingesetzt, was zuletzt zu einer sparsameren Energieverwendung führt. Kraftersparnis sichert Entwicklungsmöglichkeiten. Welche Prinzipien liegen der Kraftersparnis zu Grunde? »Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweckthätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht: die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination der Mittel.« (1890: 258) Reibungsverluste im Umgang mit der Energie treten vor allem dann auf, wenn viele dasselbe tun wollen und deshalb um die zur Verfügung stehende Energie konkurrieren und somit mittelbar unnötige Reibung – etwa Verteilungskonflikte um knappe Ressourcen für die Aufgabenbewältigung – erzeugen. Umwege sind eine Folge mangelnder Spezialisierung, weil diese immer auch Vereinfachung von detaillierteren Arbeitstätigkeiten oder Funktionen bedeutet und dadurch die Zielerreichung direkter wird. Und überflüssige Koordination wird im Zuge voranschreitender Differenzierung vermieden, weil die Form der Koordination allgemeinen Regeln unterworfen wird, die nicht immer neu ausgearbeitet werden müssen. Das Prinzip der Kraftersparnis wird zwar in Analogie zum von Herbert Spencer entlehnten Konzept des Sozialdarwinismus gewonnen, es weist jedoch nicht dessen liberalistische Konnotationen auf.

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Denn es geht nicht mehr um das »survival of the fittest«, sondern nur noch um die Rekonstruktion von Bedingungen faktisch erfolgreicher Differenzierungsprozesse, ohne die Annahmen einer beständig nur in eine Richtung weisenden evolutionären Logik. Denn Simmel kennt auch Hindernisse für die Entfaltung des Prinzips der Kraftersparnis: gesellschaftliche Entdifferenzierungs- und Rückdifferenzierungsprozesse. Deutlich formuliert er gegen die optimistische Annahme des Sozialdarwinismus, dass Differenzierungsprozesse auch derart übersteigert werden können, dass zuletzt eine Rückbildung von Differenzierung erfolgt (vgl. 1890: 271). Mit allen drei Prinzipien kann die Kraftersparnis als treibendes Moment für Differenzierungsprozesse herausgearbeitet und sich von dort aus den Wirkungen von Differenzierungsprozessen auf das soziale Zusammenleben zugewendet werden. Eine erste Folge von Differenzierungsprozessen besteht in einer zunehmenden Versittlichung sozialer Verhältnisse, was vor allem heißt, dass Persönlichkeiten – also Individuen – im Falle einer sittlichen Verfehlung nicht mehr als Ganze be- und verurteilt werden, sondern nur im Hinblick auf die Besonderheit ihrer Tat in einem bestimmten Bereich gesellschaftlicher Konventionen. Differenzierung führt zu einer Versittlichung, weil das moralische Urteil spezifisch auf Teile der Persönlichkeit, auf die Einhaltung bestimmter Erwartungen, Normen und Konventionen zielt, aber nicht mehr auf das Ganze einer Person wie noch in gering differenzierten Gesellschaften. Versittlichung meint für Simmel Spezifizierung und Konkretisierung der Gesichtspunkte einer sittlichen Beurteilung. So werden zwar Straftäter im Verhältnis zu ihrer Straftat verurteilt, aber nach dem Verbüßen der Strafe gelten sie als rehabilitiert, also wieder als Mitglieder der sittlichen Gemeinschaft. Ebenso differenzieren wir, wenn ein Mensch lügt oder stiehlt, aus welchen Gründen dies getan wurde und machen davon abhängig, wie wir mit ihm umgehen, ohne aber den Übeltäter als Person schlechthin zu verurteilen oder für immer aus der sittlichen Gemeinschaft auszuschließen. Neben der Versittlichung ist noch eine zweite Folge von Differenzierungsprozessen bemerkenswert: Die Verfolgung egoistischer Ziele verlangt den Umweg über Zwischenziele, die der sozialen Gruppe zu Gute kommen. Die Verfolgung eigener Interessen stärkt mittelbar die Gruppe. »Die Folge von alledem ist, daß zum Erreichen des eigentlichen egoistischen Zieles wir in größeren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen, die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie auch schließlich die unseren fördern.« (1890: 165) Diese Folge ist,

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so wie sie Simmel skizziert, eine schwächere Fassung des Prinzips des ökonomischen Liberalismus, wie es bereits Bernard Mandeville (1670-1733) in »Die Bienenfabel« im Untertitel zum Ausdruck brachte: »Private Laster als gesellschaftliche Vorteile«.

2.1.3 Dif ferenzierung und Individualisierung Neben dieser eher sozial-psychologischen Konsequenz auf einer ethischen Reflexionsebene zeigen sich die Wirkungen von Differenzierungsprozessen vor allem als Individualisierungsprozesse, d.h. als Prozesse der stärkeren Herausbildung von Differenzierungsmöglichkeiten zwischen Individuen. Mit Differenzierungsprozessen beginnt das Individuum seine Zugehörigkeit zu Gruppen als wesentliches Bestimmungsmerkmal für seine Individualität zu erkennen. Simmel diskutiert am Beispiel zweier Gruppen, die in sich relativ homogen sind, dass zuerst die Unterschiede zwischen den Gruppen groß sind und im Laufe der Differenzierung die Gruppen einander ähnlicher werden, während die Mitglieder der jeweiligen Gruppen einander immer unähnlicher werden, weil sie sich durch Spezialisierung und wechselseitige Konkurrenz immer weiter individualisieren (vgl. 1890: 169). £ Lektüre: Quelle 13 Die Ausbildung von Individualität durch Spezialisierung und Konkurrenz im Zuge von Differenzierungsprozessen befördert nun einerseits die Freiheit zur Ausbildung von Individualität, lockert andererseits zugleich aber auch die sozialen Bindungen. Diese Entwicklung wird nicht nur durch die evolutionäre Vorteilhaftigkeit des Prinzips der Kraftersparnis vorangetrieben, sondern sie wird auf sozialer Ebene auch unterstützt durch die »Natur des Menschen«, die Simmel in Form einer anthropologischen Annahme einführt: Der Mensch ist ein Unterschiedswesen. Simmel betont, dass der Mensch eine natürliche Neigung hat, sich von anderen unterscheiden zu wollen. »Die Differenzierung gegen andere Wesen ist es, was unserer Thätigkeit großenteils herausfordert und bestimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung unter ihnen einnehmen wollen.« (1890: 200) Der Mensch als ein Unterschiedswesen strebt aber nicht nur nach Unterscheidungen, sondern er sucht auch durch Nachahmung Entlastung von der beständigen Arbeit des Unterscheidens. In diesem gleichzeitigen Streben nach Unterscheidung und der Suche nach Entlastung vom Unterscheiden kommt die Grundstruktur sozialer Wechselwirkung deutlich zum Ausdruck: Das soziale Leben stellt sich als Wechselwirkung zwischen zwei Polen dar. £ Lektüre: Quelle 15

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Individualisierung ist nicht mit Atomisierung oder Vereinzelung verbunden. Vielmehr verhalten sich in Simmels Sichtweise Individualisierung und Verallgemeinerungsprozesse, d.h. Prozesse der Erfahrung von Ähnlichkeit, zueinander reziprok. Individualisierungsprozesse können voranschreiten, ohne dass das Niveau der Einsicht in gesellschaftliche Verbundenheit schwinden muss. Es gibt also ein »Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgemeinerung« (1890: 194). So nimmt etwa mit zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung von Rollenerwartungen gegenüber Einzelnen einerseits ihre Individualität – verstanden als jeweils besondere Kombination von Rollen – zu. Andererseits jedoch erfahren sich die individualisierten Individuen in ihrer Individualisierung als Gleiche, weil der Prozess der Individualisierung eine allen gemeinsame Erfahrung darstellt. Mit dieser Annahme hebt Simmel den üblichen Gegensatz von Besonderung durch Individualisierung und sozialer Verbundenheit auf. »Wenn statt der Geltung von Amts- und Standestracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner, insofern jene noch etwas Auszeichnendes hat, eine engere, besonders charakterisierte Gruppe zusammenschließt.« (1890: 194) Hier wird darauf hingewiesen, dass gerade die Zunahme individueller Unterschiede die Einsicht in die Gleichheit aller Menschen fördert und deshalb Individualisierung zugleich eine beständige Erinnerung an die Gleichheit der Menschen erzeugt. Diese Überlegung Simmels weist Ähnlichkeiten mit Durkheims Idee vom »Kult des Individuums« auf, in der ebenfalls die konstitutive Gleichheit aller Menschen zum Ausdruck kommt. Die zunehmende Anzahl differenzierter Gruppen führt nun dazu, dass die Beschreibung des Individuums in seiner Individualität auf eine neue Basis gestellt wird, die Simmel als Kreuzung sozialer Kreise bezeichnet. Damit wird Individualität differenzierungstheoretisch, d.h. aus der Perspektive von Differenzierungsprozessen beschrieben. Die Gruppenzugehörigkeiten des Einzelnen werden als ein Koordinatensystem aufgefasst, in dem das Individuum seinen sozialen Ort bestimmt. Die Gruppen erscheinen als Bestimmungsmerkmale für die Individualität, weil die je spezifische Kombination von Gruppenzugehörigkeiten ein Individuum in seiner Individualität eindeutig beschreiben können. »Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt.« (1890: 240) Der hiermit angesprochene Effekt lässt sich rekonstruieren, wenn man das von Simmel herangezogene Beispiel verwendet.

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Er skizziert die Individualität des modernen Menschen, indem er ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen erfasst. So gehört man zunächst einer Herkunftsfamilie an, dann derjenigen Familie, die man selber gründet, sodann gehört man natürlich der Gruppe seines Berufs an, ebenso noch anderen Gruppen, wie Sportvereine, dem Verband der Reserveoffiziere und anderen Gruppierungen. Die Folge all dieser Zugehörigkeiten ist, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass verschiedene Personen über dieselbe Kombination von Gruppenzugehörigkeiten verfügen. Und selbst wenn dies im Einzelfalle noch passieren sollte, so ist auch die innere Differenzierung der Gruppen groß genug, um dort weitere unterscheidende Bestimmungsmerkmale hervorzuheben, die eine eindeutige Beschreibung eines Individuums ermöglichen. Die Kreuzung sozialer Kreise bezeichnet – in heutiger Terminologie – die Erzeugung von Individualität durch unterschiedliche Rollen, die ein Individuum inne hat. Diese Entwicklung verdichtet sich für Simmel in der Bildung des so genannten »öffentlichen Geistes« (1890: 244), in dem sich das Reziprozitätsverhältnisses von Individualisierung und Verallgemeinerung abbildet. Denn »einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Befriedigung derselben erleichtert, seinen Thätigkeiten je einer als zweckmäßig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppenangehörigkeit darbietet; andererseits wird das Spezifische der Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt, die in jedem Falle eine andere sein kann.« (1890: 244) Die Idee des öffentlichen Geistes geht also davon aus, dass jedes Individuum einen besonderen Platz in der Sozialstruktur vorfindet und diesen einnehmen kann. Differenzierungsprozesse führen dazu, dass das gesellschaftliche Leben immer ausdifferenzierter wird und zuletzt die Gesellschaft aus einer Vielzahl differenter Gruppen und individualisierter Individuen besteht, ohne dass dies den Vergesellschaftungsprozess bedroht. Insgesamt zeigen Simmels Überlegungen über soziale Differenzierung, welche Möglichkeiten der soziologischen Rekonstruktion des Zusammenhangs von Individualisierung und Differenzierung bestehen, indem er auf die Analogie zwischen Gesellschaft und Organismus im Hinblick auf Entwicklungsprozesse gesellschaftlicher Verhältnisse zurückgreift.

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2.2 »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« Die Betrachtung langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, wie etwa soziale Differenzierung, führt Simmel direkt in die Auseinandersetzung mit Fragen der Geschichtsphilosophie hinein. Denn die Geschichte als Material und Gegenstand soziologischen Denkens wirft besondere Probleme in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf. Es stellt sich mit großer Dringlichkeit das Problem: Wie kann die Geschichte im Hinblick auf ihre Regelmäßigkeiten oder gar Gesetzmäßigkeiten erforscht werden? Bezogen auf die Geschichte verdichtet sich dies zu zwei Fragen. Erstens, welche Voraussetzungen müssen gemacht werden, um geschichtliche Erkenntnis zu ermöglichen? Zweitens, welche Reichweite hat geschichtliche Erkenntnis? Die erste Frage will wissen, welche Annahmen gegeben sein müssen, um geschichtliche Prozesse rekonstruieren zu können. Mit der zweiten Frage wird eine Antwort darauf gesucht, ob im Hinblick auf die Geschichte von geschichtlichen Gesetzen im strengen Sinne des Wortes gesprochen werden kann. Dies sind die beiden Hauptprobleme von Simmels 1892 geführten Auseinandersetzung über »Die Probleme der Geschichtsphilosophie«. Wenn man Geschichte begreifen will, so ist nach Simmel davon auszugehen, dass Geschichte, wie Gesellschaft auch, keine von den Individuen abgelöste Entität ist. Vielmehr muss Geschichte als eine Abstraktion, als ein Vorstellungskomplex begriffen werden, der durch die denkende Zuwendung des Menschen auf historische Prozesse erst erzeugt wird. Welche Annahme muss getroffen werden, damit man von Geschichte sprechen kann? Um das Konzept Geschichte sinnvoll anwenden zu können, muss allen Vorgängen unterstellt werden, dass sie von Menschen intendiert wurden. Vorauszusetzen ist für die Möglichkeit einer geschichtlich orientierten Wissenschaft also ein psychologisches Apriori. Dieses beruht auf Folgendem: Im »Verkehr der Menschen untereinander muß jeder in jedem Augenblick das Vorhandensein geistiger Vorgänge an Anderen voraussetzen, die er unmittelbar nicht konstatieren kann, ohne die aber die Handlungen dieser Anderen als eine sinn- und zusammenhangslose Zusammenwürflung sprunghafter Impulse erscheinen müßten« (1892: 307). Das psychologische Apriori erlaubt es, geschichtlichen Ereignissen Sinn zu geben, weil sie mit den Intentionen, die hinter den Handlungen von Individuen vermutet werden, in Verbindung gebracht werden können. Entscheidend ist hierbei, dass zwar das psychologische Apriori die Verbindung von Handlung und Sinnhaftigkeit vermutet, nicht jedoch zwingend rekonstruieren kann, sondern nur die Annahme triff t, dass bestimmte

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Interpretationen bestimmte Intentionen wiedergeben, ohne dass diese Interpretation und die Intention deckungsgleich sein müssen. Wenn bereits die Erkenntnis des Geschichtlichen mit der Annahme eines psychologischen Apriori verbunden ist, so stellt sich anschließend die Frage: Wie können historische Gesetze formuliert werden? Simmels Antwort auf diese Frage ist eindeutig. Es gibt keine historischen Gesetze. Denn Gesetze können nur der Verbindung zwischen einfachen Elementen genügen, die Geschichte ist jedoch an Komplexität so reich, dass sich keine Gesetze auffinden lassen. Dies ist eine erkenntnistheoretische These, die nichts darüber aussagt, welche historischen Kräfte geschichtliche Bewegung verursachen. Vielmehr benennt sie ein Erkenntnishindernis, die Komplexität der geschichtlichen Abläufe, um zu zeigen, dass es im strengen Begriffssinn des Gesetzes keine historischen Gesetze geben kann. £ Lektüre: Quelle 19 »Von einem eigentlichen Gesetz des Geschehens kann nun erst da gesprochen werden, wo die Wirkungen dieser letzten Elemente festgestellt sind. Denn es folgt zwar selbstredend, daß, wenn einmal B aus A hervorgegangen ist, es auch bei absolut identischer Wiederholung von A immer wieder aus ihm hervorgehen muß, und insofern könnte man sagen, es sei ein Gesetz das A die Ursache von B sei; wobei unter A die Gesamtheit aller bis an die Schwelle von B führenden und es beeinflussenden Umstände verstanden wird, nicht nur jener übliche abgeschwächte Begriff Ursache, den nur den positiven und direkten Anstoß zu B, aber nicht die unzähligen daneben und dazwischen gelagerten Bedingungen enthält, durch die hin er verläuft und deren Selbstverständlichkeit ihre doch auch positive Unentbehrlichkeit zu verdecken pflegt.« (1892: 340) Simmel verwendet in seiner Auseinandersetzung um die Frage nach der Möglichkeit historischer Gesetze einen sehr strengen naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff, dessen Uneinlösbarkeit augenscheinlich ist. Kurz: Historische Gesetze genügen nicht den Anforderungen eines naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffs. Trotzdem gibt es historische Gesetze in einem schwächeren Sinn des Begriffs. Historische Gesetze, die keinen naturwissenschaftlichen Gesetzescharakter haben, können als eine vorläufige Orientierung über Erscheinungen angesehen werden, die, wenn sie weiterer Differenzierung der Erkenntnisse zugänglich werden, möglicherweise zur teilweisen Einsicht in die realen Kräfte der geschichtlichen Prozesse führen können. Historische Gesetze in diesem Sinne verwenden Allgemeinbegriffe, ohne die Allgemeinheit als Notwendigkeit zu rekonstruieren. Vielmehr sind historische Gesetze Deutungen unter Verwendung von Allgemeinbegriffen, die eine bezüglich der Ursachen historischen Geschehens plausible Erzählung der Ereignisse darstellen.

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Simmel spricht von einer Unterscheidung zwischen »erzählender und Gesetzeswissenschaft« (1892: 346f.), um den Unterschied zwischen einem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff und der Vorstellung konstruierter, heuristisch gemeinter historischer Gesetzesaussagen zu verdeutlichen. Die historische Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse besteht in der Erzählung plausibler Geschichten auf der Basis des psychologischen Apriori, die den geschichtlichen Ablauf einsichtig machen. Historische Gesetze sind also nützlich als »orientierende abstrakte Zusammenfassungen der Erscheinungen« (1892: 378). Simmel verdeutlicht insgesamt, dass Geschichte als Wissenschaft möglich ist, wenn man sich von einem naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff entfernt und die Eigenständigkeit sozialer und geschichtlicher Fragestellungen durch eine Rekonstruktion ihrer erkenntnistheoretischen Prinzipien einsichtig macht. Mit seinen Erörterungen zum Gesetzesbegriff greift Simmel ein Moment der Kritik etwa an der Soziologie von Auguste Comte (1798-1857) auf. Diese ging von der Möglichkeit der wissenschaftlichen Einsicht in soziale Regelmäßigkeiten aus und postulierte ein Fortschrittsmodell gesellschaftlicher Entwicklung. Wenn jedoch historische Gesetze nur im Sinne »heuristischer«, »deutender« und die Interpretation anleitender Aussagen möglich sind, dann sind Aussagen über geschichtliche Verläufe und Voraussagen über die gesellschaftliche Entwicklung nur als »überschießende«, als das sachlich gerechtfertigte überschreitende Aussagen möglich und folglich jedes Fortschrittsmodell gesellschaftlicher Entwicklung nur eine orientierende Hypothese.

E xkur s: Die Wirklichkeit der Moral 1892 erscheint der erste und 1893 der zweite Band der »Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe«. Jede Ethik sucht zu beschreiben, was von den Individuen moralisch gefordert werden kann und muss, was moralisch geboten ist, ebenso, was sittlich verboten oder zu unterlassen ist. Ethiken leisten also eine normativ intendierte philosophische Abarbeitung der Probleme des Sollens. Das Werk, an dem Simmel spätestens seit 1886 gearbeitet hat (vgl. Köhnke 1996), zielt auf eine Kritik der Ethik als einer Theorie des Sollens menschlicher Handlungen. Die Ethik hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts Hochkonjunktur in der wissenschaftlichen Diskussion. In kurzen Zeitabständen erschienen Einführungen in die Ethik wie auch neue Konzeptionen

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des Ethischen. Der Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten dient die »Einleitung in die Moralwissenschaft«. Bereits der Titel signalisiert, dass Moralwissenschaft sich vom philosophischen und normativen Vorgehen abheben möchte. Moralwissenschaft ist das Gegenteil von Ethik und strebt danach, sie als eine Theorie des Moralischen zu ersetzen oder zumindest kritisch unter die Lupe nehmen zu können. Simmel unternimmt eine Kritik dieser Ethiken, indem er nachzuweisen sucht, dass sich Ethisches, soziologisch betrachtet, aber genauso rechtlich, psychologisch oder geschichtlich, anders darstellt, als dies in der philosophischen Ethik unterstellt wird. £ Lektüre: Quelle 5 Simmel kontrastiert zu diesem Zweck Ethiken als normative Systeme mit dem, was die Beschreibung der Wirklichkeit aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften zur Tatsächlichkeit sittlichen Verhaltens zeigt. Sein Kontrastprogramm ist also, so würde man heute sagen, eine Dekonstruktion der Ethik, oder, wie damals formuliert wurde, eine Kritik ethischer Grundbegriffe aus einer wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektive. Diese Kritik stellt den Modellen einer normativen Ethik eine deskriptive, das Tatsächliche betonende, Moralwissenschaft entgegen. So zielen seine Überlegungen darauf, dass »die deskriptive Ethik durchaus zu betonen hat, daß die thatsächliche Entwicklung viel eher auf den steigenden Konflikt der Pflichten als auf deren Vereinheitlichung Anweisung giebt« (1892/93 II: 386) und demnach Ethiken der Wirklichkeit nicht genügen. Dieses Kontrastprogramm wird von Simmel durchgeführt, indem er verschiedenen ethischen Systemen, vom Utilitarismus bis hin zum kategorischen Imperativ, nachzuweisen sucht, dass sie auf Prämissen beruhen, die der Realität von Vergesellschaftungszusammenhängen unangemessen sind. Denn ihre Prämissen sind ihm hypothetische Annahmen ohne angemessene Wirklichkeitskontrolle. Die von Simmel in kritischer Absicht durchgeführten Überlegungen laufen auf zwei Argumente hinaus. Erstens bauen alle Ethiken darauf auf, dass es eine Differenz von Sittlichkeit und Sollen gibt, sich sittliches Verhalten in der Realisierung des Gesollten manifestiert. Demgegenüber sucht Simmel nachzuweisen, dass Sittlichkeit und Sollen begrifflich nicht zu trennen sind, da Sittlichkeit und Sollen zusammenfallen, weil das Gesollte sich im Sittlichen schon immer realisiert hat. Zweitens versucht Simmel zu zeigen, dass die gewählten Begrifflichkeiten der Ethiken der Vielfältigkeit

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menschlicher Impulse wie auch der widersprüchlichen und gegensätzlichen Erwartungen, die an das Individuum aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen herangetragen werden, nicht gerecht werden. Vor allem der ethische Monismus, wie er insbesondere von Immanuel Kant (1724-1804) vertreten wurde, ist hier das Ziel seiner Kritik. Simmel formuliert eine frühe Kritik an einer Prinzipienethik, weil sie der Vielfältigkeit ethischer Erwartungen an eine bestimmte Situation und ethischer Forderungen an ein Individuum nicht gerecht wird. In der Kritik der Moraltheorie richtet sich sein Augenmerk auf den kategorischen Imperativ von Kant, weil dort zwei Elemente miteinander verbunden werden, die auseinander zu halten seien: »die imperativische Form, den Anspruch des Sollens einerseits, und die Allgemeinheit, die Gültigkeit für Jedermann andererseits« (Simmel 1892/93 II: 34). Demgegenüber zielt eine Deskription des Moralischen, die zurecht als Moralwissenschaft bezeichnet wird, weil sie den spekulativen Hintergrund philosophischer Ethiktheorien hinter sich lässt, auf die psychologischen, historischen und sozialen Erfahrungen, die wissenschaftlicher Beobachtung zugänglich sind. In diesem Sinne hält die Einleitung zum zweiten Band der Moralwissenschaft fest: »Die Diskussion der wesentlichen ethischen Grundbegriffe sollte nur erweisen, dass jeder derselben eine Sammlung der mannigfaltigsten, oft entgegengesetzten Tendenzen und Denkmotive darstellt, ja oft nur scheinbar irgend einen Inhalt hat, thatsächlich aber eine bloße Worthülle ist, mit der Jeder den von ihm besonders geschätzten bzw. perphorreszierten Inhalt bekleidet.« (1892/93 II: 9) Wenn derart die Ethik aus der Perspektive einer deskriptiven Moralwissenschaft kritisiert wird, so markiert Simmel hier einen Gegensatz zu einem zweiten Versuch der Entwicklung einer Moralwissenschaft, wie er insbesondere von Émile Durkheim vorgelegt wurde (vgl. Durkheim 1991). Denn dieser zielte in seiner Entwicklung einer moralwissenschaftlichen Theorie in der »Physik der Sitten und des Rechts« zuletzt auf eine Moralpolitik »auf sozialwissenschaftlicher Grundlage« (Müller 1991: 333). Er verfehlte jedoch das Ziel einer Moralwissenschaft, weil er soziale und moralische Tatsachen konzeptionell nicht hinreichend trennen konnte. Deshalb mündete am Ende der Versuch zu einer Soziologie der Moral in eine Ethik ein und hat damit zu einer folgenschweren Vermischung von Soziologie und Moraltheorie beigetragen, die sich in einer bis heute nicht geleisteten Entwicklung einer Moralsoziologie niederschlägt.

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Das Scheitern Durkheims am Programm einer Moralsoziologie vermeidet Simmel von Anfang an, weil er von einer Nichtzurückführbarkeit des Sollens auf andere Erscheinungen ausgeht und eine unhintergehbare Dreiheit von Sein, Vorstellen und Sollen postuliert. Mit dieser Unterscheidung kann er nicht in Versuchung geraten, das Sollen aus dem Sein ableiten zu wollen (vgl. 1892/93 I: 25). Die Idee einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Sein, Vorstellung und Sollen verhindert die Vermischung analytisch zu unterscheidender Bereiche und begrifflicher Konzeptionen, die bei Durkheim zur Identifizierung von sozialen und moralischen Tatsachen und damit zur Vermengung der Ansprüche einer Moralsoziologie mit denen einer Moraltheorie führt. In diesem Sinne ist Simmels »Einleitung in die Moralwissenschaft« Webers Differenzierung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik (vgl. 1919) näher als Durkheims Forderung nach einem universalen Moralgesetz. Vielmehr ist Simmel skeptisch gegenüber jeder normativen Überhöhung von Moralprinzipien, weil diese der Vielfältigkeit der Anforderungen an die Anwendung moralischer Prinzipien nicht gerecht werden können. An Simmels Kritik der Moraltheorien aus einer empirisch informierten soziologischen Sicht können zwei Elemente (das dritte – die Konzentration auf Wechselwirkungen – findet sich prägnant in der »Soziologie«) seines Verständnisses der Soziologie als einer Erfahrungswissenschaft gut erkannt werden: Die Beachtung der Differenz zwischen Sein und Sollen und die Enthaltung von Werturteilen. Die gesamte Kritik der Moraltheorien basiert auf der Annahme, dass aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Verstößt man gegen diese Annahme, so kann dies in den Augen Simmels nur zu normativen Theorien der Moral führen. Diese können aber den empirischen Gegebenheiten der sozialen Realität nicht gerecht werden, weil sie ihnen aus einer Sphäre »jenseits« der Vergesellschaftungswirklichkeit entgegen träten und ihr quasi normative »Vorschriften« unterlegen würden. Aus der empirisch soziologischen Perspektive ist demgegenüber auf die Erfahrung gesellschaftlichen Lebens zu rekurrieren und von diesem Primat aus die Normativität philosophischer Ethiken zu kritisieren. In diesem Zusammenhang ergibt sich das zweite Merkmal: die Enthaltung von Werturteilen. Simmel erkennt zwar die Bedeutung von Wertbeziehungen, Ideen darüber, was einem Individuum der Beachtung (und dem Wissenschaftler nach Max Weber [vgl. 1904] der

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Erforschung) wert erscheint, an, aber seine Kritik ethischer Theorien stellt ihren Wert als philosophische Ethiken auch nicht in Frage. Vielmehr sind seine Einwände empirisch fundiert. Sie verlassen den Boden der Soziologie als Erfahrungswissenschaft nicht. Vielmehr verweisen die Überlegungen beständig auf die Diskrepanz zwischen sozialer Realität und normativer Forderung, ohne die Bedeutung normativer Vorstellungen für die Orientierung in der Realität in Abrede zu stellen. Normative und bewertende Fragen behält Simmel der Philosophischen Soziologie vor. Sie gehört jedoch nicht mehr in das »eigentliche« Gebiet der Soziologie, sondern überschreitet deren erfahrungswissenschaftliche Grundlage, weil sie mit spekulativen Interpretationen dem Ganzen der Erfahrungen in metaphysischer Absicht eine Deutung verleihen will. In der Moraltheorie des 19. Jahrhunderts wurde noch davon ausgegangen, dass das Sein und Sollen nicht als getrennte Bereiche zu betrachten sind. In der Gegenwart ist uns bekannt, dass aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Andererseits wissen wir aber, und das ist die Tradition Durkheims, dass die soziale Realität eine normativ regulierte Realität ist, weil Normen über Sanktionen die Einhaltung einer sozialen Ordnung erzwingen. Normatives und Faktisches gehen in dieser soziologischen Tradition sehr eng zusammen und führen sehr häufig dazu, dass bei der Frage, welche Bedeutung Moral in sozialen Zusammenhängen hat, Normativität und Faktizität durcheinander gehen. Simmel kritisiert dieses Paradigma, indem er im Prinzip an allen Moraltheorien zeigen kann, dass sie Normatives und Faktisches in einer Weise vermengen, die den Blick auf die Faktizität des Moralischen verstellt, weil Werturteile und Sachurteile miteinander verquickt werden und demgemäß eine wissenschaftliche Beschreibung moralischer Phänomene nicht möglich ist. Simmels Differenzierung zwischen Sein und Sollen und die Annahme der Werturteilsfreiheit ermöglicht ihm eine durchschlagende Kritik an der Normativität der Moraltheorie und etabliert ein erstes eigenständiges Paradigma einer Moralwissenschaft in soziologischer Absicht. Dieses Paradigma unterscheidet sich deutlich von dem bei Durkheim entwickelten Paradigma einer Moralpolitik, weil dieses in der Beschreibung von Moral nicht zur Trennung von Normativem und Faktischem in der Lage ist. Kurz: Die Kritik am Paradigma der Moraltheorie beruht auf der entschiedenen Trennung von Normativität und Faktizität. Diese Kritik richtet sich bei Simmel sowohl gegen die Forderungen des kategorischen Imperativs wie auch gegen den Utilitarismus.

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Beiden Moralprinzipien wirft er vor, dass sie ihre Forderungen unter Absehung der Wirklichkeit moralischen Lebens formulieren. Gegen die utilitaristische Maxime der »Vermehrung der Glückssumme« aller wird vor allem der Einwand vorgebracht, dass diese Maxime entgegen der üblichen Vorstellungen, die das »allgemeine Bewusstsein fordert« (1892: 316), keine Aussage über die Verteilung des Glücks unter den Menschen trifft und damit die Realität moralischer Vorstellungen der Menschen verfehlt. Denn weder sagt der Utilitarismus etwas über die Gleichheit der Verteilung des Glücks, noch sagt er etwas über akzeptable Ungleichverteilungen des Glücks. Diese beiden Aussagen sind jedoch im faktisch gegebenen moralischen Bewusstsein, dem »allgemeinen Bewusstsein«, von entscheidender Bedeutung für moralische Fragestellungen. Dem kategorischen Imperativ wird mit einer ähnlichen Argumentation entgegengesetzt, dass dieser die Komplexität und Vielschichtigkeit moralischer Konfliktsituation unterschätzt, weil er keine Konflikte zwischen moralischen Pflichten in einer Entscheidungssituation berücksichtigt. Simmels allgemeiner Einwand gegen normative Moraltheorien ist also, dass diese die Komplexität der Wirklichkeit moralischer Entscheidungssituation und des moralischen Bewusstseins der Handelnden nicht berücksichtigen.

2.3 Die »Philosophie des Geldes« Die 1900 veröffentlichte »Philosophie des Geldes« ist der Versuch herauszuarbeiten, was die besonderen Merkmale des sozialen Lebens um die Jahrhundertwende sind. Dieses Buch ist in seinem Status bis heute umstritten. Es ist nicht sicher, ob es eine soziologische Zeitdiagnose ist oder eine Philosophie der Zeit oder aber ob der Titel nur der Versuch ist, Anschluss an die Philosophie zu fi nden, wie es aus karrierepolitischen Gründen für Simmel wohl angebracht schien, weil seine Chancen für eine Berufung auf einen Lehrstuhl für Soziologie von Jahr zu Jahr geringer wurden. Unabhängig von dieser ungeklärten Frage kann man jedoch festhalten, dass die »Philosophie des Geldes« eine zeitdiagnostisch orientierte Arbeit ist, die auf die Rekonstruktion der Lebensformen um die Jahrhundertwende in der Form einer Studie zur Kultur von Mittel und Zweck zielt (vgl. Lichtblau 1986). Die Frage, die im Mittelpunkt der Arbeit steht, ist: Wie wirken sich auf Geldverkehr basierende gesellschaftliche Formen auf die Lebensstile der Individuen aus?

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2.3.1 Wer t als gesellschaf tliches Verhältnis Bei der Suche nach einer Antwort geht Simmel von einer anthropologischen Annahme aus, die das Wesen des Menschen auszeichnet und zugleich die zeitdiagnostischen Interpretationen der »Philosophie des Geldes« anleitet. Der Mensch ist nicht nur ein nach Differenzen strebendes Wesen, ein Unterschiedswesen. Sondern der Mensch ist zudem auch ein begehrendes Wesen. Das Begehren, d.h. der Wunsch, etwas zu wollen, etwas zu haben oder etwas in einer bestimmten Form zu gestalten, ist »die Möglichkeit der Gegenstände des Begehrens. Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht – heißt uns ein Wert.« (1900: 34) Mit diesen Sätzen wird die anthropologische Grundlage einer Werttheorie geschaffen, welche die weiteren Ausführungen trägt. Denn der Wunsch, etwas zu haben, lässt sich auch als der Wert begreifen, den das Erstrebte hat und dieser Wert hängt von der Stärke oder Größe des Begehrens ab. Je größer das Begehren, umso größer der Wert. Und Wert seinerseits ist ein Abstandsmaß. Je größer der Wert, umso weiter ist die Entfernung bis zur Realisierung des Begehrens. Je größer das Begehren, umso größer der Abstand und umso größer der dem Begehrten zugemessene Wert. £ Lektüre: Quelle 17 Als erläuterndes Beispiel sei der Bau oder Kauf eines Hauses herangezogen. Der Besitz eines Hauses wird als eine Form der Alterssicherung angesehen, zudem gilt landläufig, dass ein eigenes Heim die Lebensqualität steigert. Beide Faktoren sind uns sehr wertvoll. Entsprechend aufwendig ist denn auch die Vorbereitung zum Bau oder Erwerb eines Hauses. Schon früh sollten Bausparverträge geschlossen, größere Geldbeträge für den notwendigen Eigenanteil einer Finanzierung angespart, nach Möglichkeit Lebensversicherungen zur Absicherung der Darlehen aufgebaut werden u.v.a.m. An dieser Vorbereitung erweist sich, dass die Größe des Wertes (eines Hauses) als Entfernung bis zur Realisierung (vom Bausparvertrag bis zur Lebensversicherung) des Wertes (des Hauses) aufgefasst werden kann. Der Wert wird zu einem gesellschaftlichen Verhältnis, zu einem Grundmerkmal der Vergesellschaftung, in dem Moment, wo zwei Werte in Tauschprozessen aufeinander bezogen werden. Sie müssen aufeinander bezogen werden, weil nur der Tausch von Wertvollem zur Befriedigung des je subjektiven Begehrens führen kann. Daraus ergibt sich: »Es verschlingen sich also zwei Wertbildungen ineinander, es muß ein Wert eingesetzt werden, um einen Wert zu gewinnen. Da-

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durch verläuft die Erscheinung so, als ob die Dinge sich ihren Wert gegenseitig bestimmten.« (1900: 52) Durch die Wertsetzung wird zugleich eine sachliche Verhältnisbestimmung von Werten durch Tauschprozesse in Gang gesetzt, die dazu führt, dass in den Tauschprozessen die Werte gerade nicht mehr als das Begehrte erscheinen, sondern nur noch als Mittel zu Zwecken zur Erreichung von Werten. D.h., der Prozess zur Erreichung von Werten im Vergesellschaftungsprozess wird ein eigenständiger Prozess. Er tritt den Zielen und Anliegen der individuellen Vergesellschaftungsinteressen gegenüber. Der Tauschprozess entfernt den Wertbildungsprozess vom individuellen Begehren und lässt es am Ende so erscheinen, als ob sich die Werte unabhängig von den individuellen Wünschen und Wertsetzungen aufeinander beziehen. Daraus resultiert eine Versachlichung der Beziehungen zu den Werten wie auch eine ansteigende Rechenhaftigkeit der Gesamtkultur. Denn das Erreichen von Werten lässt die Berechnung anderer Werte, den Nachvollzug der wechselseitigen Verschlingungen von Werten notwendig werden. Simmel greift hier in deutlicher Weise das Konzept der Wechselwirkung auf, denn der Tausch kann als die »reinste und gesteigertste Wechselwirkung« (1900: 59) angesehen werden. Im Tausch und im Geldtausch ist ein Paradebeispiel für eine Soziologie der Wechselwirkung gefunden. Diese ist zwar keine Tauschtheorie im Sinne der Austauschtheorie von Peter M. Blau (vgl. 1964), aber Tausch gilt ihr als Beispiel für den Prozess der Vergesellschaftung durch Wechselwirkung. Am Beispiel des Geldes studiert Simmel nun das, was ihn in der Studie am meisten interessiert: die sich durch den Geldverkehr verändernde Relation von Mittel und Zwecken. Jedes Begehren setzt Mittel ein, um den Zweck, das Begehrte, zu erlangen. Mittel sind notwendige Bedingungen zur Erreichung von Zwecken. Insofern würden wir niemals annehmen, dass das Verhältnis von Mittel und Zweck durch geldwirtschaftlichen Verkehr verändert werden kann. Und doch ist es gerade die von Simmel aufgezeigte wechselseitige Verschlingung zweier Werte, die Geld zu einer Substanz werdenden Sozialfunktion der Vergesellschaftung machen und zur sachlichen Distanzierung vom Begehrten beitragen. Im Geld(stück) findet sich die substantielle, dingliche, Entsprechung zu den aus Wechselwirkungen hervorgehenden Formen. Wie wirkt sich die durch geldwirtschaftlichen Verkehr hervorgerufene Veränderung im Verhältnis von Mittel und Zweck auf die Lebensstile der Individuen aus? Simmel zeigt dies an Beispielen aus dem Alltagsleben auf. Er zieht hierzu vor allem die Phänomene Geiz,

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Geldgier, aber auch Verschwendung, Zynismus und Blasiertheit heran. In Geldgier und Geiz realisiert sich »die Wertung des Geldes als absoluten Zweckes« (1900: 308) und damit der Verlust jeglicher Mittelorientierung, die ursprünglich doch das Hilfsmittel zur Erreichung von Zwecken war. Zwecke selber werden im Geiz und der Geldgier absolut gesetzt und die Mittel vollständig vernachlässigt. Anders stellt sich dies in der Verschwendung dar. Sowohl in der Verschwendung von Geld wie auch in der Verschwendung konkreter Gegenstände. Verschwendung konkreter Gegenstände bedeutet, dass ein Wert »für die vernünftigen Zweckreihen des Individuums schlechthin vernichtet ist« (1900: 322), während die Verschwendung von Geld den Wert des Geldes nicht in sinnvoller Form in andere Werte umsetzt. Haben wir also, wenn es um den Geiz geht, eine Absolutsetzung des Zweckes, so erkennen wir in der Verschwendung bereits eine Zerstörung von Zwecken. Noch darüber hinaus gehen die Formen des Zynismus und der Blasiertheit. Beide negieren den Wert als das tragende Moment für Vergesellschaftungsprozesse schlechthin, denn dem Blasierten hat nichts mehr Wert bzw. alle Werte sind ihm gleichgültig. Dann aber gibt es kein Kriterium, um Werte überhaupt zu erzeugen. Folglich werden durch Zynismus und Blasiertheit die Grundlagen von Vergesellschaftungsprozessen, die aus dem Begehren und der damit erzeugten Wertsetzung entstehen, zerstört. Im Falle von Zynismus und Blasiertheit wird ein Grundmoment von Vergesellschaftungsprozessen, das Begehren, verneint und damit auch radikal dem Prozess geldwirtschaftlichen Verkehrs entzogen. £ Lektüre: Quelle 18 Es wurde schon darauf hingewiesen, dass geldwirtschaftlicher Tauschverkehr zu einer Versachlichung sozialer Beziehungen und zur Verstärkung der Rechenhaftigkeit des sozialen Lebens führt. Geld hat jedoch noch andere unmittelbare Konsequenzen für die Gestaltung sozialer Verhältnisse. Mit geldwirtschaftlichem Verkehr können soziale Beziehungen, unabhängig von der unmittelbaren Anwesenheit tauschender Akteure konstituiert werden. Geldwirtschaftlicher Verkehr ermöglicht lange Interdependenzketten. Diese erhöhen nun einerseits die Freiheitsgrade des Individuum, seinem Begehren zu folgen und beliebige Werte realisieren zu können. Auf der anderen Seite geht jedoch mit der Steigerung der Freiheitsgrade, ein Verlust von Bindungen einher, weil die Entfernten zwar in die Interaktionsordnung von Vergesellschaftungsprozessen einbezogen werden, aber nur in einer lockereren Form. Die Steigerung der Freiheit durch geldwirtschaftlichen Verkehr führt zu einer Abnahme der Bindungen zwischen den Interaktanten.

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2.3.2 Die Wechselwirkung z wischen Geldwir tschaf t und Lebensstil Nach diesen Erörterungen wendet sich Simmel im sechsten Kapitel der »Philosophie des Geldes« den Wirkungen geldwirtschaftlichen Verkehrs auf den Stil des Lebens zu. Er untersucht nun nicht mehr den Prozess, wie subjektives Begehren zu Werten und damit zu gesellschaftlichen Tauschprozessen führt. Vielmehr fragt er nun nach den Rückwirkungen dieser Tauschprozesse auf das subjektive Begehren. Er führt also die Bewegung der Wechselwirkung in der »Philosophie des Geldes« auch theoriearchitektonisch vor: Begann die Untersuchung der Wechselwirkungen mit dem subjektiven Begehren und der dadurch erzeugten Form der Vergesellschaftung, dem geldwirtschaftlichen Tausch, so wirkt diese Form nun zurück auf das subjektive Begehren und es schließt sich der Kreislauf der Wechselwirkung von Begehren, gesellschaftlicher Formung des Begehrens und der Rückwirkung auf das Begehren. Die erste, den Stil des Lebens beeinflussende Eigenschaft, die sich aus dem Geldverkehr ergibt, ist das rechnende Wesen der Neuzeit. Ihr erscheint »die Welt als ein großes Rechenexempel« (1900: 612), denn alles wird in der Realisierung des Begehrens durch die Verschlingung verschiedener Wertsetzungsprozesse und die damit einhergehende Versachlichung verrechnet. Es geht nun nicht mehr um das Begehren, um die Realisierung von Werten. Sondern nun geht es um die Verwirklichung von eigenständigen Tauschprozessen und damit um die Gewinnung von geldwerten Vorteilen, die zuletzt nur zu berechnen sind und die Distanz zu den Werten an sich vergrößern. Dadurch wird zugleich eine bestimmte Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber erzeugt und Geld selber, das Mittel zu Zwecken, wird zum Selbstzweck und vergrößert die Gleichgültigkeit gegenüber den Werten weiter. An der Skizze dieser Umformung des Stils des Lebens – am Mittel als Selbstzweck und nicht mehr an den Zwecken orientiert – durch das rechnende Wesen der Neuzeit und die damit einhergehende Gleichgültigkeit gegenüber den ursprünglich angestrebten Werten zeigt sich die »Philosophie des Geldes« als eine Studie der Kultur von Mittel und Zweck. £ Lektüre: Quelle 16 Eine weitere Konsequenz, der durch geldwirtschaftlichen Verkehr beschleunigten sozialen, technischen und kulturellen Entwicklungen, einer fortschreitenden Arbeitsteilung im Produktionsprozess von Gütern wie auch im Produktionsprozess gesellschaftlicher Verhältnisse, ist eine wachsende Kluft zwischen objektiver und subjektiver Kultur. Objektive Kultur meint bei Simmel »die Dinge, die unser Leben sach-

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lich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst« (1900: 620). Diese objektive Kultur erfährt im Zuge durchgesetzten gesellschaftlichen Geldverkehrs ein schnelles Wachstum, so dass das Individuum mit seiner subjektiven Kultur, d.h. dem Bestandteil der objektiven Kultur, die es sich angeeignet hat, nicht mehr mit dem Wachstum der objektiven Kultur Schritt halten kann. Es entsteht ein Hiatus, ein Gefälle, eine Kluft zwischen objektiver und subjektiver Kultur, die fortwährend größer wird und das Individuum zuletzt hinter den Entwicklungen der objektiven Kultur zurück hinken lässt. Diese Differenz von objektiver und subjektiver Kultur, ausgelöst durch gesellschaftliche Arbeitsteilung, Differenzierungsprozesse und geldwirtschaftlichen Verkehr, wird im Zuge gesellschaftlicher Entwicklung immer größer. Schließlich beschreibt Simmel einem dritten Einfluss des Geldes auf die Lebensstile. Dabei ist zuerst die durch das Geld erzeugte Distanz zwischen den Menschen zu erwähnen. Denn Modernisierungsprozesse sind vor allem Urbanisierungsprozesse, d.h. räumliche Verdichtungsprozesse von Menschen. Deren Konsequenz besteht nun darin: »Daß man sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, wie die jetzige Stadtkultur mit ihrem kommerziellen, fachlichen, geselligen Verkehr es bewirkt, würde den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich brächte. Die entweder offenbare oder in tausend Gestalten verkleidete Geldhaftigkeit der Beziehungen schiebt eine unsichtbare, funktionelle Distanz zwischen die Menschen, die innere Schutz und Ausgleichung gegen die allzugedrängte Nähe und Reibung unseres Kulturlebens ist.« (1900: 665; vgl. Nedelmann 1992) Damit sucht Simmel eine Antwort auf die Frage: Wie wirkt sich städtisches Leben auf die Persönlichkeit und die Lebensform der Individuen aus? Festzuhalten ist hier vor allem, dass die gesteigerte Nervenreizung durch ein erlebnisintensives Klima nur durch die Form der Reserviertheit, der Zurückhaltung, der skeptischen Distanz gegenüber allem, was passiert, ertragen werden kann. Mit dieser Reaktion auf den Urbanisierungsprozess ist noch eine weitere Stilbestimmung des Lebens in modernen Städten angesprochen. Das beschleunigte Leben erzeugt durch geldwirtschaftlichen Verkehr und voranschreitende Urbanisierungsprozesse Veränderungen im Rhythmus und Tempo der Lebensführung. Rhythmus der Lebensführung bedeutet für Simmel, dass jedes Leben und jede Abfolge im Leben durch eine »Hebung« und »Sen-

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kung« (1900: 677) geprägt ist, d.h., das Leben folgt einer gleichförmigen Bewegung des Auf und Ab. In der rhythmischen Abfolge realisiert sich Stabilität und Dynamik in einer Weise, wie sie dem Menschen angenehm zu sein scheint. Allerdings eröffnet das moderne geldwirtschaftlich geprägte Leben zweierlei Umgangsweisen mit der gesellschaftlichen Beschleunigung des Lebens, die den Rhythmus der inneren Zeit verändern. Man kann mit Simmel eine symmetrisch-rhythmische, von einer individualistisch-spontanen Rhythmik des Lebens unterscheiden (vgl. Nedelmann 1992). Die symmetrisch-rhythmische Gestaltung des Lebens unterwirft Bedürfnisse, Begehren, Triebe und Impulse des Individuums einer Formung. Sie formt also die Natur oder die Seele des Menschen durch vernünftige Gestaltung und prägt sich selbst als eine stabile und kontinuierliche Form (1900: 683). Ganz anders hingegen reagiert die individualistisch-spontane Lebensform. Diese sucht nicht Formung individueller Bedürfnisse, Triebe und Wertsetzungen vorzunehmen, sondern sie folgt diesen Trieben und Bedürfnissen unmittelbar und ist damit rhythmuslos, weil ein Rhythmus eine geordnete Abfolge ist. Die individualistisch-spontane Lebensform überschreitet diese Grenzsetzungen und passt sich stärker der beständigen Beschleunigung und dem Wechsel von Nervenreizen an. Sie ist dadurch dem gesellschaftlichen Geschehen und seiner Dynamik stärker ausgeliefert als die symmetrisch-rhythmische Reaktion. Schließlich führt geldwirtschaftlicher Verkehr in modernen Gesellschaften auch zu einer Steigerung des Tempos des Lebens. Diese Temposteigerung dringt in alle Poren des Vergesellschaftungsprozesses ein. Die Steigerung des Tempos des Lebens ist auf die »beschleunigenden Wirkungen der Geldvermehrung auf den Ablauf der ökonomisch-psychischen Prozesse« zurückzuführen (1900: 698). Damit ist die Trias der unmittelbaren Bestimmungen des Lebensstils durch geldwirtschaftlichen Verkehr, nämlich Distanzwirkung des Geldes, Veränderung des Rhythmus des Lebens und schließlich Veränderung im Tempo der Lebensführung, vervollständigt. Simmel hat mit diesem letzten Teilkapitel seine Studie zur Kultur von Mittel und Zweck in modernen Gesellschaften abgeschlossen. Zugleich hat er im Durchgang durch den analytischen und synthetischen Teil der »Philosophie des Geldes« die Bewegung der Wechselwirkung, wie sie aufsteigt vom subjektiven Begehren, sich in gesellschaftlichen Formen des Tausches realisiert und von dort aus auf das subjektive Begehren zurückwirkt, abgeschlossen und eine philosophisch inspirierte, bis heute imponierende Zeitdiagnose gegeben.

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2.4 »Die Großstädte und das Geistesleben« Die Großstadt Berlin war um die Jahrhundertwende eine der am stärksten expandierenden Städte. Man kann deren Wachstumsprozess in Preußen und Deutschland zwischen 1816 und 1910 sehr genau studieren. Lebten im Deutschen Reich 1871 4,8% der Menschen in Städten mit über 100.000 Einwohner, so waren es 1910 bereits 21,3%. Demgegenüber ging der Anteil der Personen, die in Städten oder Gemeinden unter 2.000 Einwohner lebten, von 1871 bei 63,9% bis auf 40% 1910 zurück (vgl. Reulecke 1985: 202). Das Phänomen der Verstädterung war einem aufmerksamen Beobachter unübersehbar. Ebenso die dadurch verursachten Probleme der Lebensführung. In dem berühmten und später für die sich entwickelnde Stadtsoziologie bahnbrechenden Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« von 1903 nimmt Simmel eine solche Analyse vor und macht sie zum Angelpunkt einer Phänomenologie der modernen Großstadt. Zentral ist dabei die These: Der »Widerstand des Subjekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht zu werden« (1903: 116), wird durch die Großstadt herausgefordert. Die darin ausgesprochene Erfahrung ist die Kernproblematik des modernen Lebens, denn die Großstädte sind durch eine »Steigerung des Nervenlebens« (1903: 116) gekennzeichnet. Diese Steigerung der Nervenreize und die Ausprägung der »Verstandesherrschaft« (1903: 118) im städtischen Leben kontrastiert vor allem mit dem eher gefühlsmäßigen und stetig dahingleitenden Formen des dörflichen Lebens. Dieser Reizzunahme kann man sich in der Wahl des individuellen Lebensstils nur dann gewachsen zeigen, wenn man sich zum Typus des Großstädters formt. Dieser wappnet sich mit einem »Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen« (1903: 117). Dieses grundlegende Merkmal im Leben von Großstädtern ist 1930 von Kurt Tucholsky in »Augen in der Großstadt« in seiner typischen Form der Flüchtigkeit sozialer Interaktionsbeziehungen in modernen Großstädten beschrieben worden: »Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider; Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück … Vorbei, verweht, nie wieder.« Diese Flüchtigkeit sozialer Beziehungen kennzeichnet viele Begegnungen im städtischen Leben. Sie gehen nicht über eine nur oberfläch-

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liche Wahrnehmung hinaus. Der andere bleibt in solchen Begegnungen fremd und unbekannt und durchbricht gerade deshalb nicht den Schutzmantel der Abschirmung gegenüber Reizen, weil die Schwelle zu einem intensiven Kontakt nicht überschritten wird. Der Typus des Großstädters reagiert also auf die – durch die Geldwirtschaft und das damit entstehende rechnende Wesen der Menschen, das etwa in der zunehmenden Verbreitung der das tagtägliche Leben berechen- und planbar machenden Taschenuhr (vgl. 1903: 119) zum Ausdruck kommt – zunehmende Eindrucksintensität und Eindrucksumfänglichkeit des städtischen Lebens mit Rückzug von der Unmittelbarkeit der Erfahrungen und wird zu einem Verstandeswesen. Der Verstand gilt Simmel als dasjenige Organ, das am weitesten vom Gemüt, von der Herzensregung, von den körperlichen Affekten entfernt ist. Diese Eigenschaft macht den Verstand zu dem Organ, mit dem sich der Städter gegen die Steigerung des Nervenlebens schützen kann, weil der Geist oder der Verstand als kontrollierendes distanzierendes Organ gegenüber den Steigerungen des Nervenlebens fungieren kann. Der typische Städter wird von Simmel von Anfang an als eine Form der Bewältigung von Urbanisierungsprozessen verstanden. £ Lektüre: Quelle 7 Als besonders geeignet im Umgang mit der durch Geldwirtschaft und Arbeitsteilung bedingten Zunahme von Reizen und des rechnenden Charakters, die auch wieder direkt auf die Verstandestätigkeiten des Individuums reagiert, erweist sich der Lebensstil der Blasiertheit und die Haltung der Reserviertheit. Der Blasierte ist »die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.« (1903: 121) Blasiertheit schützt vor der Überreizung des Nervenlebens durch die Entwertung der jeweiligen besonderen Wertigkeit von Eindrücken, Erfahrungen und Sinneserlebnissen. Von daher ist der Blasierte der typische Großstädter wie man ihn u.a. daran erkennen kann, dass kein direkter Blickkontakt mehr gesucht wird. Das ist eine Form der Vermeidung von Kontakt, weil dieser mit erhöhter Intensität von Nervenreizen und Sinneseindrücken verbunden ist. Blasiertheit als Lebensstil bewältigt so die zunehmende Spannung zwischen Reizzunahme und dem Versuch des Individuums in dieser Vielzahl von Reizen als Persönlichkeit nicht unterzugehen, nicht mehr als besonderes Individuum erkennbar zu sein. Auf die Reizzunahme kann aber nicht allein mit Blasiertheit, der Entwertung von Reizen, geantwortet werden. Der Schutz des städti-

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schen Individuums angesichts vielfältiger Reize und persönlicher Kontakte, Begegnungen und Berührungen verlangt zudem eine neuartige Haltung in der sozialen Interaktion. »Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen.« (1903: 122) Weil der Städter nicht jede Begegnung mit anderen so persönlich wie in kleineren räumlichen Zusammenhängen gestalten kann, weil er sonst »innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten« würde (1903: 122f.), ist er zur Zurückhaltung gezwungen, »zu jener Reserve, infolge deren wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal vom Ansehen kennen und die uns dem Kleinstädter so oft als kalt und gemütlos erscheinen läßt« (1903: 123). Aber die eher problematische, gelegentlich auch negative soziale Folge der Reserviertheit stehen neben einer positiven Folge: Sie vergrößert die persönliche Freiheit, sie individualisiert die Persönlichkeit. Das Individuum gewinnt »Bewegungsfreiheit, weit über die erste, eifersüchtige Eingrenzung hinaus, und eine Eigenart und Besonderheit, zu der die Arbeitsteilung in der größer gewordenen Gruppe Gelegenheit und Nötigung giebt« (1903: 124). Weil sich in der Stadt der soziale Kreis vergrößert, deshalb nimmt einerseits die Ähnlichkeit der Städter untereinander ab, dadurch wird andererseits die Möglichkeit eröffnet, sich als je besonderes Individuum darzustellen, was wiederum seine Erkennbarkeit in der Vielzahl der auf das Individuum einströmenden Reize verbessert. Daraus ergibt sich auch eine Veränderung im Verständnis des Individualismus. Zielte im 18. Jahrhundert, verbunden mit den im Liberalismus verkörperten Ideen von Freiheit und Gleichheit, der Individualismus auf die allgemeine Gleichheit der Menschen, der »allgemeine Mensch« (1903: 131), so setzt der Individualismus des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Emanzipation des Individuums von den engen sozialen Kreisen sowie der sich vertiefenden Arbeitsteilung die »qualitative Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit« (1903: 131) der Individuen auf seine Fahne. Es findet ein Übergang vom Ideal des quantitativen zum qualitativen Individualismus statt. Nicht mehr die Gleichheit aller Menschen, sondern die Einzigartigkeit jedes Menschen wird sozial bedeutsam. Aber nicht nur führt die Vergrößerung der sozialen Kreise zur Individualisierung und einer Veränderung in der Auffassung vom Individualismus, sondern sie geht auch mit einer weiteren Veränderung in der Kultur einher, die Individualisierung zwar weiter vorantreibt, aber das Individuum zugleich mit einer kulturellen Entwicklung konfrontiert, der es zuletzt nicht gewachsen sein kann. »Die Entwicklung der modernen Kultur charakterisiert sich durch das Übergewicht des-

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sen, was man den objektiven Geist nennen kann, über den subjektiven, d.h., in der Sprache wie im Recht, in der Produktionstechnik wie in der Kunst, in der Wissenschaft wie in den Gegenständen der häuslichen Umgebung ist eine Summe von Geist verkörpert, deren täglichem Wachstum die geistige Entwicklung der Subjekte nur sehr unvollständig und in immer weiterem Abstand folgt.« (1903: 129) Das Übergewicht der objektiven Geister über den subjektiven Geist führt zuletzt dazu, dass, verursacht durch kulturelle und soziale Arbeitsteilung, eine »Atrophie der individuellen« und eine »Hypertrophie der objektiven Kultur« (1903: 130) eintritt, in der die einzelne Persönlichkeit unterzugehen droht. Durch diese beiden Entwicklungen – die zunehmende Individualisierung und das Anwachsen der objektiven Kultur – wird jedoch die Vielzahl erfahrbarer Unterschiede im städtischen Leben weiter vergrößert. Das Unterschiedswesen Mensch erfährt den Unterschied als eine beständige Alltagserfahrung, als eine Notwendigkeit des städtischen Zusammenlebens. Dadurch weitet sich jedoch der individuelle Horizont, denn dauerhaft ist etwas Neues, Andersartiges gegeben. Das ist ein fruchtbarer Boden dafür, dass »die Großstädte auch die Sitze des Kosmopolitismus gewesen« (1903: 126) sind. Er konnte nur in Großstädten entstehen, weil nur dort die Erweiterung der sozialen Kreise zugleich den Blick über diese hinaus gestattete. Mit dieser Phänomenologie der Großstadt legt Simmel zugleich das entscheidende des modernen Lebens offen. »Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbstständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren« (1903: 116). In diesen Sätzen ist das durchgehaltene Grundproblem der Spannung von Individuum und Gesellschaft festgehalten. Simmels Arbeiten kreisen beständig um dieses Problem: Wie kann das Individuum in der Gesellschaft leben, die es einerseits geschaffen hat und der es andererseits unterworfen ist und deren Wirkmächtigkeit es sich nicht mehr entziehen kann? »Die Großstädte und das Geistesleben« skizzieren diese Spannung von Individuum und Gesellschaft am Beispiel der Phänomenologie der Großstadt und offenbaren, dass das moderne Leben mit zunehmender Geldwirtschaft, Arbeitsteilung und Differenzierung das Individuum in das Räderwerk der Gesellschaft hineinstellt, ohne ihm zugleich eine Lösung anzubieten, wie es mit diesem Räderwerk umgehen kann. Deshalb entstehen Stile des Lebens, wie Blasiertheit, und Haltungen, wie Reserviertheit, als Formen der Bewältigung moderner und städtischer gesellschaftlicher Verhältnisse.

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2.5 Die »Soziologie« Die »Soziologie« von 1908 ist, das offenbart bereits ein Blick in die Gliederung, keine analytische und systematische Ausführung über das Thema, was die Soziologie ist. Vielmehr ist sie eine Sammlung exemplarischer Studien, die zeigen sollen, was eine vollständig entwickelte Soziologie sein könnte. »So sind also die Kapitel dieses Buches der Methode nach als Beispiel, dem Inhalt nach nur als Fragmente dessen gedacht, was ich für die Wissenschaft von der Gesellschaft halten muß.« (vgl. 1908: 31, Fn. 1) Simmel strebt also in der »Soziologie« aufgrund des noch gering ausgebildeten und gering entwickelten Stands dieser neu entstehenden Wissenschaft keine systematische und umfassende Darstellung der Möglichkeiten der Soziologie an. Vielmehr sieht er die einzige Möglichkeit zur Einführung in diese neuartige Wissenschaft, indem beispielhaft aufgezeigt wird, was für Erkenntnisse Soziologie produzieren kann (vgl. Rammstedt 1992). Um diesen Prozess einzuleiten, unterscheidet er zunächst eine obere und eine untere Grenze der Soziologie. Die untere Grenze beinhaltet erkenntnistheoretische Fragen, deren Beantwortung Voraussetzung für die Möglichkeit der Soziologie sind, die jedoch in der Soziologie nicht erörtert werden können. Gleichermaßen gibt es eine obere Grenze der Soziologie, die man heute als Metaphysik oder Philosophie bestimmter Gegenstandsbereiche bezeichnen könnte. Sie umfasst Fragen, die sich mit der bewertenden Deutung von Befunden der Soziologie befasst (vgl. 1908: 39). Simmel beginnt seine Ausführungen, indem er den Grundbegriff der Soziologie etabliert. Dieser ist nicht Gesellschaft, denn sie gilt ihm als ein reiner Summenbegriff für die Phänomene, die das eigentliche Problem und das Interesse der Soziologie wecken: die »Formen des Miteinander und Füreinander« (1908: 19). Diese Formen manifestieren sich in der Vergesellschaftung »in unzähligen verschiedenen Arten […] in der die Individuen aufgrund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb derer diese Interessen sich verwirklichen« (1908: 19).

2.5.1 Methodische Aspek te in der »Soziologie« Was sind die Interessen, die in Formen zu einer Einheit finden und wie geschieht dies? Abstrakt gibt Simmel die Antwort, dass Vergesellschaftung durch Wechselwirkungen konstituiert wird und methodisch

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durch die gleichnishafte Differenzierung zwischen Form und Inhalt erfasst werden kann. Was bedeuten dann aber Wechselwirkung, Form und Inhalt? Wechselwirkung Für das Verständnis von Simmels Vorstellung von der Gesellschaft ist das Konzept der Wechselwirkung unverzichtbar. Denn Gesellschaft »existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten« (1908: 17). Was bedeutet in dieser Definition Wechselwirkung? David Hume (1711-1776) suchte durch die Beschreibung des Aufeinandertreffens zweier Kugeln den Ursachenbegriff aufzuklären. Dieses Beispiel kann dazu herangezogen werden, um auch das Konzept der Wechselwirkung zu verdeutlichen: Mit einem Billardqueue wird eine Billardkugeln auf eine andere Billardkugel gestoßen. Im Moment der Berührung setzt sich nun einerseits die getroffene Kugel in Bewegung, andererseits verändert in diesem Moment die treffende Kugel durch die auf sie zurückwirkende Masse der bislang ruhenden Kugel ihre Richtung. Knapp: Die erzeugte Wirkung wirkt auf ihre Verursachung zurück, oder auch: Beide treten in Wechselwirkung zueinander. Soziologisch gewendet bedeutet dies: »Wechselwirkungen entstehen immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Erotische, religiöse oder bloß gesellige Triebe, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs, des Spieles wie des Erwerbes, der Hilfeleistung wie der Belehrung und unzählige andere bewirken es, daß der Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinander-Handeln, in eine Korrelation der Zustände mit anderen tritt, d.h. Wirkungen auf sie ausübt und Wirkungen von ihnen empfängt.« (1908: 17f.) Soziale Wechselwirkung entsteht also, wenn sich Individuen mit ihren jeweiligen Interessen aufeinander beziehen. Im Moment der Bezugnahme von Menschen aufeinander wird soziale Wechselwirkung konstituiert. Form und Inhalt Wechselwirkungen sollen nach Simmel methodisch durch die Differenzierung von Form und Inhalt rekonstruiert werden. Die Formen der Vergesellschaftung stellen das Erkenntnisinteresse der Soziologie dar, aber sie können ohne wechselwirkende Inhalte nicht begriffen werden, weil sonst nicht erkennbar ist, woraus Formen entstehen. Formen sind für Simmel Einheiten, die aus der Wechselwirkung von Inhalten hervorgehen. Kurz: Formen führen das Material der Inhalte zur Einheit.

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Inhalte bezeichnen das, »was in den Individuen, den unmittelbar konkreten Orten aller historischen Wirklichkeit, als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, daß daraus oder daran die Wirkung auf andre und das Empfangen ihrer Wirkungen entsteht« (1908: 18). Sie erfassen also die Motive und Antriebe der Individuen, um sich in soziale Beziehungen zu begeben. Formen hingegen erfassen die soziale Beziehung als solche. »Die Vergesellschaftung ist also die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal reibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen.« (1908: 19) Wie können diese Formen erfasst werden? Simmel greift auf eine Analogie zurück, um eine Antwort zu geben: »Soziologie […] verhält sich also zu den übrigen Spezialwissenschaften, wie sich zu den physikalisch-chemischen Wissenschaften von der Materie die Geometrie verhält: sie betrachtet die Form, durch die Materie überhaupt zu empirischen Körpern wird – die Form, welche freilich für sich allein nur in der Abstraktion existiert, gerade wie die Formen der Vergesellschaftung.« (1908: 25) Diese Analogie überträgt den Gegensatz von Form und Materie in den Gegensatz von Form und Inhalt. Sowohl Inhalt wie auch Materie können sich nur verwirklichen, wenn sie geformt sind. Dieser Gegensatz von Form und Inhalt kann, so Simmel, als eine erste Annäherung an die Methode soziologischer Analyse verstanden werden. Die Unterscheidung von Form und Inhalt gilt ihm als »Gleichnis« (1908: 17). Denn das Interesse an den Formen der Vergesellschaftung entspricht in etwa der Rekonstruktion des Dreiecks als Allgemeinbegriff. Dieser ist eine zusammenfassende Abstraktion einer Vielzahl möglicher denkbarer Dreiecksgestalten als seiner Inhalte. Der abstrakte Begriff des Dreiecks könnte sinnbildlich für die Konzeption der Form der Vergesellschaftung stehen, in deren Rahmen sich vielerlei konkrete Inhalte der Vergesellschaftung finden. Die Unterscheidung von Form und Inhalt stellt den Kern der soziologischen Methode von Simmel dar. Die Methode zielt auf die empirische Erkenntnis stabiler, zeitlich überdauernder sozialer Regelmäßigkeiten. Form kann dabei vielerlei bezeichnen: Regelmäßigkeiten sozialer Interaktionsprozesse genauso wie Institutionen oder die formal gegebene Strukturiertheit von Organisationen. Zugleich ist jedoch mit dem Konzept des Inhalts ein Schlüssel gegeben, um nicht nur die Stabilität gesellschaftlicher Formen zu kennzeichnen, sondern ebenso ihre Wandelbarkeit und Veränderbarkeit zu erfassen. Inhalte verhalten sich also zu Formen wie Handlungen zu Strukturen in modernen

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Theorien der Strukturierung, wie sie beispielhaft in der »Konstitution der Gesellschaft« von Giddens (vgl. 1984) ausgearbeitet ist. Aber die am Beispiel der Geometrie vorgeführte Anwendung der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt bleibt in methodischer Hinsicht dunkel. Denn Simmel spricht davon, dass sowohl verschiedene Inhalte gleiche Formen erzeugen als auch gleiche Inhalte verschiedene Formen (vgl. 1908: 20-21). In dieser Fassung der Konzeption des Verhältnisses von Form und Inhalt scheint jede methodische oder empirische Handhabung von Form und Inhalt für den Erkenntnisprozess der Soziologie verloren zu gehen. Denn ohne Verwendung der Terminologie von Form und Inhalt besagt die von Simmel getroffene Feststellung verallgemeinert: Verschiedenes erzeugt das Gleiche und Gleiches erzeugt Verschiedenes. So verdichtet fällt ins Auge, dass dem Satz die Erwähnung von spezifizierenden Randbedingungen fehlt, um ihn sinnvoll anwenden zu können. £ Lektüre: Quelle 9 Wie kann die Unterscheidung von Form und Inhalt dennoch methodisch einsichtig gemacht werden? Wie kann die These, dass verschiedene Inhalte gleiche Formen und gleiche Inhalte verschiedene Formen erzeugen, methodisch konkretisiert werden? Die Unklarheit in der Darstellung des Zusammenspiels von Form und Inhalt lässt sich durch die Einführung einer über Simmels Analysen hinausgehenden begrifflichen Differenzierung beheben. Wenn gleiche Inhalte sich in verschiedener Form realisieren können und gleiche Formen mit verschiedenen Inhalten zusammengehen können, dann werden sowohl der Formbegriff und der Inhaltsbegriff in je zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet: als Metabegriff und als Begriff zur Kennzeichnung konkreter Formen oder Inhalte. Eine Klärung setzt also voraus, dass jeweils die beiden Begriffsbedeutungen unterschieden werden. Allerdings reicht die begriffliche Differenzierung des Formbegriffs aus, weil das Erkenntnisinteresse der Soziologie auf die Formen der Vergesellschaftung gerichtet ist. Zu differenzieren wäre zwischen Form als »Metabegriff« zur Kennzeichnung des allgemeinen Erkenntnisinteresses der Soziologie und Form als Begriff zur Bezeichnung konkreter einzelner Vergesellschaftungen. Der Metabegriff der Form bringt grundlegende Vorstellungen über den Vergesellschaftungsprozess zum Ausdruck. Der Formbegriff im Sinne konkreter Vergesellschaftungen bezeichnet Ordnungen der Vergesellschaftung wie Rollenerwartungen, Status, Institutionen. So gedeutet lässt sich die Behauptung, dass gleiche Inhalte sich in verschiedenen Formen manifestieren und gleiche Formen mittels unterschiedlicher Inhalte erzeugt werden, methodisch und empirisch handhaben, weil die jeweilige konkrete Ausprägung des Zusammen-

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spiels von Form und Inhalt je spezifische Ordnungen der Vergesellschaftung begründet. Tabelle 1: Ordnungskonstitution im Zusammenspiel von Form und Inhalt Inhalt Form – als Metabegriff

Ordnung – einzelne Form der Vergesellschaftung

In der Differenzierung der Arten von Formen sind noch zwei weitere Kennzeichen des konkreten Begriffs der Form, d.h. von Ordnung, verborgen: Die unterschiedlichen Ordnungen bilden ein Netz vertikaler und horizontaler Vergesellschaftungszusammenhänge; Vergesellschaftung durch Wechselwirkung konstituiert ein Kontinuum zwischen mehr oder weniger Vergesellschaftung. Der vertikale Aspekt wird insbesondere durch die unterschiedliche Dauerhaftigkeit der jeweiligen Form der Vergesellschaftung erzeugt. Auf der untersten Ebene sind die elementaren Wechselwirkungen in Beziehungen zwischen interagierenden Individuen angeordnet, während auf der obersten Ebene Formen als »Welten« anzutreffen sind. Dadurch wird sowohl die Erfassung von »mikroskopisch molekularen« Vorgängen wie auch die Untersuchung der »makroskopischen, festen Einheiten« ermöglicht. Zugleich enthält diese Typologie von Formen der Wechselwirkung einen horizontalen Aspekt, der den Zusammenhang einer Vielzahl ausdifferenzierter »Welten«, Sphären oder Geltungsbereiche von Normen zum Ausdruck bringt und in der Idee einer Vielzahl von nebeneinander bestehenden Formen der Vergesellschaftung zum Tragen kommt. Nimmt man beide Aspekte auf, dann entsteht, formal gesprochen, ein drei dimensionaler Raum der Vergesellschaftung. Aufgespannt zwischen Form und Inhalt entsteht die horizontale Ebene der konkreten Ordnungen. Und mit dieser ist die vertikale Dimension der Ordnungen unterschiedlich dauerhafter Wechselwirkungen verbunden. In diesen drei Dimensionen gibt es fließende Übergängen zwischen den vertikalen Ebenen und den horizontalen Bereichen, die ein Kontinuum der Vergesellschaftung in horizontaler und vertikaler Hinsicht konstituieren. Gewusstes als Voraussetzung der Vergesellschaftung – Apriori Simmel klärt nun in einem weiteren Schritt, wie denn Vergesellschaftung überhaupt möglich ist. Diesem Zweck dient der Exkurs unter dem Titel »Wie ist Gesellschaft möglich?«. Er stellt allerdings keine metho-

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dologische Reflexion dar, sondern beschreibt, welche Annahmen vergesellschaftete Individuen teilen und wie dadurch Vergesellschaftung ermöglicht wird. In diesem Exkurs werden drei Apriori, drei unhintergehbare Voraussetzungen für Vergesellschaftungsprozesse rekonstruiert. Diese sind Ausdruck allgemeiner Orientierungsmuster im Vergesellschaftungsprozess, die zeigen, dass jede Orientierung bereits eine vergesellschaftete Orientierung ist. £ Lektüre: Quelle 10 Das erste Apriori ist das der Typisierung: »Wir sehen den anderen in irgend einem Maße verallgemeinert.« (1908: 47) Der andere erscheint uns immer nur als Typus, niemals in seiner vollen Persönlichkeit und Einzigartigkeit. Simmel geht davon aus, dass es eine Voraussetzung von Vergesellschaftungsprozessen ist, dass man von der absoluten Individualität und Besonderheit eines anderen Menschen absieht. Stattdessen nehmen wir den anderen als Träger einer Rolle, eines allgemeinen Musters an ihn gerichteter Erwartungen wahr. Kurz: Vergesellschaftung ist möglich, ohne etwas Persönliches über den Interaktionspartner zu wissen. Beispielsweise nehmen Schüler ihre Lehrer nicht in erster Linie als nette, zugängliche, hilfsbereite, gelegentlich auch desinteressierte oder distanzierte Persönlichkeiten wahr, vielmehr rückt das typische der Lehrer – ihre Rolle als Lehrer – in den Mittelpunkt der Wahrnehmung und die persönliche Note, der Charakter der Lehrer tritt in den Hintergrund. Die Berufsrolle der Lehrer bestimmt ihren Umgang mit den Schülern, so wie deren Verhalten durch die Orientierung an dieser Rolle ausgerichtet wird. Das zweite Apriori kann als »Hintergrundapriori« bezeichnet werden. Es benennt den Sachverhalt von Vergesellschaftungsprozessen in der Form »daß jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist« (1908: 51). Mit diesem Apriori wird darauf hingewiesen, dass trotz aller Typisierung, die wir im Alltag leisten, wir gleichzeitig ein Hintergrundwissen darüber haben, dass der von uns typisierte Andere auch etwas jenseits der Typisierung ist. Wir wissen, dass es einen energetischen Hintergrund gibt, der die typisierte Person als Person trägt. Dieses Apriori verweist auf die Bedeutung einer hinter der konkreten Interaktionssituation stehenden Persönlichkeit, die energetische und motivationale Ressourcen als Voraussetzung für Wechselwirkungen bereitstellt. Dies führt zum dritten Apriori, welches sich auf die Gesellschaftsstruktur bezieht und deshalb als Strukturapriori bezeichnet werden kann: »Daß jedes Individuum durch seine Qualität von sich aus auf eine bestimmte Stelle innerhalb seines sozialen Milieus hingewiesen ist: daß diese ihm ideell zugehörige Stelle auch wirklich in

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dem sozialen Ganzen vorhanden ist – das ist die Voraussetzung, von der aus der Einzelne sein gesellschaftliches Leben lebt und die man als den Allgemeinheitswert der Individualität bezeichnen kann.« (1908: 59) Simmel verweist mit diesem Apriori darauf, dass Vergesellschaftungszusammenhänge von den Individuen aus gesehen auf der Annahme beruhen, dass es für jedes Individuum eine spezifische soziale Position, eine Stelle im sozialen Gefüge gibt, in der der besondere Wert dieser Individualität für die Allgemeinheit im Zusammenhang von Vergesellschaftungsprozessen deutlich wird. Das Strukturapriori ist das komplexeste, weil es darauf hinweist, dass die vergesellschafteten Individuen bereits mit der Annahme einer funktionalen Integration gesellschaftlicher Zusammenhänge und auch einer funktionalen Integration ihrer Individualität in die gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge, in den Vergesellschaftungsprozess eintreten.

2.5.2 Formen der Vergesellschaf tung Nach diesen eher sozialtheoretischen Ausführungen zu den Bedingungen der Vergesellschaftung und den Möglichkeiten ihrer methodischen Erfassung gilt es nun zu zeigen, was mit Simmels Soziologie an konkreten Erkenntnissen zu gewinnen ist. Drei Beispiele seien im Folgenden herausgegriffen. Die Figur des Streites, die Ansätze zu einer Soziologie der Sinne und seine Überlegung zur Funktion und Bedeutung des Fremden in sozialen Zusammenhängen. Der Streit An den Überlegungen zum Streit ist vor allem wichtig, dass aus der soziologischen Perspektive von Simmel, die von der formgebenden Wechselwirkung verschiedener Inhalte miteinander ausgeht, der Streit nicht als das erscheint, als was er im Alltag gesehen wird: als Differenz und Divergenz von Positionen. Vielmehr wird hervorgehoben, dass zwar die Ursache des Streits das »Dissoziierende« (1908: 284) ist, dass dies sich aber nur auf die Ursache bezieht und damit noch keine Aussage über das »Wesen« des Streits gemacht wird. Denn auch dem Streit liegt ein Gemeinsames zugrunde: das Interesse am Streitgegenstand. Dem Streit ist eine einigende Kraft eigen, denn gemeinsam ist den Streitenden, den Dissoziierten, das Interesse am Gleichen. Der Streit erfolgt um einer von beiden gewollten oder für wertvoll gehaltenen Sache und von dort aus betrachtet kann auch der Streit als eine Form

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der Vergesellschaftung betrachtet werden. Der Streit als eine Form der Zusammenführung des Dissoziierten folgt Regeln und Formen, in denen der Streit ausgetragen werden kann. »So wenig der Antagonismus für sich allein eine Vergesellschaftung ausmacht, so wenig pflegt er – von Grenzfällen abgesehen – in Vergesellschaftungen als soziologisches Element zu fehlen.« (1908: 295) £ Lektüre: Quelle 11 Nach diesen Überlegungen werden sodann verschiedene Formen des Streits analysiert, etwa die durch Arbeitsteilung bedingte Konkurrenz, aber ebenso Neid, Eifersucht und Missgunst bis hin zu den Grenzfällen, bei denen auch Simmel nicht mehr sicher ist, ob es nicht doch Formen des Streits gibt, deren entzweiende Kraft so groß ist, dass keine Einheit mehr entstehen kann. Dazu gehören etwa Krieg oder aber der aus reiner Kampfeslust entstehende Streit. Wenn das Prinzip der Wechselwirkung Grundlage einer soziologischen Betrachtung ist, findet man in Situationen antagonistischer Struktur Formen der Vergesellschaftung. Diese Formen der Vergesellschaftung sind Muster der Einheitsbildung zwischen entgegengesetzten Polen von Vergesellschaftungsantrieben. Die Sinne Ein eher ungewöhnliches Objekt für eine soziologische Betrachtung sind die Ausführungen zur Soziologie der Sinne. An ihnen zeigt sich, welche vertieften Analysemöglichkeiten der gesellschaftlichen Bedeutung von Sinnlichkeit mit der soziologischen Perspektive Simmels möglich sind. Denn unsere Sinnesorgane Auge, Ohr, Geruchssinn und Geschlechtssinn – das, was wir heute als Sexualität bezeichnen – stellen einerseits Rezeptoren, Empfänger von Reizen aus dem Gesamtbereich von Vergesellschaftungszusammenhängen dar und andererseits ist die Struktur der Rezeptoren entscheidend für die dadurch ermöglichte weitere Vergesellschaftung. So ist das Auge das Organ, welches durch den Blick in ein anderes Auge eine Unmittelbarkeit der Wechselwirkung und damit Vergesellschaftung herstellt, die an den Moment des Blicks gebunden ist und danach nicht mehr existiert und auch nicht stabilisiert werden kann. Das Auge ermöglicht die direkteste Kontaktaufnahme, die direkteste Form der Vergesellschaftung, was sich besonders an Negativphänomenen, wie beispielsweise der Scham, zeigt. Wenn jemand die Augen senkt, um nicht angeblickt zu werden, so entzieht er sich der Möglichkeit der Vergesellschaftung durch Wechselwirkung, weil er nicht als Partner in den Wechselwirkungsprozess eintritt. Das Auge ist deshalb ein zentrales Organ für Vergesellschaftungsprozesse. Die

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Augen und ihre Aktivität haben also nicht nur eine psychologische Bedeutung – die Augen als Spiegel der Seele, so die Volksweisheit –, vielmehr sind die Augen auch von Bedeutung für den Vergesellschaftungsprozess. Anders verhält es sich nach Simmel mit dem Ohr. Das Ohr als Sinnesorgan hat vor allem einen Nachteil: Es ist ein ausschließlich empfangendes Organ, zudem können wir es nicht wie die Augen abwenden oder schließen. Das Ohr ist im Gegensatz zum Auge also ein Organ, welches nicht an der Erzeugung von Reziprozität beteiligt werden kann. Das Ohr könnte uns eher einen Begriff einer einseitigen, auf den Organismus gerichteten Rezeption verdeutlichen, in der es nicht zur Wechselwirkung zwischen Individuen kommen kann. Auge und Ohr weisen unterschiedliche Eigenschaften auf. Während das Auge zuletzt den Zugang zur Abstraktion ermöglicht und die Verallgemeinerung des Individuellen erlaubt, so kann das Ohr gerade dies nicht leisten, weil das Ohr in der Fülle der einzelnen Sinnesreize, die das Trommelfell erreichen, nicht zur Abstraktion und zu Verallgemeinerung gehörter Einzelheiten kommen kann. Simmel vergisst dabei in seinen Analysen nicht, seine Beobachtungen zur Bedeutung der Sinne im sozialen Verkehr zurückzukoppeln an eine Vermutung über die Veränderung der Sinne im Zuge sozialgeschichtlichen Wandels. Er verweist auf eine zunehmenden Abstumpfung der Sinneskräfte, um sich von den unzähligen Sinneseindrücken zu distanzieren. Formuliert wird die These, »daß mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust und Unlustbetonung steigt. Und zwar glaube ich, daß die nach dieser Seite hin gesteigerte Sensibilität im Ganzen sehr viel mehr Leiden und Repulsion als Freuden und Attraktionen mit sich bringt. Der modere Mensch wird von Unzähligem chockiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere Empfindungsweisen ohne irgend eine Reaktion dieser Art hinnehmen.« (1908: 734) Diese sozialgeschichtliche These läuft parallel zu seinen allgemeinen Annahmen über die zunehmende Reizüberflutung, die Nervenüberreizung des Menschen in modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, die zu einer Art von innerer Distanzierung führen muss, um ertragen werden zu können. Der Fremde Der Fremde, die dritte Figur, an der die Produktivität von Simmels Perspektive gezeigt werden kann, ist ursprünglich eine soziale Ge-

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stalt, die uns insbesondere in der Geschichte der Wirtschaft als Händler entgegengetreten ist. Das Besondere des Fremden ist seine Stellung innerhalb der Vergesellschaftungszusammenhänge: »Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen ›inneren Feinde‹ – ein Element dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt.« (1908: 765) Der Fremde irritiert im Vergesellschaftungsprozess durch seine Stellung von Ferne und Nähe. Er ist nah, weil er ein Element der Gruppe ist, und er ist zugleich fern, weil er auch Element einer anderen Gruppe, eines anderen Vergesellschaftungsgeschehens ist. Dadurch, dass der Fremde zugleich dazugehört und nicht dazugehört, hat er eine besondere Fähigkeit zur Beobachtung aktueller Vergesellschaftungsprozesse, weil er sie von innen als ein Außenstehender beobachten kann und deshalb ein erhöhtes Maß an Objektivität (vgl. 1908: 767) aufweist. Seine Beobachtungen treten dem aktuellen Geschehen distanziert gegenüber und erlauben eine detailreichere, nuanciertere und kritischere Beobachtung.

E xkur s: Die Religionssoziologie Simmels Religionssoziologie ist bei weitem nicht so bekannt wie die von Émile Durkheim oder Max Weber und sie hat auch weniger erkennbare Spuren in der aktuellen religionssoziologischen Diskussion hinterlassen. Simmel formuliert in seinen religionssoziologischen Analysen die These, dass sich in religiösen Vorstellungen die Einheit der Gesellschaft darstellt, weil die Wechselwirkungen zwischen den Individuen einer Gesellschaft in einer Einheitsvorstellung zusammengefasst wird, um sich nicht in der Vielfältigkeit und Dynamik von Vergesellschaftungsprozessen zu verlieren. Diese Vielfältigkeit resultiert daraus, dass das »Leben der Gesellschaft […] in den Wechselbeziehungen ihrer Elemente [besteht], – Wechselbeziehungen, die teils in momentanen Aktionen und Reaktionen verfließen, teils sich in festen Gebilden verkörpern« (1906: 54-55). Aus den Wechselbeziehungen ergibt sich eine Vielfalt »Nebeneinander und Miteinander« (1906: 55) bestehender sozialer Formen, deren Einheit und Zusammengehörigkeit für die Individuen kaum zu erfassen ist und deshalb einer Deutung bedarf. Die erste Deutung besteht in einer Analogie »zwischen dem Verhalten des Individuums zur Gottheit und dem zur sozialen Allgemeinheit« (1906: 59-60), welches das Empfinden der »Abhängigkeit«

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(1906: 60) von den vielfältigen Vergesellschaftungsformen zum Ausdruck bringt. Denn das Individuum ist von vielzähligen sozialen Formen umgeben, die es zwar erzeugt hat, deren Wirkungen sich jedoch unabhängig von ihm ergeben. Dadurch wird ein Empfinden ausgelöst, das gleichzeitig »Übermacht« der Formen und »Freiheit« des Individuums (1906: 60) umfasst. Beide Empfindungen werden im religiösen Empfinden zum Glauben verschmolzen. Dieser religiöse »Ton« (1906: 64), die Form, betrifft alle Inhalte menschlicher Vergesellschaftung, also alle je besonderen Ausgangspunkte und Motive zur Vergesellschaftung. Sie werden in der Form des religiösen Tons »transzendiert«, überschritten auf ein anderes hin, eben zur Form. Der religiöse Ton bildet also ein Grundlage des Verhaltens, die sich, mit dem nun zu schildernden zweiten Element verbunden, zur Religion als einem eigenständigen sozialen Gebilde verdichtet. Neben dem Element des Glaubens bestimmt Simmel Einheit als ein weiteres Grundmerkmal religiöser Phänomene. Einheit bündelt das Verschiedenste, sie bietet die Möglichkeit, die »verwirrende Masse der Dinge« (1906: 77) als zusammengehörig zu verstehen. Dies wird von Simmel am Beispiel der sozialen Gruppe ausgeführt. Denn in dieser bewegt sich der Einzelne frei und empfindet zugleich die Gesamtheit der Gruppe als deutlich von ihm unterschieden. Er ist Teil der Gruppe und zugleich ein Einzelner. Und dieser Zusammenhang drückt sich dann, vor allem in den »alten Religionen«, so aus, dass »das Interesse des Gottes im Allgemeinen und Letzten nur den Angelegenheiten der Gemeinschaft galt.« (1906: 79). Aus dieser Parallelität von religiösen und sozialen Erscheinungen ergibt sich für Simmel die These: »So offenbart sich die gleiche Gestaltung in den religiösen wie in den soziologischen Existenzformendes Individuums. Diese letzteren brauchen nur von der religiösen Stimmung begleitet oder aufgenommen werden, um die wesentliche Form der Religion als eines selbständigen Gebildes und Verhaltens zu ergeben.« (1906: 61) Ursprünglich für die Entstehung der Form der Religion ist also zuletzt ein religiöses Empfinden, welches sich zuerst als Gefühl des Glaubens und der Einheitsidee manifestiert. Simmel kommt deshalb im Hinblick auf die Bedeutung religiöser Phänomene zu dem Schluss, »daß die Gottheit gleichsam der transzendente Ort der Gruppenkräfte ist, daß die in Wirklichkeit zwischen den Gruppenelementen spielenden Wechselwirkungen,

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die deren Einheit im funktionellen Sinne ausmachen und damit der dunklen Einheit des religiösen Seins symbolisch formverwandt sind, – im Gott zu einer selbständigen Wesenheit geworden sind« (1906: 112). Überschreitet man also die konkrete Einheit der Gruppe und abstrahiert weiter bis zur allgemeinen Idee der Einheit, dann entsteht schließlich die Idee der Gottheit – als einer allumfassenden Einheit, die Ursprung und Ende aller Entgegensetzungen des Dualismus ist. Überträgt man diese, etwa an den Zen-Buddhismus erinnernde Idee, zurück auf das Verhältnis zwischen Individuum und der sozialen Gruppe, die Voraussetzung und Überschreitung des Individuums zugleich ist, dann bleibt als Fazit: Im Göttlichen spiegelt sich die durch gesellschaftliche Wechselwirkungen erzeugte Einheit von Vergesellschaftungsprozessen. Über diese grundsätzliche Idee hinaus geht Simmel davon aus, dass Religion und Religiöses sich nicht nur auf die Sphäre der Transzendenz bezieht, sondern es vielmehr eine Gruppe vorgelagerter Empfindungen gibt, denen er den Ausdruck »religioid« gibt. Diese religioiden Empfindungen beziehen sich auf die Erfahrung der Welt als einer Totalität und artikulieren das Bedürfnis nach Einordnung in diese Welt: »Unter mancherlei Verhüllungen und Verschiebungen der Oberflächen sind diese Zusammenhänge spürbar. Ich erinnere an das religiöse- oder, wenn das Wortmonstrum gestattet ist: religioide-Moment, daß für ein tieferes Empfinden vielleicht an allem Hingeben und Annehmen liegt.« (1906: 61f.) Mit dieser Formulierung deutet Simmel an, dass sich in der Religion grundlegende Fragen der Einordnung in Zusammenhänge der Wirklichkeit stellen. In der Religion und in der Idee des Göttlichen lösen sich alle Polaritäten, wie etwa die zwischen Hingeben und Annehmen, auf und werden zur Einheit transformiert. £ Lektüre: Quelle 20 Simmel weist mit dem Konzept des religioiden Moments darauf hin, dass dieses nicht nur gegenüber der Transzendenz der Gesellschaft dem Einzelnen gegenüber gilt, sondern dass dieses auch etwa in Autoritätsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern zu finden ist (vgl. 1906: 64). Denn kleine Kinder scheinen eine gewisse Zeit ihre Eltern im übertragenen Sinne zu »vergöttern«, sie scheinen ihnen eine bestimmte Zeit undistanziert alles zu verkörpern, was wertvoll und anerkennenswert ist. In diesem Sinne sind religioide Momente ein wichtiger Bestandteil alltäglicher Wechselwirkungen und insofern umfassen sie mehr als nur das Transzendente im engeren Sinne des Begriffs.

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In der Argumentation wird betont, dass zumeist verschiedene Weltdeutungen gleichberechtigt nebeneinander stehen und verschiedene Bezugspunkte der Handlungsorientierung ermöglichen und jeweils zu wählen ist, welche der Deutungen als Bezugspunkt des Handelns gewählt wird. Einen dieser möglichen Bezugspunkte stellen die religiösen Wirklichkeiten dar. Wirklichkeiten im Plural, weil Simmel sich bewusst war, dass es auch außerhalb der abendländischen Kulturtradition religiöse Wirklichkeiten gibt, die denen der westlichen Welt nicht entsprechen. Wichtig ist deshalb festzuhalten: »Die Wirklichkeit ist keineswegs die Welt schlechthin, sondern nur eine, neben der die Welt der Kunst wie die der Religion stehen, aus dem gleichen Material nach anderen Formen, von anderen Voraussetzungen aus zusammen gebracht. Die erfahrbare wirkliche Welt bedeutet wahrscheinlich diejenige Ordnung gegebener Elemente, die für die Erhaltung und Entwicklung des Gattungslebens die praktisch zweckmäßigste ist.« (1906: 43f.) Damit wird der absolute Status einer religiösen Sphäre relativiert, indem sie als eine neben anderen Sphären mit legitimem Geltungsanspruch für bestimmte Wirklichkeitsaspekte stehend begriffen wird. Dadurch wird es vermieden, Religion als die einzige Deutung von Welt zu rekonstruieren, wie es im mythologischem Zeitalter noch der Fall war. Die Religionssoziologie Simmels besticht vor allem durch die Zurückführung religiöser Phänomene auf ein religioides Empfinden. Dieses wird als eine Gattungstatsache begriffen und es lässt sich von dort aus die Frage stellen, in welchen anderen Wirklichkeiten und Deutungen der Welt wir religioide Momente finden. Simmels Religionssoziologie kann auch als Kritik an anderen Paradigmen religionssoziologischer Forschung gelesen werden. Hier ist dann vor allem auf Durkheims Arbeit über »Die elementaren Formen des religiösen Lebens« zu verweisen. Dort werden als religiöse Überzeugungen all jene gekennzeichnet, die die Unterscheidung von »profan und heilig« verwenden. Das besondere Augenmerk gilt in der Folge dieser Begriffsbestimmung dann vor allem den heiligen Phänomenen. Durch diese Bestimmung wird der Arbeitsbereich der Religionssoziologie auf Phänomene eingeschränkt, die sich mit dem Transzendenten befassen. Dadurch wird jedoch in den Augen Simmels gerade die Alltäglichkeit des Religiösen, der von ihm so genannten »religioiden Phänomene«, verfehlt. Erst dann wird sichtbar, dass religiöse Phänomene in allen Vergesellschaftungsformen aufscheinen, weil sie die Eigenständigkeit und Übermächtigkeit von Vergesellschaftungsformen dem Individuum gegenüber bearbeiten.

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Hinzu kommt, dass der Fremde im Vergesellschaftungszusammenhang nur als Typus des Fremden vorkommt, »daß man mit dem Fremden nur gewisse allgemeinere Qualität gemein hat« (1908: 768) und den Fremden nicht in seiner Individualität, sondern als einen Typus wahrnimmt, der dem Typus der eigenen Vergesellschaftung nicht entspricht und insofern als außer ihr stehend wahrgenommen wird. Dadurch rückt vor allem das außerhalb der eigenen Vergesellschaftung stehende in den Vordergrund der Wahrnehmung des Fremden: seine Andersartigkeit. Die Fremden werden deshalb auch »eigentlich nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden, das Moment der Ferne ist ihnen gegenüber nicht weniger generell als das der Nähe« (1908: 770). Simmels Ausführungen zum Fremden haben vor allem in den soziologischen Arbeiten von Robert Park (1864-1944; vgl. 1928) und Alfred Schütz (1899-1959; vgl. 1972) zur weiteren Vertiefung der Überlegungen zum Status und zur sozialen Position des Fremden beigetragen und eine reichhaltige, auch für die heutige Migrationsforschung bedeutsame Diskussionslinie über den und das Fremde eröff net. £ Lektüre: Quelle 12 Insgesamt zeigt dieser exemplarische Durchgang durch die »Soziologie«, der ihr angemessen war, weil sie selber nur eine Sammlung exemplarischer Studien zu den Möglichkeiten soziologischer Erkenntnisprozesse ist, dass aus der Perspektive des Verständnisses von Vergesellschaftung als Prozess der Herstellung von Zusammenhängen durch Wechselwirkungen neuartige Einsichten in das soziale Geschehen gewonnen werden können, die andere Erkenntnismöglichkeiten als etwa die Soziologien Durkheims oder Webers liefert.

2.6 »Rodin« und »Michelangelo«: Simmels Konzeption der Moderne In der Auseinandersetzung mit dem Werk des Bildhauers Rodin (18401917) und den Plastiken Michelangelos (1475-1564) aus der Renaissance präzisiert Simmel seine Vorstellung der Moderne. Diese entwickelt sich nach Simmel in einem Dreischritt aus der Entfaltung eines ursprünglichen Dualismus, der daran anschließenden synthetischen Zusammenführung beider Pole des Dualismus und schließlich der Gewinnung der entscheidenden Charakteristik der Moderne als einer Zeit in Bewegung. Zu beginnen ist deshalb mit Simmels Arbeit zu Michelangelo (vgl. 1911). In dieser wird das Fundament aller seelischen und auch sozialen Erscheinungen in einem elementaren Dualismus gesehen: »Im Fun-

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dament unseres seelischen Wesens scheint ein Dualismus zu wohnen, der uns die Welt, deren Bild in unsere Seele fällt, nicht als Einheit begreifen läßt, sondern sie unaufhörlich in Gegensatzpaare zerlegt.« (1911: 304) Dieser Dualismus, diese Zweiheit als Grundlage sozialer Prozesse ruft die theoretische und praktische Frage hervor: Wie kann aus dieser Zweiheit Einheit gewonnen werden? Die historische Entwicklung der bildenden Kunst wird von Simmel als Entwicklung unterschiedlicher Antworten auf diese Frage interpretiert. Denn wenn man die beiden im Dualismus verbundenen Pole, die aller Wechselwirkung vorausliegen, als Geist oder Seele im Unterschied zur Natur kennzeichnet, dann lassen sich verschiedene Möglichkeiten zur Auflösung des Dualismus erkennen. So ergreifen antike griechische Plastiken das Wesen des Menschen, indem sie ihn vollständig als naturhaft bestimmt darstellen und damit den Dualismus durch Konzentration auf die Natur »unfühlbar« werden lassen. In der Renaissance hingegen wird der Dualismus jeweils in unterschiedlichen Epochen dann einerseits auf die naturhafte, andererseits auf die geistige Seite hin zugespitzt. Aber beide jeweils einseitigen Bewegungen scheinen Simmel nur Vorläufer, experimentelle Stufen hin zur eigentlichen Auflösung und Überwindung des Dualismus: Die historische Entwicklung »geht auf ein Höheres: den Dualismus grundsätzlich zu überwinden« (1911: 305). Dies geschieht zuerst im Porträt, später dann in der Plastik. Und in diesem Prozess stellen die Arbeiten Michelangelos einen Wende- und Höhepunkt dar. Denn: »Michelangelo hat eine neue Welt geschaffen, mit Wesen bevölkert, für die das, was bisher nur in Relation stand, gelegentlich aneinander, gelegentlich auseinander rückte, von vornherein ein Leben ist.« (1911: 307) Die Zweiheit wird in seinen Werken überwunden, weil in den Darstellungen »die Stimmung und Leidenschaft der Seelen […] unmittelbar die Form und Bewegtheit [ist]« (1911: 308). In dieser Unmittelbarkeit von Form und Bewegtheit drückt sich eine Einheit aus, die den Dualismus überwunden hat: Geist und Natur, Seele und Natur durchdringen sich wechselseitig, formen und bestimmen sich gegenseitig, so dass noch der »Ausdruck des Durchdrungenseins noch zu viel Dualistisches enthält« (1911: 308). Am Beispiel der Plastiken von Rodin im Kontrast zu Plastiken Michelangelos kann Simmel nun zeigen, wie sich die Darstellung von Bewegung in der Kunst historisch verändert hat. Im Gegensatz zur Renaissancemalerei steht nicht mehr die Gesamtharmonie des Körpers im Mittelpunkt, sondern vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit auf das spannungsvolle einer Bewegung, in der sich ein Körper befindet. In den Arbeiten Rodins kommt für Simmel die Moderne schlecht-

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hin zum Ausdruck: »Die Unruhe des Werdens, die Unbestimmtheit des Gleitens von Form zu Form, die Bewegung als das fortwährende Zerbrechen der festgefügten, in sich befriedigten Gestaltung.« (1911: 334) £ Lektüre: Quelle 6 Diese Darstellung von Bewegung steht im Gegensatz zur klassisch-griechischen wie auch noch zur bildhauerischen Gestaltung der Renaissance, in der es vordringlich noch um die Harmonie der verschiedenen Elemente und Glieder einer Skulptur ging. Dem gegenüber geht es in den Arbeiten von Rodin nur noch um die Darstellung der Dynamik, der Zerbrechlichkeit, der Veränderung, der Spannung, der Bewegung. Rodins Plastiken sind für Simmel eine Möglichkeit, den Gedanken von Leben und Bewegung in einer Philosophie und Soziologie der Moderne fruchtbar zu machen. Von dort aus lassen sich sowohl die Kunstentwicklung wie auch die philosophiegeschichtliche Entwicklung parallelisieren und es kann ein Zugang zum Verständnis der Moderne erreicht werden, der die Veränderung als Kern der Moderne erfasst (vgl. Frisby 1988; 1989). In dieser Konzeption der Moderne als einer beständigen Bewegung integriert Simmel sowohl seine Differenz von Form und Inhalt als einer analog zur Differenz von Handlung und Struktur zu verstehenden Perspektive wie auch seine Intuition von einer sozialen Ordnung als einer beständig wandelbaren, nur im Grenzfall statischen Ordnung.

2.7 Kulturanalyse Die Differenz von Form und Inhalt ist ein prägendes Merkmal des methodischen Zugangs Simmels zu den Vergesellschaftungsprozessen. Diese Differenz wird in seinen Schriften »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« von 1911 ebenso wie in seiner späten Arbeit »Der Konflikt der modernen Kultur« von 1918 als Problem in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.

2.7.1 »Der Begrif f und die Tragödie der Kultur« Vor allem in der erstgenannten Arbeit wird die Eigenständigkeit kultureller Gebilde gegenüber ihren Erzeugern herausgestellt. Diese Eigenständigkeit kultureller Gebilde wird von Simmel im Formbegriff gefasst. Formen setzen Grenzen, sie begrenzen, umgrenzen und geben so an, was zur jeweiligen Form gehört und was nicht. In diesem durch die Form abgestecktem Rahmen können sich dann verschiedene Inhalte realisieren. Inhalte sind nach Simmel alle ungeformten Regun-

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gen und Impulse, und sie können als solche erst gelebt werden, wenn sie sich in Form bringen, formen. Form und Inhalt sind untrennbar aufeinander verwiesen, weil die Formung der Inhalte zugleich die Form realisiert. Dieses Zusammenspiel von Form und Inhalt wird von Simmel auf die Analyse der Kultur übertragen. Kultur gilt dabei als die einzige Möglichkeit, wie das Individuum über den Umweg der Kultur sich selbst gewinnen, sich selbst aneignen kann, um sich selbst auszubilden. In diesem Sinne wird Kultur beschrieben »als [...] Weg der Seele zu sich selbst« (1911: 385). Dieser Weg der Seele zu sich selbst ist eine langwierige Kultivierung der Persönlichkeit. Damit meint Simmel im Rückgriff auf die Analogie mit der Kultivierung von Bäumen, Sträuchern oder Blumen den Prozess der willentlichen Formgebung. Denn erst über diese Formung und Gestaltung kann das Subjekt sich selbst vollständig entfalten. Kultivierung greift dabei auf Bestände innerhalb der objektiven Kultur zurück: »Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient.« (1911: 387) Welcher Kulturbegriff liegt hier vor? Und welche Folgen hat die Kultur konstituierende Subjekt-Objekt-Differenz? Die erste Frage verlangt eine Explikation von Simmels Kulturbegriff. Die zweite Fragestellung zerfällt in mehrere Teilfragen: Wie ist der Gegensatz von subjektiver und objektiver Kultur zu fassen? Worin besteht die Selbständigkeit der objektiven Kultur? Warum kommt es zum Bruch der Vermittlung zwischen objektiver und subjektiver Kultur? Und schließlich überleitend zur Perspektive der Kulturkritik: Warum ist die notwendige Entfaltung der Differenz von objektiver und subjektiver Kultur eine Tragödie? Zur ersten Frage: Kultur als notwendiger Umweg zur Kultivierung der Persönlichkeit bietet Anregungspotentiale zur Entfaltung der »Keimkräfte der Persönlichkeit« (1911: 387), Möglichkeitsräume zur Entwicklung angelegter Potentiale des Menschen. Diese können nur gewonnen werden, wenn sich der entwickelnde Mensch der in der Kultur vorliegenden Vielfalt von Anregungen und Möglichkeiten bedient und die herausgegriffenen Elemente der Kultur zu einer, seiner je individuellen Persönlichkeit entsprechenden, Einheit zusammen fügt. Deshalb ist Kultur »der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (1911: 387). Die Nutzung der Ressourcen der Kultur für die Kultivierung der Persönlichkeit hat Folgen sowohl für die nun kultivierte Person wie

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auch für die Kultur. Das verweist auf den zweiten Komplex von Fragen. Wenn das Individuum sich durch die Verwendung von Inhalten der Kultur kultiviert, formt: Wie verhält sich dann die gewonnene subjektive, angeeignete Kultur zur objektiven, die Formgebung ermöglichenden Kultur? Nach der Aneignung einer subjektiven Kultur wird erst die Differenz zwischen beiden Formen der Kultur offenbar. »Es ist das Paradoxon der Kultur, daß das subjektive Leben, das wir in seinem kontinuierlichen Strom fühlen, und das von sich aus auf seine innere Vollendung drängt, diese Vollendung, von der Idee der Kultur aus gesehen, gar nicht aus sich heraus erreichen kann, sondern nur über jene, ihm jetzt ganz formfremd gewordenen, zur selbstgenugsamer Abgeschlossenheit kristallisierten Gebilden.« (1911: 389) Es tritt also ein Formgegensatz auf, die lebendige subjektive Kultur unterscheidet sich von der festgefügten, kristallisierten objektiven Kultur. Das Wort kristallisiert bringt den Gegensatz beider Formen zum Ausdruck. Die objektive Kultur hat eine festgefügte, festgelegte Struktur, die sich von der beweglichen, vitalen subjektiven Kultur unterscheidet. Dieser Unterschied wird durch kulturelle Arbeitsteilung und Spezialisierung ausgeprägter. Denn zu »dem Vorrat der objektivierten Kulturinhalte kann ein jeder ohne irgendwelche Rücksicht auf die anderen Kontribuenten beisteuern« (1911: 411). Der Umfang der objektiven Kultur wird dadurch tendenziell ins Unendliche gesteigert und die Diskrepanz zur umfänglichen Größe der subjektiven Kultur ausgeprägter. Hinzu kommt, dass sich im Fortgang dieses Prozesses die Selbständigkeit der objektiven Kultur zeigt, »daß die Objekte eine eigene Logik ihrer Entwicklung haben […] und in deren Konsequenz von der Richtung abbiegen, mit der sie sich der personalen Entwicklung menschlicher Seelen einfügen könnten« (1911: 410). In den kulturellen Gebilden wird eine »Objektivität« sichtbar, die sie »von allem Zufall subjektiver Reproduktion unabhängig« (1911: 413) macht. Diese Objektivität hängt auch damit zusammen, dass die »Produkte unseres geistigen Schaffens […] innerhalb ihrer Bedeutung eine gewisse Quote [enthalten], die wir nicht geschaffen haben« (1911: 406). D.h., die von den Menschen geschaffenen Kulturinhalte enthalten jeweils mehr Bedeutung als in ihrer Erzeugung mit diesen verbunden wurde. Simmel verweist zur Erläuterung auf das Beispiel eines Dichters, der ein Rätsel auf eine bestimmte Lösung hin entwickelt, jedoch später ein anderes ebenfalls passendes Lösungswort aufgefunden wird, das der Dichter nicht geschaffen hat, obwohl es ebenfalls eine Lösung des Rätsels darstellt. Bedeutsam wird diese Eigenschaft kultureller Gebilde etwa in der Auslegung von Texten im Zuge herme-

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neutischer Interpretation. Dann können Texte einen Sinn offenbaren, der vom intendierten Sinn des Textproduzenten abweicht, trotzdem aber eine sinnvolle Interpretation des Textes darstellen kann. Durch diese Merkmale der objektiven Kultur entsteht zuletzt ein Kontinuitätsbruch zwischen ihr und der subjektiven Kultur. Die objektive Kultur wächst nicht nur umfänglich durch Arbeitsteilung und Spezialistentum, sondern entfaltet zudem eine eigene Entwicklungsdynamik, eine Sachlogik, die von der Entwicklungsdynamik der subjektiven Kultur verschieden ist. Denn »die innere Logik, nach der jedes von beiden sich entfaltet, fällt mit der des anderen keineswegs selbstverständlich zusammen. Wenn gewisse erste Motive des Rechtes, der Kunst, der Sitte geschaffen sind […] so haben wir es gar nicht mehr in der Hand, zu welchen Gebilden sie sich entfalten.« (1911: 402) Am Beispiel des Rechts lässt sich diese Überlegung beispielhaft verdeutlichen. In seinen Ursprüngen bestand das kodifizierte Recht aus wenigen Rechtsregeln. Aber durch ihre beständige Anwendung in eins mit der Tendenz zur Entwicklung eines kohärenten, in sich stimmigen Rechtsgefüges entstand ein Recht, dessen fast grenzenloses Wachstum wir heute mit dem Begriff der Verrechtlichung fassen und damit vor allem zum Ausdruck bringen, dass die Rechtsentwicklung einer eigenen Logik folgt. Ging ursprünglich die subjektive Kultur durch die objektive Kultur hindurch, um sich zu entfalten, bestand also ein »geschlossener« Kreislauf zwischen beiden, so wird dieser im Zuge der Kulturentwicklung durchbrochen: »[D]as Objekt kann […] aus seiner vermittelnden Bedeutung heraustreten und damit die Brücken abbrechen, über die hin sein kultivierender Weg ging.« (1911: 405) Dieser Kontinuitätsbruch manifestiert sich im Unterschied von Kulturwert und Sachbedeutung einzelner Kulturinhalte. Die Kultur hat einerseits einen Eigenwert. Dieser erschließt sich im Zuge des Kontinuitätsbruchs der subjektiven Kultur immer weniger. Andererseits rückt stattdessen die rein sachliche Bedeutung von Kulturinhalten in den Vordergrund und der tiefere Sinn von Kultur als Wert tritt zurück. Die Verfeinerung von Kulturinhalten erhält eigenständige Bedeutung, ohne noch nach dem Wert der Verfeinerung fragen zu können. Diese Entwicklung geht »in ein vom Leben abgeschnürtes Spezialistentum über, in den Selbstgenuß einer Technik, die den Weg zu den Subjekten nicht mehr zurückfindet« (1911: 413). Kultur erscheint dann als ein erdrückendes Übermaß von Kulturellem, als überladen mit Inhalten, deren Aneignung nicht gelingen kann, weil ihre sachliche Bedeutung nicht mehr in Wertschätzung aufgeht. Im Zuge der Kulturentwicklung entfaltet sich schrittweise der Formgegensatz von subjektiver und objektiver Kultur, die Selbständig-

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keit der Kulturinhalte tritt zu Tage, der Kontinuitätsbruch zwischen Subjekt und Objekt gewinnt Gestalt und die Differenz von Kulturzweck und Kulturinhalt wird manifest. Dies alles verdichtet sich zur Tragödie der Kultur. »Nun aber entsteht innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffs, eine Paradoxe, ja, eine Tragödie werden läßt.« (1911: 402) Eine Tragödie ist diese Entwicklung, weil sie aus der Notwendigkeit der Kultur entsteht. Sie ist unvermeidbar wie beispielsweise das sich entfaltende Schicksal des Ödipus, dem die Götter voraussagten, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten würde und der auf der Suche nach dem möglichen Mörder seines Vaters eben diesen als vermeintlichen Mörder erschlägt und später seine, ihm als eigene Mutter unbekannte, Frau heiratet. Dies ist ein »tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes […]: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.« (1911: 411) Der Begriff der Tragödie in diesem Kontext verweist auf Kulturkritik. Nicht nur in dem Sinne, dass einzelne Erscheinungen der Kultur, wie etwa Spezialistentum oder die immer ausgefeilteren Kulturinhalte kritikwürdig erscheinen, weil sie der subjektiven Kultur nicht mehr dienen oder ihr nicht mehr sinnvoll erscheinen. Vielmehr liegt hier implizit noch eine zweite Bedeutung von Kulturkritik vor: Kritik an der Kultur als solcher, an ihrer Struktur, deren Entfaltung unvermeidbar und doch zugleich beklagenswert ist. Diese zweite Bedeutung von Kulturkritik etabliert diese als ein notwendig zur Kultur gehörendes Element, welches systematisch Voraussetzungen und Konsequenzen der Kultur für die Individuen thematisieren muss. Kulturkritik in diesem Sinne ist nicht zu verwechseln mit beliebigem »Herumkritisieren«. Vielmehr ist solcherart aufgefasste Kulturkritik ein unverzichtbares Element beständiger Reflexion über den Menschen als kulturelles Wesen, das mit dem Auf bau von Kultur zum Zweck der eigen Kultivierung zugleich Kulturinhalten produziert, in denen sich die »Emanzipation des objektivierten Geistes« (1911: 415) von seinen Schöpfern vollzieht.

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2.7.2 »Der Konflik t der modernen Kultur« Deutlicher noch als in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kultur von 1911 wird die grundlegende Spannung zwischen subjektiver und objektiver Kulturleistung in der Arbeit »Der Konfl ikt der modernen Kultur« 1918 herausgearbeitet. Denn hier wird darauf hingewiesen, dass man die Subjekt-Objekt-Spannung, die als grundlegende zu lösende Paradoxie in der Kultur angelegt ist, auch in der begriffl ichen Fassung der Differenz von Leben und Form darstellen kann, weil sich Leben immer nur als individuelles Leben in Form realisieren kann. Mit dem Rückgriff auf das Konzept des Lebens und die Lebensphilosophie wird eine prägende begriffsgeschichtlich dominante Figur des 20. Jahrhunderts aufgenommen (vgl. 1918: 187ff.). £ Lektüre: Quelle 2 »Wir sind zwar das Leben unmittelbar und damit ist ebenso unmittelbar ein nicht weiter beschreibliches Gefühl von Dasein, Kraft, Richtung verbunden; aber wir haben es nur an einer jeweiligen Form, die, wie ich schon betonte, im Augenblick ihres Auftretens sich einer ganz anderen Ordnung angehörig zeigt.« (1918: 205) Simmel verweist hier darauf, dass sich das Leben der Individualität des Individuums bedient. Aus dieser notwendigen Formgebung für die Realisierung des Lebens entspringt der Konflikt der modernen Kultur, der sich als grundlegender Konflikt jeder Formung von Leben darstellt. Denn Leben ist einerseits immer nur als geformtes wahrnehmbar, andererseits ist aber in dieser Formierung das Bewusstsein vorhanden, dass das eigene Leben ein pulsierendes individuelles Leben ist. Der Konfl ikt der modernen Kultur verweist deutlicher als die Ausführung »Der Begriff und Tragödie der Kultur« darauf, dass Kultur auf einem grundlegenden Konflikt beruht, der nicht lösbar ist, sondern durch die Kultur auf Dauer gestellt wird.

2.8 Die »kleine« Soziologie: »Grundfragen der Soziologie« 1917 erscheint Simmels »Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft)«, in der er, im Gegensatz zu seiner »großen« Soziologie von 1908, in Form einer »kleinen« Soziologie noch einmal die Essenz seiner soziologischen Überlegungen und Vorstellungen zu bündeln sucht. Tragend für die kleine Soziologie ist vor allem eine Dreiteilung des Gebiets der Soziologie. Diese ergibt sich aus der bereits in der »großen« Soziologie angesprochenen Problematik jeder Forschung, dass

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es einerseits Voraussetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis gibt, die in dieser nicht mehr thematisiert werden können und andererseits, dass die Ergebnisse der Wissenschaften Fragen hinterlassen, die in diesen selber nicht mehr bearbeitet werden können, sondern der philosophischen Spekulation zu überantworten sind. Dem gemäß wird das Gebiet der Soziologie unterteilt, indem eine Allgemeine Soziologie von einer Reinen oder Formalen Soziologie und schließlich einer Philosophischen Soziologie unterschieden wird. £ Lektüre: Quelle 1 Die Allgemeine Soziologie fragt, unter Konstanthaltung der Annahme, dass Vergesellschaftungsprozesse das Verhalten wechselwirkender Individuen beeinflussen, vorrangig, welche »allgemeinen Züge treten an diesen Tatsachen hervor, wenn sie in diese Blickrichtung eingestellt sind?« (1917: 82) Die Allgemeine Soziologie sucht vor allem die Fülle historischen Materials auf, um dieses in seiner Reichhaltigkeit unter der Voraussetzung, dass alle Erscheinungen letztlich gesellschaftlich geprägt sind, erklären zu können. Diese Skizze zur Allgemeinen Soziologie wird am Beispiel der schon erwähnten Differenz von individuellem und sozialem Niveau ausgeführt. Als Individuen haben wir ein bestimmtes Niveau, d.h. Fähigkeiten und Kenntnisse, die von den Fähigkeiten und Kenntnissen eines Kollektivs von Individuen verschieden sind, weil kein Individuum an allen Fähigkeiten des Kollektivs teilhaben kann. Diese Differenz kommt durch die Aggregation von Individuen zustande, in deren »Summe«, dem »sozialen Niveau«, jeweils das individuelle Niveau unterschritten wird. Das fasst Simmel formelhaft so zusammen: »Was allen gemeinsam ist, kann nur der Besitz des am wenigsten Besitzenden sein.« (1917: 99) Die gemeinte Differenz zwischen individuellem und sozialem Niveau ergibt sich daraus, dass durch Differenzierung die individuellen Möglichkeiten schneller anwachsen als die Gesamtfähigkeit der Gruppe, die die Höhe des sozialen Niveaus bestimmt. Denn das soziale Niveau ist das, was allen gemeinsam ist. Es wird also unabhängig von möglichen Ausdifferenzierungen der Leistungsfähigkeit einzelner Individuen bestimmt. Diese stellen vielmehr »Ausreißer« im Verhältnis zum sozialen Niveau dar. Verdeutlicht werden kann dieser Zusammenhang an der Masse. Bekannt ist, dass das Handeln von Massen »mitreißend« sein kann. Der Einzelne tritt dann nicht mehr als Individualität in Erscheinung, sondern als »gleichförmiger« Bestandteil der ihn umgebenden Masse. Unabhängig davon, wie dieser Effekt zu erklären wäre, ist daran für Simmel wichtig, dass die Masse Ausdruck und Abbild des sozialen Niveaus ist. In der Masse hat man – und hier bezeichnet »man« die Individuen als Bestandteil der Gruppe unter Absehung von ihrer In-

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dividualität – keine besonderen Eigenschaften. Man ist ein Gleicher unter Vielen. Diese Gleichheit kann nur die des sozialen Niveaus sein (vgl. 1917: 94). Das dritte Kapitel ist der Reinen oder Formalen Soziologie gewidmet. Diese wird von Simmel als das Kerngebiet der Soziologie angesehen, denn weil man sagen kann, »Gesellschaft sei Wechselwirkung unter Individuen, so wäre: die Formen dieser Wechselwirkung zu beschreiben, Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft im engsten und eigentlichsten Sinne der ›Gesellschaft‹« (1917: 82). Ihr geht es nicht mehr um die Fülle historisch konkreter Ausformungen spezieller Vergesellschaftungsmuster, sondern ihr geht es nun um die allgemeine Regelmäßigkeit, um das Typische, um das typische Gemeinsame in vielfältigen Formen, sozusagen um die Form der Formen. Die Reine Soziologie ist die Krönung des soziologischen Erkenntnisinteresses, weil sie Einsichten in die innersten Zusammenhänge von Wechselwirkungsprozessen und Vergesellschaftungsprozessen anstrebt. (Später hat Leopold von Wiese [1876-1969] dies zu einer Beziehungslehre ausgebaut [vgl. 1933], die letztlich eine abschließende und vollständige Liste von Vergesellschaftungsformen anstrebte. In dieser Übersteigerung verfehlt jedoch von Wiese das von Simmel intendierte Ziel und unterschätzt das Argument, dass die Soziologie zu dieser Vollständigkeit der Analyse aufgrund der Komplexität ihres Materials gar nicht in der Lage ist.) Der dritte Teilbereich der Soziologie, der im Prinzip ein Außerhalb der Soziologie darstellt, weil hier Wertungen einfließen und nicht so sehr die Aufklärung von Tatsachen im Mittelpunkt steht, ist nun die Philosophische Soziologie. Sie sucht das zu thematisieren, was in der Formalen Soziologie wie auch in der Allgemeinen Soziologie nicht erfasst werden kann. Die Philosophische Soziologie ist der Ort, um das bislang aus den Analysen ausgeschlossene Erleben durch die spekulative Zusammenführung von Einsichten der Soziologie zu thematisieren. Es geht der Philosophischen Soziologie »um die Deutung festgestellter Tatsachen und darum, das Relative und Problematische der bloßen sozialen Wirklichkeit zu einer Gesamtanschauung zu führen, die mit der Empirie nicht konkurriert, weil sie ganz anderen Bedürfnissen als diese dient« (1917: 86). Simmel führt die Leistungsfähigkeit der Philosophischen Soziologie am Beispiel der ihn Zeit seines Lebens beschäftigende Diskussion um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft vor. Denn dieses Verhältnis kann nicht nur in der Formalen und der Allgemeinen Soziologie diskutiert werden, weil das Individuum sich selbst auch als Erlebender und Gesellschaft Erleidender erfährt. Dieses Erleben kann aber im Bereich der Formalen Soziologie nicht thema-

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tisiert werden, weil die Soziologie am Konzept der Handlung ansetzt (vgl. Dahme/Rammstedt 1984; Nedelmann 1996). Die Philosophische Soziologie ist deshalb eine wichtige Ergänzung der Soziologie, weil sie eine Blindstelle soziologischer Erkenntnisprozesse ausgleicht, die entsteht, weil Soziologie als eine Handlungswissenschaft aufgebaut ist und dem Konzept des Erlebens keinen Raum gewähren kann. Hier wird Simmels kulturkritische Deutung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft deutlich. Denn obgleich Individuum und Gesellschaft aufeinander verwiesen sind, steht doch in Simmels Soziologie die Rekonstruktion im Vordergrund, wie das Individuum durch die Gesellschaft bestimmt wird, und – über das bei Durkheim und Weber Gesehene hinausgehend – wie das Individuum diesen Prozess erlebt. Dieser Schwerpunkt auf das Erleben ist einer üblicherweise handlungstheoretisch ansetzenden Soziologie verschlossen, Simmel öffnet jedoch in seiner Philosophischen Soziologie einen Raum für diese das handlungstheoretische Vokabular sprengende Perspektive – wenngleich er betont, dass hier dann eine Überschreitung der »Grenzen« der Soziologie im engeren Sinne – interessiert an den Formen der Vergesellschaftung – zu konstatieren sei. In dieser kulturkritischen Perspektive auf den Vergesellschaftungsprozess werden Grenzen und Möglichkeiten des Individuums im Individualität ermöglichenden und begrenzenden Wechselwirkungsprozess angedeutet, die sich einer handlungstheoretischen Soziologie nicht eröff nen.

2.9 Lebensphilosophie: Der Begrif f des Lebens Die Lebensphilosophie war am Ende des 19. Jahrhunderts ein Erbe, welches von Simmel vor allem durch seine Rezeption von Henri Bergson (1859-1941) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) bezogen wurde. In Nietzsches Argumentation vom »Willen zur Macht« wird das Individuum als eine Durchgangsstation des Lebens begriffen, welche das individuelle Leben formt und zugleich überschreitet. Leben und Formung werden als eine ursprüngliche Dualität und Einheit begriffen. Mit dieser paradox wirkenden gedanklichen Figur wird die erkenntnistheoretische Differenz, die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufgegeben, weil zuletzt Leben, früher das Subjekt, mit Form, dem früheren Objekt, identisch erscheint. Von diesem Ausgangspunkt aus versucht Simmel in seinen Spätschriften eine Integration und Weiterentwicklung seiner soziologischen Intuition, die an das Begriffspaar Form und Inhalt anschließt und sie zum Gegensatz von Leben und Form weiterentwickelt.

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Bereits in der Darstellung der Gedankenentwicklung in den letzten zehn Jahren Simmels wurde eine Tendenz zur Entwicklung einer letztlich an der Lebensphilosophie orientierten Grundfassung der Wirklichkeit sichtbar. Von einer Konzeption von Inhalt und Form schreitet Simmel immer direkter zur Übersetzung dieses Begriffspaares in die Dichotomie von Leben und Form über. Der Kernbegriff in den späteren Phasen ist das Leben, welches als Reichtum im Gegensatz zur Bestimmtheit der Form begriffen wird (vgl. 1918: 212). Aus dem Leben entspringt alles. Was aber ist Leben? Die Antwort Simmels besteht in einer zweifachen Definition: »[E]s ist Mehr-Leben und es ist Mehr-als-Leben.« (1918: 229) Mehr-Leben verweist auf die innere Dynamik des Lebensprozesses, er ist ein unabschließbarer, immer neues Leben erzeugender Prozess. Simmel denkt hier im Bild biologischer Organismen, deren Leben sich in fortlaufender Zellteilung realisiert und zugleich neues Leben, die neue Zelle, erzeugt: »[S]olange das Leben überhaupt besteht, erzeugt es Lebendiges, da schon die physiologische Selbsterhaltung fortwährende Neuerzeugung ist.« (1918: 229) Die zweite Definition, Mehr-als-Leben, verweist demgegenüber auf die dem Leben inhärente Fähigkeit zur Transzendenz, zur Überschreitung. Denn das Leben erzeugt Formen, in die das Leben quasi einfließt und zugleich wieder hinausfließt. Das Leben benötigt Formen, um sich zu realisieren, doch jede realisierte Form ist dem Leben zu wenig, lässt Elemente des Lebens unrealisiert, deshalb strebt das Leben zu neuen Formen. Leben kann daher insgesamt nur als Einheit von Gegensätzen verstanden werden: als Mehr-Leben und Mehr-als-Leben; oder anders: »als Einheit von Grenzsetzung und Grenzüberschreitung« (1918: 230). Das Leben kann sich nur in Form realisieren. Dies gilt vor allem für das Individuum. Denn das Individuum ist Träger des Lebens, wenn es nicht sogar das Leben schlechthin realisiert. »Allein die Träger davon […] sind Individuen, d.h. geschlossene, in sich zentrierte, gegeneinander unzweideutig abgesetzte Wesen. Indem der Lebensstrom durch oder richtiger: als diese Individuen fl ießt, staut er sich doch in jedem von ihnen, wird zu einer fest umrissenen Form und hebt sich sowohl gegen seinesgleichen wie gegen die Umwelt mit all ihren Inhalten als ein Fertiges ab und duldet keine Verwischung seines Umfanges.« (1918: 222) Simmel sieht hier, dass das Individuum eine Durchgangsstation, ein Katalysator für die Realisierung des Lebens ist, welche sich nur in Form, und das Individuum ist eine Form, realisieren kann, um weitere gesellschaftliche und kulturelle Formen im Zuge von Wechselwirkungsprozessen zu ermöglichen. Leben als die Urkraft von Vergesellschaftungsprozessen ist gezwungen, sich in

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Form darzustellen. Damit ist die Subjekt-Objekt-Differenz konzeptionell in die Spannung von Leben und Form übersetzt. Leben und Form sind eine beständige notwendige Entgegensetzung, weil das Leben in der Form seine Grenze findet und diese Form zugleich überschreiten, entgrenzen will und damit die Dynamik von Leben und Form einsetzt. £ Lektüre: Quelle 3 Die Spannung von Leben und Form hat für Simmel auch Konsequenzen im Hinblick auf eine Maxime der Ethik, die er »individuelles Gesetz« nennt. Im ersten Augenblick mag ein solches Konzept als ein Widerspruch in sich erscheinen, denn wie kann das Individuelle, das Besondere, ein Gesetz, das Allgemeine, sein? Für Simmel ist dies kein Widerspruch, weil er von der Einheit von Besonderem und Allgemeinem, von Individuellem und Gesetz ausgeht. »Da nun das Leben sich nur an Individuen vollzieht, ist die moralische Normierung, ihrem inneren Prinzip nach, eine individuelle.« (1918: 405) Damit wird die noch bei Kant im kategorischen Imperativ angenommene strikte Entgegensetzung von Sein und Sollen, von Individuellem und Allgemeinem, aufgehoben. Stattdessen fallen beide zusammen und lassen das individuelle Leben zugleich als ein Gesolltes erscheinen. Das individuelle Leben hat einen Verpflichtungscharakter. Es ist so, »daß das individuelle Leben nichts Subjektives ist, sondern, ohne irgendwie seine Beschränkung auf dies Individuum zu verlieren, als ethisches Sollen schlechthin objektiv ist.« (1918: 419). Und daraus ergibt sich die Maxime des »individuellen Gesetzes«: »Darum liegt schon in dem Gesolltwerden jedes einzelnen Tuns die Verantwortung für unsere ganze Geschichte.« (1918: 423) Das Individuum erfährt sich als Gesolltes, und weil es der Verantwortung für die Realisierung dieses Sollens nicht entrinnen kann – sonst könnte es sich nicht als Individuum verwirklich –, deshalb hat es Verantwortung für seine Lebensgeschichte, die sich nur in der Entfaltung des individuellen Sollens verwirklichen kann.

3. Das thematische Zentrum von Simmels Werk: Individualität und Individualisierung

Das Werk Simmels erscheint im ersten Moment als eine Sammlung von Texten mit vielerlei Themen, ohne dass ein gemeinsamer Fokus sofort zu erkennen ist. Diese Vielfalt wird jedoch durch ein thematisches Zentrum zusammengehalten, welches sich in den meisten seiner Arbeiten als Fokus erweist: Individualität und Individualisierung, oder anders: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. In der gegenwärtigen soziologischen Diskussion hat der Begriff der Individualisierung Hochkonjunktur. Fast gleichgültig welches Teilgebiet der Soziologie betrachtet wird: Überall treffen wir auf »Individualisierung« an zentraler Stelle der Argumentation. Doch mit der häufigen Verwendung des Individualisierungsbegriffs ist sein Bedeutungsgehalt so ausgeweitet geworden, dass Individualisierung mittlerweile zur Erklärung fast aller Erscheinungen des modernen Lebens herangezogen wird. Der Begriff der Individualisierung transportiert eine so hohe theoretische Beweislast, dass er ohne explizite Verhältnisbestimmung zu anderen Begriffen nicht mehr verwendbar erscheint. Die gegenwärtige Individualisierungsdebatte hat nur selten die Gelegenheit wahrgenommen, den Begriff in seiner inhaltlichen Vielfältigkeit auszuloten und in gründlicher Auseinandersetzung mit den klassischen Arbeiten zur Individualisierung von Émile Durkheim, Max Weber, Ferdinand Tönnies (1855-1936) oder Georg Simmel zu präzisieren. Individualisierung ist jedoch bei den Klassikern der Soziologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts der Begriff, der ihre zentrale Problemstellung benennt.

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Die klassische Soziologie nimmt ihren Ausgangspunkt von der durch Durkheim in einer berühmten Formulierung festgehaltenen Frage: »Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein?« (1893: 82) Seine Antwort auf diese Frage besteht in der Idee eines wechselseitigen Steigerungsverhältnisses zwischen fortschreitender Arbeitsteilung und wachsender individueller Autonomie. Beide Entwicklungen sind so verschränkt, dass wachsende Freiräume individualisierter Individuen und die Entwicklung der sozialen Ordnung in einem gleichgerichteten Entwicklungsprozess miteinander verbunden sind. Von einem anderen Ansatzpunkt aus versucht Tönnies in der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft zu zeigen, dass die Idee des Individualismus eine entscheidende »Voraussetzung der Gesellschaft ist« (1887: 139). Seine Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte von Gesellschaften geht davon aus, dass die geschichtliche Bewegung als Tendenz von einer familienhaften gesellschaftlichen Organisation über einen daraus hervorgehenden dörflichen Individualismus zu einem universellen Individualismus führt und schließlich in einen dadurch erzeugten staatlichen und internationalen Sozialismus einmündet. Hier wird zwischen dem sich entwickelnden Individualismus und der gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur ein co-evolutionäres Verhältnis angenommen, sondern auch ein Bedingungsverhältnis gesehen, weil der sich entfaltende Individualismus eine der Ursachen für den sozialen Wandel ist. Findet man bei Durkheim und Tönnies in der Analyse von Individualisierungsprozessen und des Zusammenhangs von Individualität und gesellschaftlicher Ordnung eine letztlich optimistische Vorstellung, die erst in späteren Schriften durch pessimistische und kulturkritische Untertöne abgelöst wird, so nimmt Weber eine wesentlich skeptischere Position in der Beschreibung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Entwicklung und Individualität ein. Seine »Gesammelten politischen Schriften« werden getragen von der Überzeugung, dass die Rationalisierung der modernen Welt zugleich zu einer stärkeren Uniformierung und Standardisierung der Persönlichkeit führen müsse und die individuellen Freiheitsspielräume dabei kleiner werden, weil die Rationalisierung des »äußeren Lebensstils« auch ein »Gehäuse für die neue Hörigkeit« erzeugt. Nachfolgend wird unter Rückgriff auf die Individualisierungskonzeption von Simmel die Vielschichtigkeit des Begriffs der Individualisierung aufgezeigt werden. Diese Analyse zielt einerseits auf eine Rekapitulation wesentlicher Überlegungen Simmels, die sich im Fokus

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der Diskussion von Individualität und Individualisierung bündeln. Andererseits liefert sie einen konzeptionellen Rahmen, mit dem auch die heutige Individualisierungsdebatte vor dem Kontrast von Simmels Diskussion von Individualisierung aufgeklärt werden kann, weil seine Überlegungen an »analytischer Komplexität dem Niveau der gegenwärtigen Individualisierungsdiskussion überlegen« (Müller 1993: 136, Fn. 15) sind. Um Simmels Individualisierungskonzeption systematisch darstellen zu können, wird eine letztlich von Talcott Parsons (1902-1979) entlehnte Systematik des Modernisierungsprozesses Verwendung finden. Modernisierung fungiert dabei als ein Oberbegriff für vier unterscheidbare Teilprozesse. Modernisierung als übergreifender gesellschaftlicher Entwicklungsprozess umfasst die Domestizierung der Natur, die Rationalisierung der Kultur, die Differenzierung der sozialen Struktur und die Individualisierung des Individuums. Dieses feste Raster dient als Folie, vor der die Argumentationsfiguren von Simmels unterschiedlichen Individualisierungsbegriffen sichtbar gemacht werden können. Domestizierung oder Zivilisierung des Menschen beschreibt den Prozess der Herstellung von Kontrolle über die innere und äußere Natur, wie sie bereits durch Norbert Elias (1897-1990) in seiner Arbeit über den »Prozeß der Zivilisation« (vgl. 1936) untersucht wurde. Rationalisierung erfasst einerseits den Prozess der Verallgemeinerung kultureller Wertstandards, zu denen u.a. auch der Individualismus gehört, und andererseits wird damit die Versachlichung der Kultur gekennzeichnet. Beide Prozesse wurden in exemplarischer Weise durch Max Weber in der »Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus« (vgl. 1904/05) bearbeitet. Die Differenzierung sozialer Strukturen wird von allen Klassikern im Hinblick auf die Frage nach der Möglichkeit gesellschaftlicher Integration angesichts voranschreitender Differenzierung problematisiert. Sie umfasst dabei sowohl den Prozess arbeitsteiliger Spezialisierung, etwa in der exemplarischen (vgl. 1776) Darstellung durch Adam Smith (1723-1790), wie auch den der funktionalen Differenzierung, zum Beispiel in der Darstellung von Herbert Spencer (vgl. 1877). Individualisierung schließlich wird ebenfalls durch alle Klassiker in jeweils unterschiedlichen Facetten bearbeitet. Mit dieser begrifflichen Unterscheidung ist ein Rahmen zur Verfügung gestellt, mit dessen Hilfe die vielfältigen Argumentationsfiguren Simmels wie auch der gegenwärtigen Individualisierungsdebatte systematisch erfasst werden können. Simmel hat im Zuge seiner Werksentwicklung versucht, mehrere der theoretisch denkbaren Analysemöglichkeiten und Argumenta-

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tionsfiguren zu bearbeiten. Analysiert man die zu den Themenkomplexen der Individualität, des Individualismus und der Individualisierung vorliegenden Arbeiten mit Hilfe des heuristischen Rahmens, so stellt man fest, dass schrittweise sechs unterschiedliche Argumentationsfiguren in diesem Rahmen bearbeitet werden.

3.1 Historische Ursachen von Individualisierung: Dif ferenzierung In seiner Schrift über soziale Differenzierung von 1890 bearbeitet Simmel den Zusammenhang zwischen Differenzierungsprozessen und Individualisierungsprozessen. Einerseits erzeugen Arbeitsteilung und funktionale Differenzierung zunehmende Konkurrenz und Spezialisierung in den Arbeitstätigkeiten, andererseits resultiert aus funktionaler Differenzierung Rollendifferenzierung. Die Veränderung der arbeitsteiligen Struktur der Gesellschaft wird im Konzept der Schneidung sozialer Kreise zum Ausgangspunkt einer Erklärung zunehmender Individualisierung. Abbildung 1: Die Argumentationsfigur »Über sociale Differenzierung« Differenzierung

Rationalisierung

1. Arbeitsteilung 2. funktionale Differenzierung Struktur Individualisierung

Kultur Domestizierung

1'. Spezialisierung 2'. Rollendifferenzierung Person

Natur

Ähnlich wie bei Durkheim wird der Prozess zunehmender sozialer Differenzierung abgeleitet aus steigendem Bevölkerungswachstum. Das wiederum führt zur Arbeitsteilung im ökonomischen Sinne, woraus arbeitsteilige Spezialisierung resultiert. Diese wird von Simmel als Individualisierung gefasst. Parallel zur Steigerung der Arbeitsteilung verläuft eine funktionale Differenzierung, deren Ergebnis als Rollendifferenzierung wiedergegeben werden kann. Aus beiden Prozessen gemeinsam ergibt sich eine doppelte Basis für Individualisierungspro-

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zesse. Sowohl die aus wachsender berufl icher Konkurrenz erwachsende arbeitsteilige Spezialisierung als auch die zunehmende Rollendifferenzierung verstärken die Anforderungen an das Individuum sich zu individualisieren.

3.2 Lebensstile und Geldwir tschaf t: Die »Philosophie des Geldes« Die Argumentation in der »Philosophie des Geldes« ist wesentlich komplexer angelegt. Die Überlegungen beginnen, analytisch gesehen, im Feld der Domestizierung, indem eine anthropologische Kennzeichnung des Menschen gegeben wird: Der Mensch ist ein »tauschendes Tier«. Den Wirkungen dieser Festlegung wird im Feld der Differenzierung nachgespürt und insbesondere die Wirkung durchgesetzten geldvermittelten Tauschverkehrs skizziert. Von dort aus wechselt der Argumentationsgang in das Feld der Rationalisierung und konstatiert die aus dem durchgesetzten Geldverkehr resultierende Versachlichung der Kultur. Da Simmel an den Wirkungen der Kultur auf das innere Lebensgefühl der Individuen interessiert ist, fragt er von dort aus weiter nach den Konsequenzen dieses Prozesses auf den Stil des individuellen Lebens der Persönlichkeit, des modernen Individuums. Simmel schreibt keine ökonomische Theorie des Warentausches, verstanden als eine ökonomische Theorie der Geldwirtschaft. Sicherlich, der erste analytische Teil der »Philosophie des Geldes« ist eine Auseinandersetzung mit der damals diskutierten subjektiven und objektiven Werttheorie des Geldes. Doch Simmel will, wie er in der Vorrede festhält, der Theorie von Marx einen Unterbau geben. Das interessierende Phänomen ist die Wirkung umfassenden Geldverkehrs auf das »Lebensgefühl der Individuen«. Geld interessiert nicht als ökonomische Kategorie, sondern als das idealtypische Beispiel zur Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Individuen. Geld kann diesen idealtypischen Charakter haben, weil es die Symbolisierung von Tausch ist. Die Handlung des Tausches verweist direkt auf das von Simmel als intersubjektive Wechselwirkung verstandene Problem der Vergesellschaftung, denn Wechselwirkung ist etwas zwischen den Individuen. Der Tausch steht für diesen Zusammenhang. Die drei Kapitel des synthetischen Teils der »Philosophie des Geldes« beschreiben die Freiheits- und Bindungswirkungen, die Individualisierungswirkungen und die Distanzierungswirkungen des Geldes auf die moderne Lebensführung. Entfaltet werden diese in den Be-

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schreibungen der Verhaltensformen der Geldgier, des Geizes, der Verschwendung, der asketischen Armut, dem modernen Zynismus und der Blasiertheit. Abbildung 2: Die Argumentationsfigur der »Philosophie des Geldes« Differenzierung 1'. Wechselwirkung durch Tausch Struktur Individualisierung 1'''. Versachlichung des Umgangs Person

Rationalisierung 1''. Versachlichung der Kultur Kultur Domestizierung 1. Das tauschende Tier Natur

Das berühmteste Beispiel für die Wirkungen der durchgesetzten Geldwirtschaft auf die Persönlichkeit ist die Blasiertheit als typische Lebenshaltung in der Moderne. Weil alle Dinge gleichgültig werden, kann es keinen inneren Bezug zu den Dingen geben, die mit Geld erreicht werden können. Blasiertheit ist eine zwingende Konsequenz dieser Distanz zu dem inneren Wert der Dinge. Geld erzeugt Distanz, weil die innere Bindung an den Wert der Sache verloren geht. Eine andere Erscheinung, die aus durchgesetztem Geldverkehr resultiert, ist die Versachlichung und Rationalisierung der Kultur. Geldverkehr bewirkt, und hier treffen sich Simmels Analysen mit denen von Max Weber, dass die Kultur rechenhafter wird. Die Wirklichkeit erscheint im durchgesetzten Geldverkehr als berechenbar. Das nicht Berechenbare, das nicht Objektivierbare und nicht zu Versachlichende wird bei durchgesetztem Geldverkehr ignoriert. Gleichzeitig führt diese Versachlichung und Rationalisierung zu einer Verarmung der individuellen Kultur. Die Individuen verlieren die Ausdrucksmöglichkeiten für innere Wertschätzung. Dieser Verlust der Ausdrucksmöglichkeiten für innere Wertschätzung kann in zweierlei Form kompensiert werden: durch die Entwicklung von Lebensstilen oder durch die Lebensführung des aristokratischen Individualismus. Beide Formen der Lebensführung sind Entlastungsformen von den Belastungen der Moderne. Aber Simmel sieht auch, dass der aristokratische Individualismus, das Ideal der Vornehmheit, nur wenigen einer Gesellschaft offen steht, während der Rückgriff auf den entlastenden Stil die »Notlösung« (Müller 1993) für viele ist.

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Die Argumentation der »Philosophie des Geldes« ist komplex. Ansetzend beim Prozess der Domestizierung und der Kennzeichnung des Menschen als »tauschendem Tier« führt die Argumentation zuerst in das Feld der Differenzierung durch die Geldwirtschaft. Die Auswirkungen der Geldwirtschaft werden dann in ihren Konsequenzen für die Kultur im Konzept der Versachlichung der Kultur gefasst. Von dort aus werden die Auswirkungen für das Individuum, gefasst als Zwang zur Ausbildung von Lebensstilen oder einer inneren Persönlichkeit, skizziert.

3.3 Die Paradoxie der modernen Individualität: Die »Soziologie« In der »Soziologie« von 1908 versucht Simmel ausgehend vom Feld der Individualisierung, über Differenzierung zur Rationalisierung und zurück zum Ausgangspunkt die Beschreibung moderner Vergesellschaftungsprozesse. Interindividuelle Wechselwirkungen sind ihm die Voraussetzung für Vergesellschaftung. Diese Wechselwirkungen führen nun ihrerseits im Feld der Kultur zur Versachlichung von Gebilden, die, weil sie Macht über die Individuen gewinnen, dann erneut zurückwirken auf das Individuum und den Prozess der Individualisierung. Die »Soziologie« sucht das Problem der Objektivierung des Individuums im Prozess der durch Wechselwirkung verursachten Vergesellschaftung zu rekonstruieren. Die Hauptüberlegung dabei ist, dass die durch Wechselwirkung erzeugten Gebilde Macht über die Individuen gewinnen. Der Mensch muss sich notwendigerweise in diesen Prozess hineinbegeben, weil er sich als Persönlichkeit nur in gesellschaftlichen Formen überhaupt darstellen kann. Das persönliche Leben des Einzelnen muss »in eine gesellschaftlich vorgezeichnete Äußerungsform« einfließen. Gesellschaft ist deshalb eine »objektive Form subjektiver Seelen« (1908: 41). Der Individualisierungsbegriff der »Soziologie« beschreibt bilderreich die durch die Individuen zu erbringende Leistung: sich mit den Mitteln vorgegebener und allen zur Verfügung stehender kultureller Darstellungsformen als einzigartig zu präsentieren.

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Abbildung 3: Die Argumentationsfigur der »Soziologie« Differenzierung 1'. Wechselwirkungen

Struktur Individualisierung

Rationalisierung 1''. Verselbständigung kultureller Gebilde Kultur Domestizierung

1. Individualität Natur

Person

3.4 Individualisierung als Entäußerung und Entfremdung In den Arbeiten »Der Konfl ikt der modernen Kultur« und »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« wird wiederum eine andere Argumentationsfigur skizziert: ausgehend vom Feld der Domestizierung, zu den Konsequenzen im Prozess der Rationalisierung übergehend, um dann die Wirkung auf den Prozess der Individualisierung zu rekonstruieren. Allerdings wird die anthropologische Grundannahme, die in der »Philosophie des Geldes« noch getroffen wurde, der Mensch als »tauschendes Tier«, ersetzt durch die allgemeinere Annahme, dass der Mensch sich die Welt aneignen muss und dies nur über die Schaffung kultureller Gebilde erreicht werden kann. Abbildung 4: Die Argumentationsfigur der »Tragödie der Kultur« Differenzierung

Rationalisierung 1'. Objektive Kultur

Struktur Individualisierung 1''. Subjektive Kultur Person

Kultur Domestizierung 1. Aneignung der Welt Natur

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Diese kulturellen Gebilde verdichten sich zur objektiven Kultur und stehen im Gegensatz zum Individuum, denn die subjektive Kultur ist nicht in der Lage den ganzen Reichtum der objektiven Kultur zu umfassen. Der Weg der Seele zu sich selbst ist zwingend auf den Umweg über die Kultur angewiesen, weil der Mensch nur als kulturelles Wesen ein gesellschaftliches Wesen werden kann. Die Tragödie der Kultur besteht darin, dass sich die objektive Kultur verselbständigt und die subjektive Kultur ihr nicht zu folgen vermag. Objektive und subjektive Kultur, Geschaffenes und seine individuelle Aneignung klaffen immer weiter auseinander. Die objektive Kultur gewinnt Macht über die subjektive und kann von ihr nicht mehr eingeholt werden. Der Individualisierungsbegriff zielt hier auf den notwendigen Entäußerungsprozess des Menschen und seine mögliche Konsequenz: Entfremdung, die zur Diagnose einer allgemeinen kulturellen Malaise weitergeführt werden kann.

3.5 Kulturelle Formen der Selbstbeschreibung von Individualität Von den Analysen Simmels zur Individualität sind seine Überlegungen zu den beiden Formen oder Typen des Individualismus die bekanntesten. In diesen Analysen beschreibt er die kulturellen Voraussetzungen dafür, wie sich Individuen in ihrer Individualität beschreiben können. Hier gilt ihm der Reichtum der objektiven Kultur als Fundus, aus dem Formen der Selbstbeschreibung geschöpft werden können. Abbildung 5: Die Argumentation zu den Individualismusformen Differenzierung

Rationalisierung 1. Kulturelle Formen des Individualismus

Struktur Individualisierung

Kultur Domestizierung

1'. Individualität Person

Natur

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Quantitativer und qualitativer Individualismus sind kulturelle Angebote zur Definition der Individualität. Analysiert wird der Zusammenhang zwischen Rationalisierung der Kultur und der Individualisierung des Individuums. Bereits 1901 arbeitet Simmel über »Die beiden Formen des Individualismus« und stellt erstmals quantitativen und qualitativen Individualismus gegenüber. Scheint der quantitative Individualismus die Ideologie des 18. Jahrhunderts zu sein, die Simmel idealtypisch durch Kant verkörpert sieht, so ist der qualitative Individualismus der Individualismus des 19. Jahrhunderts und wird insbesondere durch Herder und Nietzsche symbolisiert. £ Lektüre: Quelle 8 Der quantitative Individualismus postuliert die Einzelheit des Menschen. Martin Kohli (vgl. 1988) hat dies treffend als »Allgemeinheitsindividualität« bezeichnet, während der qualitative Individualismus auf Einzigkeit, auf die Entwicklung von »Besonderheitsindividualität« zielt. Quantitativer Individualismus ist nach Simmel die Zusammenführung der Ideale von Freiheit und Gleichheit, während qualitativer Individualismus nur am Ideal der Freiheit ausgerichtet ist. Im quantitativen Individualismus erscheint die Individualität des Menschen als allen gemeinsames Merkmal, jeder besitzt Individualität. Im Begriff des qualitativen Individualismus hingegen wird Individualität zu etwas, was erarbeitet werden muss. Mit der ersten Form des Individualismus wird die Autonomie des Individuums gesetzt, die zweite hingegen setzt Individualität in engerem Sinne von Besonderheit. Mit anderen Worten: Der quantitative Individualismus postuliert individuelle Autonomie eines jeden Menschen, der qualitative Individualismus fordert von dieser Basis aus Authentizität jedes Menschen. Beide Formen des Individualismus sind ideologische und kulturelle Angebote, mit denen sich die Individualitätserfahrung des modernen Menschen artikulieren kann. Man darf aber diese Gegenüberstellung nicht als Dichotomie lesen, denn Simmel betont, dass das Individuum in seiner Individualität ein Resultat von »inneren« Wechselwirkungsprozessen ist und folglich immer beide Formen des Individualismus als Antrieb zur Ausbildung je besonderer Individualität gegeben sind. »Immer bedeutet die undefinierbare Lebensbestimmtheit, die wir Individualität nennen, daß ein Wesen beides in Eins zusammenlebt: die innere Zentriertheit, Eigenweltlichkeit, das sich genügende Selbstsein und das positive oder negative, sich angleichende oder abhebende Verhältnis zu einem Ganzen, dem das Wesen zugehört.« (1917: 300) Individualität ist Einheit der beiden unterscheidbaren Formen von quantitativem und qualitativem Individualismus.

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3.6 Selbstbestimmte Individualisierung – das »individuelle Geset z« Die bisherigen Überlegungen zur Rekonstruktion des Individualisierungsverständnisses von Simmel versuchten durch die Nachzeichnung der unterschiedlichen Argumentationsfiguren im Hinblick auf unterschiedliche Individualisierungsbegriffe zu einer Klärung seiner umfassenden Individualisierungskonzeption beizutragen. Eine weitere Argumentationsfigur zum Verständnis von Individualisierung fehlt allerdings noch in dieser Darstellung. Es sind die Überlegungen zum »individuellen Gesetz«. Diese entstanden in ihrer endgültigen Formulierung im Zuge der Adaption der Lebensphilosophie. Allerdings gibt es bereits in der Einleitung zur »Moralwissenschaft« Vorgriffe auf diese Idee, die mit einer schon damals spürbaren Kritik an der Verbindung von Allgemeinheit und Notwendigkeit im kategorischen Imperativ zusammenhängen. Die Ausführungen zum »individuellen Gesetz« sind interessant, weil sie im Rahmen der hier heuristisch verwendeten Vierfeldertafel eine eigentümliche Argumentationsfigur darstellen. Die bisherigen Argumentationsfiguren bezogen sich auf Bewegungen zwischen den analytisch unterscheidbaren Feldern von Natur, Struktur, Kultur und Individuum. Das »individuelle Gesetz« formuliert nun eine Argumentation zur Entwicklung der Persönlichkeit, die sich nur im analytischen Feld des Individuums bewegt und sich auf den Prozess der Individualisierung des Individuums bezieht. Im »individuellen Gesetz« wird die Idee einer Selbstgesetzgebung des Individuums ausgeführt, in der das Individuum sich zur Institution in einem Falle gestaltet. Gerade die Verselbständigung der objektiven Kultur steigert die Dringlichkeit der Selbstformung, weil die gesellschaftliche Binnendifferenzierung zu unüberschaubarer Komplexität aufgestiegen ist. Das dahinterstehende Ideal der Persönlichkeitsentwicklung kann als innen geleitete Selbstgesetzgebung bezeichnet werden. Sie ist ein Formierungsprozess, weil die formale Einheit einer Persönlichkeit aus den materialen Gegebenheiten der Individualität geformt werden muss. Das »individuelle Gesetz« formuliert für Simmel eine Fluchtperspektive aus den in den anderen Argumentationsfiguren ablesbaren Zwängen zur Individualisierung. Erscheint sie dort immer als Wirkung externer Einflüsse auf das Individuum, so dreht das »individuelle Gesetz« diese Perspektive um. £ Lektüre: Quelle 4

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Abbildung 6: Die Argumentationsfigur in »Das individuelle Gesetz« Differenzierung

Rationalisierung

Struktur Individualisierung

Kultur Domestizierung

1. und 1' Selbstgesetzgebung Person

Natur

Das »individuelle Gesetz« ist, da es auch ethische Implikationen enthält, eine Alternative zur Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Weber (vgl. 1919). Der Unterschied zwischen beiden Konzeptionen besteht darin, dass Weber ethische Maximen unter Beachtung der gesellschaftlichen Folgen einer Handlungsweise unterscheidet, während das »individuelle Gesetz« diesen Folgezusammenhang ausblendet. Alle von Simmel erarbeiteten Individualisierungsbegriffe benennen Bestandteile einer sie umfassenden Individualisierungskonzeption. Jeder dieser Begriffe rückt einen anderen Aspekt des komplexen Individualisierungsprozesses in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In jeweils unterschiedlichen Perspektiven wird das Gesamtproblem der Individualisierung in bearbeitbare Teilprobleme zerlegt. Zusammengenommen ergeben sie ein komplexes Verständnis des Individualisierungsprozesses. Abschließend sollen die sechs Argumentationsfiguren nochmals zusammengefasst werden. In »Über sociale Differenzierung« wird nach den konstitutiven Auswirkungen der Differenzierung sozialer Strukturen für die Möglichkeit zunehmender Unterscheidbarkeit der Individuen durch arbeitsteilige Spezialisierung und Rollendifferenzierung gefragt. In diesem Kontext bezeichnet der Individualisierungsbegriff die historischen Ursachen der Herausbildung von Individualität, verstanden als Unterscheidbarkeit von Individuen. Die »Philosophie des Geldes« hingegen untersucht die Wirkungen von Tausch und Wechselwirkungen auf das innere Lebensgefühl der Individuen und setzt die Erklärung der historischen Konstitution von Individualität aus der Schrift über soziale Differenzierung voraus. Hier beschreibt der Individualisierungsbegriff den Veränderungsprozess des inneren Erlebens der Persönlichkeit. In der »Soziologie« wird die Frage der »Philosophie des Geldes« verallgemeinert und verengt. Verallgemeinert zu der Frage

3. D AS

THEMATISCHE

Z ENTRUM

VON

S IMMEL S W ERK | 77

nach den Konsequenzen von Wechselwirkungen auf die Kultur und auf das Individuum. Zugespitzt auf die Frage nach der Möglichkeit der Darstellung von Einzigartigkeit mit kulturell standardisierten Darstellungsmitteln. Die Arbeiten »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« und »Der Konflikt der modernen Kultur« suchen die Folgen der notwendigen Entäußerung des Menschen in und durch Kultur für das Kulturwesen Menschen zu erfassen. In diesen Arbeiten werden einerseits die Ergebnisse der Analysen der »Philosophie des Geldes« und der »Soziologie« weitergeführt und in der Darstellung des Entäußerungsprozesses verdichtet, andererseits wird den beiden früheren Schriften nachträglich noch ein anthropologisches Fundament unterlegt und der Mensch als zur Entäußerung gezwungenes Wesen gefasst. Der Individualisierungsbegriff bezeichnet hier den mit der notwendigen Entäußerung einhergehenden Entfremdungsprozess des Menschen von seinen Objektivationen. Die Arbeiten zu den Formen des Individualismus fragen nach den kulturellen Möglichkeiten der Selbstthematisierung der Individuen in ihrer Individualitätserfahrung. Der Individualisierungsbegriff meint in diesem Kontext Formen der Selbstbeschreibung erlebter Individualität. Schließlich diskutiert das »individuelle Gesetz« Möglichkeiten der Selbstbestimmung, welche hier dann ausschließlich am Verständnis individueller Autonomie ansetzen. Tabelle 2: Tabellarische Zusammenfassung Argumentationsfigur aus:

Individualisierungsbegriff

Über soziale Differenzierung

Historische Ursache von Individualisierung

Philosophie des Geldes

Veränderung der Persönlichkeit durch Individualisierung

Soziologie

Die Paradoxie der modernen Individualität

Der Begriff und die Tragödie der Kultur; Der Konflikt der Kultur

Individualisierung als Entäußerung und Entfremdung

Formen des Individualismus

Formen der Selbstbeschreibung erlebter Individualität

Das individuelle Gesetz

Selbstbestimmte Individualisierung

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Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Argumentationsfiguren wird allerdings nicht expliziert. Aber die hier vorgenommene Rekonstruktion der Argumentationsfiguren lässt vermuten, dass das Individualisierungskonzept, analytisch betrachtet, auf zwei theoretischen Prämissen beruht: der kulturtheoretischen Entäußerungsthese (Abbildung 4) und der strukturtheoretischen Differenzierungsthese (Abbildung 1). Beide werden in der »Philosophie des Geldes« zusammengeführt (Abbildung 2). Darüber hinaus wird noch die kulturtheoretische Entäußerungsthese in eigenständigen Untersuchungen zur Paradoxie der Einzigartigkeit (Abbildung 3) und den Typen des Individualismus als kulturelles Muster der Selbstbeschreibung von Individualitätserfahrungen (Abbildung 5) vertieft, während die strukturtheoretische Differenzierungsthese nach dem Erscheinen der »Philosophie des Geldes« nur beibehalten und mitgeführt wird. Die besondere Bedeutung von Simmel für die gegenwärtige Individualisierungsdebatte liegt darin, dass seine facettenreiche Konzeption der Individualisierung mit verschiedenen Argumentationsfiguren das Problem der Individualität und der Individualisierung in der Moderne systematisch in den Mittelpunkt der Soziologie stellt. Dabei wird Individualisierung beständig aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, um schrittweise die Komplexität der Erfassung von Individualisierung zu vergrößern.

4. Die Zusammenhänge zwischen den Konzepten

In der Sekundärliteratur besteht Übereinstimmung darüber, dass im Zentrum der Soziologie Simmels die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft steht. Seine Arbeiten umkreisen durchgängig das »Thema seines Lebens«, das Problem der Persönlichkeit in der modernen Welt. Offen ist aber: Ist das Werk auch eine Einheit im Hinblick auf die theoretische Perspektive? Bezüglich der Frage nach der Möglichkeit der einheitlichen Interpretation von Simmels Werk gibt es zwei gegensätzliche Positionen. Eine Argumentationslinie geht davon aus, dass eine einheitliche Interpretation nicht möglich ist, weil sie die unterschiedlichen Werkphasen in ihrer Eigenständigkeit nicht hinreichend würdigen kann. Die andere Rekonstruktionsannahme versucht hingegen zu demonstrieren, dass das Werk eine durchgängige Intention verfolgt, die sich als theoretische, thematische oder methodologische Einheit verstehen lässt. Die Argumentationslinie, die Simmels Oeuvre in drei unterscheidbare Werkphasen einteilt, eine frühe positivistische, eine mittlere soziologische und schließlich eine späte philosophische Phase, gibt das Ordnungsprinzip der durch Otthein Rammstedt federführend betreuten Gesamtausgabe der Schriften wieder. Für diese Interpretationsannahme spricht, dass innerhalb der Werkentwicklung erkennbar unterschiedliche thematische und theoretische Schwerpunkte gegeben sind. Die frühe Phase wird durch erkenntnistheoretische Arbeiten, die Analysen zum Prozess der Differenzierung und die Überlegungen zur Möglichkeit einer Geschichtsphilosophie dominiert. Die zweite Phase reicht vom Programmaufsatz »Das Problem der Sociologie« von 1894, über die 1900 erscheinende »Philosophie des Geldes« bis hin

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zur »Soziologie« 1908. Die letzte Phase umfasst die »Hauptprobleme der Philosophie«, die Essaysammlung »Philosophische Kultur« sowie die »Lebensanschauung«. Auf den ersten Blick wirkt deshalb die Annahme der Dreiphasigkeit plausibel. Aber in der Rekonstruktion der zweiten Phase irritiert, dass ein vermeintlich soziologisches Werk im Titel als Philosophie gekennzeichnet wird. Auch die frühen Schriften sind nicht nur differenzierungstheoretisch und erkenntnistheoretisch orientiert. Vielmehr wird 1892/1893 eine zweibändige »Einleitung in die Moralwissenschaft« publiziert, ein Werk, das sich dem Studium moraltheoretischer Systeme aus einer soziologischen Perspektive widmet. Und selbst im letzten Schritt der Entwicklung, die überwiegend lebensphilosophisch dominiert scheint, findet sich 1917 die »kleine« Soziologie »Individuum und Gesellschaft (Grundfragen der Soziologie)«, die eine Verdichtung der »großen« »Soziologie« von 1908 darstellt. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich Simmels Denken nicht in einer strengen Abfolge entwickelte, sondern gleitende Übergänge und in einzelnen Phasen auch Wiederaufnahmen von früheren Perspektiven und Interessen nachweisbar sind. Die Ordnung des Oeuvres entspricht daher eher einer »Dreigleisigkeit«. Dreigleisig, weil zwar in den einzelnen Etappen der Werkentwicklung die Aufmerksamkeit auf den »Zug« jeweils eines »Gleises« konzentriert ist, aber die anderen zwei »Züge« auf ihren »Gleisen«, wenngleich langsamer, weiter fahren. Angesichts dessen ist es verständlich, dass Interpretationen, die von der Annahme einer einheitlichen Intention ausgehen, häufiger vertreten werden. Einheitsannahmen werden etwa von Hans-Peter Müller (vgl. 1993), Klaus Lichtblau (vgl. 1997), Birgitta Nedelmann (vgl. 1980), Michael Landmann (vgl. 1976), Antonio Bevers (vgl. 1985) und nicht zuletzt David Frisby (vgl. 1984) in unterschiedlicher Form vertreten. Auch diese Einführung geht von der Annahme aus, dass in mehreren Dimensionen eine Einheit des Werks gegeben ist: in thematischer, zeitdiagnostischer und in sozialtheoretischer Hinsicht. Die thematische Einheit besteht darin, dass Simmel beständig die für ihn zentrale Frage nach der Möglichkeit von Individualität und Persönlichkeit in der Moderne umkreist. Alle diese Bemühungen gehen von einer gleichbleibenden zeitdiagnostischen Kennzeichnung der Moderne als einer Zeit in Bewegung aus. Die darin zum Ausdruck kommende Zentralität von Dynamik und Bewegung, das Interesse an Entwicklungen und Prozessen findet ihren Niederschlag in der beständigen Anwendung des sozialtheoretischen Prinzips des Dualismus als Ausgangspunkt gesellschaftlicher Entwicklungsdyna-

4. D IE Z USAMMENHÄNGE

Z WISCHEN DEN

K ONZEP TEN | 81

mik. Trotz erkennbarer theoretischer Perspektivenwechsel innerhalb der Werkentwicklung liegt dahinter ein Verständnis theoretischen Arbeitens verborgen, welches die Einheit in der Vielfalt der Ansätze auf einer übergeordneten Ebene herstellt: Diese Haltung kann als »experimentelle Multiperspektivität« bezeichnet werden. Simmel fehlte über einen langen Zeitraum ein ihm angemessen erscheinendes theoretisches Vokabular für die Beantwortung seiner zentralen Fragestellung – das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das fehlende theoretische Vokabular macht verständlich, warum er in verschiedenen Anläufen mit Hilfe divergierender theoretischer Perspektiven jeweils unterschiedliche Teilprobleme der zentralen Fragestellung bearbeitet. Die Anläufe spiegeln sich in den drei thematischen Hauptgebieten seiner Arbeit wider. Die Perspektiven sind anfangs erkenntnistheoretisch, dann soziologisch und zeitdiagnostisch und schließlich lebensphilosophisch. Als Teilprobleme der zentralen Fragestellung gelten Differenzierungsprozesse, moderne Lebensstile und Individualisierungsprozesse. Experimentelle Multiperspektivität ist für Simmel dabei ein Hilfsmittel auf der Suche nach einer angemessenen theoretischen Sprache für sein soziologisches Interesse. Die im Zuge der Anwendung dieser Haltung erprobten theoretischen Perspektiven werden durch die durchgehaltene sozialtheoretische Vorannahme des Dualismus integriert. Aber experimentelle Multiperspektivität ist nicht nur ein methodologisches Hilfsmittel, sondern auch Konsequenz der soziologischen Zeitdiagnose. Denn die Moderne wird durch ihre Vielgestaltigkeit und den fragmentarischen Charakter des Lebens ausgezeichnet und ihre »Entzweiung« und beständige Bewegung betont (vgl. Bevers 1985; Junge 1997). Sieht man Simmels Arbeiten vor der Annahme einer Werkeinheit und nimmt das methodische Hilfsmittel der Multiperspektivität hinzu, dann wird sichtbar, dass Simmel eine zugleich zeitdiagnostische und systematische Soziologie entwickelte. Dabei verweisen beide Elemente aufeinander. Denn die zeitdiagnostischen Überlegungen benutzen Konzepte der systematischen Soziologie, und umgekehrt wird die systematische Soziologie durch zeitdiagnostische Aussagen zur Weiterentwicklung genötigt.

5. Simmel im Vergleich mit Weber und Durkheim

Vergleicht man die Klassiker der Soziologie, insbesondere Max Weber, Émile Durkheim und Georg Simmel, miteinander, so fallen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. In der Konstitutionsphase der Entwicklung der Soziologie stehen erkenntnistheoretische und gegenstandsbezogene Analysen im Mittelpunkt der Arbeit der Klassiker. Vor allem waren ihnen die Lösungen von vier Problemen wichtig: Was denn Gegenstand der Soziologie sein solle, was unter Gesellschaft zu verstehen sei, welche (Erkenntnis-)Methode dem Gegenstand angemessen sein könnte und schließlich die Frage nach einer Zeitdiagnose. Diese Fragen hängen untereinander zusammen und erlauben eine umfassende Skizze der Soziologie der Klassiker (Brock/Junge/ Krähnke 2007: 185ff.). Aus der Antwort etwa auf die erkenntnistheoretische Frage ergeben sich jeweils Konsequenzen für die Bestimmung des Gegenstands der Soziologie. Und aus dieser Bestimmung wiederum leiten sich spezifische Interessen in der Erforschung etwa von Ursachen oder stärker von Wirkungen und Funktionen sozialer Phänomene ab. Die Gemeinsamkeiten der Klassiker leiten sich aus einer geteilten Einschätzung der Zeitsituation am Beginn des 20. Jahrhunderts ab: Sie teilen eine skeptische Haltung gegenüber der Moderne. Die Moderne erscheint ihnen nicht als Verheißung, sondern vielmehr als Problemhorizont der Entfaltung individuellen Lebens in gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Moderne ist in ihrer Einschätzung von Grund auf problematisch. Verbunden mit Anomie in den Augen Durkheims (vgl. 1897), mit einer unbegrenzten und problematischen Lebensstilpluralisierung bei Simmel (vgl. 1900) oder mit der Befürchtung einer

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entmenschlichenden Rationalisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse bei Weber (vgl. 1920). Sie fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf die Schattenseiten der modernen gesellschaftlichen Entwicklung. Und sie diskutieren dabei folgerichtig immer wieder die Frage nach der Möglichkeit der individuellen Bewältigung der Moderne. Es ist das Individuum, der Einzelne, der sich angesichts der Übermacht gesellschaftlicher Entwicklungen zu diesen positionieren muss. Die Analysen gehen von einer grundlegenden Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft aus und sehen den Einzelnen mehr als Objekt, weniger als Gestalter gesellschaftlicher Prozesse. Bei Durkheim wird dies in »Der Selbstmord« (1897) deutlich. Die Studie zeigt, wie Selbstmordhandeln eine Reaktion auf Krisen der normativen Regulation der Gesellschaft darstellt. Hier ist die Ursache für Selbstmordhandeln deutlich auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene der Analyse angesiedelt. »Jedesmal wenn es im sozialen Körper tiefgreifende Umstellungen gibt, […], gibt der Mensch der Versuchung zum Selbstmord leichter nach.« (Durkheim 1897: 279) Von der Gesellschaft aus wirken Kräfte auf das Individuum, denen es, bis hin zum Selbstmordhandeln, zwingend unterworfen ist, weil die Gesellschaft die individuellen Freiheitsgrade des Handelns einschränkt. Bei Weber wird die Skepsis gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen in der Moderne fassbar in seiner Befürchtung eines »Gehäuses der Hörigkeit« im Gefolge der Durchsetzung der Moderne. Diese ist für Weber vor allem durch einen umfassenden Rationalisierungsoder Entzauberungsprozess beschrieben. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Auswirkungen von Rationalisierungsprozessen auf die individuelle Lebensführung wie auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese zwingen den Menschen zu einer Orientierung an (Erwerbs-)Zwecken unter Vernachlässigung seiner Bedürfnisse: »Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.« (Weber 1920: 33ff.) So skizziert Weber in der Protestantischen Ethik sowohl die Veränderungen der individuellen Lebensführung durch den Calvinismus, etwa eine zunehmende Selbstdisziplinierung und -kontrolle, wie auch die gesellschaftlichen Auswirkungen durch den dadurch entstehenden »Geist des Kapitalismus«. Und bei Simmel schließlich verdichtet sich die Modernitätsskepsis in der Ahnung und Diagnose einer Tragödie der Kultur, wie ein Kapitel der »Philosophischen Kultur« von 1911 benannt ist. Die Kulturentwicklung läuft für Simmel auf eine ins Unermessliche gehende Steigerung der Menge kultureller Produkte hinaus, die sich der Einzelne nicht mehr aneignen kann, sondern in

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der Tendenz von ihnen »überflutet« wird, weil die vom Menschen erschaffenen Kulturgüter am Ende »die Form der Objektivität« (1911: 412) annehmen. Dadurch wird Kultur, ursprünglich ein Hilfsmittel zur Problemlösung, schrittweise zu einer eigenständigen Sphäre und damit die Tragödie der Kultur ausgelöst. Über diese Grundhaltung hinaus werden die Klassiker geeint durch eine Vermeidung des Gesellschaftsbegriffs und den Versuch, die Soziologie auf einer abstrakteren begrifflichen Grundlage – den Konzepten des sozialen Handelns, der sozialen Struktur oder der Wechselwirkung – zu entwickeln. Bei Durkheim ist dies nicht ganz deutlich, er sucht zwar den Begriff des Kollektivbewusstseins gegenüber dem der Gesellschaft vorzuziehen, zieht jedoch am Ende immer wieder Gesellschaft als erklärenden Größe heran. Bei Weber und Simmel ist die Ablehnung des Gesellschaftsbegriffs deutlicher: Sie meiden den Begriff konsequent und ersetzen ihn durch den Begriff der Vergesellschaftung, um den Prozess-Charakter des sozialen Geschehens in ihren Analysen zu betonen. Dadurch unterscheiden sich die Analysen Durkheims und Simmels sowie Webers Ansatz grundlegend. Durkheim konzentriert sich mit seinem Fokus auf die Bedingungen gesellschaftlicher Integration ausgeprägter als Simmel und Weber auf den statischen Aspekt der Gesellschaft, während Simmel und Weber die dynamische Seite gesellschaftlicher Prozesse, Wandel, Differenzierung und Evolution in den Vordergrund stellen. Aber es muss auch erwähnt werden, dass auch Durkheim sich, etwa in »Über soziale Arbeitsteilung« (1893), mit dem Sachverhalt gesellschaftlicher Entwicklung und ihrem Zusammenhang mit Veränderungen der gesellschaftlichen Integration befasst hat. Gemeinsam ist den Klassikern auch, dass sie sich alle mit erkenntnistheoretischen Problemen der Fundierung der Soziologie befassten. Durkheim strebte nach einer am Modell naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung orientierten Forschungsprogrammatik für die Soziologie, ihr deutlichster Ausdruck findet sich in »Die Regeln der soziologischen Methode« von 1895, denn die erste methodische Regel fordert, dass »die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten« sind (1895: 115). Demgegenüber sucht Simmel eine verstehende Soziologie zu entwickeln und Weber befürwortet – in seiner berühmten Definition der Soziologie »als Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (1922: 1) – scheinbar vermittelnd zwischen beiden Positionen eine verstehende und zugleich erklärende Methodologie für die Sozialwissenschaften. Diese Reflexionen sind bis heute anschlussfähige Ausarbeitungen geblieben. Alle drei Ent-

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würfe haben Spuren in der gegenwärtigen Soziologie hinterlassen: An Durkheim und seinem Interesse an Strukturen knüpft beispielsweise der Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons an. Simmel steht Pate für eine phänomenologische Ausrichtung der Soziologie, so zum Beispiel das Werk von Alfred Schütz, und an Max Weber knüpfen weiterführende Überlegungen zu einer verstehenden und erklärenden Soziologie, etwa die Arbeiten von Hartmut Esser, an. Eine weitere Gemeinsamkeit ergibt sich direkt aus der Modernitätsskepsis. Alle drei beschreiben die gesellschaftliche Entwicklung nicht mit Hilfe der Fortschrittskonzeption. Vielmehr sind sie ausgesprochene Fortschrittsskeptiker, wenngleich dies bei Durkheim erst nach seiner Selbstmordstudie deutlich wird. Die Fortschrittsidee ist verbunden mit der Annahme, dass in allen Verhältnissen eine beständige Steigerung zum Besseren, weiter Entwickeltem angelegt sei. Eine solche Annahme lässt sich jedoch kaum mit einer pessimistischen Zeitdiagnose vereinbaren. Und die Zeitdiagnosen aller drei sind pessimistisch. Für Durkheim steht das Konzept der Anomie im Mittelpunkt und bestärkt seine Befürchtung einer zunehmend geringer werdenden normativen Regulation individuellen Handelns. Simmel demgegenüber sucht nach den Konsequenzen kapitalistischer, geldwirtschaftlicher Vergesellschaftung und beschreibt sie als Ausformung individuell Lebensstile und ihrer Pluralisierung. Und Weber diskutiert direkt anschließend an die Modernitätsskepsis die Gefahr eines Sinn- und Freiheitsverlustes der Individuen in modernen Gesellschaften, die sich zum schon genannten »Gehäuse der Hörigkeit« verdichten könnte. Gemeinsam ist diesen drei Überlegungen die allgemeine Skepsis, das Unbehagen angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung. Was diese drei Autoren dann jedoch trennt, ist der beispielhafte Gegenstand – Anomie, Lebensstile, Sinn- und Freiheitsverlust –, mit dem sie ihre Skepsis begründen. Neben diesen Gemeinsamkeiten sind natürlich Unterschiede zu konstatieren. Diese beziehen sich vor allem auf die Auffassung vom Gegenstand der Soziologie. Der Gegenstand der Soziologie wird bei Durkheim in der Erfassung der sozialen und moralischen Tatsachen gesehen, die gemäß einer naturwissenschaftlichen Methodologie als Dinge zu betrachten und zu analysieren sind. Für Simmel ist der Gegenstand der Soziologie mit den sozialen Wechselwirkungen gegeben, d.h. mit einem Phänomen, welches sich aus der Interaktion und dem Zusammenwirken von Handlungen zwischen Individuen ergibt. Bei Max Weber schließlich ist der Gegenstand der Soziologie das soziale Handeln, welche deutend zu verstehen und zu erklären ist.

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In allen drei Konzeptionen des Gegenstands der Soziologie liegen drei unterschiedlich Ansatzpunkte für die Entwicklung des soziologischen Denkens vor, die bis heute in der paradigmatische Struktur der soziologischen Theorie wieder zu finden sind. An Durkheim schließen strukturtheoretisch orientierte Überlegungen an, während an Weber eher handlungstheoretisch orientierte Ansätze andocken können und Simmel kann für systemtheoretische Gedankengebäude verbucht werden. Die Konzepte von Struktur, Handlung und System (respektive Wechselwirkung) bieten bis heute zurückgreifend auf die Klassiker Anhaltspunkte für die paradigmatische Struktur des gegenwärtigen sozialtheoretischen Denkens. Betrachtet man zusammenfassend alle drei Klassiker, so kann man festhalten, dass von ihnen drei Modelle zu Entfaltung der Soziologie vorgelegt werden, deren Differenzen bis heute tragende paradigmatische Differenzen in der soziologischen Theorie bilden.

6. Simmel heute

Simmel selber ahnte, dass sein Werk für lange Zeit als ein Steinbruch Verwendung finden würde. Diese Ahnung trog nicht. Aufgrund seines essayistischen Stils, einer scharfen Beobachtungsgabe auch für kleinste soziale Phänomene wie das Schenken, die Rose oder die Geselligkeit, seiner Zuwendung zu eher selten thematisierten Gegenständen wie den Sinnen, blieb sein Œuvre lange Zeit ein zumeist unzitierter Quell für Anregungen. Dies änderte sich erst im Zuge von Bemühungen, eine Gesamtausgabe der Schriften herauszugeben. Seitdem nehmen Beiträge zu, die einen systematischen Kern des soziologischen Denkens von Simmel herausarbeiten wollen. Behilflich sind dabei auch die seit 1991 von Otthein Rammstedt herausgegeben Simmel Newsletter, die ein internationales Forum für alle Simmel-Forscher geworden sind. Die Bedeutung Simmels für die gegenwärtige soziologische Diskussion liegt vor allem im Aufgreifen wichtiger Begriffe und Konzepte von Simmel sowie im systematischen Anknüpfen an einzelne Argumentationsfiguren seiner Soziologie. Der Umgang mit dem Werk Simmels lässt sich entlang typischer Formen klassifizieren: Einzelne Analysen suchen eine systematische Struktur im Werk zu finden, andere Autoren betonen den fragmentarischen und essayistischen Charakter der Arbeiten, und eine dritte Gruppe von Rezipienten schließlich sucht das Werk durch eine historische Situierung aufzuklären. Autoren der ersten Gruppe sind etwa Donald Levine (1985; 1992), Birgitta Nedelmann (1980; 1992) und der Verfasser dieser Einführung (vgl. Junge 2000). Erstgenannter sieht den Kern von Simmels Soziologie in seinem Konzept der Form, welches das Resultat von Wechselwirkungen zu erfassen erlaubt. Levine weist, ähnlich wie Nedelmann und Junge, zudem auf die besondere Bedeutung von Ambiguität und

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Ambivalenz für die Soziologie Simmels hin. Mit diesen Konzepten sucht Simmel die individuelle Erfahrung von Vergesellschaftungsprozessen als Auswirkung der elementaren Dualität zu beschreiben. Beide Erfahrungen sind unvermeidbar. Die Konzepte öffnen die soziologische Wahrnehmung für die soziale Bedeutsamkeit des nicht eindeutig Bestimmten, der Bi- und Multivalenz unserer Haltung gegenüber den Formen der Vergesellschaftung. In diese Gruppe gehört von den jüngeren Simmelforschern auch Andreas Ziemann (2000), der die Möglichkeit einer Gesellschaftstheorie an eine zuvor erfolgte Erkenntniskritik der Soziologie in den Bahnen Simmels gebunden sieht. Diese hier exemplarisch genannten Anschlüsse an Intentionen und Konzepte Simmels zeigen, welche systematischen Chancen zur Theoriebildung mit Simmel, entgegen einem häufig vertretenen Vorurteil, verknüpft werden können Der fragmentarische Charakter der Soziologie Simmels muss nicht nur vorwurfsvoll bedacht werden, sondern vielmehr kann dieser Stil auch als angemessener Ausdruck von Simmels Zeitdiagnose betrachtet werden. David Frisby (1989) hat diesen Aspekt von Simmels Werk deutlich herausgearbeitet und zeigen können, dass in Simmels Werk die essayistische Form und der Inhalt, die Darstellung der Moderne, zusammenfallen. Denn die Darstellungsform Essay spiegelt den substantiellen Charakter der Moderne wieder: Die Moderne erscheint bei Simmel fragmentiert. Die Haupterfahrung des modernen Individuums sind fragmentierte, bruchstückhafte Erfahrungen ohne Einheit. Ihre Wiederherstellung gelingt nicht, weil die Realität in eine Vielzahl von vereinzelten Erfahrungen und Erfahrungsfragmente zerfällt, ohne dass sich diese noch zusammenfügen lassen. »Wenn die Moderne als charakteristische Erfahrungsweise der (sozialen) Wirklichkeit eine Sicht der Gesellschaft und der in sie eingebetteten gesellschaftlichen Beziehungen als (zeitlich) übergangshaft und (räumlich) flüchtig beinhaltet, so bedeutet dies umgekehrt, daß traditionelle permanente Strukturen den menschlichen Erfahrungen nun nicht mehr zugänglich sind.« (Frisby 1989: 52) Simmel kann, folgt man der Skizze von David Frisby, in eine Reihe mit Benjamin (1892-1940) und Baudelaire (1821-1867) gestellt werden, die sich ebenfalls an einer Beschreibung des fragmenthaften Charakters der Gegenwart als Moderne versucht haben. Alle drei teilen die Annahme, dass die Moderne nur fragmentierte Erfahrungen ermöglicht, weil sie selbst fragmentiert ist. Vor diesem Hintergrund ist die Darstellung der Moderne als eine einheitliche Gestalt nicht mehr möglich. Folglich verbieten sich auch Textgattungen, die im analytisch gradlinigen Zugriff das Ganze der Moderne zu beschreiben suchen.

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Vielmehr ist gerade das Essay die angemessene Ausdrucksform, um die Moderne zu skizzieren, und eben nicht: analytisch detailliert und systematisch in den Blick zu nehmen. In dieser Rezeptionslinie befinden sich auch die Arbeiten von Zygmunt Bauman (geb. 1925; vgl. 1995), der ohne systematische Intention einer Simmelrekonstruktion viele Elemente von Simmels Denken – Ambivalenz, Wechselwirkung, das Konzept der Lebensstile – aufgreift und benutzt, um von dort aus eine eigenständige Soziologie der Postmoderne (vgl. 1992) zu entwickeln. Wenngleich Bauman seine Rückgriffe auf Simmel selten explizit erwähnt, so sind seine prägenden Spuren im Werk Baumans unübersehbar (vgl. zusammenfassend Junge 2006). Es ist gegenwärtig allerdings umstritten, ob fragmentierte Erfahrungen ein Kennzeichen der Moderne sind oder nicht vielmehr ein Indikator für eine bereits gegebene Postmoderne darstellen. Die letzte Annahme wird von Deena Weinstein und Michael A. Weinstein (vgl. 1991; 1993) pointiert vorgetragen. Sie rekonstruieren Simmels essayistischen Stil als substantielle Beschreibung der Postmoderne, indem sie die Figur des Flaneurs und des Bricoleurs in den Mittelpunkt rücken. Es ist vor allem der Bricoleur, übersetzt der Bastler, also jemand, der sich selbst basteln, zusammensetzen oder erfinden kann, den sie ins Feld führen, um ein Merkmal der Postmoderne in den Arbeiten Simmels aufzuspüren. Sie kennzeichnen seine Arbeiten dabei so: »Simmel as bricoleur is a practitioner of a demystified savage mind, a post-structuralist before the advent of structuralism.« (Weinstein/Weinstein 1991: 162) Auch heute noch finden sich Spuren der Idee des Bastelns als Zeitbeschreibung in der Soziologie (vgl. Hitzler/ Honer 1994). Diese Deutung Simmels kämpft jedoch mit dem Problem, dass Simmel an der Wende des beginnenden 20. Jahrhunderts schrieb. Wie kann ein in der Moderne schreibender bereits der Postmoderne, die frühestens in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begann, zugeordnet werden? Aber auf der anderen Seite: Simmel kann sicherlich in Anspruch genommen werden als Anregungsgeber für ein sich in der Gegenwart vollziehendes postmodernes Denken. Diese Frage muss hier offen bleiben. Wendet man sich Arbeiten zu, die ein Verständnis des Werks von Simmel durch seine historische Einordnung leisten wollen, so sind in Deutschland vor allem die umfassenden Studien von Klaus Christian Köhnke (1996) zur Bedeutung des Kantianismus für die Entwicklung von Simmels Soziologie und die Arbeit von Klaus Lichtblau (1996) zur Konstitution der Kultursoziologie an der Wende zum 20. Jahrhundert

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zu nennen. Beide Autoren gehen detailliert und umfassend die historischen Dokumente sichtend und bewertend an die Soziologie Simmels heran, und versuchen sie vor dem Hintergrund ihrer sozial-, kulturund geistesgeschichtlichen Einbettungen verständlich zu machen. In systematischer Hinsicht ist vor allem Simmels Annahme eines elementaren Dualismus als Grundlage zur Etablierung vielfältiger Wechselwirkungen und Vergesellschaftungsformen eine Argumentationsfigur gewesen, die im analytischen und sozialtheoretischen Denken bis zur Gegenwart Bedeutung hat. So ist in der Kulturtheorie von Margaret Archer (vgl. 1988) ein analytischer Dualismus zwischen handlungsfähigen Akteuren und den soziokulturellen Systemen bedeutsam, weil erst ihre wechselseitige Beziehung aufeinander die Dynamik und den kulturellen Wandel zu rekonstruieren erlaubt. Ähnlich ist in der Sozialtheorie von Anthony Giddens (vgl. 1984) die Dualität von Handlung und Struktur maßgebend für den Theorieauf bau gewesen. Dualität von Handlung und Struktur bedeutet hier, ähnlich wie bei Simmel, dass Handlungen nicht ohne Struktur gedacht werden können und Strukturen ihrerseits nicht ohne Handlung gedeutet und aufgebaut werden können. Handlung und Struktur verweisen wechselseitig aufeinander wie Inhalt und Form und erlauben so, auf bauend auf der Annahme eines elementaren Dualismus, die Rekonstruktion von Vergesellschaftungsverhältnissen. Geblieben ist dabei in beiden beispielhaft angeführten Modellen von Archer und Giddens, dass der Dualismus nicht mehr zu einer Einheit zusammengefügt werden kann. Sie folgen damit in der Grundtendenz der Annahme von Simmel, dass sich aus der Dualität, der Polarität heraus die Dynamik von Entwicklungen entfaltet. Die Idee der Wechselwirkung oder, in einer Formulierung Simmels, die Annahme, dass Alles mit Allem zusammenhängt, hat sich vor allem in der modernen Systemtheorie, ohne dass eine explizite Simmel Rezeption vorliegt, Bahn gebrochen. Die Systemtheorien in ihrer in Deutschland am weitesten entwickelten Form, der von Niklas Luhmann, zeigt, wie die soziale Realität als ein Zusammenhang vielfältiger Wechselwirkungen aufgefasst werden kann. Darüber hinausgehend wird dieser Gedanke auch noch auf die Theorie übertragen und gezeigt, wie Wechselwirkungen zwischen Theorieelementen sich auf die Theorie als Ganzes auswirken. Schließlich ist nochmals zu erwähnen, dass Simmel gemeinsam mit Weber eine Skepsis gegenüber dem Gesellschaftsbegriff teilte, die sich in der konsequenten Vermeidung des Begriffs zeigt. Denn um von Gesellschaft sprechen zu können, muss man die Grenzen einer Gesellschaft angeben können. Eine Gesellschaft kann nur identifiziert

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werden, wenn ihre äußere Grenze, das Andere, das Unzugehörige bestimmt werden kann, wenn angegeben werden kann, was nicht mehr zu Gesellschaft dazugehört. Das Gesellschaftskonzept ist so lange tragfähig, wie Gesellschaften mit den Grenzen von Nationalstaaten zusammenfallen. Die historische Entwicklung hat jedoch dazu geführt, dass die Grenzen von Gesellschaft und Nationalstaats nicht mehr zusammenfallen. An einem einfachen Beispiel kann erläutert werden, was damit gemeint ist: Elsass-Lothringen hat in seiner Geschichte mehrfach zu Deutschland und dann wiederum zu Frankreich gehört. Daraus ergibt sich die Frage: War Elsass-Lothringen dann jeweils ein deutscher und dann wieder ein französischer Gesellschaftsteil? Diese Frage lässt sich nicht befriedigend beantworten. Sie zeigt aber, dass die Identifizierung von Gesellschaft mit Nationalstaat nicht tragfähig ist. Hinzu kommt in der gegenwärtigen Situation von Globalisierung, dass nationalstaatliche Steuerungen durch internationale und transnationale Verbände und Vereinigungen wie die europäische Gemeinschaft oder die Welthandelsgesellschaft oder die UNO überlagert und zum Teil außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden. De facto leben wir nicht mehr in einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft, sondern in einem Vergesellschaftungszusammenhang, in der der Nationalstaat nur eine neben vielen anderen Steuerungs- und Regulationsgrößen darstellt. Auch vor diesem Hintergrund greift der Gedanke der nationalstaatlich verfassten Gesellschaft nicht mehr. Und dann bleibt zu guter Letzt noch ein Beispiel zu erwähnen, in dem sich die Simmel nicht nennende Rezeption zeigt. Das sind die Arbeiten von Ulrich Beck zur Individualisierung (vgl. zusammenfassend Junge 2002). Die Individualisierungskonzeption bezieht einen Großteil ihrer Dynamik aus dem Konzept des Lebensstils und wurde im Rahmen sowohl der Sozialstrukturanalyse wie auch der Ungleichheitsforschung verwendet, um die neuartigen Ungleichheitsstrukturen der Gegenwart besser skizzieren zu können. Wenngleich Simmel nicht der einzige Soziologe ist, der das Lebensstilkonzept prägte, so ist doch gerade seine Lebensstilanalyse aus der »Philosophie des Geldes« ein maßgeblicher Text auch für eine heutige Lebensstilanalyse geblieben. Diese hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführten Beispiele der Wiederaufnahme von Simmels Soziologie zeigen ihre ungebrochene Aktualität sowohl in systematischer sozialtheoretischer Hinsicht wie auch im Hinblick auf die Möglichkeiten zeitdiagnostischen Denkens. Insgesamt erfreut sich Simmels Soziologie zunehmender Aufmerksamkeit und sein Erbe reger Rezeption, Anwendung und Weiterentwicklung. Der Reichtum des »Steinbruchs« erweist sich auch heute als Anknüpfungspunkt für soziologisches Denken in systematischer und zeitdiagnostischer Absicht.

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Tabellen Tabelle 1: Ordnungskonstitution im Zusammenspiel von Form und Inhalt 43 Tabelle 2: Tabellarische Zusammenfassung 77

Abbildungen Abbildung 1: Die Argumentationsfigur »Über sociale Differenzierung« 68 Abbildung 2: Die Argumentationsfigur der »Philosophie des Geldes« 70 Abbildung 3: Die Argumentationsfigur der »Soziologie« 72 Abbildung 4: Die Argumentationsfigur der »Tragödie der Kultur« 72 Abbildung 5: Die Argumentation zu den Individualismusformen 73 Abbildung 6: Die Argumentationsfigur in »Das individuelle Gesetz« 76

Literatur

1. Quellenarchiv zu Georg Simmel Alle Angaben beziehen sich auf die Simmel-Gesamtausgabe (SG), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Hinter dem Gedankenstrich findet sich eine kurze thematische Benennung der Textpassage. Quelle 1: SG 16, S. 62-87 (Grundfragen der Soziologie. [Individuum und Gesellschaft], Erstes Kapitel, Orig. 1917) – Die Gliederung der Teilgebiete der Soziologie. Quelle 2: SG 16, S. 183-184 (Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag, Orig. 1918) – Kulturbegriff. Quelle 3: SG 16, S. 218-228 (Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Orig. 1918) – Lebensbegriff. Quelle 4: SG 16, S. 346-351 (Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, Orig. 1918) – Das individuelle Gesetz als Totalität. Quelle 5: SG 4, S. 9-11 (Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Zweiter Band, Orig. 1893) – Moralwissenschaft als empirische Erforschung der Ethik. Quelle 6: SG 7, S. 99-100 (Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart, Orig. 1902) – Kennzeichnung der Modernität. Quelle 7: SG 7, S. 116-123 (Die Großstädte und das Geistesleben, Orig. 1903) – Lebensformen in der modernen Großstadt. Quelle 8: SG 7, S. 49-56 (Die beiden Formen des Individualismus, Orig. 1901) – Quantitativer und qualitativer Individualismus. Quelle 9: SG 11, S. 13-23 (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Erstes Kapitel, Das Problem der Soziologie, Orig. 1908) – Die Differenz von Form und Inhalt als Methode der Soziologie.

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Quelle 10: SG 11, S. 42-61 (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?, Orig. 1908) – Soziologische Apriori. Quelle 11: SG 11, S. 284-286 (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Viertes Kapitel, Der Streit, Orig. 1908) – Vergesellschaftungswirkungen des Streites. Quelle 12: SG 11, S. 764-771 (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Exkurs über den Fremden, Orig. 1908) – Zur Soziologie des Fremden. Quelle 13: SG 2, S. 237-241 (Über sociale Differenzierung, V. Über die Kreuzung socialer Kreise, Orig. 1890) – Differenzierung und Individualität. Quelle 14: SG 2, S. 129-131 (Über sociale Differenzierung, I. Einleitung. Zur Erkenntnistheorie der Socialwissenschaft, Orig. 1890) – Gesellschaft als Summenbegriff von Wechselwirkungen. Quelle 15: SG 8, S. 74-75 (Philosophie der Geschlechter. Fragmente, Orig. 1906) – Dualismus als Grundform des Seins. Quelle 16: SG 8, S. 374-384 (Das Problem des Stiles, Orig. 1908) – Stil als scheiternder individueller Lösungsversuch der Probleme moderner Individualität. Quelle 17: SG 6, S. 32-38 (Philosophie des Geldes, Orig. 1900) – Begehren als Antriebskraft der Vergesellschaftung. Quelle 18: SG 6, S. 534-541 (Philosophie des Geldes, Orig. 1900) – Blasiertheit als Lebensform. Quelle 19: SG 2, S. 339-344 (Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Orig. 1892) – Begründung der Unmöglichkeit historischer Gesetze. Quelle 20: SG 10, S. 59-68 (Die Religion, Orig. 1906, abgedruckt ist die zweite Aufl. von 1912) – Das Religioide als Gegenstand der Religionssoziologie.

2. Primärliteratur Simmel, Georg (1890 [1989]): Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen. In: Heinz-Jürgen Dahme (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze 1887 bis 1890. (Gesamtausgabe Bd. 2) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 109-295. Simmel, Georg (1892 [1989]): Die Probleme der Geschichtsphilosophie. In: Heinz-Jürgen Dahme (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze 1887 bis 1890. (Gesamtausgabe Bd. 2) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 297-421.

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Simmel, Georg (1892/93 [1989/1991]): Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. 2 Bde. In: Klaus Christian Köhnke (Hg.): Georg Simmel. Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. (Gesamtausgabe Bd. 3/Bd. 4) Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Simmel, Georg (1894 [1992]): Das Problem der Sociologie. In: HeinzJürgen Dahme/David P. Frisby (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. (Gesamtausgabe Bd. 5) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 52-61. Simmel, Georg (1900 [1989]): Philosophie des Geldes. In: David P. Frisby/Klaus Christian Köhnke (Hg.): Georg Simmel. Philosophie des Geldes. (Gesamtausgabe Bd. 6) Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Simmel, Georg (1901 [1995]): Die beiden Formen des Individualismus. In: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 1. (Gesamtausgabe Bd. 7) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 49-56. Simmel, Georg (1902 [1995]): Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart. In: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 1. (Gesamtausgabe Bd. 7) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 92-100. Simmel, Georg (1903 [1995]): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 1. (Gesamtausgabe Bd. 7) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116-131. Simmel, Georg (1906 [1995]): Die Religion. In: Michael Behr/Volkhard Krech/Gert Schmidt (Hg.): Georg Simmel. Philosophie der Mode: (1905). (Gesamtausgabe Bd. 10) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 39118. Simmel, Georg (1908 [1992]): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. (Gesamtausgabe Bd. 11) Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Simmel, Georg (1911 [1996]): Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Rüdiger Kramme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Hauptprobleme der Philosophie, Philosophische Kultur. (Gesamtausgabe Bd. 14) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 385-416. Simmel, Georg (1911 [1996]): Michelangelo. In: Rüdiger Kramme/Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel. Hauptprobleme der Philosophie, Philosophische Kultur. (Gesamtausgabe Bd. 14) Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 304-329.

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3. Sekundärliteratur zu Simmel Bevers, Antonius M. (1985): Dynamik der Formen bei Georg Simmel. Eine Studie über die methodische und theoretische Einheit eines Gesamtwerkes. Berlin: Duncker & Humblot. Brock, Ditmar/Junge, Matthias/Krähnke, Uwe (2007): Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons. Einführung. München; Wien: Oldenbourg, 2. verbesserte Auflage. Dahme, Heinz-Jürgen (1981): Soziologie als exakte Wissenschaft. Georg Simmels Ansatz und seine Bedeutung in der gegenwärtigen Soziologie. 2 Bde. Stuttgart: Enke. Dahme, Heinz-Jürgen/Rammstedt, Otthein (1984): Die zeitlose Modernität der soziologischen Klassiker. Überlegungen zur Theoriekonstruktion von Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber und besonders Georg Simmel. In: Heinz-Jürgen Dahme/ Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 449-478. Frisby, David (1984): Georg Simmel. Chichester/London/New York: Ellis Horwood; Tavistock; Methuen Inc. Frisby, David (1988): Soziologie und Moderne. Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber. In: Otthein Rammstedt (Hg.): Sim-

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4. Weitere zitier te Literatur Archer, Margaret S. (1988): Culture and Agency: The Place of Culture in Social Theory. Cambridge: Cambridge University Press. Bauman, Zygmunt (1992): Intimations of Postmodernity. London; New York: Routledge. Bauman, Zygmunt (1995): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a.M.: Fischer. (Orig. 1991) Blau, Peter M. (1964): Exchange and Power in Social Life. New York/ London/Sydney: Wiley. Durkheim, Émile (1893 [1988]): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, Émile (1895 [1984]): Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, Émile (1897 [1987]): Der Selbstmord. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, Émile (1991): Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral. (Übersetzt von Michael Bischoff; Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Peter Müller) Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Elias, Norbert (1936 [1976]): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Giddens, Anthony (1984 [1988]): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M./ New York: Campus. Hitzler, Ronald/Honer, Anne (1994): Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung. In: Ulrich Beck/Elisabeth

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(Hg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 146-214. Weber, Max (1904/05 [1993]): Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus. (Textausgabe auf der Grundlage der ersten Fassung von 1904/05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 herausgegeben und eingeleitet von Klaus Lichtblau und Johannes Weiß) Bodenheim: Athenäum Hain Hanstein. Weber, Max (1919 [1988]): Politik als Beruf. In: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber. Gesammelte politische Schriften. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 505-560. Weber, Max (1920 [1988]): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr Siebeck. Weber, Max (1922 [1988]): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausgabe. Tübingen: Mohr Siebeck. Wiese, Leopold von (1933): System der allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre). Berlin: Duncker & Humblot.

Personenindex

Archer, Margaret 92 Bauman, Zygmunt 91 Beck, Ulrich 93 Bergson, Henri 62 Bevers, Antonio 80, 81 Comte, Auguste 23 Dilthey, Wilhelm 9, 10 Droysen, Gustav 9 Durkheim, Emile 7, 13, 19, 2527, 48, 51, 52, 62, 65, 66, 68, 83, 84-87 Elias, Norbert 87 Friedländer, Julius 9 Frisby, David 54, 80, 90 George, Stefan 11 Giddens, Anthony 42, 92 Herder, Johann Gottfried von 74 Hume, David 40 Kant, Immanuel 64, 74, 91 Kinel, Gertrud 10 Köhnke, Klaus Christian 23, 91 Landmann, Michael 11, 80 Lazarus, Moritz 9 Levine, Donald 89 Lichtblau, Klaus 28, 80, 91 Luhmann, Niklas 92 Mandeville, Bernhard 18 Michelangelo 53, 53, 99

Müller, Hans-Peter 25, 67, 70, 80 Nedelmann, Birgitta 33, 34, 62, 80, 89 Nietzsche, Friedrich 62, 74 Park, Robert 52 Parsons, Talcott 67, 86 Rammstedt, Otthein 39, 62, 79, 89 Rickert, Heinrich 11 Rilke, Rainer Maria 11 Rodin, August 11, 52, 53, 54 Schütz, Alfred 52, 86 Smith, Adam 67 Spencer, Herbert 10, 16, 67 Tönnies, Ferdinand 65-67 Tucholsky, Kurt 35 Weber, Marianne 10 Weber, Max 7, 11, 26, 48, 52, 62, 65-67, 70, 76, 83-87, 92 Weinstein, Deena 91 Weinstein, Michael A. 91 Wiese, Leopold von 61 Zeller, Eduard 9, 10

Sachindex

Ambiguität 89 Ambivalenz 90-91, 102 Apriori 8, 21-23, 43-45, 98 Begehren 29-32, 34 98 Differenzierung, soziale 10, 15, 21, 68, 76 Entäußerung 72, 77 Entfremdung 72-73, 77 Ethik 23-25, 64, 67, 76, 84, 97, 104 Form/Inhalt 89, 90, 91, 92 Fremde, der 47, 48, 52 Geld 30-33, 69-70, 101, 103 Geldwirtschaft 32, 36, 38, 69-71 Geschichtsphilosophie 7, 21, 79, 98 Gesetz 8, 22, 64, 75-77, 95, 97 Gesetz, historisches 7, 22, 23 Individualisierung 5-6, 8, 18-20, 37-38, 65-68, 70-78, 93, 102-103 Individualität 7-8, 15, 18-20, 4445, 52, 59-60, 62, 65-68, 71-78, 80, 98, 101, 103 Individuum 7-8, 14-15, 18-20, 2526, 31, 33, 36-38, 44-45, 49-51, 55-56, 59-66, 69, 71, 73-75, 77, 79-81, 84, 97, 100

Konzept des Gefühls 49, 59 Kreise, soziale 17, 19-20, 37-38, 79 Kultur 15, 10, 28, 32-34, 37-38, 54-59, 67-77, 80, 84-85, 95, 97, 99-101 Leben 18, 20, 32-36, 38, 45, 48, 53-54, 56-57, 59, 62-64, 71 Lebensform 33-34, 98 Lebensphilosophie 8, 59, 62-63, 75 Lebensstil 8, 32, 36, 103 Moderne 8, 52-54, 70, 78, 8081, 83-84, 90-91, 100-103 Moral 23, 25-27, 102-103 Raum 10, 43, 62 Religioid 50-51, 98 Religion 9, 49-51, 98-99 Soziologie 8, 11, 13-15, 23, 25-28, 30, 39-42, 45-46, 52, 54, 5962, 65-66, 71-72, 76-81, 83, 8587, 89-93, 95, 97-104 Stadt 35-38 Streit, der 45-46, 98 Vergesellschaftung 8, 14, 29-30, 32, 39-46, 49, 52, 62, 69, 71, 85-86, 90, 97-99, 103

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Wechselwirkung 8, 15, 18, 30, 32, 34, 40, 43, 45-47, 53, 61, 69-71, 85, 87, 91-92 Wert 27, 29-31, 36, 45, 57, 70