Gen-Passagen: Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen - Technologie - Diagnostik [1. Aufl.] 9783839412145

Alle haben sie - aber was wissen wir über Brustkrebs-Gene? Wie gestaltet sich Gendiagnostik zwischen DNA-Proben und Bera

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Gen-Passagen: Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen - Technologie - Diagnostik [1. Aufl.]
 9783839412145

Table of contents :
Inhaltt
1. Einleitung
1.1 Vorrede
1.2 Methodische Anschlüsse
1.3 Über den Forschungsprozess
1.4 Materialdarlegung
1.5 Forschungsstand in Bewegung
1.6 Aufbau der Studie
2. Wo Bewegungen sich kreuzen und große Dinge im Kleinen zusammenkommen
2.1 Von Verkettungen und der Entstehung der Arbeitsgruppe Tumorgenetik an einem Kreuzungspunkt
2.2 Selbst-genealogische Praktiken der Brustkrebs-Genforschung
2.3 Forschungspraktiken der Brustkrebs-Genforschung
2.4 Herstellungspraktiken: Der Familiäre Brustkrebs
2.5 Modell-Materialitäten: Stammbäume und Blutproben
2.6 Über das Werden im Relationalen – Eine mögliche Betrachtung
3. 1990er Jahre: Von der Herstellung einer Ordnung zwischen Medizin und Forschung
3.1 Der erste Kontakt
3.1.1 Ärztinnen und Ärzte, Kliniken und die Tumorgenetik – über ein schwieriges Verhältnis
3.1.2 Familien-Wissen
3.1.3 Science in Action – Ein Road Movie durch Deutschland
3.2 Kontaminationen – Von den Mühen einer (un-)möglichen Trennung
4. 1994: Entdecken/Erfinden/Konstruieren – Brustkrebs-Gene INSIDEOUT
4.1 Wahl-Verwandtschaften in den Wissenschaften: Zwischen Kooperation und Konkurrenz?
4.2 Es wird – 1994
4.3 Von schiefen Ebenen
5. Vom Werden: Brustkrebs-Gene in Forschungsbewegungen
5.1 Wissens-Wachstum über Brustkrebs-Gene
5.2 Über das Schrumpfen von BRCA1 und BRCA2
5.3 Über das Wachsen von Neuem: BRCAx
5.4 Hoffnung Gen-Chips: Molekulares Wissen im therapeutischen Feld
5.5 Vom Werden ohne Anfang und Ende
6. Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“: Studie über einen Institutionalisierungsprozess
6.1 1995: Ad hoc zum Handeln gezwungen
6.2 Der Sprung – Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“
6.3 Was ist schon Erfolg... Der Weg in die Regelversorgung
6.4 Institutionalisierungen und Standardisierungen
7. Im Alltag der Tumorgenetik
7.1 Erster Raum: Labor
7.1.1 PipetteHand – Ein Anschauungsstück über technische Vermittlung
7.1.2 Lokale Praktiken: Zwischen Standardisierung und Störung
7.1.3 DNA oder der Patient in der Tube?
7.2 Zweiter Raum: Die Maschine zum Laufen bringen – DHPLC
7.2.1 Wenn die Wave läuft
7.2.2 Wohin läuft der Techno-Logos?
7.3 Dritter Raum: Denkzelle
7.3.1 Anfang und Ende der molekulargenetischen Testung: Lese- und Schreibarbeiten
7.3.2 Forschen: Zwischen Multifunktionalität und Management
8. Kommen, gehen, bleiben – Zwischen humangenetischer Beratung und gynäkologischer Früherkennung
8.1 Humangenetik
8.1.1 Die Erstberatung: Eine Informationsbörse
8.1.2 Schreib- und Rechenarbeiten
8.1.3 Befundmitteilung
8.1.4 Die humangenetische Beratung: Ein Passagepunkt zwischen Menschen, Genen und Zahlen?
8.2 Gynäkologie – Ein zweifacher Locus
8.2.1 Angekommen: Strukturierte Früherkennung (lebenslang?)
8.2.2 2007 – Das anwesend/abwesende Gen in der gynäkologischen Praxis
8.3 Was heißt Interdisziplinarität?
9. Gefüge-Stimmen
10. Schluss
10.1 Kurzformeln
10.2 In Bewegung die Verallgemeinerung übend: Von Passagen und Gefügen
10.3 Wissen, Leben, Geld – Kapitale Ambivalenzen der Gegenwart
10.3.1 Wissen
10.3.2 Leben
10.3.3 Geld
10.4 Zusammenschau
Literaturverzeichnis
Empirisches Material
Interviews
Teilnehmende Beobachtungen und Kontakte
Literatur
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Interviewleitfaden

Citation preview

Sonja Palfner Gen-Passagen

Band 2

2009-05-28 16-04-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf211420016510|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 1214.p 211420016518

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/ -innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Sonja Palfner (Dr. phil.) ist Postdoc-Stipendiatin im Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt. Als Politikwissenschaftlerin arbeitet sie interdisziplinär zu Themen im Bereich der Science and Technology Studies. Ihr neues Projekt befasst sich mit E-Infrastrukturen in der Wissenschaft.

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) T00_02 seite 2 - 1214.p 211420016526

Sonja Palfner

Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik

2009-05-28 16-04-13 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf211420016510|(S.

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) T00_03 titel - 1214.p 211420016534

Für Ingeborg Palfner

Bei diesem Buch handelt es sich um eine leicht veränderte Fassung einer Dissertation, die im März 2008 am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin mit der Disputation abgeschlossen wurde. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sonja Palfner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1214-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-05-28 16-04-14 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02cf211420016510|(S.

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) T00_04 impressum - 1214.p 211420016542

I N H AL T

1. Einleitung 1.1 Vorrede 1.2 Methodische Anschlüsse 1.3 Über den Forschungsprozess 1.4 Materialdarlegung 1.5 Forschungsstand in Bewegung 1.6 Aufbau der Studie 2. Wo Bewegungen sich kreuzen und große Dinge im Kleinen zusammenkommen 2.1 Von Verkettungen und der Entstehung der Arbeitsgruppe Tumorgenetik an einem Kreuzungspunkt 2.2 Selbst-genealogische Praktiken der Brustkrebs-Genforschung 2.3 Forschungspraktiken der Brustkrebs-Genforschung 2.4 Herstellungspraktiken: Der Familiäre Brustkrebs 2.5 Modell-Materialitäten: Stammbäume und Blutproben 2.6 Über das Werden im Relationalen – Eine mögliche Betrachtung 3. 1990er Jahre: Von der Herstellung einer Ordnung zwischen Medizin und Forschung 3.1 Der erste Kontakt 3.1.1 Ärztinnen und Ärzte, Kliniken und die Tumorgenetik – über ein schwieriges Verhältnis 3.1.2 Familien-Wissen 3.1.3 Science in Action – Ein Road Movie durch Deutschland 3.2 Kontaminationen – Von den Mühen einer (un-)möglichen Trennung

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4. 1994: Entdecken/Erfinden/Konstruieren – Brustkrebs-Gene INSIDEOUT 4.1 Wahl-Verwandtschaften in den Wissenschaften: Zwischen Kooperation und Konkurrenz? 4.2 Es wird – 1994 4.3 Von schiefen Ebenen 5. Vom Werden: Brustkrebs-Gene in Forschungsbewegungen 5.1 Wissens-Wachstum über Brustkrebs-Gene 5.2 Über das Schrumpfen von BRCA1 und BRCA2 5.3 Über das Wachsen von Neuem: BRCAx 5.4 Hoffnung Gen-Chips: Molekulares Wissen im therapeutischen Feld 5.5 Vom Werden ohne Anfang und Ende 6. Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“: Studie über einen Institutionalisierungsprozess 6.1 1995: Ad hoc zum Handeln gezwungen 6.2 Der Sprung – Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ 6.3 Was ist schon Erfolg... Der Weg in die Regelversorgung 6.4 Institutionalisierungen und Standardisierungen 7. Im Alltag der Tumorgenetik 7.1 Erster Raum: Labor 7.1.1 PipetteHand – Ein Anschauungsstück über technische Vermittlung 7.1.2 Lokale Praktiken: Zwischen Standardisierung und Störung 7.1.3 DNA oder der Patient in der Tube? 7.2 Zweiter Raum: Die Maschine zum Laufen bringen – DHPLC 7.2.1 Wenn die Wave läuft... 7.2.2 Wohin läuft der Techno-Logos? 7.3 Dritter Raum: Denkzelle 7.3.1 Anfang und Ende der molekulargenetischen Testung: Lese- und Schreibarbeiten 7.3.2 Forschen: Zwischen Multifunktionalität und Management

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8. Kommen, gehen, bleiben – Zwischen humangenetischer Beratung und gynäkologischer Früherkennung 8.1 Humangenetik 8.1.1 Die Erstberatung: Eine Informationsbörse 8.1.2 Schreib- und Rechenarbeiten 8.1.3 Befundmitteilung 8.1.4 Die humangenetische Beratung: Ein Passagepunkt zwischen Menschen, Genen und Zahlen? 8.2 Gynäkologie – Ein zweifacher Locus 8.2.1 Angekommen: Strukturierte Früherkennung (lebenslang?) 8.2.2 2007 – Das anwesend/abwesende Gen in der gynäkologischen Praxis 8.3 Was heißt Interdisziplinarität?

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9. Gefüge-Stimmen

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10. Schluss 10.1 Kurzformeln 10.2 In Bewegung die Verallgemeinerung übend: Von Passagen und Gefügen 10.3 Wissen, Leben, Geld – Kapitale Ambivalenzen der Gegenwart 10.3.1 Wissen 10.3.2 Leben 10.3.3 Geld 10.4 Zusammenschau

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Literaturverzeichnis

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Empirisches Material Interviews Teilnehmende Beobachtungen und Kontakte Literatur

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Anhang Abbildungsverzeichnis Interviewleitfaden

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D AN K S AG U N G

Ich möchte all jenen danken, die dazu beigetragen haben, dass ich diese Studie betreiben und schreiben konnte und in den drei Jahren der GenPassagen (2005-2007) nicht auf Grund gelaufen bin. Zuerst gilt mein Dank den Menschen, die ich interviewen durfte und die mich zum Teil an ihrem Arbeitsalltag haben beobachtend teilnehmen lassen. Vor allem möchte ich Siegfried Scherneck und Verena Gimmel danken. Ohne sie wäre diese Arbeit nie möglich gewesen. Weiter gilt mein Dank allen, die mich beim Verfassen der Gen-Passagen unterstützt haben. Mein Dankeschön an Katja Brinkmann, Nina Hansing, Ingeborg Palfner, Martina Schlünder, Andrea Schneider, Petra Schumacher, Antje Vorwerk und Mirjam Zimmerli. Besonders danke ich Gabriela Fernandes, weil sie die Passagen der Dissertation trotz mancherlei Unwetter unermüdlich begleitet hat. Dem „Labor: Sozial- und Kulturanthropologie der Lebenswissenschaften“ am Institut für Europäische Ethnologie der HumboldtUniversität zu Berlin danke ich für den kollegialen Rahmen des forschenden Austauschs. Carsten Timmermann danke ich für die Möglichkeit eines Rechercheaufenthaltes am Centre for the History of Science, Technology and Medicine in Manchester. Das Institut für Geschichte der Medizin, Charité-Universitätsmedizin Berlin, hat mich bei der Transkription der Interviews finanziell unterstützt, wofür ich mich bedanken möchte. Schließlich danke ich meinen beiden Betreuern, Wolf-Dieter Narr und Volker Hess, für ihre wertvolle Begleitung. Finanziell ermöglicht wurde mir das Forschen und Schreiben durch ein DFG-Stipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat schließlich die Publikation dieses Buches ermöglicht. Für die Unterstützung bin ich ausgesprochen dankbar. 9

EIN VORWORT

VON

W O L F -D I E T E R N AR R

„Wer will nicht gesund sein?“ Diese Frage stellt Sonja Palfner gegen Ende des 7. Kapitels ihres Buches. Sie fährt fort: „Das Problem scheint mir, dass Gesundheit und Krankheit in der prädiktiven Medizin nicht mehr als Ordnung passen, um menschliche Zustände und ihre Erfassung in medizinischen Kontrollpraktiken zu beschreiben. Und doch finden die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der molekulargenetischen Testung und der intensivierten Früherkennung bei Familiärem Brustund Eierstockkrebs genau in dieser Ordnung statt.“ Das ist ein verwirrendes Thema in fast allen Lebensbereichen, allen Gebieten. Bewirkt wird es primär durch das, was den neuerlichen Globalisierungsring vor anderem auszeichnet: eine enorm verdichtete, alle Regionen und örtlichen Räume durchdringende, wenngleich regional und lokal nicht zu fassende oder gar zu steuernde Konkurrenz. Und diese Konkurrenz äußert sich im vollgepackten Schlüsselwort unserer Zeit: Innovation. Sie findet ihrerseits vor anderem im untrennbaren Tandem technologisch-wissenschaftlich statt, die molekularbiologischen, dann humangenetischen Entdeckungen, Erfindungen und Konstruktionen wiederum an erster Stelle. Sonja Palfners Buch kreist darum am faszinierend aspektereichen Exempel der Brustkrebsgene bis hin zu ihrer gesundheitspolitischen Kontrolle. Das, recht besehen, uns alle verwirrende, vielköpfige Thema besteht in der Entdifferenzierung modern, dem Anschein nach Fortschritt gewährleistender Ausdifferenzierung. Innen und Außen, Politik und Ökonomie, Gewaltenteilung, Normalität und Pathologie, Gesundheit und Krankheit. Dazu gehören schier ungeheuerlich zu nennende Fortschritte feinst zise11

GEN-PASSAGEN

lierter Diagnosen und präventiv gewandter, also vorsorgender Therapien, zugleich jedoch mitnichten die Zunahme der Lebensbereiche, in denen menschliche Selbstbestimmung ihrerseits wüchse. Ganz im Gegenteil. Gefahr besteht, dass Disziplinierungs- und Kontrollpraktiken geradezu totalitär werden. Diese Gefahr gründet dort, wo sich unsere angeblich gesicherten, wenngleich immer ein stückweit vagen und immer unaufhebbar ambivalenten Maßstäbe menschenrechtlich demokratisch gefärbter Art nicht mehr nach aufgeklärtem Begriff sozio-human proportionieren lassen. Ohne Grund sackt das Reden von Verhältnismäßigkeit weg. Man denke allein an den menschenrechtlich und in medizinischer Tradition seit Hippokrates zentralen Maßwert und Handlungen anleitenden Begriff der Integrität, zu deutsch der Unversehrtheit. Ihm entsprach das regulative Prinzip des Heilens: die restitutio in integrum, die Wiederherstellung des verletzten Menschen in größter Annäherung zu seinem vorverletzten Selbst, konventionell ausgedrückt: seiner Körper-Seele-Geist-Einheit. Die „Fallhöhe“ von diesem Begriff zum Komplex heutiger TechnologieWissenschaft und ihrer praktischen diagnostisch-therapeutischen, vor allem präventiven und prädiktiven Dynamiken kann größer schon fast nicht mehr gedacht werden. Der „Wert- und Bezugsbegriff“ verflüchtigt sich in rhetorisch erinnertem Wolkenglanz. Sonja Palfner liebt die Passagen – angefangen, jedenfalls metaphorisch, mit den Schiffspassagen. Ihrer Liebe entsprechend sind die Passagen der Einsicht und Erfahrung, die ihr Buch eröffnen, wunderbar, wenngleich in denkend anstrengendem Mitfahren, zu durchfurchen. Und die Passagen gehen weiter. Zuerst erfreut es, dass und wie Sonja Palfner den Lesenden daran teilnehmen lässt, mitsitzend auf ihrem gewandt rudernd gesteuerten Boot, das, was sie selbst Stück um Stück herausgefunden hat, mit herauszufinden. Als habe man an ihrer Erforschung eines wahrhaft komplexen, zugleich existentiell wichtigen Gegenstands, (Brust-)Krebs, teilgenommen und tue es weiter, von ihr, ihrem nie kanonisch missratenden Wissen angeregt. Dass Sonja Palfner dazu in der Lage ist, liegt erkenntlich daran, dass sie nicht über molekularbiologische, über medizinisch genetische Methoden allgemein sozialwissenschaftlich verfremdet redet. Sie tut es vielmehr, indem sie – viel zu wenig praktiziert, unvermeidlich, jedoch Augen öffnend – im Hin und Her zwischen erkennendem Subjekt und erkannten Objekt pendelt (und darum „Subjekt“ und „Objekt“ mitunter verkehrt), kurzum, indem sie teilnehmend beobachtet. Sie ist hinaus gefahren nach Berlin-Buch, um zu sehen was dort die Molekularbiologen betreiben, insbesondere seitdem eine Gen-Sequenzierung in den 1990er 12

VORWORT

Jahren gelungen ist. Nicht nur diese Beobachtungen müssten für alle, nicht zuletzt auch Biologinnen und Biologen wie Medizinerinnen und Mediziner spannend und eigenartig neu sein. Das ist nicht „inter“-, gar „transdisziplinäres“ Gerede. Das ist Disziplinen überragende Praxis. Zur teilnehmenden Beobachtung, wie sie Sonja Palfner betrieben hat, gehört ihre Traute, Forschung als Forschungsprozess offen und unabgeschlossen nachzuvollziehen und das Beobachtete als praktizierten technologieforschenden Diskurs, genauer als Diskurse sich zuarbeitender und zugleich sich widerstrebender, jedenfalls miteinander konkurrierender Wissenschaften und ihrer Vertreterinnen und Vertreter beobachtend zu erkennen. Dieser Passagenvollzug, der TechnologieWissenschaft in ihrer Entwicklung, ihrem unabgeschlossenen Vollzug nachbildet, erlaubt es Sonja Palfner, die weitere Fahrt des innovativen Führungsschiffchens hin zu medizinischer Praxis, ja hin zu krankenversichernd gesundheitspolitischen Konsequenzen mitzufahren. Und wir fahren mit. Welch eine forschungspolitische Traumreise mit albträumerischen, dabei aber nicht stehen bleibenden erwägenden Beobachtungen! Fast sind wir nun am Ende der weitere Passagen öffnenden Arbeit angelangt, nicht am Ziel. Das schwindet, wenn es nicht sogleich einer anderen Innovation Platz macht. Dem Problemknäuel der Entgrenzungen, der Verschiebungen, der Verschwimmungen entsprechend weiß Sonja Palfner immer erneut, wie entscheidend neben den Innovationen es wäre, die in Richtung prädiktiver Medizin verweisen (mit all ihren disziplinierend kontrollierenden Einbindungen), in ihrem Beispielsfall die Frauen praktisch wissend in Stand zu setzen. Mit Hilfe von durch sie verstandene, ihnen zuhandenen „Selbsttechnologien“, mit Hilfe neuer Organisationsund Umgangsformen in den Kliniken und anderwärts. Sie müssten, den Möglichkeiten und Gefahren prädiktiver Medizin gemäß qualitativ neu verfasst werden. Damit die Frauen im Fall des – alles andere als gewiss zu ortenden – Brustkrebsgens nicht zu Unterworfenen werden, sondern zu Personen, die kompetent zu entscheiden und zu handeln fähig sind. Wer dieses Buch liest, wird über heute und morgen stehende Entwicklungen, ihre nahen Gefahren und die aus ihnen hervorgehenden Postulate anderer Verfassungen so viel gelernt haben, dass sie, die Leserin und er, der Leser, problem- und darum selbstbewusster mit ihrer eigenen Gesundheit, ja mit dem umgehen können, was im weitesten Sinne politisch ansteht.

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W e r d e n – An f a n g d e r 1 9 9 0 e r J a h r e : Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen mit zunehmenden Interesse nach B r u s t k r e b s - G e n e n ( B R C A) – M i t t e d e r 1 9 9 0 e r J a h r e : B R C A1 u n d B R C A2 w e r d e n s e q u e n z i e r t – B ew e g u n g – M o l e k u l a r g e n e t i s c h e n T e s t u n g e n der beiden Gene kommen auf den Markt – 1997 Bundesrepublik Deutschland – Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ wird gegründet – Es werden kaum Mutationen g e f u n d e n – R e l a t i o n a l i t ä t – B R C A1 / B R C A2 Gendiagnostik verbindet sich mit humangenetischer Beratung und medizinischen P r a k t i k e n d e r F r ü h e r k e n n u n g u n d P r o p h yl a x e – Destabilisierung – Das Programm „Familiärer B r u s t - u n d E i e r s t o c k k r e b s “ w ir d a b 2 0 0 5 v o n den Krankenkassen auf Probe finanziert – Stabilisierung – Forschungen zu neuen, noch unbekannten Genen gehen weiter – Im Gefüge der Brustkrebs-Gene – Gen-Passagen

1. E I N L E I T U N G

1.1 Vorrede Schiffspassagen Schiffspassagen sind mannigfaltige Ereignisse. Für einige Zeit versammeln sich Menschen und Dinge auf engem Raum, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen. Manche Passagiere kennen sich bereits aus der Vergangenheit, andere wiederum lernen sich erst an Bord kennen. Alle bringen eigene Geschichten, verschiedenartiges Gepäck und allerlei Erwartungen an die Reise, wohl auch an das Ziel, mit. Eine Passage dauert. Indem man zusammen Zeit verbringt, werden Verbindungen neu geschaffen. Deshalb ist das Geschehen an Bord relational. Im gemeinsamen Tun verändern sich die Beteiligten. Vielleicht nur flüchtig, vielleicht für ein ganzes Leben. Passagen sind Bewegungen, welche die Menschen und Dinge einbeziehen und das Potential zu Verwandlung in sich tragen. Passagen sind darum ebenso Prozesse des Werdens. Trotz allerlei möglicherweise frappierender Unterschiede zwischen den an Bord Anwesenden scheint es naheliegend, dass sie Gemeinsamkeiten besitzen, sonst wären sie nicht auf genau diesem Schiff versammelt. Gibt es ein gemeinsames Ziel? Man wird auf der einen Seite die Frage bejahen können. Immerhin ist ein Zielhafen bekannt. Nur sagt dieser noch lange nichts über die Ziele der Einzelnen bei Ankunft am Hafen aus. Der eine will sich eine neue Arbeit suchen, der andere vielleicht zu Freunden, ein rastloser Dritter wird weiterreisen. Insofern müssen Passagen nicht immer in den sicheren Hafen, sondern können auch zu unbekannten Ufern führen. Sofern gewollt handelt es sich um Expeditionen, wobei das, was man erwartet, nicht unbedingt dem entsprechen muss, was schließlich vorgefunden werden wird. Ungewollte Passagen 17

GEN-PASSAGEN

gibt es selbstverständlich ebenso, wenn man aus verschiedensten Gründen (Unwetter, Orientierungslosigkeit, Interessenskollisionen) vom Kurs abgebracht wird. Eine weitere Gemeinsamkeit ist darin zu sehen, dass alle in der Lage sein müssen, auf das Schiff zu gelangen. Sie brauchen dazu gewisse Fähigkeiten, etwa das Lesenkönnen der Abfahrtzeiten und eine gewisse Ausstattung, zum Beispiel genügend Geld für das Ticket. Für manche, die all dies nicht besitzen, besteht dennoch eine Chance mitzureisen, wenn sie trickreich sind. Und schließlich sind alle gehalten, gewissen Regeln zu folgen. So darf niemand über Bord springen oder unbefugt den Maschinenraum betreten. Diese Regeln werden vorausgesetzt und mit Symbolen oder Beschreibungen an Bord entsprechend markiert. Andere Verhaltensweisen werden sogar gemeinsam eingeübt, wie das Vorgehen im Falle eines Schiffsbruchs. Noch keine Rede war von den Besatzungsmitgliedern. Auch von ihnen wird man sagen können, dass sie ans Ziel kommen wollen. Aber ihr Arbeitsalltag dient dem Funktionieren der Passage. Sie sind Rädchen im Getriebe. Man wird sagen können, dass für sie die Passage eine Routine ist. All ihr Bemühen vereint sich darin, für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen. Deshalb werden sie oft gar nicht wahrgenommen. Viel Arbeit ist unsichtbar. Nur im Falle von Störungen gibt sie Auskunft über die Existenzen der dazugehörigen Menschen und Maschinen, vor allem über ihre jeweilige Relevanz. Doch ist der Status jener sichtbar unsichtbaren Menschen oftmals prekär. Je nach Position haben sie zu befürchten, durch Maschinen ersetzt zu werden. Wer navigiert das Schiff – ein Mensch oder ein Computersystem? Während einer Passage ereignen sich also Vielheiten. Was dabei im Dunkeln bleibt, ist die Tatsache, dass vor der Passage eine ungezählte Menge von Dingen stattgefunden haben muss, damit es überhaupt soweit kommen konnte. Es braucht ein Schiff, es braucht Häfen, es braucht ein Wissen über die Reisestrecke, es braucht Karten, es braucht Wasser und einiges mehr! Es muss also Bedingungen geben, die ausreichend stabil sind, dass die Passage glücken kann, das Schiff nicht untergeht oder man sich verfährt. Kein Schiff ohne Kontext. Jede Passage hat demnach eine Menge an Voraussetzungen und Erwartungen inkluiert, die man als selbstverständlich oder sogar als natürlich wahrnimmt. Sie prägen die Passage und alle Beteiligten, ohne dass es die Reisenden überhaupt wahrnehmen. Das macht es so schwierig in Erfahrung zu bringen, wie genau die Bedingungen im Einzelnen wirken. Schließlich ist es viel einfacher, die Ereignisse ausschließlich durch sie selbst erklären zu wollen. Dann ergibt das eine Erzählung in Momenten, die das Wesentliche verpasst: Die Eingebundenheit in einen viel größeren Zu18

EINLEITUNG

sammenhang, der sich nur dann ergibt, wenn man versucht, dem Konkreten über Bord zu folgen, weiter zu gehen und nach den Bedingungen der Möglichkeit von Passagen fragen.

Gen-Passagen Ich gebrauche die Schiffspassage als Bild, weil ich davon ausgehe, dass die meisten Leserinnen und Leser sich darunter etwas vorstellen können. Vielleicht waren Sie selbst schon Passagier, zumindest werden Sie davon gelesen, gehört oder gesehen haben. Die Passage ist aber nicht nur eine wunderbare Begebenheit, um in konzentrierter Form die Komplexität von Wirklichkeit zu forcieren, sondern auch ein fantastisches Moment. Wie Michel Foucault bemerkte, ist das Schiff nicht nur Instrument, sondern auch „das größte Reservoir für die Fantasie“ (Foucault 2005: 21). In der Schiffspassage ist beschrieben, wovon diese Studie handelt: Mannigfaltigkeiten, in denen das Brustkrebs-Gen in und zwischen Forschung, Diagnostik, Beratung und Früherkennung, „zwischen Wissenschaft und Wissen“ (Foucault 1981: 263), zu seiner Existenz kommen konnte. Dabei gibt es nicht das Brustkrebs-Gen, sondern es existiert in einer Vielheit: Man muss nicht wählen zwischen dem Brustkrebs-Gen in der Forschung der 1990er Jahre, dem Brustkrebs-Gen der Forschung heute, dem Brustkrebs-Gen in der humangenetischen Beratung oder in der gynäkologischen Früherkennung. Vielmehr gilt es die verschiedenen Existenzweisen zu bestimmen, nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu fragen und sie miteinander zu verbinden. Existenzweisen wiederum sind keine starren Zustände, sondern immer im Werden begriffen. Ziel ist es, kartographisch ein relationales Gefüge von Gen-Passagen entstehen zu lassen. Ich arbeite mit Begriffen, die Gilles Deleuze und Félix Guattari gebrauchten und entwickelten, um ihre rhizomatischen Analysen zu bewerkstelligen: Gefüge und Linien. Mit ihnen entfaltete sich eine Kartographie. Karte machen wird in „Tausend Plateaus“, unter Rückgriff auf Fernand Deligny’s Aufzeichnungen des Alltags autistischer Kinder in Linien und Bahnen, als Projekt einer „Schizoanalyse“ in Angriff genommen (Deleuze/Guattari 2005). Die Kartographie verbindet das Wirkliche mit dem Möglichen und schließt das Begehren ein, denn „das Begehren ist das, was das Gefüge zum Dasein bringt“ (Deleuze/Guattari 2005: 313). Karte machen ist eine analytische Praxis, wobei in „Tausend Plateaus“ Schrift dominiert und keine Karte, wie man sie sich aus Atlanten vorstellt, zu finden ist. Eine Kartographie, die nicht fixiert, sondern bewegt, ist ein Bestreben dieser Studie. Trotzdem bleibt die Gerinnung im Text bestehen. 19

GEN-PASSAGEN

Das Brustkrebs-Gen ist Ausgangspunkt der Studie, ohne Mittelpunkt zu sein. Es ist Mittelpunkt, ohne in der Mitte zu stehen. Und die Mitte wiederum ist weder ein Punkt noch ein Wert, „sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden“ (Deleuze/Guattari 2005: 41f.). Betrachtet man nur Punkte, Jahreszahlen, Ereignisse – kurz gesagt Postkartenwissen – erfährt man nichts über die gemischten Zustände, in denen die Dinge passier(t)en, die vielschichtigen Entwicklungen und ambivalenten Details ihres Zustandekommens, die großen und kleinen Erwartungen und Versprechen, die Arbeiten und Mühen im Alltag des Labors um die Brustkrebs-Gene BRCA1 und BRCA2. Die vorliegende Studie in Gen-Passagen will etwas anderes: Keine Punkte zeichnen, sondern Linien verfolgen; keine Eindeutigkeiten festzurren, sondern Vielschichtigkeiten entwirren und sichtbar machen. Wir leben nicht in Punkten. Entwicklungen sind weit komplexer als die einzelnen Stationen einer Reiseroute, jene stummen Markierungen auf einer Karte, je erzählen könnten. Ergo müssen Bewegungen und Verhältnisse studiert werden. Das ist die hier verfolgte Absicht. Nun mag bei dem Begriff der Passage nicht nur eine Überfahrt assoziiert werden, sondern auch die Passage als Bauwerk, heutzutage bekannt als kommerzielles Ballungszentrum: die Einkaufspassage. Der Konsumarchitektur Passage widmete sich Walter Benjamin in seiner zwischen 1927 und 1940 entstandenen und als Passagenwerk bekannten Schriftensammlung (1982). Ein weiterer Einsatzort des Passagenbegriffs findet sich in der Biologie, genauer in der Zellkultivierung. Nicht um diese Passagen, auch nicht um Schiffs-, sondern um Gen-Passagen wird es mir gehen. Gen-Passagen sind besonders. Sie verbinden Flüchtiges mit Stabilem, Erwartungen mit Erfahrungen, Menschen mit Dingen, Routinen mit Neuem und Unsichtbares mit Sichtbarem. Keine Schiffspassage ohne Schiff, keine Gen-Passage ohne Gen. Was ist das Brustkrebs-Gen?

Das anwesend/abwesende Gen Es muss und musste etwas ganz Fantastisches sein. Ein Ding in einem sich spätestens Ende der 1980er Jahre verdichtenden Kraftfeld, in welchem Forschung und Medizin zusammentrafen und es gleichsam hervorbrachten. Brustkrebs-Genforschung, BRCA1/BRCA2-Gendiagnostik oder das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ wären ohne das Brustkrebs-Gen schlechterdings nicht vorstellbar. Daraus zu schließen, man könne es einfach festhalten, die Mitte auf den Punkt bringen, klare Definitionen von sich geben und mit diesen das sich entwickelnde Kraftfeld erklären, ist ein vermeintlich einfaches und letztlich hoffnungsloses Unterfangen. Lässt man sich auf die Passagen ein, wird 20

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frappierend schnell klar, dass das Gen nicht nur zwischen Anwesenheit und Abwesenheit oszilliert, sondern gänzlich verwirrend sowohl anwesend als auch abwesend ist! Es existiert und doch entzieht sich das Gen ständig. Es scheint stets anderswo und flüchtig. Gleichzeitig ist es das Universale und stetig verbindende Band. Zuerst war es als Gewusstes existent, weil man im Stammbaum der Vererbung sah, dass es vorhanden sein musste. Alles strebte zur Sichtbarmachung, ein Produzieren im Zum-Vorschein-Bringen welches in dieser Zweiheit vieles ist: „Herstellen ist Vorstellen, Darstellen, Ausstellen“ (Kamper 1995: 39). Mittels neuer molekularer Methoden und Werkzeuge rückte man dem Gen auf seinen nicht vorhandenen Leib, einen Abschnitt DNA, eine Aneinanderreihung von Basenpaaren: Adenin und Thymin, Guanin und Cytosin. Das Brustkrebs-Gen war ein sich Anfang der 1990er Jahre stärker und stärker aufladendes Erwartungsbündel; ein Ding der Versprechungen ebenso wie der molekularen Invasionen in das Körperinnere. Mitte der 1990er Jahre, als man schließlich BRCA1 und BRCA2 sequenziert hatte, folgte die Gendiagnostik auf dem Fuße. Das Gen in seiner Anwesenheit ein Stück DNA, technisch verfügbar und sichtbar gemacht in einer Sequenz: tat cag ggt agt tct gtt tca aac ttg cat gtg gag cca tgt ggc aca aat act cat gcc agc tca tta cag cat gag aac agc agt tta tta ctc act aaa gac aga atg aat gta gaa aag gct gaa ttc tgt aat aaa Das hier ist nur ein Bruchteil von BRCA1, die Basen in Dreierkombinationen angeordnet. Die molekularen Grundlagen der Vererbung besagen, dass die sogenannten Basen-Triplets jeweils die Information für eine Aminosäure geben, aus denen Proteine aufgebaut sind. Von BRCA1 sagt man, dass es ein komplettes Protein mit 1863 Aminosäuren codiert. Ein großes Gen mit großen Versprechungen. Doch was geschah mit den enormen Erwartungen nach der Wirklichwerdung qua Sichtbarmachung qua technischem Prozess? Sie wurden recht bald Stück für Stück enttäuscht. Nicht überall, wo man davon ausgegangen war, Mutationen auf den Genen zu finden, hatte man Erfolg. Gentherapie erwies sich als kompliziert, ebenso wie die schnelle Translation der gewonnenen Erkenntnisse auf sporadischen Krebs. Anwesend, gar universal, weil alle Menschen das Brustkrebs-Gen haben, abwesend weil es nicht hielt, was es versprach. Ein Anreiz für die Forschung. Anwesend, weil da etwas sein musste, was man nur noch nicht entdeckt hatte (BRCAx) oder aber weil man etwas entdeckt hatte, von dem man noch nicht wusste, was es ist (unklassifizierte Varianten auf BRCA1 und BRCA2).

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Solch ein fantastisches Ding musste doch größtes Erstaunen auslösen! Und noch wunderlicher erscheint mir die Tatsache, dass der Prozess der institutionellen Stabilisierung von BRCA1 und BRCA2 trotz dieser Erkenntnisse funktionierte: In der Bundesrepublik Deutschland (sowie auch in anderen Ländern) kam es zur Institutionalisierung von Gendiagnostik und Früherkennung, während sich die Forschung mäandernd zu neuen Ufern bewegte. Jedes Konkrete ist Teil eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs. Das Brustkrebs-Gen (BRCA1, BRCA2, BRCAx) soll unser Schiff sein, ein fantastisches Wirkliches. Mein Interesse ist, wie sich um die Gene, wie auf einem Schiff, Menschen und Dinge gruppieren (konnten) und was sich in den jeweiligen Mischungen an Bord ereignet(e). Indem mehrere Passagen aneinandergereiht werden, hoffe ich zu einer Art Kartographie zu gelangen, welche vom Besonderen ausgehend größere Zusammenhänge der Gegenwart erkennbar werden lässt. Das Brustkrebs-Gen weist meines Erachtens über den Einzelfall hinaus. Das macht es, neben allen vorhandenen Besonderheiten, zu einem hervorragenden Exempel: Mit und an ihm ist ein lernendes Verstehen, ein forschendes Erkennen molekularbiologischer und medizinischer Praktiken in ihren gegenwärtigen Verbindungen möglich. Ziel der Gen-Passagen ist es somit, von den spezifischen Erträgen der Studie hin zu Verallgemeinerungen und „weitgespannten Problemen“ (Narr 1999: 103), die über das Gefüge der Brustkrebs-Gene hinausweisen, zu gelangen.

Erfahrend lernen Aufgabe der Studie ist es, im Nach- und Mitvollzug Gen-Passagen zu studieren. Um in Sachen Gene etwas in Erfahrung zu bringen, muss man bereit sein, sich auf das Schwanken des Schiffes und auf die Passagen einzulassen. Sprich: Am besten man geht an Bord. Zentraler Locus für meine Studie war die Arbeitsgruppe Tumorgenetik am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch. Locus ist in der Sprache der Molekularbiologie der Bereich eines Chromosoms, auf dem ein Gen seinen Ort hat. Wenn man hinzudenkt, dass das Gen auch als genetische Information, die in ein Protein überschrieben wird, zu fassen ist, dann bekommt der Locus ein nicht auf den Ort zu reduzierendes Moment. Ähnlich will ich ihn begreifen: Er bedeutet auf der einen Seite die Materialität des Raumes (man befindet sich in den vier Wänden der Tumorgenetik) und auf der anderen Seite die Materialität seines Innenlebens, welches aus Wissen und Praktiken, Dingen und Menschen, institutionellen Regeln und Gepflogenheiten zusammengesetzt ist, die über den Locus hinaus- und in ihn eingehen. Die22

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se Mischungen prägen den Raum und schießen gleichzeitig über ihn hinaus. Am MDC gab es Anfang der 1990er Jahre die Arbeitsgruppe Tumorgenetik, die sich an der Suche nach den Brustkrebs-Genen beteiligte. Ein weiterer Schritt in die Institutionalisierung der Gene in der Bundesrepublik Deutschland folgte auf die Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 Mitte der 1990er Jahre. 1997 entstand mit Zutun des Biowissenschaftlers Siegfried Scherneck, der die Arbeitsgruppe Tumorgenetik leitete, das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ (bestehend aus deutschlandweit verstreuten, an Kliniken angesiedelten Zentren). In diesen Zentren wird die BRCA-Diagnostik mit einer humangenetischen Beratung und einem intensivierten gynäkologischen Früherkennungsprogramm verbunden. Die Diagnostik zielt nicht nur auf eine medizinische Praxis, sondern auch auf die Entwicklung der BrustkrebsGenforschung. In Berlin gibt es, institutionell in der Charité Universitätsmedizin verankert, eines dieser Zentren für Familiären Brustkrebs. Interviews habe ich vor allem in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik am MDC, in der humangenetischen Beratung am Institut für Medizinische Genetik, Charité-Universitätsmedizin Berlin und in der gynäkologischen Sprechstunde/Früherkennung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs am Interdisziplinären Brustzentrum, Charité-Universitätsmedizin zwischen 2006 und 2007 durchgeführt. Die Tumorgenetik am MDC betrieb bis 2006 neben Forschungen einen Teil der Gendiagnostik für BRCA1 und BRCA2. Die Tumorgenetik war mein Ausgangshafen. Von ihm aus wurden die Gen-Passagen in andere Gefilde und Loci aufgenommen. Heute existiert sie nicht mehr, Menschen und Dinge haben sich verstreut. Die Brustkrebs-Gendiagnostik ist gänzlich unter das Dach der Charité gewandert – eine Reise ist zu Ende gegangen und ich kann mich glücklich schätzen, sie ein kleines Stück begleitet zu haben.

1 . 2 M e t h o d i s c h e An s c h l ü s s e „Die Dinge befinden sich in Bewegung und wir müssen Methoden entwickeln, um diese Bewegung erkennen, folgen und beschreiben zu können“ (Rabinow 2004: 61). Methode will ich verstehen als dialogische Form der Beschäftigung mit einem Forschungsgegenstand. Sie ist kein neutrales Werkzeug, sondern aktiver Teil des wissenschaftlichen Prozesses. Mein methodisches Vorgehen ist von Bruno Latour, Gilles Deleuze (in seiner Zusammenarbeit mit Félix Guattari für „Tausend Plateaus“) und Michel Foucault 23

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angeregt. Sie haben die Möglichkeiten einer Analytik in Bewegung, in Begriffen des Relationalen und des Werdens probiert und entwickelt. Ihnen allen ist gemein, dass sie kein methodisches Programm geschrieben haben, welches nur auf die eigene Forschung angewandt und von a bis z abgearbeitet werden müsste; ein Verständnis von Methode, welches ich sowieso für problematisch halte. Ihre Texte vermitteln vielmehr ein reiches Repertoire an Gedanken über Zugriffsmöglichkeiten auf Forschungsgegenstände; sie machen Mut zum Experimentieren. Für das methodische Gerüst dieser Studie sind die Begriffe – Bewegung, Relationalität und Werden – zentral. Bewegung: Dass Menschen und Dinge ständig in Bewegung sind, ist nicht nur alltäglich erfahrbar. Bewegung gehört zum „Selbstverständnis der Moderne“ (Klein 2004: 7) und zwar auf sehr bestimmte Art und Weise: Als Fortschritt gehört ihr eine Vorstellung von sich beschleunigender Zeitlichkeit an – linear und singulär. Man darf die Wirkungsmächtigkeit, Bewegung als Fortschritt zu denken, nicht unterschätzen. Aber man sollte ihr nicht nachgeben, sondern sie als Teil der Mannigfaltigkeit von Bewegung einschließen. Wir bewegen uns nicht nur in Zeiten und Räumen. Bewegung bezieht sich nicht nur auf körperlichtechnische Bewegung im Sinn von Motorik und Mobilität, sondern auch auf das Denken. In Bewegung zu denken, heißt sich von vermeintlich festen Zuständen zu verabschieden (siehe Werden), „die Mauer durchbrechen“ – wie Deleuze schön sagt – „statt dauernd mit dem Kopf dagegen anzurennen“ (Deleuze 1993: 201). Es heißt auch sich von der Vorstellung zu verabschieden, Bewegung im Abstrakten erfassen zu können, weil Bewegung immer im Konkreten passiert. Relationalität: Wir können nicht anders, wir sind Geschöpfe, eingebettet in „the one fundamental thing about the world – relationality“ (Haraway 1997: 37). Relationalität scheint demnach ein ubiquitärer und grundlegender Bestandteil menschlicher und nichtmenschlicher Existenzen zu sein. Trotzdem oder gerade deshalb wird nicht selten eine Beziehungsblindheit in der Analytik sozialer Wirklichkeit ausgemacht (siehe etwa Serres 1992 oder Bourdieu 2006). Es mag jeweils etwas anderes unter dem zweifelsohne vagen Begriff gefasst werden. Worauf sich dennoch wahrscheinlich alle einigen könnten ist: „Man muss relational denken“ (Bourdieu 2006: 262). In Bewegungen verändern sich Beziehungen, in welche wir eingefügt sind. Es wandeln sich die Beziehungsformen und innerhalb der Beziehungen verändern wir uns selbst, ebenso wie unser Gegenüber. Ich spreche hier nicht nur von zwischenmenschlichen, sondern von jeder Art der Beziehung (also auch zu Dingen, Technologien und nichtmenschlichen Organismen). In-Beziehung-Stehen ist 24

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insofern ein unglücklicher Begriff, weil Beziehungen weniger statisch/passiv sondern vielmehr dynamisch/aktiv sind (siehe Bewegung). Werden: Nichts ist immer so wie es war und nichts wird immer so bleiben wie es ist. Dass auch wissenschaftliche Tatsachen der Vergänglichkeit unterliegen, verrät sehr schnell ein Blick in die Geschichte(n) der Wissenschaften. Es gibt kein endgültiges Wesen der Dinge. Insofern ist das Werden ohne Anfang und Ende, es ist „keine Evolution durch Abstammung und Herkunft“ (Deleuze/Guattari 2005: 325). Es gibt entweder verschiedene Zustände, die beispielsweise zwischen Stabilisierungen und Destabilisierungen mäandern. Oder es gibt Prozesse, in denen sich Dinge so grundlegend wandeln, vielleicht mit anderen Dingen kreuzen, dass man nicht mehr von ein und demselben Gegenstand sprechen kann, auch wenn der Name gleich bleibt. Sprich: Ein Gen ist nicht immer ein Gen – oder ein Gen ist ein Gen ist ein Gen. An Prozessen der Transformation oder der Entstehung von Neuem sind eine Vielzahl von Praktiken und Akteuren/Aktanten beteiligt (siehe Relationen). Man muss sie in ihren Verhältnissen und ihren Bewegungen begreifen lernen, um das Denken im Begriff des Werdens aufzurütteln. Man sieht, wie sich die Begriffe ineinanderschieben beziehungsweise in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Sie sind Helfer, um einen Zugang zum Forschungsfeld und Material zu entwickeln und eine methodische Haltung einzunehmen. In welcher Weise beeinflussen sie mein methodisches Vorgehen? Zum ersten Begriff Bewegung: Sind die Dinge in Bewegung, ist es ratsam, sich selbst auch in Bewegung zu setzen. Räumlich: Sofern es möglich ist, sollte der Platz des Forschenden nicht unbedingt immer der Schreibtisch sein, sondern die „eigene Erfahrung mittendrin“ (Narr 2006: 350) sollte gesucht werden. Die vorliegende Studie hätte nie geschrieben werden können, wenn ich mich nicht in Bewegung gesetzt und die teilnehmenden Beobachtungen und Interviews durchgeführt hätte. Bewegung sollte allerdings nicht einfach mit Mobilität gleichgesetzt werden. Bewegung meint auch das gedankliche Hin und Her, das Tasten und Tappen des Forschenden. Es meint die Bereitschaft, sich von Kopf bis Fuß einzulassen. Das bedarf einer bestimmten Haltung und was Rabinow für die Feldforschung beschreibt, kann für Forschungsvorhaben allgemein unterstrichen werden: „Ist die Feldforschung nicht vom Denken begleitet und das heißt vom Befragen und das heißt vom Problematisieren und das heißt vom Staunen, dann macht es keinen Sinn, irgendwohin zu gehen und dort je nach Region entweder zu frieren oder zu schwitzen“ (Rabinow 2004: 61). Ziel sollte sein, seinen Forschungsgegenstand besser zu verstehen. Damit meine ich erstens, den Gegen25

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stand in seiner Entwicklung begreifen zu lernen und zweitens ihn ernst zu nehmen. Verstehen scheint mir ohne Erfahren kaum möglich zu sein. Und Erfahren wiederum ist keine Frage der Theorie, sondern der Praxis – deshalb ist Bewegung wichtig. Zum zweiten Begriff Relationalität: Das Schwierige an der Analytik des Relationalen ist die Prozesshaftigkeit, die Flüchtigkeit der Beziehungs-Praktiken. Kann man das Zwischen von Beziehungen sehen? Wohl kaum. Deshalb ist man auf Spuren angewiesen. Viele dieser Spuren eines wissenschaftlichen Alltags finden nie Eingang in Schreiberzeugnisse, wie zum Beispiel in Laborbücher oder Publikationen in Fachjournalen. Das spricht für die teilnehmende Beobachtung, wobei teilnehmend für mich bedeutet, mich ein Stück weit in den Arbeitsalltag zu integrieren, ihn zu begleiten und nicht etwa aktiv in der Testung tätig zu werden. Auch in der zeitgeschichtlichen Arbeit mit Texten sollte ein Hauptaugenmerk auf Beziehungsgeflechte gelegt werden. Sie gilt es im besten Fall zu entwirren. Die Verbindungen sollten nicht gekappt werden. Denn dann würde man Gefahr laufen, nichts über einen Gegenstand zu erfahren, weil man ihn aus seinen Zusammenhängen gerissen hat. Hilfreich ist dabei der Begriff der Aussage bei Foucault (1981). Sie kann niemals alleine, ohne die sie umgebenden anderen Aussagen, analysiert werden, sondern erhält ihre spezifische Bedeutung ausschließlich relational. Man ist immer mittendrin! Die Bedeutung des Relationalen betrifft zudem die eigene Positionierung im und zum Forschungsfeld. Als Forschende darf man nicht meinen, außerhalb des zu analysierenden Geflechts aus Beziehungen zu stehen. Man geht verschiedenste Beziehungen ein, beispielsweise zu einem Text oder zu einem Menschen. Insofern gilt: Eine relationale Analytik muss die eigene Positionierung im Verhältnis zum Forschungsgegenstand einbeziehen. Aus meinem Forschungstagebuch des ersten Tages im Labor: „Mein erster Kontakt mit der Sprache des Labors. Ich verstehe kein einziges Wort! Es ist so, als wenn ich mit Menschen zusammensitzen würde, die sich in einer anderen Sprache unterhalten“ (Forschungstagebuch, 14.11.2005). Die Herstellung und Entwicklung der Beobachterposition ist ein kritisches Moment. Es ist die Herausforderung des Sich-Einlassens auf den Forschungsprozess und damit auf den Gegenstand und des SichSituierens im Feld und der Reflexion der eigenen Position. Es ist nicht nützlich, sich selbst und seinen Untersuchungsgegenstand in die binäre Ordnung von Subjekt und Objekt zu zwängen. „Das eigene erkennende Subjekt wird potentiell zum ‚Objekt‘ des Interesses und der Reflexion, wie das zu erkennende ‚Objekt‘ zum eigensinnigen Subjekt wird“ (Narr 1999: 99). Dieses Changieren fordert wesentlich die Reflexivität der eigenen Position und des Forschungsprozesses heraus. Darum ist die 26

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eigene Positionierung und die Anerkennung situierten Wissens wichtig (siehe hierzu Haraway 1995: 73ff.). Mangelnde Reflexivität kann schnell dazu führen, in den Sog der Labor-Logik des Wissens zu geraten. Damit meine ich eine Dynamik, die Affirmationen begünstig. Ich sehe was ich sehe – aber was kann ich sehen? Auf die Gefahren des analytischen Blindgehens macht Donna Haraway aufmerksam, wenn sie schreibt: „The story told is told by the same story“ (Haraway 1997: 34). Die Beobachterposition ist weder vollkommen außerhalb noch vollkommen innerhalb des Feldes angesiedelt. Sie ist im Spiel mittendrin und kann Angst machen, da man beizeiten kaum mehr das Gefühl hat, „Herr“ der Lage zu sein. Ich fühlte mich tatsächlich zeitweilig hin und her geworfen – Lost in Translation. Es ist richtig: Sich einzulassen bedeutet anzuerkennen, dass die Regeln des Spiels nur bedingt vom Forschenden gemacht werden und dass man damit rechnen muss, dass die anderen nicht mitspielen. Zum dritten Begriff Werden: Das Werden zu studieren bedeutet, sich mit Zeit zu beschäftigen. Erstens ist Zeit nicht singulär. Es gibt innerhalb jeder Gesellschaft mehrere Zeiten (Lebenszeit, Arbeitszeit, et cetera), die zueinander in hierarchischer Beziehung stehen. Sprich: Im Raum verteilt existieren verschiedene Zeithaushalte. Zweitens erstreckt sich Zeit nicht als linearer Zeitpfeil vom Vergangenen über die Gegenwart in eine Zukunft. Geschichte ist diskontinuierlich und uneinheitlich; sie ist kontingent. Erfolgsgeschichten sind in der Regel im Nachhinein konstruierte Linearitäten. Historisches Arbeiten muss sich damit beschäftigen, selber Geschichte zu schreiben und damit immer Gefahr zu laufen, dem Vergangenen eine Stringenz zu geben, die es nie gegeben hat. Wissenschaftliches Werden sollte deshalb nicht als eine Fortschrittsgeschichte auf einem linearen Zeitpfeil erzählt werden. Hilfreich ist es, nach Stabilisierungen und Destabilisierungen, nach Wachsen und Schrumpfen in Prozessen des Werdens zu forschen. Die Frage muss lauten, an welchen Orten das Werden passiert, denn es kann durchaus sein, dass ein Gegenstand an verschiedenen Orten verschiedene Grade von Stabilität oder Fragilität erreicht. Letztlich ist eine Analytik in Begriffen des Werdens keine dem Forschenden äußerliche Veranstaltung. Sprich: „Eine Arbeit, die nicht auch ein Versuch ist, das, was man denkt, und selbst das, was man ist, zu modifizieren, ist nicht sehr lustig“ (Foucault 1989: 15). Ich habe von Methode als dialogischer Form der Beschäftigung mit einem Forschungsgegenstand gesprochen. Zwei Aspekte sind hervorzuheben, die in diesem Zusammenhang wichtig erscheinen. Erstens ist ein respektvoller Umgang mit den jeweiligen Akteuren/Aktanten des For27

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schungsfeldes zu pflegen. Dies gehört dazu, wenn ich vom Ernstnehmen des eigenen Forschungsgegenstandes spreche. Nicht selten ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine merkwürdige Abwehr gegenüber naturwissenschaftlichem Wissen und Handeln zu beobachten, die sich beispielsweise im Lächerlichmachen des Anderen äußert (siehe zur Bedeutung des Gelächters Schlünder 2006). Zweitens ist die Bereitschaft, sich auf das Forschungsfeld einzulassen, nicht unerheblich für den Fortgang des Unternehmens. Dies meine ich zusätzlich mit dem Begriff der teilnehmenden Beobachtung. „Teilnehmend“ kann auch bedeuten, Ergebnisse aus der Beobachtung und Analytik zurückzugeben und so Reziprozität zu üben. Es setzt zugegebenermaßen ein Interesse des Anderen voraus. Aber ich kann mich entscheiden, ob ich den Versuch wage oder nicht.

1.3 Über den Forschungsprozess „Ein Vorwort hat etwas Zwiespältiges. […] Ein solches Verfahren verstellt vorläufige Ansichten ebenso, wie es erlaubt, Verweisungen herzustellen, die sich erst nachträglich ergeben haben können“ (Rheinberger 1992: 9). Bevor ich das Material ausbreite und die Analyse entfalte, will ich dem Zwiespalt einleitender Sätze Rechnung tragen und einige Gedanken zum Forschungsprozess mitteilen. Forschen bedeutet stolpern und nicht geradlinig auf ein (noch unbekanntes) Ziel zuzuschießen. „Denken heißt immer experimentieren“ (Deleuze 1993: 153) und aus diesem Grunde bedeutet Wissenschaft etwas zu wagen, sodass Unerhofftes entstehen kann. Dem Werden wissenschaftlicher Erkenntnisse mit all seinen Ambivalenzen, Widersprüchen und Vagheiten ist Raum zu lassen. Am Anfang steht die Wahl des Einstiegs in das Forschungsfeld (und vor allem der Einstieg selber!) und nicht so sehr die Wahl eines theoretischen Alpenmassivs. Damit meine ich, dass empirisch arbeitend der Empirie ausreichend Luft gegeben werden sollte, um sie nicht von Vornherein durch theoretische Vorannahmen zu ersticken. Die Arbeit war von Anbeginn an ein experimentelles Unternehmen und kein von Anfang an mit einem festen Kurs versehener Prozess. Zunächst war die Forschungsfrage vage darauf gerichtet, zu erfahren, was im Zusammenhang mit Brustkrebs-Genen in Forschung und Medizin passiert. Es folgte ein Prozess des Herumirrens und Manövrierens, in allen Abstufungen zwischen dem Gefühl der Sicherheit auf dem richtigen Kurs zu sein und einer Verzweiflung, in den Weiten des Ozeans verloren gegangen zu sein. Alles andere zu behaupten wäre Produkt eines Reinigungs- und 28

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nicht eines Forschungsprozesses. Hilfreich, wenn man sich in einer solchen Situation vor Augen führt, dass das Finden eines Themas und einer Fragestellung Schwerstarbeit ist und die „Eule der Erkenntnis der eigenen Fragestellung […] erst in der Abenddämmerung der thematischen Beschäftigung zum Flug an[hebt]“ (Narr 1999: 97). Sich auf das Forschungsfeld einzulassen, funktioniert nur, wenn man auch hereingelassen wird. Die Möglichkeit, praktisch anzufangen, liegt keineswegs ausschließlich in Händen des wissbegierigen Forschenden. Ich habe zur richtigen Zeit und am richtigen Ort Menschen getroffen, die dazu beigetragen haben, mein Unternehmen zum Laufen und voran zu bringen. Die Anfänge meiner Unternehmung liegen im Jahr 2005. Ich arbeitete an Quellen aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften über Krebsforschung und die Entwicklung der Molekularbiologie in Berlin-Buch zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik. Hier entwickelte sich in den 1950er bis in die 1970er Jahre ein bedeutendes Zentrum der Krebsforschung. Heute befindet sich dort das MDC. Ich hatte zwar nur eine vage Vorstellung von dem, was ich suchte, aber nach einigen Monaten der Akteneinsicht wusste ich, dass ich das, was auch immer ich zu finden gedachte, an diesem Ort und mit diesem Material nicht finden würde. Dafür ergab sich aus der Arbeit ein Kontakt mit Heinz Bielka, einem ehemaligen Wissenschaftler in den Bucher Einrichtungen. Durch Bielka erfuhr ich wiederum von einem Wissenschaftler, der am MDC im Bereich der Tumorgenetik seit vielen Jahren zu Brustkrebs forschte. Um etwas über die Brustkrebs-Genforschung in Erfahrung zu bringen, stellte ich einen Kontakt mit diesem Wissenschaftler, Siegfried Scherneck, her. Mein Glück war, dass ich einen Zugang fand und nicht abgewiesen wurde. Zwar war den Menschen im Labor anfänglich nicht klar, warum ich mich für den Laboralltag interessierte – „Hier passiert doch für eine Sozialwissenschaftlerin nichts Aufregendes“ – aber ich durfte kommen und meine Beobachtungen machen. Mir liegt daran zu betonen, dass meine Forschung nicht möglich gewesen wäre, wenn ich von den Menschen, auf die ich traf, nicht unterstützt worden wäre. So kam ich in das Labor und zu den Brustkrebs-Genen. Von hier aus ging es weiter in die humangenetische und die gynäkologische Beratung und die dazu gehörende Früherkennung im Rahmen des intensivierten Früherkennungsprogramms „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“. Sowohl Wirklichkeit als auch der Versuch, sie immanent nachzuvollziehen, sind keine linearen Prozesse, auch wenn ein Buch dies am Ende zu verschlucken droht. Unweigerlich mutet die Folge der in diesem Buch dargelegten Entwicklungen eine Linearität an, die es für mich 29

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nie gab. Als wäre mein forschender Anfangspunkt gleichzusetzen mit den ersten Seiten dieses Buches; als hätte sich mein Interesse von der Suche nach dem Brustkrebs-Gen (Vergangenheit), über seine Institutionalisierung im Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ (Schwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart) bis hin zum Eintritt in den Labor- und Klinikalltag (Gegenwart) bewegt. Diese Art der Kohärenz lässt aber nicht nur mein Forschen linear fortschreitend erscheinen, sondern auch die Gegenstände dieser Studie und ihrer Geschichte. So entsteht der Eindruck einer parallelisierten linearen Zeit von Forschung und Beforschtem. Des Problems solch einer Darstellung bin ich mir bewusst. Sie droht, Komplexitäten zu vereinfachen. Ich hoffe, dass es mir gelingt, das Gegenteil zu erreichen und die Vielfältigkeiten und Mehr-Dimensionalitäten sichtbar werden zu lassen. Es gilt: „Statt der geläufigen Komplexitätsreduktion muss umgekehrt die sinnliche Komplexität der Welt forciert werden“ (Kamper 1995: 24). Folgende Fragen galt es schlussendlich beim Verfassen dieser Studie zu stellen: Ordnungsfragen: Die Leserin und der Leser begleitet in dieser Studie die Gene durch verschiedene Zeiten und Räume und erfährt, was um sie herum und mit ihnen passiert(e). Vergangene und gegenwärtige Entwicklungen im Gefüge oszillieren zwischen Forschung, Gendiagnostik und Klinik. Die Passagen sind auf einer zeitlichen Achse – vor der Sequenzierung von BRCA1 – Sequenzierung – nach der Sequenzierung von BRCA1 – angeordnet. Alles Bewegliche in seinen unendlichen Verzweigungen und Möglichkeiten wird im Buch in eine Ordnung und in eine Richtung zwischen Anfang und Ende gebeugt. Ich hoffe aber, dass es gelingt, das Übereinanderliegende, die Ambivalenzen und Bewegungen einfangen und vermitteln zu können. Die Logik der Studie ist, das Wirklichkeitsgewirr immer wieder auf ein Neues zu entflechten, um nach und nach einige Linien zu definieren, welche uns durch die Studie begleiten. Stilfragen: Diese Studie zerstreut eine disziplinäre Engführung. Insofern ist das Publikum, an das sie sich richtet, wünschenswerterweise ein Vielfältiges. Ich hoffe, dem auch sprachlich gerecht zu werden. Es ist eine verwirrende Erfahrung, sich in der eigenen Sprache fremd zu fühlen; Dinge zu lesen und dennoch keinen Zugang zu ihnen zu erlangen. Jedem wird es wohl schon so ergangen sein. Diese Studie kann sich mitnichten davon lossagen, das ein oder andere Fragezeichen, den ein oder anderen gedanklichen Loop zu produzieren. Die abgedruckten Bilder besitzen eine ergänzende Stellung zum Text. Verwandte Schaubilder, beispielsweise von Arbeitsstrukturen, 30

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dienen der Übersichtlichkeit über häufig komplexe Prozesse. Ich habe die Laborbilder selbst aufgenommen und hoffe, dass sie dazu beitragen, die Vorstellungskraft beim Lesen anzuregen. Schreibfragen: Es heißt in offiziellen/institutionellen Verlautbarungen „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“. Die menschlichen Akteure reden allerdings in der Regel nur vom Brustkrebs und begründen dies mehrheitlich damit, dass Brustkrebs die weitaus häufigere und deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung dominantere Krankheit ist. Ich habe mich nicht auf einen durchgängigen Gebrauch festgelegt, sondern folge sowohl offiziellen Schreibweisen als auch dem Sprachgebrauch des Feldes. Eine Schwierigkeit sehe ich im Gebrauch der weiblichen und der männlichen Form bei der Bezeichnung von Professionen (Ärztin/Arzt et cetera). In großen Teilen der Studie schreibe ich beide aus. Im Sinne der Sichtbarmachung von Frauen, ist dies eine wichtige Praxis. Sie kann jedoch auch dazu führen, eine Gleichberechtigung beider Geschlechter durch die Wahl der Schreibweise vorzutäuschen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Wenn ich von Patientinnen spreche, dann liegt dies daran, dass mehrheitlich Frauen und nicht Männer an Brustkrebs erkranken. Wenn ich aber von Patienten spreche, dann passiert dies aus dem Sprachgebrauch des Feldes heraus. Beispielsweise wird die DNA im Labor mehrheitlich als Patient und nicht als Patientin bezeichnet.

1.4 Materialdarlegung Die Materialsammlung ist zunächst ein offener, sich zunehmend schließender Prozess. Es ist eine Kunst wissenschaftlichen Arbeitens den richtigen Schnitt zum günstigen Zeitpunkt zu machen. Die auszuhaltende Ambivalenz lautet: Nie ist es genug und je mehr man über seinen Gegenstand in Erfahrung bringt, desto mehr weiß man auch, was es noch alles zu erforschen gäbe. Insofern ist es illusorisch, auf die Sättigung eines Fasses ohne Boden zu hoffen. Worauf man allerdings hoffen darf, ist ein sich herauskristallisierendes Gefühl, mit dem Material an einen Punkt zu gelangen, von dem aus man eine eigene Geschichte erzählen kann. Das ist für mich mit dem Begriff des Gefüges verbunden. Man entnimmt der Wirklichkeit einen „Komplex von Besonderheiten und Merkmalen“ (Deleuze/Guattari 2005: 562) und ordnet sie in Abhängigkeit vom eigenen Forschungsinteresse neu an. Das so entstehende Gefüge ist in diesem Sinne eine Erfindung, aber es ist nicht ausschließlich als Konstruktion zu begreifen. Meine Erfahrung ist, dass die Materialsammlung und der Prozess des Schreibens nicht unbedingt aufeinanderfolgen, sondern über bestimmte 31

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Strecken interaktiv geschehen. Und auch im Schreiben geschieht, was in der Materialsammlung erfahren wurde: Man tastet und tappt umher. Gedanken kommen und gehen im Schreiben und insofern ist der Schreibprozess nicht die Reproduktion bereits fertiger Gedankengebäude. Auch hier muss man lernen, Gedanken zu schließen und ebenso bleibt einem in Materialfragen die Entscheidung nicht erspart, ab einem bestimmten Punkt den Corpus mehr oder weniger zu schließen, um das Schreiben an ein Ende bringen zu können.

Materialcorpus Zum Materialcorpus gehören bereits existierende Schreiberzeugnisse verschiedener Coleur, die ich im Verlauf der Forschung gesammelt habe. Ihnen ist gemein, dass sie allesamt gedruckte Texte (zum Teil mit Graphiken) sind. Es handelt sich erstens um wissenschaftliche/medizinische Publikationen zu BRCA in verschiedenen deutsch- und englischsprachigen Fachjournalen und teilweise auch um Zeitungsartikel. Die Publikationen erstrecken sich mehrheitlich über den Zeitraum von Anfang der 1990er Jahre bis zum Jahr 2007. Zweitens habe ich an den Loci der Beobachtungen Dokumente gesammelt, die dort hergestellt werden (Beratungs- und Befundbriefe) und drittens erhielt ich dort Dokumente, die einen institutionellen Charakter besitzen (zum Beispiel den Vertrag über die Risikofeststellung und interdisziplinäre Beratung, Gendiagnostik und Früherkennungsmaßnahmen von Ratsuchenden mit familiärer Belastung für Brust- und/oder Eierstockkrebs zwischen den Anbietern der genannten Leistungen [Kliniken] und den Krankenkassen). Zum Corpus gehören meine Beobachtungen aus der Tumorgenetik, der Humangenetik (Beratung) und der Gynäkologie (Beratung und Früherkennung), die ich zwischen 2005 und 2006 durchgeführt habe. Einstieg und wichtigster Locus für die Beobachtungsarbeit ist die Tumorgenetik am MDC in Berlin-Buch. Hier wurde sowohl zu BrustkrebsGenen geforscht als auch die molekulargenetische Testung von BRCA1 und BRCA2 durchgeführt. Ich schreibe „wurde“, weil es jetzt, im Herbst 2007, die Tumorgenetik schon nicht mehr am MDC gibt. Ihre Arbeit wurde Ende 2006/Anfang 2007 eingestellt und die molekulargenetische Testung wurde von der Humangenetik an der Charité Universitätsmedizin Berlin übernommen, mit der man sich zuvor bereits die anfallenden Testungen geteilt hatte. Vom MDC folgte ich den Genen auf ihrem Weg und ging in die humangenetische Beratung und in die gynäkologische Beratung/Früherkennung zu Familiärem Brust- und Eierstockkrebs. Jeden Beobachtungstag führte ich ein Forschungstagebuch. Neben gedruckten Texten und Beobachtungen (verschriftlicht im Forschungstagebuch) gehören von mir durchgeführte Interviews zum 32

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Materialcorpus. Meine gesammelten Erfahrungen aus der Tumorgenetik trugen zu der Erstellung eines Interviewleitfadens bei (siehe Anhang). Den Leitfaden konzipierte ich so, dass ich ihn an jedem Locus einsetzen konnte, dabei jedoch Spielraum ließ für Umwege und weitere Fragen, die sich erst im Gespräch ergaben. Die Fragen haben mich zwar orientierend geleitet, aber sie waren nicht ausschließend. Wichtig war mir, damit Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen (siehe hierzu das neunte Kapitel). Weitere Interviews kamen im Verlauf der Forschung ergänzend hinzu. Die Interviews wurden aufgenommen und im Anschluss an das Interview transkribiert.

1 . 5 F o r s c h u n g s s t a n d i n B ew e gu n g Forschungsstand ist ein merkwürdiges Wort, bedeutet Forschung doch gerade Bewegung. Forschungsergebnisse werden oftmals zu Schreiberzeugnissen und insofern kann man in gewisser Hinsicht vom Stand sprechen; auch weil das Geschriebene in Bücherregalen zum Stehen kommt. Lebendig werden die Bücher jedoch nur in ihrer Benutzung. Bibliotheken ohne Leserinnen und Leser kämen uns ausgestorben vor. Etwas zum Stand der Forschung zu sagen, macht demnach nur Sinn, wenn man in der Lage ist, bereits Geschriebenes für das eigene Vorhaben in Bewegung zu versetzen, sprich aktiv einzubeziehen. In der Entwicklung eines Forschungsvorhabens ist es üblich, sich einen Überblick über bestehende Arbeiten zum fokussierten Feld zu verschaffen. Doch wo endet das Feld beziehungsweise wo fängt es an? Es gibt eine Anzahl an Forschungen, die von BRCA1 und BRCA2 ausgehend verschiedenste Fragen verfolgen und unterschiedliche Dimensionen bearbeiten. In den Geistes- und Sozialwissenschaften sind es (wenn man diese disziplinäre Zuordnung vornehmen will) wissenssoziologische, wissenschaftshistorische und ethnologische Studien, die sich mit BRCA befassen (siehe Bourret 2005, Gaudillière/Löwy 2005, Parthasarathy 2005, Gibbon 2006, Bourret et al. 2006, Gaudillière 2006). Sie liegen insbesondere für Frankreich, England und die USA (zum Teil vergleichend) vor. Ziehen wir einen weiteren Kreis und fragen nach Forschungen zu dem, was Biomedizin, Molekulare Medizin oder New Genetics genannt wird, dann explodiert die Literatur. Notwendigerweise entfernt sich das Überblicken-Können immer weiter vom eigenen Gegenstand und endet nicht selten im schnellen Überfliegen der Masse an Publikationen, die man eigentlich irgendwie kennen müsste. Am Ende ist es eine Erfahrung im Anfertigen einer wissenschaftlichen Arbeit, dass sich Berge an Papier um einen türmen und die Kunst darin besteht, die 33

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Stapel zu verwalten. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen – und das würde bedeuten, mit jedem einzelnen Text aus jedem einzelnen Stapel – ist überhaupt nicht mehr möglich. Wie rettet man sich davor, nicht erschlagen zu werden und ob der durch Computer und Internet schier unendlichen Informationsmöglichkeiten nicht in Lähmung zu verfallen? Mir scheint es zum einen sinnvoll zu sein, vom Stand der Forschung ein Stück weit abzusehen und zunächst zu versuchen, in der Beschäftigung mit dem eigenen Material seinen Weg zu finden. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass eine Idee zweimal identisch gedacht und geschrieben wird. Zum anderen ist es hilfreich, wenn man im Verlauf seines wissenschaftlichen Arbeitens Denkerinnen und Denker um sich versammelt, zu deren Gedanken man immer wieder zurückkehren und sie auf ein Neues befragen kann und die das eigene Kreisen der Gedanken anreichern und wiederholt anstoßen. Rabinow hat folgendes über Max Weber und Michel Foucault geschrieben: „Es gehört zum entscheidenden Charakteristikum eines bedeutenden Denkers, dass man zu seinem Gedankengebäude stets zurückkehren kann und dabei immer wieder Neues entdeckt. Ich bin durchaus der Meinung, dass empirisches Arbeiten absolut notwendig ist. Aber ein solches Arbeiten erweist sich stets auch als eine Interaktion mit Begriffen, Methoden und Einsichten aus der Vergangenheit. Dies macht einen Teil des Trostes aus, den das Denken zu spenden vermag: Man hat Freunde, und man weiß, wo man Hilfe findet. Es gibt dieses Gefühl, dass man nicht immer wieder von vorne anfangen muss, wie verloren, unsicher und wirr alles auch scheint“ (Rabinow 2004: 234).

Ich teile diese Ansicht. Besonders wichtig für mich waren und sind die bereits genannten Denker Foucault, Deleuze zusammen mit Guattari und Latour. Latour schenkt mit seinen Arbeiten einen guten Boden, um Science in Action zu betrachten und sich darauf einzulassen. Daneben sind es seine Überlegungen zum Kapital der Wissenschaften (1996), zur Bedeutung sogenannter „immutable mobiles“ (1990) und zur modernen Trennung von Natur und Gesellschaft (2002), welche wichtige Anstöße brachten. Von Deleuze und Guattari kann ich nur sagen, dass sie mit ihrem Werk „Tausend Plateaus“, ihren gedanklichen Bewegungen in Kartographien, Gefügen und Linien, mein Arbeiten maßgeblich beeinflussten. Ähnliches kann ich von Michel Foucault sagen, dessen Schriften für mich immer wieder einen verlässlichen Ort wissenschaftlicher Orientierung geboten haben. In der Einlassung auf und Untersuchung von Laboralltag – beziehungsweise naturwissenschaftlichem Werden von Dingen – haben mich neben Latour vor allem die wissenschaftshistorischen Arbeiten von Hans-Jörg Rheinberger zur Geschichte der mo34

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dernen Biologie (2006a) und über Experimentalsysteme (2002) begleitet. In Bezug auf ein Nachdenken über Institutionen habe ich von Mary Douglas’ wichtigem Buch „How Institutions Think“ (1986) profitiert. Über mit Institutionen zusammenhängende Prozesse von Klassifizierungen und Standardisierungen gaben Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star (1999) hilfreiche Impulse. Dietmar Kamper mit seinen mannigfaltigen Gedanken zur unmöglichen Gegenwart (1995, 1998) und zur exzentrischen Paradoxie (2001) wurde ebenso ein stetiger gedanklicher Begleiter, wie Donna Haraway (1995, 1997) und Michel Serres (1987, 2005). Wolf-Dieter Narr hat meine Arbeit nicht nur durch die Sprache seiner Werke – etwa seine Ausführungen über Zeit (2003), Wissenschafts- und Technikentwicklung (2000) sowie Institutionen (1980, 1988) – bereichern können. Ich hatte auch das Glück, in ihm einen Betreuer meiner Arbeit zu finden.

1 . 6 Au f b a u d e r S t u d i e Die Studie umfasst neben der Einleitung und dem Schluss weitere acht Kapitel. Ich stelle den Hergang vor: Das folgende zweite Kapitel dient zur Einführung in das Forschungsfeld. Koordinaten werden gegeben und einige Entwicklungen skizziert, welche dazu beigetragen haben, dass die Tumorgenetik zu ihrer Arbeit kommen konnte. Im Besonderen widmet sich diese Passage der Herausbildung und Bedeutung des Familiären Brustkrebses für die BRCA-Forschung, sowie dem Werden von Stammbäumen und Blutproben. Hierzu ist es interessant, sich den Prozessen des Sammelns von Forschungsmaterial zuzuwenden. Im dritten Kapitel fokussiere ich die Praktiken des Sammelns jener für die Brustkrebs-Genforschung wichtigen Dinge: Stammbäume und Blutproben. Ich betrachte die damit einhergehenden Herausforderungen eines neuen Forschungsfeldes, welches von Anbeginn an mäandernd auch im medizinischen Bereich existent war. Es ist eine Passage über das Zusammentreffen verschiedener Begehren, Versprechungen und Hoffnungen; über Mischungen und Ordnungen, über In- und Exklusionen. Das vierte Kapitel wiederum schwenkt zur Frage über, wie BRCA1 schließlich Mitte der 1990er Jahre entdeckt/erfunden/konstruiert werden konnte. Dabei geht es sowohl um die sich um BRCA gruppierten internationalen Zusammenhänge (von denen die Berliner Tumorgenetik Teil war) als auch um die Sequenzierung von BRCA1, welche federführend durch das Unternehmen Myriad-Genetics 1994 vollbracht wurde. Lang35

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sam aber sicher kommen wir an einen Kreuzungspunkpunkt, an dem sich die Frage herauskristallisiert, was dieses Gen eigentlich für ein Ding ist? Es ist der Punkt, an welchem sich mehrere Linien entfalten und ein Gefüge entsteht; wo deutlich wird, dass das Gen nicht „nur“ auf der molekularen Ebene mit Funktionen ausgestattet wird, sondern auch sozial eine besondere Kraft darstellt. Das Gen scheint kapitalförmig zu funktionieren. Anwesend und abwesend zugleich, wird es über seine verschiedenen Formen sichtbar. Diese sind: Leben, Wissen und Geld. Sie bilden die Linien des Gefüges, welchem ich die Form eines Dreiecks gegeben habe. Mit diesem neuen analytischen Rüstzeug versehen, folgt das fünfte Kapitel. BRCA1 und kurze Zeit später BRCA2 waren Mitte der 1990er Jahre gentechnologisch verfügbar. Was passierte danach? Ich möchte zumindest skizzenhaft einige Forschungsentwicklungen darlegen. Es wird zu zeigen sein, wie sich der Gegenstand Brustkrebs-Gen innerhalb weniger Jahre wandelte. Anders als oftmals kapital- und wachstumsfreudig angenommen, wird nicht nur vom Wachsen, sondern auch vom Schrumpfen der Brustkrebs-Gene die Rede sein. Gleichzeitig und darauf folgend, wenden wir uns im sechsten Kapitel der Institutionalisierung von BRCA1 und BRCA2 im 1997 entstehenden Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ zu. Was waren die Bedingungen der Möglichkeit für die erfolgreiche Überführung in ein Programm, welches sowohl die Gentestung als auch Maßnahmen der Früherkennung umfasst? Im siebten Kapitel wird von den Prozessen der Institutionalisierung nicht abgelassen. Aber es wird eine andere Perspektive auf sie eingenommen. Im Mittelpunkt steht der Alltag der Arbeitsgruppe Tumorgenetik zwischen Forschung und Gendiagnostik. Drei Räume der Tumorgenetik werden eingehend studiert: der Laborraum, der Maschinenraum und die Denkzelle. Die teilnehmende Beobachtung ermöglicht es nun, mikroskopisch Labor-Praktiken zu folgen und Beziehungsarbeiten besser zu verstehen. Die Studie kippt aus der Vergangenheit in die (heute bereits vergangene) Gegenwart. Darauf folgt das achte Kapitel. Die Verfolgung des Brustkrebs-Gens an zwei Loci des Gefüges: die humangenetische Beratung und die gynäkologische Beratung/Früherkennung. Im Rahmen des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ gibt es keinen Gentest und kein molekulares Ergebnis ohne Beratung. Im Falle des Einschlusses in das intensivierte Früherkennungsprogramm kommt es zu einer medizinischen Kontrolle über viele Jahre; möglicherweise kommt es zu prophylaktischen Operationen. Was passiert?

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Im neunten Kapitel kommen schließlich Stimmen aus Tumorgenetik, Humangenetik und Gynäkologie zusammen. Der Schluss dient erstens einem Passagendurchgang und darin der Zusammenziehung erarbeiteter Quintessenzen in Kurzformeln. Im Anschluss werde ich meine analytischen Bewegungen rekapitulieren und Reflexionen über den Forschungsprozess anstellen. Aus den gewonnenen Einsichten gilt es im dritten Teil verallgemeinernd zur Summe des Analysierten zu gelangen. Eine Zusammenschau bringt die Studie zu molekularbiologischen und medizinischen Praktiken im Gefüge der Brustkrebs-Gene an ihr Ende.

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2. W O B E W E G U N G E N DINGE IM KLEINEN

SICH KREUZEN UND GROSSE Z U S AM M E N K O M M E N

Die einführenden Koordinaten geben eine erste Vorstellung davon, welches die Bedingungen der Möglichkeit dafür waren, dass BrustkrebsGenforschung im Allgemeinen und in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik am MDC in Berlin-Buch im Besonderen passieren konnte. Verschiedenen Entwicklungen kamen dabei zusammen und bildeten eine komplexe Mischung, bestehend aus: wissenschaftsinstitutionellen Veränderungen im Zusammenhang mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, neuen gentechnologischen Möglichkeiten, wissenschaftsgenealogischen Praktiken, Forschungspraktiken der BrustkrebsGenforschung, dem Werden des Familiären Brustkrebses und schließlich den Produktionen von Stammbäumen und Blutproben.

2.1 Von Verkettungen und der Entstehung d e r Ar b e i t s g r u p p e T u m o r g e n e t i k a n einem Kreuzungspunkt Es waren zwei herausragende Entwicklungen, welche das Werden der Arbeitsgruppe Tumorgenetik bestimmten. Zum einen vollzog sich ein institutioneller Wandel vom Zentralinstitut für Krebsforschung der Bucher Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hin zum Anfang der 1990er Jahre entstandenen MDC. Dieser Wandel fand im Zusammenhang mit der politischen Systemverschiebung von zwei deutschen Staaten hin zur Bundesrepublik Deutschland (BRD) statt. Aus der seit Ende der 1980er Jahre

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bestehenden Gruppe „Molekulare Tumordiagnostik“ wurde 1992 und mit der Gründung des MDC die Arbeitsgruppe Tumorgenetik. Zum anderen entwickelte sich wissenschaftlich-technisch in den 1970er Jahren die Molekularbiologie hin zur Gentechnologie. Es kreuzten sich in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik und in ihrer Aufnahme der Forschungen zu Brustkrebs-Genen somit zwei große wissenschafts-politische Verschiebungen.

Vom institutionellen Werden der Arbeitsgruppe Tumorgenetik Ende der 1980er Jahre wechselte der Molekularbiologe Siegfried Scherneck aus der Molekularbiologie in die Krebsforschung und nahm die Molekularbiologie mit. Scherneck, Wissenschaftler der biomedizinischen Forschungseinrichtung der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch, hatte in den 1970er und 1980er Jahren am Institut Gustave Roussy in Paris zu onkogenen Viren gearbeitet. Dort war er Mitglied einer Forschergruppe, die als eine der ersten ein komplettes Tumorvirus sequenzieren konnte, was dann auch „sehr viel zitiert worden [ist]“ und „ein großer Erfolg [war]“ (Scherneck 2006: 26). Mit seinem angesammelten Wissen an der Schnittstelle zwischen Krebsforschung und Molekularbiologie wechselte er in Berlin-Buch vom Zentralinstitut für Molekularbiologie an das Zentralinstitut für Krebsforschung. Er widmete sich fortan der Erforschung der genetischen Grundlagen der Entstehung und Entwicklung von Brustkrebs. So entstand die Arbeitsgruppe Tumorgenetik, welche er bis zu ihrer Auflösung 2006 leiten sollte. Dies geschah an keinem geringeren Ort als dem biomedizinischen Zentrum Berlin-Buch, welches noch in den 1950er bis 1970er Jahren ein international renommiertes Zentrum der experimentellen Krebsforschung war, jedoch ab Mitte der 1970er Jahre das internationale Niveau wegen „zunehmender ökonomischer Schwierigkeiten und der selbstauferlegten, politisch bedingten Isolierung der DDR-Wissenschaften von westlichen Forschungsergebnissen“ (Bielka/Hohlfeld 1998: 84) nicht mehr halten konnte. Der Anschluss der Krebsforschung der DDR an das internationale Niveau der Erkenntnis- und Methodenentwicklung wurde nicht bewältigt. War in der Biomedizin der DDR die molekularbiologische Forschung insgesamt unterrepräsentiert, so machte sich dieser Zustand erst recht bemerkbar, als Mitte der 1970er Jahre im westlichen Ausland eine regelrechte molekulare Konjunktur einsetzte und eine Verschiebung der Molekularbiologie hin zur Gentechnologie stattfand. Mit dem Verschwinden des politischen Systems der DDR und der Ratifizierung des Einigungsvertrags vom 20. September 1990 wurde gleichzeitig eine Neuordnung der dortigen Wissenschaftslandschaft vorgenommen. Das Vorgehen in Bezug auf die außeruniversitären Institute 40

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der Akademie der Wissenschaften der DDR wurde in Artikel 38 des Einigungsvertrages festgehalten. Es erfolgte eine Evaluierung der Bucher Einrichtungen durch die Arbeitsgruppe „Biowissenschaften und Medizin“ des Wissenschaftsrates der BRD. Das Vorgehen wurde 1992 von Detlev Ganten, damaligem Mitglied der Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates, folgenderweise pointiert: „Die faktischen Fehler waren nicht so gravierend, und sie sind korrigierbar. Aber es war ein schwerer psychologischer Fehler, hier mit einer Heerschar unwissender Wessis in Konquistadorenpose einzufallen“ (Ganten zitiert in Bielka 2002: 124f.). Aus der biomedizinischen Einrichtung Berlin-Buch entstand 1992 die Nachfolgeeinrichtung, das MDC. Das großzügige Gelände, welches den Namen Campus Berlin-Buch trägt, beherbergt jedoch nicht nur das MDC, sondern ebenfalls Kliniken und Unternehmen. Der Name dieser Nachfolgeeinrichtung zeigt an, „dass sich nach der Wende in den neuen Bundesländern eine Entwicklung vollzogen hat, die in der DDR nur in wenigen Einrichtungen erfolgte, nämlich der Übergang der biomedizinischen Forschung unter Nutzung molekularbiologischer Methoden und molekulargenetischer Aspekte auf breiterer Basis hin zur molekularen Medizin“ (Bielka/Hohlfeld 1998: 123). Detlev Ganten, der zum Direktor des MDC wurde, skizzierte die Hauptaufgabe des MDC so: „Den Empfehlungen des Wissenschaftsrates und des Gründungskomitees folgend besteht die Hauptaufgabe des MDC darin, moderne medizinische und klinische Forschung im Verband von molekularbiologischen, zellbiologischen und physiologischen Methoden zu betreiben“ (Ganten zitiert in Bielka 2002: 129f.). Als eine Stiftung des öffentlichen Rechts wird das MDC zu 90 Prozent vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und zu 10 Prozent vom Land Berlin finanziell getragen, wobei weitere Mittel (Drittmittel) über wissenschaftliche Forschungsprojekte eingeworben werden. Es gehört zur HelmholtzGemeinschaft Deutscher Forschungszentren. Das neue MDC wurde das neue/alte institutionelle Zuhause der 1992 etablierten Arbeitsgruppe Tumorgenetik. Die Arbeitsgruppe verortete sich innerhalb des Krebsforschungsprogramms des MDC im Bereich Structural and Functional Genomics. Sie war Anfang der 1990er Jahre in der BRD eine der ersten Forschungsgruppen, die sich auf die Suche nach dem Brustkrebs-Gen begab. Institutionelle Wissenschaftsentwicklungen führten im Zeichen des Einigungsvertrages mit den sich anschließenden, und wie angedeutet nicht unproblematischen, Evaluierungen und Empfehlungen zur Gründung des MDC. Diese Entwicklungen wiederum flossen mit größeren wissenschaftlich-technischen Verschiebungen der Molekularbiologie hin zur Gentechnologie zusammen. Oder anders formuliert: Ohne Gentech41

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nologie keine Molekulare Medizin, kein MDC und keine Arbeitsgruppe Tumorgenetik.

Von der Molekularbiologie zur Gentechnologie zur Tumorgenetik In den 1970er Jahren kam es mit der Entwicklung rekombinanter DNATechnologien international zunehmend zu einer Verschiebung der Molekularbiologie hin zur Gentechnologie. Die qualitative Unterscheidung zwischen beiden setzt erstens auf der Ebene der Werkzeuge und Methoden an, da diese nunmehr gentechnisch „in der Dimension und im Bedeutungshorizont des Molekularen selbst operieren“ (Rheinberger 2006b: 191). Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) ist so eine revolutionäre Technik, mit deren Hilfe man DNA-Sequenzen selektiv vervielfältigen kann. Mit ihr ist es also zum einen möglich, DNA-Fragmente im Reagenzglas zu vervielfältigen, zum anderen sind dafür nur sehr geringe Mengen an Ausgangs-DNA notwenig. Die DNA wird molekularbiologisch als der chemische Träger der primären genetischen Information begriffen. Die PCR funktioniert auf der molekularen Ebene mit molekularbiologischen Werkzeugen und ist aus den Laboren der Genforschung und Gendiagnostik nicht wegzudenken. Diese Invasion in das Körperinnere auf der Ebene des Molekularen zielte nicht mehr nur auf eine Modifikation metabolischer Vorgänge, sondern auf ihre „Reprogrammierung“ (Rheinberger 1996: 291). Damit ist eine zweite Unterscheidung angesprochen, die auf der Ebene des Gegenstandes selbst und der Zielsetzung operiert. Die Möglichkeit den Evolutionsprozess belebter Materie nicht mehr nur zu begleiten und eingeschränkt zu nutzen, „sondern ihn selbst zum künstlich form-, konstruier- und reproduzierbaren Gegenstand zunächst von (experimenteller) Labortätigkeit und zunehmend auch von (industriellen) Produktionsvorgängen und Produktionsinnovationen zu machen“ (Dolata 1996: 16), darin lag in ihren Anfängen (bis heute) das Versprechen der Gentechnologie. Die sich entwickelnde Molekulare Medizin hoffte auf baldige innovative Anwendungen wie zum Beispiel gentherapeutische Maßnahmen. Krankheit durch entsprechende Modifikationen auf molekularer Ebene zu verhindern bevor sie ausbricht; diese Vorstellung ging und geht einher mit der Ausbreitung des Konzeptes der genetischen Krankheit (Lemke 2003). Rheinberger spricht in diesem Zusammenhang von der „Aussicht auf eine ‚Molekularisierung‘ von Krankheiten“ (Rheinberger 1996: 294). Heute haben sich viele der Hoffnungen auf schnelle Fortschritte im therapeutischen Sektor relativiert. Es ist jetzt vor allem der diagnostische Bereich der Medizin, in welchem sich der Einsatz molekulargenetischer Testungen in den letzten Jahren enorm verbreiten konnte. Aber die Gen42

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technologie hat einen Möglichkeitsraum eröffnet, dessen Türen zu immer neuen Interventionsräumen mit noch mehr Türen führen und diese wiederum zu neuen Räumen. Einzelfälle vom Scheitern bestimmter Projekte den gemachten Versprechungen gegenüberzustellen mag im Konkreten notwendig sein, nur wird die Forschung sich in schon längst neuen Projekten zugewandt haben. Diese Dynamiken gilt es im Verlauf der Studie besser zu verstehen. Heute sind molekularbiologische Methoden der Gentechnologie in diverse Gebiete der Lebenswissenschaften und der Biotechnik eingezogen. Ihr disziplinäres Zuhause zerstreut sich. Es gibt gute Gründe für die Behauptung, dass sich unser Wissen vom Leben molekularisiert hat, wobei ein Befund unbedingt hervorgehoben werden muss: Dieses Wissen verläuft in erster Linie über Krankheiten und andere Konstruktionen von Abweichungen. Beispielsweise werden immer mehr Krankheiten als genetisch bedingt begriffen, d.h. Krankheiten und Störungen mit GenBezug sollen sich in den letzten 30 Jahren verzehnfacht haben, wobei es sich in der Regel nicht um neu entdeckte Krankheiten, sondern um bereits bekannte und weiter aufgeschlüsselte Krankheiten handelt. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass Gene „für Phänomene verantwortlich gemacht [werden], von denen bisher angenommen wurde, dass sie soziale, ökologische oder psychologische Ursachen haben“ (Lemke 2000: 232). Es besteht ob der fraglos enormen Wucht gentechnologischer Entwicklungen die Gefahr, sie selbst und ausschließlich als Ursache von Phänomenen gegenwärtiger sozialer Wirklichkeit zu begreifen. Begriffe wie „Genetifizierung“ (Lemke 2000) oder die Rede vom „Jahrhundert des Gens“ (Fox-Keller 2001) begünstigen eine solche Sichtweise, auch wenn Lemke (2003: 486) darauf hinweist, dass stetig ein größerer, nicht kausal ermittelbarer, gesellschaftlicher Zusammenhang in die Analyse von Molekularer Medizin einbezogen werden müsste. Ausgehend von der Hypothese, dass ein solcher Zusammenhang besteht, wird im Verlauf der Studie seine Beschaffenheit zu konkretisieren sein. Festzuhalten bleibt, dass die Arbeitsgruppe Tumorgenetik ihre Arbeit in einem institutionellen Rahmen entwickeln konnte, welcher selber in der starken Gentechnik-Strömung der 1980er und 1990er Jahre eingefasst war. Konnte diese Strömung noch zu Zeiten der DDR die biomedizinischen Einrichtungen in Berlin-Buch aufgrund der politischen Verhältnisse schwerlich erreichen, war mit dem Ende der DDR die Möglichkeit hierzu gegeben. Mit der „Erschließung der genomischen Ebene als Angriffspunkt für Diagnostik, therapeutische Interventionen und Prävention“ (Ganten/Ruckpaul 2001: 3) rückte die Molekulare Medizin prominent in die wissenschaftlich-strukturelle Verfasstheit des MDC

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ein. Scherneck war zur passenden Zeit am passenden Ort, um gentechnisch krebsforschend seine Arbeitsgruppe am MDC zu platzieren. Diese kurz skizzierten Koordinaten ermöglichen jetzt schon ein besseres Verständnis davon, was an größeren Entwicklungen zusammenkommen musste, damit sich die Brustkrebs-Genforschung formieren und konkret in der Tumorgenetik aufgenommen werden konnte. Aber was passierte, dass überhaupt der Forschungsgegenstand Brustkrebs-Gen zum Mittelpunkt wissenschaftlicher Anstrengungen werden konnte?

2.2 Selbst-genealogische Praktiken der Brustkrebs-Genforschung 1980er Jahre: Der Familiäre Brustkrebs tauchte auf, wo BrustkrebsGene ins Zentrum wissenschaftlichen Begehrens rückten. Der Familiäre Brustkrebs, in der genealogischen Form des Stammbaumes sichtbar gemacht, wurde, wie mir scheint, auffallend von denjenigen mit Geschichtlichkeit aufgeladen, die im Einsatz gentechnologischer Methoden und Werkzeuge begannen, nach Brustkrebs-Genen zu forschen. Seine Wurzeln pflanzte man in das 19. Jahrhundert. Die erste signifikante Beschreibung eines familiären Brustkrebs-Stammbaumes, so erfährt man, findet sich in einer Publikation des französischen Arztes Paul Broca aus dem Jahr 1866 (Lynch et al. 2004). So kommt der Familiäre Brustkrebs zu seinem Ursprung im Stammbaum eines französischen Mannes, der im Übrigen nicht irgendeine beliebige Familie in den Baum brachte, sondern die Familie seiner Frau, in welcher Brustkrebs als Todesursache bei Frauen mehrer Generationen aufgetreten war. Dieser Ursprung erhielt im Verlauf der Brustkrebs-Genforschungen eine bedeutende Nachkommenschaft. Bei Mark H. Skolnick (eine zentrale Figur der BrustkrebsGenforschung) heißt es beispielsweise: „Familial clustering of breast cancer has long been recognized“ – eine Aussage, die durch Nennung von Namen profund ergänzt wird – „[Wainwright, 1931; Martynova, 1937; Jacobsen, 1947; Smithers, 1948; Busk, 1948; Penrose et al, 1948; Woolf, 1955; Oliver, 1958; Anderson et al, 1958; Murphey and Abbey, 1959; Macklin, 1959]“ (Skolnick et al. 1984: 363f.). Die Unterstreichung des Familiären Brustkrebses als prädestinierten, weil altbekannten und vielfach eingesetzten Gegenstand ist kein Einzelfall, in den seit den 1980er Jahren anwachsenden Publikationen zu Brustkrebs-Genen. Man kann sich fragen, warum es dieses Bezugnehmens auf Vergangenes bedurfte, als man in den 1980er Jahren nach Brustkrebs-Genen suchte. Mir scheint, dass wir es hier mit einer genealogischen Praxis zu tun haben, mit der über den Gegenstand Familiärer Brustkrebs gleichsam wissen44

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schaftliche Verwandtschaft hergestellt wurde. Ein Stammbaum, welcher ja selbst genealogische Praxis ist, fand sich eingebunden in genealogische Ko-Konstruktionspraktiken jener, die mit ihm forschten. Das genealogische Band zwischen Broca im 19. Jahrhundert und den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts ist die Konstruktion einer linearen Entwicklung vom Vergangenen hin zur Gegenwart. Man reihte sich in eine lange Reihe Forschender ein und gab dem Familiären Brustkrebs eine naturhafte Stabilität, die ihn gleichzeitig zu einem vertrauenswürdigen Forschungsgegenstand werden ließ. Vor allem aber konnte über die genealogische Praxis ein Bruch vor- und eingeführt werden, der ein besonderes Licht auf das eigene Unternehmen warf: Lange Zeit haben Wissenschaftler vor uns versucht diesen Gegenstand zu bezwingen, aber uns wird es gelingen! Die Kontinuität des Familiären Brustkrebses zu bezeugen diente der eigenen wissenschaftlichen Verortung in der gleichzeitigen Bewegung eines Brechens mit vergangenen Mühen, dem Familiären Brustkrebs auf den Grund zu gehen. Geschichte besteht nicht einfach, sondern sie wird immer auch in einer zeit- und raumbezogenen Gegenwart hervorgebracht und umgearbeitet. Wenn also Brüche und Kontinuitäten erzählt werden, dann sollte nach den jeweiligen Einsatz und Effekt solcher Erzählung gefragt werden. Im Fall der Gen-Forschung wurde die Grenze dort gezogen, wo das Gen in der Möglichkeit seiner Substanzwerdung dank Gentechnologie die Bühne betrat. David Cantor beschreibt das Phänomen der wissenschaftlichen Genealogiebildung am US-amerikanischen Beispiel von Henry T. Lynch, einem „‚father‘ of cancer genetics“ (Cantor 2006: 302), dessen marginale Position sich erst zu ändern begann, als seine Sammlungen von Familien für die molekulare Forschung interessant wurden. Dieses Begehren an seinen Familien wurde begleitet von einer Kritik „to regard his early work on heredity as dubious science“ (Cantor 2006: 302). Altes und Neues trafen aufeinander. Aber indem dies geschah, wandelte sich das Alte, es wurde aus bisherigen Verhältnissen herausgeschält und molekular einverleibt. Dass es sich bei diesem, auf Lynch bezogenen Befund um keinen Zufall oder Einzelfall handelte, wird deutlich, wenn man sich weitere Äußerungen über das Verhältnis von alter und neuer Forschung vor Augen hält: „Der schlüssige Nachweis und wissenschaftliche Zugang dafür [die Vorstellung über die genetische Basis im besonderen von Brustkrebs, S. P.] gelang erst in diesem Jahrzehnt und beruht vor allem auf der Verfügbarkeit neuer molekularbiologischer Techniken und deren ,Symbiose’ mit klassischen genetischen Verfahren zur Analyse des menschlichen Genoms“ (Scherneck/Jandrig 1997: 2). 45

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Das Subjekt-Werden in der Wissenschaft sollte gleichsam, wie mir scheint, auch als ein Verwandtschaft-Werden in der Wissenschaft betrachtet werden. Diese Selbsttechniken der Forschenden wiederum stehen in enger Verbindung mit „Techniken zur Führung anderer“ (Foucault 1987b: 289), also, wie im Falle der Brustkrebs-Genforschung, jenen Techniken des Herstellens von Familiärem Brustkrebs und den damit einhergehenden Konstitutionen von Familien-Subjekten. Die Vorstellung, dass die Ursache der Krebsentstehung in einem Gen zu finden sei, faszinierte in ihrer Einfachheit. Aber es gab auch andere – jedoch zunehmend marginalisierte – Stimmen zur Frage nach den Ursachen für die Krankheit Brustkrebs. In einem „Letter to the Editor“ der Zeitschrift Genetic Epidemiology aus dem Jahr 1985 merkten King und Elston kritisch zur Arbeit von Williams und Anderson (also jenen beiden, denen in der Geschichte der Forschung zur genetischen Disposition für Brustkrebs ein prominenter Platz zugewiesen wird) an, dass eine „analysis of diseases such as breast cancer, with comlex and heterogeneous etiology, sex-dependent expression, variable age-of-onset, and multiple epidemiologic risk factors, presents a difficult challenge to genetic epidemiologists. Several marker linkages, some perhaps spurious, might well be reported before there is final agreement. Rational inference is only possible when all relevant data are taken into consideration“ (King/Elston 1985: 168f.). Die Herausforderung der Multifaktorialität von Brustkrebs für die Forschung wurde sehr wohl problematisiert. Aber die Trennung zwischen unterschiedlichen Risikofaktoren, die Fokussierung auf familiäre Häufung als strengem Risikofaktor und die Engführung auf ein verantwortliches Gen schoben sich über jede mögliche und existierende Vielschichtigkeit. Epidemiologische Fragen verschwanden zwar nicht aus der Brustkrebsforschung, aber die Suche nach dem Brustkrebs-Gen in den 1980er und Anfang der 1990er Jahre fand mehr oder weniger ohne sie statt. Diese Forschungsrichtung wurde von Umwelt- und anderen Faktoren regelrecht bereinigt. Es gilt festzuhalten: Genealogische Praktiken verleihen nicht nur Forschungsgegenständen eine hervorragende Stabilität, sondern auch denjenigen, die in der Wissenschaft arbeiten. Wissenschaft ist somit immer auch ein Prozess der Herstellung von Verwandtschaftsverhältnissen von Menschen und Dingen innerhalb der Wissenschaft. Wer dazu gehört und wer nicht, wie die genealogische Geschichten erzählt werden und was ausgespart wird, ist eine Frage an Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Institution Wissenschaft. Zudem gingen die genealogische Praktiken zur Herstellung der eigenen Gegenwart mittels der Erzählung und Einverleibung einer Vergangenheit einher mit disziplinie46

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renden Praktiken der Wissensordnung über Brustkrebs(-Gene). Als wissenschaftliches Wissen hatten Brustkrebs-Gene für Brustkrebs verantwortlich zu sein und mittels gentechnologischer Methoden und Werkzeuge materialisiert werden zu können.

2.3 Forschungspraktiken der Brustkrebs-Genforschung In Passagen zu denken bedeutet, den Familiären Brustkrebs in seinem Werden zu studieren. Was waren das für Wissens-Praktiken, welche sich um das Brustkrebs-Gen gruppierten und es gleichsam mit hervorbrachten? „Research focusing on families at high risk of breast cancer for segregation and linkage analyses would further define and characterize the mode of transmission of the heritable form(s). Collection of appropriate biological materials for analysis using new techniques, as well as adequate pedigree information, are of particular importance for future research on genetic factors in human breast cancer“ (Carter/Micozzi 1986:176).

Vererbungswissen und Segregationsanalysen Segregationsanalysen erhärteten den Verdacht auf die Existenz eines für Brustkrebs disponierenden Gens. Man sah die Mendelschen Vererbungsregeln im Stammbaum bestätigt, weil Brust- und/oder Ovarialkrebserkrankungen in den Stammbaum gebracht mit einem Vererbungswissen in Beziehung gesetzt werden konnten. Sprich, der sehende und verstehende Blick setzte die Möglichkeit der Kombination von Erkrankungen und Vererbung voraus; sonst hätte man erst gar nichts im Stammbaum sehen können. Segregationsanalysen zielten auf die Feststellung des Vererbungsmodus’ eines Phänotyps und damit des darunter liegenden Genotyps. Für die Analyse benötigte man möglichst viele Informationen über den Phänotyp von Familienmitgliedern. Hierzu zeichnete man Stammbäume und leitete auf ihrer Grundlage einen Erbgang ab. So trafen sich Familiärer Brustkrebs und Brustkrebs-Gen: „Recent likelihood analyses of breast cancer families have confirmed that the pattern of breast cancer is best explained in some families by an autosomal dominant gene […]“ (Skolnick et al. 1984: 364). Bei einem autosomal-dominanten Erbgang werden ein heterozygot kranker Mensch und ein homozygot gesunder Mensch statistisch zur Hälfte heterozygot kranke und homozygot gesunde Kinder haben.

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Verschiedene Erbgänge als Teil von Vererbungswissen haben viele von uns im Schulunterricht am prominentesten Modellorganismus, dem „Haustier der klassischen Genetik“ (Rheinberger 2006a: 322) – der Taufliege Drosophila melanogaster – kennengelernt. Einzelne Fakten mögen vergessen worden sein, je nachdem wie lange der Unterricht zurückliegt oder wie interessiert wir waren. Unser Wissen über Vererbung – so vermute ich – ist dennoch nach wie vor in dieser klassischen Tradition der Genetik verortet. Dieses Wissen beinhaltet folgende Aussagen: Jede Zelle besitzt zwei Ausprägungen jedes Gens. Eine Ausprägung stammt von der Mutter und eine vom Vater. Diese verschiedenen Ausprägungen desselben Gens nennt man Allele. Jeder Elternteil vererbt nur eines seiner beiden Allele an den Nachkommen. Da die Mutation bei erblichem Brustkrebs nur auf einem der beiden Allele auftritt, nennt man diesen Zustand heterozygot (im Unterschied zu homozygot = beide Allele betreffend). Wenn also eine Mutation auf einem Gen bei einer Person vorhanden ist und diese mit einer Person, die nicht mutationstragend ist, Nachkommen zeugt, dann beträgt nach den Mendelschen Regeln die Wahrscheinlichkeit 50 Prozent, dass das Kind diese Mutation geerbt hat. Die Herstellung von Verwandtschaft über biologische Vererbung exkluiert jede andere Form genealogischen Wissens. Gereinigt von anderen genealogischen Wissensbeständen stellt sich Vererbung so als natürliches Band zwischen den Generationen dar. Ein Problem war, dass sich dieses Mendelsche Vererbungswissen nicht ohne weiteres auf den Familiären Brustkrebs übertragen ließ. Man benötigte die Hilfskonstruktion der Penetranz, die es ermöglichte, die Erklärung über den Genotyp der Beschreibung der in einer Familie vorfindbaren Phänotypen (also Erkrankungen) anzupassen: Nicht jede vererbte Mutation führt beim Nachkommen automatisch zu einer Erkrankung. Aber wenn eine Mutation vererbt wird, dann ist für die betreffende Person die Wahrscheinlichkeit zu erkranken (Penetranz) höher, als für eine Person ohne Mutation. Der Begriff der Penetranz trägt in sich eine Unschärfe, die es erlaubt, das Vererbungswissen ein Stück weit flexibel zu gestalten. Man war sich der Existenz eines oder mehrer Gene, die eine erbliche Disposition für Brustkrebs und Ovarialkrebs vermitteln, sehr sicher. Ergo musste es möglich sein, anhand des Stammbaums und des definierten Materials erstens genauere Erkenntnisse über den Vererbungsmodus zu gewinnen und zweitens ein verantwortliches Gen zu finden. Noch bevor das erste Brustkrebs-Gen 1994 sequenziert wurde, war es als eine Art naturhaft Universales bereits vorhanden und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis es das Licht der Welt erblicken würde.

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Molekulare Werkzeuge und Linkage-Analysen Segregationsanalysen mittels Stammbäumen wären kaum dermaßen relevant geworden, wenn in den 1980er Jahren nicht gentechnologische Methoden und Werkzeuge dazugekommen wären. Um das BrustkrebsGen, über dessen Existenz man sich sicher war, zu finden, wurden Linkage-Analysen – auch Kopplungsanalysen genannt – durchgeführt, um den Gen-Ort einzugrenzen und das Gen schließlich bestimmen zu können. In entsprechend charakterisierten Familien (Häufungen an Brustund/oder Ovarialkrebs) nahm man an, ein oder mehrere für Brustkrebs disponierende Gene, welche den Namen BRCA1 und BRCA2 erhalten sollten, finden zu müssen. Im Gegensatz zu Segregationsanalysen funktionieren Kopplungsanalysen auf der Grundlage molekularer Technologien in Kombination mit Stammbauminformationen. Man benötigte biologisches Material (hier Blutproben) zur Gewinnung von DNA und dessen Relationalität zu einem informativen Stammbaum. Das Verfahren sieht so aus, dass man nach der gemeinsamen Vererbung von genetischen Loci sucht (Kopplungsgruppen), die auf demselben Chromosom liegen. Aufgrund ihrer räumlichen Nähe zueinander wird angenommen, dass sie in der Regel gemeinsam vererbt werden. Die gemeinsame Vererbung dieser Loci nennt man Linkage. Vereinfacht gesagt, versuchte man darüber herauszufinden, ob Krankheit und gewisse Marker gemeinsam vererbt werden. Der Zusammenhang von Brustkrebs, familiärer Häufung und Vererbung wurde auf das forschungsaktuelle Tableau jener Zeit gehoben, weil gentechnologische Methoden und Werkzeuge jetzt die Möglichkeit eröffneten, das anwesende/abwesende Gen hinter dem Phänotyp endlich dingfest machen zu können, der Ursache für das beobachtete gehäufte Auftreten von Brustkrebs in Familien habhaft zu werden. Das Brustkrebs-Gen BRCA1 gewann im Verlauf der 1980er Jahre eine enorme Wirkungsmacht. Die Suche nach ihm beschleunigte sich Anfang der 1990er Jahre, als es der Forschungsgruppe um Mary-Claire King in San Francisco gelang, das erste Brustkrebs-Gen für Familiären Brustkrebs auf dem Chromosom 17 zu identifizieren. Ein Wettlauf begann: „The discovery launched a highly competitive race for the identification and sequencing of these genetic factors“ (Gaudillière/Löwy 2005: 268). Was genau war der Familiäre Brustkrebs für ein Gegenstand, der mit der Suche nach dem Brustkrebs-Gen eine solche Karriere machen konnte?

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2.4 Herstellungspraktiken: Der Familiäre Brustkrebs „Man braucht das Objekt einfach. Es muss charakterisiert sein. Sie müssen wissen, was ist die Grundlage ihrer Arbeit. Sie müssen belegen, was ist das für ein Patient. Ist der aus einer Familie oder ist er nicht aus einer Familie. Hat er Verwandte, die erkrankt sind? Wie kommt der Tumor zustande, der Tumorphänotyp und solche Dinge. Das müssen sie alles dokumentieren“ (Scherneck 2006: 14).

Die familiäre Häufung von Brustkrebs wurde und wird bis heute als ein „gesicherter und strenger Risikofaktor für die Erkrankung“ (Scherneck/Hofmann 1999: 373) beschrieben. In Familien, in denen man von einem erblichen Brustkrebs spricht, wird das Auftreten von Brustkrebs in mehreren Generationen einer Familie beobachtet. Dazu kommt das Charakteristikum eines jungen Erkrankungsalters (vor dem 45. Lebensjahr/early onset) und einer höheren Rate an bilateralen Tumoren (vgl. Scherneck/Hofmann 1999). Neben Brustkrebs hat auch der Eierstockkrebs im Vererbungswissen eine Rolle gespielt. Dennoch muss man sagen, dass in der Gewichtung immer der häufiger auftretende Brustkrebs vor dem seltener auftretenden Eierstockkrebs lag. Wenn Familienangehörige in der beschriebenen Art und Weise von Brustkrebs betroffen waren, gab das Anlass zur Annahme, dass es sich um die Vererbung einer genetischen Disposition handeln musste. Dies gilt heute noch. Es mag andere umweltbezogene Gründe geben, warum es in Familien zur Häufung an Tumoren kommt, aber nur als erblicher Krebs besitzt die familiäre Häufung den Status eines gesicherten und strengen Risikofaktors. Die Möglichkeit der Charakterisierung von Familien machte Familiären Brustkrebs zu einem hervorragenden Forschungsgegenstand. Man erhielt eine Untersuchungsgruppe, in der man von der Existenz einer genetischen Disposition ausging, welche sich über Generationen vererbte und die Erkrankungen hervorrief. Ohne Familiären Brustkrebs hätte es keine Stammbäume und keine Segregationsanalysen gegeben. Sprich, es hätten keine Erkenntnisse über den Vererbungsmodus gewonnen werden können. Ebenso wäre es nicht möglich gewesen, Linkage-Analysen durchzuführen, weil man weder das Blut, noch die benötigten Informationen gehabt hätte. Kurzum man kann sagen, dass der Familiäre Brustkrebs die Bedingung der Möglichkeit für die Brustkrebs-Genforschung war. Nun wurde in Stammbaumanalysen der Verdacht erhärtet, dass es eine genetische Disposition für Brustkrebs geben müsse, welche einem autosomal-dominanten Erbgang folge. Aber das Neue war der Einsatz 50

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gentechnologischer Methoden. In Verschränkung mit Stammbaumwissen war es endlich soweit, auf molekularer Ebene selbst nach dem Brustkrebs-Gen suchen zu können, es schließlich finden und charakterisieren zu können. Mir scheint, dass man die Konjunktur des Familiären Brustkrebses nur verstehen kann, wenn man davon absieht, ihn ausschließlich aus medizinischer Perspektive als Krankheit beziehungsweise als Erkrankung begreifen zu wollen, die es immer schon gegeben hat. Warum spreche ich von einer Konjunktur? Dieser Begriff hat sich aus dem Feld der Astrologie entwickelt, wo mit ihm das Zusammentreffen von Gestirnen in einem Tierkreiszeichen und sich daraus angeblich ergebende Einflüsse auf den Menschen bezeichnet wird. Von dort wanderte er in wirtschaftliche Gefilde, wo er heute nach wie vor eine wirtschaftliche Gesamtlage von bestimmter Entwicklungstendenz bezeichnet (siehe Duden Herkunftswörterbuch). Rheinberger hat diesen Begriff für seine wissenschaftshistorischen Analysen fruchtbar gemacht und versteht sie als Ergebnis unvorwegnehmbarer Ereignisse in der Entwicklung von Experimentalsystemen (Rheinberger 2002: 144f.). Konjunktur bedeutet in unserem Beispiel demnach, dass es eine Entwicklung gegeben haben muss, in Folge derer Dinge und Zusammenhänge aufeinander trafen und dabei der Familiäre Brustkrebs als Ergebnis auftauchen konnte. Gibt es hier nicht einen Widerspruch? Habe ich nicht vorhin behauptet, dass der Familiäre Brustkrebs die Bedingung der Möglichkeit für die Brustkrebs-Genforschung gewesen sei? Es stimmt: Die Entwicklung lässt sich nur schlecht in Begriffen von Ursache und Wirkung fassen. Man muss vielmehr sagen, dass der Familiäre Brustkrebs sowohl Bedingung der Möglichkeit als auch Ergebnis der Brustkrebs-Genforschung war. Was passierte? Indem der Familiäre Brustkrebs in die spezifische molekulare Konstellation eintrat, bekamen sowohl sie als auch er eine neue Ausrichtung. Zusammen wurde ein Forschungspfad eingeschlagen, den es vorher nicht gegeben hat. Ohne Zweifel spielte im Kontext der Brustkrebs-Genforschung die Entwicklung gentechnischer Methoden eine zentrale Rolle. Erst durch sie gewann der Familiäre Brustkrebs als Forschungsgegenstand an Relevanz, und zwar dort, wo sich verschiedene Praktiken, Menschen und Dinge um das (noch nicht entdeckte, aber als existent angenommene) Brustkrebs-Gen zu gruppieren begannen. Heraus kam dabei der Familiäre Brustkrebs als ein „sehr schönes Modell“ (Scherneck 2006: 12) in der Suche nach dem Brustkrebs-Gen. Ihn als ein Modell zu begreifen, wäre mir vielleicht nicht in den Sinn gekommen, hätte ihn Scherneck in einem Interview mit mir nicht selbst so bezeichnet.

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Ein „sehr schönes Modell“ … Was ist unter Modell zu verstehen und was macht die spezifische Existenzweise des Familiären Brustkrebses als Modell aus? Rheinberger sieht Modelle als „‚ideale‘ Wissenschaftsobjekte“ (Rheinberger 2000: 242), da sie sich zum einen besonders gut für das experimentelle Manipulieren eignen und zum anderen in gewisser Weise „standardisierte, gereinigte, isolierte, verkleinerte und in ihren Funktionen reduzierte Entitäten sind“ (Rheinberger 2000: 242). Man denke an eine Maus als Modellsystem. Was kennzeichnet das Mausmodell? An der Maus können Interventionen durchgeführt werden, die am zu Modellierenden aus verschiedensten Gründen nicht möglich sind, wenn man beispielsweise Fragen zu spezifischen Funktionen des menschlichen Organismus klären möchte. Es ist mir bewusst, dass ich mich hier im spannungsreichen Feld der Frage nach dem Gebot und Verbot von Tierversuchen bewege und es liegt mir fern, diese Praktiken an Tieren als selbstverständlichen und legitimen Teil von Forschung vorauszusetzen. Nun ist das Modell Maus des Labors nicht mehr die Maus im Wald. Um Modell zu sein, bedurfte es einer Reihe von „Rekonfigurationsschritten“ (Amann 2000: 36), zum Beispiel der Systematisierung der Züchtung, der Standardisierung der Haltungsbedingungen oder der Dokumentation von Forschungsergebnissen. Übertragen wir die Modellqualitäten auf den Familiären Brustkrebs. Er scheint als Modell anderen standardisierten Entitäten der Natur (Bakterien, Viren, Fruchtfliegen, Mäuse, Frösche) zu gleichen und besitzt eindeutige Charakteristika zu seiner Bestimmung: junges Erkrankungsalter, erhöhte Rate an bilateralen Tumoren, gehäuftes Auftreten in einer Familie. Aber wenn die Molekularbiologie „auf der Suche nach biologischen Funktionen auf molekularer Ebene […] verschiedenste Modellorganismen [verwendet],“ (Rheinberger 2006a: 227), dann muss man einschränkend sagen, dass in der Brustkrebs-Genforschung nicht der menschliche Organismus als Ganzes dazu gehört. Es ist schließlich nicht der kranke Mensch, der im Labor hergestellt wird, wobei im Verlauf der Passagen zu zeigen sein wird, dass der (kranke) Mensch sehr wohl im Labor eine Rolle spielt. Dennoch: Anders als Mäusen (hierüber ist wie gesagt nachzudenken) ist es ethisch nicht zulässig, Menschen beispielsweise eine Mutation beizubringen und dann zu beobachten, ob sie die Krankheit ausbilden oder nicht. Das Modell musste somit zu Forschungsgegenständen führen, die es erlaubten, bearbeitet zu werden. Um am Menschen zu forschen, wenn die Arbeit mit Tiermodellen nicht möglich ist, braucht es also eine vertretbare Extraktion nötiger Körperteile. Was den Familiären Brustkrebs zu einem guten Modell machte, war seine Existenzmöglichkeit in Form entkörperlichter Materialitäten. Die experimentelle Manipulation erfolgte nicht am Organismus, sondern 52

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am gewonnenen menschlichen Material und seiner Kontextualisierung in einen generativen Zusammenhang. Von Interesse waren erstens Stammbäume und zweitens Blutproben.

… und sein zu Modellierendes, Um ein Verständnis vom Familiären Brustkrebs als Modell zu gewinnen, ist es wichtig zu erfassen, was als das zu Modellierende bestimmt werden kann und wie das Verhältnis zwischen beiden funktioniert. Wie der Name Modell schon sagt, steht es für etwas anderes. Wofür stand der Familiäre Brustkrebs Modell? „Bisher wurde nur spekuliert, dass ein Tumor auch eine genetische Grundlage hat. Man hat gesehen, dass die Chromosomen verändert sind, aber dominant für einen Tumor verantwortliche Gene kannte man nicht. Und gerade bei einer so großen Tumoreinheit wie Brustkrebs, da sah man zwar die Familien, aber man wusste nicht, ist da wirklich nur ein Gen oder was gibt es da?“ (Scherneck 2006: 38).

Hieran wird deutlich, dass das Modell in einem vagen Verhältnis zu seinem zu modellierenden Gegenüber stand. Das zu Modellierende selbst entzog sich (noch) einer genauen Bestimmung; gab es ein Gen oder vielleicht mehrere? Es wurde zwar angenommen, dass es ein Gen und eine spezifische biologische Funktion auf molekularer Ebene geben müsste, die aufgrund einer Störung dazu führte, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, den Phänotyp (Brustkrebs) auszubilden. Der Familiäre Brustkrebs als Modell erhielt durch die Verbindung von familiär gehäuften Erkrankungen und anwesendem/abwesendem Brustkrebs-Gen seine Relevanz und besitzt sie im übrigen auch heute noch, da vieles für die Forschung nach wie vor im Unklaren liegt. Es lässt sich also sagen, dass der Familiäre Brustkrebs so lange relevant sein würde, „wie diese Repräsentationsbeziehung [zwischen Modellen und zu Modellierendem, S. P.] ein wenig unscharf bleibt, solange wir keine volle Kenntnis davon haben, wofür sie letztlich steht“ (Rheinberger 2006a: 16), beziehungsweise so lange, wie sich der Forschungszusammenhang nicht grundlegend wandeln sollte und mit ihm die darin existierenden Modelle.

… mit gemeinsamen Translationsversprechungen. Ich komme auf eine letzte Facette des Modells zu sprechen. Dafür gehe ich noch einmal zum Maus-Modell zurück. Versuche an diesem Modell dienen nicht dazu, lediglich neue Erkenntnisse über biologische Vorgänge des Maus-Organismus zu gewinnen. „So wird beispielsweise die Maus transformiert zum Modellsystem für die Untersuchung der Säuge53

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tierentwicklung und damit letztlich für die Entwicklung des Menschen“ (Amann 2000: 35). Modelle helfen demnach bei der Gewinnung von Einsichten, die über das Besondere auf ein Allgemeines weisen. Die Voraussetzung für solche Translationsbegehren war die Idee, „dass grundlegende Eigenschaften des Lebendigen für alle Lebewesen charakteristisch sind und daher stellvertretend an besonderen Lebewesen experimentell untersucht werden können“ (Rheinberger 2006a: 13). Nun hatte man in der Brustkrebs-Genforschung das Problem, dass man mit Tiermodellen nicht zu den erhofften Ergebnissen gelangen konnte. Übertragungen waren nicht immer möglich und deshalb wurde es notwendig, am menschlichen Material zu forschen. Neben dieser misslichen Translation gab es jedoch ein ganz anderes Translationsbegehren: nicht von Tier zu Mensch, sondern von Mensch zu Mensch sollte eine Übersetzung möglich werden. Man erhoffte sich nicht nur Erkenntnisse über biologische Funktionen auf molekularer Ebene im Fall von erblichen Krebsen, sondern man war der Überzeugung, über den Familiären Brustkrebs vom Besonderen zum Allgemeinen gelangen zu können. Es waren nicht die im Vergleich zum sporadischen Krebs recht wenigen Fälle von familiärer Häufung – also mit Verdacht auf Vererbung – die ausschließlich interessierten. Brustkrebserkrankungen, die erblich bedingt sind, machen „nur“ fünf Prozent aller Brustkrebse aus und stellen im Vergleich zu den sporadischen Tumoren eine kleine Gruppe dar. Die Attraktivität bestand in der Verbindung von erblichen zu sporadischen Krebsen und damit zum größten Teil von Brusttumoren. Nähert man sich den Translationsversprechungen von theoretischer Seite, stößt man auf ein wissenschaftliches Wissen, welches besagt, dass dieselben Gene, die für erbliche Krebse relevant sind, auch in die Entstehung sporadischer Karzinome involviert sind. In dieser, von Alfred Knutson in den 1970er Jahren am Modell des Retinoblastoms formulierten These, wird also eine entscheidende Beziehung zwischen erblichen und sporadischen Krebsen hergestellt (Narod/Foulkes 2004: 671), die gleichzeitig auf der Annahme der Trennung beider beruht. Auf der einen Seite gibt es die Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen beiden Tumoren und der Charakterisierung des Familiären Brustkrebses und auf der anderen Seite besteht eine angenommene Beziehung. Die Kombination von beidem erwies sich als produktiv und muss unbedingt berücksichtigt werden, weil man sonst nicht den Einsatz und Aufwand der Forschung am Familiären Brustkrebs erklären könnte. Es ging nie ausschließlich um die relativ wenigen Fälle von Familiärem Brustkrebs in der Medizin. Die Forschung zielt auf größere Zusammenhänge und die Möglichkeit der Verallgemeinerung von den erblichen zu den sporadischen Tu54

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moren. So heißt es im Jahr der „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) von BRCA1 1994: „The important point is that the same gene is involved in both hereditary and sporadic cancers“ (Vogelstein/Kinzler 1994: 1). Zudem wurde die Wichtigkeit des ganzen Unternehmens dadurch verstärkt, dass Brustkrebs als „weltweit die häufigste Tumorerkrankung der Frau“ (Scherneck/Jandrig 1997: 1) angesehen wurde und wird. Das lässt die Forschung an Wert gewinnen. Das Translationsbegehren ist nicht mit einer beliebigen Krankheit verbunden, sondern mit einer von Gewicht: „In Deutschland werden pro Jahr mehr als 40000 Fälle registriert und es wird geschätzt, dass jede zwölfte Frau im Verlauf ihres Lebens an Brustkrebs erkrankt“ (Scherneck/Jandrig 1997: 1).

2.5 Modell-Materialitäten: Stammbäume und Blutproben Was hielte man in den Händen, würde man nach dem Modell greifen? Es wären nicht die Krankheit, nicht die kranken/gesunden Menschen oder gar die Familien selbst, sondern das hergestellte Material: Stammbäume, Blutproben, vielleicht auch noch Gewebeproben. Modelle sind nicht nur relevant, weil sie einen klar bestimmbaren Charakter besitzen oder auf ein Allgemeines verweisen; sie müssen auch als Arbeitsgegenstände nützlich sein. An Modellen soll erprobt, experimentiert, ermittelt werden. In der Forschung bestand der Wert des Familiären Brustkrebses darin, Stammbäume und Blutproben als Arbeitsmaterialien hervorzubringen. Ohne sie wäre er kein gutes Modell geworden, denn womit hätte man forschen sollen? Im Stammbaum wurde aufgrund der Anordnung von Symbolen erkennbar, ob auf einen autosomaldominanten Erbgang geschlossen werden konnte: „Sie sehen das im Stammbaum. Da muss irgendwas sein“ (Scherneck 2006: 27). Mit den Blutproben wurde es möglich, ein Körperinneres umzustülpen und nach Außen zu transportieren, es sichtbar und erforschbar zu machen. Die Dinge mussten gesammelt werden, sofern sie nicht schon vorhanden waren und man auf sie zugreifen konnte. So ging es auch Scherneck und seiner Gruppe Anfang der 1990er Jahre am entstehenden MDC. Während meiner Recherchen zu dieser Anfangszeit fiel mir eines deutlich auf: Im Gegensatz zum Stellenwert, den die Blutprobensammlung einzunehmen schien, findet der Stammbaum und seine Herstellung kaum ErwähnErnst Wender, der maßgeblich für die Sammlung des Materials in den Anfangsjahren zuständig war, erwähnte die Stammbäume in meinem Interview im November 2006 mit ihm kaum, wohingegen die 55

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Blutabnahme deutlich mehr Raum in seiner Erzählung einnahm und ich begann mich zu fragen: Warum verschwindet der Stammbaum in den Erzählungen über die Vergangenheit, beziehungsweise warum wird seine Produktion unsichtbar?

Familieninformationen – Der Stammbaum Stammbäume wurden entweder auf der Grundlage erster Informationen, die am Telefon erfragt wurden, gezeichnet oder im Zusammensein mit den Mitgliedern einer für die Forschung interessanten Familie. Die Utensilien der Herstellung sind schlicht. Es braucht einen Stift und ein Blatt Papier. Nicht ganz so einfach war es, an die gewünschten Informationen zu gelangen. Dafür musste die Familie in Kontakt mit der Tumorgenetik getreten sein und die Bereitschaft und Fähigkeit besessen haben, gewünschtes Wissen preiszugeben. Welches Wissen war von Relevanz? Neben dem Brustkrebs hatte man auch ein Interesse am Auftreten anderer Tumore: „Am Anfang hatten wir nur gynäkologische Tumore, also Brust, Uterus und Eierstöcke. Das wurde dann erweitert auf alle anderen Tumore und speziell waren das Magen und Darm. Ja, mehr waren es nicht, so wie ich mich auf Anhieb noch erinnere“ (Wender 2006: 39). Es kann festgehalten werden: Die familiäre Ordnung des Stammbaums war und ist eine pathologische Ordnung. Sie umfasst ausschließlich familiäres Wissen im Zusammenhang mit Erkrankungen wobei die In- und Exklusion diverser Erkrankungen nicht fix, sondern kontextabhängig ist. Die symbolische Ordnung des Stammbaums musste mit verschiedensten Details über einzelne Familienmitglieder angereichert werden: Erkrankungsalter, Todesursache und -datum, aktuelles Alter und Name der Erkrankung. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Nichtthematisierung der Stammbaumherstellung an der Einfachheit dieses Verfahrens liege. Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht wüsste, wie ein Stammbaum aussieht. Ich möchte zu bedenken geben, dass Einfachheit nicht an sich existiert. Wenn wir Dinge als einfach wahrnehmen, dann vergessen wir oftmals, dass viel investiert wurde, um sie so erscheinen zu lassen. Heute steht in der Genetik fest, wie ein Stammbaum auszusehen hat und welche Symbole zu verwenden sind. Er ist ein Gegenstand, welcher auf spezifische Art und Weise biologische heterosexuelle Familienlinien sichtbar macht. Dabei sind Form und verwendete Symbole Produkte eines längeren Standardisierungsprozesses. Yoshio Nukaga zeigt am Beispiel der Huntington Krankheit mit dem Fokus auf Nordamerika, wie der Stammbaum einen Prozess der Standardisierung im frühen 20. Jahrhundert erfuhr: „The standardization of medical pedigrees required not simply the extension of Mendelian theories and tools into human dis56

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eases but also the gathering of family trees, which had already started in clinics in the late 19th century“ (Nukaga 2002: 43). Es soll an dieser Stelle kein historischer Erkundungsgang für Deutschland einschlagen werden. Zunächst bleibt festzuhalten, dass es zum Zeitpunkt der Materialsammlung Anfang der 1990er Jahre keine Frage mehr war, wie der Stammbaum überhaupt gezeichnet und welche Symbole verwendet werden sollten, sodass die im Stammbaum enthaltenen Informationen von anderen gelesen und verstanden werden konnten. Abbildung 1: „Typischer“ Stammbaum von Familiärem Brustkrebs

Quelle: Scherneck/Hofmann 1999: 374 Der typische Stammbaum erinnert an eine Tanne, da er sich nach unten ausbreitet, was ihm laut Richards den Namen Weihnachtsbaum eingebracht hat (Richards 1996: 258). Der Stammbaum ist in der BrustkrebsGenforschung der 1980er/1990er Jahre bis heute ein sehr stabiles Werkzeug. Die Symbole sind standardisiert. Die Kreise stehen für das weibliche und die Quadrate für das männliche Geschlecht. Ist ein Symbol gefüllt, bedeutet dies eine phänotypische Auffälligkeit. Ist ein Symbol halb gefüllt bedeutet dies, dass die Person zwar phänotypisch unauffällig, jedoch genotypisch Überträger ist (heterozygot). Aber nicht nur die Praxis des Zeichnens ist eine nichthinterfragte Tätigkeit, sondern auch die Herstellung des Stammbaum-Inhalts, biologische Verwandtschaft wird über einen längeren Zeitraum sichtbar gemacht. Die zeitliche Abfolge ist die aufeinanderfolgender Generationen. Sie ist linear. Diese lineare Zeit kann im Stammbaum räumlich sichtbar gemacht werden, indem man die Generationen untereinander anordnet und die jeweils aufeinanderfolgenden Generationen miteinander in Beziehung setzt. 57

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Der Stammbaum der Brustkrebs-Genforschung zeigt Familie als eine natürliche Ordnung der Vererbung und speziell der Vererbung von genetischen Dispositionen für die Krankheit Brustkrebs. Im Stammbaum werden Individuen „durch heterosexuelle Reproduktionslinien miteinander verknüpft und sowohl durch Geschlechtszugehörigkeit als auch durch das Vorhandensein oder das Fehlen bestimmter medizinischer Diagnosen charakterisiert“ (Castañeda 2002: 63). Und man kann hinzufügen: Es wird vom Phänotyp auf den Genotyp und den Modus der Vererbung geschlossen. Der hier beschriebene Stammbaum ist hochgradig selektiv, da er rein biologische Familien meint und damit eine ganz bestimmte Art der Konstruktion von Familie (nämlich nicht die soziale sondern die biologische) verfolgt. Existierende Mehrdeutigkeiten – was oder wer gehört in einen Stammbaum? – verschwinden in ihm. So werden Menschen „Teil einer theoretischen Ordnung und Gegenstand bestimmter epistemischer Praktiken: Ihre bisherigen Bedeutungen wandeln sich, ja vielleicht werden überhaupt erst durch die Umstellung ‚bedeutende‘ Aspekte an ihnen sichtbar“ (Rheinberger 2006a: 336). Stammbäume sind also immer auf eine bestimmte Art und Weise gereinigte Bäume, ohne dass man ihnen diese Reinigungsarbeit anmerken würde. Sie geben keine Auskunft darüber, was sie alles nicht (mehr) sichtbar werden lassen. Wenn man auf einem Blatt Papier einen Stammbaum sieht, erinnert er uns daran, dass es eine Familie gab, deren Stammbaum man zeichnen konnte. Zu dem Zeitpunkt, wo wir das Blatt in unseren Händen halten, ist die Familie allerdings nicht anwesend und doch können wir uns mittels der Zeichnung etwas über sie vorstellen. Doch was ist auf der Grundlage eines in der Zeit eingefrorenen Bildes von auf Symbole reduzierten Menschen über diese Familie vorstellbar? Zusammenfassend kann festgestellt werden, das der Stammbaum sowohl von der Art der Herstellung als auch der Produktivität der darin sichtbar werdenden Ordnung äußerst attraktiv für die Suche nach dem Brustkrebs-Gen war. Von Vorteil war die Einfachheit der Herstellung mittels Stift und Papier (später dann mittels eines Softwareprogramms). Es brauchte für die Herstellung keinen Ortswechsel der beteiligten Menschen (vorausgesetzt sie verfügten über ein Telefon); gleichzeitig erhielt man ein Ding, welches ohne weiteres mobil sein konnte (per Post oder elektronisch). Für die Forschenden war seine Lesbarkeit aufgrund des Gebrauchs gängiger Symbole und ihrer standardisierten Anordnung unproblematisch. Dadurch ergab sich die Möglichkeit des Vergleichs der gesammelten Stammbäume und deren beliebige Kombination zum einen in der Tumorgenetik, zum anderen mit Stammbäumen anderer Labore in anderen Städten anderer Länder. Stammbäume sind nicht nur sehr stabi58

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le, sondern – und damit zusammenhängend – auch mobile Dinge. Sie können reproduziert, rekombiniert und umgruppiert werden. Zudem lässt sich ihr Maßstab ohne eine Veränderung der internen Proportionen modifizieren. Aber vor allem gaben die Stammbäume Auskunft darüber, von welchen Mitgliedern einer Familie man Blutproben brauchte. Im Interview erzählt Scherneck: „Und wir haben gesagt, der lebt noch und der lebt noch und der lebt dort. Und wir haben uns ausgesucht, wir brauchen den und wir brauchen den, wir brauchen den unbedingt, um das zu charakterisieren. Das kann man ja aus dem Stammbaum lesen, wen man untersuchen will […] Die [Angehörigen, S.P.] haben dann einen Arzt aufgesucht. Unsere Leute sind hingefahren mit einem Auto. Waren manchmal tagelang unterwegs wegen einer Blutprobe und haben die Blutprobe geholt und dann haben wir das hier registriert alles und haben unsere Familien aufgebaut“ (Scherneck 2006).

Biologisches Material – Die Blutprobe „Wir mussten Material finden, das überhaupt brauchbar war“ (Wender 2006: 3). Die Tumorgenetiker waren darauf angewiesen, Blutproben zu sammeln. Die Blutprobe ist ein biologisches Material, aus dem die DNA gewonnen wird. Die Blutabnahme betraf nicht nur erkrankte, sondern auch gesunde Familienmitglieder. Erst die Kombination von selektiven Stammbauminformationen (gehäufte Krebserkrankungen, Alter, Geschlecht et cetera) mit der Analyse des biologischen Materials von aktuell erkrankten (oder in der Vergangenheit krank gewesenen) und gesunden Familienmitgliedern konnte die gewünschten informativen Effekte erzielen. Der Stammbaum mochte noch so viele Tumore aufweisen, für die Forschung war es notwendig, dass man auf lebende Menschen und damit auf ihre Blutproben zugreifen konnte. Die Blutprobensammlung wurde dadurch erschwert, dass nicht immer alle Familienmitglieder, von denen man Blut haben wollte, an einem Ort wohnten oder noch lebten. Wender beschrieb dieses wie folgt: „Schon zu meiner Zeit hatten wir das, was wir brauchten, zusammen. Wir wären nur auf eine richtige Familie scharf gewesen. Aber das scheiterte daran, dass wir nicht in der Lage waren, an Material von früheren Generationen ranzukommen“ (Wender 2006: 44). Das Begehren der Forschenden traf auf die Widerstände ihres Materials. Es ließ sich nicht einfach herstellen. Vielmehr war die Situation durch einen Mangel gekennzeichnet. Man stieß weder auf viele große Stammbäume noch auf viele Blutproben aus vielen großen Familien. Während man theoretisch wusste, was man wollte und brauchte, unterwanderte die Not des Alltags die strengen Selektionskri59

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terien. Oder anders formuliert: „Wir hatten so wenig Material, dass wir genommen haben, was wir bekommen haben“ (Wender 2006: 29). Hatte man die Blutproben abgenommen, wurden sie auf Eis gelegt, damit sie den Transport überstanden und den Weg nach Berlin-Buch zurücklegen konnten. Ein enormer Aufwand. Warum verschickte man das Blut nicht einfach? Eine Antwort darauf lautet: Weil es hierfür organisatorischer Bedingungen brauchte, die es nicht immer schon gab. Es musste sich ein neuer Planungszusammenhang erst formieren. Blut ist ein sensibler Stoff. Seine spezifische Gewinnung und Aufbereitung zur Lagerung außerhalb des Körpers und die damit verbundene Transportfähigkeit waren wissenschaftlich-technische Errungenschaften, die nicht nur selbst einer Standardisierung bedurften, sondern vor allem in gewisse standardisierte Abläufe eingebunden werden mussten, damit sie ihren Sinn und Zweck erfüllen konnten. Die stoffliche Zurichtung des Blutes und die Festigung von Verlaufs-, Verschickungs-, Bearbeitungswegen gaben einen Möglichkeitsraum mit vor, in dem sich die Passagen der Blutproben abspielen konnten. Die Tatsache, dass es anfänglich keinen stabilen Planungszusammenhang für die Verschickung der Blutproben gab, erforderte das Zusammentreffen von Menschen und Dingen, das In-Bewegung-Setzen. Oder wie Wender es auf den Punkt bringt: „Wir waren dazu gezwungen“ (Wender 2006: 4). Also machte man sich auf den Weg, füllte das Blut ab und transportierte es gekühlt nach Hause. Wender trat in Beziehung zu denjenigen Personen, denen das Blut abgenommen werden musste und zu der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt, in deren/dessen Räumen diese Handlung vollzogen wurde. Eine heutzutage vermeidlich einfache Angelegenheit wie die Blutabnahme führte zu einer Passage, einer Übersetzung, der „Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert“ (Latour 1998: 34). Ich sage „vermeidlich einfach“, weil die ganzen Entwicklungen im Bereich der Präanalytik, also alle Prozesse, die vor der eigentlichen Laboranalyse stattfinden müssen, für uns heute unsichtbar geworden sind. Aber alleine für die Blutabnahme stellen sich vielerlei Fragen hinsichtlich patientenbezogener Einflussfaktoren, der Entnahme der Probe und der Aufbewahrung und ihres Transportes. Eine Veränderung in der Praxis der Blutprobensammlung vollzog sich für die Tumorgenetik mit dem Übergang hin zur Verschickung von Blutproben. Diese wiederum war nicht nur abhängig von organisatorischen Entwicklungen, sondern war aufgrund der Mischung des Blutes mit EDTA (Ethylendiamintetraessigsäure) und der damit einhergehenden Stabilisierung der Blutprobe überhaupt erst möglich. EDTA ist ein 60

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hervorragender Komplexbildner, der nicht nur in der Medizin, sondern auch in Wasch- und Reinigungsmitteln (Enthärtung), der Papier- oder Textilindustrie und vielen anderen Bereichen zum Einsatz kommt und wovon beispielsweise 1999 in Europa rund 35.000 Tonnen verbraucht wurden. Es wäre höchst interessant, dem EDTA eine eigene Studie zu widmen und seinen gesellschaftlichen Spuren zu folgen, die man sogar bis in Wasserproben nachweisen kann, da es über das Abwasser in die Umwelt gelangt und nur sehr langsam abgebaut wird. Das so vielseitig eingesetzte EDTA-Anion schaffte die Bedingung der Möglichkeit, dass das Blut überhaupt mobil werden konnte. Die Anreicherung von Blut mit dem Komplexbildner EDTA macht dieses ungerinnbar und damit für die ungekühlte Verschickung tauglich, was jedoch nicht heißt, dass es keine Toleranzgrenze für die Verarbeitung des Blutes mehr gibt. Zur Hemmung der Blutgerinnung (Antikoagulation) wird die Blutprobe in ein Gefäß gebracht, in welchem sich in der Regel bereits die EDTALösung befindet. Für Nichtmediziner ist eine Blutprobe eine Blutprobe. Was man beispielsweise in einem Arztzimmer nicht sieht, ist die Umwandlung des Blutes, je nachdem mit welchem Zusatz es gemischt wird. Verwendete Zusätze können beispielsweise sein: Serum, Citrat, Heparin oder eben EDTA. Mit dem EDTA war nicht nur die Versendung problemlos möglich, auch das Blut veränderte sich und mit ihm das mögliche Untersuchungsspektrum. Diese Bearbeitung legt somit eine diskrete Spur fest. Diskret, weil man sie dem Blut nicht ansieht. Aber man sollte begreifen, dass es sich bei diesem Blut in dem Plastikröhrchen schon um ein Artefakt handelt. Das Artefakt führt nicht mehr zu beliebigen neuen Untersuchungen und Erkenntnissen, weil die Weichen in der Mischung gestellt werden. Neben diesen wissenschaftlich-technischen Bedingungen brauchte es genauso ihre Einfassung in einen spezifischen Bearbeitungsmodus. Sprich, es mussten Prozesse der Standardisierung stattgefunden haben, damit Abläufe (wie das Versenden von Blutproben) überhaupt möglich werden konnten. Man denke nur an die Notwendigkeit der Quantifizierung von ausreichendem Untersuchungsmaterial, der Qualifizierung richtiger Zusätze, dem Definieren eines richtigen Verhältnisses des Zusatzes zum Untersuchungsmaterial, der korrekten Lagerung und der Festlegung standardisierter Angaben für das Labor. All diese Prozesse sind für uns heute ebenso wenig wie die Zurichtung des Blutes mittels EDTA sichtbar. Erst aus der Betrachtung des Vergangenen heraus gelingt es das Unsichtbare zu sehen und einen Eindruck davon zu erhalten, was alles in die Zurichtung und Organisation der Blutprobe eingehen musste, damit die Arbeit mit ihr, ihre Herstellung und ihre Zirkulationen heute für uns like magic aussehen.

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„Später, als das Verschicken möglich war und wir die Fahrten nicht mehr machen mussten, war es wesentlich einfacher. Wir hatten dann einen direkten Kontakt mit den Familien nicht mehr. Logischerweise. Der Kontakt bestand nur noch über den behandelnden Arzt. Die Prozedur, die Familie zu befragen und das Einverständnis zu bekommen, die blieb. Bloß das hatten wir dann soweit es ging per Telefon auszumachen. Respektive es war der behandelnde Arzt, der sich dazu bereit erklärt hat. Und dann sind die Familienangehörigen beim Arzt erschienen und der hat das Blut abgenommen. Wir hatten immer ein Set an Blutabnahmeröhrchen mit der entsprechenden Zugabe, dass das Blut nicht gerinnt. Der Arzt brauchte also nur noch das Blut abnehmen, einspritzen und dann auf die Post“ (Wender 2006: 24).

Für die Tumorgenetik entwickelten sich nach und nach neue Organisationsformen der Materialbeschaffungen. Aber nicht nur die Organisation von Arbeitsabläufen tat ihre Wirkung, sondern ebenso die spezifische Daseinsform des menschlichen Blutes als EDTA-Blut. So wurde das Blut mobiler, bei gleichzeitiger Einschränkung seiner Wandelbarkeit. Das Wichtigste war, dass mit dem EDTA-Blut eines möglich sein musste: die Gewinnung von DNA.

Vom Modell zu „immutable mobiles“: Stammbäume und Blutproben Die Brustkrebs-Genforschung bedurfte des Vorhandenseins beziehungsweise der Herstellung von Forschungsmaterial: Stammbäume und Blutproben. Erst mit ihnen wurde das Modell überhaupt tauglich, gewann es seinen Wert. Oder anders formuliert: Vom Brustkrebs-Gen verläuft eine Spur zum Familiären Brustkrebs und von diesem wiederum verläuft eine Spur zu Stammbäumen und Blutproben. Jedes weist auf ein anderes und gemein ist ihnen ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis. Ich will mit Rheinberger annehmen, dass der Wert des Modells mit seinem Potential zusammenhängt, sogenannte unwandelbare Mobile zu schaffen (Rheinberger 2000: 242). Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? In einem Aufsatz widmet sich Latour (1990) der Bedeutung von Inskriptionen, die er als „immutable mobiles“ bezeichnet. Deren grundlegende Eigenschaften seien nicht in Begriffen von Visualisierung, Druck oder Schreiben zu fassen, sondern bestünden darin, erstens mobil und zweitens unwandelbar, präsentierbar, lesbar und kombinierbar mit anderen Dingen zu sein (Latour 1990: 26). Durch sie würden flüchtige Ereignisse im Raum und in der Zeit fixiert (immutabel) und gleichzeitig in Raum und Zeit verschiebbar (mobile) gemacht. Liegt der Wert des Modells Familiärer Brustkrebs darin, dass es zu solcherlei unwandelbaren Mobilen führt? Im Folgenden wird versucht, das Werden von 62

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Stammbäumen und Blutproben mit dem Begriff des unwandelbaren Mobilen zu erhellen. Die Stammbaumspuren führten zu den Blutproben. Sie wurden miteinander verbunden, da erstens der Stammbaum zur Auswahl von Familienangehörigen (und damit von Blutproben) beitrug und zweitens erst die Kombination von Stammbauminformationen und DNA-Analysen die Forschung auf die Spur der Gene brachte. Gleichzeitig erhielten sie eine Materialität, die sie eigenständig machte. Stammbäume und Blutproben waren und sind durchaus in der Lage, sich getrennt voneinander an unterschiedlichen Orten aufzuhalten und zu zirkulieren. Diese beiden Dinge bringen raum-zeitlich einen hohen Grad an Mobilität zustande, jedoch sind sie nicht uneingeschränkt mobil und nicht vollkommen unwandelbar (schließlich liegt der Gehalt der Blutprobe darin, zu DNA und zu einer lesbaren DNA-Sequenz zu werden). Insofern muss man sowohl Mobilität als auch Unwandelbarkeit als graduelle Möglichkeiten begreifen. Sie liegen jeweils in Abstufungen vor. Das vollkommen Unwandelbare gibt es ebenso wenig, wie das unendlich Mobile. Blut/DNA: Blut ist dank EDTA stabil und damit mobil. Gleichzeitig nimmt es an Wandlungsfähigkeit ab, da mit EDTA-Blut nicht mehr jede beliebige Untersuchung möglich ist. Das EDTA-Blut wiederum führt zur DNA. Darin liegt sein Potential. „DNA is a relatively stable molecule and it does not break down easily“ (Richards 2001: 666). Die DNA führt zu Inskriptionen in Form von technischen Bildern, wie zum Beispiel Sequenzen eines Gens. Die entstehenden Bilder von Sequenzen sind standardisiert, lesbar, reproduzierbar, rekombinierbar. Mit anderen Worten: Sequenzen sind ähnlich wie Stammbäume in hohem Maße unwandelbar und mobil. Aber halt. Es ist dennoch keineswegs so, dass alles möglich ist, was gewollt wäre. Es gibt eine Art Widerständigkeit des Materials, ebenso wie technische Bedingungen den Möglichkeitsraum des Unternehmens „Produktion unwandelbarer Mobile“ vorgeben. Konstruktion ist nicht beliebig. Die DNA ist auf der einen Seite stabil und mobil, auf der anderen Seite jedoch nur beschränkt. Die Stabilität der DNA leidet in der Arbeit mit ihr, da sie im Gefrierfach sicher ist, aber nur im aufgetauten Modus an ihr gearbeitet werden kann. Der Wechsel zwischen diesen Zuständen schadet, sie kann daran kaputtgehen. Mobilität ist also möglich, aber nicht unbegrenzt. Weiterhin gilt zu bedenken, dass die DNA für die Arbeit mit ihr weitere Schritte der Modifikation durchlaufen muss. Im Mittelpunkt steht dabei die Reproduktion der DNA mittels PCR, also die Vermehrung einer bestimmten DNASequenz mithilfe von DNA-Polymerasen. Die DNA ist aufgrund der PCR reproduzierbar, allerdings nicht unendlich. Erstens kann die DNA 63

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durch Kontaminationen Schaden erleiden, sodass sie zwar noch vorhanden, aber nicht mehr einsatzfähig ist. Zweitens kann sowohl das Blut als auch die DNA im Verlauf der Forschungen ausgehen, da diese Substanzen nicht beliebig vorhanden sind, sondern ihre Eigenzeiten besitzen. Schrumpft der Bestand an DNA und/oder Blut einer bestimmten Person, dann gibt es entweder die Möglichkeit, dass der Mensch noch lebt, von dem das Blut stammt oder dass der Mensch nicht mehr lebt und keine weiteren Bestände vorhanden sind, also die materielle Grundlage verschwindet. Während das Technische sich potentiell weiter entwickeln kann und somit die gesetzten Grenzen keine fixen Grenzen sind, ist der Tod eines Menschen ein Abschluss ohne möglichen Ausbau. Deshalb muss mit dem vorhandenen Material sorgfältig umgegangen werden. Freilich gibt es auch hier den Weg über die Masse: Je mehr Blutproben (und je mehr geeignete Familien!) zur Verfügung stehen, desto geringer ist für die Forschung der Wert einer einzelnen Familie mit ihren Blutproben. Wir sehen, wie sich das Blut immer weiter wandelt und dabei immer unwandelbarer wird; eine Kaskade hin zu immer einfacheren und kostspieligeren Inskriptionen. Diesen Weg mitzudenken gerät bei der Betrachtung der Gegenstände oft in Vergessenheit, weil die Arbeit, das Geld und alle weiteren Zutaten, die zum Entstehen beitrugen, im Gegenstand selbst unsichtbar geworden sind. Als Sequenz ist die DNA schließlich sehr mobil (sie kann auf einem Rechner gespeichert überall in Sekundenschnelle in die Welt verschickt werden) und sehr unwandelbar. Für Latour ist ein zentraler Aspekt des unwandelbar Mobilen, dass es Teil eines geschriebenen Textes werden kann. Und als solches kann es sich natürlich sehr wohl weiter wandeln, je nach Kontext in welchem beispielsweise die Sequenz auftaucht. Unwandelbare Mobile herzustellen macht nur Sinn, wenn sie eingesetzt werden können. Insofern kann man Latour recht geben, wenn er feststellt, „it is possible to overestimate the inscription, but not the setting in which the cascade of ever more written and numbered inscriptions is produced“ (Latour 1990: 42). Der Einsatzort von Blutproben/DNAs und Stammbäume ist die BrustkrebsGenforschung und im Konkreten das Labor der Tumorgenetik. Ohne diese Gegenstände hätte es diese Forschung nicht geben können. Ohne gute Stammbäume und Blutproben wäre die Arbeit der Tumorgenetik wertlos gewesen. Stammbäume: Sie werden von vornherein auf Papier gebracht. Familie, ein mehrdimensionales und kompliziertes Gebilde, wird zu einem Stammbaum. Teile von Familie werden so inkluiert, andere werden exkluiert; kurz gefasst: Familie wird stammbäumisch hergestellt. Stamm64

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bäume können hervorragend verschickt werden. Sie sind nicht so sensibel wie Blut. Wie sieht es hierbei mit der Unwandelbarkeit aus? Wir haben gesehen, dass es eine lange Geschichte der Standardisierung von Stammbäumen gibt. Es existiert eine feste Form mit standardisierten Symbolen, die den Baum gut lesbar macht und somit zu seiner Mobilität beiträgt. Ich will darauf hinweisen, dass diese Form des Stammbaums nicht als selbstverständlich angenommen werden sollte, auch wenn wir sie heute als solches wahrnehmen. Genealogische Praktiken müssen keineswegs stammbäumisch verlaufen und andere Möglichkeiten der Sichtbarmachung von Verwandtschaftsverhältnissen waren und sind möglich. Nun benötigten die Forschenden vor allem den Inhalt (Angaben über Art der Erkrankungen, Alter, Geschlecht et cetera) und dieser stellt keineswegs eine fixe Größe dar. So konnte und musste es zu immer neuen Aufnahmen von Daten und beständigen Aktualisierungen der Stammbäume kommen, je nachdem, wie sich ihr jeweiliger Wirkungszusammenhang wandelte. Aus der Perspektive der Stammbauminhalte gesehen, sind die Bäume demnach keineswegs unwandelbar, sondern ein offenes Projekt: „However, as scientists can we really know what data might be relevant to record on a pedigree for future generations“ (Bennett 2000: 246)? Beispielsweise stellte sich für die Forschenden durchaus die Frage, welche Erkrankungen (neben Brust- und Eierstockkrebserkrankungen) aufgenommen werden sollten. So wurde die Kombination von Brust- und kolorektalen Karzinomen bereits von Henry T. Lynch und anderen Anfang der 1970er Jahre beschrieben. Weitere TumorErkrankungen in diesem Zusammenhang sind das Li-FraumeniSyndrom, das Cowden-Syndrom, das Muir-Torre-Syndrom oder das Peutz-Jeghers-Syndrom (Scherneck/Jandrig 1997: 6).

2.6 Über das Werden im Relationalen – Eine mögliche Betrachtung Es sind entscheidende Fragen, was überhaupt die Bedingungen der Möglichkeit dafür waren, dass Brustkrebs-Gene zu einem prominenten Gegenstand der Forschung in den 1980er und 1990er Jahren wurden und was den Familiären Brustkrebs so attraktiv für die Forscherinnen und Forscher werden ließ. Es sind Fragen, die verschiedene Linien oder Bewegungen betreffen, wie die Verschiebung der Molekularbiologie hin zur Gentechnologie und die Versprechen/Hoffnungen/Begehren von molekularen Expansionen in das Körperinnere durch eine (zukünftige) Molekulare Medizin. Dies alles passierte nicht unabhängig von Institutionen, welche wiederum nicht im staatenleeren Raum existierten. Diese 65

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geronnenen Gebilde und die mit ihnen verbundenen Institutionalisierungsprozesse existierten nicht losgelöst von und neutral gegenüber den mannigfaltigen Praktiken, welche in ihnen stattfanden. Institutionen prägen sogar, das hat u.a. Mary Douglas (1986) herausgearbeitet, in hohem Maße die in ihnen stattfinden Praktiken und ihre Produkte. Der Institutionenwandel hin zum MDC und die neue Rahmung im Begriff der Molekularen Medizin stellte insofern eine Weiche für die Entwicklung der Brustkrebs-Genforschung in Berlin-Buch. Dem Bucher Institutionenwandel kann ich hier nicht weiter nachgehen, Facetten der Wandlungsfähigkeit und/oder der Resistenzen wären hierbei im Einzelnen zu untersuchen. Die konkreten Effekte dieser Zeit, und ich fokussiere hier auf mikroanalytische Betrachtungen der Bucher Einrichtungen, scheinen mir bei weitem noch nicht hinreichend als Teil deutscher Wissenschaftsgeschichte thematisiert worden zu sein (siehe hierzu etwa Bielka 2002, Bielka/Hohlfeld 1998). An einem Kreuzungspunkt jener größeren Zusammenhänge von wissenschaftlich-technischen Entwicklungen, politischen Veränderungen und institutionellen Neu-Ordnungen befand sich Ende der 1980er Jahre Siegfried Scherneck. Er konnte an diesem zeit-räumlich spezifischen Punkt und dank seiner gewonnenen Erfahrung im Gepäck die Arbeitsgruppe Tumorgenetik initiieren. Was noch in dieser Skizze des mannigfaltigen Zusammentreffens fehlt, ist der konkrete Forschungsgegenstand, um welchen neue wissenschaftliche Konstellationen (in der BRD, aber auch international) entstehen sollten: das Brustkrebs-Gen. Die Bedingung der Möglichkeit seines Werdens war nicht nur an molekulare Techniken gekoppelt, sondern an die Verbindung dieser mit dem Wissen um das Verhältnis zwischen Brust- und/oder Ovarialkrebserkrankungen und Vererbung. Dieses Zusammentreffen wurde wiederum durch einen Gegenstand möglich, welcher gleichsam erst im Zusammentreffen zu seiner spezifischen Existenz kommen sollte: der Familiäre Brustkrebs. Und dieser wiederum wurde gleichsam mit der Herstellung von Stammbäumen und Blutproben bedeutungsvoll. So sehen wir, wie kompliziert eine Wirklichkeit zu beschreiben ist, die nicht von vornherein in Reduktionen gefangen, sondern von Relationen aus entfaltet werden soll. Um dies zu pointieren, will ich noch einmal auf den Familiären Brustkrebs zurückkommen. Ich meine, dass nicht davon auszugehen ist, dass der Familiäre Brustkrebs immer existiert hätte. Zwar wird man sagen können, dass er schon lange Gegenstand von Forschungsinteressen gewesen sei. Doch gelingt es damit weder, seine jeweiligen Besonderheiten noch die Spezifiken der Zusammenhänge, in welchen er zu verschiedenen Zeiten und an ver66

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schiedenen Orten existiert(e), zu erfassen. Familiärer Brustkrebs war und ist nicht immer Familiärer Brustkrebs. Dass ihm im Kontext der Suche nach dem Brustkrebs-Gen eine lange Geschichte bis in das 19. Jahrhundert gegeben wurde, heißt noch lange nicht, dass er zu allen Zeiten ein und dasselbe dargestellt hätte. In Begriffen der Bewegung zu denken bedeutet, ihn einer Analyse seines Werdens zu unterziehen, denn „nichts ist aufregender als die unablässigen Bewegungen dessen, was unbeweglich zu sein scheint“ (Deleuze 1993: 228). Hervorzuheben ist, dass es den Familiären Brustkrebs, wie er in der Suche nach den BrustkrebsGenen prominent wurde, so vorher nicht gegeben hat. Auch wenn zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten vom Familiärem Brustkrebs gesprochen wurde und man sich für ihn interessierte; seine spezifische Bedeutung erhielt er in den 1980er/1990er Jahren innerhalb der skizzierten Forschungszusammenhängen als Modell im Verhältnis zum anwesenden abwesenden Brustkrebs-Gen und in Anbetracht der Notwendigkeit der Produktion von unwandelbaren Mobilen. Insofern kann man sagen, dass Begriffe immer zu kontextualisieren sind, will man etwas über ihre Bedeutung erfahren. Ich möchte vorschlagen, Familiären Brustkrebs im Sinne einer Aussage zu verstehen und beziehe mich hierbei auf den Begriff der Aussage, wie er von Michel Foucault in der Archäologie des Wissens entwickelt wurde. Als Beispiel nennt er die Behauptung „Die Erde ist rund“ und führt an, dass dieser Satz vor und nach Kopernikus nicht dieselbe Aussage ist: „Bei so einfachen Formulierungen kann man nicht einfach sagen, dass der Sinn der Worte sich geändert hat. Was sich geändert hat, ist das Verhältnis dieser Behauptungen zu anderen Propositionen, ihre Anwendungsbedingungen und Reinvestitionsbedingungen, ist das Feld der Erfahrung, von möglichen Verifizierungen, von zu lösenden Problemen, worauf man sich beziehen kann“ (Foucault 1981: 150f).

Das Zusammentreffen des Familiären Brustkrebses mit dem BrustkrebsGen passierte in einer neuen Konstellation aus Technologien, Menschen und Dingen. Altes und Neues kamen zusammen und indem dies geschah, entstanden nicht nur neue Beziehungen, sondern die Menschen und Dinge selber veränderten sich darin. Insofern ist es notwendig, dass die „Analyse der Aussage und die der Formation […] korrelativ erstellt“ (Foucault 1981: 169) wird. Um aber als Aussage überhaupt gehört zu werden, muss sie immer im Wahren eines Diskurses sein. Zu unserer Gen-Ordnung gehörte die Aussage, dass es ein Gen für Brustkrebs gibt und die Aussage, dass Vererbung (Genotyp) und Erkrankungen (Phäno67

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typ) bei sogenannten erblichen oder genetischen Krankheiten miteinander verbunden sind. Damit sind nicht nur Äußerungen oder Verdachtsmomente gemeint, sondern die Existenz des Gens, die Wahrheit der Vererbung und das Wissen um Brust- und/oder Ovarialkrebs. Dieses Gemisch verband sich in Technologien der Herstellung von molekularer Wirklichkeit; in Segregations- und Linkage-Analysen, in PCRs und DNA-Sequenzen. Es entstand ein dichtes Netz aus Wissen und Praktiken um das Brustkrebs-Gen herum, welches dadurch unentrinnbar an Gestalt gewann und so zu seiner Existenz kam, noch bevor es Mitte der 1990er Jahre schließlich sequenziert wurde. In der nächsten Passage gilt es zu verfolgen, wie man konkret zu Blutproben und Stammbäumen kam und wie diese Sammlungen durchgeführt wurden. Man wird einwenden können, dass es ein nebensächlicher Aspekt sei, wie das Labor zu seinem Material gelangte. Ich bin der Meinung, dass die Prozesse der Gewinnung von Forschungsgegenständen durchaus eine Bedeutung haben und dazu gehören, wenn wir verstehen wollen, wie das Brustkrebs-Gen entdeckt/erfunden/konstruiert werden konnte.

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3. 1990 E R J AH R E : VON DER HERSTELLUNG EINER ORDNUNG ZWISCHEN MEDIZIN UND FORSCHUNG

Die einfache Version einer Geschichte der unwandelbaren Mobile könnte folgenderweise lauten: „Und wir haben die Blutprobe geholt und dann haben wir das alles hier registriert und unsere Familien aufgebaut“ (Scherneck 2006: 44). Das Material musste dorthin gelangen, wo es gebraucht wurde: in das Labor der Tumorgenetik. Ist es befriedigend, sich die Gegenstände vorzunehmen als bestünden sie selbstverständlich, ohne ihr Werden zu betrachten? Ich meine, die Antwort lautet „Nein“. Eben haben wir erfahren, wie Blutproben und Stammbäume zunächst hergestellt, auf spezifische Art und Weise zugerichtet werden mussten, um auf Reisen gehen zu können. Damit es so weit kommen konnte, mussten sich jedoch zuallererst Andere in Bewegung setzen. Woher kamen die begehrten Materialien? Woher wusste man, an welche Orte zu fahren war, um sie zu bekommen? Wie gewann man sie überhaupt? Es wäre ein Irrtum anzunehmen, dass man diese Gesichtspunkte unterschlagen könnte, auch wenn sie am Ende in den Blutproben und Stammbäumen und schließlich in der DNA-Sequenz nicht mehr sichtbar erscheinen, dass man sich die Gegenstände gar als immer schon existierende Entitäten vorstellen könnte. Ihr Werden sowie alle daran Beteiligten gehören unabweislich zu ihnen. Das macht eine detaillierte Konstellationenanalyse, die Wandel als Charakteristikum gesellschaftlicher Wirklichkeit ernst nimmt, erforderlich. All die Praktiken des Beschaffens führten nicht nur dazu, dass am Ende Stammbäume und Blutproben für die Forschung bereitstanden. Sie führten auch an einen Kreuzungspunkt von Menschen und Dingen, die 69

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so vorher noch nie zusammengekommen waren und es wahrscheinlich auch niemals wären; an Orte außerhalb des Labors. Diese Passage widmet sich den Aufwänden, die betrieben wurden, um an Forschungsmaterial zu gelangen. Sie kreist die für diese Studie zu stellende Frage ein: Was ist die Geschichte „die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn [oder das Brustkrebs-Gen, S.P.], gruppieren“ (Foucault 2006: 16)?

3.1 Der erste Kontakt Anfang der 1990er Jahre nahm Siegfried Scherneck Kontakt mit Ernst Wender auf. In der DDR war Wender lange Zeit in der Virologie der Bucher Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften mit Zellzüchtung befasst gewesen und hatte Scherneck Jahre vor der Gründung der Arbeitsgruppe Tumorgenetik für seine Tumorvirusforschung mit Material aus der Zellzüchtung beliefert. Für den 65-jährigen Wender stand in dieser wechselvollen Zeit Anfang der 1990er Jahre der Wechsel in das Rentendasein bevor. Scherneck unterbreitete ihm jedoch das Angebot, für einige Zeit in seiner gerade entstandenen Arbeitsgruppe mitzuarbeiten. Mit Interesse an einem neuen Themengebiet akzeptierte Wender das Angebot und wurde für die nächsten fünf Jahre mit der Aufgabe betraut, biologisches Material und Stammbäume zu sammeln. Wie wurde die gestellte Aufgabe gelöst? Allgemein ist zu sagen, dass es mehrere mögliche Wege gab, die im Wesentlichen von den jeweiligen lokalen Bedingungen abhingen: „One way to access such families was to organise consultations in cancer genetics or ,oncogenetics’ as it was often labelled“ (Gaudillière/Löwy 2005: 268). Noch komfortabler erschien es, wenn man nicht einmal mehr selbst das Material generieren musste, sondern auf bereits existierende Bestände zurückgreifen konnte. In den USA profitierte Myriad Genetics, ein privatwirtschaftliches Unternehmen, vom Zugang zu Stammbäumen und zu genetischem Material aus Mormonenfamilien. Es wurde von der Universität Utah schon lange Zeit gesammelt und stellte einen sehr umfangreichen und damit höchst wertvollen Bestand dar. Die Bucher Tumorgenetik konnte allerdings weder auf bereits gesammeltes und sich an einem Ort befindenden Material zurückgreifen, noch verfolgte sie in den Anfängen einen institutionellen Weg, über die Einrichtung von beziehungsweise die Nutzung bereits vorhandener Sprechstunden. Man ging einen anderen Weg: Die Arbeitsgruppe trat an Kliniken und niedergelassene Gynäkologinnen und Gynäkologen heran und versuchte darüber hinaus auch durch Öf70

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fentlichkeitsarbeit Familien zu adressieren. Indem sie das tat, wurden Relationen geschaffen, die vormals nicht existiert hatten. Wender wurde zu einem Reisenden durch das sich wiedervereinigende Deutschland. Wenn alles erfolgreich verlief kehrte er mit neuen Blutproben nach Berlin-Buch zurück. Doch bevor die Reise losgehen konnte, musste das Ziel bekannt sein. Was musste passen, damit sich entweder Ärztinnen und Ärzte und/oder Familien an die Forschenden wandten? Wie kamen die Kontakte zustande?

3.1.1 Ärztinnen und Ärzte, Kliniken und die Tumorgenetik – über ein schwieriges Verhältnis „Wir haben versucht, Kliniken unser Anliegen vorzutragen. Wir haben versucht, Privatärzten klar zu machen, was wir wollten und warum wir von ihnen Familien haben wollten, in denen gehäuft Mammakarzinome, aber auch andere Tumore vorkommen“ (Wender 2006: 3). Ärztinnen und Ärzte (in Kliniken oder Praxen) wurden kontaktiert und über das Anliegen der Arbeitsgruppe Tumorgenetik informiert. Teilweise gab es auch eine direkte Ansprache von bekannten Ärztinnen und Ärzten im eigenen Umfeld. Wusste eine Ärztin/ein Arzt von einer interessanten Familie – also einer Familie, in welcher gehäuft Brustkrebse (und auch andere Tumore) auftraten – dann sollte aus dieser eine Kontaktperson an die Tumorgenetik vermittelt werden. Kam der Kontakt zwischen dem Familienmitglied und der Tumorgenetik zustande, erfüllte die Familie die gewünschten Kriterien (insbesondere war relevant, ob man Blutproben abnehmen konnte und ob es einen akuten Erkrankungsfall gab) und erklärten sich die Familienmitglieder zur Mithilfe bereit, wurde die Ärztin/der Arzt vor Ort (in der Klinik oder in der Praxis) erneut relevant, da die Blutabnahmen über ihn organisiert wurden. Nach diesem Vor-Ort-Termin verlief der Kontakt direkt zwischen den Familien oder einzelnen Angehörigen und den Tumorgenetikern. Eine Beziehung zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten bestand in der Regel nicht fort. Dieses sparsame Verhältnis der Forschung zu niedergelassenen oder in Kliniken behandelnden Ärztinnen und Ärzten von Brustkrebspatientinnen sollte sich in den Anfangsjahren der Forschung nicht ändern. Und auch heute kann kaum von intensivierten Beziehungen die Rede sein. Welche Gründe es hierfür gibt, wird im Folgenden nachzugehen sein. „Der Arzt musste mitmachen oder die Klinik musste mitmachen“ (Wender 2006: 23). Man war Anfang der 1990er Jahre auf deren Unterstützung angewiesen. Wenn kein Interesse an dem Anliegen der Forschung 71

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vorhanden gewesen wäre (aus welchen Gründen auch immer), dann wäre kein Kontakt zu den Familien zustande gekommen. Ob und wenn ja, in welchem Umfang man sich bereits vor dem Kontakt mit der Forschung für familiäre Häufungen interessierte, selber Stammbäume erstellte oder die Familien/Angehörigen/Patientinnen intensiviert behandelte, müsste genauer erforscht werden. Fest steht: Es gab in der BRD kein geordnetes Verfahren, welches die Ärztinnen und Ärzte anwies, Informationen über Häufungen von Tumoren in Familien zu sammeln und/oder an eine Stelle weiterzugeben. Es gab noch kein Programm für Familiären Brust- und Eierstockkrebs, welches eine spezielle Behandlung von Personen vorsah, bei denen der Verdacht auf eine erbliche Komponente nahe lag. Familiärer Brustkrebs lag abseits von Standardisierungen und Institutionalisierungen innerhalb einer medizinischen Praxis. Da es also keine bereits markierten Handlungspfade gab, stellt sich die Frage, welche spezifischen Konstellationen vorhanden waren, dass die Kontaktaufnahmen möglich werden konnten. „Ich komme immer wieder darauf zurück. Die Ärzte mit denen wir zusammengearbeitet haben, das waren interessierte Leute. Das sollte man wirklich im Auge behalten. Und warum dann welche nicht interessiert waren, kann ich nicht beurteilen“ (Wender 2006: 33). Neben einem vorhandenen Interesse mussten sie nicht nur von der Forschung der Tumorgenetik wissen, sie mussten auch die Entscheidung treffen, den Kontakt zu der Arbeitsgruppe Tumorgenetik aufzunehmen. Aber vor allem mussten die gewünschten Informationen verfügbar sein. Dies wiederum setzte erstens voraus, dass Personen aus Familien mit einer Krebs-Häufung in Behandlung waren. Zweitens mussten die Patientinnen in der Lage gewesen sein, die gewünschten Informationen zu liefern. Sprich, es hätte wenig gebracht, wenn eine Patientin zwar einen entsprechenden familiären Hintergrund gehabt, diesen aber nicht gewusst hätte. Und drittens mussten die gefragten Personen mit der Kontaktaufnahme einverstanden gewesen sein. Sowohl die Bereitschaft der Ärztinnen und Ärzte als auch die der Personen war Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein Kontakt zustande kommen konnte.

Kontaktstörungen Und damit befand man sich auf einem Terrain, welches sich als unerwartet widerständig für die Forschenden erweisen sollte. Man sei zwar an die Ärztinnen und Ärzte herangetreten, aber es hätten sich nur wenige für die Belange der Tumorgenetik interessiert. In der Erzählung von Scherneck stellt es sich folgendermaßen dar: Sie „haben damals wie auch heute selten dazu was gefragt“ (Scherneck 2006: 40). Die Informationsweitergabe an die Arbeitsgruppe sei nicht bewusst unterlassen wor72

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den; vielmehr seien aus Nichtwissen nicht die richtigen Fragen an die Familien gestellt worden. Aufgrund dessen hätte man keinen familiären Hintergrund erfassen können und sei daraus folgend nicht in der Lage gewesen, die gewünschten Informationen zu liefern. Gleichwohl hätte es neben Ärztinnen und Ärzten, die es – laut Scherneck – überhaupt nicht interessierte, solche gegeben, die sehr interessiert und engagiert waren. Interessant ist die angeführte Begründung für das Verhalten und den missglückten Kontakt: „Es ist damals verständlich gewesen, weil man eben nicht genau Bescheid wusste“ (Scherneck 2006: 42). Ich fragte in einem Interview Wender nach dem von Scherneck geschilderten Problem und seine Erzählung liefert weitere Facetten. Manche Kliniken – so Wender – hätten sehr wohl den Eindruck vermittelt, kein Interesse an einer Kooperation gehabt zu haben. Allerdings führt er andere Gründe als Erklärung an. Im Zentrum steht für ihn das deutschdeutsche Wendeereignis. Kliniken und Praxen hätten andere Sorgen zu meistern gehabt. Vor allem für die Ärztinnen und Ärzte aus der ehemaligen DDR hätten Existenzsorgen im Vordergrund gestanden. Ein weiteres deutsch-deutsches Problem in der Ansprache von Ärztinnen und Ärzten aus Westdeutschland sei es gewesen, aus Berlin – aus Ostberlin – zu kommen: „Sprachen wir mit Ärzten aus der alten Bundesrepublik wurden wir gefragt: ‚Woher kommen Sie?‘ Antwortete man: ‚Aus Berlin.‘ dann war die zweite Frage: ‚Woher?‘ Ich muss das nun schon so sagen, das hat damals die Sache etwas schwieriger gemacht. Wir hatten wesentlich mehr Zuspruch aus der DDR. Da war erst einmal alles da. Meldepflicht und so weiter. Das ging sozusagen wie geschmiert. Außerdem waren unsere Leute trainiert. Wenn der Doktor angerufen hat, dann musste das gemacht werden. Wir waren sozusagen auf Staatsräson getrimmt. […] Aber ich muss jetzt sagen, wir waren in Kiel, wir waren in Oldenburg oder in München. Da waren Kliniken oder Ärzte, die begriffen haben, um was es geht. Und die dann genauso mitgemacht haben und für die es vielleicht sogar schwieriger war, weil sie mental anders ausgerichtet waren als wir, die das Motto ‚Befehl von oben – es wird gemacht‘ gut kannten“ (Wender 2006: 22).

Hier werden zum einen deutsch-deutsche Entwicklungen und zum anderen unterschiedliche Haltungen von westdeutschen und ostdeutschen Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten als zentrale Erklärungsmuster für Störungen herangezogen.

Störungen im Sinne der Forschrittslogik Im Gegensatz zu Wender sucht Scherneck eine Erklärung stärker jenseits der damaligen gesellschaftspolitischen Umbrüche und findet sie 73

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fortschrittslogisch-naturwissenschaftlich: Es habe ein Nichtwissen über Gene gegeben, da man in der Forschung noch nicht so weit gewesen sei, sprich, BRCA1 war noch nicht entdeckt. Gleichzeitig stellt er fest: „Ich meine, wenn einer aufgeweckt ist, hätte er aus dem Ganzen etwas erkennen können und sagen können: ‚Gut, Sie kommen nicht einmal im Jahr, Sie kommen jetzt alle zwei bis drei Monate‘“ (Scherneck 2006: 43). Diese beiden Äußerungen nebeneinander scheinen verwirrend. Die Ärztinnen und Ärzte hätten zur gleichen Zeit genug und zu wenig gewusst. Genug aufgrund einer möglichen Stammbaumanamnese, um die medizinische Praxis umzustellen und entsprechende Patientinnen anders zu behandeln und zu wenig, um die Tumorgenetik in ihrem Forschungsanliegen zu unterstützen. Wie ist dieses Nebeneinander zu verstehen? Zum einen legt Schernecks Sichtweise auf die ärztlichen Resistenzen den Verdacht nahe, dass der Familiäre Brustkrebs nicht „im Wahren“ (Foucault 2001a: 25) eines medizinischen Diskurses dieser Zeit war und mit dem aufkommenden Interesse der Forschung auch nicht gleich in diesen eintrat. Ich hoffe, mein differenzierendes Insistieren macht deutlich, dass ich den Einsatz von Ärztinnen und Ärzten, welche um die Bedeutung familiärer Häufungen wussten und eine intensivierte Früherkennung anboten, nicht ausblende. Jedoch gab keine entsprechenden institutionell verfassten medizinischen Programme, auch wenn, wie Scherneck einräumt, KEINE molekulargenetische Testung notwendig war, um ein erhöhtes Risiko aufgrund des familiären Stammbaumes festzustellen. Man befand sich vielleicht im „Raum eines wilden Außen“ (Foucault 2001a: 25). Dort war es zwar möglich, Wahres über die Relevanz von familiären Häufungen zu sprechen und individuell im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten danach zu handeln, aber man befand sich noch nicht im Wahren eines gen-medizinischen Diskurses inklusive seiner spezifischen institutionalisierten Verfasstheit. Dieser sollte sich erst im Verlauf der 1990er Jahre in Verbindung mit dem molekularen Begehren nach dem Brustkrebs-Gen neu formieren. Henry T. Lynch ist ein frühes und gutes Beispiel für die Mühen und das Scheitern genetisches Wissen in der medizinischen Praxis zu integrieren: „In the 1960s and 1970s, Lynch was simply unable to persuade most physicians and genetics that he had identified a significant hereditary component to human cancer, or that this might provide the basis of a new approach to cancer control“ (Cantor 2006: 301). Zum anderen – und das scheint mir entscheidend – wird ein Nichtwissen der Ärztinnen und Ärzte als Erklärung herangezogen. Dieses Nichtwissen wiederum bezog sich nicht auf Familiären Brustkrebs als Erkrankung im Besonderen, sondern auf die molekulare Ebene der Krankheit in Allgemeinen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der Fami74

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liäre Brustkrebs wurde relevant als Modell für die Forschung und die Ärztinnen und Ärzte waren in erster Linie die Lieferanten des benötigten Materials dafür. Auch wenn die Tumorgenetik mit ihrer Arbeit das Motiv des Helfens und möglichen Heilens verband; dieses war mehr als ein Versprechen auf eine mögliche Zukunft gerichtet. Die Gegenwart dagegen gehörte dem Familiären Brustkrebs in seiner Relevanz innerhalb einem Forschungszusammenhang als Modell und nicht als Erkrankung. Seinen Antrieb gewann er somit aus der tumorgenetischen Forschung und nicht aus der gynäkologischen Praxis! Das Familien-Wissen war ein Begehren des Labors, wobei kaum Interesse an den behandelnden Ärztinnen und Ärzten, an den betroffenen Menschen, ihren Erfahrungen und Umgangsweisen mit der Krankheit Brustkrebs (oder Ovarialkrebs) bestand. Mit dem Modell hatte man im medizinischen Alltag in der Regel keine Berührung. Und die Forschenden hatten wiederum mit der Behandlung der Krankheit durch die Ärztinnen und Ärzte wenig zu tun. Oder anders formuliert: Man war von Seiten der Tumorgenetik zunächst nicht an einem weiteren Kontakt mit der „Außenwelt“ interessiert. Man wollte etwas von den Ärztinnen und Ärzten, aber nicht mit ihnen. Sie waren die anfänglichen Bindeglieder zu den Familien und für die Erkrankungen (und nicht das Modell) zuständig. Der Familiäre Brustkrebs brachte die Akteure zwar zusammen, aber nur flüchtig und nicht im Sinne des Aufbaus gemeinsamer Strukturen oder des längerfristigen Austauschs. Es ergeben sich zwei parallel laufende Aussagen: Die Ärztinnen und Ärzte hätten erstens etwas tun können, aber sie haben in der Regel nichts getan und sie hätten zweitens nichts tun können, weil sie noch nichts wussten. Es wird deutlich, wie eine Fortschrittslogik installiert, ein Desinteresse interpretiert und durch ein molekulares Nichtwissen erklärt wird, welches wiederum an die noch nicht entdeckten Gene geknüpft wird.

Die Ursache scheint nicht die Ursache zu sein Jetzt wäre mit der dargestellten Fortschrittslogik anzunehmen, mit der Entdeckung von BRCA1 hätte sich das Verhalten der Ärztinnen und Ärzte ändern müssen. Genau an diesem Punkt tritt bei Scherneck ein Unverständnis ein, wenn er feststellt: „Aber wie auch immer, ob die Leute Desinteresse zeigen oder zeigten, das ist wirklich heute noch so, ich sagte es schon. Das ist erstaunlich. Aber heute ist es mir eben, ich wiederhole mich da, unverständlich, weil der Background des Studiums zeigt, dass es heute möglich ist, so was zu finden. Früher war es noch eine Annahme; es gibt eine familiäre Häufung, was immer die Ursachen 75

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dafür sind. Aber heute weiß man, dass man die Ursachen finden kann. Es gibt jetzt Möglichkeiten dazu. Und deswegen ist mir das heute etwas unverständlicher als es damals war“ (Scherneck 2006: 43).

War das Verhalten in der Vergangenheit zwar für die Forschung hinderlich, aber immerhin erklärbar, so ist es heute für Scherneck unverständlich. Das Unerwartete lässt uns aufhorchen und bietet eine analytische Chance. Warum änderte sich die Situation nicht, als man die Gene gefunden hatte? Nach wie vor scheinen die Ärztinnen und Ärzte resistent zu sein. Erklärte Scherneck sich diese Haltung vor der Entdeckung der Gene damit, dass man noch kein ausreichendes molekulares Wissen besaß, scheint man mit dem Vorhandensein dieses genetischen Wissens ratlos, ob der weiterhin bestehenden Haltung. Eine solche Darstellung der ärztlichen Haltung als Störfall ist im übrigen kein singuläres Ereignis: „Ich mache etwa auf fast jeder großen Veranstaltung, bei der das Thema Prävention und Familiärer Brustkrebs zur Sprache kommt, eine Umfrage. Und ich muss erschreckend feststellen, wenn ich 700 niedergelassene Ärzte im Raum frage: ‚Wer von euch erhebt einen Stammbaum?‘ Das muss ja jetzt nicht ein genetischer Stammbaum sein, aber zumindest eine Familienanamnese. Es heben von 700 Leuten vielleicht vier die Hand. Da ist noch eine riesige Entwicklungsarbeit zu bewerkstelligen. Das ist das Problem“ (Untch 2006: 2).

Diese Äußerung stammt nicht von einem Molekularbiologen, sondern von einem Mediziner, der sich allerdings auch forschend seit vielen Jahren mit Familiärem Brustkrebs beschäftigt. Insofern darf man die Trennungs- oder Irritationslinie nicht ausschließlich zwischen Medizinern und Forschern sehen. Eher scheint die Frage des Interesses etwas damit zu tun zu haben, ob der/die Betreffende im Arbeitsalltag einen Umgang mit Genen pflegt und sie in seiner Erfahrungswelt einen Platz besitzen. Weiterhin muss man sehen, wie es um die jeweilige institutionelle Verfasstheit des Interesses bestellt ist. Man muss also erstens institutionell zwischen niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, solchen in Kliniken ohne spezifische Zentren und solchen in Kliniken, in welchen sich Zentren im Rahmen des 1997 entstandenen Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ bilden sollten, unterscheiden. Und zweitens gilt es eine Unterscheidung bezüglich der Anteilnahme an molekularen Forschungen der Beteiligten zu treffen, die wiederum eng an die Frage des institutionellen Zuhauses gebunden ist. Ich denke, dass diese Äußerungen über das Verhalten von Ärztinnen und Ärzten recht erhellend in Bezug auf die Frage nach der Ordnung

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zwischen Forschung und Anwendung sind. Scherneck bewegt sich in seinen Äußerungen in erster Linie fortschrittslogisch. Mir scheint, dass darin ein Schlüssel liegt, um zu verstehen, dass es, in solch einer Logik gefangen, kaum möglich war und ist, eine Vorstellung davon zu entwickeln, warum Ärztinnen und Ärzte (selbstredend nicht alle!) nicht in der gewünschten und erwarteten Art und Weise agierten bzw. auch heute noch nicht agieren. So wird uns ein Scheitern der Ordnung zwischen wissenschaftlich-technischer Entwicklung und ihrer Überführung und Anwendung in der medizinischen Praxis aus der Perspektive der Forschung vorgeführt. Aber nicht nur das. Es wird gleichsam die Ordnung in der Erzählung hergestellt. Oder anders formuliert: Damit sie scheitern kann, muss sie als bereits Vorhandene angenommen werden. Für uns ist dieses Scheitern günstig, weil es uns etwas über die „spontane Geschichte des Wissenschaftlers“ lehrt, in der „das Neue nicht selten zu etwas [wird], das von Beginn an, wenn auch versteckt, als das Forschungsziel da war; es wird zum Fluchtpunkt, zum terminus ad quem“ (Rheinberger 2002: 202). In der Erzählung Schernecks wird der Grund für das ärztliche Verhalten retrospektiv hergestellt. Damit wird dieser Teil der Vergangenheit in die lineare Zeit einer Entdeckungsgeschichte von BRCA1 eingerichtet. Die Medizin konnte nicht wissend handeln, weil die Forschung noch nicht handelnd wusste. Damit ist eine spezifische Ordnung des Aussagens deutlich geworden, welche ich mit folgenden Annahmen konfrontieren möchte: Medizinische Praktiken sind nicht zwangsläufig an wissenschaftlichtechnische Entwicklungen gebunden, d.h. wissenschaftlich-technische Entwicklungen führen nicht automatisch zu ihrer medizinischen Anwendung. Allgemeiner ausgedrückt: Es gibt keinen Automatismus der Wissenswanderung von den Wissenschaften in andere gesellschaftliche Räume. Medizinische Praktiken sind nicht total von dem abhängig, was wissenschaftlich gewusst werden kann. Und man muss hinzufügen, dass es eine bedeutsame Frage ist, was von wem als wissenschaftlich bezeichnet wird, wer also die Macht hat, wahr zu sprechen und Gehör zu finden. Warum sollten erst die Brustkrebs-Gene (und zwar nach ihrer Sequenzierung) der geeignete Beweis sein, um darauf eine medizinische Praxis aufzubauen? Mit einer derartigen Perspektivierung auf mein Forschungsmaterial verfolge ich nicht die Frage, inwieweit bestimmte medizinische Praktiken wahr oder falsch, möglich oder unmöglich gewesen sein mögen, sondern die Frage, innerhalb welcher Ordnung es möglich wurde, Dinge als wahr oder als falsch zu betrachten und Entwicklungen mit einer spezifischen Logik zu versehen.

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Die spannende Frage lautet nun, was nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 passierte? Warum schienen sich die Widerstände nicht fortschrittsmanierlich aufzulösen?

Störungen im Abseits der Forschrittslogik? Glücklicherweise haben wir es mit einem misslungenen Resultat (trotz Sequenzierung trat keine grundlegende Veränderung des ärztlichen Verhaltens ein) zu tun, da ansonsten vielleicht gar nicht aufgefallen wäre, dass die fortschrittslogische Erzählung längst nicht als Erklärung für ärztliches Handeln ausreicht. In diesem Sinne ist es notwendig, ihr nicht weiter zu folgen, sondern neu zu fragen, welche anderen nicht so augenscheinlichen Gründe es für die Kontaktschwierigkeiten mit Ärztinnen und Ärzten gegeben haben mochte. Durch eine Veränderung des Blicks sollte es gelingen, dass eigene Denken zu verrücken und die Irritation Schernecks ob des ärztlichen Verhaltens produktiv zu wenden. Kontakt bedeutete nicht, dass man in einen längeren Dialog getreten wäre. Vielmehr wurden möglicherweise vorhandene medizinische Praktiken von einer sich entwickelnden molekular-wissenschaftlichen Ordnung überlagert und dabei sogar auf die unwissenschaftlichen Plätze verwiesen. Damit geschah, ohne dass es einen Ort des Disputes gegeben hätte, eine fachliche Disqualifikation im Stillen und durch die Praxis. Auch wenn man von Seiten der Arbeitsgruppe Tumorgenetik versuchte, das genetische Wissen an die Ärztinnen und Ärzte zu bringen und sie zu informieren; mir scheint, dass eine ernstzunehmende Hürde darin bestand, dass man sich in einer Ordnung zwischen Wissen und Nichtwissen bewegte, die ein Gefälle darstellte und einer Hierarchisierung von Wissensordnungen gleichkam. Man kann zur beschriebenen Fortschrittslogik in diesem Sinne ergänzend hinzufügen, dass sie ein exkluierendes und verletzendes Moment in sich trug. Das von Seiten der Tumorgenetik konstatierte Desinteresse auf Seiten Niedergelassenen muss demnach auch auf die Forschenden zurückgeworfen werden. Was man vor allem wollte, war ein auf das eigene Begehren zugeschnittenes Stammbaum-Wissen sowie die Gewinnung von Forschungsmaterial. Der Kontakt sah somit keine Reziprozität vor. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Störungen bis heute damit zusammenhängen, dass die Ärztinnen und Ärzte die Rolle der Lieferanten nicht verlassen konnten. Und zwar als Lieferanten, die für ihren Einsatz nichts bekommen sollten. In diesem Zusammenhang muss man die Frage nach der institutionellen Verfasstheit verfolgen. In den Anfängen wollte die Forschung keine Patientinnen, sondern spezifisches Material. Die Ärztinnen und Ärzte sollten zur Gewinnung beitragen und behielten ihre Patientinnen vorerst. Mit der Einführung der Gendiagnostik jedoch wollte das neu entstehende Früherkennungs78

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programm nun auch die Patientinnen (und die Forschung wollte nach wie vor das Material). Sahen die behandelnden Ärztinnen und Ärzte für sich keinen Mehrwert, wenn sie kooperierten oder später ihre Patientinnen an eines im Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ arbeitenden Brustzentrums überwiesen? Nun, zumindest konnten sie keinen unmittelbaren Gewinn aus der Kooperation für sich ziehen. Das Gen beziehungsweise die Bedeutung einer Häufung von Erkrankungen innerhalb einer Familie waren vielleicht bekannt und die Ärztinnen und Ärzte hielten möglicherweise sogar etwas von entsprechenden Forschungen oder Früherkennungsmaßnahmen innerhalb eines spezifischen Programms. Aber man könnte sagen, dass die Ärztinnen und Ärzte, welche sich außerhalb des entstehenden Verbundprojektes bewegten (und das waren und sind die meisten!), sich durch Kooperationswilligkeit ihres eigenen Tätigkeitsfeldes zumindest teilweise beraubt hätten. Man wird nachdenklich einwenden können, dass der Gewinn zuallererst schließlich im Wohle der Patientin zu suchen sei. Gleichzeitig und in Anbetracht der zunehmenden Ökonomisierungen des Gesundheitswesens jedoch neigt man zur Einforderung eines Warentauschs unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Der Gedanke des Tausches ist tief in unser Verständnis von Gesellschaft eingelassen und beschränkt sich bei weitem nicht auf wirtschaftliche Sphären. Deshalb rührt sich Unbehagen wenn der Tausch nicht stattfindet, die Ärztinnen und Ärzte aus dem Geschäft leer ausgehen und nichts für ihren Kooperationseinsatz erhalten. Dabei scheinen wir zu vergessen, dass auf dieser Welt endlos viele Beziehungen existieren, die den Strom nur in eine Richtung fließen lassen. Michel Serres hat dieses System als „kaskadenförmig parasitär“ definiert. „Wenn der Wirt Steuereinnehmer ist, so nenne ich ihn einen Parasiten im politischen Sinne, in dem Sinne, da die menschliche Gruppe sich nach Beziehungen ordnet, die einseitig sind, da der eine vom anderen lebt, ohne dass der etwas vom ersten erhielte. Der Austausch ist weder die Hauptsache noch ursprünglich noch fundamental, wie soll ich es ausdrücken?“ (Serres 1987: 14).

Tausch und Kaskade sollte man jedoch nicht gegeneinanderstellen, sondern im Konkreten studieren, um die Relationen entstehen oder möglich werden zu lassen. Die Kaskade ist auch nicht als der schlechte oder defizitäre Tausch zu begreifen. Von hier aus können wir sagen, dass sich die Relationen zwischen Ärztinnen, Ärzten und Forschenden am Anfang einer Kette oder Kaskade befanden. Diese sollte sich bis hin zur Etablierung einer medizinischen Praxis im Rahmen des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ fortsetzen, welche das anfängliche 79

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Verhältnis in sich einschließen würde: Die Ärztinnen und Ärzte (und ich spreche hier vor allem von den niedergelassenen Gynäkologinnen und Gynäkologen) waren als eine der ersten der Kette letztlich die aus dieser Kaskade Ausgeschlossenen. Wenn ich von meinen Feststellungen ausgehe, dass ein Hindernis der Vermittlung darin bestanden haben könnte, dass der Familiäre Brustkrebs erstens nicht dieselbe Bedeutung für die Ärztinnen und Ärzte hatte, die er für die Forschenden besaß und zweitens kein Tausch das Unternehmen auf Seiten der Niedergelassenen attraktiv werden ließ, dann ist im nächsten analytischen Schritt von Interesse, was über mögliche behindernde und erleichternde Faktoren einer erfolgreichen Kontaktaufnahme zwischen der Tumorgenetik und den Familien zu sagen ist.

3.1.2 Familien-Wissen Da der Wille zum genetischen Familien-Wissen beziehungsweise die Meldefreudigkeit aus den vorherig herausgearbeiteten Gründen aus der Sicht der Tumorgenetik nicht so ausgeprägt gewesen ist, dass der Materialhunger der Forschenden befriedigt werden konnte, gingen sie weitere Wege der Familienbeschaffung: „Wir haben uns um Veröffentlichungen in Zeitungen bemüht. Wir haben gefragt, ob in Familien eine familiäre Häufung auftritt. Da bekamen wir sehr viele Antworten“ (Scherneck 2006: 40). Es lässt sich nicht rekonstruieren, zu wie vielen Familien/Personen die Tumorgenetik über Niedergelassene oder Kliniken Verbindungen herstellte und in wie vielen Fällen die Personen sich aufgrund eines Zeitungsartikels oder Aufrufs direkt an die Tumorgenetik wandten. Zudem ist über die Motivationen damaliger Familien beziehungsweise einzelner Familienmitglieder wenig bekannt. Diese Lücke ist signifikant für eine Form von Geschichtsschreibung, die schlicht einer „Politik der Quellen“ (Rheinberger 2006b: 189) unterworfen ist, also davon abhängt, ob überhaupt solcherlei Quellen erzeugt wurden und zu welchen vergangenen Schrifterzeugnissen wir Zugang haben. Die Menschen traten schließlich erst dort in das Reich der Schriftproduktion ein, wo sie zu Subjekten/Objekten einer medizinischen Praxis oder eines Forschungsbegehrens geworden waren. Sie wurden nur unter spezifischen Bedingungen zu einem Teil von Geschichte und hinterließen ihre Spuren, wie es von Foucault in seiner kurzen Abhandlung „Das Leben der infamen Menschen“ eindringlich beschriebenen wird: „Damit etwas von ihnen bis zu uns herüberkomme, bedurfte es allerdings eines Lichtbündels, das sie – einen Augenblick zumindest – beleuchten kam. 80

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Licht, das von woanders kommt. Was sie der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht für immer bleiben sollen, das ist die Begegnung mit der Macht: Ohne diesen Zusammenstoß wäre gewiss kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Durchgang zu erinnern“ (Foucault 2001b: 16).

Trotz der signifikanten Lücke soll im Folgenden dennoch versucht werden, zumindest versatzstückartig einige Aspekte über die Bedingungen der Möglichkeit des Eintritts der Menschen in Medizin und Forschung einzufangen.

Aufrufung von Familien-Wissen über die Medien Die Möglichkeit der Kontaktherstellung über die Medien wurde von Wender nicht ins Gespräch gebracht. Scherneck dagegen stellte sie als besonders erfolgreich dar. „Das hatten wir ganz gut aufgemacht, gerade in populärwissenschaftlichen Zeitschriften. Wir haben unser Anliegen erklärt und gesagt, dass das einen Gewinn bringt, sowohl für die Wissenschaft als auch für die Betroffenen. Wir haben argumentiert, dass man, wenn was gefunden wird, dann reagieren kann. Und ich war damals selbst überrascht, wie viele Leute sich gemeldet haben. Wir kamen da gar nicht mehr nach“ (Scherneck 2006: 41f).

Eine an dieser Stelle zu nennende Voraussetzung war, dass das Anliegen der Tumorgenetik auf ein Interesse der Medien angewiesen war, über die Forschung zu berichten. Wenn man sich die Aufmachungen damaliger Veröffentlichungen anschaut, dann liegt der Verdacht nahe, dass sich das Thema Brustkrebs in Kombination mit der Hoffnung auf Heilung durch gentechnologische Entwicklungen gut eignete, um das eigene unternehmerischen Interesse der Medien – nämlich die Verkaufszahlen zu erhöhen – zu verfolgen. Mir scheint, dass ein Großteil der Veröffentlichungen Brustkrebs als „heimtückische“, „tödliche“, „zunehmende“ Krankheit oder „häufigste Todesursache von Frauen“ darstellten. Diese Art der Darstellung von Brustkrebs geschah im Übrigen auch recht häufig in Fachartikeln zum Thema. Dadurch wurde nicht nur eine diskursive Ordnung zwischen der Krankheit und der sich aus ihr ergebenen Relevanz der Krebs-Forschung hergestellt, sondern ebenso wurde die Krankheit selbst auf eine spezifische Art und Weise hergestellt. Brustkrebs ist nicht zu verharmlosen. Ich möchte nur an dieser Stelle anmerken, dass der Schrecken der Krankheit Brustkrebs auch ein strategisches Moment in sich trägt, welches an verschiedener Stelle zum Einsatz kommt und Effekte hervorbringt, wie eben die Legitimation von Forschungen. Bei der medialen Darstellung ist besonders auffällig, dass nicht selten die

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Artikel mit Fotografien versehen waren, die nackte Frauen zeigten – und im Mittelpunkt ihre Brüste. Der Blick auf die Brust verschiebt den Blick von der Krankheit auf einen Körperteil, welcher unbestritten „für viele Menschen dieser Gesellschaft als Symbol der Weiblichkeit schlechthin gilt“ (Kirsching 2001: 13). Eine geschichtliche Betrachtung dieses Körperteils zeigt uns, dass das Entblößen der Brust von Frauen nicht immer eine verobjektivierende Praxis des Umgangs mit dem weiblichen Körper war, sondern von Frauen selbst als Geste oder Machtmittel eingesetzt worden ist. Dieser machtvolle Gestus ist heute im Allgemeinen vergessen oder gänzlich durch den verwertenden heterosexuellen Blick auf die weibliche Brust verdrängt. Die mediale weibliche Brust: „Brüste spielten auch auf den Titelseiten und in Berichten der Illustrierten, die mein Vater kaufte – um im Nachtdienst etwas zu lesen zu haben – eine große Rolle. Egal, ob sie nun Stern, Quick oder Neue Revue hießen, oft war vorn eine Frau im knappen Bikini (oder auch mal oben ohne) und selbstverständlich hatte die Frau runde große Brüste, so dass sich das Schönheitsideal der Frauenbrust für mein schlichtes Prä-Teeniegemüt natürlich aus diesen Coverfotos ableiten ließ“ (Plesch 2004: 54).

In der Verschaltung von weiblicher Brust und Brustkrebs wird das Zeigen der weiblichen Brust zu einem Kreuzungspunkt, an welchem diskriminierende Körperkonstruktionen im Bilde der weiblichen Brust mit der Verschränkung von Krankheit und Geschlecht zusammenkommen. Die in der Fotografie gezeigte unversehrte nackte Brust wird mit dem „pathologisch Weiblichen“ imaginiert und der Körper als ein Objekt medizinischer Interventionen anvisiert. Jedoch nur von Objektivierung zu sprechen, birgt eine Problematik in sich, weil die Öffentlichmachung auch dazu beitrug, dass das – zwar in den letzten Jahren abnehmende, aber immer noch existierende – Tabu Brustkrebs anders sag- und sichtbar gemacht werden konnte. Es ist freilich die Frage, welche Position frau einnehmen konnte und kann, musste und muss, um „jemandes Subjekt“ (Foucault 1987a: 247) sein zu können. Hier schimmert zum einen die Bedeutung des lateinischen Wortes „subicere“ durch, welches unterwerfen heißt und zum anderen die Bedeutung des englischen Wortes „subjection“, welches ebenso Unterwerfung bedeutet, wobei das englische „subject“ Objekt/Thema und zugleich Subjekt im Sinne von Person sein kann. Wir sehen, wie schwierig es ist, Subjektivierung und Objektivierung ausschließlich als gegenübergestellte Prozesse zu verstehen. Charis Cussins hat in ihrer Analyse über Handlungsfähigkeit in Reproduktionskliniken zeigen können, wie vielgestaltig die Verbindungen und Prozesse sein können und sie formuliert die Annahme, „that the wo82

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men´s objectification involves her active participation, and is managed by herself as crucially as it is by the practitioners, procedures and instruments“ (Cussins 1996: 580). In diesem Zusammenhang kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass Frauen sich das Zeigen der Brust entgegen den mächtigen Verobjektivierungen des Frauenkörpers auch immer wieder in verschiedensten Kontexten aneigneten. Zum Beispiel indem sie ihre Körper nach Brustkrebsoperationen fotografierten oder fotografieren ließen (siehe Creutzfeldt-Glees 2004). Solche Körperbilder gelangten sehr wohl in Zeitschriften, durchkreuzten und perforierten die vermeidlich glatten Oberflächen des „Objektes Frauenkörper“, wie das Foto von JoAnne Motichka, einer Künstlerin und Fotografin, bekannt unter dem Namen Matuschka, die sich nach ihrer Brustkrebsoperation (einer Mastektomie) selbst fotografierte. Dieses Bild kam 1993 nicht nur auf die Titelseite der New York Times, sondern 1994 auch auf die Titelseite der deutschen Zeitschrift Wochenpost und zwar im Zusammenhang mit der Sequenzierung des Brustkrebs-Gens BRCA1. Ein Beispiel dafür, dass Fremd- und Selbstaneignungen des weiblichen Körpers zwischen verschiedenen medialen Präsentationen mäandern und je nach Zusammenhang unterschiedliche Aussagekraft entfalten können.

Biologisches Familie-Wissen Es erscheint zunächst einmal einsichtig, dass Familien/Familienmitglieder in der Lage gewesen sein müssen, entsprechende Aufrufe zu erhalten (Zugang zu Medien) und gelesen (Zugang zu Bildung) zu haben. Beides mag selbstverständlich klingen, ist es aber keineswegs. Neben diesen Zugangs-Selektionsmechanismen, die dazu führten, dass bestimmte Menschen nicht erreicht werden konnten, war ein anderer Faktor entscheidend: Besaßen die Familien, beziehungsweise einzelne Angehörige, die diesen Aufruf lasen, das Familien-Wissen, welches die Arbeitsgruppe Tumorgenetik sich wünschte? Es ist in diesem Zusammenhang keine Kleinigkeit darauf hinzuweisen, dass es mehr als eine Bedeutung von Familie gibt: „Indeed, many genetics (and others) speak as if shared DNA sequences were the definition of these family relationships – parent and child, grandparents and so on. However, in the lived-in social world, the definition is a social one that usually presumes a biological connection but is not determined by this“ (Richards 1996: 251).

Familien, in denen man die biologische Linie nicht hätte verfolgen können, wären unbrauchbar gewesen. Die geteilte DNA war und ist das aus83

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schlaggebende Kriterium für die Inklusion von Familien in die Forschung beziehungsweise in die medizinische Praxis. Ein informativer Stammbaum musste ein biologischer Stammbaum sein. Einer, der seine Zweige über alle möglichen sozialen Beziehungen (Dinge, Tiere, Freunde) ausbreitete oder Familie in erster Linie als einen sozialen und nicht als einen biologischen Zusammenhang verstand, wäre nutzlos gewesen. Das soll nicht bedeuten, dass Familie für die adressierten Menschen nur biologisch gelebt oder verstanden worden ist. Aber es war notwendig, dass ein Teil des Wissens innerhalb einer Familie oder einzelner Mitglieder mit dem biologischen Begehren der Forschenden eine Schnittmenge aufwies. Es war dafür nicht notwendig, dass es innerhalb der Familien ein genetisches Wissen über Vererbung gab. Es muss allerdings ein Wissen darüber geben haben, dass Brustkrebse (und auch andere Tumoren) gehäuft vorkamen. Entscheidend für das Zusammenkommen von Forschung und Familie war die Häufung von Krebs innerhalb der Familie. Eine bestimmte Anzahl von Erkrankungen war grundlegend, die das Erkennen einer Häufung ermöglichten. Hinzu kommt, dass Beziehungen innerhalb der Familie in irgendeiner Form existiert haben mussten, die es ermöglichten, das Auftreten von Karzinomen zu kommunizieren. Wo keine derartigen Beziehungen bestanden, konnten kaum Informationen über auftretende Erkrankungen weitergegeben worden sein. Ich stelle also fest: Damit eine Kontaktaufnahme glücken konnte, war es entscheidend, dass innerhalb der Familien Häufungen von Krebserkrankungen vorkamen, die als solche auch wahrnehmbar und kommunizierbar waren. Man könnte auch sagen, dass eine geteilte DNA noch lange keine Familie macht, wenn Familie nicht immer auch aktiv von Menschen hergestellt wird. Die Notwendigkeit der Herstellung von Familie oder auch Verwandtschaft wird dort noch einmal offensichtlicher, wo die Vorstellungen einer biologischen Kernfamilie durch neue Reproduktionstechnologien und sogenannte Patchworkfamilien durcheinandergebracht werden.

Familiärer Brustkrebs als Familien-Wissen Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie Familiärer Brustkrebs innerhalb der Familien existent war. Hatte das Wissen über Häufungen eine Verbindung zu einem Wissen über Familiären Brustkrebs als Krankheit? Oder anders formuliert: Gab es Familiären Brustkrebs als FamilienWissen? Und welche Art Wissen könnte dies gewesen sein? Martin Richards führt aus, dass die Annahme von Familienmitgliedern, ein Risiko dafür zu tragen, ebenfalls an Brust- und/oder Ovarialkrebs zu erkranken, nicht unbedingt aus einem direkten Kontakt mit Genetikern oder Ärzten 84

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hätte stammen müssen (Richards 1993: 573). Informationen könnten zum Beispiel aus den Medien aufgegriffen worden sein. Er beschreibt sogar den Fall, dass „some family members report that past members of their families had realised for themselves that there was an inherited risk but had failed to find any clinician who would take this idea for seriously“ (Richards 1996: 261). Eine Konstellation, in welcher es zwar ein dem Arzt gegenüber artikuliertes Bedürfnis gab, dieses jedoch kein Gehör fand. Cantor hat in seiner Studie über Henry T. Lynch festgehalten, dass offenbar viele der von Lynch und seinen Kolleginnen und Kollegen betreuten Familienmitglieder Informationen über Krebserkrankungen und deren Weitergabe in ihren Familien besaßen, sich als Teil einer Krebs-Familie betrachteten, ohne Einblicke in Genetik gehabt zu haben (Cantor 2006: 285). Mir ist bewusst, dass ich keineswegs die in einem anderen Untersuchungszusammenhang (sowohl was die Zeit als auch den Ort betrifft) erhobenen Beobachtungen ohne weiteres auf mein Forschungsfeld übertragen kann. Eine historische Spurensuche nach solchem FamilienWissen kann ich im Rahmen dieser Studie nicht leisten. Interessante Fragen wären, inwieweit die deutsche Vergangenheit von Rassenhygiene und Erbforschung im Nationalsozialismus das Familien-Wissen um Brustkrebs durchzog und welche spezifischen Effekte damit verbunden waren. Ob die Familien, die sich auf die Aufrufe meldeten, ein spezifisches genetisches Wissen hatten oder welcher Art ihr Wissen war, entzieht sich meiner Kenntnis und müsste historisch aufgearbeitet werden. Es bleibt zumindest festzuhalten, dass es ein Familien-Wissen über ein gehäuftes Auftreten der Krankheit gegeben haben muss, wobei gehäuft eine vage Bestimmung ist. Wenn Häufung das entscheidende Merkmal war, dann kann allerdings einschränkend gesagt werden, dass das Familien-Wissen aus einem Wissen um eine weibliche Krankheit und nicht um eine geschlechterindifferente Form der Vererbung bestand, da sich Häufung auf die Erkrankungen und nicht auf den Genotyp bezog, der weder sichtbar noch feststellbar war.

Geschlechtliches Familien-Wissen Der Begriff der Familie ist zu konkretisieren. Es waren und sind Frauen und nicht Männer, die von der Brustkrebs-Genforschung adressiert wurden und nach wie vor in der medizinischen Praxis bezüglich des Familiären Brust- und Eierstockkrebs’ adressiert werden. Man mag zu Recht einwenden, dass dies nicht weiter verwunderlich ist, da Brustkrebs nun einmal in erster Linie und Eierstockkrebs ausschließlich Frauen trifft. Der Blick darauf sollte jedoch etwas verschoben werden. Es ist meiner Meinung nach nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass sowohl Frauen 85

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als auch Männer Mutationsträgerinnen und Träger sein können. Beide Geschlechter können eine Mutation sowohl an männliche als auch an weibliche Nachkommen vererben. Männer könnten also ohne weiteres eine Mutation an einen Sohn vererben. Beide hätten im Vergleich zu einer Frau ein geringes Risiko an Brustkrebs zu erkranken. So würde die erbliche Komponente unerkannt bleiben: „Männer können Träger eines defekten Gens sein, entwickeln aber in der Regel kein Mammakarzinom. Das heißt, wenn über zwei Generationen männlich sind und die entwickeln keinen Tumor und dann erkrankt eine Frau an Brustkrebs, dann kann das familiär sein, aber man kann es nicht mehr definieren“ (Heinz 2006: 10).

Nach wie vor muss man zu dem Schluss kommen, dass es jenseits eines disziplinären Wissens über Genetik kaum ein breites gesellschaftliches Wissen um die geschlechtsneutrale Vererbung und damit um Männer als potentielle Träger von BRCA-Mutationen zu geben scheint. Und zwar nicht nur für den beschriebenen Fall, dass aufgrund fehlender Erkrankungen (aufgrund fehlender weiblicher Nachkommen) die Frage nach Vererbung nicht gestellt wird oder werden kann, weil auftretende Krebse eher als sporadisch denn als erblich begriffen werden, sondern auch für den Fall des gehäuften Auftretens von Erkrankungen in einer Familie. Könnte das Nichtwissen über den männlichen Beitrag zur Vererbung damit zusammenhängen, dass Vererbung im Falle der Verbindung mit Krankheiten negativ konnotiert ist, also kein rühmliches Erbe darstellt? In diesem Kontext macht Martin Richards eine treffliche Bemerkung: „It is widely assumed that it is men rather than women who have the greatest concern about a genetic link with their children. However, the little evidence we have about this issue suggests that this may not always be true“ (Richards 1996: 261). Man könnte auch fragen: Wer will schon etwas Krankmachendes an seine Nachkommen weitergeben? Dass Brustkrebs gemeinhin als eine weibliche Krankheit gesehen wird, weil sie nun einmal mehrheitlich bei Frauen und nicht bei Männern auftritt, unterstützt die Verdrängung des möglichen männlichen Beitrags zu dieser Erkrankung. Wenn auch der Vererbungsmodus nicht geschlechtsspezifisch verstanden wird, so wird durch Kopplung an die weibliche Krankheit Brustkrebs das Geschlecht in die „neutrale“ Vererbung geholt. Zur Erhellung dieses Gedanken ist es hilfreich, folgende zwei Darstellungen von Vererbungsgängen zu betrachten.

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Abbildung 2: Weiblicher Stammbaum

Quelle: The Lancet 17.06.1967: 1332

Abbildung 3: Vererbung der BRCA1/2-Mutation

Quelle: Gerhardus et al. 2004: 39 Die erste Darstellung aus den 1960er Jahren verzichtet von vornherein auf die Darstellung der männlichen Familienmitglieder. Die zweite Darstellung zeigt einen autosomal-dominanten Erbgang. Man beachte die Erläuterung der Abbildung. Hier wird selbstverständlich die Frau als Mutationsträgerin definiert und es findet keine Erwähnung, dass der Erbgang geschlechtsneutral erfolgt.

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Ich meine, dass das Pathologische in die Vererbung wanderte und somit die Vererbung – wenn auch wissenschaftlich geschlechtslos – als Teil eines vergeschlechtlichten Wissensbestandes existieren konnte und kann. Eine Verkettung von Brustkrebs, weiblicher Krankheit, Weitergabe von Krankheit über die weibliche Linie, kranken Genen und erkrankten Frauen. In der Summe verdichtete sich dabei ein Brustkrebs-Wissen darüber, dass pathogene Vererbung weiblich ist. Hier hat man es mit einem interessanten Paradox zu tun. Vererbung ist im Falle von Familiärem Brustkrebs genetisch betrachtet geschlechtsneutral: „Die Vererbung folgt dem autosomal-dominanten Erbgang. Das bedeutet, dass sowohl Männer als auch Frauen eine Mutation tragen können und dass jeder Träger einer Mutation ein erhöhtes Risiko für eine Krebserkrankung hat.“ (Deutsche Krebshilfe 2001: 8) Von fachlicher, genetisch-medizinischer Seite und in Aufklärungsbroschüren wird sehr wohl auf den geschlechtsneutralen Vererbungsgang und damit auf Männer als potentielle Mutationsträger hingewiesen. Wie im obigen Zitat geschieht allerdings Erstaunliches: Auch die Krankheit scheint auf einmal geschlechtsneutral zu werden. Jeder Träger habe ein erhöhtes Risiko für eine Krebserkrankung. Nun ist es bekannt, dass in westlichen Ländern sehr viel weniger Männer als Frauen – in einem Verhältnis von ca. 1:100 – an Brustkrebs erkranken (Backe 2002). In Zahlen gefasst: In der BRD erkranken jährlich ungefähr 43.000 Frauen und etwa 400 Männer an Brustkrebs (Backe 2002). Könnte es sein, dass man dort, wo von einem neutralen genetischen Vererbungswissen ausgegangen wird, auch die Krankheit geschlechtlich neutralisiert wird? Und andersherum dort, wo von der weiblichen Krankheit ausgegangen wird, die Vererbung vergeschlechtlicht wird? Bestehen eine geschlechtsneutrale und eine vergeschlechtlichte Vererbung somit parallel? Der Beitrag eines Geschlechter-Wissens für die Kontaktaufnahme mit der Forschung sollte meines Erachtens nicht unterschätzt werden. Die Bedeutung von Geschlecht wird auch an anderer Stelle betont. Martin Richards spricht beispielsweise davon, dass Frauen als „genetic housekeepers for the kinship“ handeln, wenn es um genetische Belange innerhalb der Familie ginge (Richards 1996: 260f.). Zu einer ähnlichen Beobachtung kommt Rayna Rapp über Familien, in denen Angehörige von genetischen Krankheiten betroffen seien. Gerade in Bezug auf Kinder sei es oftmals ein „highly familial, often gendered working knowledge“ (Rapp 2003: 135).

Vom inneren Ausschluss Disziplinäres Vererbungswissen über den geschlechtsindifferenten Vererbungsmodus bei BRCA1 und BRCA2 gewann keineswegs zwangsläu88

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fig aufgrund von Forschungskonjunkturen als allgemeines Wissen an Boden. Die enge Verbindung von Krankheit und Gen im BrustkrebsGen, von weiblichem Körper und Brustkrebs, von Brustkrebs als Frauenkrankheit, lagerte gleichsam von Anbeginn an in der Forschung. Insofern ist der Name Brustkrebs-Gen „Pro-Gramm“ (Rheinberger 1999: 266). Er verweist nicht nur auf ein am weiblichen Körper durchzuführendes Programm der medizinischen Interventionen (vorgesehener Ablauf), sondern auch auf das im Begriff des Programms liegende „grammá“ (im Griechischen Geschriebenes, Buchstabe, Schrift); die Wirkungsmacht der Schrift in der Biologie, die Schreibmaschinen der Wirklichkeit: „Rechner die Forschungslabore vernetzen, Großprojekte koordinieren, wissenschaftliche und administrative Daten verwalten und den Fluss der Produktion, der Waren und des Geldes steuern“ (Rheinberger 1999: 267). Ich stelle mir das Verhältnis zwischen disziplinärem Vererbungswissen und dem dargestellten Wissen über Krankheit und Geschlecht im Bild eines inneren Ausschlusses vor. Krankheit und Geschlecht wurden in die molekulare Forschung eingeschlossen, gerade weil man den Forschungsgegenstand nur über das Material (Stammbäume und Blutproben), also über die Menschen, also über die Frauen, erreichen konnte. Gleichzeitig wurde der Vererbungsmodus nicht spezifisch geschlechtlich definiert und insofern konnte Geschlecht aus dem Vererbungsmodus ausgeschlossen werden. Das Brustkrens-Gen wurde von Anbeginn an als ein Universales gefasst, weil es alle Menschen zu ihrer genetischen Ausstattung zu zählen hätten. Universal und neutral! Martina Schlünder hat mit Rückgriff auf Giorgio Agamben den Begriff des inneren Ausschlusses benutzt, um die Frage nach der Position von Frauen in akademischen Reproduktionsmechanismen zu beschreiben und die Geschlechterarbeit der Gynäkologie zu erfassen (Schlünder 2007: 66f; 163ff.). Auf ein politisches System bezogen sieht Agamben (2002) in der Ausnahme/im Ausnahmezustand eine Ausschließung aus der generell herrschenden Norm. Jedoch bleibe das Ausgeschlossene immer mit der Norm verbunden. Genau diese Beziehung ist es, die Agamben interessiert. Die Regel des Innen setze sich nämlich genau dadurch, dass sie in Beziehung mit dem Außen bleibe, erst zur Regel. Insofern sei das Außen nicht nur ein Teil des Innen, sondern maßgeblich an seiner Existenz und Erhaltung beteiligt. So erscheine die Ausnahme im Inneren wieder, „wie bei einem Möbius-Band oder einer Leidener Flasche; und die souveräne Macht ist genau diese Unmöglichkeit, Außen und Innen, Natur und Ausnahme, phýsis und nómos auseinanderzuhalten“ (Agamben 2002: 48).

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Schlünder fasst den inneren Ausschluss als eine „Beziehungsfigur“ und stellt daher fest, dass es wichtig wäre, diese Beziehungsformen innerhalb spezifischer Machtgefüge zu konkretisieren (Schlünder 2007: 178f.). Das Außen, in unserem Fall Krankheit in ihrer Verbindung zum weiblichen Geschlecht, würde in diesem Bild im Innen, also im Gen liegen und wäre Teil von ihm und in einer Art innerem Ausschluss an der Existenz des Gens maßgeblich beteiligt. Diese spezifische Beziehungsform ermöglicht es, das biologische Wissen geschlechtsneutral und objektiv entstehen zu lassen. Während also auf der einen Seite eine Trennungsarbeit vonstatten geht und zwischen Gen, Geschlecht und Krankheit unterschieden wird, wird diese Ordnung gleichzeitig von der Struktur des inneren Ausschlusses regelrecht gestört. Die unmögliche Aufgabe: eine Trennung vorzunehmen, das Gen vom Brustkrebs zu reinigen – unmöglich aufgrund der besagten möbius-bandartigen Verbindung. Möglicherweise gibt es verschiedenste Gründe, warum der Aspekt des männlichen Beitrags als potentielle Mutationsträger von forschenden und medizinischen Akteuren immer wieder vernachlässigt wurde und wird. Aber ich meine, dass man das vorhandene Verhältnis zwischen Wissen und Nichtwissen nicht auf ein Informationsdefizit reduzieren sollte. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass es sinnvoll ist darüber nachzudenken, inwieweit wir hier mit Praktiken konfrontiert sind, welche die „kulturellen Bedeutungsdimensionen der Geneaologie“ (Weigel 2002: 74) zum Vorschein bringen, die im „Diskurs der Vererbung“ zu verschwinden scheinen, wie Sigrid Weigel formuliert. Wenn davon auszugehen ist, dass „die Geneaologie immer schon ein Feld [bezeichnet], in dem die Verhandlungen zwischen Naturgesetz und Kulturform ausgetragen werden“ (Weigel 2002: 74), dann liegt es nahe, die dargelegten Wissensbestände über Vererbung und Brustkrebs vor der Folie einer Geschlechterordnung zu lesen, in welcher mögliche Aspekte der Kulturformen des Vererbens durch ein verdrehtes Naturgesetz blind gemacht werden.

Vom Versprechen Verschiedenste Bedingungen der Möglichkeit für die Kontaktaufnahme wurden bislang dargestellt. Diese verraten jedoch noch lange nicht, was die einzelnen Familienmitglieder dazu veranlasst haben mochte, in Kontakt mit den Forschern getreten zu sein. Dass der Kontakt glücken konnte, lag zum einen daran, dass das Familien-Wissen um die Krankheit Brustkrebs mit dem Interesse der Forschung am Familiären Brustkrebs zusammentraf. Aber es war wohl besonders das Zusammentreffen des Erfahrens der Erkrankung Brustkrebs mit dem durch die Forschung in Aussicht gestellten spezifischen Mehrwert Leben: Wenn ein Gen gefun90

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den werden sollte, dann würde dies einen Gewinn für die Forschung, aber auch für die Betroffenen darstellen. Rheinberger sieht eines der Missverständnisse der Molekularen Medizin auf die Formel gebracht: „intakte Gene, nicht bloß Heilung, für das ganze Volk“ (Rheinberger 1996: 288) und führt aus: „Solche Missverständnisse pflegen die Vehikel historisch erfolgreicher kultureller Bewegungen zu sein. In der Regel kleiden sie sich in den Mantel des Fortschritts und werden im Namen transzendentaler Prinzipien verkündet, die man nicht länger in Frage stellen kann“ (Rheinberger 1996: 288). Vielleicht ist der Begriff des Missverständnisses nicht ganz glücklich, da er die Frage provoziert, wer missverstanden haben soll. Zudem suggeriert er, dass es hinter dem Missverständnis ein richtiges Verständnis gegeben habe. Mir scheint, dass es mit dem Begriff des Versprechens besser gelingt, zu verstehen, warum Familien/Angehörige den Kontakt mit der Forschung aufnahmen. Das Versprechen musste an eine „Batterie von bioethischen Objekten“ gekoppelt werden: „die ‚legitimen Wünsche‘ und die ‚legitimen oder unnötigen Ängste‘ nämlich, mit denen nachfragbare Biotechniken stets korrespondieren“ (Gehring 2006: 133). Ein Verhältnis von Angebot und Nachfrage; nur dass das Angebot als ein zukünftiges in Aussicht gestellt wurde. Familiäres Begehren traf auf ein Angebot, welches als Versprechen „unsicher im Raum zwischen Gegenwart und Zukunft“ (Fortun 2000: 115) weilte. Man könnte jetzt kritisch anmerken, dass das Versprechen von Seiten der Forschung lediglich ein Instrument gewesen ist, um an das gewünschte Material zu gelangen. Mein Einwand hierzu lautet, dass man damit aus der heutigen Perspektive einer Lesart des Vergangenen aufsitzt, ohne die „Historizität der Wissenschaften“ (Rheinberger 2006a: 43) anzuerkennen. Damit ist gemeint, dass wissenschaftliche Wahrheiten immer in einem Berichtigungs- und Reorientierungsprozess stattfinden und dementsprechend gilt, „dass die wissenschaftliche Wahrheit von heute selbst als Irrtum der Vergangenheit enden kann“ (Rheinberger 2006a: 43). So gesehen ist es nur logisch, dass man heute – viele Jahre nach der „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) von BRCA1 und BRCA2 – Folgendes in einem Interview des Magazins DER SPIEGEL mit der Leiterin der Uni-Frauenklinik der TU München lesen kann: „SPIEGEL: Ist es übertrieben, die Entdeckung einzelner Brustkrebs-Gene als ‚Durchbruch‘ gegen die Krankheit zu feiern? Kiechle-Bahat: Das ist in der Tat eine sehr naive Hoffnung. […] Aber wenn Wissenschaftler nicht euphorisch wären, würden sie auch nicht weiterforschen“ (DER SPIEGEL 2007: 170). In dieser Äußerung stecken beide Momente von Historizität: Das Urteil über Vergangenes und 91

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die Fortschrittserzählung von Wissenschaft, in welcher dieselbe immer Gefahr läuft, überholt zu werden. Ich meine, dass diese Perspektive nahe legt, damalige Äußerungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler facettenreich ernst zu nehmen; sowohl als wirkliche Hoffnung als auch als strategische Praxis, um an das begehrte Material zu gelangen. Die Hoffnungen auf zukünftige therapeutische Möglichkeiten waren ohne Zweifel da. Ich möchte dazu aus zwei Zeitungsartikeln zitieren. Der erste Artikel ist aus dem Jahr 1992: „‚Bei Frauen mit Brustkrebs fragen wir gezielt, ob weitere Familienmitglieder daran erkrankten‘ berichtet Scherneck. Wenn es gelingt die in der Familie identischen ‚Übeltäter‘-Gene zu finden, wäre schon der halbe Weg zur Therapie geschafft“ (Winkler/Wegner 1992). Der zweite Artikel ist aus dem Jahr 1994: „Künftig soll die Arbeit der Genforscher ermöglichen, schon im Kindesalter die krebserregenden Gene zu finden. Als nächsten Schritt müsse es gelingen, die Gene zu verändern oder sie herauszufiltern, damit die Krankheit später nicht ausbrechen kann und die Veranlagung dazu nicht weiter vererbt wird“ (Ulrich 1994:31). Ich will diese Vorstellungen nicht lächerlich machen. Es wäre vermessen mit einem Gestus des Besserwissenden auf die Vergangenheit zu blicken oder selbstgefällig zu konstatieren, dass diese Visionen bis heute nicht in Erfüllung gegangen sind. Sie standen zudem neben Äußerungen, welche zur Vorsicht in Bezug auf vorschnelle Erfolgsmeldungen mahnten (siehe Chan-Claude/ Scherneck 1995). Wünsche, Ängste und Hoffnungen verbanden sich, die es lohnenswert machten, den Kontakt aufzunehmen. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die Schwierigkeiten mit den Ärztinnen und Ärzten auch daran gelegen haben könnten, dass für diese kein Mehrwert in Aussicht gestellt wurde, dann lässt sich der geglückte Kontakt über die Medien damit erklären, dass hier ein besonderer Mehrwert, nämlich Leben, ins Spiel gebracht wurde. Im Folgenden wird die Darstellung um eine weitere Facette ergänzt.

3.1.3 Science in Action – Ein Road Movie durch Deutschland Es war die Aufgabe von Wender, die Material-Sammlungen vorzunehmen. Seine Reisen gingen kreuz und quer durch das gerade wieder zusammenkommende Deutschland. „Sie müssen sich vorstellen, wir hatten ein Auto. Und der Fuhrpark in der Deutschen Demokratischen Republik war ja mehr kaputt als ganz. […] Wir sind morgens früh los gefahren, manchmal 900 Kilometer am Tag. […] Wir 92

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mussten ja termingerecht ankommen, denn es war die ganze Familie einbestellt. Dann wurde das Blut abgenommen, es wurde eingefüllt, dann mussten wir die Familie noch befragen und dann gab es sowieso immer noch Komplikationen. Bis wir alles zusammen hatten, war das immer ein riesiger Aufstand und alle waren glücklich, wenn wir hier wieder heil angekommen sind“ (Wender 2006: 3ff.).

Es sind diese ganz praktischen Probleme, deren Schilderung es ermöglicht, ein etwas anderes Licht auf Science, nämlich in Action, zu werfen und somit die allzu häufig anzutreffende Vorstellung von Forschung als gradlinigen Prozess, der sich nur in den Wänden eines Labors abspielt, zu kontaminieren. Es sind diese Kleinigkeiten, die daran erinnern lassen, dass Routine erst geschaffen werden musste. Oder anders formuliert: Das Experimentalsystem machte nicht an den Türen des Labors halt. Autopannen und schlechte Straßenverhältnisse, kartographische Leistungen, Telefonate und Terminplanungen, eine ganze Menge von Zufällen, ja sogar deutsch-deutsche Geschichte(n) waren Teil jenes Gefüges, welches sich Anfang der 1990er Jahre ausgehend von der Tumorgenetik in Berlin-Buch auszubreiten begann. Es waren die Kleinigkeiten, die gewichtig wurden und Anstrengungen erforderten. Das Neue entstand nicht aus dem Nichts. Von dieser Lebendigkeit zeugt folgende kleine Begebenheit, die mir Wender im Interview erzählte: „Wir hatten eine Familie in X. Natürlich hatten wir erst einmal eine Panne und kamen zwei Stunden zu spät. Es war auch noch Wochenende und es war ein Privatarzt. Der war stocksauer als wir ankamen. Er hatte zwei Stunden auf uns gewartet. Die ganze Familie war bestellt, alles war organisiert. Als wir endlich ankamen, haben wir ihn nicht mehr angetroffen und sind dort rumgekurvt. Dann haben wir ihn noch in seiner Privatwohnung erwischt. Er wollte uns gar nicht reinlassen. Ja, er war wütend. Jedenfalls haben wir ihm dann von der Panne auf der Autobahn erzählt und er hatte Einsicht. Also das ganze Theater noch mal von vorne. Wir hatten die Familie dann dort und fragten: ‚Wo ist nun die Hauptpatientin, also die Dame, die den akuten Krebs hat?‘ Da sagt der Arzt: ‚Die ist in Berlin! In der Robert-Rössle Klinik.‘ Mein Kollege und ich haben uns nur angeguckt, wir haben geschluckt und nichts mehr gesagt. Wir haben ihm nicht auf die Nase gebunden, dass wir von dort sind. Wie das passieren konnte habe ich bis heute nicht rausbekommen. Wir hätten uns das ganze Theater sparen können. Die Familie wäre drei Tage später in die RobertRössle Klinik zu Besuch gekommen. So etwas passiert. Na ja, jedenfalls haben wir dann alles bekommen“ (Wender 2006: 5f.).

Ich will die Aufmerksamkeit an dieser Stelle auf die Beziehungen lenken, die sich ergaben. Die Versammlungen von Menschen und Dingen, 93

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an bestimmten Orten und zu abgestimmten Uhr-Zeiten, gab es zuvor, also in den 1980er Jahren, und in diesen spezifischen Konstellationen nicht. Erst die Gene mobilisierten zu diesen Begegnungen. Die Spuren der Forschung führten an Orte, die für die Forschung selbst unbedeutend waren. Zurück blieb ein Fahrtenbuch, in welchem die Kilometer, Namen, Adressen und Wegbeschreibungen den kurzen Moment des Zusammentreffens überdauerten. Die menschlichen und nicht-menschlichen Akteure/Aktanten waren bereits vorhanden. Aber Ärztinnen und Ärzte, Spritzen, Labore, diskursive und nicht-diskursive Praktiken, Familien, Forscherinnen, Forscher, Blutproben und weiteres versammelten sich neu. Es sind solche Begebenheiten, die daran erinnern, was alles in vermeintlich selbstverständliche Infrastrukturen fließen muss, damit diese wie von selbst funktionieren. Sie machen das Unsichtbare an notwendiger Arbeit von Standardisierungen und Institutionalisierungen in der Bewegung sichtbar.

3.2 Kontaminationen – Von den Mühen einer (un-)möglichen Trennung Wender traf auf seinen Reisen Menschen, ohne die es kein Forschungsmaterial hätte geben können. Der Kontakt ließ nicht nur Stammbäume und Blutproben entstehen. Die Begegnungen waren an ein Versprechen gebunden: Die Forschung sollte den betroffenen Menschen zukünftig nützen. Nun lag dieses Versprechen in der Luft und schaffte eine Beziehung zwischen Forschungsmaterial Gebenden und Forschungsmaterial Nehmenden. Der Wunsch nach Heilung und Hilfe von Seiten der Betroffenen war mit Sicherheit ihre treibende Kraft in der Kontaktaufnahme. Und es ist anzunehmen, dass dieser Wunsch neben dem Willen zum Wissen auch von Seiten der Forschenden bestand. Die Hoffnung war, dass man mit fortschreitendem Wissen Möglichkeiten erhalten würde, Krebserkrankungen nicht nur zu bekämpfen, sondern auch zu verhindern. Ein Leben frei von Krankheit, dieses Begehren zirkulierte zwischen den Forschenden und ihren Familien. Dieses Leben lag als Versprechen im Brustkrebs-Gen. „Also ich bin mir manchmal vorgekommen wie ein Pastor, ein anderes Mal wie ein Vollidiot, weil ich manchmal gar nicht mehr gewusst habe, wie sag ich’s meinem Kinde? Dass ich nicht Hoffnungen wecke, die ich nicht wecken kann. Dass ich bei einem positiven Ergebnis, also dass der Gendefekt von der Elterngeneration auf die Kinder übergegangen ist, nicht negative Vorstellun94

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gen nähre, sodass dann auf einmal alle Welt zusammenbricht. Ich wurde immer gefragt: ‚Was sollen wir denn nun machen? Wie sieht es denn aus? Habe ich nun noch Zeit oder bin ich schon derjenige, der bloß noch warten muss, Krebs zu bekommen? Wie ist es mit meiner Tochter? Wie ist es mit meiner Schwester? Nun sagen Sie doch mal.‘ Und ich hätte sagen können: ‚Nehmen Sie es hin, wie es ist. Ich weiß es nicht. Wir stehen völlig am Anfang.‘ Ich wäre so, etwas flapsig gesagt, meine sämtlichen Kunden los geworden. Außerdem hätten sie die Wissenschaft verflucht und wären zum Teil in ein tiefes Loch gefallen. Es wäre nicht unser Stil gewesen. Also hat man versucht, denen klar zu machen, warum wir es machen und was wir überhaupt daraus ersehen können. Und das war nicht viel“ (Wender 2006: 8).

Ein Reisender im Zwischen-Raum Eine schwierige Lage stellt sich dar, die es nun genauer zu betrachtet gilt. In Wenders Erzählungen spiegeln sich die Störungen und Ambivalenzen einer Trennung zwischen Forschung und Medizin, die offensichtlich (noch) nicht funktionieren wollte. Man wollte keine Hoffnungen wecken; vielmehr sollte vermittelt werden, dass man von Seiten der Forschung (noch) nicht in der Lage war zu helfen. Es scheint, als hätte man verhindern wollen, dass die Welt für die Betroffenen zusammenbrach, eben weil man noch nichts über die Aussagekraft der bis dahin erzielten Forschungs-Ergebnisse wusste, die in diesem Sinne noch keine Ergebnisse waren. Ein Dilemma? Ein Dilemma! Die Tumorgenetik war auf die Familien angewiesen, aber was brauchten die Familien von der Forschung? Man hätte seine Kundschaft verloren, der man kaum mehr geben konnte, als ein Versprechen im Zwischenraum von Gegenwart und Zukunft. Während man selber als Gewinn das Forschungsmaterial davontragen konnte, stellte sich unweigerlich die Frage, was Hilfe in dieser Situation hätte bedeuten sollen oder was der Gewinn auf der Seite der Nachfrage hätte sein können. Es existierte in den Anfängen der BRCAForschung kein spezielles Früherkennungsprogramm für Familiären Brust- und Eierstockkrebs in der BRD. Entsprechend gab es keine spezielle übergreifend geregelte humangenetische Sprechstunde oder gynäkologische Betreuung für den eng gefassten Personenkreis (potentielle Mutationsträgerinnen) jenseits von Aktivitäten in Bezug auf sporadischen Krebs. Die medizinische Struktur war noch nicht vorhanden. Ich meine damit nicht, dass es nicht vereinzelt ein Bewusstsein darüber gab, dass es sich in manchen Familien mit gehäuften Vorkommen von Brustkrebs um eine erbliche Angelegenheit handeln musste. Auch medizinische Praktiken mögen sicherlich stattgefunden haben; vielleicht muss man insofern einschränkend davon sprechen, dass der Familiäre Brustkrebs noch keine institutionalisierte Krankheit war.

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Es war aus der Perspektive der Arbeitsgruppe nicht vorgesehen gewesen, medizinische Ratschläge zu erteilen. Man wollte schließlich forschen um dann, auf der Grundlage „gesicherter“ Ergebnisse, anderen zu ermöglichen, medizinische Konsequenzen zu ergreifen. Erst die Forschung und dann die Anwendung; eine typische Vorstellung der Beziehungen zwischen wissenschaftlich-technischem und medizinischem Fortschritt, die doch so einfach nicht ist. Von Anfang an schien die wissenschaftliche Arbeit mit menschlichen Bedürfnissen kontaminiert oder durchkreuzt zu werden. Plötzlich war man damit konfrontiert, dass die begehrten Dinge, wie Blutproben, auch noch auf ganz andere Weise existierten. Sie hafteten am Menschen und schienen unweigerlich mit der Erkrankung Brustkrebs verbunden zu sein. Und zwar nicht nur in dem als inneren Ausschluss dargelegten Verhältnis. Ich denke, die Geschichte der unwandelbaren Mobile muss um eine Facette bereichert werden: Es ging zwar an erster Stelle darum, herumzureisen, die Dinge zu sammeln und in das Labor zu bringen, aber indem man nur das Verhältnis zwischen den Dingen und ihren Beschaffern fokussiert, gerät aus dem Blick, dass die Dinge von irgendwo her stammen mussten. Auch wenn dieser Ort dem Ding (also beispielsweise der Blutprobe) bei seiner Ankunft im Labor nicht mehr unmittelbar anzusehen war; besaß er deshalb keinerlei Bedeutung? Das Familien-Wissen um Brustkrebs und die Krankheits-Erfahrungen trafen das Forschungs-Wissen um Familiären Brustkrebs und das Begehren nach den Genen. Für Wender ist es rückblickend erstaunlich, dass die Menschen, obwohl man sie über die Reichweite der damaligen Forschung informiert hatte – „Also hat man versucht denen klar zu machen, warum wir es machen und was wir überhaupt daraus ersehen können. Und das war nicht viel“ (Wender 2006: 8) – Fragen stellten, die aus der Perspektive der Forschung nicht beantwortet werden konnten; dass eine Hoffnung existierte, die nicht auszulöschen war. Ich weiß, dass ich mich auf dünnes Eis begebe, wenn ich von Krankheits-Erfahrung spreche und damit den Eindruck erwecke, als handle sich hierbei um eine voraussetzungsfreie und selbstverständlich anzunehmende Angelegenheit. Wie wird was zu welcher Zeit und an welchem Ort als Krankheit erfahren oder zu einer Krankheit gemacht? In Bezug auf Krebserkrankungen kann man wohl sagen, dass sie sich heute nach wie vor zwischen Tod und Leben bewegen, auch wenn häufig Heilungschancen bestehen und Krebs nicht selten in den Bereich des Chronischen vorgedrungen ist. War Wender in die für ihn merkwürdige Rolle geraten, einen ärztlichen Rat geben zu sollen – den er nicht geben konnte? Oder doch? Er schien in einem Zwiespalt gefangen: Auf der einen Seite war es für ihn 96

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unmöglich, eine befriedigende Aussage zu treffen. Er wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Auf der anderen Seite fühlte er sich dennoch verantwortlich. Einmal in Bezug auf die Menschen, ihre Ängste, Wünsche und Hoffnungen und ebenso in Bezug auf seine Aufgabe, die Quelle des Materials nicht zu gefährden. Es beschäftigte ihn sehr, wie er den Anforderungen gerecht werden konnte. Der Wille zum Wissen der Familien sollte ihn über Jahre begleiten: „Ich habe geschworen, ich fasse nie wieder ein Telefon an. Ich habe von früh bis spät am Telefon gesessen, auch noch Jahre später, da ständig Rückfragen kamen, was wir denn nun rausgefunden hätten“ (Wender 2006: 9). Auch wenn also Blutproben mobil wurden und von ihren Ursprungsorten längst weit entfernt in Kühlfächern eines Labors lagerten, wenn Stammbäume in der Forschungslandschaft zirkulierten und von Forscherhänden zu Forscherhänden wanderten, so blieben sie gleichsam eine Antwort schuldig. Der Preis ihrer Mobilität musste bezahlt werden. Wender blieb nichts anderes übrig, als in und mit der neu entstandenen Situation zu agieren. In seinen Erzählungen kommt er wiederholt darauf zu sprechen, dass das Bedürfnis nach Hilfe beständig an ihn herangetragen wurde. Eine „Nervenbelastung“ (Wender 2006: 6) sei es gewesen und beizeiten sei er sich eben vorgekommen wie ein Psychologe, Pastor und Vollidiot. „Die waren hier in der Klinik und ich hatte mit all denen nun über Monate persönlichen Kontakt. Wenn die hier in die Klinik kamen, wurde ich immer angerufen. Schwupp, musste ich vor. Und da ich nun in ihre ganze Misere involviert war – ungewollt – musste ich mich sozusagen zum Psychologen aufschwingen und versuchen, denen irgendwie Trost zu spenden. Sie hatten zwar die behandelnden Ärzte, aber sie hatten gleichzeitig wieder eine für mich selbst unbegreifbare Vorstellung, dass wir vielleicht helfen könnten“ (Wender 2006: 6).

Gemischte Zustände In den Forschungsbewegungen der 1990er Jahre entfaltete sich ein gendiagnostischer Raum in seiner frühen Form. Dort, wo es noch um die Suche nach den Brustkrebs-Genen ging, hatte das Medizinische schon Platz genommen, weil das Versprechen auf Heilung oder Hilfe in eine Gegenwart aus Hoffnungen rutschte. Nur welche Hilfe sollte gegeben, welche Diagnose gestellt werden? In Wender sehen wir eine Art Kreuzungspunkt, da in seiner Person verschiedene Linien zusammenliefen. Eine Situation entstand, in welcher die Ordnung zwischen Forschung und Anwendung plötzlich als gar nicht möglich erschien, als wenn sich die Forschung überraschend in einer fremden Umgebung wiedergefun97

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den hätte. Ein gemischter Zustand oder ein Ineinanderschieben verschiedener Bereiche, der zu heller Erregung geführt zu haben schien. Die Medizin war plötzlich in der Forschung und die Forschung in der Medizin – dieses Durcheinander war unmöglich, weil es dieses nicht geben durfte, weil man nicht für das Medizinische zuständig war. Ergo mussten Ordnung hergestellt, Zuständigkeiten definiert und Verantwortungen artikuliert werden. Ein Prozess der Reinigung. Es liegt nicht fern sich vorzustellen, dass erst durch diese Problematisierungspraktiken die Trennung selbst immer wieder aktualisiert und hergestellt wurde. Insofern will ich unterstreichen, dass mir nicht daran gelegen ist, eine naturhafte Ordnung zwischen Medizin und Forschung zum Ausgangspunkt für alle folgende Passagen zu machen. Nun kann man sich fragen, wer für dieses Durcheinander die Verantwortung trug. Für Wender war es ein unbegreifliches Missverstehen von Seiten der Familien: „Sie hatten zwar die behandelnden Ärzte, aber sie hatten gleichzeitig wieder eine für mich selbst unbegreifbare Vorstellung, dass wir vielleicht helfen könnten“ (Wender 2006: 6). Nun geschah Folgendes: Man wandte sich keineswegs von den Menschen und ihren Begehren ab, sondern ging darauf ein. Auf der einen Seite wehrte man sich gegen die Rolle des medizinisch Handelnden. Aber auf der anderen Seite musste man genau damit jonglieren, weil man mit Menschen konfrontiert war, die auf Reziprozität bestanden. Wender bekam nicht nur das Material, sondern das Material ergriff auch ihn. Der Familiäre Brustkrebs als Modell erwies sich in Form von Menschen als sehr lebendig und eigenmächtig. Immer wieder musste Wender sich gegen diese lebendigen und ungewollten Kontaminationen des Labor-Unternehmens durch allzu menschliche Hoffnungen auf Hilfe wehren. Immer wieder musste der Versuch unternommen werden, die Trennung zwischen dem Reich der Forschung und dem der Medizin aufrechtzuerhalten. Dies geschah zentral über die Herstellung einer spezifischen Ordnung von Zeitökonomien: „Aber das, was sie jetzt tun, dass sie und ihre Familie mitmachen, auch die Gesunden – der Vater und der Bruder –, sie tun es für ihre Kinder. Und wenn sie das nicht für die Kinder tun, auf alle Fälle für die Enkel“ (Wender 2006: 10). Es ist kaum zu übersehen, wie Forschung und Medizin voneinander getrennt werden sollten. Die konkrete Erkrankung in einer Gegenwart wurde in das Aufgabengebiet des behandelnden Arztes verwiesen, wohingegen die Aufgabe der Forschung als ein auf zukünftige Generationen gerichtetes Unternehmen in eine Zukunft projiziert wurde. Nun fällt auf, dass die Beziehung zwischen Forschung und Medizin selbst mit einer bestimmten Zeitlichkeit ausgestattet wurde. Ein generatives Band schien den Weg in eine Zukunft zu weisen, in welcher die Forschung in 98

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die medizinische Praxis überführt werden sollte. Diese Ordnung ist zeitlich linear. Das vermeintliche Missverständnis auf Seiten der Familien trat aus der Perspektive der Forschung dort auf, wo die Zeitordnung auf Seiten der Betroffenen in die Gegenwart verrutschte. Damit machte sich die Forschung gleichsam in der Gegenwart unschuldig, indem sie sich als Fortschrittsprojekt entgegenwärtigte und in einer Zukunft verortete. Mir scheint, dass in dieser Passage deutlich geworden ist, dass auch wenn Forschung auf etwas Zukünftiges verweist, immer ein gutes Stück Gegenwart in ihr liegt, beziehungsweise eine Gegenwart über das Versprechen auf eine Zukunft hin immer auch hergestellt wird. Keine Grenzen, sondern Grenzziehungen, kein Sein, sondern Werden. Die Aufgabenteilung zwischen Forschung und Medizin verrutschte ungewollt. Wäre man im Labor geblieben und hätte mit einem Tiermodell arbeiten können, hätte man nicht fordernde Menschen sondern vielleicht Mäuse vor sich gehabt. So aber wurde man außerhalb des Labors aktiv, lehnte in der gleichen Bewegung diese Aktivität jedoch ab. Heraus kam ein Agieren in einer als ungleichzeitig herzustellenden Gleichzeitigkeit.

Medizinisches Ratschlagen „Es war so, dass wir, wenn wir ein in Anführungsstrichen ‚positives‘ Ergebnis bei einem Nicht-Betroffenen hatten, dann haben wir gesagt, dass wir mit unseren Mitteln gefunden haben, dass sie zu der Gruppe gehören könnte, die gefährdet ist. Stärker gefährdet als eine andere Frau. Dass das aber auf keinen Fall so hundertprozentig sicher ist, weil unsere Methoden eben so sind, wie sie sind. Dass wir aber zumindest damit aussagen können: Sie sollte sich von Stund an in die Vorsorgeuntersuchung einbringen. Es war nicht mehr und auch nicht weniger. Vor allem haben wir immer versucht, mit mehr oder weniger Erfolg, denen klar zu machen, dass sie jetzt nicht in Ängste verfallen müssen, deswegen jetzt nicht“ (Wender 2006: 36).

Es wird aus dem Gesagten deutlich: Bereits vor der „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) von BRCA1 fanden sich die Zutaten zu einer Früherkennung unter dem Vorzeichen der molekulargenetischen Analyse. Erstens wurde eine genetische Veränderung bei einem gesunden Menschen gefunden (zuvor hatte man diese Person mit dem Potential eines erblichen Brustkrebses ausgestattet). Zweitens schloss man aufgrund der Veränderung, dass ein erhöhtes Risiko einer Brustkrebserkrankung vorliegen müsse. Drittens wurde daraus die Empfehlung abgeleitet, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, damit Früherkennung betrieben werden konnte.

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Es scheint eine Begriffsverwischung zwischen Früherkennung und Vorsorge zu geben. Vom obigen Zitat ausgehend liegt es nahe anzunehmen, dass Wender Früherkennung und nicht Vorsorge meint; dass sich also die mit einem erhöhten Risiko ausgestatteten Frauen regelmäßigen gynäkologischen Untersuchungen unterziehen lassen sollten. Wenn frau zu einer Früherkennungs-Untersuchung ging, bestand die einzige Chance darin, dass möglichst zu einem frühen Zeitpunkt – deshalb Früherkennung – ein Tumor gefunden werden konnte. Vorsorge bedeutet hingegen Maßnahmen zu ergreifen, damit es gar nicht erst zu einer Krankheitsentstehung kommt. Den Rat zur Früherkennung erhielten nicht nur diejenigen Menschen, bei denen auf molekularer Ebene Veränderungen gefunden wurden, sondern auch solche, bei denen man nicht fündig geworden war. „Wir haben auch noch gesagt: Wir haben nichts gefunden. Sie sind negativ, aber wiegen sie sich deshalb nicht mehr in Sicherheit als vorher. Achten sie trotzdem immer darauf“ (Wender 2006: 37). In solchen Fällen rückte der familiäre Stammbaum in den Vordergrund: „Da sie eine Familie sind, bei denen es nun mal die Möglichkeit an Brustkrebs zu erkranken erhöht ist – Schwester, immer schön zur Vorsorge gehen und die Töchter auch“ (Wender 2006: 19). Es genügte ein Blick auf den Stammbaum, um ein erhöhtes Risiko festzustellen. Die molekulare Aussage musste nicht erfolgreich sein, damit eine medizinische Empfehlung ausgesprochen werden konnte. Und dennoch waren die Gene immer präsent, da von ihrer Existenz ohne Zweifel hinter den Stammbäumen gewusst wurde. Ihre Präsenz konnte auch dort nicht erschüttert werden, wo sie sich auf molekularer Ebene zu entziehen schienen. Es zeichneten sich also zwei Varianten ab: Entweder wurde eine genetische Veränderung gefunden, die eine Früherkennung nahe legte oder es wurde auf molekularer Ebene keine Veränderung gefunden, was allerdings nicht hieß, dass da nichts war. Die Wahrheit, dass etwas da sein musste, bewies der Stammbaum. Somit erschien auch in diesem Fall eine Früherkennung angebracht. In beiden Fällen mussten die Familienangehörigen vor der molekularen Suche jenen genetischen Grenzpunkt passieren, der in der Inklusions- und Exklusionsmacht des Stammbaumes lag. In Form eines Passagepunktes funktionierte der Stammbaum in dreierlei Hinsicht. Erstens war er ein Arbeitsmittel der Forscherinnen und Forscher: „Das kann man ja aus dem Stammbaum lesen, wen man untersuchen will“ (Scherneck 2006: 44 ). Zweitens war er ein Beweismittel der Forschung: „Sie sehen das im Stammbaum. Da muss irgendwas sein“ (Scherneck 2006: 27). Und drittens wurde er im Kontext der Forschung zu einem diagnostischen Instrument; allerdings unter dem Vor-

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zeichen einer fortschreitenden Forschung, die es in der Zukunft ermöglichen sollte, die Diagnose auf molekularer Ebene zu treffen. Betrachten wir die unmittelbaren Auswirkungen auf die Familien/Mitglieder: Sie erhielten den Rat zur Früherkennung. Das Versprechen und die Hoffnungen auf Hilfe blieben an einer medizinischen Praxis hängen, in deren Zentrum die Erkrankung stand. Das Begehren der Familien schien sich in der Gegenwart und Präsenz von Krankheitserfahrungen aufzuhalten. Hilfe wurde nicht für eine unbestimmte Zukunft, sondern für ein Jetzt oder zumindest für ein Bald erwartet. Ich möchte vorschlagen, von einer spezifischen Zeitökonomie zu sprechen, die sich auf eine gegenwärtige oder in Kürze eintretende Krankheit richtete. Diese Zeitökonomie besaß durch die Familien eine eigene räumliche Ausdehnung, in welcher die Erfahrung Brustkrebs existierte. Krankheit sollte aus der Gegenwart der Familie verschwinden und sie sollte auch für andere Familienmitglieder nicht zu einer Gegenwart werden können. Diese Vorstellung ist augenscheinlich eine andere als die der vorgeschlagenen Früherkennung. Der Unmittelbarkeit des Brustkrebses und der Hoffnung, dass er nie wieder eine familiäre Gegenwart bekäme, begegnete die Forschung mit einem Jetzt an Früherkennung. Alles Weitere blieb ein Versprechen an die Zukunft. Was veränderte sich also unmittelbar für die betroffenen Menschen? Nahmen sie die Empfehlung zur Früherkennung an, dann passierte Folgendes: Eine Gegenwart frei von medizinischer Abhängigkeit schrumpfte. Gleichzeitig öffnete sich ein genetischer Resonanzraum für einen familiären Willen zum Wissen. Es formierte sich eine medizinische Praxis, die ohne die Gene auszukommen schien und doch von ihnen abhing. Es bestand also nicht nur die anwesende Abwesenheit des Gens, sondern auch die anwesende Abwesenheit der Krankheit Brustkrebs. So schrumpfte die Zeit frei von medizinischen Zugriffen und wuchs das Möglichkeitsfeld einer prädiktiven Medizin. Eine mögliche Zukunft (Erkrankung) wurde in eine medizinische Praxis (Früherkennung) überführt und damit zu einem Projekt der Gegenwart gemacht. Die Arbeit der Tumorgenetik fand nicht nur begrenzt auf das Labor und auch nicht nur in den engen Grenzen der BRD statt. Man begab sich in die internationalen Forschungsunternehmungen zu Brustkrebs-Genen und damit auf eines der heißesten wissenschaftlichen Felder Anfang der 1990er Jahre: The Race to Find the Breast Cancer Gene (siehe Davies/ White 1995).

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4. 1994: E N T D E C K E N /E R F I N D E N /K O N S T R U I E R E N – B R U S T K R E B S -G E N E INSIDEOUT

Anfang der 1990er Jahre fuhr man kreuz und quer durch die BRD um Familien-Material zu sammeln. In dieser Zeit setzte sich Scherneck ebenfalls in Bewegung, um sich mit seiner Forschungsgruppe an der internationalen Suche oder Jagd nach dem Brustkrebs-Gen im Rahmen des 1989 gegründeten Breast Cancer Linkage Consortiums (BCLC) zu beteiligen. Nun wurden 1994 BRCA1 und kurze Zeit später nachfolgend BRCA2 nicht aus den Reihen dieses internationalen Konsortiums sequenziert, sondern von einem Wissenschaftsteam unter der Leitung von Mark H. Skolnick, Mitbegründer von Myriad Genetics (Salt Lake City, USA). Beide Entwicklungen – innerhalb des BCLC und innerhalb der Gruppe um Skolnick – werden im Folgenden aufgegriffen um besser zu verstehen, was die Bedingungen der Möglichkeit dafür waren, dass das Brustkrebs-Gen Mitte der 1990er Jahre zu seiner Existenz kommen konnte. Zudem wird darüber nachzudenken sein, wie das Gen zu begreifen ist; wie und ob sein Dasein überhaupt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive beschrieben werden kann.

4 . 1 W a h l - V e rw an d t s c h a f t e n i n d e n W i s s e n s c h a f t e n : Zw i s c h e n K o o p e r a t i o n und Konkurrenz? Der Einstieg der Berliner Tumorgenetik in die Brustkrebs-Genforschung erfolgte genau in jener Zeit, als es Mary-Claire King und ihren Kolleginnen und Kollegen in Berkeley durch genetische Kopplungsanalysen gelang, BRCA1 in einer bestimmten Chromosomenregion – auf Chro103

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mosom 17 – zu lokalisieren. Das Brustkrebs-Gen war 1990 zum BeGreifen nah: „This linkage study was of singular importance. […] The linkage provided convincing evidence that breast cancer predisposition is inherited in a Mendelian fashion in many families and that a single locus plays a predominant role in this predisposition“ (Vogelstein/Kinzler 1994: 1). Auch wenn dieses Ereignis als entscheidender Fortschritt in der internationalen Brustkrebs-Gen-Community Anerkennung fand; als die eigentliche Entdeckung sollte sich ein weiteres Ereignis wenige Jahre später massiv davor schieben. 1994 wurde letztlich zu dem Jahr der Entdeckung von BRCA1, weil es in diesem Jahr gelang, seine Isolierung und Sequenzierung vorzunehmen. Daran wird deutlich, dass es höchst problematisch ist, von der Entdeckung des Brustkrebs-Gens – als singulärem Ereignis – zu sprechen. Denn was kann als Entdeckung definiert werden: Die Lokalisation 1990 auf Chromosom 17 oder die Isolierung und Sequenzierung vier Jahre später? „The Race to find the Breast Cancer Gene“, wie es im Titel eines Buches über die BRCA-Story (Davies/White 1995) heißt, war weniger ein Wettlauf des Findens (man wusste ja schließlich seit 1990, wo sich BRCA1 befand), als vielmehr ein Wettlauf um das gentechnologische Verfügbarmachen dieses Gens. Insofern erscheint es erstens angebracht, von entdecken/erfinden/ konstruieren zu sprechen und sich mit dieser Dreierkombination einer Festlegung zwischen Konstruktion (Kultur) und Entdeckung (Natur) zu entziehen. Von „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ ist bei Latour (1996: 107) die Rede, wenn er über das Milchsäureferment schreibt, dass man es im Status seiner Vermittlung zu begreifen habe, da es nicht einer Seite jener uns wohlbekannten Gegensatzpaare Ursache/Wirkung, Mittel/ Zwecke, Natur/Gesellschaft zuzuschreiben sei. Zweitens und daraus weitergesponnen gilt es nicht so sehr eine Momentaufnahme, einen Punkt in Zeit und Raum, zu fokussieren, sondern vielmehr ein komplexeres zeitliches und räumliches Zusammenspiel von Dingen und Menschen zu verfolgen. Paul Rabinow hat für solcherlei wirkungsmächtige Zusammenkünfte – wirkungsmächtig, da sie es vermögen, Bestehendes in einen neuen Existenzmodus zu heben – den Begriff der Assemblage prominent gemacht. „Von Zeit zu Zeit entfalten sich allerdings neue Formen, die etwas Besonderes an sich haben; etwas, das bereits vorhandene Akteure, Dinge und Institutionen in einen neuen Existenzmodus hebt, sie in ein neues Gefüge [assamblage] einspannt; ein Gefüge, das die Dinge in einer anderen Weise geschehen lässt“ (Rabinow 2004: 115).

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Es ist für Rabinow also die Qualität der Veränderung, die das Ereignis, die Assamblage, aus der Vielzahl von tagtäglichen Ereignissen heraushebt und zu etwas Besonderem macht. Die Frage lautet: Wie kommt Neues in die Welt? Hier bleibt in seinen Ausführungen vage, was genau in solche besonderen Zusammenkünfte eingeht. Wo findet sich der Platz für bestehende Erwartungen? Wie lässt sich das Verhältnis des lokalen Ereignisses zu größeren historischen Formationen bestimmen und wo liegen die Koordinaten des Gens darin? Wenn man zudem bedenkt, dass „ereignen“ in seiner Begriffsgeschichte „vor Augen stellen“ bedeutete und sich aus „sich zeigen“ das heute allgemein gebräuchliche „geschehen/ereignen“ entwickelte, dann wird deutlich, dass das Ereignis Spuren der Abdrängung alles Unsichtbaren/ Imaginären in sich trägt. Was würde es für unser Verstehen von Wirklichkeit bedeuten, wenn – begriffsgeschichtlich nahegelegt – Sichtbarkeit und Ereignis vom Betrachter völlig unbemerkt zusammenfielen? Wo bliebe hier der Raum für das Unsichtbare? Ich denke, dass diese Problematik an meine Überlegungen über die merkwürdige Beschaffenheit des Brustkrebs-Gens, anwesend und abwesend zu sein, anschließt.

Das Breast Cancer Linkage Consortium: Ein Familientreffen 1990: Die Lokalisierung des ersten Brustkrebs-Gens beflügelte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in vielen Laboren weltweit. Es muss wie ein Beben von enormer Stärke gewesen sein, welches die sich für Brustkrebs-Gene interessierenden Forschenden verschiedener Disziplinen erfasste und heftig schüttelte. Ja, es schien sogar als Initialzündung eines Wettlaufs zu funktionieren und brachte damit Tempo ins Spiel: „This discovery launched a race for the identification and sequencing of these genetic factors“ (Gaudillière 2006: 256). Und eben diese wissenschaftserschütternden Wellen erfassten die Tumorgenetik in Berlin und spülten sie in das Breast Cancer Linkage Consortium. „Die Gene sind 1994/1995 isoliert worden. Da waren wir mit auf der Suche. Das war sehr schön. Damals gab es in Europa und auch in der Welt nur relativ wenig Gruppen, die so etwas gemacht haben. Wir kannten uns alle und haben ein großes internationales Konsortium gegründet, was sich dann regelmäßig in den USA, in England oder in Frankreich traf. Und da waren unsere Familien damals mit Spitze. Da sind viele Arbeiten entstanden, auch in hoch-impact Zeitschriften. Wir hatten sogar eine Familie, da haben die gesagt: ‚Da, diese Familie, da muss man was finden‘“ (Scherneck 2006: 27).

Die Tumorgenetiker traten in einen internationalen Kontakt mit anderen Forschungsgruppen, um nach den Genen zu suchen. Das von Scherneck 105

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erwähnte Konsortium, das Breast Cancer Linkage Consortium, wurde 1989 im französischen Lyon gegründet, „where a small group of scientists met […] to discuss opportunities to find breast cancer predisposition genes by linkage analysis in families with multiple cases of breast cancer“ (siehe www.humgen.nl/lab-devilee/BCLC/history.htm [22.10. 06]. Das BCLC bildete eine Plattform des wissenschaftlichen Austauschs. Bourret et al. stellen über die Bedeutung des BCLC fest: „The Consortium played an important role in the identification of the BRCA genes and has subsequently been involved in the characterization of the pathologies arising in BRCA gene carriers“ (Bourret et al. 2006). Nach der Gründung folgte eine Reihe von Treffen in verschiedenen europäischen Städten; nie aber in der BRD. Im internationalen Vergleich betrachtet bildete die US-amerikanische die größte Scientific Community, gefolgt von Großbritannien, Frankreich, Kanada und den Niederlanden. Die deutsche Forschung war dagegen wissenschaftlich schwach in diesem Feld aufgestellt (Dalpé et al. 2003: 203f.). Nichtsdestotrotz nahm man an den BCLC-Treffen teil und brachte sich und seine Familien ein: „Da waren ein paar Leute, die haben ihre Familien vorgestellt und nach ein zwei Jahren, also so Anfang der 1990er Jahre, kannte man die alle“ (Scherneck 2006: 44). Eine auf den ersten Blick verwirrende Äußerung. Wer lernte wen kennen und von welchen Familien war die Rede, wenn Menschen zusammenkamen und ihre Familien vorstellten? „Die Familien und die Leute und die Familien auch. Die guten Familien zumindest. Man wusste, wer eine gute Familie hatte. Wir hatten einen intensiven Austausch. […] Wir haben uns alle halbe Jahre getroffen und da kamen die Engländer dazu, die Franzosen, die Amerikaner haben sich ein bisschen rausgehalten, außer Mary-Claire King, die kam ab und zu mal. […] Als es bekannt war, da zerfloss die Gemeinschaft wieder. Da war eben der Anreiz weg“ (Scherneck 2006: 44).

Man lernte also nicht nur die Gegenstände der Forschung – die Familien – kennen, sondern natürlich auch Kolleginnen und Kollegen. Zusammen mit ihren Gegenständen bilden sie ein familiäres Amalgam, dessen Bindungskraft vom anwesenden/abwesenden Brustkrebs-Gen abhing. Gute Familien waren besonders große Familien. Die Tumorgenetik fuhr durch Deutschland und sammelte, das Forscherteam um Skolnick dagegen konnte auf bereits Bestehendes zurückgreifen. Es waren nun allerdings nicht die Familien, bestehend aus menschlichen Körpern, die im Reisegepäck der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Orte der BCLC-Treffen reisten. Sie waren schon längst zu Stammbäumen geworden. Als solche konnten sie ohne besonderen Aufwand und ohne 106

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Probleme transportiert werden. Sie stellten die Eintrittskarten in die Scientific Community dar. Oder anders formuliert: Um das BrustkrebsGen bildeten sich Wahl-Verwandtschaften zwischen Forschenden. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn man, Schernecks Äußerungen folgend, ins Schwanken gerät und einige Sekunden rätselt, um welche Familie es sich in seiner Erzählung wohl handeln mochte. Nicht nur die Forschenden kamen neu zusammen, sondern auch ihre Familien. Stammbäume aus unterschiedlichen Ländern trafen aufeinander. Es gelang im Rahmen des BCLC Informationen über 214 Familien zusammenzutragen, darunter auch welche aus der Sammlung der Arbeitsgruppe Tumorgenetik. Die Ergebnisse wurden 1993 im American Journal of Human Genetics veröffentlicht (Easton et al. 1993). Eine mobile und produktive Zeit. Man kam zusammen, tauschte sich und seine Familien aus und teilte, angetrieben durch das BrustkrebsGen, ein paar spannende Jahre. Das BCLC stellte einen Ort wissenschaftlichen Informationsaustauschs dar. Es war aber noch mehr: Es bildete ein Netz aus Menschen und Dingen, die darin mobil wurden und Verhältnisse eingingen. Während Wender durch Deutschland fuhr, um Material zu sammeln, bewegte sich Scherneck mit seinen Familien durch die Welt und genau das mussten andere auch tun. Sie alle mussten an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zusammenkommen. Ohne die Mobilität von Dingen und Menschen hätte es kein Konsortium geben können. Ohne das Konsortium wären die Stammbäume niemals aufeinandergetroffen und hätten sich die Menschen nicht über ihre Familien ausgetauscht und Wissen geteilt. Mir liegt an der Ausbreitung solch vermeintlich profaner Dinge wie den Zusammentreffen deshalb so viel, weil dadurch in dreierlei Richtung Wissenschaft erhellt werden kann: erstens als eine Praxis, welche zwischen Forschendem und seinem Gegenstand ein Verhältnis entstehen lässt. Der Stammbaum war, wie ich hoffe gezeigt zu haben, sehr viel mehr als ein stummes Objekt, sondern maßgeblich daran beteiligt, wie die menschlichen Akteure zusammenkommen konnten. Zweitens deuten die Erzählungen Schernecks über diese Zeit an, dass das wissenschaftliche BRCA-Unternehmen ein sehr lebendiges und interaktives Projekt war: „Das haben die damals in den USA gepackt und dann ist es isoliert worden. Ich meine, das war eine sehr schöne Zeit, als noch nichts bekannt war und die Leute suchten alle“ (Scherneck 2006: 27). In den Erzählungen über diese vergangenen Zeit meint man heute noch die Aufregungen und das Abenteuer der Suche nach dem Gen spüren zu können. Man könnte auch sagen: Forschen macht(e) Spaß und das lustvolle Interesse an Neuem muss ebenfalls als eine treibende Kraft neben ande107

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ren Kräften – und dann sicherlich auch wirtschaftlichen – verstanden werden. Und drittens kam man zusammen und bildete ein Beziehungsnetz, weil man sich davon einen Profit erhoffte. Alle gaben etwas, in der Hoffnung darüber etwas aus der Gruppe zurückzubekommen. Bourdieu spricht von sozialem Kapital, weil sich die zu solch einem Netz Dazugehörigen, von ihrer Zugehörigkeit einen Nutzen versprechen würden (Bourdieu 1992: 63 ff.). Die geleistete Institutionalisierungsarbeit der Protagonisten innerhalb des Konsortiums war in diesem Sinne „notwendig für die Produktion und Reproduktion der dauerhaften und nützlichen Verbindungen, die Zugang zu materiellen und symbolischen Profiten verschaffte“ (Bourdieu 1992: 65).

Wahlverwandtschaften sind In- und Exklusionsveranstaltungen Wie weit der Austausch und das Freude bringende Miteinander der Forschenden ging und von welchen Umständen die sich entwickelnden Beziehungen abhingen, kann ich nicht dezidiert beurteilen. Zwei Spuren hierzu finden sich in der Erzählung Schernecks. Erstens scheint es unterschiedliche Grade des Engagements innerhalb des BCLC gegeben zu haben. Dies klingt an, wenn Siegfried Scherneck erwähnt, dass MaryClaire King, die mit ihrer Forschergruppe 1990 die Lokalisierung von BRCA1 auf Chromosom 17 erreichte und eine bedeutende Rolle in der Forschungslandschaft dieser Zeit spielte, nur selten an den Treffen teilnahm. Andere wiederum hielten sich vom BCLC völlig fern. Es ist mit Sicherheit so, dass bestimmte Forschergruppen nicht an den Treffen partizipierten, weil sie ihre Informationen nicht mit den anderen Forschergruppen teilen wollten und auch nicht auf neue Informationen oder den Austausch angewiesen waren. Dalpé et al. unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen zwei (gleichwohl miteinander in Beziehung stehenden) Fronten: „One was to determine the frequency of the defective alleles and their role in cancer“ (Dalpé et al. 2003: 194). Die Bewegungen an der anderen Front, so die Autoren, spielten sich unter dem Signum des Wettlaufs um die Gensequenzierung ab. Während sich der erste Schauplatz im Großen und Ganzen unter dem Dach des BCLC und in Europa befunden hätte, sei der zweite Schauplatz ein US-amerikanisch dominierter gewesen. Personelle Überschneidungen hätten darin bestanden, dass im Wettlauf um die Gensequenzierung größtenteils auch Akteure der europäischen Front vertreten gewesen seien, während sich führende Wettkampfteilnehmer des US-amerikanisch dominierten Schauplatzes aus den BCLC-Aktivitäten herausgehalten hätten. Kann vor diesem Hintergrund die Geschichte der Brustkrebs-Gene als eine Geschichte von Kooperation versus Konkurrenz verstanden werden? Zweitens gab es ein besonderes Interesse an großen Familien. Oder anders formu108

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liert: Ein gutes Familienmitglied brachte eine gute Familie mit. Die Qualität situierte vermutlich diejenigen Forscher-Gruppen besser im Spiel, die solche Familien beisteuern konnten. Ein Zeugnis dafür findet sich in einem Brief, den Mary-Claire King an die Berliner Tumorgenetik schrieb. Abbildung 4: Brief von Mary-Claire King

Quelle: zur Verfügung gestellt von Siegfried Scherneck 2006

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Kooperation versus Konkurrenz? Sowohl BRCA 1 als auch BRCA 2 wurden durch Forschungsteams von Myriad Genetics entdeckt. Dieses Unternehmen wurde Anfang der 1990er Jahre gegründet. Einer der Hauptprotagonisten war Mark H. Skolnick. Der Aufbau der Infrastruktur von Myriad Genetics gelang über die Ansammlung von Kapital aus unterschiedlichen Quellen, „the most important of which were big pharmaceutical companies such as Bayer, Eli Lilly, Monsanto, Novartis, and Schering-Plough“ (Dalpé et al. 2003: 205). Die Unternehmens-Strategie beinhaltete zum einen, das Gen zu finden, Tests für die Diagnostik zu entwickeln und zu verkaufen oder wie Skolnick es ausdrückte: „We’re trying to clone genes, find mutations, and make diagnostics“ (Skolnick zitiert nach Davies/White 1995: 205). Zum anderen sollten Geschäftspartner in der Pharmaindustrie ausfindig gemacht werden, um darüber hinaus in der Entwicklung von Medikamenten, also im therapeutischen Sektor Fortschritte zu erzielen. Die Myriad Genetics Story kann man an verschiedenen Stellen nachlesen (siehe etwa Davies/White 1995: 179ff.). Dabei wird man immer wieder auf folgenden Hinweis stoßen: Skolnick und sein Team hätten in Konkurrenz zu anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die mit BRCA befasst waren, gearbeitet. Als privatwirtschaftliches Unternehmen schien Myriad Genetics innerhalb der Scientific Community großes Unbehagen zu bescheren: „There was rising concern that should his team find the gene first, it might herald a new era of private genetic testing for breast cancer in which the profits would be almost as important as patient wallfare“ (Davies/White 1995: 204). Aus dem Gesagten ließe sich schließen, das die Frage Kooperation versus Konkurrenz auch (wenn nicht im Wesentlichen) eine Frage zwischen guter und böser Wissenschaft gewesen sei. Auf der einen Seite ein privatwirtschaftliches Unternehmen, welches Forschungen nur betrieben hätte, um Geld mit einer Krankheit zu verdienen. Auf der anderen Seite wissenschaftliche Institutionen, deren Bestrebungen auf die Hilfe für Menschen und nicht Geld gezielt hätten. Hat Myriad Genetics es schaffen können, weil es als Unternehmen bessere Möglichkeiten als nicht privatwirtschaftlich unterhaltene Labore besaß? Ist die BRCA-Story der Beweis dafür, dass der Kapitalismus in die Labore Einzug halten musste, damit etwas herauskommen konnte? Siegte letztlich das Geld über das Wohl der Patienten? Was sagt überhaupt solcherlei Unterscheidung zwischen Geld und Verantwortung aus? Zumindest formuliert Gaudillière für die Organisation der BRCAForschung zwei auf ebenjene Differenz weisende unterschiedliche Modelle: „One model can be termed the clinical model and is well illustrated by cancer research in France. The second model can be labeled the 110

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biotech model and is, in turn, exemplified by the practice of the private start-up company Myriad Genetics“ (Gaudillière 2006: 256). Gaudillière und Löwy haben an einem Vergleich Frankreich – USA gezeigt, welche Facetten die Differenz zwischen diesen Modellen ausmachen; vor allem im Hinblick auf die sich Mitte der 1990er Jahre entwickelnden Praktiken der Gendiagnostik. Das von ihnen auf die USA zentrierte BiotechModell sei durch kommerzielle Strategien von sich neu gründenden Biotech-Unternehmen gekennzeichnet. Wesentliches Merkmal dieses Modells sei die Ökonomisierung von biologischem Wissen und die Ausbreitung von Eigentumsrechten auf biologisches Material durch Patente; zum Beispiel auf BRCA1. Dagegen zeichne sich das klinische Modell, wie der Name schon anzeigt, durch die klinische Einbindung von Genforschung und Gendiagnostik aus, wobei die Autoren es keinesfalls nur auf Frankreich beschränkt wissen wollen, sondern darauf aufmerksam machen, dass es auch in den USA vorkommen könne. Vor allem stünde innerhalb des klinischen Rahmens nicht das finanzielle Interesse und der unternehmerische Erfolgsdruck im Zentrum, sondern der Wille und Glaube, „that everything that is medically justified should somehow be made available“ (Gaudillière/Löwy 2005: 274). Ich will nur zwei Aspekte herausgreifen, die mir im Hinblick auf das Verständnis von Kooperation versus Konkurrenz bemerkenswert erscheinen. Dies erscheint gerade wichtig, weil man schnell den Eindruck erhalten könnte, dass mit solcherlei Kategorisierungen oberschwellig eine Unterscheidung zwischen Markt und Medizin und unterschwellig zwischen guter und schlechter Forschung gemacht würde. Erstens erfuhren Gaudillière und Löwy in ihren Interviews mit französischen Protagonisten innerhalb des klinischen Modells nichts über mögliche ökonomische Begehren oder Spannungen. Zweitens beschreiben Gaudillière und Löwy, dass sehr wohl auch innerhalb des Konsortiums Ambivalenzen im Spannungsfeld zwischen Kooperation und Konkurrenz existiert hätten: „Collaboration was nevertheless hampered by severe competition between laboratories and prospects of industrial developments“ (Gaudillière/Löwy 2005: 268). Als Indizien für die Präsenz von Marktinteressen nennen sie zum einen die wachsende Bedeutung des Forschungsmaterials als Eigentum: Das Material sei, so die Autoren, nicht zwischen den Laboren ausgetauscht worden. Vielmehr hätte jedes Labor mit seinen eigenen Familien gearbeitet. Zum anderen beobachten sie, dass im Zuge des Wissenszuwachses über den Genlocus von BRCA1 die Intensität des Austauschs gesunken sei. Je näher man sich am Ziel ahnte, desto stiller wurde es. Ich möchte nicht verneinen, dass es sehr wohl Unterschiede zwischen eher privatwirtschaftlichen und klinischen und/oder universitä111

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ren Einrichtungen gegeben hat und gibt. Jedoch scheint mir in der angedachten Modellbildung und Differenzierung zwischen einem klinischen und einem Biotech-Modell vorschnell eine Trennung gezogen zu werden, die das Bild der Trennung zwischen Kooperation und Konkurrenz, zwischen guter und schlechter Wissenschaft, fortsetzen könnte und die außer Acht lässt, dass wissenschaftliches Kapital und seine In-WertSetzung kein ausschließliches Phänomen von privatwirtschaftlichen Unternehmen ist, sondern als wichtiges Moment von Wissenschaft selbst mitgedacht werden muss. Wissenschaftliche Kooperation schlicht gegen eine aufgrund der wachsenden Marktnähe zunehmenden Konkurrenz zu setzen, trägt mit dazu bei, dass die Frage nach den mannigfaltigen Erscheinungsformen des Kapitals nicht adäquat gestellt werden kann. Kooperation und Konkurrenz sind demnach keine ausschließlich auseinandertreibenden Pole, sondern ineinandergeschachtelte Praktiken des Umgangs miteinander.

Wirtschafts- und Wissenschaftsmarkt Vielleicht hat Gaudillière recht, dass in den 1970er Jahren humangenetische Forschungen frei von „marketing considerations“ (Gaudillière 2006: 256) waren. Aber was für ein Markt ist gemeint? Mit scheint, dass der Befund sich ausschließlich auf Marker wie Eigentumsrechte und Privatisierungen von biologischem Wissen und auch biologischem Material bezieht. Eine zentrale Figur für diesen Markt ist das Patent auf Gene. Eine der ersten Handlungen von Myriad Genetics bestand nach der Sequenzierung des ersten der beiden Gene darin, ein Patent auf BRCA1 anzumelden. Und auch auf BRCA2 ließ das Unternehmen unverzüglich nach der Sequenzierung ein Patent anmelden. Damit verfolgte das Unternehmen die kommerzielle Strategie, Marktführer im Angebot und der Durchführung gendiagnostischer Tests von BRCA1 und BRCA2 zu werden. Das Bestreben, Patente auf Gene anzumelden, rief Proteste hervor. Das Hauptargument war, dass Gene nicht zu erfinden (Kultur) sondern nur zu entdecken (Natur) seien. Zudem wurde die Befürchtung geäußert, dass Myriad Genetics eine Monopolstellung herhielte und in dieser Position Tests zu einem Peis anbieten könnte, der höher läge als es notwendig sei. Dagegen hielt Skolnick die Patentierung von Genen für gerechtfertigt, da es vor allem darum ginge, Geldgeber für die Forschung zu gewinnen (Davies/White 1995: 224ff.). Tatsächlich sieht die Europäische Patentrichtlinie vor, dass Sequenzen oder Teilsequenzen von Genen patentiert werden können. Diese Richtlinie wurde 1998 vom Europäischen Patentamt verabschiedet. Im Jahr 2001 wurden dem USamerikanischen Unternehmen drei Patente vom Europäischen Patentamt zugesprochen: Das Patent EP 0705903 erstreckte sich auf diverse 112

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BRCA1-Genmutationen, ein zweites Patent EP 0705902 bezog sich auf weitere Mutationen und ein drittes Patent EP 699754 auf alle Methoden der Diagnostik. Das Vorgehen des Europäischen Patentamts rief umgehend massive Kritik von Seiten zahlreicher Organisationen – unter anderem von Kirchen, Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen – hervor: „,Das Wissen um die menschliche Anatomie und das Genom des Menschen sind Allgemeingut und keine Handelsware‘ sagte Kammerpräsident [der Bundesärztekammer, S.P.] Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe und begründete so die Kritik der Ärzteschaft“ (Bartmann 2001: A-1923). In den deutschen Auseinandersetzungen über das Recht beziehungsweise Unrecht, Patente auf menschliche Gene anzumelden, fanden sich, ähnlich wie in den USA, neben Contra-Postitionen auch ProPatent-Positionen. Herta Däubler-Gmelin, 1998–2002 Bundesministerin der Justiz, befürwortete die Vergabe von Stoffpatenten auf menschliche Gene, da es „der Grundidee des Patentrechts [entspreche], dass Forscher und Erfinder von der gewerblichen Verwertung ihrer Erfindung profitieren sollen“ (Bartmann 2001: A-1923). Das Patent über die Methoden der Diagnostik wurde schließlich 2004 zurückgenommen. 2005 wurde in einem weiteren Schritt das Patent EP 0705902 vom Europäischen Patentamt dahingehend eingeschränkt, dass nicht mehr das komplette Gen, sondern nur noch kleinere – aber für die Krebsdiagnose relevante! – Genabschnitte geschützt waren. Verschiedene Organisationen hatten gegen die Patentierung von BRCA1 geklagt, da durch die exklusiven Verwertungsrechte von Myriad Genetics die Tests erheblich verteuert gewesen und Entwicklungen besserer Diagnoseverfahren behindert worden seien. Diese Perspektivierung von Forschungsentwicklungen im Kontext von Humangenomforschung, der Befund über kommerzielle Verwertungen und Kapitalisierungen von Leben, der Transformierung von Leben in Ware – markant im Begriff des Biokapitals zusammengeführt – sind wichtige Themen von Gegenwartsanalysen zur wissenschaftlich-technologischen Entwicklung im Zeichen der Genomforschung (siehe etwa auch Abels 2000: 102, Franklin/Lock 2003: 6, Gehring 2006: 17ff.). Jedoch könnte schnell der Eindruck einer Engführung auf nur einen Markt – den der Wirtschaft – und nur einen kommerziellen Gegenstand – den der Körperstoffe und Daten – entstehen. Dies wäre meines Erachtens ein Problem, weil damit aus dem Blick geraten könnte, dass wir es ebenso mit einem Wissenschaftsmarkt zu tun haben, der nicht einfach unter die Ägide der kommerziellen Verwertung gestellt werden kann. Also stellt sich die Frage nach dem Unternehmen Wissenschaft; den Beziehungen und Vermischungen der Märkte zu- und miteinander. Kommt dem Wissenschaftsmarkt keine Bedeutung zu, bloß weil er scheinbar ins Un113

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sichtbare drängt oder die Akteure in Kliniken nicht über Geld sprechen (wollen) und sich scheinbar von jeder finanziellen Relevanz des eigenen Tuns distanzieren? Mir scheint, dass man mehr an der Vermischung arbeiten und die Trennung von Forschung zwischen Geld (Wirtschaft) und Güte (Klinik) hinterfragen sollte. Was ist mit Wissenschaftsmarkt gemeint? Das Spannende für mich war, dass ich über mögliche Konkurrenzsituationen von Scherneck nichts Konkretes erfuhr. Monate, nachdem ich das erste Interview über die damalige Suche mit ihm geführt hatte, sprachen wir erneut über diese Zeit. Ich fragte dieses Mal konkret nach etwaiger Konkurrenz und dem Klima zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Auch in diesem Gespräch erfuhr ich nichts Besonderes, eher sprach er über Konkurrenzen zwischen Forschergruppen als normalen Bestandteil von Wissenschaft. Oder anders gedreht: Wer würde gerne mit Menschen zusammenarbeiten von denen er wüsste, dass sie die Arbeit teilten, den Erfolg jedoch nicht? Die Forschergruppen kamen wohl kaum ohne die Aussicht zusammen, einen eigenen Gewinn aus dem ganzen Unternehmen ziehen zu können. Ein Gewinn war zum Beispiel die Veröffentlichung von Ergebnissen in anerkannten Fachjournalen. Der Austausch musste für die eigene Arbeit etwas nützen. Alle, die für sich keinen Gewinn in der Veranstaltung sahen, stießen nicht dazu. Wir haben es augenscheinlich auch hier mit einem Marktgeschehen zu tun. In diesem wissenschaftlichen Markt folgten die Forschenden einer Logik wissenschaftlichen Arbeitens, verbunden mit der Herstellung eigener Produkte (Veröffentlichungen, Prestige, erhöhte Chancen auf die Finanzierung neuer Forschungsprojekte et cetera), die ungenommen an der Schnittstelle zum Kreislauf marktwirtschaftlicher Verwertung zirkulierten. Die Zeit der Suche nach BRCA1 war eine schöne, aber keineswegs unschuldige Zeit, die mit einem ganz konkreten Telos ausgestattet war. Alle an der Suche beteiligten Forschergruppen hatten ein Interesse an BRCA1. Und zwar nicht nur, weil einige oder alle sich einen unmittelbaren privatwirtschaftlichen Profit erhofften, sondern auch weil man sich einen wissenschaftlichen Profit versprach. Latour beschreibt diese Logik wie folgt: „Wenn er [der Wissenschaftler, S.P.] etwas noch einmal wiederholt, was schon entdeckt worden ist, ist der Wert seiner Arbeit gleich null. Schlimmer noch, der Wert ist negativ, denn er hat Zeit, Arbeit, Energie, Raum, Versuchstiere und Material vergeudet“ (Latour 1996: 121). Wenn wir also schon von einem Markt sprechen, dann müssen wir diesen Markt der Wissenschaften mit berücksichtigen. Insofern meine ich, dass es notwendig ist, Grenzverwischungsarbeit dort zu leisten, wo Trennungen zwischen Geld und Wirtschaft auf der einen Seite 114

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und Helfen und Medizin auf der anderen Seite vollzogen werden, wo eine Aufteilung in gute und schlechte Forschung allzu leicht praktiziert wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass es nicht so einfach ist, zwischen guten und schlechten Wissenschaftsfamilien zu unterscheiden. Kooperationen besitzen gleichsam immer strategische Momente.

4.2 Es wird – 1994 „Sie sehen das im Stammbaum. Da muss irgend etwas sein“ (Scherneck 2006: 27). Dieser Satz scheint im sich verdichtenden Gefüge der BrustkrebsGenforschung selbstverständlich, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als überlegenswert. Er verweist auf das Primat des Sichtbaren im Bilde des Stammbaums. Aber was sehen wir? Keinesfalls Gene, sondern eine Anordnung von Symbolen. Was wir nicht sehen, stellen wir uns allerdings vor! Insofern gilt: „Herstellen ist Vorstellen, Darstellen, Ausstellen“ (Kamper 1995: 39). Wenn also dazu geneigt wird, dass Sichtbare als das Wirkliche jeder Wirklichkeit des Unsichtbaren vorzuziehen, dann sollte bedacht werden, dass das sichtbare Wirkliche ebenso ein Ding von Bewegung, Relationalität und Werden ist. Was Sichtbarmachung in der Suche nach BRCA1 bedeutete, lässt sich verstehen, wenn man vom Sichtbaren des Stammbaums noch einen Schritt weiter und zur Sichtbarmachung auf molekularer Ebene vordringt. Wir konnten bereits erfahren, dass der entscheidende Punkt für den Sieg des Wettrennens nicht darin lag, zu wissen, wo es sich im menschlichen Körper befand (Lokalisation), sondern darin, es zu sequenzieren und zu isolieren. 1994 wurde BRCA1 mittels positioneller Klonierungsstrategie isoliert. Insofern kann behauptet werden, dass Sichtbarmachung und damit Wirklichkeitswerdung und damit Substanzwerdung darin bestand und darauf zielte, eine technisch kontrollierte Form von Mobilität und Verfügbarkeit zu erlangen. Der Artikel in der renommierten SCIENCE, welcher die Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher vorstellte, enthielt nicht nur einen Einblick in die gewonnen Fakten und sich daran anschließenden Forschungen, sondern verknüpfte diese erstens mit der einleitenden Feststellung „Breast cancer is one of the most common and important diseases affecting women“ und zweitens mit abschließenden Zukunftsaussichten: „This in turn may permit accurate genetic screening for predisposition to a common, deadly disease“ (Miki et al. 1994). Wie bereits im Verlauf dieser Studie dargelegt, hat das Versprechen, welches in die Gene gelegt 115

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wurde, von Beginn an die Forschung begleitet und wird bis heute wiederholend artikuliert, ebenso wie die Aussage über die besondere Bedrohung Brustkrebs für Frauen. Krankheit und Tod versus Gesundheit und Leben. Das Brustkrebs-Gen wurde zu einer Nahtstelle, anwesend abwesend zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit. Diesem anwesenden und abwesenden Ding werde ich mich jetzt unter der Frage zuwenden, welche Begründungen ins Feld geführt wurden, um den Entdeckungserfolg zu erklären. Im Folgenden werden zentrale Erklärungen abgeschritten: gutes Familien-Material, richtige Entscheidungen für bestimmte Instrumente und Forschungswege, eine gute personelle Ausstattung, wissenschaftliche Kompetenzen und das zufällige und doch notwendige bisschen Glück.

Materialhunger: Große Familien und viel Blut „We were able to find BRCA1 first by studying large Utah pedigrees, and these pedigrees are unusual in that in the last half of the 19th century, the Mormon pioneers often had multiple wives and six or seven children per wife. And this was documented by genealogical data, so that we were able to study the descendants of these pioneers, often dozens of children, hundreds of grandchildren, thousands of great grandchildren, and tens of thousands of individuals in the present generation“ (Skolnick 1998: 17).

Für die Forschung musste man Zugriff auf gutes Material haben und Skolnick hebt diese Spezifik seiner Familien in der Äußerung heraus. Er und sein Team besaßen dank der Universität von Utah einen Bestand an Informationen über Mormonen-Familien, die sich in den 1880er Jahren in Utah angesiedelt hatten. Anfang der 1990er Jahre war es ihm nämlich gelungen, einen privilegierten Zugang zu dieser Quelle für Mitarbeiter seines Unternehmens aushandeln (Gaudillière/Löwy 2005: 269). Solche großen Mengen hätte ein einzelnes Labor, wie das von Scherneck, nie zusammenbekommen. Den Zusammenhang zwischen Materialmasse und Erfolg erkennt man auch in folgender Äußerung: „Es reicht nicht, wenn man 20 oder 30 hat. Da muss man Hunderte haben. Und das haben die damals in den USA gepackt und dann ist es isoliert worden“ (Scherneck 2006: 27). Materialmangel machte zu einem gewichtigen Teil die Attraktivität der Zusammenarbeit mit anderen Forschergruppen aus. Das BCLC war ohne Zweifel solch ein Ort der notwendigen Kooperation. Aber es bedurfte nicht nur der Stammbäume, sondern im Wesentlichen des biologischen Materials. Große Familienstammbäume zu konstruieren war das eine, aber für die Forschung waren Familien notwendig, die nicht nur groß waren, sondern von denen man möglichst viele Blut- aber auch 116

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Gewebeproben zusammenbekam. Oftmals lebten Angehörige der Elternoder Großelterngeneration nicht mehr, von allen weiteren Generationen ganz zu schweigen. Wir haben bereits erfahren, dass die Verfügbar- und Mobilmachung des Blutes von einem Ensemble wissenschaftlichtechnischen Know-hows und organisatorischer Leistungen abhing. Genauso mussten Haltbarkeit und Lagerung möglich sein. Dass ein Bankenwesen der Körperstoffe für die Forschung äußerst attraktiv werden und sein musste, deutet sich hier an. Körperstoffe galt es zu gewinnen und so aufzubereiten, dass sie nicht verfielen. Sprich: Sie mussten eine vom menschlichen Körper losgelöste, raum-zeitlich neue Existenz bekommen. Große Familien mit lebenden Menschen waren dementsprechend begehrt. Ähnlich wie die herausragend große Familie der Berliner Tumorgenetik – „Wir hatten sogar eine Familie, da haben die gesagt: ,Da, diese Familie, da muss man was finden‘“ (Scherneck 2006: 27) – schien es eine besonders wertvolle Familie mit dem Namen „Kindred 2082“ im US-amerikanischen Kontext gegeben zu haben. Sie zeichnete sich durch eine große Anzahl von Brust- und Ovarialkarzinomen über sechs Generationen aus. Eine Kollegin von Mark H. Skolnick, Donna ShattuckEidens, brachte das Team mithilfe dieser Familie hautnah an BRCA1 heran: „When she found a mutation in the patients of the family that would result in the last third of the BRCA1 protein not being made, any element of doubt the Myriad team may have had was gone“ (Davies/White 1995: 208). Aber man benötigte nicht nur viele und im besten Fall große Familien. Vor allem waren solche notwendig, wo BRCA1 Mutationen überhaupt gefunden werden konnten. Die erwähnte Familie der Berliner war für die Suche nach BRCA1 unbrauchbar – was man natürlich vor der Entdeckung nicht wusste! – da Mutationen auf BRCA1 in dieser Familie gar nicht existierten. Wer weiß, vielleicht wäre sonst einiges anders passiert. Diese Begebenheit erinnert daran, dass technische Machbarkeit und menschlicher Wille nicht reichen, wenn das Ding nicht mitspielt. Ein gutes Beispiel für die Widerständigkeiten des Materials oder wie man auch sagen kann: „Konstruktion ist möglich, aber nur eingeschränkt“ (Rheinberger 2002: 245).

Technische Bedingungen: Die Wahl ist entscheidend Der Erfolg eines Forschungszusammenhangs hing am Material. Ohne technischen Einsatz wäre jedoch noch das beste Material sinnlos gewesen. Genaugenommen kann allerdings die Trennung zwischen Material und Technik problematisiert werden, da beispielsweise bereits die Herstellung der Blutprobe technische Bedingungen voraussetzte (EDTABlut) und diese gleichsam in das Produkt Blutprobe eingeschlossen 117

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wurden. Insofern gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass wir es mehr mit Verkettungen und Ineinanderschiebungen von Gegenständen und technischen Bedingungen zu tun haben, als mit zwei getrennten Sphären. Welche Techniken wurden auf der Gen-Jagd zum Einsatz gebracht? Ich will zwei Beispiele nennen. Erstens musste es gelingen, die Region auf Chromosom 17, wo man BRCA1 vermutete, einzugrenzen. Eine mit Myriad Genetics kollaborierende Gruppe am National Institute of Environmental Health Sciences (NIEHS) entschied sich für den Gebrauch einer damals relativ neuen Technik. Die „solution hybrid capture“ erwies sich in diesem Zusammenhang als erfolgreich: „At the NIH press conference announcing the BRCA1 discovery, Wiseman said that the key to their success had been this new technique that had allowed them to fish out part of what proved to be BRCA1 from the critical region of chromosome 17“ (Davies/White 1996: 214). Man entschied sich also für einen neuen Weg, der jedoch sicher genug war, dass es zur Eingrenzung von BRCA1 auf einem bestimmten Chromosomenabschnitt kommen konnte. Zweitens stellte sich die Frage, wie die Klonierung von BRCA1 am aussichtsreichsten zu bewerkstelligen sei. Man benötigte ein Werkzeug oder Instrument auf molekularer Ebene. Wie entscheidend die Wahl des Werkzeugs war, lässt sich aus folgender Äußerung schließen: „BACs are the winners of the day“, soll Mary Claire King auf einer Konferenz kurz nach der erfolgreichen Klonierung von BRCA1 durch Myriad Genetics gesagt haben (Davies/White 1996: 218). Die Entscheidung von Skolnicks Forscherteam die Klonierung mit sogenannten BACs – bacterial artificial chromosomes – in Angriff zu nehmen, war durchaus ein Wagnis. Sie entschieden sich damit nämlich für ein bis zu diesem Zeitpunkt relativ unbedeutendes und wenig gebrauchtes cloning vehikle. Ebenso wie die Entscheidung für den Gebrauch der „solution hybrid capture“ war auch der Griff zu BACs ein Spiel mit dem Unbekannten und insofern riskant. Die Produktivität dieses Experimentalsystems hing entscheidend davon ab, dass es offen genug war, eine neue Technik und eine neue Substanz aufzunehmen. Rheinberger beschreibt als zentrale Charakteristik eines Experimentalsystems, dass es sich immer in einem Wechselspiel von Stabilisierung und Destabilisierung hält. Verfällt es in eine Starre, ist es in gewisser Weise nicht offen, dann „degeneriert es zu einer Testanlage im Sinne einer Produktion von Standards und Repliken“ (Rheinberger 1992: 28). Die beiden von mir genannten Beispiele für den Einsatz von technischen Dingen deuten die Stellung von ihnen in einem Experimentalsystem an. Ich übernehme den Begriff des technischen Dings beziehungsweise der technischen Bedingung von Rheinberger. Er beschreibt damit in einem Experimentalsystem die Umgebung für das 118

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epistemische Ding, auf welches sich das Begehren der Forschenden richtet. In unserem Fall wäre das epistemische Ding BRCA1. Zu den technischen Bedingungen gehören Instrumente, Aufzeichnungsapparaturen, Modelle. Diese technischen Dinge müssen hinreichend stabil sein, sprich, sie müssen „im Rahmen der aktuellen Reinheits- und Präzisionsstandards von charakteristischer Bestimmtheit sein“ (Rheinberger 2002: 26). Nun hat Rheinberger darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen epistemischen und technischen Dingen keinesfalls als trennscharf und stabil, sondern als funktional zu betrachten sei (Rheinberger 2002: 27). Ich meine, sowohl BACs als auch die „solution hybrid capture“ sind gute Beispiele dafür, dass die Entscheidung zum Wagnis an der Grenze zwischen Stabilisierung und Destabilisierung bei technischen Dingen durchaus zur Forschung dazugehört. Sie haben im gesamten Zusammenspiel der Experimentalanordnung dazu beitragen, dass Neues entstehen konnte. Die Anforderung an eine stabile Umgebung darf nicht im Sinne eines universalen Standards missverstanden werden, da lokale Laborpraktiken für den Gang der Dinge von entscheidender Bedeutung sind. Die skizzierten Techniken/technischen Dinge wurden eben nicht von allen Laboren eingesetzt. Auch ist die Differenzierung zwischen technischem und epistemischem Ding nicht im einem strengen Sinne als eindeutig und fix zu verstehen. Epistemische Dinge können in anderen Experimentalsystemen den Status von technischen Dingen einnehmen und umgekehrt. Neben diesen Wanderungen ist das Verhältnis zwischen beiden auch in einem Experimentalsystem nicht sauber, sondern in wechselseitiger Bedingtheit zu verstehen. Technische Bedingungen erscheinen dem Brustkrebs-Gen zwar als äußerlich. Aber sie sind es nicht. Sie sind aktiv daran beteiligt, was das epistemische Ding letztlich sein kann (Rheinberger 2002: 26). Sie sind insofern ebenso am Prozess der Herstellung als auch am Ergebnis beteiligt. Erwähnenswert bleibt, dass das Brustkrebs-Gen-Experimentalsystem sowohl von alten als auch von neuen Techniken durchmischt war. Neben dem Stammbaum, der ein altes, standardisiertes und stabiles Werkzeug darstellte, fanden sich neue Techniken auf molekularer Ebene ein. Wobei festzuhalten bleibt, dass das System insgesamt auf das Molekulare zielte und andere Überlegungen (insbesondere zur Multifaktorialität von Brustkrebs und zur Bedeutung von möglichen Umwelteinflüssen) aus dem Forschungsdesign mehr oder minder ausgeschnitten wurden. Wir können ahnen, wie wichtig das Zusammenspiel zwischen technischen Bedingungen und epistemischem Ding war. Die technischen Bedingungen waren nicht einfach nur die stummen und passiven Zutaten – Maschinen, Stoffe, Gerätschaften. Auf sie kam es an, wobei es nicht 119

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einfach ausreichte, dass es sie gab. Maschinen oder andere Forschungsbestandteile konnte man mit Geld kaufen, aber ihr Besitz wäre nutzlos geblieben, wenn man sie nicht hätte verfügbar machen können. Und hierfür wiederum brauchte es entsprechend qualifizierte Menschen.

Menschliche Ressourcen: Qualität und Quantität Neben Instrumenten, Modellen, Techniken und anderen Dingen gehörten die Forschenden selbst zum Experimentalsystem dazu. Walter Gilbert, Mitbegründer von Myriad Genetics, führte beispielsweise die engen Beziehungen zwischen seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und anderen staatlichen und akademischen Laboren als Grund für die erfolgreiche Entdeckung von BRCA1 an (Davies/White 1995: 218). Die Forschungsergebnisse in SCIENCE wurden unter der Autorenschaft von insgesamt 45 Personen, zugehörig zu fünf verschiedenen Organisationen (University of Utah, Salt Lake City; Myriad Genetics, Salt Lake City; The National Institute of Environmental Health Sciences, Research Triangle Park/North Carolina; Mc Gill University, Montreal/Kanada und Eli Lilly, Indianapolis/Indiana), publiziert. Von Interesse ist an dieser Stelle eine ungefähre Vorstellung über die personelle Kraft des Projektes zu erhalten. Im Jahr 1993 arbeiteten im Team von Myriad Genetics 20 Personen, davon wiederum die Mehrheit an Brustkrebs (siehe Davies/White 1996: 204). Nimmt man die Verbindungen zu weiteren Forschergruppen und zählt alle zusammen, kommt man auf die 45 in SCIENCE genannten Personen, mit denen quasi durch die Nennung (Bildung von wissenschaftlichem Kapital) am Ende die Ehre der Entdeckung geteilt wurde (Davies/White 1995: 210). All die vielen technischen Assistentinnen und Assistenten, andere Nichtwissenschaftlerinnen und Nichtwissenschaftler und diverse im Status Unterlegene und Untergebene blieben aus dieser Zählung sicherlich ausgeschlossen. Leider liegen mir keine Zahlen über das geballte, in das Unternehmen involvierte Humankapital vor. Neben der personellen Quantität sollte die Frage der Qualität, also der menschlichen Fähigkeiten, nicht außer Acht gelassen werden. Was brachten die Einzelnen an Erfahrungen und Können ein? Hierzu schreiben Davies und White: „While King felt that her rivals’ accomplishment had much to do with their skills of genetic manipulation, the winning scientists all single out different factors in explaining their success“ (Davies/White 1996: 218). Es ist natürlich problematisch, diese Äußerung ohne eine eingehende Betrachtung zur personellen Ausstattung des adressierten Experimentalsystems zu übernehmen, da es sich bei der Zitierung um die Bewertung aus Sicht einer Konkurrentin zu diesem System handelt. Aber ich meine, die Äußerung macht darauf auf120

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merksam, dass menschliches Wissen und Handeln auf der einen Seite entscheidend von bereits genannten Faktoren, wie der Verfügbarkeit von technischen Dingen und finanziellen Ressourcen, abhingen, auf der anderen Seite und im Zusammenspiel mit ihnen jedoch von ganz eigener enormer Bedeutung waren. Neue gentechnologische Möglichkeiten erforderten einen Umgang mit ihnen. Diese „skills of genetic manipulation“ besaß selbstverständlich nicht automatisch jeder, der sich für Brustkrebs-Gene interessierte. Im Experimentalsystem mussten Menschen und Dinge auf molekularer Ebene zueinander passen. Die Forschenden brachten ihre erworbenen Fertigkeiten, Erfahrungen und ihr Wissen in den Gegenstand ein. Sie entschieden sich für bestimmte Techniken. Sie umkreisten den Gegenstand und probierten aus. Sie schritten nicht geradlinig voran, sondern tasteten sich vorwärts. Sie waren keinesfalls die Herren über das Experiment, sondern Teil von ihm. Man kann die Qualität der Forschenden mit dem Begriff der Erfahrenheit und sie selbst als Bastler auffassen. Erfahrenheit meint „erworbene Intuition“ (Rheinberger 2002: 80), die in der Vermischung des Denkens mit den Dingen passiert, in dem Tasten und Tappen des Forschenden an der Grenze zum Neuen. Man kann aber auch die Qualität des Forschenden in Begriffen des Kapitals und der Akkumulation beschreiben. Bourdieu hat hierfür den unzweifelhaft sperrigen Begriff des „inkorporierten Kulturkapitals“ (Bourdieu 1992: 55ff.) entwickelt. Die Aneignung dieses Kapitals zeichne sich vor allem durch Folgendes aus: sie koste Zeit. Zudem sei eine Delegation des Erworbenen nicht möglich. Das Kapital würde schließlich zu einem Bestandteil der Person, dem Habitus. Bourdieu weist darauf hin, dass der Faktor Zeit zum Erwerb des Kapitals das Bindeglied zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital darstelle. Sprich: Wer kann es sich überhaupt leisten, kulturelles Kapital zu inkorporieren (beispielsweise durch Studium, Forschungen et cetera)? Mir liegt es fern, wissenschaftliche Tätigkeit entweder ausschließlich unter den Begriffen von Erfahrenheit und Bastelei oder unter Kapital und Akkumulation verstehen zu wollen. Aber eines muss man wohl vorsichtig anmerken: Rückt man der Tätigkeit des Wissenschaftlers auf den Leib, wird man Gefahr laufen, das angesammelte und unsichtbare kulturelle Kapital nicht zu bemerken, welches wiederum auch an ökonomisches Kapital gebunden ist. Bastler zu sein hat, wenn man so sagen will, seinen Preis.

Glück Und damit komme ich zu einem letzten Grund, dem schlichten Glück: „But perhaps the most important ingredient was identified by Roger Wise121

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man, who had a rather different perspective. ‚What do I attribute our success to?‘ he asked. ‚Luck!‘“ (Davies/White 1995: 218). Auch wenn man bei der Darstellung einer solchen Glücksgeschichte im Hinterkopf behalten muss, dass sie immer auch eine retrospektive Herstellung von Geschichte ist, erinnert sie daran, dass Wirklichkeit nicht vollständig planbar ist. Das Unerwartete kreuzt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass sich die besonders große Familie der Bucher Forschung vielleicht hätte eigenen können, dem Gen auf die Spur zu kommen. Aber man hatte kein Glück, weil weder BRCA1 noch BRCA2 in dieser Familie eine Bedeutung hatte. Was ist aus diesem Streifen der damaligen Forschungsentwicklungen zu lernen? Zunächst sollte man sich vergegenwärtigen, dass wir es mit einer ungeheuren Komplexität von Verhältnissen zu tun haben. Der angeführte Katalog ist ob der Fülle an internationalen Forschungsentwicklungen nur oberflächlicher Art. Die vorliegende Passage enthält mitnichten kleinste Details auf der Basis eigens erhobener Kenntnisse über die Forschungen von Myriad Genetics und kooperierender beziehungsweise konkurrierende Labore. Sie ist eher grobkörnig. Ich habe den Eindruck, dass es nicht zwangsläufig Myriad Genetics hätte sein müssen, BRCA1 zu sequenzieren und damit das Rennen zu gewinnen. Man war in vielen Laboren so nah dran: „One of the greatest ironies about the cloning of BRCA1 was that the gene was precisely where scientists had said it would be“ (Davies/White 1995: 214). Während Skolnick und auch Scherneck besonders das gute Material als Grund für den Erfolg hervorhoben, führten King und Wiseman das Wissen um die Beherrschung von und die Entscheidung für bestimmte molekulare Techniken an. Insofern ist es immer eine zu stellende Frage, wer wie auf die Vergangenheit und den Forschungserfolg blickt und welche Vergangenheit in den Erzählungen retrospektiv hergestellt wird. Jede Erzählung hat ihre Wahrheit, aber keine von ihnen und auch nicht die Summe aller ist die Wahrheit. Ich will aus diesem Grunde gar nicht auf eine Wahrheit abzielen. Außerdem sollten wir verstehen, dass die Umgebung in der BRCA1 auftauchen konnte, nicht „neutral“ dem epistemischen Ding gegenüber stand. Die technischen Bedingungen machten BRCA1 auf eine spezifische Art und Weise erst möglich. Sie nahmen Einfluss auf sein Werden. Sie sind ihm insofern keinesfalls rein äußerlich. Dies gilt im übrigen nicht nur für die technischen Bedingungen, sondern auch für die Forschenden selber. Ebenso wenig, wie man ohne Weiteres die technischen Bedingungen der Möglichkeit für BRCA1, die sein Werden massiv mitprägten, erahnen kann, erschließt sich einem Außenstehenden von alleine die Relation, die der Forscher 122

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und sein Gegenstand eingegangen sind. Und schließlich weist uns die erzählte Aufzählung darauf hin, dass es so etwas wie einen Innenraum der Forschung überhaupt gegeben zu haben schien. Ich meine, alle Gründe, die über den unmittelbaren Entdeckungszusammenhang hätten hinausweisen können, fielen aus den hier angeführten WissenschaftsInnenraum-Erzählungen heraus. Involvierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führten eine Vielzahl von Faktoren an, die sich mehrheitlich auf die konkrete Forschungssituation und unmittelbare Forschungsbedingungen bezogen. Damit stellt sich der unmittelbare Entdeckungszusammenhang als merkwürdig rein und frei von größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen dar.

4.3 Von schiefen Ebenen Bei der Annäherung an die „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) von BRCA1 habe ich mich in zwei Fahrwassern wiedergefunden. Im ersten schien es möglich, einen Einblick in Forschungszusammenhänge größerer Art zu erhalten (Kooperation & Konkurrenz). Im zweiten traten diverse Praktiken des Laborgeschehens in den Vordergrund. Beide fand ich in der Beschäftigung mit der entsprechenden Literatur getrennt voneinander vor. Größere Zusammenhänge oder makroskopische Befunde, wie Wissensökonomisierungen, Molekularisierungen und Entwicklungen einer Genmedizin scheinen so etwas wie einen globalen Ring um lokale Praktiken (Laboralltag) zu bilden. Als wenn es ein Labor-Außen geben würde, welches anders als das Labor-Innere zu studieren sei. Aber was wäre genau als Außenraum und was als Labor zu bestimmen und wie sollte das Verhältnis in der Trennung zueinander gefasst werden können? Leicht ließe sich sagen, dass das Außen das Innen erst möglich machte, weil beispielsweise Geld fließen musste, um Forschungen zu ermöglichen. Eine ganze Reihe von Bedingungen der Möglichkeit von Laboralltag wären auf diese Weise zu identifizieren. Aber die Praktiken des Innenraums scheinen dem Forschungsgegenstand unbehelligt oder neutral von jenem Außen gegenüber zu treten. Oder anders formuliert: Der größere Zusammenhang selbst scheint auf das, was als Gen hervorgebracht wurde, keinen Einfluss gespielt zu haben. Schwappen ökonomische Verwertungsinteressen aus dem Außenraum in das Laborinnere, ohne die dortigen Praktiken in irgendeiner Form mit zu prägen? Oder wirken sie sich auf die Laborpraktiken und damit auch auf den Forschungsgegenstand selbst aus?

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Es entsteht der Eindruck, als wäre ökonomisches Begehren in der konkreten Konstellation des Labors nicht in das Spiel der Grenzverwischung zwischen dem Gegenstand und seiner unmittelbaren Umgebung eingebunden gewesen. Zwei Fahrwasser: Im ersten bleibt die Analyse merkwürdig an der Tür zum Labor stehen und will auch gar nicht hineingelangen. Das Hauptaugenmerk liegt anscheinend auf makroskopisch zu analysierenden Entwicklungen innerhalb größerer Zusammenhänge, welche auch als Umwelt bezeichnet werden, wie Stichweh dies tut und danach fragt: „Wie hat man sich die Umwelt von Experimentalsystemen vorzustellen“ (Stichweh 1994: 293)? Falls das Labor-Innere in solchen analytischen Bewegungen auf Makro-Ebene zur Sprache kommt, dann eher wie folgt: Die Techniken des Labors verharren in der Sprache des Technischen und das Gen findet keinen anderen Ausdruck, als jenen in der Sprache des Naturhaften. Ich nehme an dieser Stelle bewusst eine Begriffskonfusion in Kauf, wenn ich trennungsunscharf von Umwelt, größeren Zusammenhängen, MakroEbenen und Globalem spreche, weil es mir nicht darum geht, das LaborAußen möglichst genau zu bestimmen. Die Trennung als eine Gemachte und ihre Konsequenzen für Wissenschaftsforschungen interessieren mich viel mehr. Im zweiten mikroskopischen Fahrwasser dringt man dagegen in die Alltagspraktiken des Labors ein und ermöglicht so das Entstehen des Forschungsgegenstandes zu studieren. Unter dem Mikroskop ist das Gewässer bevölkert von technischen Dingen und Forschungsgegenständen, Menschen und Maschinen, diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken. Sie alle bleiben dem Gen nicht äußerlich, sondern tragen zu einem Teil seines Werdens bei. Sie schließen sich in das Gen ein, ohne am Ende sichtbar zu sein. Sprich, man sieht die Zurichtungen dem Gegenstand nicht mehr an, weil er als immer schon vorhandene Natur hingestellt wird und die Mühen seines Werdens gemeinhin unsichtbar für Außenstehende bleiben. Gleichzeitig ist der Gegenstand nicht in Beliebigkeit form- oder herstellbar; gibt es doch immer auch eine Widerständigkeit des Materials. Solche Prozesse herauszuarbeiten und sichtbar zu machen, Science in Action zu studieren, ist Aufgabe von Mikrostudien. Zwei Fahrwasser einer Passage. Zwei analytische Sphären: Die größeren Zusammenhänge, das Außen, das Globale und die Laborpraktiken, das Innen, das Lokale. Während es mikroskopisch scheinbar gelingt, die Verwischungen und Interaktionen zwischen dem Forschungsgegenstand, den technischen Bedingungen und anderen unmittelbaren Laborpraktiken sichtbar werden zu lassen, bleibt der unbestimmte größere Zusammenhang oder die Umwelt deutlich getrennt davon. Die Trennung ist zu bewundern. 124

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Und sie ist listig. Denn wie kommt es überhaupt, dass wir von Trennungen ausgehen können? Es ist eine uns in den Sozialwissenschaften wohlvertraute Praxis zwischen Mikro und Makro, zwischen Analysen, welche entweder die Wissenschaften (Mikro-Studien) oder ihre sozialen Kontexte oder Umwelten (makrosoziologische Ansätze) fokussieren, zu unterscheiden. Die Trennung selbst bleibt jedoch in solcherlei Vorgehen bestehen, ist sie doch die Grundlage der Analyse und nicht ihr Gegenstand. Ich kann nicht annähernd dieses, für alle Disziplinen, die sich mit Wissenschaftsforschung beschäftigen, wichtige Spannungsmoment entfalten. Was uns hier begegnet ist eine echte Herausforderung für die empirische Wissenschaftsforschung. Das Werden von BRCA1 kann offensichtlich nicht anders als aus nur einer Perspektive erzählt werden. Zumindest scheint es massive Probleme einer der Trennung zwischen Labor und Gesellschaft jenseitigen Analyse zu geben. Es ist, als wenn sich jedes analytische Unternehmen nicht nur zwischen zwei Gegenstandsbereichen (global oder lokal, Mikro oder Makro, Innen oder Außen) zu entscheiden hätte, sondern selbst schon Teil einer Trennung sei. Einer Trennung oder Aufgabenteilung die zudem mit der Verteilung von Zuständigkeitsbereichen für gesellschaftliche Orte zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einherzugehen scheint. Beispielsweise begegnen einem in der Politikwissenschaft gemeinhin kaum Studien über Laborpraktiken, dafür gibt es Werke über die gesellschaftliche Relevanz von Genetifizierungen oder Molekularisierungen sozialer Wirklichkeit. Auch wenn Narr zurecht auf die Notwendigkeit hinweist, dass „Wissenschafts- und Technikentwicklung in ihrem inneren Politikum immer erneut zu thematisieren“ (Narr 2000: 43) sind, so muss man doch ernüchternd festhalten, dass Laborstudien, wie sie sich in den Science and Technology Studies entwickelten, bis heute kaum in der Politikwissenschaft angekommen sind. Eher findet man solche Arbeiten in der Ethnologie oder der Medical Anthropology, wo methodische Zugriffe über beispielsweise teilnehmende Beobachtungen Teil des disziplinären Apparates der Wissensproduktion sind. Ebenso finden sich in der Wissenschafts- und Medizingeschichte zahlreiche Arbeiten auf Mikroebene, welche die Erzeugung von Wissen – SCIENCE IN ACTION – fokussieren. Und hier scheint dann das gegenläufige Problem aufzutreten, nämlich dass man jenseits der Mikrostudie kaum etwas weiß über „the internal workings of institutions and the articulations between the lab work, policy and commerce or between the lab, industry and the clinic“ (Chadarevian 2006: 64). Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass alle Disziplinen alle Wirklichkeitsbereiche abzudecken hätten. Eine wissenschaftliche Arbeitsteilung ist sinnvoll. Mir geht es lediglich um die Fra-

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ge, inwieweit diese Teilung als gegeben vorausgesetzt wird und dabei nicht mehr problematisiert wird. Ich weiß, dass ich mich auf unsicherem Terrain bewege und spreche vorsichtig von sehr allgemeinen Problemlagen. Selbstredend gibt es Vermischungen und von verschiedensten Seiten Unternehmungen, Trennungen zwischen global und lokal, zwischen dem Laborinnenraum und dem Außen, zu unterlaufen beziehungsweise die disziplinäre Arbeitsteilung produktiv zu durchkreuzen (siehe etwa Marcus 1995, Rabinow 1996, Latour 2002, Keating/Cambrosio 2003). In der Zusammenschau der beiden skizzierten Fahrwasser ergibt sich ein Bild, dass vor allem eines deutlich werden lässt: Das Werden von BRCA1 war (und ist) ein komplexes und kompliziertes Unternehmen! Dieses Unternehmen nur auf einen unmittelbaren Entdeckungszusammenhang zu reduzieren wäre ebenso sträflich, wie es ausschließlich mit unternehmerischem Appetit nach Profitmaximierung begründen zu wollen. Darum müssen wir diese Punkte verbinden und zusammenzudenken. Die spannende Frage lautet: Wie ist dies möglich?

INSIDEOUT – Was ist das Gen? Meines Erachtens ist es erstaunlich, dass das Brustkrebs-Gen, also der Gegenstand, um welchen sich alles drehte und wendete, seltsam unangetastet bleibt. Zwar lernen wir einiges über sein Werden (im Labor) und über sein Wirken (in Gesellschaft), aber wir lernen scheinbar kaum etwas darüber, was das für genau für ein Gegenstand war, der entdeckt/erfunden/konstruiert wurde. Sprich, wir haben es nicht nur mit einer Trennung zwischen innerem Laboralltag und äußerer Gesellschaft zu tun, sondern mit einer Asymmetrie des Blicks, welcher vor dem Gen halt zu machen scheint! Was ist das Gen? Es tritt auf die Bühne als ein bestimmter Abschnitt auf einem Chromosom. Ein Ding, welches in der Sprache der Naturwissenschaften sagbar und durch technische Bilder sichtbar wurde. Dabei hat sich herausgestellt, dass es nicht einfach Natur war, die man zu entdecken brauchte. Man kann sich jetzt ungefähr vorstellen, dass es technische Bedingungen und andere Zutaten, wie Qualitäten und Quantitäten der Forschenden, gab, die das Erscheinen von BRCA absteckten und mitbestimmten. Dabei ist deutlich geworden, dass Konstruktion nicht einfach und schon gar nicht vollständig möglich war, weil die Natur des Gens ihre eigenen Sperrigkeiten aufwies. Doch was passierte mit dem Brustkrebs-Gen? Bislang scheint es mehr oder minder fest an einem Ort (Labor) verankert, passiv und stumm gegenüber seiner Bearbeitung zu sein. Auch wenn von Widerständigkeiten des Materials bereits die Rede war; dennoch erhält man den 126

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Eindruck, dass das Gen letztlich Natur ist und bleibt, wenn auch ein gutes Stück hergestellte Natur. Alle Wege führen zum Gen, aber anscheinend handelt es sich dabei um Einbahnstraßen. Wie durchbrechen wir die Räume zwischen Innen und Außen, zwischen Labor und Gesellschaft, zwischen Makrogeschichten und Mikrogeschichten?

Alles muss gefaltet werden – INSIDEOUT Es ist ein Kreisen um das Gen. Der Versuch einer Annäherung, indem in den vorangegangenen Passagen Relationen und Bewegungen sichtbar gemacht wurden, die sich erst mit dem und um das noch nicht sequenzierte Brustkrebs-Gen entwickelten. Ähnlich Michel Foucaults Analysen zum Wahnsinn sollte das Gen nicht als universal Existierendes der Arbeit vorangestellt werden. Angenommen, das Gen existiert nicht …? Solch eine Perspektivverschiebung dient der Aufmerksamkeitssteigerung für die Bedingungen, unter welchen es möglich war, dass das Gen seine Wirkungsmacht entfalten konnte. Diese Forschungsausrichtung nimmt zur Kenntnis, dass wissenschaftliche Tatsachen historisch sind und keine ewig währende Gültigkeit besitzen. Wer wird heute beispielsweise sagen können, ob es das Gen in Hunderten von Jahren noch geben wird oder ob es nicht irgendwann als Irrtum seinen Platz in den Lehrbüchern zukünftiger Wissenschaften findet? Von hier aus lohnt es sich also nicht, nach dem wahren, universalen und immer schon existierenden Gen zu fragen, sondern nach den Bedingung der Möglichkeit seiner Existenz. Wie kann also die tastende Umkreisung des Dings anders verstanden werden, als entweder die „immer-schon-vorhandene Substanz in den Entdeckungsberichten alter Schule“ (Latour 1996: 89) oder als alleinige Leistung menschlicher Erfindungskraft, die „einer für immer unerkennbaren Realität mehr oder weniger willkürliche Kategorien aufzwingt“ (Latour 1996: 105)? Latour schlägt als Lösung vor, symmetrisch zu denken und eine Geschichtlichkeit der Dinge anzuerkennen (Latour 1996). Was heißt das? Von ihrer Geschichtlichkeit auszugehen bedeutet, sie weder als präexistierende Natur noch als bloße Konstruktion vorauszusetzen. So gelingt es zu verstehen, dass Dinge, die uns als natürlich vorgestellt werden, weit komplexer und gesellschaftlicher sind, als man gemeinhin anzunehmen gewohnt ist. Aber diese Natur ist genauso wenig ausschließlich ein gesellschaftliches Machwerk. Merkwürdig ist, dass es, bei aller Anteiligkeit von Konstruktion an den Prozessen des Werdens von Genen, nicht gelingt, die Trennungen zwischen Innen und Außen zu durchkreuzen und eine andere Sprache als entweder die des Labors (Gen-Natur) oder die der Gesellschaft (Gen-Kultur) für die Beschreibung des Gens zu finden. Und selbst wenn das Gen gesellschaftsanalytisch ökonomisch als 127

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Biokapital beschrieben wird, es ist und bleibt biologisch. Damit wird dem Gen letztlich sein Ort im Reich der Natur zugewiesen. Wir lernen zwar, die Frage nach dem „Wie (kommt das Gen zu seiner Existenz)?“ zu stellen und auch zu beantworten, aber wir lernen nicht, die Frage nach dem „Was (ist das Gen)?“ aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ähnlich produktiv zu stellen, geschweige denn zu beantworten. Diese Schwierigkeit besteht auch im Hinblick auf sogenannte Makrogeschichten, also jene Analysen, die einen größeren Zusammenhang der Brustkrebs-Genforschung beleuchten wollen. Es wird gefragt, wie dieses Gen in die Gesellschaft kommt oder was mit dem Gen in der Gesellschaft geschieht. Aber was das Gen dabei ist, ohne auf naturwissenschaftliche Erklärungen zu kommen, wird – soweit ich dies beurteilen kann – kaum behandelt. Nun würde ich sagen, dass die Geschichtlichkeit des Gens in die Analyse aufzunehmen bedeutet, danach zu fragen, als was das Gen 1994 entdeckt/erfunden/konstruiert werden konnte. Dafür bedarf es der Anerkennung seiner Existenz vor seiner Existenz, sprich die Anerkennung der Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit des Gens und zwar nicht als immer schon vorhandene Natur. Noch bevor BRCA1 entdeckt wurde, war es existent. Damit meine ich nicht, dass es als Ding der Natur immer schon da war und nur noch entdeckt werden musste. Vielmehr bildeten sich immer mehr Spuren und ein ganzes Gefüge aus Praktiken, die sich um es zusammenzogen. In diesem Gefüge trafen sich nicht nur Menschen und Dinge, sondern mit ihnen auch Versprechungen, Wünsche, Ängste und Hoffnungen. Das Gen machte es möglich, dass diese Versammlung zustande kam. Gleichzeitig wurde es erst darin möglich. Neue Konstellationen wären kaum zustande gekommen, wäre da nicht dieses Gen mit seiner enormen Attraktivität gewesen. Verschiedene Begehren trafen sich günstig, das Begehren der Forschenden und das Begehren der Betroffenen. Worauf richteten sich diese Begehren? Auf etwas, was sein musste, was eine Materialität erreicht hatte, ohne unbedingt zu sein. Ich möchte in einem nächsten gedanklichen Schritt vorschlagen, dass man dem Gen „den Status der Vermittlung gibt, d.h. eines Ereignisses, der tatsächlich weder ganz Ursache ist, noch ganz Wirkung, weder vollkommen Mittel, noch vollkommen Zweck“ (Latour 1996: 107f.). Es so zu verstehen kann in einem ersten Schritt helfen, das Gefüge nicht in einer Geschichte zwischen Natur und Gesellschaft zu versenken. Eine Analyse des Beweglichen und Relationalen, in welcher Natur und Gesellschaft Teil und nicht Ausgangspunkt von allem sind, sollte möglich sein. Das Gen nur in der Sprache der Naturwissenschaften zu belassen bedeutet, ihm einen gesellschaftlichen Teil seines Wesens zu entziehen. 128

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Die Folgen wären fatal. Das Gen bliebe Natur. Warum ist es scheinbar so schwer, eine andere Sprache bereitzustellen, in welcher es möglich ist, über das Gen im Status der Vermittlung zu sprechen? Was ist das Gen? Wenn es richtig ist, dass das Werden des Gens anteilig gesellschaftlich ist, dann muss dem Gen selbst dieses Gesellschaftliche zugestanden werden. Damit kommen wir der Sache näher, das Gen nicht aus unserer Analyse auszuschließen, indem wir meinen, wir könnten uns die Frage nach ihm sparen.

Das Gen im Be-Griff des Kapitals Von hier aus wird der Gedankengang weitergeführt. Donna Haraways Überlegungen zur Frage „Was ist das Gen?“ sind diesbezüglich aufschlussreich. Sie schreibt: „A gene is not a thing, much less a ‚master molecule‘ or a self-contained code. Instead, the term gene signifies a node of durable action where many actors, human and non-human, meet. […] The gene as a fetish is a phantom object, like and unlike the commodity“ (Haraway 1997: 142). Das Gen als einen Knotenpunkt mannigfaltiger diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken zu fassen, erinnert an Latours Vorschlag, einem Ding den Status der Vermittlung zu geben (Latour 1996: 107). Diesem Gedanken folgend, möchte ich also vorschlagen, das Gen nicht als ein Objekt, sondern eher als eine Art Kraftfeld zu fassen. Das Gen erhält nicht nur einen Platz in einem relationalen Gefüge, vielmehr scheint es selbst zu diesem Gefüge zu werden, sich quasi nach außen zu falten. In diesem Gen-Gefüge treffen menschliche und nichtmenschliche Akteure aufeinander. Es finden Passagen statt. Haraway geht einen entscheidenden Schritt weiter und verbindet das Gen begrifflich mit einer Analyse in Begriffen des Kapitals. So sieht sie, dass im Gen-Fetischismus eines globalen Marktes das Gen zu einer vermeidlichen Wertquelle wird, ähnlich des in der Marxschen Theorie analysierten Warenfetischismus und sie fügt hinzu: „The only little amendment I made to Marx was to remember all the nun-human actors too“ (Haraway 1997: 143). Damit trifft sie wiederum gedanklich auf Latour, dem es ebenfalls darauf ankommt, jene modernen Grenzziehungen zwischen menschlichen Subjekten und technischen beziehungsweise wissenschaftlichen Objekten oder Sachen zu durchkreuzen. In diesem Sinne spricht er von einer „Geschichtlichkeit der Dinge“ (Latour 1993: 87) oder vom nicht-menschlichen Wesen als „Aktant“ (Latour 1998: 35). Ähnlich benutzt Haraway die Begriffe „Akteur“ und „Agent“, um Wissensobjekte nicht zu Leinwänden, Grundlagen, Ressourcen oder Knechten menschlicher Herren zu degradieren (Haraway 1995: 93).

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Den Gedanken der Einbeziehung von Dingen in ein heterogenes Gefüge aufnehmend, welches nicht nur von menschlicher Handlungsfähigkeit bestimmt wird, und mit dem Kapital-Gedanken verbindend, können wir nun also sagen, dass das Kapital erstens nicht nur eine Sache, sondern zweitens ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis von Menschen und drittens ein gesellschaftliches Verhältnis von Menschen und Dingen ist. Der Kapital-Gedanke erschien mir während der Suche nach einem passenden Zugang zum Brustkrebs-Gens trefflich geeignet zu sein, weil es dem Kapital auf einen ersten Blick erstaunlich ähnlich greifbar/ungreifbar, anwesend/abwesend zu existieren scheint. Ich möchte mich nicht aus dieser offenkundigen Vagheit in der Beschreibung des Gens hinauswagen. Ist das Brustkrebs-Gen eine Kapitalanalogie oder eine Kapitalhomologie? Vielleicht ist die Analogie ein zu gewagtes Unternehmen, in welchem das Gen vom übermächtigen KapitalBegriff erschlagen zu werden droht. Übereinstimmungen dagegen, und dies scheint mir aus den bisher unternommenen Passagen deutlich geworden zu sein, fallen in vielerlei Hinsicht und in einer ganz besonders auf: Es ist, wie das Gen im Status der Vermittlung, ein „soziales Verhältnis“ (Narr 1988: 120) und keine abstrakte Konzeption. Die Frage an das empirische Material dieser Studie lautet weiter, was für Kapitalformen zu identifizieren sein könnten. Ich meine, dass dreierlei Formen auf dem schwankenden Grund der bisherig unternommenen Passagen schemenhaft auszumachen sind: Leben, Wissen und Geld.

Leben, Wissen, Geld Kapitalform Leben: Wie komme ich dazu, Leben als Kapitalform zu verstehen? Ausgangspunkt meiner Überlegungen war das Versprechen auf Leben bei fortschreitendem wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn über die genetischen Ursachen der Brustkrebserkrankung. Leben meint Verhinderung von Krankheit oder zumindest ihre Heilung. Individuelle Ängste und Hoffnungen wurden von den Forschenden und durch die Medien für die Wissenschaft mobilisiert. Leben frei von Krankheit, die Optionen auf Hilfe und Heilung waren und sind mächtige Argumente, die beständig ins Feld geführt werden, wenn es um die Legitimierung wissenschaftlich-technischer Entwicklungen geht. Leben meint hier nicht irgendein, sondern ein gesundes Leben. Und wer kann und will schon gegen Gesundheit argumentieren? Die Prominenz des BrustkrebsGens muss von diesem Erwartungshorizont aus begriffen werden: „Scientific enthusiasm for the discovery is largely explained by the fact that it was the first isolated gene to be associated with a widerspread and severe disease, and breast cancer had become an important medical issue 130

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in the press“ (Dalpé et al. 2003: 194). Das Brustkrebs-Gen verhieß nichts anderes als Leben in der Überwindung einer Krankheit. Im besten Fall durch Veränderungen auf molekularer Ebene, sodass es erst gar nicht zur Krankheit käme. Wissensproduktion kommt nicht ohne das Leben in Form von Forschungsmaterial aus. Gleichzeitig haben wir gesehen, wie das menschliche Leben aus der wissenschaftlichen Wissensproduktion herausgehalten werden sollte. Neue Technologien intervenieren in den menschlichen Körper und immer mehr Körperteile können gegenwärtig in Wert gesetzt werden. Dieser Wert entfernt sich vom Ursprungskörper und wird mobil. In der Forschung wurden Blutproben und Stammbäume mobil gemacht. Abgekoppelt vom Körper können sie auch heute noch in den Gefrierschränken und Akten existieren. Man wird einwenden können, dass heute, wo eine Gendiagnostik gemacht wird, sehr wohl der Kreis zwischen der Gabe von Blut, der Testung von DNA und der Übersetzung der Ergebnisse in eine medizinische Praxis besteht und insofern alles wieder beim Individuum ankommt. Und auch zu Beginn der Forschung haben wir ja gesehen, dass die Gabe von Material nicht ohne eine Gegengabe (sei es die Empfehlung zur Früherkennung und/oder das Versprechen an eine Zukunft) stattgefunden hat. Ich unterstreiche: Die individuellen Ängste und Nöte, Hoffnungen und Wünsche für das eigene Leben oder das Leben von Angehörigen sollen ebenso wenig abgetan werden, wie der von Forschenden artikulierte Wunsch, mit ihrer Arbeit einen Beitrag in der Krankheitsbekämpfung zu leisten. Worum es jedoch bei dem Gedanken der Kapitalförmigkeit des Lebens geht, ist die Definition dieses Lebens als Fluchtlinie innerhalb einer Gesellschaft, in der alles die Tendenz besitzt, Ware zu werden. Und in dieser Bewegung lässt sich dann auch Folgendes denken: „Indem man die sterblichen Substanzen und die bisher in der Generationenfolge einfach mit dem Individuum versunkenen Biodaten nicht nur technisch erschließt und produktiv macht, sondern eben auch lagerbar, übertragbar, verkehrsfähig, macht man perspektivisch Lebenszeit käuflich“ (Gehring 2006: 34).

Kapitalform Wissen: Ein Wille zum Leben, der sich mit einem Willen zum Wissen verband und zwar durch das Versprechen auf Hilfe und/oder Heilung von Brustkrebs. Sollte es möglich sein, die Fehler im Buch des Lebens zu beseitigen? Leben ist ein Versprechen, welches in dem Brustkrebs-Gen von Anbeginn an lagerte. In die Zukunft gerückt, sollte ein Mehr an Wissen zu einem Mehr an Leben führen. Latour greift

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den Begriff des Kapitals auf. Er kommt zu dem Befund, dass sich Wissenschaft durchaus kapitalistisch abspielen würde: „Das Kapital des wissenschaftlichen Kredits beschränkt sich nicht auf die (symbolische) Anerkennung, welche die Forscher füreinander hegen können […], sondern erstreckt sich auf den gesamten Kreislauf – einschließlich Daten, Wahrheiten, Begriffe und wissenschaftliche Artikel“ (Latour 1996: 121).

Diese Beschreibung des wissenschaftlichen Kapitals verdeutlicht, dass der Weg zu seiner Verwertung innerhalb eines Kreislaufs des wirtschaftlichen Profits nicht weit ist; sofern diese beiden Kreisläufe überhaupt trennbar sind. Kapitalform Geld: Im Gegensatz zum allgemein als erstrebenswert anerkannten Mehr an Leben und Mehr an Wissen war dagegen zu beobachten, dass ein Streben nach mehr Geld nicht selten als kritikwürdig hingestellt wurde. Kooperation versus Konkurrenz, klinisches Modell versus Biotech-Modell. Mit Gesundheit, bzw. Krankheit Geld zu verdienen, stieß scheinbar innerhalb der Brustkrebs-Genforschung auf Empörung. Den Gewinn, also die Sequenzierung des ersten Brustkrebs-Gens BRCA1, trug das Forschungsteam um Mark H. Skolnick davon. Aber von anderen Gewinnen, vom Faktor Geld für die Medizin und Wissenschaft, wird anscheinend nicht gerne gesprochen. So bleibt das Geld mehr oder minder unsichtbar, wenn es nicht sogar mit einem Tabu belegt wird; auch wenn alles Tun von ihm abhängig ist. Ich möchte vorschlagen, das Gen also als Kapital und in diesem Sinne als soziales Verhältnis zu studieren. Als dem Gen eigentümliche Kapitalformen habe ich Leben, Wissen und Geld konkretisiert. Sie verbinden sich miteinander, verweisen aufeinander und sind für das jeweils andere sowohl Ursache als auch Folge. Das Gen hält sich quasi in ihrer Mitte auf, ohne Mittelpunkt zu sein – eine verstreute Mitte. Ich will das Gen in einer Weise aufspannen, dass daraus ein Gefüge entsteht, in welchem sich Dinge und Menschen, diskursive und nicht-diskursive Praktiken mischen. Ich bezeichne diesen Komplex als Gefüge und beziehe mich auf Deleuze und Guattari, die mit diesem Begriff einen „Komplex von Besonderheiten und Merkmalen [bezeichnen], die der Strömung – selektiert, organisiert und stratifiziert – entnommen werden, so dass sie künstlich und natürlich konvergieren (Konsistenz): in diesem Sinne ist ein Gefüge eine regelrechte Erfindung“ (Deleuze/Guattari 2005: 562). Damit scheint mir ein adäquates Bild gefunden zu sein, mit dessen Unterstützung es gelingt, die Zweiheit des Gens als Anwesendes und Abwesendes deutlich werden zu lassen. Im Gefüge gehen die Erwartungen, 132

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Hoffnungen und Versprechen auf und sie machen es gleichzeitig möglich. Das Begehren nach Mehr ist ebenso Teil davon, wie sämtliche menschliche und nicht-menschliche Akteure/Aktanten, diskursive und nicht-diskursive Praktiken. Folgende Denkbewegung gilt es zu proben: Abbildung 5: Von Linien, Kreuzungen und einem Gefüge

Quelle: Sonja Palfner 2007 In den weiteren Passagen werden ich immer wieder auf diese entworfene Dreiheit des Gen-Kapitals zurückkommen. Die als Linien von mir vorgeschlagenen Kapitalformen werden mir helfen, nicht im Ozean der Gene verloren zu gehen oder auf einer der Gen-Passagen auf Grund zu laufen.

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5. V O M W E R D E N : B R U S T K R E B S -G E N E IN FORSCHUNGSBEWEGUNGEN

„Like all important research, the discovery of BRCA1 has raised more questions than it has answered. Further progress will depend on identifying the biological functions of the gene product, on determining whether other genes on chromosome 17q play a major role in sporadic breast and ovarian cancers, on finding the other genes that cause breast cancer predisposition (BRCA2, ataxia telangiectasia, BRCA3?), and on designing tests other than brute force sequencing that will sensitively and inexpensively detect mutations in BRCA1 and the other genes. The search for BRCA1 has been intense. The fallout from this intensity is that there are now legions of investigators armed with appropriate samples, expertise, and tools who are poised to answer the next, equally important questions about BRCA1 and other breast cancer genes“ (Vogelstein/Kinzler 1994: 3).

Wie ein Blitz schlug BRCA1 in den 1990er Jahren ein. Aber was hatte dies zu bedeuten? Deleuze merkt zum Status des Ereignisses an: „Man beachtet die wahnsinnige Erwartung nicht, die selbst in dem unerwartetsten Ereignis liegt“ (Deleuze 1993: 232). Nun hatte der Wahnsinn der Erwartung eine bestechende Zusammenballung unterschiedlicher Kapitalformen – Leben, Wissen und Geld – aufzuweisen, welche ich in Form von sich kreuzenden Linien skizzenhaft entwickelt habe. So viel war investiert, so viel versprochen und so viel erwartet worden. Die Substanzwerdung des Gens, die seiner gentechnischen Verfügbarmachung gleichkam, war notwendig, weil sonst das Gravitationszentrum der Macht im Gefüge früher oder später implodiert wäre. Anders formuliert: Man brauchte den Beweis, dass molekulare Körper-Interventionen möglich werden konnten und man die Basis dafür – das Gen – in den gentechno135

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logischen Griff bekam. Der technischen Zugriff auf das Gen hieß insbesondere die Gentestung möglich werden zu lassen und so eine molekulare Spur zum Brustkrebs zu legen. Aber nicht nur unter Einbezug der Perspektive der hohen Erwartungen vor der Sequenzierung sollte es gelingen, ein besseres Verständnis dieses fantastischen Dings zu gewinnen, sondern auch, durch die Berücksichtigung nachfolgender Entwicklungen. Man könnte sagen, dass das Ereignis der Entdeckung erst im Verlauf der folgenden Jahre zu dem werden konnte, was es heute ist. Seinen Platz in der Geschichte erhielt das Gen nicht allein aus dem Moment heraus, sondern nachtragend und in der wiederholenden Erzählung von Geschichten. History in Making! Das korrespondierte mit dem stetigen Werden der Brustkrebs-Gene. Im Folgenden gilt es zu zeigen, dass dieser Prozess nicht zu einem Stillstand gelangt ist. Das bedeutet, dass nicht von einem abgeschlossenen oder fertigen Gegenstand gesprochen werden kann. Die Herausforderung besteht darin, zunächst auszuhalten, dass es das Gen als feste Einheit zwischen Raum und Zeit nicht gibt. Wie in Latours variablen Ontologien gilt es zu bestimmen, an welchem Ort und zu welcher Zeit was als Gen existieren konnte (Latour 2002: 115ff.). Was lässt sich unter einer variablen Ontologie vorstellen? Latour entwirft in seinem Buch „Wir sind nie modern gewesen“ eine Denkmöglichkeit des Vakuums, welches weder vollständig als natürliches noch als kulturelles Ding gefasst werden kann, sondern sich verstreut in Zeit und Raum als Verschiedenes aufhält. „Man muss uns außerdem sagen, ob es sich um die Luftpumpe als Ereignis des 17. Jahrhunderts handelt oder um die Luftpumpe als stabilisierte Wesenheit im 18. oder im 20. Jahrhundert. Der Grad der Stabilisierung – der Breitengrad – ist genauso wichtig wie die Position auf der Linie, die vom Natürlichen zum Sozialen geht – der Längengrad [...]“ (Latour 2002: 116).

Es ist also schwerlich nur von einem Vakuum zu sprechen. Zumindest sollte man dieses Eine nicht als das ewig Einzige begreifen. Auf das Brustkrebs-Gen bezogen bedeutet dieser Gedanke, zu versuchen, einige der Existenzmodi des Gens besser zu verstehen. Hierzu möchte ich Forschungsbewegungen, wie sie von 1994 an in die Gegenwart kippten und im Verlauf weniger Jahre zu einem wahrhaft unüberschaubaren Dickicht auswachsen sollten, skizzieren. Eine Anmerkung vorweg: Das zu betrachtende Feld ist für einen Außenstehenden (und wohl auch für Forschungsinsider) hoffnungslos unüberschaubar! Zuviel passiert in vielen Ländern und in noch mehr Laboren auf dieser Welt tagtäglich, als dass ein einzelner Mensch noch in 136

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der Lage wäre, diese Vielheit zu durchschauen oder auch nur nachzuvollziehen. Und noch etwas: Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler sind in der Regel keine Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler. Darin liegt ein Vorteil, will man diese „andere“ Wissenschaft und ihren Laboralltag studieren. Die eigene Fremdheit ermöglicht es, Dinge zu sehen, die in der Normalität des Labors für die dort Arbeitenden gemeinhin unsichtbar sind, weil sie vom Alltag verschluckt werden. Darin liegt gleichzeitig auch ein Nachteil, weil man allzu leicht in den Sog der Naturwissenschaften gerät und von diesem mitgerissen wird. Man möchte verstehen, merkt jedoch bald, dass man in diesem höchst komplizierten und komplexen Feld verloren zu gehen droht. Lost in Translation. Schnell entsteht das Gefühl, dem naturwissenschaftlichen Wissen in seiner rasanten Entwicklung hinterherzulaufen. Der Clou liegt darin, sich im Dazwischen zu situieren, sich der Herausforderung eines Verstehen-Wollens wissenschaftlich-technischer Entwicklungen zu stellen und sich dem Mäandern der Forschungsströme zumindest flüchtig anzunähern.

5.1 Wissens-Wachstum über Brustkrebs-Gene Gen-Funktionen Wie die Brustkrebs-Gene im menschlichen Körper funktionieren war eine der Fragen, welche die Brustkrebs-Genforschung nach 1994 beschäftigte und auch heute noch nicht zu einem Abschluss gebracht wurde. Es ist ein nach wie vor höchst lebendiges und offenes Unternehmen. Von der Funktionsaufklärung erhoffte man sich den Weg hin zu molekularen Therapien einschlagen und damit nicht mehr nur diagnostisch eingreifen zu können. Mutationen auf Genen, die mit Tumorentwicklungen in Verbindung gebracht wurden, so die Vorstellung, böten „Angriffspunkte für neuartige, gezielte therapeutische Eingriffe“ (Blankenstein et al. 1994: 41). Eine Hoffnung, die im Übrigen auch heute noch Gültigkeit besitzt, wie folgend deutlich wird: „Je mehr man weiß, kann man versuchen zu kompensieren, was mit der Mutation ausfällt“ (Scherneck 2006: 7). Ende der 1990er Jahre schien eines klar zu sein: Bei BRCA1 und BRCA2 handelt es sich um sogenannte Tumorsuppressorgene. Was kann man sich darunter vorstellen? Tumorsuppressorgene werden als wichtige Bestandteile unseres Körpers verstanden, welche in jedem menschlichen Körper existieren. Ihnen wird eine Schutzwirkung zugeschrieben. Intakte Gene, so die Annahme, sind für die Regulationsmechanismen des Zellzyklus notwendig. Verlieren sie diese Funktion, so 137

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können sie die Zelle nicht mehr vor unkontrollierter Zellteilung schützen. Neben der Regulationsfunktion hat man weiterhin eine Reparaturfunktion feststellen können, die durch Mutationen auf diesen Genen gestört und somit die Tumorentstehung indirekt beeinflusst werden kann. „Loss of function“ ist zusammenfassend das Charakteristikum von diesen Genen bei der molekulargenetischen Pathogenese der Tumorentstehung. Was gegenwärtig gemeinhin anerkannt wird, ist die Vorstellung über die zwei Schritte zur Inaktivierung der Tumorsuppressorgene. Dieses von Alfred Knutson formulierte Modell sieht folgenden Ablauf vor: Die erste Mutation, wenn es sich nicht um eine spontane somatische Mutation handelt, wird von einem der Elternteile an den Nachkommen über die Keimbahn vererbt. Das zweite Allele ist somit noch nicht betroffen. Die Schutzwirkung des Gens, beziehungsweise des Proteins, geht erst verloren, wenn eine zweite spontane Mutation auftritt. Wenn beide Allele betroffen sind, ist die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöht, da spezifische Proteine nicht mehr gebildet und somit wichtige Funktionen nicht mehr erfüllt werden können. Die zwei zentralen Funktionen, die BRCA1 und BRCA2 und ihren Produkten (Proteine) in den letzten Jahren zugesprochen wurden, liegen im Bereich von Reparatur und Regulation. Die Mutation platzierte sich als bedeutende Gen-Figur im Zentrum des wachsenden Wissens über BRCA1 und BRCA2: „Mutationen in Tumorsupressorgenen bilden die Grundlage der erblichen Disposition für verschiedene Tumoren beim Menschen“ (Scherneck/Jandrig 1997: 1). Prädisponierende Mutationen bei erblichem Krebs befinden sich als sogenannte Keimbahnmutationen in allen Zellen. Überhaupt ist es wichtig zu verstehen, dass alle Menschen Brustkrebs-Gene besitzen. Es sind also nicht die Gene, die spezifisch vererbt werden und krank machen. Es sind in der molekularen Vorstellung über Brustkrebs-Gene Veränderungen auf ihnen, die dazu führen, dass das Gen schließlich bestimmte Eigenschaften verliert. Brustkrebs-Gene machen keinen Brustkrebs, im Gegenteil: in ihrer Funktion schützen sie davor, dass Tumore entstehen können. Erst die Einschränkung ihrer Funktionalität kann bewirken, dass es zur Ausbildung von Tumoren kommt. Aber – und es ist wichtig, sich das ebenso zu vergegenwärtigen, wie der Punkt, dass es nicht Gene sind, die krank machen – es sind nicht einfach die Gene, welchen eine spezifische Funktion zugesprochen werden kann. Es sind vielmehr die sogenannten Genprodukte, Proteine, deren Nicht-Funktion dazu beitragen kann, dass beispielsweise ein Brusttumor entsteht. Für das Gen-ProteinVerhältnis findet man in der Literatur beispielsweise die sprachliche Kopplung „BRCA1 oder 2-Protein“ (siehe Hofmann et al. 1998: 870). 138

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Insofern müsste es eigentlich heißen: „The BRCA1 and BRCA2 gene products are both involved in cellular mechanisms aimed at recognition and repair of damaged DNA, in particular double-stranded DNAbreaks“ (Eccles 2004: iv136). Da die Gene für Proteine codieren, mag man einwenden, dass es insofern auch die Funktion der Gene sei, weil von ihnen letztlich die Proteinfunktion abhängt. Man mag also mein Zurechtrücken sowohl kranker Gene (diese Gene haben alle und sie machen nicht krank!) als auch ihrer Funktionen (sie sind keine Proteine, sondern codieren für bestimmte Proteine!) für unangemessen halten. Warum sollten wir nicht auch sagen können, dass Gene krank machen und sie die Position von Proteinen einnehmen? Es geht mir keineswegs darum, wahres und falsches Wissen identifizieren zu wollen. Vielmehr interessiert mich die Produktivität der Gemische und die Frage nach der spezifischen Ordnung, welche zwischen wahr und falsch unterscheidet. Ich lese dieses sprachliche Verwirrspiel als einen Ausdruck für das Potential, welches im Gen-Begriff steckt und über singuläre Definitionen weit hinausreicht. Ein Blick in die Vergangenheit und Gegenwart der Gene lässt vor allem eines deutlich heraustreten: „Wir sind weiter denn je davon entfernt, ‚das Gen‘ als einfachen Bestandteil der DNS und Träger der Information für eine einfache Polypeptidkette definieren zu können“ (Rheinberger 2006a: 239). Das transformative Potential des Gens bei gleichzeitiger Beständigkeit ist meines Erachtens Teil jener Struktur, die ich als anwesende Abwesenheit oder als abwesende Anwesenheit zu beschreiben versuche. Es zeigt sich hier nicht nur die Produktivität von unscharfen Objekten innerhalb der Forschung, sondern auch innerhalb eines gesellschaftlichen Wissens über die besondere Wirkungsmacht der Gene. In diesem Feld des Wissens verschwindet alles Relationale um die Gene und sie erscheinen als Ursache und Wirkung zugleich. Wie ein schwarzes Loch scheint das Gen alles verschlucken zu können; Krankheit ebenso wie Proteinfunktionen, sowie alle weiteren Fragen nach multiplen Ursachenzusammenhängen für die Entstehung von Brustkrebs. Was auch immer in der Sprache der Naturwissenschaften über die Gene zu sagen möglich ist und möglich sein wird, ist nur ein Teil dessen, was das Gen in verschiedenen Zeiten-Räumen ist. So selbstsicher sich Funktionszuschreibungen auszugeben scheinen, sie sind es nicht. Auf der einen Seite stabilisiert sich das Wissen um die Involviertheit der Gene in Reparatur und Regulation. Auf der anderen Seite scheint sich mit dem Wissenszuwachs hierüber gleichzeitig ein Wissenszuwachs darüber entwickelt zu haben, dass man eine ganze Menge, wenn nicht sogar das meiste, noch nicht über die Gen-Funktionen weiß. Wir befinden uns nicht am Ende einer Entwicklung, son139

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dern mittendrin und den Gedanken, an solch ein Ende gelangen zu können, sollten wir aufgeben. Sich mit Genen zu beschäftigen bedeutet, sie in ihrer Komplexität zu entfalten und das Verschwimmen und Mäandern auszuhalten. „BRCA1 and BRCA2 must not be seen as single components of linear chains of molecules linking DNA alterations to DNA repair. It is increasingly recognized that they are members of complex and versatile protein network(s) involved in multiple functions. They have been associated to transcription regulation and chromatin remodeling, cell cycle and centrosome regulation, apoptosis induction, ubiquitination and protein degradation…“ (Lacroix et al. 2005: 298).

Das Wachstum des Wissens über die Funktionen von GenenProteinen ging mit einem Wachsen des Nichtwissens über eben diese Vorgänge einher. Oder in einem Bild gesprochen: Hinter jeder Tür schienen sich viele neue Türen verborgen zu halten und hinter diesen wieder neue. Darin deutet sich an, was Kamper als Paradoxie unserer Gegenwart markiert: „Das Wissen konnte das Nichtwissen in der Welt nicht verringern, vielmehr ist mit dem Wissen das Nichtwissen gewachsen, und zwar in einer bedrohlichen Weise für den Nichtwissenden. Je mehr man weiß, desto mehr weiß man nicht“ (Kamper 1998: 25). Dieser nicht enden wollende, sich vielmehr in der Bewegung der Wiederholung aufhaltende Prozess behielt bei allen Veränderungen einen Punkt als wiederholt artikuliertes Fixum bei: die Vorstellung therapeutisch auf molekularer Ebene eingreifen zu können und so den Ausbruch einer Krankheit verhindern, ein Leben ohne Krankheit ermöglichen zu können. Als Angriffspunkte im Körperinneren wurden Mutationen ausgemacht. Diese waren jedoch nicht nur in Bezug auf gentherapeutische Zukunftsvisionen interessant, sondern auch für die Herausbildung einer gendiagnostischen Praxis zentral.

Mutationen, UVs und Polymorphismen/SNPs Mit der Bewerkstelligung des technischen Zugriffs auf die BrustkrebsGene konnte man sich ihrem Innenleben zuwenden. Den Mutationen auf BRCA1 und BRCA2 kam eine Schlüsselposition zu. Hier mag es zu Verwirrungen kommen, da Mutation zunächst schlicht als Veränderung aufgefasst werden kann. Im Falle von Brustkrebs-Genen ist Mutation allerdings in der Regel keineswegs ein neutraler Begriff für Veränderung, sondern mit der möglichen Entstehung eines Tumors verbunden und insofern pathogen eingefärbt. Die pathogene Lesart der Mutation ist folgende: Das Auftreten von Mutationen stört die Ausbildung von Protei140

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nen. Die Existenz von Mutationen führt zu einem verkürzten und damit inaktiven oder nicht voll funktionierendem Protein. Insofern war es ein zentrales Anliegen nach der Substanzwerdung von BRCA1 mehr über das Mutationsspektrum auf diesem Gen zu erfahren (und wenig später auch für BRCA2). Dies sollte zu einem besseren Verständnis über die genaue Bedeutung der einzelnen Mutationen für die Tumorenstehung führen. Für die BRD wurde aus den Reihen des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“, welches sich mit der finanziellen Unterstützung der Deutschen Krebshilfe 1997 gründen konnte, eine Studie durchgeführt, welche 2002 im International Journal of Cancer veröffentlicht wurde (siehe German Consortium for Hereditary Breast and Ovarian Cancer 2002). Das Hauptziel dieser Studie war es, für die deutsche Population ein Mutationsprofil zu etablieren und eine Bestimmung von Familien-Typen vorzunehmen. In der untersuchten Gruppe von 989 Personen wurden 140 verschiedene Mutationen gefunden. Davon wiederum waren einige Mutationen in der internationalen Datenbank für Mutationen BIC (www.nchgr.nih.gov/dir/lab [16.5.2007]) zum Zeitpunkt der deutschen Studie noch nicht beschrieben worden, was die deutschen Forscherinnen und Forscher dazu veranlasste anzunehmen, dass diese Mutationen einzigartig für die deutsche Population seinen. Weiter konnten spezifische Mutationen als „common“ charakterisiert werden, was wiederum zu der vorsichtigen Annahme führte, dass „a stepwise mutation testing for BRCA1 and BRCA2 genes may be devised considering the frequencies of recurrent mutations as well as the familial background of the counsellees“ (German Consortium for Hereditary Breast and Ovarian Cancer 2002: 476). In Bezug auf die Typenbildung von Familien konnte festgestellt werden, dass die deutschen Daten mit verschiedenen anderen Länderstudien vergleichbar waren, da in allen Studien die höchste Frequenz an Mutationen in jenen Familien gefunden wurde, die man für die deutsche Population vom Verbundprojekt mit Typ A und Typ B beschrieben hatte. Dieses waren Familien mit zwei oder mehr Fällen an Brustkrebs mit einem Krankheitsausbruch unter 50 Jahren (A1), mindestens einem Fall von männlichem Brustkrebs (A2) und einem oder mehreren Fällen von Brustkrebs und mindestens einem Fall von Ovarialkrebs (B). Die ausdifferenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Typen zeigte, dass die Wahrscheinlichkeit eine Mutation zu finden stieg, wenn viele Erkrankungsfälle (Brust- und Ovarialkrebs) in einer Familie vorhanden waren. Auch das Erkrankungsalter (unter 50 Jahre) spielte eine zentrale Rolle.

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Der Forschungsgegenstand Mutation als potentiell krankmachende Veränderung ordnet sich in ein älteres Begehren der naturwissenschaftlichen Forschungen ein, durch die Gewinnung von Erkenntnissen über den pathologischen Zustand, Erkenntnisse über den normalen Zustand gewinnen zu können. Bei François Jacob erfahren wir: „Die experimentelle Physiologie verursachte mit mechanischen oder toxischen Mitteln von außen Zerstörungen im Organismus. Die Molekularbiologie ruft sie durch Mutationen von innen hervor“ (Jacob 2002: 283). Und es lässt sich anschließen, dass für die Brustkrebs-Gene eben jene Menschen/Familien gefunden und Forschungsmaterial hergestellt werden musste, wo man glaubte, diese Mutationen finden zu können. Sie konnten den Menschen schlecht beigebracht werden! Insofern waren die Laborpraktiken von Beginn an mit Krankheit als menschlichem Erleben, als Erkrankung, konfrontiert und vor allem auch angewiesen. Mir scheint, dass diese Verzahnung mit zu den Bedingungen gehörte, dass es zwischen Phäno- und Genotypen zu Grenzverwischungen kommen musste. Die Krankheit Brustkrebs und die eventuell krankmachende Mutation vermischten sich. Von der Bewegung her könnte man sagen, dass das Pathologische in die Gene einzog und die Gene in das Pathologische. Insofern ist das Missverständnis Brustkrebs-Gen – diese Gene würden den Krebs machen – nicht als falsch oder abwegig zu betrachten, genauso wenig wie die Vorstellung Krankheiten oder spezielle kranke Gene würden vererbt werden. Auch in der medizinischen Praxis findet man nicht selten die Äußerung „Wenn man das Gen geerbt hat …“. Natürlich wissen die medizinischen Expertinnen und Experten, dass man nicht besondere Gene, sondern besondere Mutationen auf diesen Genen vererbt. Außerdem existiert ein Wissen darüber, dass eine Mutation nicht automatisch zu einer Erkrankung führen muss. Ich denke, dass man an dieser Stelle verstehen kann, warum eine Unterscheidung zwischen Wissen und Wissenschaft, wie sie Foucault vorgeschlagen hat, produktiv ist. Er schreibt: „Eine Wissenschaft nimmt, wenn sie einmal konstituiert ist, nicht all das auf sich und in die ihr eigenen Verkettungen auf, was die diskursive Praxis bildete, in der sie erscheint; sie löst auch das sie umgebende Wissen nicht auf, um es in die Vorgeschichte der Irrtümer, der Vorurteile oder der Einbildungskraft zu verweisen“ (Foucault 1981: 262).

Das wissenschaftliche Wissen wäre hier jenes über pathogene Mutationen auf Genen und ihren Zusammenhang mit einer möglicherweise auftretenden Krankheit. Das Wissen über kranke Gene hingegen durchzieht als eine diskursive Praxis unsere Gesellschaft und ist nicht disziplinär 142

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gebunden. Es steht jedoch nicht außerhalb des wissenschaftlichen Herstellungsprozesses von Erkenntnissen, sondern ist Teil davon. Nun fand man aber nicht nur als pathogen eingestufte Mutationen, sondern auch eine ganze Reihe Veränderungen, von denen man nicht wusste, was sie in Bezug auf das Protein zu bedeuten hatten. Diese Veränderungen wurden als Unklassifizierte Varianten (UVs) bezeichnet. Bis heute stellt sich die Frage nach der Einordnung dieser Veränderungen in krankmachend und normal. Die UVs sind ist ein Beispiel für das Mäandern der beiden Brustkrebs-Gene zwischen ihrem diagnostischen Alltag und ihrem Dasein als Gegenstände der Forschung: „Da ist relativ wenig bekannt und das ist ein großes Handicap bei der Diagnose. Sie finden so einen UV und sie können nicht sagen, ist das nun pathogen oder nicht-pathogen. Das ist immer noch ein dunkler Fleck und da versucht die ganze Welt Modelle zu finden, wie man das aufklären kann. […] Das ist eines der Dinge, was in nächster Zeit ganz intensiv angegangen werden muss und auch schon angegangen wird“ (Scherneck 2006: 7).

Neben Mutationen und UVs befinden sich sogenannte Polymorphismen oder auch SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) auf den Genen. Polymorphismus meint zunächst lediglich eine DNA-Sequenz-Variante, wohingegen SNP ein Polymorphismus ist, welcher nur eine einzelne Base betrifft. Im Gebrauch der Begriffe Polymorphismus und SNP habe ich allerdings in den Redeweisen des Laboralltags der Arbeitsgruppe Tumorgenetik keinen Unterschied feststellen können. Hatte man sich nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 vor allem mit der Frage nach der Bedeutung von Mutationen beschäftigt, rückten neben den UVs auch die Polymorhismen immer weiter in das Zentrum des Forschungsinteresses: „Es wird immer mehr von Polymorphismen gesprochen, die solche Ereignisse auslösen können. Zur Zeit sind Mutationen noch sehr wichtig, aber wir orientieren uns auch schon etwas um“ (Scherneck 2006: 16). Das Wissen über das Innenleben der Gene differenzierte sich in kürzester Zeit beachtlich aus. Darauf folgten weitere neue Suchbewegungen und Unbekannte, die es zu erforschen gab. BRCA1 und BRCA2 erfreuten sich eines ungeheuren inneren Wachstums. Sie wurden von Mutationen, Polymorphismen und UVs bevölkert und alle diese Dinge wurden zu Gegenständen wissenschaftlichen Begehrens. Hatte man BRCA1 Mitte der 1990er Jahre technisch in den Griff bekommen, entwickelten sich in seinem Inneren und aus ihm heraus gleichsam neue Forschungsgegenstände. Das Brustkrebs-Gen gelangte zu seinem neuen Status als stabile Umgebung für die Erkundungen von Mutationen, UVs und SNPs. Eine Bewegung vom epistemischen zum technischen Ding. 143

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Auf der einen Seite gewann es mit zunehmendem Wissen um Mutationen an Stabilität. Die Mutation wurde dabei zur Krankheit und die Krankheit wurde zur Mutation. Damit skizziere ich eine Tendenz und keine wissenschaftliche Wahrheit. Ob es im Falle des Vorhandenseins einer Mutation zu einer Erkrankung kommen sollte oder nicht, war keine Frage auf die eine 100-prozentige Antwort möglich war. Auf der anderen Seite weitete sich das Feld des Wissens auf UVs und den SNPs aus. Damit blieben die beiden Brustkrebs-Gene gleichzeitig vage und forschungsoffen. Folgende Bewegung ist auszumachen: Abbildung 6: Die Bewegung des Brustkrebs-Gens

Quelle: Sonja Palfner 2007 Es scheint, als würde es einen pathogenen Sog geben, welcher von den Mutationen ausgehend die Polymorphismen erfasst. Anders formuliert: Auch das vermeidlich Normale kann krank machen; wir wissen es nur noch nicht! Die Ordnung, in welcher diese Bewegungen bis in die Gegenwart passieren, ist eine zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Abweichung und Normalem. Zunächst schienen die Entitäten voneinander getrennt zu existieren. Entweder waren die Veränderungen pathogen oder sie waren nicht-pathogen. Mit dem UV trat ein Ding auf, welches sich im Dazwischen aufzuhalten schien: „Das heißt, da kann man nicht sagen, ob das ein Polymorphismus oder eine pathogene Mutation ist. Das ist so ein Zwischending“ (Meier 2006: 2). Die Aufgabe bestand und besteht darin, dieses unbestimmte Ding in die Ordnung zwischen Krankheit und Gesundheit zu bringen und zu klassifizieren. Gleichzeitig wurden die SNPs immer relevanter und gelangten so in das Reich des (potentiell) Pathologischen: „Heute weiß man inzwischen, dass es auch sogenannte SNPs gibt, die wir als benign bezeichnet haben, die aber durchaus mit einem moderaten Risiko einhergehen können. Also selbst da wird sich zukünftig noch etwas ändern“ (Meier 2006: 5). 144

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5.2 Über das Schrumpfen v o n B R C A1 u n d B R C A2 Mit den beiden Genen waren bestimmte Versprechen und Erwartungen verbunden. BRCA1 besaß keinen eigenen Wert, sondern erhielt in und durch die Interaktionen verschiedenen Linien: Hoffnungen und Erwartungen der Wissenschaft, der Patientinnen, der Medizin und der Geldgeber (ob Stiftungen oder andere Unternehmen) im Gen, genauso wie Versprechen und Versprechungen. Wissenschaftlichen Erfolg, Hilfe, Heilung und nicht zuletzt Geld sollte das Brustkrebs-Gen (ein)bringen. Es liegt schon fast auf der Hand, dass diese großen Ziele kaum in Gänze erfüllt werden konnten. Bereits 1994, also im Jahr der Entdeckung von BRCA1, wurde festgestellt: „Moreover, some kindreds with a strong breast cancer history are unlinked to markers on either Chromosome 17 or 13“ (Vogelstein/Kinzler 1994: 3). Und nur wenige Jahre später war sicher: „By 1996, it was clear that a substantial percentage of breast cancer families do not carry mutations in either of these two genes, indicating the probable existence of additional cancer-susceptibility genes. This led Mike Stratton and others to pursue the putative BRCA3 gene“ (Narod/Foulkes 2004: 673). Man könnte auch sagen, dass die Substanzwerdung der Gene mit ihrem Schrumpfen einherging. Man sah im Stammbaum, dass da etwas – sprich Mutationen oder Anderes – sein musste, aber man fand nicht, was man erwartete. In den Familien, genau genommen in ihren DNAs, hätten pathogene Veränderungen gefunden werden müssen. Und dann stellte sich heraus, dass man in sehr vielen Fällen keinerlei solcher Mutationen fand. Abgesehen davon, dass in verschiedenen Veröffentlichungen zur Finderate von Mutationen Schwankungen der Angaben existieren, konnten durch die Arbeiten innerhalb des deutschen Verbundprojektes populationsspezifische Daten generiert werden, welche die Vorhersage über das Vorliegen einer Mutation in einer spezifischen Familie konkretisierten. Wenn beispielsweise Mamma- und Ovarialkarzinome in einer Familie auftreten würden, dann läge die Nachweisrate einer Mutation bei 53 Prozent, wohingegen bei Familien mit mindestens zwei erkrankten Frauen unter 50 Jahren in 37 Prozent der Fälle Mutationen nachgewiesen werden könnten (Schmutzler et al. 2002: A1373). Insgesamt ist bei allen Ausdifferenzierungen in Familientypen und Heterozygotenwahrscheinlichkeiten zu vermerken, dass die Verantwortlichkeit der beiden Gene – genauer gesagt, der sich darauf befindlichen pathogenen Mutationen – über die Jahre prozentual nach unten korrigiert wurde:

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„In mutierter Form sind die beiden Gene zusammengenommen für etwa 6070% der hereditären MC verantwortlich“ (Scherneck/Hofmann 1999: 373). „Nach ersten Erfahrungen im Verbundprojekt ,Familiärer Brust- und Eierstockkrebs’ der Deutschen Krebshilfe ist das BRCA1- und das BRCA2-Gen nur für etwa die Hälfte der erblich bedingten Mammakarzinom-Fälle verantwortlich“ (Koch 2001: A-1365). „Bisher sind zwei Erbanlagen (Gene) bekannt, deren Veränderungen (Mutationen) insgesamt für ca. 30% der Fälle von familiärem Brust- und Eierstockkrebs verantwortlich sind: das BRCA1-Gen auf Chromosom 17 und das BRCA2-Gen auf Chromosom 13“ (aus einem Beratungsbrief der Humangenetik 2006).

Es war nicht nur so, dass man weniger Pathogenes auf den beiden Genen fand, als man angesichts der Stammbäume erwartet hätte. Es schien, dass sich insgesamt der gewünschte schnelle Weg zum Erfolg als unerwartet zäh erwies. Dies betraf zum einen die erhoffte Entwicklung therapeutischer Möglichkeiten auf molekularer Ebene. So konnte man 2004, also zehn Jahre nach der Sequenzierung von BRCA1, lesen: „However, applications of BRCA-1 or BRCA-2 gene replacement in breast cancer are not currently in progress“ (Osborne et al. 2004: 370). Zum anderen musste die Hoffnung auf einen schnellen und erfolgreichen Brückenschlag hin zum sporadischen Krebs aufgegeben werden. Man war von der Annahme ausgegangen, dass die bei erblichen Tumoren relevanten Gene auch bei nicht-erblichen Krebserkrankungen relevant seinen. Alsbald wurde jedoch deutlich, dass sich eine einfache Übertragung auf sporadische Tumoren als problematisch erwies: „In the early 1990s, it was anticipated that although germline BRCA1 mutations are rare, a much greater proportion of breast cancers might be attributable to somatic mutations in BRCA1. […] It was therefore surprising that alterations of single base pairs in the BRCA1 coding region are rarely associated with breast cancer or ovarian cancer“ (Narod/Foulkes 2004: 671).

Und auch die „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) von BRCA2 konnte nicht die Erwartungen erfüllen. Was man im Stammbaum sah, fand man nicht auf molekularer Eben wieder. Das, was eintreffen sollte, geschah nicht. Im Gegenteil, die Substanzwerdung der beiden Gene schloss nicht den Spalt zwischen Erwartung und Erfüllung, sondern sperrte ihn weiter auf. Es schien etwas eingetreten zu sein, was Rheinberger für die Virusund Phagenforschung der 1940er und 1950er Jahre beschreibt: „Der Teil 146

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ist in diesem Fall zum Ganzen geworden – was dann problematisch wird, wenn dieses Ganze aus der unüberschaubaren experimentellen Welt in die Welt komplexer Systeme zurückprojiziert wird, aus der es einst als winziges Teilchen ausgesondert wurde“ (Rheinberger 2006a: 15). Auch die beiden Brustkrebs-Gene konnten nicht das Ganze sein. Ihre Tragweite reichte weder hin zum sporadischem Krebs noch zur Gentherapie! Diese Ernüchterung lohnt es genauer zu studieren. In einer Logik des Hinübergleitens und Übersetzens wissenschaftlicher Entwicklungen in eine medizinische Praxis könnte man meinen, dass die Wirkungsmacht der Gene mit den enttäuschenden Ergebnissen zu Nichte gemacht worden wäre. Ein Blick in die Gegenwart lehrt uns allerdings, dass die medizinische Praxis der Gendiagnostik funktioniert(e) – auch wenn nicht alles möglich wurde, wie man es sich erhofft hatte. Wenn also von Gen-Schrumpfungen die Rede ist, dann gilt es zu konkretisieren, wo genau dies passiert und welche Effekte damit verbunden sind. Ich meine, dass die Gen-Schrumpfung in einer Logik des wissenschaftlichen Begehrens nach Neuem betrachtet werden sollte. Sie stellte einen enormen Forschungsattraktor für neues Wachstum dar. Ein kurzer Ausflug in die Geschichte(n) der Krebsforschung erinnert daran, dass wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder zusammenschrumpften; auf Hoffnungen Enttäuschungen folgten. Einen Eindruck dieser Bewegung des Wiederholens gewinnt man aus folgender Äußerung: „Mehrere Male bereits erschien der Sieg über diese Urkrankheit greifbar nahe, das Rätsel der bösartigen Zelle endgültig gelöst. Immer wieder aber folgte auf die Hoffnung Enttäuschung und Resignation, mussten allzu kühne Erwartungen der Forscher eine schmerzliche Korrektur erfahren“ (Bäumler 1967: 7). Wenn auch in einem anderen sprachlichen Duktus könnte Bäumlers Beschreibung aus den 1960er Jahren über die Krebsforschung ohne Weiteres auf den Zustand der BRCAForschung an der Schwelle zum neuen Jahrtausend übertragen werden. Das Ereignis der Entdeckung des Brustkrebs-Gens verband sich mit einer wiederkehrenden Bewegung des Enttäuscht-Werdens. Gleichzeitig blieb das Versprechen auf Fortschritt und Heilung in sich ebenfalls wiederholenden Schleifen existent, wobei es sich gentechnologisch in molekulare Sphären verschob: „Ich bin der Meinung, dass viele unserer Erkrankungen – Krebs auf jeden Fall – haben eine molekulare Ursache. Dafür gibt es so viele Beispiele und wir gehen mit fürchterlich groben Maßnahmen an sie heran. Eine Erkrankung, die molekular entsteht, muss molekular erkannt und molekular bekämpft werden. […] Wir betreiben immer noch symptomatische Medizin. Ich gehe davon aus,

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dass wenn wir die Ursache molekular erkennen können, sie auch molekular bekämpfen können“ (Untch 2006: 7).

Es mag Enttäuschungen über die Brustkrebs-Gene gegeben haben. Aber gerade das Nicht-in-Erfüllung-Gehen und Missglücken waren zentrale Antriebskraft des weiteren Arbeitens. Die Gene gerieten ins Schwanken – und das war auch gut so. Auf dem vermeintlichen Gipfel angekommen, sah man forschenden Blickes, dass es erst ein kleiner Hügel war auf dem man sich befand. Doch am Horizont ließen sich unzählige verheißungsvolle kapitale Gebirgsketten erahnen. Wie in einem weiteren Schritt zu zeigen sein wird, vervielfältigte sich die Forschung auf wunderbare Weise. Sprich, falls es Ermattungen über BRCA1 und BRCA2 gegeben haben mag, wichen diese einem Willen zum Wissen in den sich entfaltenden Möglichkeiten, Neues zu erforschen. Es kam nicht dazu, die Vorstellung von dominanten Genen zu verwerfen. Die Schrumpfung von BRCA1 und BRCA2 machte vielmehr Platz für das sogenannte Kandidatengen BRCAx. Ich will an dieser Stelle einschieben, dass meine Darstellung der Forschungsflüsse nicht an jene Komplexität von wissenschaftlichen Entwicklungen heranzureichen vermag, die tagtäglich passieren. Die Wissensexplosionen auf diesem Feld der Wissenschaft sind kaum von Experten einzufangen; wie sollte ich also derartiges zu leisten in der Lage sein? Daher werden die folgenden Darlegungen ein sehr vereinfachendes Moment in sich tragen. Aber ich meine, dass es anhand der von mir ausgewählten Beispiele gelingt, etwas von der ungeheuren Dynamik und Vielschichtigkeit der Brustkrebs-Genforschung einzufangen.

5 . 3 Ü b e r d a s W a c h s e n vo n N e u e m : B R C Ax Was passierte, als man feststellte, dass die beiden Gene nicht die Potenz erbrachten, die man erwartet hatte, als sogar Schritt für Schritt eine Potenzschrumpfung festgestellt werden musste? Man kam, sah und sagte sich: Wenn die beiden Gene nicht alles erklären können, dann muss es noch weitere Gene geben. Sie galt es zu suchen – eine Suche, die bis in unsere Gegenwart reicht. „Sie sehen diese Familie. Sie sagen, da muss irgendetwas sein. Das ist eben die Suche nach dem vermeintlich Dritten. Bei solchen Familien muss ein dominantes Gen vorhanden sein. Bei anderen würde ich sagen, dass da Polymorphismen oder andere Dinge eine Rolle spielen. Aber es gibt eben Familien, wo man sagt, da muss irgendetwas sein“ (Scherneck 2006: 17).

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Nach 1994 hat es immer wieder Meldungen über neue relevante Gene gegeben, ohne dass sie auch nur annähern die medizinischen Effekte mit sich brachten, wie BRCA1 und BRCA2. Das bekannteste Gen in diesem Zusammenhang war wohl CHEK2, welches Anfang des neuen Jahrtausends von sich reden machte, weil auf ihm Veränderungen in sogenannten Hochrisiko-Familien gefunden wurden (siehe etwa CHEK2 Breast Cancer Case-Control Consortium 2004: 1175-1182). Auch wenn Hoffnungen bestanden haben mochten, dass für CHEK2 ebenso die Testung etabliert werden konnte, wie für die beiden anderen Brustkrebs-Gene, in der Bundesrepublik Deutschland kam es nicht dazu. Vor allem wurde deutlich, dass CHEK2 nicht ausreichend penetrant war, dass es als drittes Gen nach BRCA1 und BRCA2 fungieren konnte, wie Narod und Foulkes (2004: 674) feststellen. Die Unschärfe in der Beziehung zwischen dem Modell Familiärer Brustkrebs und dem Forschungsgegenstand Brustkrebs-Gen veranlasst also keineswegs dazu, an der Vorstellung, dass es noch weitere Gene geben müsste, zu (ver-)zweifeln. Man brauchte seine wissenschaftliche Logik nicht zu verlassen und sein angesammeltes Forschungsmaterial nicht zu verwerfen, sondern konnte weiterhin sagen: „BRCA1/BRCA2-negative families from these groups [sogenannte Hochrisikogruppen, S.P.] can now be used for the identification of such genes [Kandidatengene, S.P.], by applying transcription analysis or screening of candidate genes involved in tumor initiation or progression“ (German Consortium for Hereditary Breast and Ovarian Cancer 2002: 479).

Ich habe argumentiert, dass der Familiäre Brustkrebs zu seiner Bedeutung gelangte, weil er für die Forschung ein gutes Modell darstellte. Dieses hat sich über die Jahre halten können, weil nach wie vor eine Leerstelle zwischen den Stammbäumen und den molekulargenetischen Testungen von BRCA1 und BRCA2 existiert. „Wenn man eins findet und weiß, das deckt nicht alles ab, dann sucht man weiter“ (Scherneck 2006: 38). Außerdem muss man bedenken, welchen Stellenwert der Familiäre Brustkrebs als Materialgenerator besaß. An der Suche nach BRCAx ist zu sehen, wie langlebig Forschungsmaterial sein kann. Einmal gesammelt, kommt es immer wieder zum Einsatz, wie im Fall der Suche nach BRCAx anhand von Material aus BRCA1 und BRCA2 negativen Familien. Je länger der gewünschte Erfolg, die Entdeckung weiterer Gene, auf sich warten lies, desto mehr machten sich auch Zweifel breit, ob diese Suche überhaupt zu einem Ende gebracht werden konnte. 2004 hatte man immer noch kein drittes Gen gefunden, sodass Narod und Foulkes 149

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in einem Überblicksartikel zu BRCA zu dem Schluss kamen: „BRCA3 remains elusive. If there is a BRCA3, it ought to have been found by now“ (Narod/Foulkes 2004: 673). Mit den beiden Brustkrebs-Genen schien die Entwicklung der Forschung nicht weiterzugehen und zu stocken: „Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Ich weiß nicht, ob wir das BRCAx noch finden oder nicht. Ich denke, wir haben eine Art Stagnation bei diesem BRCA-Thema. Aber vielleicht kommt mal wieder ein kleiner Push nach vorne durch weitere Erkenntnisse aus dem Labor, wo wir doch etwas finden. Ich weiß es nicht. Wir haben so etwas auch in den 1990er Jahren gehabt und plötzlich kam das 1994 wie eine Lawine und dann zwei Jahre später hatte man das BRCA2. Also ich sehe da gewisse Chancen, dass wir doch noch mal etwas finden“ (Untch 2006: 10).

Die Feststellung, dass die Gene BRCA1 und BRCA2 nicht alle Fragen beantworten konnten, mag auf der einen Seite enttäuschend gewesen sein. Aber vor allem führte diese Leerstelle zu neuen Forschungen. Man kann sich dieses Umhertappen und Tasten gut vorstellen. Da man offensichtlich mit der Suche nach BRCAx an Grenzen stieß, musste etwas passieren! Entweder hätte man die Suche aufgeben können – was angesichts der erwarteten Mehrwerte (Geld, Wissen und Leben) vermutlich kaum in Betracht gekommen wäre. Oder man hätte seine Forschungen neu ausrichten müssen. Und genau so etwas trat ein: „Es ist offen. Es ist unbekannt. Man sucht nach allem. […] Im Augenblick laufen große Assoziationsstudien. Dort versucht man Genvarianten zu finden, die mit einem erhöhten Brustkrebsrisiko oder einem generellen Krebsrisiko korrelieren. Diese Studien sind erst jetzt möglich geworden, weil man vorher nicht die technischen Möglichkeiten hatte. Aber das ist immer noch ein Problem. 500.000 Veränderungen, die man analysiert, reichen noch nicht aus. Weil: Es gibt viel mehr! Etliche Millionen Veränderungen“ (Heinz 2006: 10).

Mittels der Entwicklung neuer analytischer Werkzeuge wurde es erst möglich, die im Zitat angedeuteten Größenordnungen zu bewältigen. Technischen Bedingungen, vor allem die sich entwickelnden Hochdurchsatz-Techniken, stecken den Möglichkeitsrahmen für das Erscheinen des epistemischen Dings BRCAx ab. Sogenannte Haplotyp-Karten entwickelten sich.

Neue Gen-Dimensionen In der Brustkrebs-Genforschung passierte etwas Wichtiges: Neue Wege wurden eingeschlagen und dabei die bestehenden Beziehungen und Be150

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teiligten neu gemischt. Man kann nicht einfach sagen, dass sich zwar die Beziehungen verändert haben, die Dinge jedoch gleich geblieben sind. Auch wenn sich Namen oder Aussagen vielleicht nicht änderten, je nach Zusammenhang konnten sie dennoch etwas Verschiedenes sein. Ich habe dargelegt, dass das Modell so lange seine Funktion behalten wird, wie es mit dem zu Repräsentierenden nicht zur Deckung gelangt. Weiter kann ein Modell jedoch auch ein ganz anderes Schicksal erleiden: Ein ganzes Experimentalsystem kann sich verändern und damit kann das noch in diesem System hervorragend funktionierende Modell auslaufen. Nehmen wir das Brustkrebs-Gen. BRCA3 oder BRCAx ist auch heute noch der Name für ein epistemisches Ding, welches die Forschung im Dunkeln tappen lässt. Der Name stellt eine Beziehung zu BRCA1 und BRCA2 her. Besonders deutlich wird dies in der Zählung 1, 2, 3. Was uns der Name allerdings nicht verrät ist, inwiefern das potentiell neue Gen noch etwas mit BRCA1 oder BRCA2 gemein hat. Ich komme auf den Begriff der Haplotyp-Karte, wenn auch nur schwankend und äußerst vorsichtig, zurück. Vorsichtig, weil ich die Technologie nicht im Rahmen meiner Studie erfassen, sondern zugegebenermaßen nur laienhaft streifen kann. Ich habe dargelegt, dass man für Brustkrebs in sehr vielen Fällen nicht im Sinne eines Mendelschen Erbgangs eine Erklärung (ein dominantes Gen inklusive pathogener Mutationen) finden konnte und sich die Erkenntnisse aus der Brustkrebs-Genforschung nicht einfach auf den sporadischen Brustkrebs übertragen ließen. Hier kamen die SNPs und die im Zitat von Sabine Heinz angesprochenen Assoziationsstudien ins Spiel. Noch vor wenigen Jahren fand die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen auf der Grundlage von Kandidatengen-Hypothesen statt. Man fokussierte spezifische Genorte. Erst seit 2005 lassen sich genomweite Assoziationsstudien durchführen. Dies passiert auf der Grundlage einer Haplotyp-Karte des Menschen. Die Erstellung dieser wiederum umfasst „die Genotypisierung aller SNP-Loci mit ihren Varianten, die Zusammenfassung gemeinsam vererbter SNPs zu Haplotypen und das Finden charakteristischer tag-SNPs für jeden Haplotyp“ (Adam-Radmanic 2007: 16). Man könnte geneigt sein, die Konjunktur dominanter und für Krankheiten disponierender Gene in den 1990er Jahren mit dem Boom von SNPs und genomweiter Assoziationsstudien der Gegenwart zu vergleichen. In dem Moment, in dem ich diese Zeilen schreibe, bewegen sich die Forschungsströme unendlich verzweigt in verschiedenste Richtungen weiter. Am 28. Mai 2007, brachte es folgende Meldung auf die Titelseite des Guardian (International edition): „New breast cancer genes identified“ (Curtis 2007:1). Diese Meldung bezieht sich auf eine OnlinePublikation in Nature und Nature Genetics vom 27. Mai 2007: „Ge151

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nome-wide association study identifies novel breast cancer susceptibility loci“ (Nature vom 28. Juni 2007: 1087ff.). Die vorgestellten Studien(ergebnisse) lieferte eine internationale Forschungs-Kollaboration um Douglas F. Easton von der Universität Cambridge. Insgesamt werden in der Veröffentlichung 147 teilnehmende Gruppen/Institutionen aufgeführt; eine Zahl die deutlich macht, in welchen Größenordnungen (bezogen auf Forschungsmaterial, auf erforderliches kollaboratives Humankapital und technische Kapazitäten) sich die Brustkrebs-Genforschung zunehmend bewegt. Es seien vier neue Gene gefunden worden und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – wer hätte das gedacht! – gingen davon aus, noch ein fünftes zu finden. Diese vier Gene, so die Annahme der Forschenden, seien für das erhöhte Brustkrebsrisiko unter den teilnehmenden Frauen der Studie verantwortlich. Die identifizierten Gene sollen, neben den bekannten Genen, für vier Prozent der Erkrankungen disponieren und damit nur für eine kleine Anzahl von Brustkrebserkrankungen (ca. 179 von 44.000 Diagnosen jährlich) verantwortlich sein. Drei Aspekte sind, wie mir scheint, hervorzuheben. Erstens wurde im Guardian mit der Entdeckung ein ultimatives medizinisches Ziel prospektiert: das genetische Screening zur Erfassung von Frauen mit einem Krankheitsrisiko. Diese Hoffnung wurde in der bekannten Chancen-Risiken-Doppelstruktur mit dem Hinweis auf die Gefahren einer möglichen Konstruktion von gesunden Kranken angereichert. Zweitens wurde Douglas F. Easton im Guardian mit der Aussage zitiert, dass die gewonnenen Erkenntnisse die Tür zu neuen Forschungsrichtungen aufgestoßen hätten. Und drittens wird Karol Sikora, „a leading cancer specialist“ so der Artikel, zitiert: „This set of incredible papers points to the future understanding [of] the genetics of cancer“ (zitiert nach Curtis 2007: 1). Der Wachstumsgedanke ist offensichtlich! Es geht nicht mehr um eine kleine Ziel-Gruppe, wie wir sie beim Ein- und Ausschluss mittels des Familiären Brustkrebses vorfinden. Das Modell verliert an Kraft: „Indeed, low penetrance genes cannot be easily tracked through families, as is true for dominant high-risk genes“ (Lacroix et al. 2005: 298). Nicht mehr die Frage nach einem familiären Risiko, sondern nach einem individuellen Risiko schiebt sich in den Fokus des Möglichen: Jedem oder besser gesagt jeder, sein/ihr eigenes SNP-Muster. Damit vervielfacht sich das potentielle Anwendungsfeld. Das Brustkrebs-Gen bleibt also weiterhin ein noch zu wissendes und zu entdeckendes Ding. Dabei ist es notwendig zu verstehen, dass das Brustkrebs-Gen der aktuellen Forschungen nicht mit demjenigen vergangener Forschungen identisch ist. Es hat sich verstreut und in Pathways und SNP-Muster gewandelt. 152

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So ist und bleibt es in Bewegung: „Ein wissenschaftliches Objekt ist ein Phänomen, das in einen Berichtigungsprozess gezogen wurde; es ist aber nun nicht ein für allemal konstituiert, vielmehr bleibt es ein wissenschaftliches Objekt nur dadurch, dass es beständig neu konfiguriert und berichtigt wird“ (Rheinberger 2006a: 44). Nicht nur das, was man unter dem Gen zu verstehen in der Lage ist, hat sich verändert, sondern auch und damit zusammenhängend das gesamte Experimentalsystem, in welchem es auftritt.

Vom Gen zur Interaktion und zu verstreuten Zuständen Betrachten wir genauer, was an neuen Genen entdeckt wurde. In genomweiten Assoziationsstudien wurde in der DNA kranker und gesunder Frauen nach SNPs geforscht. Die Frage war, ob bestimmte SNPVarianten bei den kranken Personen (Fallgruppe) häufiger auftraten als bei der Kontrollgruppe. Es wird also eine Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp erforscht. SNPs sind jene Veränderungen, die bis vor wenigen Jahren als normale Bestandteile des menschlichen Erbguts verstanden wurden und deshalb keineswegs von vornherein als pathogene Forschungsobjekte ausgemacht wurden. SNPs sind nämlich solcherlei Veränderungen, die den Menschen von seinen Mitmenschen unterscheiden. Und genau diese Veränderungen wurden für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend als krankheitsassoziierende Sequenzvarianten interessant. Es zeigt sich der pathogene Sog auf molekularer Ebene. In der Süddeutschen Zeitung liest sich dies dann so: „Sie [die SNPs, S.P.] machen jeden Menschen einzigartig, dahinter verstecken sich aber auch die Veranlagungen für Krankheiten“ (Grabar 2007: 20). Von den Genen zu SNPs und Haplotyp-Mapping. Das Gen wird verrückt, wobei die Zeitungsmeldung vorsichtige Töne bezüglich des Forschungserfolges anklingen lässt. Mary-Claire King wird dementsprechend zitiert: „Sie sprechen von Genen, doch keine der Veränderungen liegt tatsächlich in einem Gen, sondern höchstens in dessen Nähe“ und es wird weiter ausgeführt: „Welche Auswirkungen die SNP’s haben, sei völlig unbekannt. Zudem seien solche Untersuchungen hochgradig von der Statistik abhängig“ (Grabar 2007: 20). Man merkt, wie kompliziert es ist, von dem Gen für Brustkrebs zu sprechen. Was ist das Gen? Im Rahmen des internationalen Forschungsverbundes mit dem Namen ENCODE (the ENCyclopedia Of DNA Elements) äußerte sich im Sommer 2007 der Direktor des National Human Genome Research Institutes Francis S. Collins über das Werden des Genwissens folgenderweise:

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„Because of the hard work and keen insights of the ENCODE consortium, the scientific community will need to rethink some long-held views about what genes are and what they do, as well as how the genome’s functional elements have evolved. This could have significant implications for efforts to identify the DNA sequences involved in many human diseases“ (siehe www.genome. gov/25521554 [21.11.2007]).

Bezogen auf die Genomforschung explodiert das Wissen. Vieles weist darauf hin, dass das Gen – im Singular – mehr und mehr seine Bedeutung einbüsst oder anders formuliert: „Die Relativierung des Gens ist in vollem Gange“ (Rheinberger 2006a: 238), weil es sich in enorme Komplexitäten von genetischen Netzwerken mit ihren Routen (Pathways) verschiebt. Für die Brustkrebs-Gene habe ich die Spur in Richtung genomweiter Analysen angedeutet. Die Mitte ist überall! Dies zeigt Effekte auf den als potentiellen Anwender vorgestellten Menschen. Jeder, und nicht mehr nur Menschen aus dem eingeschränkten Kreis von charakterisierten Familien, besitzt seine individuelle pathogene Signatur, die gleichzeitig normal ist und ihn überhaupt von anderen Menschen unterscheidet.

Von der Mutation zum Muster „Es ist nicht mehr unbedingt so, dass man eine Mutation haben muss. Bisher ging das Denken davon aus, dass man sagte: ‚Ich brauche im Gen eine Mutation und wenn ich die Mutation auf einem Allel oder auf beiden Allelen habe, dann bekomme ich einen Tumor‘. Es ist heute vielmehr so, dass ein spezifisches Muster, also ein spezifisches Genmuster, SNP-Muster, verantwortlich für unterschiedliche Expressionen von Genen, nicht nur eines Gens, sondern mehrere Gene, sein könnte. Denn es ist unwahrscheinlich, dass nur ein Gen verantwortlich für eine Krankheit ist. Es wird immer andere beeinflussen. Es kann zwar ein wichtiger Schalter sein und wenn man den aus- oder einschaltet, dann passiert nichts mehr. Bloß dann sind mehrere Gen-Pathways an der Sache beteiligt. Das ist jetzt zwar noch sehr theoretisch, aber so ein Hauptgedanke ist, dass man diese Polymorphismen mehr in Anschau nimmt und guckt, wie sehen die bei Tumorpatienten aus und wie sehen die bei normalen Patienten aus. Und wenn man da was findet – aber wie gesagt, da braucht man eine Vielzahl von Untersuchungen von riesigen Patientenkohorten. Dann könnte man so etwas machen, wie wir eben diskutiert haben. Wir sagen, der kommt aus einer Familie, wo eine große Belastung vorliegt. Jetzt gucken wir danach, wie sieht sein SNP-Muster aus. Und dann kann man sagen: ‚Sie könnten einen Tumor bekommen‘ oder ‚Sie könnten keinen bekommen‘. Was auch nicht sehr schön für den Betreffenden ist, wenn ein Genetiker sagt: ,Sie bekommen einen Tumor‘“ (Scherneck 2006: 10f.).

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Damit gelangen wir nun in einen letzten Nebenarm der Genforschungsströmung: die Entwicklung von Gen-Chips als prognostische Entscheidungshilfe beim Einsatz von Tumortherapien.

5.4 Hoffnung Gen-Chips: Molekulares Wissen im therapeutischen Feld Brusttumoren metastasieren häufig an unterschiedliche Orte des menschlichen Körpers, jedoch verstärkt in Knochen und in das Hirn. Welche Therapieformen wann zum Einsatz kommen sollen, wer eine Chemotherapie benötigt und wer nicht, welche Heilungsaussichten damit verbunden werden können und warum, sind Fragen der Krebsforschung und des klinischen Alltags von Krebsbehandlungen. Auch wenn man die hohen Erwartungen an die Brustkrebs-Genforschung, nicht nur auf Heilung, sondern auf Verhinderung von Erkrankung durch molekulare Reparaturen, immer wieder zurücknehmen musste, blieben sie in die anwesende abwesende Zweiheit des Gens eingeschlossen. In dieser bleibt Platz für den gentherapeutische Traum, der keineswegs an der Schrumpfung der beiden Gene platzte: „Wenn eine Mutation in der Keimbahn vorliegt, müsste man die in allen Zellen reparieren. Da denke ich, kommt man technisch hin“ (Heinz 2006: 19). Aber nicht nur das Versprechen auf gesunde Gene, sondern auch der Einsatz genetischen Wissens in der Entscheidung für Therapien bei einer diagnostizierten Krebserkrankung gehören zum Repertoire, welches sich um die Brustkrebs-Gene gruppieren konnte. Eine Entwicklung in diesem Zusammenhang schien besonders vielversprechend: Gen-Chips. Diese Chip- oder Mikroarray-Technologie stellt sein nunmehr ca. 15 Jahren ein sich weiter entwickelndes Analysewerkzeug dar, welches ein immer größeres Anwendungsspektrum umfasst. DNA-Oligonukleotide werden auf dem Chip aufgebracht und mittels eines weiteren Arbeitsschrittes kann die Aktivität der auf dem Chip aufgebrachten Gene in Zellen und Geweben und eben auch in diversen Krankheitsausprägungen (zum Beispiel bei Tumoren) bestimmt werden. 2005 veröffentlicht eine niederländische Forschergruppe im Lancet ihre Ergebnisse zur Prognostizierbarkeit der Neigung zur Metastasierung bei Brustkrebspatientinnen anhand von Gensignaturen. Sie identifizierten 76 Gene. Diese sollten mittels eines Gen-Chips helfen, eine Aussage darüber zu treffen, ob eine Chemotherapie nötig sei oder nicht, ob zu erwarten sei, dass der Tumor metastasiert oder nicht.

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„Das hat enorme Vorteile. Frauen mit solchen Tumoren, die ein aggressives Verhalten zeigen, bekommen fast alle eine Chemotherapie oder Bestrahlung. Und wenn man in dem Prognose-Set sieht, dass keine Metastase kommt, dann kann man das alles auslassen. Das ist nicht nur eine Geldfrage, sondern für die Frauen eine unheimliche Entlastung, denn das Schlimmste sind diese Nachbehandlungen und nicht so sehr das Rausschneiden des Tumors“ (Scherneck 2006: 35).

Eine andere entwickelte Chip-Variante mit dem Namen CupPrint® dient zur Bestimmung von Primärtumoren bei Patienten mit Cup-Syndrom (Cancer of Unknown Primary), welches bei ca. vier Prozent aller Krebserkrankungen auftritt. Es soll Aussagen darüber möglich machen, ob es sich bei dem diagnostizierten Tumor um den ersten Herd oder schon um eine Tochtergeschwulst handelt. Dieses Mikroarray-Produkt wurde 2006 von der Prüf- und Zertifizierstelle für Medizinprodukte in den Niederlanden, dem Dutch Healthcare Inspectorate, zugelassen. CupPrint® ist in Europa über das Vertriebsnetz von Agendia erhältlich. Dieses Unternehmen ist weltweit bei der Entwicklung und Vermarktung von diagnostischen Tests auf der Basis von Genexpressionsanalysen führend (siehe www.agendia.com). Dies ist nur ein Hinweis auf den großen Markt der Wissenschaften, des Lebens und des Geldes, der sich um diese neue Technologie entwickelt. Ein letztes Beispiel zur Chip-Technologie: In der Bundesrepublik Deutschland haben 2006 Ärztinnen und Ärzte zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und der dortigen Universitäts-Frauenklinik ein spezifisches Genaktivitätsprofil gefunden, welches Brusttumoren charakterisiert, die durch eine Dreifach-Therapie komplett eliminiert werden sollen. Mit einem so genannten Gen-Chip lässt sich laut ihrer Studie dieses Aktivitätsmuster an Biopsiematerial nachweisen (siehe Thürigen et al. 2006). Die Entwicklung von Mikroarrays/Gen-Chips beziehungsweise sogenannter Prognose-Sets scheint für den medizinischen Absatzmarkt vielversprechend zu sein. Jedoch können wir in diesem Forschungsfeld auch sehen, dass die Dinge komplizierter liegen, als vielleicht erhofft: „Die Gensets, die für die Prognose verwendet werden sollen und in verschiedenen Laboren identifiziert worden sind, haben fast keine Übereinstimmung. Man würde erwarten, dass fast immer die gleichen Gene auftauchen. Dem ist aber nicht so. Die sind völlig unterschiedlich. Und wenn man untersucht, welche Pathways betroffen sind, sieht man, dass sich das auf nur einige wenige konzentriert. Das bedeutet, wir müssen mit einer viel größeren Vielfalt rechnen als bisher angenommen, weil so ein Pathway kann aus Hunderten von Ge156

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nen bestehen. […] Das Ganze wird sehr kompliziert werden oder es ist schon kompliziert“ (Scherneck 2006: 15).

5 . 5 V o m W e r d e n o h n e An f a n g u n d E n d e Die Brustkrebs-Gene waren und sind in einem enormen Forschungsfluss. Ich habe argumentiert, dass die Schrumpfungen von BRCA1 und BRCA2 – man fand Mutationen auf diesen beiden Genen oftmals nicht, eine Übertragung auf sporadische Krebse erwies sich als schwierig, eine unmittelbare gentherapeutische Umsetzung rückte in Ferne – einhergingen mit einem enormen Wachstum an wissenschaftlichem Wissen bei gleichzeitigem Wachstum eines Nichtwissens über Gene (Polymorphismen, UVs und Mutationen) und einer Explosion an neuen Forschungszweigen, die sich aus den aufgetretenen Leerstellen entwickelten. Neue Forschungsgegenstände rückten in wissenschaftliche Praktiken ein und insgesamt wandelten sich die technischen Bedingungen der BrustkrebsGenforschung enorm. Das alles passierte nicht losgelöst von einer medizinischen Praxis, sondern war mit ihr verwoben. Das Material der Forschung war und ist auch das Material der Diagnostik. Und mit Forschung und medizinischer Praxis wiederum waren Begehren einer InWert-Setzung dieser verschiedenen Unternehmungen und ihrer Kapitalformen (Leben, Wissen, Geld) verwoben. In dieser Passage sollte deutlich geworden sein, dass man nur schwerlich von Resultaten auf die Entwicklungen schließen kann. Vielmehr gilt es den Blick wie folgt zu verschieben: „Die Prozesse sind Werden, und diese lassen sich nicht nach dem Resultat beurteilen, das sie beendet, sondern nur nach der Qualität ihres Verlaufs und der Stärke ihres Fortgangs“ (Deleuze 1993: 213). Die vorgestellten Forschungen sind durchzogen von Linien des Werdens von Wissen, wobei die verschiedenen Existenzen des Wissens nicht unterschlagen werden sollten. Denken wir an die Forschungen zu SNP-Mustern, die prospektiv Aussagen über ein individuelles Erkrankungsrisiko ermöglichen sollen, dann sehen wir, wie das Pathologische in das Normale einbricht. Oder aber das Pathologische aus dem inneren Ausschluss aus dem Normalen ausbricht. Dieses Werden sehen wir in den Verkettungen von Mutationen, UVs und SNPs – von Genen, Netzwerken und Pathways. Es ist ein Werden, welches nicht bei Punkt A anfing und bei Punkt B aufhören wird. Die Linien des Wissens inkluieren jedoch nicht nur verschiedene Formen des Wissens, sondern auch ein Pulsieren des Wissens zwischen Wachstum und Schrumpfung. In diesem Sinne kann also die Linie des Werdens von 157

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Wissen immer nur in ihrer Vielheit und in ihren Relationen adäquat erfasst werden. An einem Kreuzungspunkt trifft Wissen auf Geld. Geld wird investiert, um neues Wissen zu generieren, welches wiederum erstens zu Mehr-Geld und zweitens zu Mehr-Leben führen soll. Treffen sich Geld und Wissen an einem Kreuzungspunkt, so wird man sagen können, dass Geld zu einem Teil des Wissens wird. Genauso wird Wissen zu einem Teil der Vermehrung des Geldes. Eine dritte Linie oder Kapitalform, das Leben, wird schließlich mit diesen beiden kurzgeschlossen. Für solche Zusammentreffen haben Deleuze und Guattari ein sehr anschauliches Beispiel gefunden, welches ich zur Erhellung des Gesagten anführen möchte: „In der Linie oder im Block des Werdens, der die Wespe und die Orchidee vereint, entsteht eine gemeinsame Deterritorialisierung: die der Wespe, insofern sie ein befreites Stück des Reproduktionsapparates der Orchidee wird, aber auch die der Orchidee, insofern sie zum Objekt des Orgasmus der von ihrer eigenen Reproduktion befreiten Wespe wird“ (Deleuze/Guattari 2005: 400).

Im Folgenden wende ich mich weiteren interessanten Begebenheiten zu, die parallel, aber auch mit den Forschungsbewegungen verquickt, dort passierten, wo ein gendiagnostisches Begehren zu seiner institutionellen Verfasstheit fand: Kreuzungspunkt hierfür ist das Jahr 1997, in welchem das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“, finanziert durch die Deutsche Krebshilfe, auf den Weg gebracht wurde.

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6. V E R B U N D P R O J E K T „F AM I L I ÄR E R B R U S T U N D E I E R S T O C K K R E B S “: S T U D I E Ü B E R E I N E N I N S T I T U T I O N AL I S I E R U N G S P R O Z E S S

In dieser Passage gilt es Herausbildungsprozesse der Institution Verbundprojekt in den Blick zu nehmen und sie damit einer Analytik zugänglich zu machen, welche die Institution nicht als objektive, neutrale oder versachlichte Black Box voraussetzt, sondern deren Ziel es ist, sie zu verflüssigen und in Bewegung zu setzen. Die Arbeitsgruppe Tumorgenetik war von Beginn ihrer Forschung an in einem Gemisch aus Medizin und Forschung beheimatet. Man war mittendrin: auf der einen Seite bemüht, eine Trennungsarbeit zwischen diesen beiden Ordnungen zu leisten („Wir forschen nur“) und auf der anderen Seite daran beteiligt, die Grenzziehungen zu unterlaufen. Schließlich war man auf Material (Blutproben und Stammbäume) und damit auf Familien/Menschen angewiesen. Indem das eigene Forschungsbegehren auf das Begehren nach Hilfe von Seiten der Familien/Menschen traf, rückte das auf eine Zukunft projizierte Versprechen in eine Gegenwart der Empfehlung zur Früherkennung ein. Allerdings gab es vor der Sequenzierung, welche die Herstellung einer molekulargenetischen Testung möglich werden ließ, noch keinen besonderen institutionellen Rahmen für eine genmedizinische Praxis bei Brustkrebs. Man könnte sicherlich anmerken, dass ein Aufkommen des Bedürfnisses nach medizinischer Institutionalisierung erst mit der technologischen Substanzwerdung, also ihrer gentechnischen Verfügbarmachung, der beiden Brustkrebs-Gene Mitte der 1990er Jahre angereizt worden sei, da man vorher nicht sicher wusste, was es (also das Gen) sein würde. Einer deterministischen Logik folgend wäre so die Überführung in eine medi159

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zinische Praxis erst auf der Grundlage der wissenschaftlichen Tatsache des Brustkrebs-Gens möglich gewesen. Zudem könnte man zu bedenken geben, dass eine medizinische Praxis schon deshalb nicht möglich gewesen wäre, weil es noch keinen Test für die beiden Brustkrebs-Gene gab. Zwei Dinge sind daran bei näherer Betrachtung verwirrend: Erstens hätte eine medizinische Praxis (intensivierte Früherkennung) sehr wohl anhand von Familienwissen und Stammbäumen stattfinden können. Zweitens kam man nach der Sequenzierung Mitte der 1990er Jahre recht bald zu der Erkenntnis, dass die genetische Testung in vielen Fällen nicht zu einer diagnostischen Klärung beitragen konnten, weil man häufig keine pathogenen Mutationen auf den Genen fand. Molekulargenetische Testungen stellten sich also oft nicht als die erwünschten diagnostischen Helfer heraus. Und dennoch: Das Schrumpfen der Gene, also das Zurechtrücken der Versprechen im Zuge ihrer auf die Wirklichkeit projizierten Materialität, ging mit einem Wachstum an ihrer institutionellen Verfasstheit einher. Dies passierte in der Bewegung einer neuen interdisziplinären Praxis im Werden des Verbundprojektes; einer institutionalisierten Praxis also, welche es im Jahr 2005 sogar bis zur Übernahme medizinischer Maßnahmen in die Regelversorgung der Krankenkassen – zunächst auf einen Zeitraum von drei Jahren begrenzt – geschafft hat. Man könnte leicht dahin kommen, diese Entwicklung als eine Erfolgsgeschichte von Bench to Bedside zu lesen. Zwei Fragen drängen sich auf, durch welche die glatte Oberfläche des zu beschreibenden Institutionalisierungsprozesses gestört werden soll. Was genau bedeutet Erfolg oder „was gilt wann, unter welchen Umständen und mit welchen Mitteln, auch mit welchen Kosten erzielt als Erfolg“ (Narr 1980: 146)? Wenn die Gene in Wirklichkeit so wenig an Versprechen hielten, wie ist dann zu verstehen, dass es dennoch in einer kurzen Zeitspanne zur Etablierung einer Gendiagnostik von BRCA1 und 2 im Rahmen eines – in diesem Zusammenhang neu geschaffenen! – intensivierten Früherkennungsprogramms „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ kommen konnte?

6 . 1 1 9 9 5 : Ad h o c z u m H a n d e l n g e z w u n g e n Mit der Entdeckung der beiden Gene Mitte der 1990er Jahre und den daran anschließenden sich vervielfältigenden Forschungen, kam es in der Folgezeit nicht nur zu Ernüchterungen bezüglich ihrer biologischen Wirkungsmacht, sondern auch zu zahlreichen Unternehmungen in der BRD, die sich schließlich 1997 zu einem Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ verdichten sollten. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin war die Gründung einer Ad-hoc-Gruppe „Familiärer 160

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Brustkrebs – BRCA1 Gen“. Die Gruppe wurde Mitte der 1990er Jahre durch das Bundesministerium für Gesundheit einberufen. Damit betrat ein neuer, gesundheits-politischer Akteur das Gefüge. Wie kam es dazu? Zufälle spielten eine nicht unbedeutende Rolle für den Gang der bundesdeutschen Brustkrebs-Gen-Geschichte. Eine Protagonistin in dieser Entwicklung war Gabriele Hundsdörfer, von 1976 bis 2005 Mitarbeiterin im Bundesgesundheitsministerium. Unter der Federführung des Bundesgesundheitsministeriums baute sie das seit 1979 bestehende und ressortübergreifend arbeitende „Gesamtprogramm zur Krebsbekämpfung“ leitend mit auf, unter dessen Dach sich die Ad-hocGruppe konstituieren konnte. Hundsdörfer lernte Scherneck nach der Wiedervereinigung Anfang der 1990er im Zusammenhang mit der Gründung des MDC kennen. Das MDC wurde als Stiftung des öffentlichen Rechts im Januar 1992 unter der Leitung von Detlev Ganten gegründet. „Von den Instituten und Kliniken der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR wurden trotz ihrer Abwicklung wesentliche Forschungsaufgaben des Zentrums der biomedizinischen Forschung in der DDR, bis 1991 repräsentiert durch die drei Zentralinstitute für Krebsforschung, Herz-Kreislaufforschung und Molekularbiologie in Berlin-Buch, in das 1992 als Großforschungseinrichtung gegründete Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch überführt“ (Bielka/Hohlfeld 1998: 119f.).

Ohne auf diese Prozesse im Rahmen meiner Arbeit eingehen zu können, sei dennoch daran erinnert, dass die Wiedervereinigung kein Spiel Gleichberechtigter gewesen ist. So wurde die „Behandlung der außeruniversitären Institute der Akademie der Wissenschaften […] ausdrücklich in Artikel 38 des Einigungsvertrages festgelegt mit der Maßgabe der ‚Einpassung‘ der wissenschaftlichen Einrichtungen in die gemeinsame Forschungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland“ (Bielka/Hohlfeld 1998: 114). In den nicht unproblematischen Prozessen deutsch-deutscher Überführung/Vereinigung/Einpassung trafen sich also eine Mitarbeiterin des Bundesgesundheitsministeriums, welche maßgeblich im „Gesamtprogramm zur Krebsbekämpfung“ wirkte und ein Biowissenschaftler der ehemaligen Bucher Einrichtungen der Akademie der Wissenschaften am Knotenpunkt der Einpassung der Bucher Einrichtungen in die bundesdeutsche Forschungslandschaft. Und dann passierte Folgendes: „Eines Tages rief mich Herr Scherneck an und sagte: ‚Das BRCA1 Gen ist jetzt sequenziert. Es wird demnächst sicherlich von den Amerikanern ein Test auf den Markt geworfen, den sich die Frauen aus dem Internet oder sonst wo bestellen können und wer weiß, was dann passiert.‘ Da habe ich gesagt: ‚Al161

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lerdings, dann haben die Frauen plötzlich einen positiven Befund, wissen gar nicht, was sie damit machen sollen und stürzen sich aus dem nächsten Fenster.‘ Deswegen habe ich gesagt, dass wir jetzt alle zusammenrufen. Wie weit sind wir denn? Wie weit ist so ein Test überhaupt machbar? Für wen ist er, wer soll ihn machen? Wie weit sind die Molekularbiologen? Wie ist das mit so einem standardisierten Test? Wir haben die Ethiker dazu genommen und natürlich die niedergelassenen Ärzte, denn die sind ja zunächst an der Front, wenn die Frauen kommen. […] Dann die Humangenetiker, die dann die Aufklärung machen und natürlich die Kliniker. […] Wir haben diese Gruppen zusammengerufen. Und meine Arbeit im Rahmen des Gesamtprogramms ist es gewesen, die alle an einen Tisch zu bringen, nicht ein Mal, sondern mehrfach. Und ich hatte von vornherein, weil ich wusste, dass der Forschungsminister, der dieses Programm mitträgt, kein Geld spezifisch für das Brustkrebs-Gen investieren wollte, die Krebshilfe mit dazu eingeladen. Und die haben sich dieses große Projekt auf die Fahnen geschrieben und gemacht“ (Hundsdörfer 2006: 3f.).

Die Klonierung und Sequenzierung von BRCA1 markierte einen zentralen Katalysator für Prozesse der Institutionalisierung medizinischer Brustkrebs-Gen-Praktiken, weil damit der Weg zur Entwicklung eines Gentests offen lag. Darüber hinaus war mit der genetischen Diagnostik von Brustkrebs-Genen eine Tür zur Erprobung einer medizinischen Praxis auf molekularen Füßen möglich geworden, die sich nicht mehr nur auf jene genetischen Krankheiten mit einer nahezu bis vollständigen Penetranz, wie beispielsweise Huntington, richtete. Man könnte auch sagen, dass die Brustkrebs-Gene eine Art medizinisches Experimentierfeld für prädiktive Praktiken eröffneten: „According to Koenig et al. (1998), testing for BRCA1&2 mutations may become the first widespread use of presymptomatic genetic testing in general medical pracitice for common adult onset diseases, givin concrete expression to predictive Medicine“ (Bouchard et al. 2004: 1086). Die Relevanz von Familiärem Brustkrebs lag nicht nur in der forschenden Hoffnung auf eine Übertragung molekulargenetischer Erkenntnisse hin zu sporadischen Brustkrebsen. Sie weitete sich auf medizinische Praktiken aus. Ich habe den Eindruck, dass der Familiäre Brustkrebs nicht nur ein Modell für die Forschung im Labor darstellte, sondern auch ein gutes Modell abgab, um die Etablierung und den Einsatz prädiktiver Medizin zu erproben und zu erforschen. Und nicht nur das! Auch für Fragen der Gesetzgebung im Hinblick auf ein in den 1990er Jahren diskutiertes Gendiagnostikgesetz schienen die Brustkrebs-Gene vielversprechend zu sein: „Wir deklinieren es jetzt am Brustkrebs einmal durch, um zu wissen, woran man denken muss, was man machen muss, was notwendig ist“ (Hundsdörfer 2006: 4). Das Brustkrebs-Gen 162

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erschien also in mehrfacher Hinsicht als wertvoll. Genau diese Vielheit trug wohl dazu bei, dass es eine besondere Wirkungsmacht entfalten konnte, sodass sich verschiedene diskursive und nichtdiskursive Praktiken, Menschen und Dinge um es gruppieren konnten. War zuvor die medizinische Praxis ein eher störendes Nebenprodukt bei der Erforschung der Gene gewesen („Wir können nichts machen, wenden Sie sich an Ihren Arzt“), wurde sie 1995 nicht nur möglich, sondern, wie das Zitat anzeigt, geradezu zwingend erforderlich. Mitte der 1990er Jahre kam es, angetrieben vom Gentest, zu Bewegungen um die beiden Brustkrebs-Gene BRCA1 und BRCA2 herum. Weitere Mitspieler wurden hinzugezogen, neue Beziehungen entstanden. Vor allem trat die Humangenetik in ihrer Funktion als Beratungsinstanz bei genetisch bedingten Krankheiten in Erscheinung. Für die Initiatorin der Ad-hocGruppe, Gabriele Hundsdörfer, war es zudem eine Notwendigkeit, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Klinikerinnen und Kliniker in die Runde einzubeziehen. Die Niedergelassenen, weil sie „zunächst mal an der Front [sind], wenn die Frauen kommen“ und die Klinikerinnen und Kliniker, „weil man ja dann überlegen muss, was bietet man den Frauen denn an, wenn sie positiv getestet sind“ (Hundsdörfer 2006: 4). Sollten die Ärztinnen und Ärzte somit einen anderen Status erhalten haben: von Materiallieferanten zu Partizipanten an einem gemeinsamen Tisch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die zuvor im Großen und Ganzen einen Kontakt lediglich zur Materialgenerierung gesucht hatten? Das erste Treffen der Ad-hoc-Gruppe fand im Sommer 1995 statt. Ziel war es, zu einem gemeinsamen Vorgehen all jener Kräfte zu gelangen, die mit Familiärem Brustkrebs und BRCA1 befasst waren, beziehungsweise in Zukunft befasst sein sollten und wollten: von der Forschung über die Klinik bis zur humangenetischen Beratung. Damit entsprach das Ziel der Gruppe der übergeordneten Zielsetzung des Gesamtprogramms zur Krebsbekämpfung, nämlich durch Koordinierung und Kooperation verschiedenster Akteure (ärztliche und wissenschaftliche Organisationen, Förderorganisationen, Sozialversicherungsträger et cetera) zu Verbesserungen in den Bereichen der Krebsvorbeugung, der Früherkennung und der Versorgung zu gelangen. Ich werde im Folgenden anhand eines mir zur Verfügung stehenden Ergebnisvermerks des ersten Treffens dieser Ad-hoc-Gruppe den Faden des Institutionalisierungsprozesses hin zum Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ aufnehmen.

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Ist-Zustände und Perspektiven: Ein Aussagenfeld Betrachten wir zuerst die Äußerungen von Seiten der Forschung. Es wurde festgehalten, dass es nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 weiterhin zahlreiche Erkenntnisdefizite gebe. Dies betreffe genauso medizinische Fragen, unter anderem nach der klinischen Relevanz der neuen Erkenntnisse und ihrem prognostischen Wert, wie wissenschaftliche Fragen, beispielsweise in Bezug auf die Interaktionen der Gene mit anderen genetischen und nicht-genetischen Faktoren. Scherneck stellte fest, dass es diesbezüglich in der BRD an einer etablierten Kooperation fehle, während in anderen Ländern die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet bereits gelänge. Ein Wissensdefizit wurde auch von genetisch-epidemiologischer Seite festgestellt. Vor allem wurde darauf hingewiesen, dass nur für wenige Fälle von Brust- und Ovarialkrebs eine genetische Disposition verantwortlich zu machen sei (fünf Prozent) und dass von diesen wiederum nur ein Drittel der Brustkrebse und zwei Drittel der Ovarialkrebse auf BRCA1 zurückzuführen seinen. Wenn jedoch eine Mutation vorhanden sei, hätte die betroffene Person ein hohes Erkrankungsrisiko. Aufgrund der vielen bestehenden Unklarheiten wurde auf die Dringlichkeit größerer Datenbasen sowie deren Auswertung hingewiesen. Von klinischer Seite wurde ein Überblick über die Betreuung von Brustkrebspatientinnen gegeben. In der anknüpfenden Diskussion zeigte sich, dass eine molekulargenetische Diagnostik zwar Hinweise für die Wahl der Therapie geben könnte, es aber zum vorliegenden Wissensstand nicht möglich sei, aus der Diagnostik Schlüsse mit weitreichenden Folgen (z.B. keine brusterhaltene Operation bei einem BRCA1 Mutationsnachweis) für die Betroffenen zu ziehen. Es wurde der Anstoß gegeben, eine Familienanamnese in die Erfassung der Daten onkologischer Patientinnen und Patienten zu integrieren. Neben Forschung und Klinik wurde als dritter Bereich die Frage nach der genetischen Beratung thematisiert: Erstens müsse es eine offene Beratung geben, die eine eigenständige Entscheidung des zu Beratenden ermögliche. Damit wurden zentrale Leitprinzipien von genetischer Beratung angesprochen: Nicht-Direktivität, Wertneutralität und informierte Zustimmung. Diese setzten sich Ende der 1970er Jahre durch und fanden Eingang in das Positionspapier zur genetischen Beratung der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik aus dem Jahr 1996. Auf dem Ad-hoc-Treffen konstatierte man, dass der sich ergebende Bedarf an einer humangenetischen Beratungsstruktur nicht gedeckt sei. Zweitens wurde darauf hingewiesen, dass oftmals das genetische Risiko von den Frauen überschätzt würde und dass es im Rahmen der Beratung aufgrund des aktuellen Wissensstandes nicht möglich sei, konkrete Emp164

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fehlungen zu geben. Schließlich unterstrich man, dass eine Beratung (trotz des bestehenden Wissensdefizits) unbedingt notwendig sei, weil es die Möglichkeit zur Testung gebe: „Allerdings ist nicht zu verkennen, dass häufig genug die entsprechenden auch international diskutierten Beratungsempfehlungen nicht zum Tragen kommen, wenn erst ein Produkt zur Testung auf bestimmte genetische Faktoren auf dem Markt ist, das Nachfrage erzeugt“ (Ergebnisvermerk der Ad-hoc-Gruppensitzung vom 07.08.1995).

In einem weiteren Tagesordnungspunkt berichtete ein Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Tumorgenetik über die Mutationstestung und stellte die Kosten der Testung pro Patientin oder Patient dar, die sich 1995 auf ca. 3500 DM beliefen. Im Bericht einer anderen mit BRCA-Testung befassten bundesdeutschen Gruppe wurde unterstrichen, dass es unbedingt eine Zusammenführung der Daten geben müsse, um die Befunde sicherer werden zu lassen. Und schließlich wurde noch aus der Sicht eines Molekularpathologen dargestellt, wie ein abgestimmtes Vorgehen bei der BRCA-Diagnostik aussehen könnte. Auch wenn von Scherneck bereits zu diesem ersten Treffen ins Auge gefasst worden war, dass sich eine Arbeitsgemeinschaft „Familiärer Brustkrebs“ gründen müsse, kam es auf dem Treffen der Ad-hoc-Gruppe noch nicht dazu. Vielmehr wurden zunächst fünf Arbeitsgemeinschaften ins Leben gerufen: Epidemiologie, Pathologie, Genetische Beratung, Klinik, Molekulare Diagnostik. Diese sollten sich in der Folgezeit separat treffen. Aus den Reihen der Ad-hoc Gruppe entstand sehr wohl bereits 1995 ein gemeinsames Papier, in welchem ein Verbundprojekt anvisiert wurde. Darin heißt es: „Es wäre erstrebenswert, wenn sich sämtliche Zentren, die sich mit BRCA1Genuntersuchungen befassen wollen, in einem Deutschen Brustkrebskonsortium zusammenschließen, um ihre Forschungsaktivitäten zu koordinieren, methodisch anzustimmen und die Ergebnisse auszutauschen. Ein entsprechender Entwurf wird vorbereitet“ (Chang-Claude/Scherneck 1995: 2).

Es dauerte jedoch noch einige Zeit, bis es zur Gründung des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ kam. Mit der Finanzierung durch die Deutsche Krebshilfe wurde schließlich im Jahr 1997 (es findet sich ebenso 1996 als Jahresangabe) die Bedingung der Möglichkeit für ein Verbundprojekt gegeben.

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Aussagenfeld Es gibt bald einen genetischen Test, der für jede Person frei verfügbar ist – was passiert dann? Wir müssen mehr Wissen; nicht nur über die medizinische Relevanz des genetischen Wissens, sondern auch über die Gene selbst. Es gibt die unbedingte Notwendigkeit der Generierung neuen Wissens, verbunden mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer Zusammenführung der gewonnenen Informationen. Ein spezifisches, offenes Beratungskonzept ist erforderlich. Dieses sollte eine eigenständige Entscheidung des zu Beratenden ermöglichen und keine konkreten Empfehlungen aufgrund des noch defizitären Wissensstandes beinhalten. Eine Beratung ist vor allem notwenig, weil die Möglichkeit der Testung eine Nachfrage in der Bevölkerung hervorbringe. Das Angebot macht die Nachfrage!?

Ein wichtiger Schritt in Richtung Institutionalisierung von Gendiagnostik war getan. Alle Akteure waren sich einig, dass die Testung der Gene kommen würde, und dass sie keine Privatangelegenheit werden durfte. Es kann an dieser Stelle kaum darum gehen, die wahren Gründe für die Motivationen der beteiligten Akteure herauszufinden. Dass es divergierende Positionen, beziehungsweise Wahrnehmungen auf die Positionen der anderen Beteiligten gab, deutet sich in folgendem Rückblick aus der Perspektive der Initiatorin an: „Es knistert natürlich immer zwischen den Laborleuten und den Klinikern“ (Hundsdörfer 2006: 16). Wahrheit verstehe ich mit Foucault nicht als ein Ensemble von wahren Dingen, sondern als ein „System der Veridiktion“, in welchem Regeln bestimmen, „welches die Aussagen sind, die als wahr oder falsch charakterisiert werden können“ (Foucault 2006: 60) und wo das Wahre mit spezifischen Machteffekten belegt wird (siehe auch Foucault 2003: 66f.). Um solch ein Ensemble, welches seine institutionelle Verfasstheit in Form des Verbundprojektes finden sollte, wird es jetzt gehen. Ich denke, dass man quer zu möglichen widerstreitenden Positionen und Äußerungen auch jenes Ensemble von Regeln ausmachen kann, nach denen Aussagen existierten und funktionierten, die in ihrem Zusammenspiel über das singuläre Äußern hinaus eine Dauer und Wirkungsmacht besaßen. Bei der Betrachtung des obigen Aussagenfeldes wird meines Erachtens deutlich, wie Mitte der 1990er Jahre um die Brustkrebs-Gene und die Möglichkeit der Testung herum zwei Verdichtungen erschienen, die 166

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ganz eng miteinander verwoben wurden. Die erste handelt vom Wissen und die zweite vom Menschen.

Der Wille zum Wissen Über die Forschungsströme des Wissens haben wir bereits in der letzten Passage viel erfahren. Es schien für alle Beteiligten die unbedingte Notwendigkeit der Generierung neuen Wissens gegeben zu haben, verbunden mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer Zusammenführung der gewonnenen Informationen. Der Test – und das war das Entscheidende – bildete sowohl die Möglichkeit, das Begehren nach Mehr-Wissen zu befriedigen, als auch die Gefahr der Zerstreuung der Grundlagen des Wissens. Sprich, dort wo Tests frei verfügbar sein sollten und sie jede Person anwenden konnte, bestand die Gefahr, dass eine Gewinnung von Daten und Forschungsmaterial nicht mehr möglich war. Das bedeutet: Wenn man weiterhin forschen wollte, dann musste man einen Rahmen schaffen, der dies ermöglichte. Mit dem Test war die Möglichkeit gegeben, das wissenschaftliche Unternehmen fortzusetzen, allerdings mit einer entscheidenden Neujustierung: Es sollte nun in ein interdisziplinäres Projekt eingefasst werden. Damit veränderte sich nicht nur die Zusammensetzung der Beteiligten, sondern auch die Qualität der Einbettung in einen medizinischen und institutionellen Zusammenhang Klinik. Die Forschung wurde gleichsam Teil eines medizinischen Projekts, in dessen Gravitationszentrum sich die molekulargenetische Testung festsetzte. Der Test wurde so zum einen zu einer Art indirekten Existenzbeweis der Brustkrebs-Gene und zum anderen zu ihrem Stabilisator. Was man testen konnte, musste vorhanden sein. Aber vor allem mussten Informationen geliefert werden können. Was die molekulargenetische Testung betraf, so zielte sie nicht nur in Richtung diagnostischer In- und Exklusionen auf Seiten medizinischer Praktiken, sondern auch auf Informations- und Materialgewinnung auf Seiten der Forschung. Auf dieses Mäandern der Testpraxis macht Bourret in ihrer Studie über BRCA in Frankreich aufmerksam und platziert die Mutation als Key Player zwischen Klinik und Forschung (Bourret 2005: 54). Diese Verschaltung von Forschung und Medizin im Auge zu behalten ist nicht unwichtig, insbesondere wenn man über die Bedeutung des Tests nachzudenken beginnt. Betrachten wir zunächst skizzenhaft den Test in seiner gesellschaftlichen Einbettung: In ökonomischen Rationalisierungsbewegungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde das arbeitende Subjekt von Persönlichkeits- und Eignungstests erfasst, um besser in den Produktionsprozess eingepasst zu werden. Doch schnell breitete sich diese Technik auf weitere gesellschaftliche Bereiche aus und so ist für unsere Gegenwart festzuhalten: „Wir sind umgeben von Diagnosemethoden, Nach167

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weisverfahren, Untersuchungstechniken und Prüfapparaten, die uns mitteilen, über welche Kompetenzen wir verfügen, welchen Risiken wir ins Auge sehen müssen und welcher Gruppe wir zugehören“ (Lemke 2004b: 264). Nun stellt Lemke eine Veränderung von Testpraktiken dahingehend fest, dass aktuelle Testverfahren nicht mehr so sehr dazu dienen würden, singuläre Ergebnisprüfungen vorzunehmen, sondern vielmehr im Modus der Kontrolle wiederholend funktionieren würden. Und noch einen weiteren neuen Wesenszug des Tests macht er fest: So seien Tests heute keine exklusiven, von bestimmten Autoritäten zum Einsatz gebrachte Praktiken mehr, sondern würden den Einzelnen, auch erleichtert durch neue Vertriebswege, beispielsweise über das Internet, als Hilfestellung eigenverantwortlicher Entscheidungen an die Seite gestellt (Lemke 2004b: 268). Tests als wirkungsmächtige Selbst-Technologien sollen hier nicht in Frage gestellt werden. Jedoch zeige ich, dass der BRCA-Test im spezifischen zeitlichen und räumlichen Kontext Mitte der 1990er Jahre etwas anders funktionierte. Der Test war die technische Bedingung zur Generierung von Wissen über Brustkrebs-Gene: „Aufgrund noch mangelhafter Kenntnisse über Mutationstypen, Korrelationen zum Krankheitsverlauf, Risikoberechnungen, Funktionen der Gene u.a. sollte eine Gendiagnostik für BRCA1 und BRCA2 gegenwärtig nur im Rahmen von interdisziplinären, multizentrischen und streng wissenschaftlich ausgerichteten Studien erfolgen“ (Hofmann et al. 1998: 874).

Damit tut sich eine interessante Perspektive auf den Test auf. Es scheint, dass er mitnichten nur auf ein Patienten-Subjekt zielte, sondern auch auf die Herstellung einer eigenen institutionellen Verfasstheit, in dessen Zentrum dieses Subjekt zugleich erst auftauchen konnte. Darum müssen wir vom molekulargenetische BRCA-Test zum einen mehr als eine Prüfdenn Kontrolltechnologie sprechen, da er zwischen Mutationsträger und Nicht-Mutationsträger unterschied. Zum anderen gilt zu berücksichtigen, dass eine eigenverantwortliche Praxis der Testung gerade nicht als wünschenswert betrachtet, sondern als eine Bedrohung wahrgenommen: „Erst die Zusammenarbeit von Molekularbiologen, Humangenetikern, Klinikern und Psychologen erlaubt eine patientengerechte Anwendung einer BRCA1/2- Diagnostik“ (Hofmann 1998: 874). Der Wille zum Wissen bekam mit dem Werden eines interdisziplinären Verbundprojektes eine weitere neue Dimension. Ging es zunächst um Forschung, verschob sich der Fokus mit dem Zusammentreffen der verschiedenen Disziplinen und dem Eintritt der Deutschen Krebshilfe auf Fragen der medizinischen Praxis von Gendiagnostik. Doch halt! Medizinische Praxis war doch von Anbeginn an Teil des Unternehmens 168

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Forschung. Die mit der Testung eingeschlagene Bewegung sollte demnach nicht als eine von Bench to Bedside, sondern als eine institutionalisierende Bewegung betrachtet werden. Der Wille zum Wissen verdoppelte sich unter dem werdenden Dach eines Verbundprojektes und eine Bedingung der Möglichkeit hierzu war die Verfügbarwerdung von Testungen. Wie im skizzierten Aussagenfeld erkennbar wurde, funktionierte der Wille zum Wissen keineswegs eigenständig, sondern wurde von weiteren Aussagen flankiert. Die zweite Verdichtung hielt in ihrem Zentrum den Menschen.

Im Mittelpunkt der Mensch? Die Bedingung der Möglichkeit für diese neue Formation war die Verknüpfung von Genen und molekulargenetischer Testung in einem medizinischen, forschenden und – nicht zu vergessen – kommerziellen Zusammenhang. Genau hier fand sich im Mittelpunkt des Ganzen plötzlich menschliches Leben wieder. In den Aussagen zur Notwendigkeit eines Verbundes oder Programms zeichnete sich das Werden eines Subjektes der genetischen Diagnostik ab. Dieser Subjektivierungsprozess darf nicht mit einem fixen Subjekt verwechselt werden. Ich will diesen Prozess eher als ein spezifisches In-Beziehung-Setzen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren/Aktanten fassen, in dem die Herstellung einer Existenzweise des Subjektes gleichzeitig die Herstellung seines Möglichkeitsfeldes bedeutet. Oder anders formuliert: Wenn wir fragen, was das für ein Mensch gewesen sein mag, der im Zentrum des Aussagenfeldes entworfen wurde, dann fragen wir auch nach den Bedingungen der Möglichkeit seines Auftauchens innerhalb eines spezifischen Gefüges. Es waren vor allem zwei Aussagenmodi, die sich trafen und spezifische Existenzweisen konstituierten. Der erste Modus wurde durch das Angebot der Testung gebildet. Ein nachfragendes Subjekt entstand. Angebot – so die Logik – erzeuge zwangsläufig Nachfrage. Es mag Mitte der 1990er Jahre die Befürchtung geherrscht haben, dass das US-amerikanische Unternehmen Myriad Genetics versuchen würde, den deutschen Markt zu erobern. Tatsächlich begann der Konzern 1997 in den USA eine große Werbe-Kampagne für Brustkrebs-Gentests mit einer direkten Ansprache potentieller Kunden (Gaudillère/Löwy 2005: 271). In diese Richtung zielen sowohl Schernecks als auch Hundsdörfers Äußerungen: Tests wären unkontrolliert auf den Mark gelangt, Frauen hätten diese über das Internet bestellt, (zu)viel Geld ausgeben, keine Beratung erhalten und hätten schlussendlich überfordert falsche und selbstschädigende Dinge getan. Man könnte darin allzu leicht eine Abgrenzung zwi169

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schen guter und schlechter Wissenschaft lesen. Zwischen Unternehmen, die das Wissen lediglich zu kommerziellen Zwecken (aus)nutzten und Institutionen, die das Wissen zur medizinischen Hilfe einsetzten. Die Frage der Kommerzialisierung ist allerdings kaum so leicht unter dem Aspekt von gut oder schlecht zu beantworten. Vor allem wird sie von Scherneck nicht losgelöst von einem weiteren – und mir scheint sehr interessanten – Argument hervorgebracht. Zentraler Auslöser für den dringenden Handlungsbedarf sei gewesen, dass die kommerzielle Verfügbarkeit von Gentests eine große Gefahr darstellte, weil damit unkontrolliert hätte getestet werden können. Eine Gefahr für Frauen, die durch die neue Möglichkeit der Gendiagnostik mit Informationen konfrontiert worden wären, welche ohne eine adäquate Hilfestellung massive Schäden hätten angerichteten können? Es wurde nicht in erster Linie die Problematik eines kommerziellen Angebotes in den Vordergrund gerückt. Vielmehr wurde dieses Angebot als schädlich eingestuft, weil frau mit den Informationen nicht richtig hätte umgehen können und aus diesem Grunde unbedingt eine Beratung nötig gewesen sei. In diesem zweiten Aussagenmodus tritt eine neue und zentrale Figur im Gefüge auf. Frauen werden als Leidtragende konstruiert, und hier trifft die erste Produktion einer spezifischen Existenzweise (Frauen als nachfragende Subjekte) auf eine zweite: das Werden eines überforderten Subjekts. Das Motiv der Überforderung scheint aus dem Verlauf der Passagen ein bekanntes. Es ist bereits im Forschungs- und Sammelkontext der dritten Passage aufgetreten. In den Erzählungen Wenders über die Sammlung von Forschungsmaterial gab es nämlich eine ähnliche Konstellation. Das eigene Handeln und die Mitteilung von Forschungsergebnissen hätten im schlimmsten Fall Tod und Verzweifelung bei den Betroffenen auslösen können: „Ich wäre meine sämtlichen Kunden losgeworden und außerdem hätten die die Wissenschaft und alles andere verflucht und wären zum Teil in ein tiefes Loch gefallen [...], nicht? Also erst einmal wäre das nicht unser Stil gewesen. Das wäre ja auch abwegig gewesen. Also hat man versucht denen klar zu machen, warum wir es machen und was wir überhaupt daraus ersehen können. Und das war nicht viel“ (Wender 2006: 8).

Man findet eine sich wiederholende Produktion von Existenzweisen der Überforderung und auch der Nachfrage vor! Allerdings mit diskursiven Verschiebungen durch die Zeit. War es das Angebot und Versprechen der Forschung eine Hilfe/Heilung in der Zukunft zu ermöglichen, so wurde es mit der Möglichkeit zur Testung zu einem Angebot von Informationen über das Vorhandensein einer Mutation mit dem Versprechen 170

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einer freien Entscheidung über mögliche medizinische Konsequenzen. Gleichzeitig blieb das Forschungsversprechen bestehen. Der Modus des Nachfragens ließ zwei Linien zusammenkommen: den Willen zum Wissen der Betroffenen und den Willen zum Wissen der Forschenden. Während die Überforderung vor der Sequenzierung von BRCA aus dem Noch-Nichtwissen der Forschung hergestellt und somit ein Ende der Überforderung mit einem Mehr-Wissen in Zukunft gesehen wurde, schien die Überforderung in Angesicht des Tests darin zu liegen, richtig mit den gewonnenen Erkenntnissen umzugehen. Und genau dieses wurde von vornherein den vorgestellten Betroffenen abgesprochen und die Notwendigkeit einer Beratung und damit verbunden die Notwendigkeit eines interdisziplinären Programms artikuliert. In beiden Fällen gab es keine Heilung, sondern nur die auf eine Zukunft gerichtete Vorstellung darüber. Sowieso schien das Versprechen auf Gentherapie mit der Zunahme an Wissen über BRCA1 und BRCA2 mehr und mehr in den Hintergrund gerückt zu sein und den Überlegungen zur Relevanz der Gentestung und damit verbundener klinischer Optionen und ihrer herauszufindenden Effekte Platz gemacht zu haben. Man könnte auch sagen, dass das neue Instrument Gentest in einer bestehenden medizinische Praxis situiert wurde, welche sich im Zusammentreffen gleichzeitig wandelte. Das Werden des Verbundprojekts muss als solch ein Prozess des Verbindens zwischen Neuem und Altem begriffen werden. Das bisher Gesagte vermag nichts darüber mitzuteilen, was die betroffenen Menschen dachten, ob sie sich tatsächlich überfordert fühlten oder überhaupt ein Nachfragebedürfnis nach einem Test hatten. Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass es ernstzunehmende Sorgen über einen schädlichen Einsatz des Tests auf Seiten der Protagonisten der Adhoc-Gruppe gab. Mein Interesse liegt eher auf der Beobachtung, dass sich mit der Möglichkeit der Testung überhaupt ein besonderes nachfragendes und überfordertes Subjekt verdichtete, ohne dass es bereits hierzu irgendwelche Studien über das Verhalten und den Umgang dieser Menschen gegeben hätte. Im Gefüge der Gene entstand ein Gefahrenszenario, welches erstens wenig überraschend auch zu entsprechenden Beweisen führen sollte. In einem Artikel über Gentests im Internet aus dem Jahr 2002 im Deutschen Ärzteblatt heißt es beispielsweise: „Die Interpretation der Ergebnisse und die Planung therapeutischer Maßnahmen überfordern die Patienten, auch wenn die Anbieter hierzu Vorschläge unterbreiten. […] Die möglicherweise weit reichenden psychologischen Konsequenzen der Gentests, von Depressionen über Angstzustände bis hin zu suizidalen Tendenzen werden nicht beachtet“ (Berth 2002: A-2599). 171

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Mit der Voraussetzung einer möglichen Überforderung wurde zweitens eine psychoonkologische Betreuung als integraler Bestandteil einer medizinischen Betreuung von Personen mit einem festgestellten erhöhten Risiko aufgrund der Familienanamnese neben der humangenetischen und gynäkologischen Beratung und Betreuung für notwendig erachtet. Die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Begleitung wurde ebenfalls von der Bundesärztekammer in ihren Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen (siehe Bartram 2000: 219) thematisiert. Ich meine, dass die Produktion einer spezifischen Existenzweise von Frauen als eine Art Transmissionsriemen einer Platzierung der Brustkrebs-Gene in einem medizinisch-institutionellen Rahmen verstanden werden kann. War für die Arbeitsgruppe Tumorgenetik auf der Suche nach dem Brustkrebs-Gen der Familiäre Brustkrebs und seine unwandelbaren Mobile (Blut und Stammbaum) zentral und die Heilung als ein Versprechen im vagen Raum der Zukunft lokalisiert, so wurde mit dem Werden von BRCA1, in Verknüpfung mit der Möglichkeit der Testung, die betroffene Frau im Raum der Gegenwart entscheidend, die nun ein entstehendes Angebot nutzen sollte – allerdings auf eine bestimmte Art und Weise, die man als kontrollierte Freiheit beschreiben könnte. Auf der einen Seite gab es ein Muss zur Beratung, auf der anderen Seite sollte diese Beratung offen sein. Die humangenetische Beratung betrat an einem Kreuzungspunkt von Wissen und Leben das Brustkrebs-GenGefüge: „Die genetische Beratung ist eine ärztliche Aufgabe, die einen Patienten oder ein ratsuchendes Familienmitglied über das mögliche Vorliegen einer genetisch bedingten Erkrankung informiert und der Vorbereitung individueller Entscheidungen der Ratsuchenden dient“ (Bartram et al. 2000: 59). Das Recht auf Nichtwissen, die informationelle Selbstbestimmung und der „informed consent“ sind zentrale Bestandteile der im Jahr 1998 von der Bundesärztekammer erlassenen Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Dispositionen für Krebserkrankungen. Eigenverantwortung bedeutet also nicht keine Beratung, sondern ist ausschließlich an diese gebunden. Ich möchte damit zumindest anregen, über die Frage nachzudenken, inwiefern eine offene Beratung immer schon mit spezifischen In- und Exklusionen betrieben wird und insofern an sich das Prinzip Beratung einen spezifischen Modus an Offenheit vorgibt, der durch seine Platzierung innerhalb des Konzeptes von Beratung niemals offen sein kann. Einiges wurde bereits über die Produktion einer überforderten Existenzweise gesagt. Wenn von Subjektivierungsprozessen die Rede ist, dann muss, bezogen auf den Gegenstand Brustkrebs-Gen und damit zusammenhängend auf Familiären Brustkrebs, eine Konkretisierung vor172

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genommen werden. Die fokussierte Frau war die von Familiärem Brustund Eierstockkrebs (potentiell) Betroffene. Das bedeutet, sie musste nicht nur ein Wissen über familiäre Häufungen von Brustkrebs und/oder Ovarialkrebserkrankungen mitbringen, sondern auch den Zugriff auf Fälle in ihrer Familie ermöglichen. Familiärer Brust- und Eierstockkrebs als Modell der Genforschung wurde über die Wirkungsmacht eines die überforderte Frau umkreisenden Tests in der Verbindung mit dem Stammbaum medizinisch. Sowohl für die Forschung als auch für die medizinische Diagnostik musste gelten, dass nur Personen, die als potentielle Mutationsträgerinnen und Träger aufgrund des Stammbaumes identifiziert wurden, auch Zugang zur Testung erhielten. Dies bedeutet, dass die In- und Exklusionsmacht des Stammbaums zu einem medizinischen In- und Exklusionswerkzeug wurde. Es wird daran vielleicht deutlich, wie schwierig es ist, diese Beziehungen zwischen einer einzelnen Person und ihrer Familie im Zusammenhang mit BRCA genau zu justieren. Auf der einen Seite enthielt der Test das Potential einer individualisierenden Praxis und gleichzeitig durchkreuzten die Gene das Projekt, da Genotyp und Phänotyp (noch) nicht in Übereinstimmung zu bringen waren und der Stammbaum als Werkzeug notwendig war. Damit zielten die Aktivitäten zur Institutionalisierung eines Programms „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ auch auf einen Ausschluss von Personen, die nicht zu der Gruppe der potentiell Betroffenen gehörten. Ein darin angelegtes Zielgruppenproblem wurde von einer Studie, an welcher Psychoonkologen des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf beteiligt waren, zu Einstellungen und Inanspruchnahmewünschen von ratsuchenden Frauen dahingehend formuliert, dass die „Angebote sich an diejenigen Frauen [richten], die die wissenschaftlich begründeten Indikationskriterien für die BRCA-Diagnostik erfüllen. Die Ergebnisse zeigen aber, dass ein erheblicher Anteil ratsuchender Frauen nicht zu dieser Gruppe gehört, sich aber als gefährdet einschätzt, verunsichert ist und sich von der BRCA-Diagnostik Hilfe im Sinne einer Reduzierung der Ungewissheit über ihren Risikostatus erhofft“ (Mehnert et al. 2001: 413). Daran lässt sich eine weitere Beobachtung aus der angeführten Studie von Mehnert et al. anschließen. Die subjektive Risikoeinschätzung sowohl von gesunden Frauen mit und ohne Erfüllung der Indikationskriterien (hinsichtlich Brust- und Eierstockkrebs belastete Familienanamnese) unterschieden sich nicht besonders stark. Aber in beiden Fällen lag sie deutlich über dem statistischen generellen Erkrankungsrisiko an Brustkrebs von zehn bis dreizehn Prozent; nämlich im Mittel bei 47 Prozent (gesunde Frauen) und bei 53 Prozent (gesunde Frauen aus der Untersuchungsgruppe, welche die Indikationskriterien erfüllen). 173

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Während jedoch im Institutionalisierungsprozess des Verbundprojektes von diesem Bestand an Wissen abgesehen wurde, wurde ein spezifisches nachfragendes und überfordertes Subjekt durch den Stammbaum in einen neuen medizinischen Raum inkluiert und gleichsam als Teil des Ganzen entworfen. Es ist ein interessanter Nebenarm meiner Studie über den Institutionalisierungsprozess, dass zwar ein von 1997 bis 1999 durchgeführtes Projekt der Forschungsgruppe Psychoonkologie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf über das „Inanspruchnahmeverhalten in der präventiven genetischen Brustkrebsdiagnostik“ vom Bundesministerium für Gesundheit (federführend war Gabriele Hundsdörfer) gefördert wurde, sich jedoch keine Zusammenarbeit dieser Forschungsgruppe mit dem entstehenden und ab 1997 durch die Deutsche Krebshilfe geförderten Verbundprojekt anschloss. Die Arbeit der Hamburger (wie vermutlich auch anderer Akteure) wurde im Prozess der Institutionalisierung herausgereinigt, beziehungsweise bekam erst nie ordentliches Gehör. Es fand nicht nur eine Engführung auf Patientinnen-Subjekte statt, sondern auch auf Forschungs- und medizinische Subjekte. Narr bringt diese Zweiheit von Institutionen wie folgt auf den Punkt: „Sie bieten freilich nicht nur Gelegenheit, die Diebe schafft, sie fördern die Entstehung von Dieben, wenn sie sie nicht selber hervorbringen“ (Narr 1988: 128). Festzuhalten bleibt, dass möglicherweise eine soziale Wirklichkeit von Existenzweisen der Überforderung bestand, die nicht ausschließlich im engen Rahmen des Familiären Brustkrebses existierte und funktionierte. Nicht der Test mit seinen Ergebnissen wurde in der Studie als alleiniger Auslöser von Unsicherheit identifiziert. Vielmehr schien eine breite Angst vor Brustkrebs und eine Verunsicherung über das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, jenseits familiärer Häufungen zu existieren. Mit dem Stammbaum als Instrument des Ausschlusses wurde so eine potentielle Praxis produziert, von der man eigentlich sagte, das man sie nicht wollte: den ungeschützten, unkontrollierten und privaten Gebrauch von Tests. Ich möchte nicht dahingehend verstanden werden, dass ich Tests für alle befürwortet hätte. Ich möchte nur darauf hinweisen, das im Zuge des Institutionalisierungsprozesses Ausschlüsse entlag des Familiären Brustkrebses stattfanden, welche zum einen von einem bereits bestehenden Bedürfnis getragen schienen, welches gleichzeitig erst in der Institutionalisierung geschaffen und auf spezifische Subjekte enggeführt wurde. Damit einher ging auch ein Prozess der Exklusion von denjenigen, die zunächst Teil des Institutionalisierungsprozesses waren; den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Die sich in Gang setzende Insti-

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VERBUNDPROJEKT „FAMILIÄRER BRUST- UND EIERSTOCKKREBS“

tution Verbundprojekt war kein Integrationsunternehmen von und mit allen. In der vorangegangenen Skizze der Forschungsentwicklungen seit Mitte der 1990er Jahre wurde erkennbar, dass mit der Sequenzierung der beiden Gene in erster Linie keine Fragen beantwortet, sondern neue Fragen gestellt werden konnten. Viel Wissen wurde produziert; mehr Wissen musste produziert werden. Es war nicht nur für die Tumorgenetik ein bestimmender Aspekt, zu einer größeren Datenfülle zu gelangen. Allein aus diesem Grunde schien es notwendig zu sein, eine institutionelle Struktur zu finden, die das Begehren stillen konnte. Wie ich gezeigt habe, verband sich dieser Wille zum Wissen mit zwei weiteren Aussagen: die Gefahr einer Überschüttung mit Gentests aus dem Internet verknüpfte sich mit der Vorstellung eines überforderten Subjekts, welches nicht dazu in der Lage wäre, selbstsorgend und eigenverantwortlich mit möglichen Testergebnissen umzugehen. Und aus dem Zusammenspiel generierte sich die nunmehr logisch erscheinende Lösung: Es musste institutionell interveniert werden.

6.2 1996: Der Sprung – Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ 1997 (man findet in der Literatur ebenso die Angabe 1996) wurde im Rahmen eines durch die Deutsche Krebshilfe geförderten Schwerpunktprogramms „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ Beratung und Diagnostik bei hereditärem Brustkrebs an zwölf Kliniken möglich. Aus der Ad-hoc-Gruppe entwickelte sich ein Verbundprojekt, welches zwischen 1997 und 2004 mit insgesamt 14 Millionen Euro durch die Deutsche Krebshilfe unterstützt wurde (Gerhardus et al. 2004: 148). Die Deutsche Krebshilfe ist eine private Förderorganisation und die Finanzierung der von ihr unterstützten Projekte wird ausschließlich durch Spenden erbracht. Sie besteht seit 1974. Es ist eine interessante zeitliche Überschneidung, dass über das Jahr 1996 nicht nur zu lesen ist, dass im Rahmen eines von der Deutsche Krebshilfe finanzierten Verbundprojektes Zentren für Familiären Brustkrebs eingerichtet wurden und ihre Arbeit – also auch die molekulargenetische Testung von BRCA1 und BRCA2 – aufnahmen, sondern auch, dass es 1996 klar war, dass eine große Anzahl von sogenannten Brustkrebsfamilien keine Mutation auf BRCA1 oder BRCA2 trug. Ich habe den Eindruck, als ob die Erkenntnisse aus dem Reich der Forschung merkwürdig abgelöst von einer sich etablierenden medizinischen Praxis zu existieren begannen. Die Gendiagnostik gewann ein Eigenleben und 175

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bildete das Zentrum einer Praxis, in welcher es den Mehrwert des Genwissens für Prävention und Behandlung zu erproben galt. Ich möchte zur Verdeutlichung dieser wichtigen Gefügeverschiebung zwei längere Zitate nebeneinander stellen.

1998 „Die Deutsche Krebshilfe hat im Jahr 1997 dankenswerterweise ein Schwerpunkt-Programm ‚Familiärer Brust- und Eierstockkrebs‘ begonnen, dessen Ziel vorrangig darin besteht, die Häufigkeit der genetischen Veränderungen bei den beiden Genen BRCA1 und BRCA2 und ihre Rolle bei der Entstehung von familiärem Mammakarzinom zu erforschen. Dafür sind bundesweit 10 Zentren für Familiären Brustkrebs eingerichtet worden […]. Betroffene und ratsuchende Frauen erhalten in den Zentren eine eingehende Beratung, bei der sie sowohl über die Möglichkeiten und Grenzen der Gendiagnostik für BRCA1 und BRCA2 als auch über eventuelle Konsequenzen eines positiven oder negativen Testergebnisses informiert werden. […] Neben Empfehlungen zu einer intensivierten Vorsorge zur Früherkennung eines Mammakarzinoms […] wird den Frauen auch eine psychologische Beratung angeboten“ (Hofmann et al.1998: 876).

1999 „Das Ziel dieses Vorhabens besteht insbesondere darin, die rasch zunehmenden Kenntnisse über die genetische BRCA1/2-Disposition auf ihre Verwertbarkeit für die Beratung und Betreuung der Betroffenen zu überprüfen, sowie für die Krebsvorsorge und -früherkennung einzusetzen. In den nächsten Jahren sollen vor allem Aufschlüsse über die Häufigkeit und das Spektrum von BRCA1/2-Mutationen in Deutschland ermittelt, optimale Testmethoden entwickelt, die Qualitätssicherung gewährleistet und Konzepte zur klinischen Betreuung von Mutationsträgern ermittelt werden. Darüber hinaus bieten die regionalen Zentren schon heute betroffenen Frauen abgestimmte interdisziplinäre Vorsorgeprogramme an […]. Ratsuchende Frauen und Familien sollen darüber hinaus von ihren betreuenden Ärzten informiert und ihnen die Kontaktaufnahme zu den Zentren vermittelt werden“ (Scherneck/Hofmann 1999: 378).

Gefügerutschen: Prädiktive Medizin Es mag nur ein winziges Detail sein. Im ersten Zitat steht das Wachstum an wissenschaftlichem Wissen an erster Stelle und im zweiten Zitat findet eine Unterordnung der Wissenschaft unter die medizinische Anwendung statt. Es kommt zu einer Neuordnung. Mit dem Verbundprojekt schienen alle Praktiken ihre Berechtigung aus ihrem Einsatz und/oder ihrer Verwertung in medizinischen Praktiken zu erlangen und zwar nicht mehr nur als ein zukünftiges Versprechen, sondern als eine Praxis der Gegenwart. Damit ist nicht gemeint, dass es vor dem Verbundprojekt 176

VERBUNDPROJEKT „FAMILIÄRER BRUST- UND EIERSTOCKKREBS“

keine medizinischen Einsätze gegeben hätte. Aber sie waren noch nicht in das Gefüge institutionell eingefasst. Das Verbundprojekt brachte etwas Neues hervor, nämlich die Etablierung einer medizinischen Praxis bei gleichzeitiger Inkluierung dieser in ein großes Experiment: Prädiktive Medizin. Nicht „von und mit uns allen“ (Latour 2004: 185), da die Versuchsanordnung auf einen klar definierten Untersuchungsgegenstand (Familiärer Brust- und Eierstockkrebs) angewiesen war. Doch war es mit dem Potential der Ausweitung auf uns alle und sporadische Krebse ausgestattet. In diesem Sinne möchte ich den Begriff der Fluchtlinie von Guattari und Deleuze verstehen. Die Linie des Lebens flieht sozusagen vom Familiären Brustkrebs hin zum Menschen mit sporadischem Krebs, hin zum Menschen in der prädiktiven Medizin, hin zum Menschen mit „gesunden“ Genen. Die Linie des Wissens flieht von BRCA1 und BRCA2 hin zu neuen Brustkrebs-Genen, hin zu individuellen Genprofilen, hin zu gentherapeutischen Interventionen. Nun haben wir bereits erfahren, dass die Argumentation für ein schnelles Handeln losgelöst war von der Frage, ob die Testung überhaupt etwas bringen würde. Es war also nicht mehr die Frage „Soll Gentestung angeboten werden?“ zu beantworten, sondern im Mittelpunkt stand die Frage „Wie soll Gendiagnostik angeboten werden?“. Man war sich einig, dass die Diagnostik nur durchgeführt werden sollte, wenn eine entsprechende Versorgung für die Betroffenen bereitgestellt würde. Es ist bemerkenswert, wie kurz die Zeitspanne zwischen der Sequenzierung von BRCA1 und der Etablierung einer genetischen Diagnostik war. Kaum hatte man das Gen, schon sollte es medizinisch eingesetzt werden. Die Überführung in eine klinische Praxis vollzog sich nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland schnell. Pasquale Bourret stellt für Frankreich fest: „In the case of breast and ovarian cancer, following the identification in 1994-95 of the two susceptibility genes (BRCA1 and 2), clinical predictive tests were quickly established and their use has increased markedly in recent years“ (Bourret 2005: 42). Von einer Einbahnstrasse darf jedoch mitnichten gesprochen werden. Genauso, wie das Gen Einzug in eine medizinische Praxis hielt, war die medizinische Praxis Herstellungsort von Labormaterial. Das Verbundprojekt diente nicht nur als Experimentierfeld für prädiktive Medizin, sondern weiterhin auch für die Genforschung, wobei das Verhältnis im folgenden Zitat noch einmal deutlich markiert wird: „Des Weiteren hatte die Etablierung effizienter Präventionsmaßnahmen Vorrang vor wissenschaftlichen Fragestellungen. […] Und durch die Verbundstruktur mit enger Vernetzung der Zentren sind wir jetzt auf Grund des großen

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Familienkollektivs auch wissenschaftlich kompetitiv geworden und beteiligen uns aktiv an der Suche nach weiteren Risikogenen“ (Schmutzler 2005: 96).

Während man auf der ersten Sitzung der Ad-hoc-Gruppe im Jahr 1995 zunächst noch vom Konzept einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Abstand genommen hatte, tauchte diese Idee 1997 in dem von der Deutschen Krebshilfe neu ins Leben gerufenen Schwerpunktprogramm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ wieder auf. Bourret macht darauf aufmerksam, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit charakteristisch für moderne Kliniken, insbesondere für den onkologischen Bereich sei, die Cancer Genetics jedoch noch einmal besondere Nuancen von Interdisziplinarität aufweisen würden: Erstens hätten die Labore im Gegensatz zur einer traditionellen Aufteilung eine enorme Entscheidungsmacht und seien nicht nur Ausführende von medizinisch delegierten Handlungen. Zweitens sei Interdisziplinarität „a requirement issued by professional organizations and French governmental institutions“ (Bourret 2005: 58). Nun war im Falle der deutschen Entwicklungen Interdisziplinarität kaum ein von Beginn an von allen Beteiligten verfolgtes Ziel und es stellt sich die Frage, wer die Impulsgeber waren? Es war zuförderst ein besonderes Anliegen von gesundheitspolitischer Seite, die verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen. In der Bundesrepublik Deutschland stellte sich im Wesentlichen die Frage nach der Finanzierung dieses Projektes. Die Deutsche Krebshilfe war von Hundsdörfer bereits zu der Ad-hoc-Gruppe hinzugezogen worden, weil man einen Geldgeber benötigte, um die von den Beteiligten eingebrachten Ideen finanzieren zu können. Sprich, das Gesamtprogramm zur Krebsbekämpfung war und ist kein Förderprogramm und von daher nicht mit eigenen finanziellen Mitteln ausgestattet. Die Frage nach dem Geldgeber ist nicht ganz uninteressant. Es waren weder private Investoren noch die Krankenkassen („Es ist über die Kostenübernahme durch die Krankenkassen nie diskutiert worden“ [Hundsdörfer 2006: 6].), sondern die Deutsche Krebshilfe, die das Schwerpunktprogramm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ und damit den Aufbau des Verbundprojektes mit den einzelnen Zentren von 1997 bis 2004 förderte. Die Deutsche Krebshilfe förderte von Anbeginn an ein dezidiert interdisziplinär ausgerichtetes Schwerpunktprogramm. Sie zielte auf die Einrichtung spezialisierter und interdisziplinärer universitärer Zentren für Familiären Brust- und Eierstockkrebs im Rahmen eines überregionalen Verbundprojektes. Insgesamt wurden zwölf Zentren aufgenommen: Berlin, Dresden (seit 1999), Düsseldorf, Frankfurt, Heidelberg, Kiel, Köln/Bonn, Leipzig (seit 1999), München, Münster, Ulm und Würzburg. Die Zentren sollten sich interdisziplinär aus Gynä178

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kologen, Humangenetiker, Molekulargenetiker, Psychologen und weiteren Beteiligten wie zum Beispiel einer Zentrale für Dokumentation und der Pathologie zusammensetzen. Die folgende Abbildung zeigt den Ablauf von humangenetischer Beratung, Testung und gynäkologischer Vorsorge innerhalb des Berliner Zentrums für Familiären Brustkrebs: Abbildung 7: Zentrum Berlin für Familiären Brustkrebs 2005

Quelle: Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe „Familiärer Brustund Eierstockkrebs“

Was passiert im Verbundprojekt? In einer Kurzinformation für Ärztinnen und Ärzte, welche vom Schwerpunktprogramm herausgegeben wurde, heißt es zu den Zielen: „In diesen Zentren arbeiten entsprechend den interdisziplinären Erfordernissen Gynäkologen, Humangenetiker, Molekulargenetiker und Psychologen/Psychotherapeuten eng zusammen. Diese betreuen die Ratsuchenden klinisch, humangenetisch und psychologisch/psychotherapeutisch. Des Weiteren sollen 179

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Standards zur Diagnostik, Prävention und Therapie des erblichen Brustkrebses erarbeitet werden“ (DKH 1998).

Interdisziplinarität bedeutet in diesem Zusammenhang Praktiken zu etablieren, die gemeinsam einen medizinischen Rahmen der Diagnostik, Prävention und Therapie bilden. Eine wichtige Figur des Gefüges wird offensichtlich: der Standard. Eine Analytik des Werdens folgt Institutionalisierungen und nicht Institutionen, Standardisierungen und nicht Standards. Damit meine ich, dass die Anwendung eines Standards immer wieder die Herstellung desselben bedeuten muss. Standards können zunächst einfach verstanden werden als anerkannte Regeln zur Produktion von Dingen. Aber sie beinhalten noch einiges mehr, was ihre Produktivität erklärt und worauf Bowker und Star (1999) hinweisen. Standards lassen Menschen und Dinge zusammen funktionieren, auch über Distanzen hinweg. Sie lassen Mobilität zu. So könnte beispielsweise eine Frau in München oder in Berlin in eine humangenetische Beratung gehen und würde einem Standard folgend immer die gleichen Punkte (natürlich zugeschnitten auf ihren Fall) zu hören bekommen. Einschlusskriterien beispielsweise können nicht in Düsseldorf und Leipzig andere sein. Sie müssen also auch eine gewisse zeitliche Dauer besitzen. Es bedarf einer gewissen institutionellen Kraft (staatliche oder nicht-staatliche Organisationen) um Standards eine Geltung zu verschaffen. Schließlich gibt es keine natürliche Gesetzmäßigkeit, dass der beste Standard sich auch durchsetzt, da die Durchsetzung von vielen Faktoren abhängt: Kann der Standard vorteilhaft auf Bestehendes aufbauen? Gibt es ein finanzielles Interesse und vielleicht ein besseres Marketing? Aber vor allem: „Standards have significant inertia, and can be very difficult and expensive to change“ (Bowker/Star 1999). Die zwischen 1997 und 2001 etablierte Praxis im Rahmen des Verbundprojektes sah folgenden, von mir nicht in Gänze skizzierten, standardisierten Ablauf vor: Nach einer nicht-direktiven Beratung von humangenetischer, gynäkologischer und psychoonkologischer Seite und der Feststellung der Indikation für eine molekulargenetische Testung erhält die betreffende Person eine Bedenkzeit von vier Wochen. Erst nach dieser Zeit darf eine Testung durchgeführt werden. Die Testung erfolgt bei einem Indexpatienten (einer Person, die an Brust- und/oder Ovarialkrebs erkrankt war/ist) der Familie des Ratsuchenden. Erst wenn bei dieser Person eine Mutation gefunden wurde, kann sich die gesunde ratsuchende Person prädiktiv testen lassen. Die klinische und psychoonkologische Betreuung wird auch Personen angeboten, die sich nicht für eine prädiktive genetische Diagnostik entschieden haben (siehe Schmutzler 2002). 180

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2001 – Ein Zwischenfazit mit Folgen Auf einer Pressekonferenz in Bonn wurden erste Ergebnisse über den Verlauf des Verbundprojektes 2001 vorgestellt. Die Vorstellung wurde von der Deutschen Krebshilfe zum Anlass genommen, die Forderung nach der Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen zu erheben. Damit nahm der Prozess der Institutionalisierung eine neue Richtung. War der Gedanke an eine Finanzierung durch die Krankenkassen noch in der Ad-hoc-Gruppe laut Hundsdörfer nicht unmittelbar gewesen, so schien etwas passiert zu sein, was die Forderung der Kostenübernahme durch die Krankenkassen möglich werden ließ. 2001 wurde folgendes Zwischenfazit der Arbeit gezogen: „Auch wenn in einer Familie zwei Fälle von Brustkrebs aufgetreten sind, sind die bislang entdeckten ‚Brustkrebs‘-Gene nur selten die Ursache der Häufung. Diese beruhigende Folgerung ist eines der wichtigsten Ergebnisse eines Projektes, in dem zwölf deutsche Unikliniken untersucht haben, welche Rolle genetische Ursachen bei Brustkrebs spielen“ (Koch 2001: A-1365).

Dieses Ergebnis scheint nicht weiter verwunderlich zu sein, wenn man bedenkt, dass bereits 1996 Erkenntnisse zur marginalen Finderate von Mutationen auf BRCA1 und BRCA2 vorlagen. Die Relativierung der beiden Gene muss jedoch in Verbindung mit der Annahme gesehen werden, dass es noch mindestens ein weiteres unbekanntes Gen geben müsse, welches in den negativ getesteten Fällen eine Rolle spiele. Die anwesenden Gene BRCA1 und BRCA2 wurden von abwesenden Genen (Kandidatengene, BRCAx) flankiert. Diese Argumentation stellte nicht die molekulargenetische Diagnostik in Frage. Vielmehr wurde aufgrund des Stammbaums, wenn er auf einen autosomal-dominaten Erbgang hinwies, geschlossen, dass eine negative Mutationsanalyse keineswegs ein erhöhtes Risiko ausschloss. Der Stammbaum rückte im Verbundprojekt als diagnostisches Werkzeug neben die genetische Diagnostik. Der Test konnte nicht als alleiniges Selektionskriterium für den Ein- oder Ausschluss aus einer intensivierten Früherkennung gelten. 2002 wurde für das Verbundprojekt festgehalten, dass Personen auch dann spezielle präventive Maßnahmen angeboten werden sollten, wenn bei ihnen keine Mutation nachgewiesen werden konnte, jedoch aufgrund des mithilfe eines computerassistierten mathematischen Modells ein erhöhtes Lebenszeitrisiko errechet wurde. Der zu überschreitende Schwellenwert wurde auf mindestens 20 Prozent festgesetzt. Damit wurde ein statistisches Erkrankungsrisiko zur Maßgabe für medizinische Maßnahmen: „Trotz der gegenwärtig noch begrenzten Erfahrungen steht außer Frage, dass Frauen aus betroffenen Familien ein Präventionskonzept angeboten 181

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werden sollte. Dies gilt sowohl für gesunde als auch bereits erkrankte Frauen aus belasteten Familien“ (Schmutzler 2002: A-1374). Neben dem Fazit, dass selbst in Hochrisikogruppen BRCA1/BRCA 2-Mutationsträger und -trägerinnen eine Minderheit seien, wurde festgestellt, dass die molekulargenetische Testung der Gene selbst nicht ganz unproblematisch sei. Die Größe der Gene machte eine Testung sehr zeitaufwändig, wobei eine Beschleunigung der Testung erreicht werden konnte: von eineinhalb Jahren zu Beginn auf ein halbes Jahr 2001 (Koch 2001: A-1365). Zudem konnte man sich in der Sequenzierung nicht auf kleine Bereiche, sogenannte Hot-Spots, konzentrieren, da Mutationen verstreut auf den Genen lagen. Gene musste man also immer komplett bearbeiten und das bedeutet: 28 PCR-Reaktionen allein für BRCA1 und sogar 41 PCR-Reaktionen für BRCA2. Am Anfang des Projektes benötigte man eineinhalb Jahre für die vollständige Sequenzierung, 2001 schaffte man es in einem halben Jahr. Eine Arbeit also, die sich nicht nur als zeit-, sondern somit auch als kostenintensiv darstellte. All diese Punkte geben auf den ersten Blick eher zur Verwirrung ob des Erfolges des Verbundprojektes Anlass. Die Gene sind vage, groß, aufwendig zu sequenzieren und kostenintensiv in ihrer Bearbeitung. Der Erfolg muss auch an einer anderen Stelle gesucht werden: in der Früherkennung.

Ein strukturiertes Programm zur Früherkennung Es institutionalisierte sich nicht nur ein Zusammenspiel von humangenetischer, gynäkologischer, psychologischer Beratung und molekulargenetischer Testung, sondern auch eine medizinische Praxis der Prävention. Beim Begriff der Prävention wird unterschieden zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 57f.). Während die primäre Prävention bezogen auf Familiären Brust- und Eierstockkrebs das Ziel hat, den Ausbruch der Krankheit zu verhindern (Maßnahmen: prophylaktische Mastektomie oder Ovarektomie, Einsatz von Hormonpräparaten), soll bei der sekundären Prävention durch Früherkennung (Mammographie, Sonographie, MRT) eine Verminderung der Mortalität erreicht werden. Die tertiäre Prävention bezieht sich auf Personen, die bereits an einem Brust- oder Eierstocktumor erkrankt waren/sind (Maßnahmen der primären und sekundären Prävention inklusive der üblichen Nachsorgeuntersuchungen). Als medizinisches Programm wurde formuliert: „Aufgrund der bisherigen Erfahrungen bei der Betreuung von Frauen mit familiärem Brust- und/oder Eierstockkrebs wurde ein engmaschiges und intensives Früherkennungsprogramm im Rahmen des Verbundprojektes ‚Familiärer 182

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Brust- und Eierstockkrebs‘ der Deutschen Krebshilfe erarbeitet“ (Schmutzler 2002: A-1377).

Es zielte auf Frauen mit und auf Frauen ohne nachgewiesene Mutation, allerdings mit einem statistisch berechneten Erkrankungsrisiko von mindestens 20 Prozent. Folgende Früherkennungsmaßnahmen wurden vorgesehen (zusammengefasst nach Schmutzler 2002): • Regelmäßige Selbstuntersuchung der Brust nach ärztlicher Anweisung (ab dem 25. Lebensjahr oder fünf Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter in der Familie lebenslang) • Tastuntersuchung der Brust und der Eierstöcke halbjährlich (Beginn und Dauer wie oben) • Ultraschalluntersuchung der Brust alle sechs Monate (Beginn und Dauer wie oben) • Vaginale Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke alle sechs Monate (ab dem 30. Lebensjahr lebenslang) • Tumormarker Ca 125 alle sechs Monate (ab dem 30. Lebensjahr lebenslang) • Kernspintomographie der Brust einmal im Jahr (ab dem 25. Lebensjahr oder fünf Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter in der Familie lebenslang. Aufgrund des dichten Drüsengewebes junger Frauen beginnt die Mammographie ab dem 30. Lebensjahr. Die Kernspintomographie endet in der Regel mit dem 50. Lebensjahr oder bei Involution des Drüsenparenchyms) • Mammographie der Brust einmal im Jahr (Aufgrund des dichten Drüsengewebes junger Frauen beginnt die Mammographie ab dem 30. Lebensjahr. Die Kernspintomographie endet in der Regel mit dem 50. Lebensjahr oder bei Involution des Drüsenparenchyms). Hier fällt sofort auf, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen der Früherkennung auf ein ganzes Leben ausgerichtet sind: lebenslang vom Zeitpunkt der Inklusion der Betroffenen in das Programm, bzw. ab dem 25. Lebensjahr oder fünf Jahre vor dem frühesten Erkrankungsalter in der Familie. Was bedeutet das für die Frauen? Es bedeutet auf jeden Fall, dass sie regelmäßig untersucht werden und damit ihr restliches Leben Teil einer medizinischen Ordnung bleiben werden. Führen wir uns das übergreifende Ziel von Prävention vor Augen, welches populationsbezogen darin besteht, „die Manifestation chronischer Krankheiten und Behinderung auf einen möglichst kurzen Abschnitt am Ende des möglichst langen Lebens zu begrenzen“ (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 57). Ziel des Programms bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs sollte sein, Tumoren möglichst früh zu erkennen und damit zur Reduzierung 183

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von Mortalität und Morbidität beizutragen. Gesunde Lebenszeit ausdehnen helfen und kranke Zeit möglichst gering halten. Inwieweit sich bei der Einfassung von Menschen in ein recht umfassendes Programm der Früherkennung (immerhin müssen sie alle halbe Jahre vorstellig werden und erhalten einen Ultraschall) die Grenze zwischen kranker und gesunder Lebenszeit verwischt, muss ernsthaft gefragt werden. Kann es sein, dass mit dem Mehrwert gesunde Lebenszeit, der durch die Früherkennung erhofft wird, gleichzeitig und damit einhergehend ein anderes Wachstum einsetzt – und zwar das Wachsen von kranker Lebenszeit ohne die Manifestation einer Krankheit, also eine kranke Zeit ohne Erkrankung? Die frühzeitige Entdeckung von Tumoren scheint infolge eines engmaschigen Rasters an entsprechenden Maßnahmen logisch. Als stützendes Argument wurde auf Studien verwiesen, die den Erfolg von Mammographie ab dem 50. Lebensjahr bei sporadischem Brustkrebs, also der Reduktion von Mortalität, zeigten (Schmutzler 2002: A-1376). Ich lasse das große Feld der Mammographie an dieser Stelle beiseite und weise nur darauf hin, dass genau an diesem Punkt die Flüsse nicht vom familiären zum sporadischen Krebs flossen, sondern genau umgekehrt. Mit der Mammographie, genauso wie mit Ultraschalluntersuchungen, gerieten nicht nur bereits bestehende, erprobte und für Frauen aus den gynäkologischen Praxen bekannte Techniken in das Brustkrebs-Gen-Gefüge. Vielmehr bildeten diese Techniken Teil eines sehr viel älteren Diskurses um Früherkennung und Brustkrebs. Warum sollte Früherkennung bei sporadischem Brustkrebs als entscheidendes Moment für die Heilbarkeit nicht auf den Familiären Brustkrebs übertragen werden können? Der Griff zur Früherkennung ist bekannt. Schließlich war es bereits Wender, der den Frauen riet, regelmäßig zum Arzt zu gehen und sich untersuchen zu lassen. War es für ihn allerdings mehr ein Notbehelf, da man den Frauen (noch) nichts anderes anbieten konnte (Versprechen in die Zukunft), wurde jetzt die Früherkennung zu einem zentralen Bestandteil medizinischer Interventionen bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs. Es erscheint uns heute eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass die frühzeitige Erkennung eines Tumors zu besseren Behandlungs- und Heilungschancen beiträgt. In den USA gab es in den 1940er Jahren sogar ein Plakat der American Cancer Society mit der Aufschrift „Delay kills“ und der Ausführung, dass alle zwei Wochen mehr Menschen aufgrund einer zu späten Erkennung von Krebs sterben würden, als in Pearl Harbor (Lerner 1999: 939). Eine Vielzahl von empirischen Studien über die Resultate der Früherkennung entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts, und wie Lerner (1999) ausführt, gab es sowohl verifizierende Studien als auch Studien, welche die Wich184

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tigkeit von Früherkennung in Frage stellten. Nichtsdestotrotz schien der soziokulturelle Kontext die Richtung vorzugeben: „one that prized maximal knowledge and early intervention as the best stratgies for fighting a dreaded killer of women“ (Lerner 1999: 942). In diesem Sinne war es wenig verwunderlich, dass die Infragestellung der Effektivität von Früherkennung nicht so gehört wurde, wie die Aussage „Do not delay!“. Während also das Genwissen vom Familiären Brustkrebs in Richtung des sporadischen Krebses wandern sollte, wurde die Praxis der Früherkennung vom sporadischen Krebs zum familiären Krebs geschoben. Und 2005 konnte als Ergebnis vorgelegt werden: „Wir konnten bereits zeigen, dass durch ein intensiviertes Früherkennungsprogramm eine frühere Entdeckung der Brusttumoren möglich ist“ (Schmutzler 2005: 97). Während der Erfolg des frühen Findens nicht schwankte, sondern belegt werden konnte, stellte die verbesserte Überlebensrate aufgrund einer frühzeitigen Entdeckung nach wie vor ein Fragezeichen dar. Die Aussage „Je früher desto besser“ wurde als Forschungsfrage in den Vertrag mit den Krankenkassen überführt, wobei festgehalten wurde, dass für Mortalität als Langzeitparameter ein längerfristiges follow-up erforderlich sei (Anlagen zum Vertrag: 39). Im Gegensatz zu den Früherkennungspraktiken bei Brustkrebs konstatierte man für Früherkennungspraktiken bei Ovarialkrebs, dass diese nicht die gewünschten Resultate produzierten: „There have been no randomized trials of screening in BRCA1 carriers, but observational cohort studies have been disappointing“ (Narod/Offit 2005: 1660).

BRCA auf dem Weg in einen Vertrag Es war ein wichtiges Unternehmen des Verbundprojektes in diversen Bereichen ein einheitliches Vorgehen festzulegen. Nach Abschluss des Projektes stand fest: • Man hatte ein einheitliches Vorgehen der Beratung definiert. Die Ratsuchende sollte in die Lage versetzt werden, eine eigene Entscheidung für oder gegen die Genanalyse zu treffen („informed consent“). • Ein strukturiertes Früherkennungsprogramm wurde etabliert, das die Aufdeckung früher Tumoren erlaubte. • Es wurden Richtlinien für die Standardisierung prophylaktischer Operationen erstellt (siehe Rath et al. 2005: 94). Es zeigt sich, dass die medizinische Praxis keine unmittelbare Erkrankung braucht. Sie ist auf den tumorfreien und risikoausgestatteten Körper ausgerichtet. Gleichzeitig ist sie auf den Tumor angewiesen. Er ist es, der die Festlegung einer Indexperson bestimmt. Und er ist es, der in 185

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der Früherkennung erkannt werden soll. Dazwischen mäandert die Zahl: Eine Indexperson wird nicht gebraucht, wenn entsprechende Wahrscheinlichkeiten bei einer Ratsuchenden vorhanden sind. Überhaupt macht die Zahl es möglich, dass Personen in das Gefüge eingeschlossen oder eben auch ausgeschlossen werden. Neben der Früherkennung tauchte eine weitere Option präventiver Praktiken auf: die prophylaktische Operation. Wie der Name schon sagt, wird vor der Manifestation einer Krankheit operiert. Während im 19. Jahrhundert die Diagnose von Krebs exklusiv im Arbeitsbereich von Chirurgen lag, verschob sich im 20. Jahrhundert der Kompetenzbereich in Richtung einer frühen Diagnose mithilfe mikroskopischer Befundung des durch einen chirurgischen Eingriff gewonnenen Materials. Mit der prophylaktischen Operation hat sich die Befundung vom Material gelöst und auf die Ebene des Molekularen verlagert. Eine Mutation, also nicht im Sinne einer Heterozygotenwahrscheinlichkeit, sondern im Sinne ihrer Identifikation durch Testung, wird gebraucht, wenn eine prophylaktische Operation anvisiert wird. Man könnte sich natürlich fragen, warum es an dieser Stelle einer festgestellten Mutation bedurfte, wenn man sowieso davon auszugehen hatte, dass in vielen Hochrisikofamilien keine Mutation gefunden werden konnte. Eine Antwort ergibt sich aus der Bedeutung einer Inklusion von Mutationsträgerinnen und Trägern für Studien zur Effektivität dieser Maßnahme, da man allein aufgrund eines festgestellten hohen Risikos nicht sagen kann, ob man eine Trägerin operiert oder eine Person, die kein hohes Risiko besitzt. Wie der Name sagt, wird operiert, ohne dass es einen Tumor gäbe. Der Familiäre Brustkrebs und zwar auf Grundlage der Brustkrebs-Gene, eröffnete ein Experimentierfeld für die Vorverzeitlichung von medizinischen Praktiken. Es liegt mir nicht daran, die Effektivität von prophylaktischen Operationen zu diskutieren. Sowohl prophylaktische Eierstockentfernung als auch prophylaktische Brustdrüsenentfernung wurden als präventive Maßnahmen bei einer familiären Belastung in die medizinische Praxis des Verbundprojektes aufgenommen, wobei der Weg dahin nicht unproblematisch war. In einem Interview mit einer Gynäkologin des Berliner Zentrums antwortete diese mir auf die Frage nach der Veränderung einer Haltung bezüglich prophylaktischer Operationen im Verbundprojekt folgenderweise: „Ja. Das hat sich auf jeden Fall verändert im Rahmen des Konsortiums. Früher waren wir da extrem zurückhaltend. Und die Empfehlung zur prophylaktischen Adnexektomie [vollständiges Entfernen der Ovarien und Eileiter, S.P.] gibt es ja erst seit letztem Herbst [also 2005, S.P.] Deutschen Konsortium für Familiären Brust- und Eierstockkrebs, nachdem wir unsere eigenen Daten 186

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überprüft und gesehen haben, dass international konform die Früherkennung beim Eierstockkrebs nicht funktioniert. Der ist einfach zu selten und zu unspezifisch in der Frühform. […] Und es ist auch so, dass ich persönlich meine Meinung dazu gewandelt habe. Während ich mir früher überhaupt nicht vorstellen konnte, dass man eine prophylaktische Mastektomie vornimmt bei einer Mutationsträgerin, ist das für mich inzwischen eine durchaus ernstzunehmende Option. Und zwar genau aus dem Grund, wenn jemand zwei kleine Kinder hat und weiß, die Mutter ist an Brustkrebs verstorben, dann gibt es einfach Frauen, die sagen ‚Für mich ist es das einzig Wahre‘. […] Also im Grunde genommen ist es besser, wenn man soweit geht, dass man das tut, bevor die Erkrankung da ist. Medizinisch gesehen. Für die Patientin ist die logische Konsequenz, dass sie es dann tut, wenn die Erkrankung da ist. […] Der Vertrag nach Paragraph 116b sieht nichts zur prophylaktischen Operation vor. Der Vertrag gilt letzten Endes nur für Früherkennung. Wir haben aber sozusagen verbal ausgehandelt, dass sich daraus ergebene prophylaktische Operationen mit übernommen werden, weil das, wie vorhin angeführt, für die Krankenkassen die billigste Lösung ist. Und wo man fairerweise sagen muss, dass es nicht automatisch heißt, das wir dann gar keine Früherkennung oder Nachsorge mehr machen, weil natürlich ein Restrisiko bestehen bleibt. Natürlich bekommen Frauen, die eine prophylaktische Ovarektomie hatten, trotzdem einen transvaginalen Ultraschall. […] Wenn sie weiter noch ein MRT an der Brust machen wollen, nach dem Motto ‚Es könnte ja trotzdem noch ein Brustkrebs entstehen‘, dann haben sie natürlich ein Kostenproblem. Aber bisher wehrt sich keiner gegen solche Einzelfälle“ (Grau 2006: 7f.).

Die Verschiebung des Früherkennungsmottos „Do not delay!“ ist deutlich. In Großbritannien tat sich nur ein Jahr nach der Sequenzierung von BRCA1 eine Überlegung auf, die das „Do not delay!“ sogar noch ein ganzes Stück weiter, nämlich in den Bereich der reproduktiven Medizin verschob. Das Screening von IFV-Embryonen auf genetische Dispostionen für Brust- und/oder Eierstockkrebs, also Präimplantationsdiagnostik (PID) für BRCA, sollte möglich werden (Palladino 2004: 86). Bei der PID werden zur Diagnostik dem drei Tage alten und IVF gezeugten Embryo Zellen entnommen und diese werden dann anhand von Genen auf Chromosomenabweichungen oder das Geschlecht untersucht. Ein „Wahltermin in der Retorte“ wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung diese Praktiken der Embryonenselektion zugespitzt betitelte (LenzenSchulte, FAZ vom 28.02.2007). Nach einer Meldung in Spiegel Online aus dem Jahr 2007 hatten in Großbritannien zwei Paare mit familiärem Risiko einen Antrag auf PID von BRCA1 bei der zuständigen Behörde „Human Fertilisation and Embryology Authority“ gestellt und laut „Times“ würde die Zustimmung der Behörde erwartet (Spiegel Online vom 27.04.07). In der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung vom 20.12.2008 187

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ist nun folgende Überschrift zu lesen: „Erstes Baby ohne BrustkrebsGen in London erwartet“. Mittels künstlicher Befruchtung, so heißt es, seien zunächst Embryonen erzeugt und einer Präimplantationsdiagnostik (PID) unterzogen worden. Sechs der untersuchten Embryonen hätten das Brustkrebs-Gen BRCA1 getragen und seien zerstört worden. Zwei „ohne das gefährliche Gen“ seien in die Gebärmutter der Frau verpflanzt worden. Diese Meldung ist gesellschaftspolitisch erstens interessant, weil hier nicht irgendetwas verworfen, sondern Embryonen selektiert wurden. Zweitens zeigt sie uns klar und deutlich die Wirkungsmacht der kranken Gene. Das Brustkrebs-Gen – wer würde bei diesem Namen nicht an die Krankheit Brustkrebs denken und das Gen hierfür verantwortlich machen? Der Name ist sozusagen Programm. Und dementsprechend scheint es nur konsequent, wenn das „gefährliche Gen“ beseitigt, sprich ein Kind ohne dieses Gen geboren wird. Dass auch ein anderes Gen existiert (genetisch betrachtet handelt es sich um ein Tumorsuppressorgen), es gleichsam ein anderes Wissen gibt (Brustkrebs-Gene machen nicht krank; intakt schützen sie vor unkontrollierter Zellteilung) schließt die Rede vom kranken Gen nicht aus. Beide Wissensgebiete, beide Gene, stehen vielmehr in enger Beziehung zueinander – ja sie fügen sich sogar ineinander. Doch zurück zur Vorverzeitlichung des Früherkennungsmottos „Do not delay!“. In der BRD kann man fast von einer Nicht-Existenz dieser sozusagen auf ihr Ende hingetriebenen Prävention bei Familiärem Brustund Eierstockkrebs sprechen. Noch. Getragen von den Debatten um das Embryonenschutzgesetz und die Chancen und Risiken der Gen- und Reproduktionstechnologien in den 1990er Jahren, scheint diese Anwendung auch nur schwer vorstellbar. Jedoch haben wir in den letzten Jahren erfahren dürfen, dass die Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem nicht statisch sind und bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends sprach sich die von 1998 bis 2005 amtierende Ministerin für Bildung und Forschung Edelgard Bulmahn für Tests an IVF-Embryonen aus, während die von 1998 bis 2001 amtierende Gesundheitsministerin Andrea Fischer dieser Praktik eine Absage erteilte (siehe hierzu Palfner 2003: 63ff.). Damit wäre sozusagen jedes potentielle kranke Leben mit der Selektion weggeschrumpft. Der Mehrwert würde genau darin bestehen: Nicht mehr Heilung, sondern gesunde Gene; keine Therapie, sondern Eingriff in die Reproduktion durch Selektion. 2004 lief die Förderung durch die Deutsche Krebshilfe aus. 2005 erhielten die Zentren mit der Übernahme in die Regelversorgung eine neue Grundlage der Finanzierung. Gleichzeitig betrat damit ein machtvoller

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Akteur – die Krankenkassen – die Bühne, welcher die Institutionalisierungsbewegungen des Verbundprojektes vorantreiben sollte.

6.3 Was ist schon Erfolg… D e r W e g i n d i e R e g e l ve r s o r g u n g „Nicht umsonst bezahlen es die Kassen. Die würden es nicht bezahlen, wenn das Larifari wäre“ (Scherneck 2006: 30). Von der Finanzierung durch die Deutsche Krebshilfe wanderte das Programm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ im Rahmen des Verbundes in die Regelversorgung und damit in die Finanzierung durch die Krankenkassen. 2005 wurde ein Mustervertrag gemäß §116 b Abs. 2 SGB V über „die Risikofeststellung und interdisziplinäre Beratung, Gendiagnostik und Früherkennungsmaßnahmen von Ratsuchenden mit familiärer Belastung für Brust- und/oder Eierstockkrebs“ von den Krankenkassen unter Führung der VdAk/AEV (Verband der AngestelltenKrankenkassen e.V. und der Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e.V.) in Abstimmung mit den Zentren des Verbundprojektes und dem bisherigen Geldgeber Deutsche Krebshilfe aufgesetzt und auf Länderebene umgesetzt. Eine Umsetzung auf Länderebene bedeutet, dass der Vertrag jeweils zwischen der das Programm umsetzenden Institution und den Krankenkassen, Landesverbänden der Krankenkassen oder den Verbänden der Ersatzkassen geschlossen wird. Die Charité-Universitätsmedizin Berlin, als Institution unter deren Dach sich das Zentrum für Familiären Brust- und Eierstockkrebs in Berlin befindet, schloss ebenfalls diesen Vertrag im Jahr 2005 ab. Als Ziele des Vertrages sind festgehalten: „Frauen mit einem hohen Erkrankungsrisiko zu identifizieren, das tatsächliche Erkrankungsrisiko festzustellen und durch eine frühzeitige Diagnostik den Krankheitsverlauf zu verbessern. Die Zentren verpflichten sich zur Evaluation dieser Maßnahmen“ (Vertrag §2). Es sollte allerdings gesagt sein, dass die Übernahme durch die Kassen zunächst ein auf drei Jahre beschränktes Vorhaben darstellte (Vertrag §12). Die Grundlage für den Vertrag wurde erst 2003 durch Änderungen des Sozialgesetzbuches geschaffen. Mit dem vom Gesetzgeber verordneten Paragraphen 116b SGB V wurde der Rahmen für die Möglichkeit gegeben, dass spezielle Verträge zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern in Bezug auf die ambulante Erbringung hochspezialisierter Leistungen sowie die Behandlung seltener Erkrankungen und Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen (dazu gehört Diagnostik und Versorgung eben auch von Patienten mit onkologischen Erkrankungen) geschlossen werden können. 189

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Während der Vertrag ein Netz aus Paragraphen (§1 – §12) spannt, welches die Kernbereiche festlegt, findet die Ausführung dazu in einer Anlage (Anlage 1, Kostenpauschalen; Anlage 2, Standardisierte und verbindliche Vorgehensweise) zum Vertrag statt. Hier sind konkrete Vorgaben zur Durchführung von Beratung, Diagnostik und medizinischen Maßnahmen der Prävention gegeben. Auf der einen Seite können wir sagen, dass geronnenes Wissen in den Artikeln des Vertrages „über die Risikofeststellung und interdisziplinäre Beratung, Gendiagnostik und Früherkennungsmaßnahmen von Ratsuchenden mit familiärer Belastung für Brust- und/oder Ovarialkrebs“ (Mustervertrag 2005) seine volle Wirkungsmacht entfalten konnte. Auf der anderen Seite bietet der Vertrag Türen der Modifikation, auf der Basis der zu generierenden Datenmengen. Ich möchte an dieser Stelle lediglich einige Linien der Bewegungen in die und in der Regelversorgung zeichnen. Sie alle zeugen von der enormen Standardisierung, welche die Institutionalisierung möglich machte und umgekehrt: die Standardisierung machte ebenso die Institutionalisierung möglich – zwei Seiten einer Medaille.

Die Zahl zählt Bevor eine Person überhaupt zu einem Beratungsgespräch erscheinen darf, wird über ein erstes Gespräch am Telefon (Hotline in den Zentren) geklärt, ob die Einschlusskriterien erfüllt, also eine empirische Mutationswahrscheinlichkeit größer oder gleich zehn Prozent gegeben ist. Die empirischen Mutationsraten wurden durch die Analyse von 2471 Familien im Konsortium zwischen 1997 und 2004 erhoben. Während des Telefonats wird nicht die Wahrscheinlichkeit berechnet, sondern es wird auf Basis von Informationen über Brust- und Eierstockkrebserkrankungen in der Familie der Ein- oder Ausschluss bestimmt. Folgende Familienkonstellationen sind hierzu aufgeführt: • • 3 MaCa, davon 2 unter 51 J. • • 3 MaCa unabhängig vom Alter • 2 MaCa beide unter 51 J. • 2 MaCa davon 1 unter 51 J. • • 1 MaCa und • 1 OvCa unabhängig vom Alter • 2 oder mehr OvCa unabhängig vom Alter • 1 MaCa unter 31 J. • 1 bilaterales MaCa, das erste unter 41 J. • 1 männliches MaCa Eine Mutationswahrscheinlichkeit von größer/gleich zehn Prozent ist die Voraussetzung für die Gentestung. Der Test wird in der Regel zuerst bei einer Indexperson durchgeführt. Falls keine Indexperson existiert, kann 190

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die Ratsuchende getestet werden, wenn sie das Heterozygotenrisiko nach Cyrillic größer/gleich 20 Prozent und das Lebensrisiko größer/ gleich 30 Prozent aufweist. Vertraglich vorgesehen ist der Zugang zur klinischen Prävention von Personen, die entweder eine nachgewiesene Mutation haben oder wo eine Hochrisikosituation definiert wurde. Das bedeutet entweder ein lebenslanges Erkrankungsrisiko von 30 Prozent und höher oder ein Heterozygotenrisiko von 20 Prozent oder höher. Die Berechnung des Risikos muss mit einer speziellen Software namens Cyrillic erfolgen. Damit schiebt sich eine statistische Berechnung vor die Existenz/Nichtexistenz von Mutationen. Mit Cyrillic wird auf der Grundlage der Stammbauminformationen das individuelle Risiko berechnet Mutationsträger zu sein. Interessant ist, dass vertraglich Personen von dem Angebot ausgeschlossen werden, wenn sie es ablehnen, sich trotz eines festgestellten erhöhten Risikos testen zu lassen. Auch gilt, dass Personen, die an den Früherkennungsmaßnahmen teilnehmen, bei zweifacher Nichtteilnahme ausgeschlossen werden (Anlagen zum Vertrag: 33). Zwei Konzeptionen schieben sich ineinander: Auf der einen Seite steht der informierte und selbstbestimmte Patient, der in den humangenetischen Beratungen nicht-direktiv über die genetische Testung und medizinische Möglichkeiten beraten werden soll. Auf der anderen Seite sehen wir die disziplinierende Konzeption des Vertrages. Im Health Technology Assesment 2004 wurde dies problematisiert. Die Verweigerung des Zugangs bei Ablehnung der Testung würde das Prinzip der nicht-direktiven Beratung unterlaufen und damit im Widerspruch zu bestehenden Richtlinien der Bundesärztekammer zur genetischen Beratung bei erblichen Krebserkrankungen stehen, in welchen eine nichtdirektive Beratung verbindlich vorgeschrieben ist (Gerhardus et al. 2004: 184).

Sammeln, sammeln, sammeln Nach §10 sind die Zentren zur Dokumentation verpflichtet. Die Ratsuchenden müssen hierfür eine Einwilligungserklärung unterschreiben. 2002 stellte das Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig in Abstimmung mit dem Verbundprojekt bei der Deutschen Krebshilfe einen Antrag für das Projekt „Zentrale Dokumentation, Biometrie und Informatik im Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe ‚Familiärer Brust- und Eierstockkrebs‘“. Das Institut für ist seit 2002 im Verbundprojekt für die zentrale Dokumentation verantwortlich. Ein wichtiges Betreben war die Entwicklung eines einheitlichen Dokumentationsstandards. Dieser definiert die von den Zentren zu erhebenden Merkmale und ihre genauen Eigenschaften. Der besonderen Bedeutung von Datenbanken kann ich in meiner Studie nicht 191

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gerecht werden, da es sich um ein extrem komplexes eigenes Forschungsfeld handelt. Allein die Dokumentationsbögen für die Erfassung der Daten sind für eine außenstehende Person beeindruckend und es ist bedauerlich, dass ich Ihnen diese hier nicht präsentieren kann. Für die Akteure der Zentren bedeuten sie vor allem eines: einen zeitlichen Mehraufwand. In der Anlage 7.3 Bildgebende Verfahren und deren Evaluation des Vertrages wird festgehalten, dass die Patientinnen und die Zentren zustimmen müssen, dass „die Bilddaten zum Zwecke der wissenschaftlichen Evaluation und dem Erkenntnisgewinn zentral angefordert werden, dass sie für die weitere (ggf. auch spätere) wissenschaftliche Evaluation digital zur Verfügung gestellt werden können und ggf. auch digitalisiert werden können“ (Anlage 7.3). Bei prophylaktischen Operationen müssen laut der Anlage 8.1 Standardisierte Aufarbeitung der prophylaktisch entfernten Organe diese „standardisiert aufbereitet und befundet werden“. Das Gewebe muss einem der beiden Referenzpathologen des Verbundes in toto zur Verfügung gestellt werden. Das Ziel ist „die Etablierung einer Tumorbank von BRCA-getesteten Familien für weiterführende wissenschaftliche und klinisch relevante Untersuchungen“ (Anlage 8.1). Allerdings sind prophylaktische Operationen nach §6, Kostenübernahme des Vertrages, nicht Gegenstand des Vertrages. Allein diese Beispiele werden deutlich machen, wie zentral die Gewinnung und Sammlung von Daten und Material war und ist. Damit wird ein anderer Aspekt von Standardisierung deutlich. Es geht nicht nur um die Standardisierung von Abläufen in einer Gegenwart, sondern auch um Zukunftsfragen. Was wann und mit welchen Daten oder mit welchem Material passieren wird, ist eine interessante Frage.

Geldfragen – §6 Kostenübernahme Im Vertrag wird die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen geregelt. Danach sind Maßnahmen in Pauschalen abzurechnen. Folgende Pauschalen sind für folgende Leistungsbereiche festgelegt: • Risikofeststellung und interdisziplinäre Beratung: Einmalige Pauschale in Höhe von 700 Euro pro Familie. • Genanalyse: Pauschale in Höhe von 1.800 Euro (Index) und in Höhe von 170 Euro (prädiktiver Test). • Früherkennungsmaßnahmen: Pauschale für das strukturierte Früherkennungsprogramm in Höhe von 460 Euro. Budgets und Pauschalen stellen Steuerungselemente für die Leistungserbringung dar, die dazu dienen sollen, eine medizinisch unbegründete 192

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Ausweitung von Diagnostik und Therapie durch Ärztinnen und Ärzte zu verhindern. Ein Problem mit der Einführung von Budgets und Pauschalen könne nach Gerlinger seit Mitte der 1990er Jahre im stationären Sektor beobachtet werden: Ärzte und Krankenhausleitungen würden medizinische Entscheidungen verstärkt an ökonomischen Erwägungen ausrichten (Gerlinger 2003: 381). Auch wenn die Frage nach dem Geld nach wie vor unliebsames Thema zu sein scheint, wenn es um die medizinische Versorgung geht, ist sie doch allerorten präsent. Geld spielte auch eine Rolle, als es um die Forderung der Übernahme der Leistungen des Verbundprojektes in die Regelversorgung 2001 ging. So argumentierte 2001 Peter Propping, Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Bonn und damaliger stellvertretender Vorsitzender des Medizinischen Beirates der Deutschen Krebshilfe, dass ein Gentest nicht nur viele Mitglieder aus Risikofamilien entlaste, sondern auch eine Kostenersparnis für die Krankenkassen bedeute (Mitteilung der Deutschen Krebshilfe vom 30.09.2001, www.krebshilfe.de [19.04.2007]. Die Frage nach dem Geld muss somit von unterschiedlichen Perspektiven aus betrachtet werden, von denen wir zwei in dieser Passage sehen konnten: die Perspektive der Krankenkassen und die Perspektive der Kliniken und der Ärztinnen und Ärzte.

6.4 Institutionalisierungen und Standardisierungen Wenn von Institutionalisierung die Rede ist, dann soll genau damit pointiert werden, dass Institution kein statisches Gebilde ist, sondern gemacht werden muss. Auch wenn in dieser Passage lediglich Skizzen über den Institutionalisierungsprozess möglich waren, sollten doch die enormen Verdichtungen einer medizinischen Praxis deutlich geworden sein, die sich innerhalb eines kurzen Zeitraums entwickeln konnte. Die Institutionalisierung stabilisierte nicht nur die Brustkrebs-Gene und die Laborpraktiken der molekulargenetischen Testung, sondern ebenso die humangenetische Beratung und die intensivierte Früherkennung sowie anknüpfende Körper-Interventionen, wie die prophylaktische Operation. Dieser Prozess wäre nicht zu denken ohne die vielfältigen Standardisierungen, die im Verbundprojekt passierten. Der Prozess ist heute keineswegs abgeschlossen. Als eine große Woge überschwemmten Praktiken des Standardisierens das Gefüge und fingen den Alltag regelrecht ein. Allein der Vertrag mit den Krankenkassen und vor allem seine Anlagen sind hierfür ein eindrucksvolles Zeugnis. Damit erreichten die menschlichen und nicht-menschlichen Akteure, die sich um das Brustkrebs-Gen 193

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gruppierten und ihre Praktiken eine neue Form. In der Institution des Verbundprojektes wurde die Erarbeitung, Etablierung und Praktizierung von Standards eine zentrale Aufgabe und gleichzeitig wirkten diese Prozesse formgebend auf die Institution ein. Oder anders formuliert: Institutionalisierung bedeutete Standardisierung und Standardisierung bedeutete Institutionalisierung. Beide zusammen ließen und lassen Dinge und Menschen auf spezifische Art und Weise entstehen. Institution in Begriffen von Bewegung, Relationalität und Werden zu studieren ist ohne Zweifel wichtig, will man die Black Box Institution öffnen und ihr Innenleben studieren. Wolf-Dieter Narr spricht von einer „Psychologie der Institutionen“ (Narr 1988: 126), derer es bedürfe, um die Black Box zu öffnen und ihr Inneres auf- und erschließen zu können. Bowker und Star (1999) betreiben ähnliches, jedoch nicht unter dem Begriff der Institution, sondern mit den Begriffen Standard, Klassifikation und Infrastruktur im Mittelpunkt ihres Interesses. Für allesamt gilt eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie leben oder funktionieren im Vergessen ihres eigenen Werdens und Geworden-Seins. Es ist eine zentrale „Memory Practice“ (Bowker 2005), Erinnerungen an „Geburt und Werden“ (Narr 1988: 127) auszulöschen, beziehungsweise umzuschreiben und so der Institution immer wieder neu ihre Geschichte zu geben; History in Making. Die Verflüssigung der Institution Verbundprojekt hat einige ihrer Zutaten ans Tageslicht oder ins Bewusstsein gebracht, die ich im Folgenden noch einmal verdichtet rekapitulieren möchte.

In- und Exklusionen Man kann die Entwicklung des Verbundprojektes als eine von In- und Exklusionen verstehen. Erstens zielte sie auf die Patientinnen-Subjekte. Im Verbundprojekt wurden sowohl in Bezug auf Familienkonstellationen als auch in Bezug auf Wahrscheinlichkeitsberechnungen Einschlusskriterien festgesetzt und ein Prozedere eingeführt, nach welchem der Ein- beziehungsweise Ausschluss zu funktionieren hatte. Zweitens zielte sie auf die beteiligten Disziplinen beziehungsweise ihre menschlichen Akteure selbst: Humangenetikerinnen und Humangenetiker, Psychologinnen und Psychologen, Forschende, Ärztinnen und Ärzte et cetera. Nicht alle wurden gleichermaßen Teil des Verbundprojektes. Die Niedergelassenen fielen aus dem Verbundprojekt heraus, da Zentren an Kliniken die Orte sein sollten, an welchen die Arbeit – Testung, Beratung, Früherkennung – stattfinden sollte. Die Exklusion von Niedergelassenen wiederum fand seine Entsprechung in der Exklusionspraxis von Menschen, die aufgrund von definierten Kriterien nicht als PatientinnenSubjekte eingeschlossen wurden.

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Subjektivierungen Wenn also die Institution Verbundprojekt Patientinnen einschließen wollte, dann mussten diese auch vorhanden sein. Damit komme ich zu einem nächsten Merkmal der Institutionalisierung von BrustkrebsGenen. In den In- und Exklusionen wurde ein bestimmtes PatientinnenSubjekt geschaffen: die betroffene, hilflose und, ob des Vorhandenseins von Testmöglichkeiten beziehungsweise Testergebnissen, überforderte Frau, welche durch die Beratung ermächtigt werden sollte, eine für sie „richtige“ Entscheidung zu treffen. Ich wiederhole: Es geht mir nicht darum zu behaupten, dass Frauen so waren oder sind, sondern um einen Prozess der Subjektivierung, der bestimmte diskursive und nichtdiskursive Praktiken möglich werden ließ. Das Patientinnen-Subjekt war als Vorgestelltes wiederum auch die Bedingung der Möglichkeit für das Zusammenkommen der Ad-hoc-Gruppe im Jahr 1995. Damit meine ich, dass sie nicht von vornherein als Subjekt existierte, sondern dass der Institutionalisierungsprozess ebenso als einer der Subjektivierung aufgefasst werden muss. Ich betone, dass es mir nicht darum geht, damals vorhandene Befürchtungen und den Willen zur Sorge um die Betroffenen nicht ernst zu nehmen. Mein Wunsch ist es deutlich werden zu lassen, was alles in die Institution Verbundprojekt geflossen ist und welche Bewegungen, Relationen und Entstehungsprozesse daran beteiligt waren. Institutionelle Rollen und Reibungen Das Patientinnen-Subjekt fand seine institutionelle Entsprechung in der psychologischen, aber vor allem in der humangenetischen Beratung. Während die psychologische Beratung noch in der durch die Deutsche Krebshilfe finanzierten Förderphase obligatorisch zur Beratung dazugehörte, wandelte sie sich mit der Kostenübernahme durch die Krankenkassen zu einem Angebot. Ein psychoonkologischer Fragebogen besteht heute noch, wirkt jedoch mehr wie ein Anhängsel und insgesamt scheint die Relevanz, die der psychoonkologischen Betreuung anfänglich beigemessen wurde, zu schrumpfen. Dies spiegelt sich auch in der Literatur zum Thema wieder, in welcher allgemein festgehalten wird, dass die Belastung der Mitteilung von positiven Testergebnissen weniger stark sei, als angenommen (Gerhardus et al. 2004: 55). Ohne, dass man Psychoonkologie und Humangenetik gleich setzen kann, sehen wir in diesem Prozess, wie sich die Rollen der beteiligten Disziplinen verschoben. Die Rolle der Psychoonkologie schwächte sich sukzessive ab, während die humangenetische Beratung ihre Rolle ausbauen konnte. Betrachtet man den Anforderungskatalog für die Weiterbildung zum Arzt für Humangenetik, ist es wenig erstaunlich, dass eine Ausbildung zur Gesprächsfüh195

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rung und Psychotherapie dazugehört. Zugespitzt lässt sich sagen, dass interdisziplinäre Spannungen von Anbeginn an Teil des Institutionalisierungsprozesses waren. Disziplinäre Überschneidungen, interdisziplinäre Reibungen und Zusammenarbeit liegen nebeneinander und bilden ein bewegliches Moment des Verbundprojektes. Passförmig wurde so die Patientin der humangenetischen Beratung, die in der Sprache der Humangenetik auch als Ratsuchende bezeichnet wird, zu einer informierten Patientin. An diesem Anriss wird deutlich, dass der Institutionalisierungsprozess nicht nur einer der In- und Exklusionen war, sondern ebenso einer der Herstellung unterschiedlicher Rollen oder Verhaltenserwartungen und Arbeitsteilungen. Beide Entwicklungen zielen sowohl auf die im Verbundprojekt Tätigen als auch auf die mit ihm entstandenen Adressaten, die Patientinnen-Subjekte.

Lebendige Institutionen Die geschaffenen Rollen sind nicht zu verwechseln mit den Menschen, die sie ausfüllen. Die vor- und hergestellte Patientin entspricht ebenso wenig den mannigfaltigen Menschen einer sozialen Wirklichkeit, wie die festgeschriebene Rolle des Humangenetikers. Es ist ein ständiger Prozess des Einpassens, Einübens und auch des Widerständigen und Störenden, der dieses institutionelle Verfassen begleitet. Institutionalisierung ist eben auch ein Reibungsprozess zwischen Verhalten und Erwartung. Um diesem Prozess zu folgen, muss man sich in den institutionellen Alltag begeben. Damit bin ich bei einem wichtigen Punkt meiner Studie angelangt. Der hier vorgelegte Schnelldurchlauf durch die Praktiken der Institutionalisierung hat deutlich werden lassen, wie sich ein Netz aus Standards im und mit dem Verbundprojekt über die Jahre bilden konnte. Heute gibt es sowohl Standards in jedem Zentrum des Verbundes, die institutionalisierend wirken als auch Institutionen (Zentren, Verbundprojekt, Krankenkassen) die standardisierend wirken. Auf der Oberfläche ist es aufgrund von hergestellten und auf Papier festgehaltenen Standards möglich zu beschreiben, wie die Zusammenarbeit angelegt ist und welche Wege die einzelnen menschlichen und nichtmenschlichen Akteure zu gehen haben. Was uns allerdings fehlen dürfte, ist die alltägliche Erfahrung derjenigen, die im Gefüge arbeiten sowie das aktive relationale Zusammenwirken von Menschen, Dingen und Maschinen. Eine Passage, die jetzt bevorsteht: eine ethnographische Studie über den Alltag in der Tumorgenetik in Berlin-Buch.

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7. I M A L L T AG

DER

TUMORGENETIK

Die Passagen gleiten aus einer Vergangenheitsstudie in eine teilnehmend zu beobachtende Gegenwart, die allerdings schon wieder zur Vergangenheit geworden ist. Siegfried Scherneck und die Arbeitsgruppe Tumorgenetik lernte ich über einige Umwege kennen. Das Zusammentreffen kann nicht anders als ein äußerst produktiver Zufall beschrieben werden; ein Hinweis darauf, dass Wissenschaft kein lineares und ausschließlich vom Wissenschaftler selbst gesteuertes Hinaufeilen zu höchster Erkenntnis ist. Wie immer sind wesentlich mehr menschliche und auch nicht-menschliche Akteure/Aktanten am Projekt Wissenschaft beteiligt. Die erste Begegnung mit dem Labor-Locus fand im Sommer 2005 statt. Ich fuhr nach Berlin-Buch. Dem Treffen hatte ich per E-Mail einen kurzen Text darüber vorausgeschickt, was mich zum damaligen Zeitpunkt am meisten interessierte, nämlich die Verbindungen zwischen Molekularbiologie und Brustkrebsforschung. Meine für Scherneck mit allerlei Bezügen zu wissenschaftshistorischen Forschungen über Experimentalsysteme und den Science & Technology Studies ausgestattete Frage war, wie ein neues biomedizinisches Gefüge um die Brustkrebs-Gene entstehen konnte und wie es heute darin möglich ist, dass die Zirkulationen von Materialien, Menschen, Informationen zwischen den beteiligten Loci in diesem Gefüge funktionieren. Nun saßen wir uns also in seinem Büro gegenüber und ich erinnere mich sehr deutlich, wie dieser Wissenschaftler auf mein Geschriebenes blickte, dann zu mir sah und sagte: „Ich verstehe Sie nicht.“ Damit war der Anfang einer längeren Begegnung mit einer für mich – einen disziplinär aus den Sozialwissenschaften kommenden Menschen – zu-

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nächst doch recht anders anmutenden Welt erfolgt. War ich unverständlich? Wo lagen die Probleme des Verstehens? Scherneck erzählte mir von der Arbeit der Tumorgenetik. Dabei hob er den Familiären Brustkrebs als zentralen Gegenstand hervor. Ein zweites Treffen folgte und ein drittes. In diesen Begegnungen erfuhr ich Genaueres über die dortige Arbeit, über die aktuellen gentechnologischen Entwicklungen in der Tumorforschung, über die Anfänge der Erforschung des Familiären Brustkrebses und über die Zusammenarbeit im Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“. Während nun Scherneck auf diverse Aspekte außerhalb des Labors hinwies und diese zu einem Forschungsfeld erklärte, welches für mich (als Sozialwissenschaftlerin) doch spannend sein müsste, wurde für mich das Laborinnere zu einem immer interessanteren Ort. Was der Biowissenschaftler Scherneck aus einer sich von ihm vorgestellten sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise als äußerst uninteressant empfand (was gibt es im Labor schon zu entdecken?), galt für mich umgekehrt als ausgesprochen anziehend: der Labor-Alltag. Während Scherneck auf die zahlreichen mit der genetischen Diagnostik verbundenen ethischen Probleme (Recht auf Nicht-Wissen, Informationsbegehren der Krankenkassen) hinwies oder die Frage nach der Un-Möglichkeit der Patentierbarkeit von Genen ansprach, wollte ich vor allem erst einmal wissen, was genau im Labor passiert. Passagenstudien: Wie kommen Dinge und Menschen zusammen, welche Beziehungen werden hergestellt und wie funktionieren sie? Mein Interesse am Alltag der Tumorgenetik wurde vielleicht nicht verstanden, aber es wurde auch nicht als abwegig abgetan. Im Gegenteil! „Sie können kommen und so lange bleiben, wie Sie wollen“ (Scherneck 2005). November 2005: An einem Wintermorgen komme ich in die Arbeitsgruppe. Die molekulargenetische Testung von Genen, die sogenannte Gendiagnostik, ist hier Alltag. Gleichzeitig ist das Labor ein Locus verschiedener Tumor-Forschungen. Drei Projekte der Gruppe unter der Leitung von Siegfried Scherneck werden im wissenschaftlichen Bericht des MDC 2006 für die Forschungsperiode 2004 und 2005 genannt: „Identifying and managing hereditary risk for breast cancer – implications for medical care“, „Search for genes and gene networks involved in breast cancer“ und „Supression of tumorigenicity in breast cancer cells by the microfilament protein profilin 1“ (MDC 2006: 120f.). Ich betrete ein Gebäude auf dem weit verzweigten Gelände des MDC in Berlin-Buch nicht ohne mich vorher beim Pförtner in einem anderen Gebäude anzumelden und mir eine Chipkarte zum Öffnen der Eingangstür geben zu lassen. Mit meinem Türöffner ausgestattet, gelan198

IM ALLTAG DER TUMORGENETIK

ge ich in das Gebäude und auf die Etage, auf der die Tumorgenetik ihre Räume besitzt. Siegfried Scherneck und Kerstin Meier, eine seit 1997 in der Tumorgenetik arbeitende Kollegin, empfangen mich und wir gehen in einen Laborraum. Eine Arbeitsbesprechung findet statt. „Mein erster Kontakt mit der Sprache des Labors. Ich verstehe kein einziges Wort! Es ist so, als wenn ich mit Menschen zusammensitzen würde, die sich in einer anderen Sprache unterhalten“ (Eintrag aus meinem Forschungstagebuch, 14.11.2005).

Noch von dieser verstörenden Erfahrung erfüllt werde ich vorgestellt und an eine Mitarbeiterin übergeben, deren Alltag ich zunächst einmal begleiten soll. Verena Gimmel, Biologin, ist in der Hauptsache mit der molekulargenetischen Testung befasst. Nach einer Einführung in die Sicherheitsbestimmungen des Labors, einer Unterschrift auf einem Besucherformular, einem kurzen Rundgang und einer Kittelübergabe bin ich bereit: Der Laboralltag kann kommen. Zwei Wochen werde ich in der Tumorgenetik bleiben und vor allem den Arbeitsalltag von Verena Gimmel begleiten. Teilnehmende Beobachtung bedeutet für mich, dass ich ein Stück weit in den, im Labor stattfindenden, Arbeitsalltag integriert werde, mit den dort Arbeitenden zum Mittagessen in die Kantine gehe und an den Kaffeepausen teilnehme. „Teilnehmend“ bedeutet also nicht, dass ich Labor-Arbeiten übernehmen kann, bis auf ein, zwei kleinere Handreichungen. Ich unterhalte mich mit Siegfried Scheneck, Kerstin Meier, Verena Gimmel und anderen und ich sitze im Laborraum oder im Maschinenraum, beobachte die Praktiken und mache mir Notizen in mein Labortagebuch. Nach den zwei Wochen komme ich immer wieder auf Tagesbesuche und führe Interviews bis sich die Arbeitsgruppe Ende 2006 auflöst und sich ihr menschlicher und nicht-menschlicher Inhalt verstreut. Es stellt sich für mich die Frage einer Ordnung der Darstellung des Laboralltags. Ich werde in Räumen vorgehen und sie zum Ausgangspunkt der Betrachtung machen. Bereits Latour und Woolgar (1986) haben in ihrer Laborstudie die vorgefundene Raumordnung zwischen „Büro“ und „Bench“ zum Ausgangspunkt ihrer ethnographischen Erkundungen gemacht. Auch Soraya de Chadarevian bezieht die Frage nach dem Raum der Forschung in ihre Analyse mit ein und fragt am Beispiel des Laboratory of Molecular Biology in Cambridge: „Geben das Gebäude und seine interne Organisation Aufschluss über die Struktur der Arbeit und des Wissens, das darin produziert wurde“ (Chadarevian 1994: 186)? In der Arbeitsgruppe Tumorgenetik sind drei Räume zu betreten. Alle Räume 199

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sind Mischungen aus Menschen und Dingen und doch unterscheiden sie sich durch die Zusammensetzung des jeweiligen Inhalts, durch die Praktiken und Produkte. Der erste Raum ist das Labor und den zweiten Raum nenne ich den Maschinenraum. Den dritten Raum nenne ich „Denkzelle“. Diesen Begriff habe ich von den in diesem Raum der Tumorgenetik Arbeitenden übernommen. Kerstin Meier erzählte mir zum Begriff der Denkzelle: „Das ist ein üblicher Begriff unter Wissenschaftlern, die oft nur in kleinen Räumen über ihren Papern sitzen“ (Meier 2007).

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Abbildung 8: Laborraum

Quelle: Sonja Palfner 2006

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7.1 Erster Raum: Labor Der erste Raum ist ein sehr lebendiger Versammlungsort von Dingen und Menschen. An einem langen Tisch befinden sich zwei, bei Bedarf drei Arbeitsplätze. Auf dem Arbeitstisch steht an jedem Arbeitsplatz eine Art Karussell, wie man es aus Büros von Beamten als Aufbewahrungsort von allen möglichen Stempeln kennt, hier mit diversen Pipetten ausgestattet. In einer offenen, mit Eis gefüllten Box sieht man beschriftete kleine Plastikröhrchen, die „Tubes“ genannt werden. In einem anderen Kästchen stecken Plastik-Aufsätze. Auf die Pipette gesteckt nehmen sie Flüssigkeiten auf, die in wiederum andere Tubes abgefüllt werden. Ein kleiner Tischmülleimer nimmt den produzierten Plastik-Müll (Aufsätze und Handschuhe) auf. Daneben liegt auf dem Tisch das Laborbuch. In diesem werden die Bearbeitungen der DNA-Proben protokolliert. Es ist ein Verlaufsbuch über den Bearbeitungsweg, den die Proben gehen müssen, bis aus ihnen ein Befund entsteht, der das Labor in Richtung Humangenetik verlässt. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ebenfalls ein langer Tisch. Darauf befinden sich Geräte, ebenso wie auf einem kleineren Tisch in der Mitte des Raums. Es gibt zwei große Kühlschränke, darin lagern Kästen mit DNA-Proben und andere Dinge wie Primer, die für die Bearbeitung der DNA notwendig sind. Neben einem der Kühlschränke sind Akten in Hängeregistern einsortiert und an den Wänden steht eine große Anzahl von Ordnern. Wie in jedem Laborraum dürfen ein Waschbecken und ein besonderer Arbeitsplatz mit Abzug (der jedoch in der Tumorgenetik nicht genutzt wird) nicht fehlen. Im Labor ist das Brustkrebs-Gen in einer Vielheit anwesend. Die DNA wartet im Gefrierfach auf ihren Einsatz oder sie ist gerade Teil der zur Testung gehörenden Praktiken. Die DNA ist vielleicht noch EDTABlut oder sie ist schon in Exons fragmentiert und mittels PCR amplifiziert. Exons sind die Teile des Gens, von denen man annimmt, dass sie bei der Proteinbiosynthese in Aminosäuren übersetzt werden. Sprich, Exons sind die informativen Teile des Gens, während man bei den Introns mehrheitlich davon ausgeht, dass sie keine für die Codierung und Proteinbildung notwendigen Informationen enthalten (wobei sich auch diese Annahme ändert). Möglicherweise wird die DNA gerade in einem anderen Raum und mittels einer DHPLC-Analyse zur Kurve, also zu einem technischen Bild. Vielleicht ist sie schon zur Sequenz geworden und wird gerade ausgedruckt und in eine Akte einsortiert? Neben den neuen und in der Diagnostik zu bearbeitenden DNAs lagern hier auch alle Proben, die im Laufe der Jahre gesammelt wurden und möglicherweise zu weiteren Forschungen gebraucht werden. Nicht 202

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nur DNA wird tiefgefroren, sondern immer auch eine Blutprobe, aus der bei Bedarf neue DNA gewonnen werden kann. Ich erinnere an Wender, der mit dem Auto Anfang der 1990er Jahre durch die BRD fuhr, um Stammbäume und Blutproben von Menschen zu sammeln. Dieses Material befindet sich nach wie vor im Laborraum der Tumorgenetik – es sei denn, man hat es über die Zeit aufgebraucht. Vielleicht ist der Mensch tot, seine DNA jedoch wird dieses Ereignis in einer Tube überdauern. Nicht nur das menschliche Material hält sich hier auf, sondern auch die dazugehörigen Akten mit gezeichneten Stammbäumen und produzierten Bildern der DNA. Der Stammbaum und die Einwilligungserklärung markieren einen Kontrollpunkt der In- und Exklusion von der molekulargenetischen Testung. Sind die Einschlusskriterien erfüllt, liegt eine Unterschrift vor? Der Stammbaum weist die DNA als potentielle Mutationsträgerin aus und verweist bei Identifikation einer Mutation auf weitere zu testende Familienmitglieder. Wir können sagen, dass das Brustkrebs-Gen als Vielheit in einer Verkettung dieser unterschiedlichen Zustände existiert und immer kommt es zu Sichtbarmachungen in Formen von technischen Bildern und zur Produktion von geschriebenen Dokumenten – sei es ein Befundbrief oder eine wissenschaftliche Publikation. Erfolg bedeutet, dass Dinge hergestellt werden, die für den weiteren Arbeitsablauf notwendig sind und dass am Ende ein Befund über die DNA eines Menschen oder eine Publikation das Labor verlassen kann. Die Kunst der Diagnostik besteht darin, alle DNAs zu versammeln und Schritt für Schritt jedes einzelne Exon abzuarbeiten – von der PCR bis zur Sequenz – sodass am Ende eine Zusammenführung der gewonnenen Bilder und eine Begutachtung der Sequenzen in einem Befundbrief stehen.

7.1.1 PipetteHand – Ein Anschauungsstück über technische Vermittlung Was sind die Instrumente der Arbeit? An erster Stelle: „Die Pipette. Und mein Daumen, der im Moment nicht mehr so gut mitspielt“ (Gimmel 2006: 1). Was erschließt sich auf den ersten Blick bei Betrachtung des Innenlebens des Labors, wenn man weder mit den Arbeitsabläufen und Gerätschaften noch mit den anwesenden Menschen und Dingen vollkommen vertraut ist? Im Laborraum arbeiten in der Regel zwei Frauen. Manchmal noch eine Doktorandin und/oder ein Praktikant. Die Menschen sind damit beschäftigt, mit einem Gerät Flüssigkeiten von einem Behältnis in ein anderes zu bringen. Es wird PIPETTIERT. Alle sind – eine Pipette in der Hand – mehr oder weniger immer wieder dabei, Flüssigkeiten zu bewegen. Es scheint eine nie enden wollende Tätigkeit zu 203

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sein. Eine der Frauen macht kaum etwas anderes. Wiederholend dieselben monotonen Handbewegungen: Aufsatz auf die Pipette bringen, Flüssigkeiten von einem Behältnis einziehen, Flüssigkeiten in ein anderes Behältnis abgeben, Aufsätze wegschmeißen, neue Aufsätze auf die Pipette bringen. Zwischendurch werden Sachen in ein Laborbuch geschrieben, Bilder hineingeklebt, neue Tubes aus dem Gefrierschrank genommen und weiter geht es. Abbildung 9: PipetteHand

Quelle: Sonja Palfner 2006

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Über den Ablauf selbst ist nicht zu erkennen, was mit diesen Handlungen zusammengebracht wird. Das Auge sieht nur durchsichtige Flüssigkeit (wenn überhaupt) und davon ziemlich wenig. Pipettieren ist ein Arbeitsschritt der zur Polymerasekettenreaktion gehörenden Praktiken. Die PCR wird als „eine der diagnostisch bedeutsamsten Neuerungen der molekulargenetischen Methodik der letzten Jahre“ (Kulozik 1990: 110) gesehen. Noch gar nicht so alt – die ersten Artikel über PCR stammen von 1985 – ist sie heute aus vielen Laboralltagen nicht mehr wegzudenken. Paul Rabinow hat sich diesem „simple little thing“ und seinem Werden – Konzept, Experimentalsystem, Technik – gewidmet; einer Praktik, die heute weltweit millionenfach angewandt und weiterentwickelt wird: „Learning and making and remaking: new variants of instruments, practices, spaces, discourses“ (Rabinow 1996: 167). Die PCR ist zentraler Bestandteil der BRCA-Testung, also der Gendiagnostik. Mit ihr wird die Amplifikation, also die Vermehrung, eines definierten DNA-Fragmentes in kurzer Zeit erreicht. Sprich, aus einem DNAMolekül werden zwei, aus denen vier und so weiter. Zwar besitzt man die Ausgangs-DNA, allerdings zu wenig davon. Um mehr DNAFragmente zu erhalten, lässt man sie sich also unter Verwendung von spezifischen Oligonukleotide (die sogenannten Primer), hitzestabiler DNA-Polymerase und anderer Zutaten vermehren. Die Bestandteile der PCR werden mittels Pipette zusammengebracht. Als Gemisch findet der Prozess der Amplifikation durch eine PCR-Maschine statt. Auf den ersten Blick scheint die Pipette wenig aufregend zu sein. Sie ist in den Arbeitsablauf integriert und bildet mit dem Menschen, der sie in seiner Hand hält, ein unauffälliges Ensemble des Laboralltags. Erst auf den zweiten Blick entfaltet sich das komplexe Zusammenspiel von Technik, Mensch und Ding und lässt das Pipettieren zu einem Anschauungsstück über technische Vermittlung, wie Latour (1998) das Interagieren von Technik und Mensch bezeichnet, werden. Damit ein scheinbar einfacher Vorgang, wie das Pipettieren funktionieren kann, braucht es eine genaue Ordnung darüber, was und wer, wann und wie zusammenkommen muss, damit eine Hand, ein Daumen, eine Pipette, eine DNA, Primer oder andere Flüssigkeiten in ihrem Zusammenwirken einen Sinn ergeben. Bei der Handhabung der Pipette fängt es an. Auf der einen Seite ist es ohne Zweifel der Mensch, der sie in die Hand nimmt, sie betätigt und mit ihrem Einsatz Flüssigkeiten bewegt. Gleichzeitig ist es die Pipette, die eine Mechanik besitzt, die es überhaupt erst erlaubt, dass auf eine ganz spezifische Art und Weise Flüssigkeiten aufgenommen werden können. 205

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Die Pipette – wie von Zauberhand geführt. Der menschliche Einsatz verliert sich für den Betrachter in Nichtigkeit. Eine einfache, nicht einmal körperlich anstrengende Tätigkeit wird man sich denken. Ich werde während meines Laboraufenthalts eines Besseren belehrt. Meine Finger erweisen sich als äußerst ungelenk. Sie wollen nicht, wie die Pipette will. Wer einmal die Gelegenheit haben sollte, eine Pipette zu bedienen, wird feststellen, dass auch eine vermeintlich einfache Bewegung dem Menschen einige Übung abverlangt und körperlich nicht ohne Wirkung bleibt. Die Äußerung über den Daumen, der „nicht mehr so gut mitspielt“, deutet an, dass das vermeidliche „Kinderspiel“ seine Grenzen hat. Die Pipette enthält nicht nur die Geschichte ihres ganzen Produktionsprozesses ohne dass man es sieht, sondern auch eine Geschichte der Kalibrierung und Standardisierung von Maßeinheiten. Sie wird nicht im Labor hergestellt und die dort Arbeitenden könnten dies auch gar nicht bewerkstelligen. Sie sind darauf angewiesen, dass das technische Gerät an anderen Orten produziert wird und zwar so, dass damit ein Arbeiten möglich ist. Man muss sich darauf verlassen können, dass die Pipette funktioniert und genau die Menge an Flüssigkeit aufgenommen wird, die man vorgibt. Dafür braucht es natürlich eine Vorrichtung an der Pipette, die es erlaubt, Volumina-Einstellungen vorzunehmen. Würde es keinen Standard der Pipetten geben, dann könnte der Mensch nicht mit ihr arbeiten. Er muss sich darauf verlassen, dass bei einem bestimmten Einsatz ein bestimmtes Ergebnis produziert wird. Insofern fügen sich Mensch und Pipette zu einem „Hybrid-Akteur“ (Latour 1998: 35) zusammen. Nun sind es jedoch nicht nur Mensch und Pipette, die eine gewisse, aufeinander abgestimmte Verfasstheit besitzen müssen. Genauso geht es den Flüssigkeiten/Stoffen, die es zu bewegen gilt: DNA, DNA-Polymerase, Primer, Enzyme, Wasser et cetera. Würde man nicht voraussetzen können, dass genau die bestellten und eingesetzten Primer für die Amplifikation von bestimmten BRCA1- oder BRCA2-Exons zu gebrauchen sind und funktionieren, dann würde es die PCR schlicht und ergreifend nicht geben können. Ähnlich wie bei der Pipette, verschwindet der komplette Produktionsprozess der Primer und ist in der konkreten Anwendung unsichtbar. Primer sind nämlich Produkte, die über einen Großhändler bezogen werden. Die DNA: Auch von ihr geht man selbstverständlich in der Aufteilung in verschiedene Exons aus. Primer, Polymerase und Exons können nur deshalb in eine Beziehung zueinander treten, weil sie als Entitäten einen gewissen Grad an Stabilität besitzen, der es erlaubt, ihr Zusammenkommen mit einem sicheren Ziel auszustatten: der erfolgreichen Vermehrung von DNA. 206

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Wer das Pipettieren längere Zeit beobachtet, wird sich davon überzeugen können, dass wir es mit einer hervorragenden Zusammenarbeit zu tun haben. Fast wie von selbst scheint sich die Pipette zwischen den verschiedenen Röhrchen zu bewegen. Die Hand verschmilzt mit der Technik oder anders formuliert: In der gemeinsamen Bewegung lässt sich kaum mehr von einem handelnden Subjekt und einem funktionierenden Objekt sprechen. Beide sind Teil einer standardisierten Bewegung des Werdens von BRCA1 oder BRCA2, ohne welche zweifellos die ganze Arbeit in Chaos versinken würde. Wenn also von Standardisierungen zu reden ist, dann sollte man nicht die beteiligten Menschen aussparen. Es ist die unsichtbare Routine, die es ermöglicht, dass wie von Zauberhand alles dergestalt zusammen kommt, wie es gebraucht wird. Dies erfordert nicht nur ein gutes Zeit-, sondern auch ein Raummanagement. Schließlich müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt die DNAs, aber auch die ganzen anderen benötigten Zutaten, die technischen Geräte und die Menschen, vorhanden sein. Aber noch etwas anderes wird dem Beobachter nach einiger Zeit auffallen: Pipettieren von Hand kostet viel Zeit! Zwölf DNAs von verschiedenen Menschen werden zunächst gesammelt, damit diese zusammen abgearbeitet werden können. Dadurch, dass sowohl BRCA1 als auch BRCA2 sehr große Gene sind, müssen sehr viele PCRs von den verschiedenen Exons gemacht werden. BRCA1 besteht aus 22 Exons. Es müssen jedoch 28 PCR-Produkte hergestellt werden, da Exon 11 so groß ist, dass man mehrere PCR-Produkte hierfür benötigt. BRCA2 besteht sogar aus 26 Exons und es müssen – ebenfalls auf Grund der Größe einzelner Exons – sogar 41 PRC-Produkte hergestellt werden (insgesamt kommen wir auf 69 PCR Produkte!). Die Herstellung von Fragmenten ist eine Notwendigkeit, da die Sequenzierautomaten oder DHPLCMaschinen die Gene nicht in ihrer ganzen Länge analysieren können. Was man bei einer ausschließlichen Betrachtung der Gegenwart nicht erfährt ist, dass die benutzten Pipetten bereits einen Weg der Zeitersparnis in ihrer Entwicklung zurückgelegt haben. Latour hat auf den Unterschied zwischen jenen, zu Pasteurs Zeiten im Einsatz befindlich gewesenen und jenen modernen, mit einer Automatik versehenen Pipetten aufmerksam gemacht. Seine Beobachtung zielt auf die unterschiedliche Verteilung des Könnens der beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure/Aktanten, welche möglicherweise sogar mit dem Verschwinden des Menschen und der vollständigen Übernahme des Vorgangs durch eine Maschine enden könnte. Dass Roboter vormals von Menschen geleistete Arbeit übernehmen können, ist vollkommen gerechtfertigt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Latour nicht in eine analytische Schieflage gerät, wenn er die Entwicklung „zwischen einer Pi207

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pette, die dazu gelernt hat, und einem Menschen, der etwas verlernt hat“ (Latour 1998: 52) beschreibt. Schließlich gewinnt der Mensch ebenfalls neue Fertigkeiten, wenn er beispielsweise einen Pipettier-Roboter bedienen muss. Gleichzeitig verliert die moderne Pipette bestimmte Eigenschaften, wenn ein Roboter die Arbeit übernimmt. Auch in der Tumorgenetik des MDC ist die Übernahme des Pipettierens durch einen Roboter keine Unbekannte: „Ein anderes Mitglied des Konsortiums hat erzählt, dass die mehr am Roboter machen. Also mit einer Maschine, die auch das Pipettieren übernimmt. Die haben aber eine andere Probenmenge. So etwas lohnt sich nur, wenn man einen anderen Durchsatz hat. Ich kenne das von meiner alten Arbeit. Da haben wir alles nur noch am Roboter gemacht. Da hat das manuelle Arbeiten daraus bestanden, den Computer zu bedienen und den Roboter zu starten. Dafür ist hier die Menge zu gering. Das lohnt sich nicht“ (Gimmel 2006: 1).

Mir geht es nicht in erster Linie um die Frage der Verteilung, die ohne Zweifel in der Geschichte der Pipette – von der handgefertigten PasteurPipette zum Roboter – große Veränderungen erfahren hat. Sondern im Vordergrund stehen die Zeit- und Geldökonomien des Pipettierens. In der Tumorgenetik wird nicht von Hand pipettiert, weil es keine anderen technischen Möglichkeiten gäbe, sondern weil in dem spezifischen Zusammenhang der dort geleisteten BRCA-Analyse eine Neu-Verteilung zwischen Mensch und Roboter nicht rentabel ist. Zeitintensive Handarbeit steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Menge an Dingen, die herzustellen sind. Es gehen offenbar nicht genügend Proben für die Diagnostik ein, die einen Roboter auslasten würden. Handarbeit gibt es (noch), weil die Übernahme der Arbeiten durch Maschinen eine Frage des Durchsatzes, also eine Frage der zu bearbeitenden Probenmenge ist. In der Logik weitergedacht, würde Automatisierung aus sich heraus einen Hunger nach Proben erzeugen. Wir beginnen den einfachen Vorgang des Pipettierens zu zerlegen und stoßen unmittelbar darauf, dass in ihm eine ungeheure Menge von Vorgängen nötig war, um die Abfolge Mensch nimmt Pipette und bewegt Flüssigkeiten in ein kohärentes Handlungsprogramm zu übersetzen. Vor allem wird man bei der Beobachtung des Laboralltags sehr schnell darauf stoßen, dass die Dinge sich keineswegs glatt ineinander fügen.

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7.1.2 Lokale Praktiken: Zwischen Standardisierung und Störung Wenn alles funktioniert, dann bleibt einem das bemerkenswerte und diffizile Zusammenspiel verborgen. It´s like magic. Menschen und Dinge fügen sich in einen Laboralltag, in eine Routine ein. Wenn alles gut geht, dann wird der Aufwand, den es bedarf, die Dinge gemeinsam passieren zu lassen, unsichtbar. Allerdings ist es eine der ersten Beobachtungen aus dem Alltag des Labors, dass die Routine ständig durchkreuzt wird! Es sind genau diese Störungen, welche dem Betrachter helfen, Standards, Routinen, die Mühen ihres Werdens und vorhandene Widerstände im Labor überhaupt wahrzunehmen. Wir kennen ein ähnliches Phänomen aus unserem Alltag. Meistens bekommen wir eine vage Ahnung für die uns umgebenden Komplexitäten erst bei Störungen, beispielsweise wenn der Computer streikt. Glücklicherweise stehen wir nicht ständig vor solchen technischen Verweigerungen.

Standard und Standardisierung Ich gehe mit Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star (2000) davon aus, dass ein Standard erstens ein Set von gemeinsamen Regeln für die Herstellung von Gegenständen ist. Zweitens, dass Standards sich durch eine bestimmte Reichweite auszeichnen und somit Produktionsprozesse an verschiedenen Orten miteinander in Beziehung treten können, Dinge sogar austauschbar werden. Hören wir, was uns dazu aus dem Laboralltag heraus gesagt wird: „Ein Standard hat sich definitiv nicht etabliert. Einen arbeitstechnischen Standard haben wir nicht. Also ich spreche jetzt nur hier von meiner Arbeit. Vom Konsortium generell kann ich es nicht sagen, wobei ich ein Teil dessen bin. Und ich denke, dass wir da im letzten Jahr viel gemacht haben. Ich denke, da haben wir viel standardisiert und insofern vieles in eine Form gepresst. Und wir sind immer noch dabei. Die Materialien, die man benutzt. Die Fragmente, also die Primer, welche man da benutzt und wie man die benutzt, das wird standardisiert. Nicht immer mal den, mal den und dann in dem und dem Gerät und so“ (Gimmel 2006: 17).

Auf der einen Seite unterscheiden sich die Laborpraktiken der Arbeitsgruppen des Verbundprojektes, auf der anderen Seite sollen einheitliche Analysestandards für die Methoden der Diagnostik etabliert werden. Insofern lässt sich sagen, dass der Standard immer etwas von einer idealisierten Form hat, die zumindest im Alltag des Labors nicht glatt funktio-

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niert. Es ist ein aktiver Prozess, der zwischen Standards und Standardisierungen mäandert und über die lokale Praxis eines einzelnen Labors hinausweist. In ihm muss die Spannung zwischen den lokalen IstZuständen und den innerhalb des Verbundprojektes angesetzten SollZuständen produktiv umgesetzt werden. Wobei es nicht nur eine geradlinige Bewegung von Standardisierung gibt.

Die Bedeutung des Lokalen Dieser Prozess zwischen Standard und Standardisierung wird von einer weiteren Spannung durchzogen, die sich zwischen lokaler Praxis und institutionellen Vorgaben ergibt. Manche Unterschiede zwischen den verschiedenen Laboren werden nämlich durchaus als sinnvoll erfahren: „Man kann nicht immer alles hundertprozentig über einen Kamm scheren. Das klappt einfach im Labor nicht. Ein Beispiel: Bei uns geht es im Moment recht gut mit den PCRs, in der Humangenetik gibt es Probleme. Dann hatten die mal unseren Ansatz, unsere Primer und alles genau wie wir benutzt, es klappt nicht. Das sind nicht einmal 30 Kilometer Luftlinie. Insofern kann man es nicht wirklich über einen Kamm scheren. Aber man kann sagen, dass ein Primer keinen Sinn macht, weil der auf einem Polymorphismus oder was auch immer liegt und einfach nicht funktionieren wird. Das kann man machen und das ist auch o.k. und das wird auch gemacht“ (Gimmel 2006: 25).

Man macht sich normalerweise keine Vorstellung davon, was in einem Labor passiert, wenn außerhalb des selbigen auf einen Laborbefund gewartet wird. Oder wie lokal verschieden die Wege sein können, die schließlich alle zu einem Befund führen sollen. Diese Differenz könnte vielleicht in einem anderen Zusammenhang jene produktive Bedeutung erhalten, die in Experimentalsystemen erzeugt wird, um Neues möglich werden zu lassen. Nur müsste sich aus der bereits bekannten Antwort „Der Ansatz funktioniert bei uns nicht“ eine Frage entwickeln, die dann Teil eines Forschungsprozesses wäre und nicht mehr Teil einer Diagnostik. In der Diagnostik hat man nicht vor Neues, sondern ein Ergebnis zu produzieren. Ist ein Schritt des diagnostischen Ablaufs nicht stabil genug, müssen verschiedene Maßnahmen der Stabilisierung ergriffen werden. Dies ist ein kreativer Prozess, in dem sich die Erfahrung der menschlichen Akteure zeigt und der über die im Verbundprojekt vorgegebene Rahmung und Standardisierung der Praktiken hinausweist.

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Materialwiderstände und Störungen Damit komme ich zu einer Spannung in den Praktiken des Laboralltags, die an eine Verselbstständigung der Dinge oder an die Widerständigkeit des Materials erinnert: „Ich hatte gerade wieder Primer, also Fragmente, die immer wunderbar geklappt haben, und jetzt gingen sie nicht mehr. Ich habe anderthalb Wochen eine PCR x-mal wiederholt, die immer wunderbar funktioniert hat, und plötzlich ging sie nicht mehr. Man ist permanent auf einer Fehlersuche, die uferlos ist. Und irgendwann sagst du, ich habe keinen Nerv mehr, ich mache es in einer Woche noch einmal, und dann klappt es auf Anhieb. Das ist wirklich oft so. Oder ich sage zu einer Kollegin, ‚Machen Sie es mal‘ und es klappt. Oder bei ihr klappt es nicht und ich mache es. Das ist natürlich störend. Und Kontaminationen auch. Das sind so Hindernisse, wo man gar nicht weiß, wie das passiert, und wo man nicht mehr weiterkommt. Das stört. Aber es stört nicht wirklich bei der Arbeit, weil es ist ein Teil der Arbeit. Das sind die Probleme, die auftreten und mit denen man arbeiten muss. Das finde ich nicht einmal so wichtig. Also ich finde es viel schlimmer, wenn ein Gerät, wo ich voraussetze, dass das läuft, nicht mehr läuft“ (Gimmel 2006: 18).

Für die Menschen im Labor sind Kontaminationen und Störungen normal. Man erhält den Eindruck, dass die Insignien der Diagnostik – Routine, Stabilität, etablierte Verfahren – in den Alltagspraktiken in ihrer Fragilität vorgeführt werden. Überall trifft man im Labor auf Störungen. Zu einer ähnlichen Beobachtung kommt Vicky Singleton in ihrer Untersuchung zu Laborpraktiken im Rahmen des britischen Cervical Screening Programm, wenn sie über Kontaminationen von Proben im Labor feststellt, dass „this ‚problem‘ was simultaneously deproblematized and incorporated into the role of the laboratory“ (Singleton 1998: 92). Die Integration in den Alltag erfordert verschiedene Strategien: Es können PCR-Zutaten wie beispielsweise die Primer ausgewechselt werden. Die Arbeit kann von einer Kollegin an einem anderen Arbeitsplatz durchgeführt werden. So wird mir erzählt, dass es bei manchen Exons nicht gelungen sei, ein sauberes PCR-Produkt herzustellen. Primer wurden ausgetauscht; es half nichts. Man arbeitete mit besonderer Aufmerksamkeit. Auch dies führte nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Man lies die Dinge sogar einen Tag ruhen und versuchte es ein weiteres Mal, was jedoch ebenso fehlschlug. Dann probierte es eine Kollegin und auf Anhieb funktionierte es. Niemand kann sich solche Phänomene im Labor erklären und doch gehören sie zum Alltag dazu. Es soll auch vorkommen, dass die Luft am Arbeitsplatz mit Fremd-DNA kontaminiert ist und deshalb das Produkt verunreinigt wird. Es kann jedoch auch sein, dass die DNA keine gute Qualität aufweist. 211

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„Wir wissen bis heute nicht, woran vieles gelegen hat. Vielleicht haben wir alte Materialien benutzt, vielleicht haben wir auch einfach noch mit DNAs zu tun gehabt, die so alt waren, dass sie nicht mehr gut waren. Also dass es einfach schwer war, mit denen zu arbeiten. Das haben wir damals auch schon gewusst. Nur wir mussten mit denen arbeiten. Wir hatten nichts anderes“ (Gimmel 2006: 22).

Fehlerquelle Mensch Eine Fehlerquelle ist schließlich der Mensch selbst. Die Proben können durch ungenaues Arbeiten kontaminiert werden und je öfter mit einer DNA gearbeitet wurde, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie durch Kontaminationen verunreinigt wird. Handarbeit ist also nicht nur zeitaufwändig, sondern ein Störfaktor: „Ein gewisser Grad an Automatisierung hat immer einen gewissen Grad von weniger Fehlern im Labor zur Folge. Wenn ich jede Probe einzeln bearbeite und drei, vier Mal das Tube auf- und zumachen, wegstellen und holen muss, ist es oft viel komplizierter, können sich viel mehr kleine Fehler einschleichen, als wenn ich mit einer Mehrkanalpipette arbeite und mit einem großen Durchsatzsystem und so weiter“ (Meier 2006: 20).

Damit stoßen wir auf ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Menschen und Maschinen in der Gendiagnostik. Auf der einen Seite scheinen Maschinen im Gegensatz zu Menschen viele Vorteile zu besitzen. Menschen erscheinen schon fast wie antiquierte Anhängsel eines automatisierten Ablaufs. Sie sind langsamer und machen mehr Fehler. Gleichzeitig sind es die Maschinen, die im Falle eines Funktionsverlustes vor allem stören. Ihr erneutes In-Gang-Setzen unterbricht nämlich den Laboralltag und lässt sich nicht, wie das Austauschen von Primern, intern integrieren: „Ein Problem ist es, wenn technische Geräte streiken. Reparatur, Wartung, Servicemenschen kommen lassen. Das kostet immer Zeit. Das sind sicherlich Probleme, die einen stören, weil man eine Serviceleistung anbietet. Und wenn man nicht zeitgerecht arbeiten kann, weil vielleicht ein technisches Gerät ausfällt, dann ist das wirklich ein Problem“ (Meier 2006: 22).

Zusammengenommen würde ich sagen, dass sich mit der Automatisierung nicht nur eine Veränderung der Verteilung zwischen Menschen und Maschinen abzeichnet und auch nicht nur eine Veränderung der Quantität an Produkten, sondern auch eine neue, auf Zentralisation strebende Raumordnung der molekulargenetischen Testung. Damit meine ich die perspektivische Bewegung hin zur Ausgliederung der Testungen in hie212

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rauf spezialisierte und mit entsprechenden Maschinen ausgestattete Großlabore/Unternehmen.

Die DNA – Eine Bilderspur Doch zurück in den Alltag der Tumorgenetik. Während einem die Hände gebunden sind, wenn eine Maschine streikt, können und müssen andere (potentielle) Störungen in den Ablauf integriert werden und dies geschieht nur über ihre Sichtbarmachung. Praktiken des Molekularen sind das Erzeugen von sichtbaren Spuren in technischen Bildern. Ich benutze absichtlich nicht den Begriff der Repräsentation, da dieser intuitiv nahe legt, ihn auf ein von der Repräsentation unabhängig Existierendes (Natürliches) zu beziehen. Mit Rheinberger möchte ich vielmehr betonen, dass in der Molekularbiologie die Repräsentation nichts abbildet, „sie macht vielmehr etwas verfügbar“ (Rheinberger 1997: 274). Im Ablauf der Diagnostik werden je nach Arbeitsschritt unterschiedliche Bilder produziert. Am Ende der PCR wird über die Herstellung eines Agarosegels sichtbar gemacht, ob die Amplifikation funktioniert hat. Agarose ist eine gelartige Matrix aus Meeresalgen. Aufgrund einer erzeugten Stromspannung in einem Gerät und der negativen Ladung der DNA wandern unterschiedlich große DNA-Stücke entsprechend ihrem Molekulargewicht unterschiedlich schnell vor und können so der Größe nach aufgetrennt werden. So werden Spuren erzeugt, schwarze Streifen (DNA-Banden genannt). Die Bandenqualität wiederum verrät etwas über die Qualität des PCR-Produktes. Sieht man beispielsweise einen Schatten im Gel dort, wo die Wasserprobe gelaufen ist, dann muss es sich um eine Kontamination handeln. Und Kontaminationen sind störend in der Arbeit des Labors. Diesen Vorgang nennt man eine Kontrollelektrophorese. Der Mensch ist angewiesen auf eine Sichtbarmachung mittels eines Apparates. Die erzeugte Agarosegel-Platte wird an einem weiteren Gerät zu einem Bild, einem Ausdruck auf Papier verwandelt und zu Dokumentationszwecken in das Laborbuch eingeklebt. Dieses Bild ist, wenn auch nur der Kontrolle und noch nicht der Befundung dienlich, die erste Sichtbarmachung des Gens auf molekularer Ebene. Mit dem Gel wird das Gen dem menschlichen Auge überhaupt erst zugänglich und lesbar: „Das Schöne ist, dass ich bei ganz vielen Sachen einfach sofort hinterher sehe, wenn ich was falsch gemacht habe, einfach weil kein Ergebnis rauskommt. Was kein großer Beinbruch ist, dann mache ich es noch mal“ (Gimmel 2006: 21f.). Was Rheinberger über die Produktion von solchen Bildern – er nennt sie Grapheme – beim experimentellen Arbeiten sagt, gilt auch dort, wo molekulare Methoden Einzug in die Routine einer diagnostischen Praxis gehalten haben. Die Bilder können nur über die Produktion 213

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weiterer, neuer Grapheme oder Bilder interpretiert werden (Rheinberger 2005: 21ff). Insofern ist das hergestellte Gel eingefügt in eine Bewegung der Sichtbarmachung mit dem alleinigen Zweck der Kontrolle über die Fragmente als Bedingung der Möglichkeit für die nächsten Arbeitsschritte, die wiederum neue Bilder erzeugen werden. Wenn eines der erzeugten Bilder nicht so aussieht, wie es erwartet wird, dann ist das das Zeichen zur Wiederholung: „Von meiner Seite aus ist es neben der Auswertung wichtig, Qualitätskriterien in unseren Laboralltag zu integrieren. Wenn irgendwas nicht schön ist und nicht so sauber, wie ich es erwarten würde, dann muss das einfach wiederholt werden vom Labor“ (Meier 2006: 11). Dies betrifft aber nicht nur die Arbeitsschritte der PCR, sondern auch die zur Sequenzierung gehörenden Praktiken. Die Sequenz ist im Gegensatz zum Bild der Kontrollelektrophorese nicht in erster Linie ein Kontrollbild, sondern ein diagnostisches Bild. Damit es allerdings als solches eingesetzt werden kann, muss es sauber sein. Im Gegensatz zu möglichen Kontaminationen des PCR-Produktes sind es gerade Bestandteile aus der PCR, die eine Sequenz stören und ein Rauschen verursachen. Was im einen Arbeitsschritt an Zutaten notwendig ist, muss im anderen Arbeitsschritt herausgenommen werden. So befinden sich Bestandteile wie nicht eingebaute markierte Nukleotide im Ansatz und diese würden im Falle einer sofortigen Sequenzierung zu heftigem Rauschen und einer Nicht-Lesbarkeit der Sequenz führen. Nicht umsonst heißt einer der Arbeitsschritte einer molekulargenetischen Testung „Reinigung der PCR-Produkte“. Damit die Sequenz lesbar wird, muss in mehreren Schritten vorgegangen werden. Im sogenannten Verdau wird das PCR-Produkt enzymatisch gereinigt. In der darauffolgenden Fällung findet ein Auskristallisieren der DNA statt. Eine mögliche Strategie, diese aufwändigen Reinigungsschritte – zumindest für einige Exons – zu umgehen, ist eine technische: die DHPLC, auf die ich gleich näher eingehen werde. Das Zusammenspiel wird dokumentiert. Für die Dokumentation gibt es Laborbücher, in welchen die einzelnen Arbeitsschritte festgehalten werden müssen. Laborarbeiten sind auch in nicht geringem Umfang Schreibarbeiten.

7.1.3 DNA oder der Patient in der Tube? Ich habe mich dem Labor als Raum von molekularanalytischen Praktiken innerhalb der Diagnostik gewidmet. Dem ist hinzuzufügen, dass die DNAs nicht nur auf Veränderungen in BRCA1 und BRCA2 getestet werden (Diagnostik). Sie werden immer wieder in kleineren laufenden Forschungsprojekten gebraucht. Und sie können zukünftig in der Be214

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arbeitung vielleicht noch unbekannter Fragen zu neuen Forschungsgegenständen mutieren. Die DNA im Gefrierfach wandelt sich. Sie wird zu Exons. Sie wird zu DNA-Fragmenten mit oder ohne Mutation, mit diesen oder jenen Polymorphismen, mit oder ohne UVs. Die Veränderungen werden also klassifiziert. Klassifikationen sind zeit-räumliche Zuweisungen innerhalb eines Klassifikationssystems. Idealtypisch besitzen sie folgende Merkmale: Sie sollten eindeutig sein, sich nicht überschneiden und alle Dinge jener Welt einschließen, die sie beschreiben. In der Realität sieht die vermeintlich glatte Oberfläche solcher Systeme dagegen anders aus: „No real-world working classification system that we have looked at meets these ‚simple‘ requirements and we doubt that any ever could“ (Bowker/Star 2000: 11). Das beste Beispiel dafür ist die Klassifikation von Veränderungen auf den Brustkrebs-Genen. Selbst die scheinbar stabilsten Zuordnungen von Mutationen als pathogene Veränderungen und SNPs als nicht-pathogene Veränderungen verändern und verundeutigen sich. Die Frage der Klassifikation ist für die Brustkrebs-Gene eine Forschungsfrage und wir haben bereits gesehen, dass gerade heute die SNPs mit sehr viel mehr Aufmerksamkeit im Hinblick auf ihr pathogenes Potential betrachtet werden als noch Mitte der 1990er Jahre. Die unklassifizierten Varianten liegen dazwischen. Sind sie pathogen, sind sie es nicht? Was in der molekulargenetischen Testung an Wissen produziert wird, kann Teil von Forschung sein bzw. werden. Aber was ist der Gegenstand der Gentestung und der Forschung? Ist es einfach eine neutrale Flüssigkeit, die bearbeitet wird? Keineswegs! Zu der bereits von mir beschriebenen Vielheit an möglichen Existenzformen des Brustkrebs-Gens gesellt sich im Laboralltag noch eine sehr Spannende hinzu: In all diesen unterschiedlichen Zuständen ist und bleibt sie Mensch/Patientin. Im Labor kann man beobachten, dass die Flüssigkeit sehr menschlich ist. Genauer gesagt ist die DNA von Anbeginn an der Patient: „Ich glaube, in erster Linie spreche ich bei unseren Proben von Patienten. Ich bin mir natürlich bewusst, dass es in den meisten Fällen Indexpatienten sind. Das sind also selbst Erkrankte. Wir haben bei unseren Proben natürlich oft Ratsuchende, dass sind eigentlich keine Patienten. Das sind nämlich Frauen, die nicht erkrankt sind, wo aber Indexpatienten verstorben sind“ (Meier 2006: 8).

Diese Bezeichnungspraxis findet sich überall, beispielsweise ist die Rede von Patienten-Sets, die es abzuarbeiten gilt. Auf den Tubes kleben Schildchen mit der Abkürzung „Pat.“ und einer anonymisierenden Nummer. Es sind Patienten. 215

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Die Differenzierung zwischen Indexperson und ratsuchender Person wird für den Vorgang der Testung und den Umgang mit dem Material nicht als relevant erachtet. In der Regel ist es Verena Gimmel auch nicht bekannt, um welche Proben es sich handelt. Gesund oder krank ist nicht die Frage, sondern Mutation oder keine Mutation. Nur warum sind es dann Patienten und nicht einfach nur Tubes? Abbildung 10: Der Patient in der Tube

Quelle: Sonja Palfner 2006 Hat der Patient im Laboralltag etwa seine Berechtigung, da es ihn tatsächlich da draußen gibt? Peter Keating und Alberto Cambrosio führen die Bezeichnungspraxis im Labor, über Körperstoffe als Patienten zu sprechen, auf die Nähe zwischen Labor und Klinik zurück. Beim Besuch einer Klinik treffen sie auf eine Reihe von Patienten in Form von Blutund Knochenmarkproben. Die Bezeichnung der Proben als Patienten war keineswegs ihre eigene, sondern Praxis des dort arbeitenden Pathologen. Sie weisen darauf hin, dass solch eine Praxis nicht als Beweis für die reduktionistische Natur eines biomedizinischen Modells herangezogen werden könne, da medizinische Behandlungen unmittelbar – zeitlich und räumlich – mit Laboranalysen des Patienten-Materials verbunden seien. Aus der Beobachtung einer sowohl räumlichen als auch zeitlichen Nähe des Labors zu den realen Patienten kommen die Autoren zu der Feststellung: „In other words, there was, despite appearances, no deep division between the patient and the laboratory“ (Keating/Cambrosio 216

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2003: 6f.). In einem Labor, wo die Testung nur wenige Stunden dauert und dann direkt dem Wartenden oder auf einer Station liegenden Menschen mitgeteilt wird, scheint es naheliegend, vom Patienten im Labor zu sprechen. Aber in der Tumorgenetik dauert die Testung mehrere Monate. Es gibt weder eine zeitliche noch eine räumliche Nähe zum Menschen da draußen und trotzdem ist er in der Tube. Was macht er da und warum ist er da? Vielleicht braucht es nicht unbedingt eine zeitliche und räumliche Nähe, wenn eine andere Bedingung erfüllt ist: Das Ergebnis muss eine Relevanz für den Menschen da draußen besitzen.

Von Verantwortung für vorgestellte Patienten „Wenn man sich nach der Arbeit eine Sequenz anguckt und sieht, dass da was drin ist ‚Da habe ich eine Mutation entdeckt‘, dann fängt man wieder an zu überlegen ‚Oh mein Gott, das ist ja ein Mensch. Was für ein Mensch ist das, wie alt ist der, was hatte der?‘ Die Fragen kommen in dem Moment wieder. Aber im praktischen Arbeiten im Labor ist das völlig weg“ (Gimmel 2006: 2).

Ein Mensch, von dem die DNA kam, ein Mensch, zu dem ein Ergebnis der Gentestung zurückgeht; und dazwischen nur Material? Ja und Nein. Ist es die Verbindung zum produzierten Ergebnis, welche die DNA auf der einen Seite zum Patienten macht und ihn gleichzeitig in der durchsichtigen Flüssigkeit verschwinden lässt? Was ist das für ein Mensch, der gleichzeitig anwesend und abwesend im Labor ist? Wir haben im Verlauf dieser Studie etwas darüber gelernt, wie Subjekte entworfen wurden: ein hilfesuchender Mensch vor der Sequenzierung von BRCA1, ein hilfesuchender und dabei hilfloser Mensch mit dem Aufkommen der Testung. Ich habe mehrfach betont, dass es sich meinem Wissen entzieht, wie jene Menschen, die plötzlich im forschenden Interesse der Wissenschaft standen, wirklich waren. Fest steht, dass mit BRCA1 und BRCA2 Menschen in Praktiken inkluiert und exkluiert wurden, dass sich institutionell neue Formen der Zusammenarbeit im Rahmen eines Verbundprojektes herausbildeten und die eingeschlossenen Menschen darin neue Möglichkeiten der Behandlung, aber auch neue Merkmale ihres Lebens dazu erhielten: Hochrisikopatientin, Mutationsträgerin, Indexpatientin. Hilfesuchend, hilflos werden die Menschen zu Patienten und von Patienten nimmt man gemeinhin an, dass sie krank sind. Der Mensch am Ende der Kette, der Patient, ist er krank? Das Labor ist ein Locus, der über den Status des Menschen wahr spricht. Findet man einen krankmachenden Erreger oder nicht? Findet man eine Mutation oder nicht? Ist die Gewebeprobe gutartig oder bösartig? Dass solches möglich ist, liegt an langen und vielschichtigen Prozessen des Werdens dieser Dinge. Gene, Bakterien, Viren entfalteten und entfalten 217

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sich innerhalb spezifischer Räume des technisch Möglichen. Ihre Sichtbarmachung lässt sie für uns naturhaft erscheinen. Niemand würde vermutlich heutzutage die Rolle von Bakterien bei der Krankheitsentstehung negieren. Krankheit und Erreger haben sich übereinandergeschoben. Die historische Entwicklung der Ununterscheidbarkeit von beiden ging sogar so weit, „dass mikroskopische Darstellungen von Bakterien mit den Krankheitsnamen und nicht mit den Speziesbezeichnungen versehen wurden“ (Schlich 1997: 186). Mutation oder nicht Mutation. Auch in der Tumorgenetik erfährt man, wie Krankheit sich mit einem Ding verbindet: pathogene Mutation. Deshalb ist das, was man im Labor tut, wichtig. Das Ergebnis wird Konsequenzen für eine konkrete Person haben. Vicky Singleton beobachtet genau diese Haltung von Laboranten in ihrer Studie über Laborpraktiken im englischen „Cervical Screening Programme“: „One further point that arises from the above laboratory discourse is the repeated references to ,remembering the woman at the other end’ of the process“ (Singleton 1998: 96). Der Mensch am anderen Ende, der Mensch hinter der DNA wird als Adressat vorgestellt. Man wird ihn nie sehen, man wird auch sein weiteres Leben nicht verfolgen. Trotzdem ist er sehr präsent und mit ihm die Verantwortung, die man im Labor trägt: „Man muss viel Wert auf das legen, was wir jeden Tag machen. Man muss sorgsam sein. Die Konsequenzen für den Patienten werden einem schnell bewusst bei der Arbeit, die ich hier mache. Es ist einfach ganz klar, wenn ich eine Mutation finde, weiß ich, was der Patient gesagt bekommt und was das für ihn, für seine Zukunft bedeutet. Auf der anderen Seite, wenn ich keine finde, weiß ich auch, was es bedeutet, dass er entlastet wird und sich vielleicht sogar in einer falschen Sicherheit wiegt, weil es ja immer noch sein kann, dass er einen sporadischen Krebs kriegt“ (Gimmel 2006: 4).

Es zeigt sich eine „moral economy of care“ (Cussins 1996: 586) im Labor, wie sie Cussins in Laboratorien von Fertilitätskliniken beobachtet hat. Sind es dort Embryonen und potentielle Embryonen, denen, aufgrund des Ziels einer Schwangerschaft, die Fürsorge gilt, so ist es in der Tumorgenetik die DNA, welcher die Fürsorge aufgrund eines potentiellen Krebses gilt. Wir können jetzt ein wenig besser verstehen, warum es einen Patienten im Labor gibt. Nicht unbedingt aufgrund der räumlichen und zeitlichen Nähe zwischen DNA und Mensch, aber wegen der Effekte, die das Laborergebnis auf den Menschen haben wird. Beides jedoch, Effekt und Mensch sind vorgestellt. Wird eine Indexperson getestet, hatte diese schon Krebs beziehungsweise ist daran erkrankt. Wird eine rat218

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suchende Person getestet, ist sie gesund und selbst im Falle einer Mutation muss sie nicht unbedingt krank werden. Was aber vor allem erstaunt, ist der Befund, dass von allen Testungen nur in ca. 30 Prozent überhaupt eine Mutation gefunden wird. Ich habe erst im Verlauf meiner Beobachtungen erfahren, dass das Finden von Mutationen fast schon etwas Besonderes im Laboralltag darstellt, wobei man doch eigentlich denken sollte, dass es nicht die Ausnahme, sondern aufgrund der vorausgehenden Selektion durch die Einschlusskriterien die Regel sei.

Material Patient Mensch Der Frage nach dem Menschen in der DNA im Labor nachgehend, schien es erst recht verwirrend zu werden, als mir in Gesprächen das genaue Gegenteil von dem berichtet wurde, was ich im Laboralltag beobachtete: „Es wird immer weniger ein Mensch. Also ich denke bis es bei uns ankommt, ist es sehr entpersonalisiert. […] Also der Mensch dahinter ist in dem Moment, wo ich die Probe bearbeite, nicht im Kopf“ (Gimmel 2006: 2). Der Mensch ist anwesend und nicht anwesend zugleich? „Das ist etwas, woran man sich gewöhnt, wenn man molekulargenetisch arbeitet. Man hat ein winziges Röhrchen und hinterher kommt dabei etwas raus“ (Gimmel 2006: 3). Man hat es jedoch anscheinend nicht nur mit einem anonymen und vom Patienten gelösten Stoff zu tun, sondern im Verhältnis mit diesem scheint eine Selbst-Anonymisierung zu passieren: „Wir sind eine anonyme Front, die das abarbeitet, was ein Patient an Daten und an Material mitbringt“ (Scherneck 2006: 8). Diese Erzählungen vermitteln ein bestimmtes Bild der Laborarbeit: Sie scheint mit einem neutralen Gegenstand zu tun zu haben, keinem Mensch, sondern einer fast unsichtbaren Flüssigkeit. Ich lese in einem Aufsatz von Dietmar Kamper folgenden Satz: „Der Mensch als Gespenst ist transparent, durchlässig und schwerelos“ (Kamper 1998: 47). Ich kann den Menschen gegen seine DNA austauschen und bekomme so eine Beschreibung, die für das Dasein der DNA im Labor zutrifft: Der Mensch als DNA ist transparent, durchlässig und schwerelos. Es ist eine Erzählung über die Laborarbeit, in welcher sowohl der Gegenstand als auch die eigene Arbeit neutralisiert werden. Aus ihnen wird die Lebendigkeit herausgereinigt, die den Laboralltag durchzieht. Aus Patienten/Menschen werden stumme Proben und die eigene Arbeit verschwindet hinter einer anonymen Front. Krankheit und Erkrankung finden dabei eine Differenzierung, wenn Krankheit im Kontext des Familiären Brustkrebses als Modell erscheint. Dann steht nicht mehr der Patient im Mittelpunkt, sondern das forschende Begehren nach neuem Wissen:

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„Bei uns liegt der Fokus darauf, ob das Protein o.k. ist oder nicht. Dass das natürlich dann im Endeffekt Krankheit bzw. Gesundheit bedeutet, ist einem klar, aber für die Fragestellung jeden Tag ist das nicht so relevant. Also ich denke, das zeigt sich auch immer so ein bisschen darin, dass, wenn wir eine Mutation finden, wir uns freuen. Weil wir etwas gefunden haben, weil wir da sagen können: ‚Oh ja und ach mein Gott, das ist ja vielleicht sogar spannend. Das ist ja was, was wir noch nie hatten.‘ Wenn man sagen würde, der Mensch ist krank, wird man sich so erst einmal wahrscheinlich nicht freuen. Also vielleicht in wissenschaftlicher Hinsicht schon. Das sieht möglicherweise nicht so gut aus, aber es ist eben wahnsinnig spannend zum Beispiel. Das mag für den Menschen selber oder die Krankheit selber gravierend sein“ (Gimmel 2006: 5).

Wir wissen, dass Gespenster für Menschen sehr real werden können und nur der Verstand daran schuld ist, wenn diese Gespenster aus der Wirklichkeit vertrieben werden. Im Laboralltag muss, damit es keine Einbildung bleibt, das Gespenst DNA menschlich werden. Der vorgestellte kranke Mensch außerhalb des Labors gibt der eigenen Arbeit einen Sinn. Gleichzeitig ist der Patient abwesend und wird vom Alltag des Labors mit seinen Routinen verschluckt. Diese Zweiheit des Brustkrebs-Gens, Mensch und Material zu sein, wird schließlich in den Erzählungen über die eigene Arbeit auf das Material enggeführt und das Gespenst, der vorgestellte Mensch/Patient vertrieben, herausgereinigt.

7 . 2 Zw e i t e r R a u m : Die Maschine zum Laufen bringen – DHPLC Verena Gimmel nimmt mich mit zur „Wave“, wie die DHPLC auch genannt wird. Das Kürzel steht für „Denature High Pressure Liquid Chromatography“. Wir verlassen die Arbeitstische des Labors, die Pipetten und Kontaminationen und betreten einen Raum, in welchem in erster Linie eine Maschine arbeitet. Das einzige mir vertraute Gerät ist ein Computer mit Monitor und Tastatur. Die Wave steht daneben auf einem Tisch. Mit einer Platte von Tubes, Produkte aus der PCR, betritt man den Raum. In jedem Plastikröhrchen befindet sich ein amplifiziertes Exon von jeweils einem Menschen. Jeder Mensch ist eine Menge von Exons und jedes einzelne Exon hat eine Tube. Die Arbeit, die sich für einen Außenstehenden beobachten lässt, ist Schreibarbeit am Computer. Die Maschine selbst ist eine Black Box, von der man nicht weiß, was in ihr passiert.

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Seit Januar 2005 arbeitet Verena Gimmel mit der DHPLC. Die Entwickler und Vertreiberfirma Transgenomic ist ein international agierendes Biotech-Unternehmen. Die Geschichte der Wave ist bemerkenswert. Entwickelt im Zusammenhang mit der Brustkrebs-Genforschung expandiert sie in immer neue, nicht nur medizinische Anwendungsbereiche, wie zum Beispiel in die Landwirtschaft. Das Gerät der Arbeitsgruppe Tumorgenetik ist eine Leihgabe einer anderen Arbeitsgruppe des MDC. Diese Technik ist dafür vorgesehen, Exons dahingehend zu testen, ob auf ihnen Veränderungen vorliegen. Welche Art von Veränderung kann nicht bestimmt werden, weil im Gegensatz zur Methode der direkten Sequenzierung keine Positionen der Veränderungen auf dem DNA-Fragment angezeigt werden. Man kann demnach auch keine Spezifikationen der detektierten Veränderungen vornehmen, also nicht klassifizieren, ob es sich um eine definierte Mutation, einen Polymorphismus oder eine Unbekannte Variation handelt. In die Maschine ist bereits eine Beschränkung der Lesbarkeit des Endproduktes eingeschrieben. Sprich, ein der Nutzung vorgängiger „Konfigurationsprozess“ (Beck 1997: 240) der Maschine legt Formen des Zugangs und Möglichkeiten der Nutzung fest, wobei, wie wir wissen, jedes Gerät unerwartet in neuen Zusammenhängen auftauchen kann. In der DHPLC ist die Option eingeschrieben, Veränderungen zu entdecken, bei gleichzeitiger Beschränkung der Lesbarkeit durch die fehlende Möglichkeit der Klassifikation. Das Prinzip dieser Technik basiert darauf, dass von einer unterschiedlichen Schmelztemperatur der Homo- und Heteroduplexe ausgegangen wird. Die allelspezifischen Veränderungen werden durch die resultierenden Differenzen in den Schmelztemperaturen der DNAFragmente chromatographisch erfasst. Das Ergebnis ist eine Visualisierung, ein technisches Bild mit Kurven. Sieht man nur eine ein-bucklige Kurve, auch Peak genannt, dann wird das Kurvenprofil als intakte Sequenz bewertet. Eine zwei-bucklige Kurve, also ein zweiter Peak, jedoch zeigt eine Veränderung an. Das, was als Veränderung in Form eines Kurvenprofils sichtbar wird, ist an die Technik gebunden. Wir sehen nicht die Veränderung, sondern eine spezifische Repräsentation. Mit dem Begriff der Repräsentation meine ich nicht ein Bild, welches etwas darüber auszusagen vermag, wie das Objekt tatsächlich ist, oder wie Thomas Schlich es formuliert: „Die Repräsentation eines Objektes oder einer Tatsache teilt dessen Existenz nicht nur mit, sie konstituiert diese Existenz auch“ (Schlich 1995: 149). Es ist die Einfachheit der dar- und hergestellten Existenz von Veränderungen auf BRCA1 und/oder BRCA2, welche die DHPLC attraktiv zu machen scheint: „Ich habe hier ein Stückchen DNA und da ist eine Veränderung drin. Das kann die 221

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DHPLC auf sehr schnelle Art zeigen“ (Gimmel 2006. 1). Insofern ist das Bild ein reproduzierbarer Akt im weiteren Verlauf der Gendiagnostik. Die Fähigkeit zur Reproduzierbarkeit deutet Stabilität als notwendige Qualität von Gendiagnostik an. So sollte das Bild eine gewisse Verlässlichkeit aufweisen: Finde ich mit meiner Methode unter definierten Bedingungen auf einer bestimmten DNA immer eine Veränderung (sichtbar gemacht durch ein spezifisches Kurvenprofil), egal wie viele Durchläufe ich mache? Sequenzer und DHPLC sind Maschinen, die dazu dienen Bilder zu erzeugen, welche eine Aussage über das Untersuchungsmaterial zulassen. Im Gegensatz zur DHPLC ist die direkte Sequenzierung in der Tumorgenetik sehr gut etabliert und stabil, sprich: „Da haben wir wenig Ausfälle“ (Gimmel 2006: 3). Das bedeutet auch, dass in der Regel die Produktion von Sequenzen ein für Außenstehende unsichtbarer Prozess bleibt. Wenn die PCR-Produkte hergestellt sind, dann werden sie zum Sequenzer gebracht. Dieser befindet sich nicht einmal in den Räumen der Tumorgenetik und wird mit anderen Abteilungen zusammen genutzt. Das ist ein Vorteil der Arbeit am MDC, da die Anschaffung und Unterhaltung eines Sequenzers für die Menge an Proben der Tumorgenetik nicht rentabel wäre. Während die Maschine im Laboralltag kaum in Erscheinung tritt, ist es mit der DHPLC zu dem Zeitpunkt meiner Beobachtung anders. Sie muss als Methode etabliert werden. Und deshalb verbringt Verena Gimmel sehr viel Zeit mit ihr. Der Maschinenraum wird zu einem Mensch-Maschinen-Raum, da menschliche Arbeit geleistet werden muss, um die Maschine erfolgreich in Gang zu setzen. Hier können wir also einen Einblick gewinnen, was dazu gehört, bis eine Maschine läuft, damit sie läuft und was passiert, wenn sie streikt.

7.2.1 Wenn die Wave läuft ... Wenn Exons beziehungsweise Fragmente eines Gens getestet werden, muss vorher die Methode etabliert worden sein. Es muss feststehen, zu welchen Bedingungen die DHPLC für jedes einzelne zu untersuchende Fragment am besten funktioniert. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei der Temperaturwahl für die Sensitivität des Verfahrens zu. Aufgabe ist es demnach, für unterschiedliche Exons die besten Schmelzprofile zu bestimmen. Der Trick besteht also darin, Temperaturen herauszufinden, unter denen sich die DNA-Stränge trennen und es somit gelingt, ein deutliches Bild über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Veränderung zu erhalten. Da sich auf einer zu analysierenden Platte immer mehrere Tubes befinden, müssen den einzelnen Tubes Positionen zugewiesen werden, damit die Maschine nicht beliebig in die Proben 222

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fährt und pipettiert, sodass man am Ende nicht mehr weiß, von welcher Probe welches Ergebnis angezeigt wird. Der Mensch schreibt hierfür ein Programm am Computer und weist den einzelnen Tubes Positionen zu, die dann automatisch angesteuert werden. Zur Etablierung einer neuen Methode werden alte DNA-Proben gebraucht, von denen man Folgendes weiß: In Positivproben muss eine Mutation vorliegen, in Negativproben darf keine Mutation vorliegen. Zur Sicherheit werden immer noch Wasserproben mit getestet. Wenn die Etablierung der Methode mit der Festlegung der besten Bedingungen abgeschlossen ist, ist der Weg zum Einsatz in der Diagnostik frei. Der ganze Prozess ist sehr zeitaufwändig. Und wenn man bedenkt, dass die Festlegung von Schmelzprofilen für alle Fragmente erfolgen muss, dann kann man sich bei der Größe von BRCA1 und BRCA2 vorstellen, was das bedeutet. Man fragt sich, warum der Aufwand geleistet werden muss, wenn es sich um ein Verfahren handelt, das in anderen Arbeitsgruppen des Verbundprojektes routiniert läuft; warum nicht einfach auf existierendes Wissen zurückgreifen? „Wir hatten den Vorteil, dass andere Konsortiumsmitglieder die DHPLC schon lange hatten. Das heißt, wir konnten auf deren Erfahrungen zurückgreifen und konnten uns anhören, was für Probleme sie haben. Da waren gute Experten dabei. Es hat aber trotzdem einige Zeit gekostet, weil, wie es immer so ist, in jedem Labor etabliert es sich neu. Man muss das Rad noch einmal ein wenig neu erfinden, weil es überall doch ein bisschen anders läuft“ (Gimmel 2006: 2).

Die Lokalität des Verfahrens ist erstaunlich. Es erfordert die Geduld desjenigen, der vor dem Gerät sitzt. Während das Prinzip der Maschine immer gleich ist und die Reihenfolge der einzelnen Arbeitsschritte immer demselben Muster folgt, ist die Durchführung variabel und muss in jedem einzelnen Labor entsprechend angepasst werden. Noch erstaunlicher ist es, wenn man erfährt, dass diese Anpassungsarbeit allgemein anerkannt ist: „Das Verfahren ist erst nach einer gewissen Etablierungsarbeit, welche an jedem Gerät einzeln vorgenommen werden muss, einsatzbereit“ (Gerhardus et al. 2004: 127). Es scheint so, als wenn die Herstellung der Bilder im DHPLC-Verfahren nie die Automatisierung erreichen würde, wie beispielsweise die Fotografie. Aber wer weiß, wie sich die Technik der DHPLC weiterentwickeln wird? Was macht den Unterschied aus, wenn an allen Orten das gleiche Gerät steht, einheitlich Puffer, Primer und Exons verwendet werden? Oder ist die Notwendigkeit einer lokalen Etablierung dem Umstand geschuldet, dass bereits die vorgängigen Praxen lokal verschieden sein können? Ich erfahre es nicht. Was ich jedoch aus der Literatur zum 223

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Thema DHPLC in Erfahrung bringe ist, dass Etablierung als ein singuläres Ereignis eines Anfangs gesehen wird und die Maschine, wenn sie einmal am Laufen ist, auch läuft.

... ist sie KEIN Selbstläufer An einem Morgen des Jahres 2005 gehen wir zur DHPLC. Ein Patientenset, so wird die Platte mit Exons genannt, ist zu bearbeiten. Bevor die eigentliche Testung beginnen kann, laufen sogenannte Standards über das Gerät. Standards sind Proben, die von der Betreiberfirma Transgenomic mitgeliefert werden und die der Kontrolle dienen, ob das Gerät funktioniert. Die Notwendigkeit, einen Standard zuerst laufen zu lassen, bekomme ich damit erklärt, dass das Gerät über das Wochenende nicht in Betrieb war und zudem der Puffer ausgewechselt wurde. Nach den Standards wird ein weiterer Schritt der Überprüfung geleistet und Kontrollen aus den eigenen Beständen (alte DNAs mit und ohne Mutationen) werden laufen gelassen. Erst im Anschluss kommen die eigentlichen Proben dran. Wir sehen an der Notwendigkeit dieser sehr zeitaufwändigen Handhabung, was für Eigenschaften das Gerät mit sich führt und dementsprechend welche bestimmte Nutzungspraktiken es bevorzugt. Je mehr die Maschine ausgelastet ist, desto besser. Sowohl ihr Stillstand als auch eine zu geringe Auslastung mit Proben verursachen Kosten. Deshalb gilt: ohne Menge keine Maschine. In der Umkehrung bedeutet das: Die Maschine läuft nicht nur zur Bearbeitung der Proben, sondern die Proben laufen gleichsam zur Kostenminimierung dieser Technik und zur Instandhaltung derselben. Neben dem Puffer, der mit oder ohne Gebrauch der Maschine durchlaufen muss, ist es der Verschleiß der Säule, dem eigentlichen Herzstück der Wave, der in die Kostenkalkulation einzubeziehen ist. Nicht nur aufgrund nicht alltäglicher Maßnahmen (wie dem Pufferwechsel) sind Kontrollen Teil des Verfahrens. Zur Sicherheit müssen sie immer, bei jedem Probendurchlauf, mitlaufen. Die DHPLC ist nicht nur in der Anschaffung teuer (Bruttopreis nach Gerhardus et al. 2004: 148.480 Euro), sondern auch in den Betriebskosten: „Die Wave am Laufen halten heißt, dass man die Säule pflegen muss. Da muss permanent, auch wenn sie nicht benutzt wird, Puffer durchlaufen. Puffer, der natürlich Geld kostet. Eine permanente Wartung ist nötig. Eigentlich die Wartung vom Hersteller, der sich das Gerät immer mal wieder anguckt. Und die Säule, also das Herzstück von dem Gerät, die verbraucht sich natürlich auch mit der Zeit“ (Gimmel 2006: 3).

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Die Suche nach Möglichkeiten der Kostenreduktion ist Laboralltag. Ein Weg der Geldersparnis ist es, nicht jedes Mal die von Transgenomic angebotenen Standards, sondern die eigenen Proben als Kontrollen einzusetzen. Damit bekommt die menschliche DNA im Tiefkühlschrank eine weitere Rolle im Labor: Sie hat nicht nur diagnostischen und forschenden, sondern auch einen technischen Anteil bei der Betreibung der DHPLC. Ein anderer Weg ist es, auf einen Wartungsvertrag mit der Betreiberfirma zu verzichten. „Wir hatten auch überlegt, einen Wartungsoder Servicevertrag abzuschließen, aber der ist richtig teuer. Und wenn am Gerät nichts ist, dann ist es rausgeschmissenes Geld. Also ein bisschen wie bei einer Versicherung.“ (Gimmel 2006: 6) Eine Konsequenz daraus war, dass kleinere Arbeiten – beispielsweise das Austauschen von Schläuchen – von Gimmel selbst übernommen werden mussten. Wer also denkt, dass mit der Etablierung der Methode an der DHPLC zur Routine übergegangen werden kann und das Gerät einfach läuft und läuft und läuft, täuscht sich. Mir scheint, dass eine Technik nicht zwangsläufig eine universelle Garantie auf ihr Funktionieren beinhaltet. Die Lokalität der Technik deutet möglicherweise auf den Grad ihrer Stabilisierung hin. Und das bedeutet immer menschliche Anstrengung. Es ist eine erhebliche Arbeit der Etablierung als auch der Stabilisierung im Alltag zu leisten: „Such invisible work ist often not only underpaid – it is severely underrepresented in theoretical literature (Star and Strauss 1999)“ (Bowker/Leigh Star 2000: 9). Es scheint, als ob menschliche Arbeit im Alltag des Labors hinter den Maschinen verschwinden würde. Sie wird – in Abhängigkeit von Technik verstanden – zu einem simplen und deshalb auch geringfügig zu entlohnenden Anhängsel. Vor allem muss darauf hingewiesen werden, dass die Menschen im Labor zu einem großen Teil keine Festanstellungen haben: „Man kleckert herum mit Dreimonatsverträgen und muss sich jeden Monat neu Angst und Sorgen machen“ (Gimmel 2006: 19). Diese Kurzatmigkeit belastet nicht nur die davon betroffenen Menschen, sondern ebenso die Arbeitsprozesse. Einlassen, eingewöhnen, erfahren kann man nur, wenn dafür Zeit bleibt. Und dass diese Arbeit und somit der Mensch keineswegs ein bloßes Anhängsel ist, sollte deutlich geworden sein. Hightech, vorgestellt als menschenarmes Unternehmen, gibt es hier nicht. Es muss mit qualifiziertem menschlichem Handeln angefüllt werden. Die Frage nach dem Wo und Wie bewegt sich freilich zwischen technischer Entwicklung, menschlichem Potential und ökonomischen Interessen. Die Maschine steht in ihrem Raum. Vielleicht träumt sie davon, allein zu laufen. Auf jeden Fall besitzt sie das Potential, dass sich nach der Etablierung der Methode eine neue Verteilung zwischen Mensch und 225

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Technik einstellt: „Wenn die Wave gut läuft, dann nimmt sie unheimlich viel Arbeit ab“ (Gimmel 2006: 10). So mag es einleuchten, dass die DHPLC in den Laboren des Verbundprojektes einen Platz hat, wobei die Intensität ihres Einsatzes zwischen den Laboren variiert. Zum Zeitpunkt meiner Laborstudie 2006 wird die DHPLC in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik nicht als Ersatz für die Sequenzierung gesehen, sondern als eine Möglichkeit des Vorscreenings und insofern als eine Ergänzung. Zudem werden nicht alle Exons über die DHPLC analysiert. Exons, von denen man weiß, dass auf ihnen Veränderungen liegen, fallen für Gimmel aus dem Anwendungsspektrum raus, da mit der DHPLC keine Spezifizierung möglich ist. Die Einsatzform im Sinne eines Vorscreenings wird in der „Health Technology Assessment“-Analyse von Testverfahren, wie sie die Zentren des Verbundprojektes anwenden, als mehrheitlich angewandte Praxis festgestellt (Gerhardus et al. 2004). Auch die Entscheidung, manche Exons sofort zu sequenzieren, ist in anderen Zentren gängige Praxis.

Geräte streiken „Man steht ganz schnell wie vor einem riesigen Berg, wenn sie nicht läuft. Man kann ein paar Sachen abchecken, wenn die nix bringen, dann steht man da“ (Gimmel 2006: 7). Ein Jahr später, im November 2006, bin ich wieder einmal in der Tumorgenetik in Berlin-Buch. Mit der DHPLC scheint es Probleme gegeben zu haben und mich interessiert, Genaueres zu erfahren. Man hatte die Methode in den vielen Monaten gut etabliert und die Maschine lief. Dann fing jedoch, wie Gimmel mir erzählt, die Technik an zu streiken. Die Säule wurde „altersschwach“, dann war etwas „verstopft“ und schließlich ging die UV-Lampe kaputt. Ergo konnten keine guten Bilder mehr hergestellt und ausgewertet werden. Da es keinen Wartungsvertrag gab und es Kosten verursacht hätte, jemanden von der Betreiberfirma kommen zu lassen, fing man an „rumzudoktern“. Während man es gewohnt ist, Störungen und Aufwände in den Alltag zu integrieren, macht der Maschinen-Streik eine andere Qualität aus. Man war sogar so weit zu überlegen, sich von der DHPLC zu verabschieden, da man sich fragte, ob die Kosten-Nutzen-Rechnung überhaupt noch aufging. Dann jedoch passierte etwas: „Wir waren also kurz davor, wieder komplett auf die Sequenzierung umzuschwenken. Dann lief die Wave aber wieder ganz gut, sie hat also anscheinend gehört, dass wir ihr unwillig waren und sie hat sich wieder artig angestellt, sodass wir sie doch weiter laufen gelassen haben“ (Gimmel 2006: 3). Ein Antropomorphismus, also eine Vermenschlichung der DHPLC, ist kaum zu übersehen. Wie kann eine Technik altersschwach oder artig 226

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sein? Wie soll sie Beschwerden hören, verstehen und sogar beschließen können, sich anders zu verhalten? Dieses Reden über Technik lediglich als Projektion menschlichen Verhaltens oder menschlicher Eigenschaften auf ein nicht-menschliches Ding abzutun, scheint mit jener Haltung konform, welche auf der Unterscheidung zwischen nutzendem Subjekt und benutztem Objekt beharrt. Aus dieser Perspektive scheint es naheliegend zu sein, ein Lachen über solcherlei Äußerungen zu verlieren. Was tun? Es gibt die Möglichkeit, über die Überheblichkeit des Menschen in Wut zu geraten. Man kann jedoch auch, wie es Martina Schlünder (2006) in einem Aufsatz über das Lachen in den Wissenschaften getan hat, die Spur des Lachens aufnehmen und produktiv entfalten. Ein Lachen über lebendige Maschinen ist möglicherweise als eine Aneignungsstrategie zu verstehen, in welcher die Grenze zwischen Mensch und Maschine gezogen wird. Man vergewissert sich der eigenen Handlungsfähigkeit, die allerdings schon längst im Alltag unserer Gesellschaft von Technik vorgeschrieben ist; wo Technik in menschliches Handeln eingeschrieben ist. Diese Erfahrung kann zu verstörenden und auch zu ohnmächtigen Momenten führen. Das Besinnen auf die moderne Trennung zwischen sich und der Technik wird ständig von den sinnlichen Erfahrungen mit der Technik durchkreuzt. Ich meine, dass jeder von uns schon einmal Technik mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet hat, wenn dies nicht sogar alltäglich geschieht. Das ist nicht lächerlich, sondern weist auf die tiefe Verwobenheit technischen Handelns mit Gefühlen hin. Technisches Handeln ist dabei immer in den spezifischen Zusammenhängen sozialer und kultureller Nutzungen zu sehen (Beck 1997: 191). In diesem Sinne geht es also längst nicht nur darum, die fragwürdige Unterscheidung zwischen Nutzer und Objekt aufzugeben, sondern auch darum, die Unterscheidung zwischen Verstand und Gefühl, wenn wir verstehen lernen wollen, was Technik menschlich werden lässt und uns gleichzeitig dazu verleitet, über anthropomorphes Reden zu lachen. Damit komme ich zu einer letzten Beobachtung über Widerstände im Laboralltag. Auch wenn die DHPLC aufhörte zu streiken, blieben Unzufriedenheiten bestehen. Ab und zu, so berichtet Verena Gimmel, habe sie Kontrollen, bei denen plötzlich die Mutation nicht mehr sichtbar ist. Das technische Bild der Kontrolle versagt in seiner Reproduzierbarkeit. „Ich weiß, an der Stelle müsste eine Mutation sein und die kann ja nicht plötzlich weg sein. Und wenn ich es nicht sehe, dann lasse ich natürlich auch keine Patienten-Sets laufen“ (Gimmel 2006: 4). Die Konsequenz ist, dass bei jedem Patienten-Set neu zu entscheiden ist, ob die Wave die notwendigen Resultate erzeugt, um eine Aussage über den weiteren Weg 227

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der Diagnostik zu treffen. Und so kommt es vor, dass alles sequenziert werden muss, weil es nicht möglich ist, ein sauberes Bild zu erzeugen. Ein enormer Zeit und Kostenaufwand! Gleichzeitig beinhaltet sie, ihr Funktionieren vorausgesetzt, das genaue Gegenteil: eine Zeit- und Kostenersparnis. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die DHPLC in der Tumorgenetik. Es ist keineswegs erstaunlich, dass Gimmel zu dem Schluss kommt, dass die Wave als Methode beibehalten werden sollte, jedoch mit einem abzuschließenden Servicevertrag. Wir lernen hierbei nicht nur etwas über die Verteilung von Arbeit zwischen Mensch und Technik, sondern auch über Delegation von Arbeit an Dritte. Die Komplexität der Maschine kann nicht lokal bewältigt werden. Während die Aneignung von kleineren Kompetenzen möglich ist – jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sowohl ein geeigneter Mensch als auch ihm zugebilligte Zeit zur Herstellung dieser Kompetenzen vorhanden sind! – scheint das Innenleben der Maschine insgesamt eine Black Box zu bleiben. Der Vergleich des Servicevertrages mit einer Versicherung ist trefflich. Man zahlt erstens für regelmäßige Wartungen. Ähnlich einer medizinischen Früherkennung, soll schließlich Schlimmeres verhindert werden. Zweitens zahlt man für den Fall, dass etwas zukünftig geschieht, ohne dass man im Vorfeld weiß, ob der Fall je eintritt. Wenn er jedoch eintreten sollte, dann erwartet man, der abgeschlossenen Vereinbarung gemäß, Unterstützung. Aus den Schilderungen über die Probleme mit der DHPLC könnte man schließen, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer Störung recht hoch ist. Beides sind gute Gründe für einen Servicevertrag. Vor allem ist es aber der Grad an Komplexität im Spezifischen, der eine Delegation notwendig werden lässt. In der lokalen Maschine ist ein Außen des Labors eingeschlossen. Früher oder später wird jemand kommen müssen, der die Säule auswechselt, Dinge repariert und die Technik wieder zum Laufen bringt. So laufen die Spuren vom Lokalen in ein ganzes Netz aus Technologie-Produzenten und Verwaltern, die wiederum an Maschinen, Fabrikationsprozesse, Materiallieferanten gekoppelt sind. Wenn also die Technik streikt, dann muss ein ganzes Heer aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren mobilisiert werden. Dieser im Labor unsichtbare Vorgang wird schnell vergessen, genauso wie die Potentialität, die im Servicevertrag steckt. Der Mensch entledigt sich der Herausforderung, sich bestimmte Praktiken anzueignen. Man muss keine Schläuche mehr wechseln können. Vielleicht darf man dies sogar nicht einmal mehr, weil damit der Anspruch auf Leistung durch den Versicherer erlischt?

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7.2.2 Wohin läuft der Techno-Logos? Wenn die Etablierung getan ist, wird davon ausgegangen, dass die DHPLC sich sehr gut für die Diagnostik eignet, weil sie „weitgehend automatisiert [ist], entsprechend für hohen Durchsatz geeignet und relativ unabhängig von untersucherabhängigen Einflüssen“ (Gerhardus et al. 2004: 128). Mit der Unabhängigkeit von untersucherabhängigen Einflüssen ist die Frage nach der Interpretationspraxis des erzeugten Bildes angestoßen. Bei der DHPLC sei diese einfach, da man nur Kurven vorliegen hätte und von ihnen ausgehend die Aussage „Veränderung/keine Veränderung“ ohne Probleme treffen könne. In der Technik liegt jedoch noch ein ganz anderes Bestreben verborgen: „Da das Verfahren der direkten Sequenzierung in der Durchführung aufwendig ist, ist die Suche nach Verfahren sinnvoll, welche eine möglichst gleich hohe Sensitivität aufweisen und dabei einfacher in der Durchführung sind“ (Gerhardus et al. 2004: 117). Ein erwähnter Mehraufwand der Sequenzierung liegt in der notwendigen Aufbereitung der PCR-Produkte, um das Rauschen herauszusäubern und zu einem lesbaren Bild zu gelangen. Man sollte an dieser Stelle nicht vergessen, dass sich die Sequenzer innerhalb weniger Jahre enorm entwickelt haben. Die radioaktive Sequenzierung dürfte fast gänzlich aus den Laboren verschwunden sein. Die Kopplung des Didesoxynukleotids mit einem fluoreszierenden Farbstoff brachte eine wichtige methodische Veränderung und die technischen Entwicklungen machten die Maschinen schneller und leistungsstärker. Heute haben wir es vor allem mit semivollautomatisierten Sequenzern zu tun. Die Zahl der Kapillaren wächst, womit der Durchsatz wiederum steigt. Und dennoch wurde die DHPLC entwickelt und hat sich gegenwärtig als sinnvolles Verfahren in Ergänzung zur direkten Sequenzierung in den Zentren des Verbundprojektes durchgesetzt. Wobei man einschränkend hinzufügen muss, dass sie keine obligatorische institutionelle Verfasstheit besitzt, ihre Anwendung wird derzeit nicht durch den Vertrag mit den Krankenversicherungen festgeschrieben. Man kann sich fragen, wozu es die DHPLC braucht, wenn die Sequenzierung eine bewährte Alltagspraxis des Labors ist? Ich habe den Eindruck, dass wir haben kein Verfahren vor uns haben, welches entwickelt wurde, um eine bessere Qualität der Aussage zu erzielen, sondern um schlussendlich Kosten zu reduzieren.

Geldfragen im Labor Hier soll ein kleiner Einblick in die Kostenwelt der Gendiagnostik gegeben werden. Dabei beziehe ich mich auf die Berechnungen des „Health Technology Assessments“ (Gerhardus et al. 2004). Darin werden für den 229

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bundesdeutschen Kontext die gesamten Analysekosten für die DHPLCDiagnostik mit anschließender Sequenzierung von ca. 15 auffälligen Fragmenten mit 1848 Euro beziffert. Wird von vornherein sequenziert, dann belaufen sich die Kosten auf 2070 Euro. Für den Zeitraum 1997– 2004 wird ein Gesamtkostenaufwand der molekulargenetischen Diagnostik im Verbundprojekt mit 4,6 Mio. Euro beziffert. Die größte Kostenersparnis der DHPLC im Vergleich zur direkten Sequenzierung wird beim Verbrauchsmaterial und bei den Personalkosten gesehen. In einem europäischen Vergleich kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass beim Verbrauchsmaterial ein erhebliches Einsparpotential vorliegt, zudem sie anteilig an den Gesamtkosten (31 Prozent bei der DHPLC und 41 Prozent bei der direkten Sequenzierung) einen großen Kostenfaktor ausmachen. Darauf folgt der Schluss: „Mit größeren Laboreinheiten sind durchaus deutliche Rabattmargen zu erzielen […]. Gleichzeitig sind Arbeitsabläufe bei einem größeren Analysepotential besser zu operationalisieren und bieten ein größeres Rationalisierungspotential“ (Gerhardus et al. 2004: 173). Es zeigt sich, dass man eine Technik nie ohne ihr Eingebettet-Sein in einen spezifischen Zusammenhang sehen sollte. Die Einführung der DHPLC in die Brustkrebs-Gendiagnostik ist gekoppelt an die Ökonomisierung der Zeit-Raum-Ordnung der Diagnostik mit dem Ziel der Kostenreduktion. Oder anders formuliert: Die DHPLC ist über ihre Technik hinaus eine faszinierende Technologie. Die Unterscheidung zwischen Technik und Technologie ist keine beiläufige. Als ob Technik lediglich von ihrer Benutzung abhinge und gesellschaftlich neutral wäre. In ihr wirkt der Logos des Kapitals und zwar in der Potentialität des Wachstums an Probendurchsätzen und der Kostenreduktion. Insofern „stecken bestimmte soziale Effekte in einem mehr oder minder großen Möglichkeitsspektrum in den Techniken selbst“ (Narr 2000: 42). Dies betrifft im Übrigen nicht nur die DHPLC, sondern den gesamten Ablauf der Testung und der in ihm zur Entfaltung kommenden Techniken. Aber die DHPLC ist nicht einfach eine Maschine neben einer anderen Maschine. Ihr ökonomisches Potential ist an die Herstellung von Bildern gekoppelt, welche im Vergleich zu Sequenzbildern eine andere Qualität besitzen. Ich habe schon auf die Besonderheit hingewiesen, dass DHPLC-Bilder nur in der Lage sind, Veränderungen anzuzeigen. Vom erzeugten Bild her betrachtet, macht dies das Verfahren überaus nutzerfreundlich. Die Schrift des Lebens, um es überspitzt zu formulieren, ist auf ein simples Kurvenprofil zusammengeschrumpft. Der Haken ist, dass jede Veränderung eben nicht gleich eine pathogene Mutation bedeutet. Aber davon abgesehen verabschiedet sich die Technik von der Möglichkeit der komplexen Beschreibung einer gefundenen Mutation und holt vielleicht 230

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damit jenen Reduktionismus ein, der als wirkungsmächtiges Wissen im Gefüge der Brustkrebs-Gene angelegt ist: Eine pathogene Signatur des Lebens. Auch wenn die Untersuchung im „Health Technology Assessment“ Outsourcing als ökonomische Konsequenz nennt, wird diese sogleich dahingehend zurückgenommen, dass mit ihr die Erforschung und Weiterentwicklung der Versorgung erschwert werden würde (Gerhardus et al. 2004: 177). Sehen Sie, wie sich die Linien von Wissen, Leben und Geld in dieser Äußerung treffen! Outsorcing in Großlabore ist vielleicht 2004 noch kein unmittelbarer, aber ein möglicher Schritt. Das lokale Ringen mit der Widerständigkeit der Maschine und der menschliche Einsatz, diese zum Laufen zu bringen, sehe ich demnach nicht einer unsichtbaren Gesetzmäßigkeit folgend. Die verlockenden Potentialitäten der Maschine sind immer noch lokal ambivalent, „costly and full of holes“, wie Bruno Latour (1990: 57) über die vermeintliche Universalität von Wissenschaft und Technologie zu sagen pflegt. Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass die DHPLC erfolgreich sein wird, wenn man unter Erfolg ihren Verkauf und den Einzug dieser Technik in die Labore der Brustkrebs-Gendiagnostik sowie die Erschließung weiterer Anwendungsfelder versteht. Wenn man unter Erfolg allerdings die im Werden der Maschine und zukünftiger Maschinen eingeschlossenen Potentiale und ihre Signaturen sieht, dann wird man möglicherweise zu einem anderen Schluss gelangen.

7.3 Dritter Raum: Denkzelle Innerhalb der Arbeitsgruppe Tumorgenetik ist das Büro Ausgangspunkt für Laborpraktiken und gleichzeitig eine Art Endfertigungsstelle für Laborprodukte. Von hier aus werden Arbeiten an die Bench delegiert und kommen die Dinge in ihrer neuen Verfasstheit, beispielsweise als Sequenzausdruck, zurück. Was man in diesem Raum als Besucher sehen kann, ist vor allem eines: die Produktion von Texten verschiedenster Art. Neue unwandelbare Mobile werden tagtäglich per Computer hergestellt, auf Papier gedruckt, und gelangen elektronisch und/oder per Post hinaus. Im Rahmen des Zentrums für Familiären Brust- und Eierstockkrebs sind es die Befunde, welche das Wissen aus der Testung in die humangenetische Beratung transportieren. Es sind auch Artikel zu schreiben und die Forschungen auf Papier zu bringen. Schließlich sind Forschungsanträge auszuarbeiten und andere Schreibarbeiten zu leisten. Im Gegensatz zu den ersten beiden Räumen habe ich mich hier kaum aufgehalten. Es ist ein sehr kleiner Raum. Kleiner als der DHPLC-Raum 231

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und sehr viel kleiner als der Laborraum. Dort haben Kerstin Meier und Sabine Heinz ihre Arbeitsplätze. Rücken an Rücken, Schreibtische mit Computern. Zwei Menschen auf engem Raum, deren Arbeitsalltage sich voneinander unterscheiden. Im ersten Fall dreht es sich mehrheitlich um Arbeiten im Zusammenhang mit der molekulargenetischen Testung und im zweiten Fall um Forschungsarbeiten.

7.3.1 Anfang und Ende der molekulargenetischen Testung: Lese- und Schreibarbeiten „Die Vorbereitung der Proben mache ich, damit sie [Personen, die im Labor arbeiten, S.P.] wissen, welche Probe bearbeitet werden muss, wenn von den Patientinnen Blut oder DNA gekommen ist. Da muss ich mir vorher auch die Stammbäume angucken, ob die überhaupt in die Diagnostik kommen dürfen. […] Dann bearbeiten die beiden [im Labor zuständigen, S.P.] selbstständig die Proben und ich werte in erster Linie aus. Ich werte aus und führe noch eine Qualitätssicherung durch, inwiefern wir Proben wiederholen müssen, weil Unstimmigkeiten entstanden sind oder die Genauigkeit nicht so gut ist, dass wir sagen können, damit können wir guten Gewissens die Analyse abschließen. Wenn wir wissen, dass wir beide Gene für den Patienten komplett analysiert haben, dann schreibe ich einen Befund“ (Meier 2006: 1f.).

Zwischen Stammbaum und Heterozygotenwahrscheinlichkeit Das erste, was zu tun ist, wenn neue Patienten-DNA in das Labor kommt, ist die Kontrolle, inwieweit eine molekulargenetische Testung von BRCA1 und BRCA2 zulässig ist. Innerhalb des Verbundprojektes sind prozentuale Schwellenwerte auf der Grundlage von empirischen Mutationsraten, welche im Rahmen des Verbundprojektes erhoben wurden, definiert und von den Krankenkassen (siehe Mustervertrag §3) übernommen worden. Verschiedene empirische Mutationswahrscheinlichkeiten korrelieren mit spezifischen Familienkonstellationen in Bezug auf Brust- und/oder Eierstockkrebserkrankungen. Beispielsweise liegt aufgrund der zwischen 1997 und 2004 erhobenen Daten innerhalb des Verbundprojektes in einer Familie mit zwei Mammakarzinomen, beide unter 51 Jahre, die empirische Mutationswahrscheinlichkeit bei 19 Prozent und bei einem oder mehr Mammakarzinomen und einem oder mehr Ovarialkarzinomen unabhängig vom Alter bei 34 Prozent. Für die Testung einer Indexperson muss eine Mutationswahrscheinlichkeit von größer/gleich zehn Prozent vorliegen. Index bedeutet, dass diese Person aus der Familie der Ratsuchenden bereits an Brustund/oder Ovarialkrebs erkrankt war beziehungsweise ist. Falls keine Indexperson zur Verfügung steht, kommt eine prädiktive Testung, also die Testung einer gesunden Person, nur für sogenannte Hochrisikopersonen 232

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in Frage. Dies bedeutet ein Heterozygotenrisiko der Ratsuchenden von größer als 20 Prozent nach Cyrillic und ein Lebensrisiko von größer als 30 Prozent. Cyrillic ist eine Software zur Errechnung von statistischen Wahrscheinlichkeiten. Allerdings basiert das Programm nicht auf deutschen Daten und man „weiß, dass das Modell Lücken hat“ (Meier 2006: 18). Die Cyrillic-Berechnung erfolgt in der Humangenetik auf Basis der von Familienangehörigen angegebenen Stammbauminformationen. Es mag verwundern, dass der Schwellenwert mit größer/gleich zehn Prozent – in jeder zehnten Probe, also bei jedem zehnten Patienten, eine Mutation – recht niedrig angesetzt ist. Er ist aber „widely used to select those patients who may benefit from genetic testing for BRCA1 and BRCA2 mutations“ (Thull/Vogel 2004: 17). Die Festlegung der magischen Grenze ist zwar nicht willkürlich, aber auch nicht die einzig Mögliche. Wer wird getestet, wer nicht – who may benefit und was ist der Gewinn? Auch sind die mit den empirischen Mutationswahrscheinlichkeiten korrelierten Familienkonstellationen nicht die einzig perspektivisch möglichen. So wird in der Anlage zum Vertrag darauf hingewiesen, dass weitere Familienkonstellationen ebenfalls als Einschlusskriterium zugelassen werden können, sollte sich auf der Grundlage noch zu sammelnder oder gesammelter Daten ergeben, dass auch in diesen eine Mutationswahrscheinlichkeit von größer/gleich zehn Prozent vorliegt. Die Stabilität, die die festen und exakten Zahlen suggerieren mögen, ist gleichzeitig mit zahlreichen Destabilisierungsbewegungen konfrontiert. In der diagnostischen Praxis gibt es auf der einen Seite klare Schwellenwerte für die genetische Testung, auf der anderen Seite jedoch ist eine latente Durchlässigkeit derselben notwendig. Will man neue Erkenntnisse erhalten und zu neuen Klassifikationen kommen, muss vom festen Rahmen, von bisherigen Klassifikationen abgewichen werden. Und genau das passiert im Alltag zwischen Diagnostik und Forschung: „Wenn wir jetzt feststellen, dass wir eine hohe Prozentzahl von Familien haben, wo nur eine an Brust- oder Eierstockkrebs Erkrankte ist und wir wissen, die ist unter 35 und wir haben diese Gruppe von über 120 Fällen und wir finden in über 20 Prozent eine BRCA1 oder BRCA2 Mutation, dann müssen wir sagen, diese Stammbäume sind wichtig. Diese Frauen müssen zukünftig auch eine Testung bekommen. Das ist ein Problem, denn die sind momentan nicht in der Regelversorgung, weil sie laut Vertrag nicht die Kriterien für die Testung erfüllen. […] Das würde jetzt eigentlich nicht finanziert werden und wir sind im Konsortium übereingekommen, dass wir das als Zentren selber tragen unter dem Forschungsaspekt gesehen“ (Meier 2006: 17).

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Die geschilderte Variante ist insofern interessant, als dass bei einer einzelnen Person kaum mehr der Stammbaum informativ sein kann, weil man über ihn keinen Hinweis auf eine erbliche Komponente erhält. Sprich, ohne Erkrankte kann der Stammbaum keinen Hinweis auf eine mögliche erbliche Komponente erbringen. Er bleibt, ob lediglich singulär vorkommender Erkrankungen, genetisch stumm. Hier spielt das Alter die entscheidende Rolle. Bislang wurden Personen mit einem Mammakarzinom unter 31 Jahren eingeschlossen, da sie auf der Grundlage der in Deutschland erhobenen Daten einer empirischen Mutationswahrscheinlichkeit von elf Prozent entsprechen. Was man eigentlich für einen sporadischen Krebs halten würde, könnte so zu einem familiären Krebs werden, ohne dass es hierfür eine Familie braucht. Und trotzdem wird am Stammbaum festgehalten: Diese Stammbäume sind wichtig. Könnte man hier jene Verschiebungen und Grenzverwischungen von sporadischem und Familiärem Brustkrebs am Werk sehen? Wo liegt die Grenze, wenn „any genetic will tell you, all causes of morbidity and mortality not directly attributable to accidents probably have a genetic substrate of succeptibility“ (Rapp 2003: 150)? Wir haben bereits erfahren, dass in der Tat in nur ca. 30 Prozent der Patienten-DNAs Mutationen auf BRCA1 bzw. BRCA2 gefunden werden können. Dort, wo man eine Mutation vermuten würde, findet man sie oftmals nicht. Zum Glück hat man den Stammbaum! Er ist stabil, sofern man vom Familiären Brustkrebs als Modell ausgeht. „Sie sehen das im Stammbaum. Da muss irgendwas sein“ (Scherneck 2006: 27). Das, was man sieht, sind zunächst Kreise und Quadrate, die für Familienmitglieder stehen; bei manchen hat sich Brust- und/oder Ovarialkrebs manifestiert. In der Mehrheit sind es Frauen, die erkrankt sind. Man sollte nicht vergessen: Das Sichtbare (Erkrankungen) und das Sagbare (Vererbung) kommen im Stammbaum zusammen. Mit der technischen Möglichkeit der Sichtbarmachung des Sagbaren (Sequenzierung und Identifikation von pathogenen Mutationen) wird die Erkrankung verschluckt. Sie wird in die Mutation eingeschlossen. In diesem Einschluss bewirkt sie, dass die Mutation keineswegs geschlechtsneutral agiert. Auch wenn den Maschinen im Labor einerlei ist, ob die DNA von einer Frau oder von einem Mann stammt, oder in der Bearbeitung der Patienten-Sets die Tubes nicht geschlechtlich markiert sind, Mutation und Erkrankung – sichtbar und sagbar – sind in erster Linie an einen weiblichen Körper gebunden. Dass dieses Etwas über BRCA1 und BRCA2 hinausgeht, ist eine notwendige Bedingung für weitere Forschungen nach BRCAx. Und es ist integraler Bestandteil des gesamten Gefüges samt seiner Loci. Man weiß, es ist da, man hat es nur noch nicht entdeckt. Diese Aussage begleitet uns von Anbeginn an in ihrer Wiederholung durch das Gefüge. 234

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Nichtwissen wird nie vom Wissen aufgehoben werden. Sie bilden ein Amalgam und die Frage lautet: Kann das Nicht-Wissen so stabilisiert werden, dass es in einer Art inneren Ausschlusses zu Wissen wird? Mir scheint, genau dies passiert mit BRCA und der Stammbaum ist dabei ein Key Player. Er war von Anbeginn der Brustkrebs-Genforschung ein zentrales Werkzeug der In- und Exklusion von Familien. Diese Funktion behält er auch in der Diagnostik bei, jedoch gesellt sich zu ihm ein Zahlenwert. Der Zahlenwert ist eine Fusion von spezifischen Familieninformationen und einem mathematischen Modell einer Software, deren Algorithmen eine Black Box sind. Bevor es also überhaupt zu einer Testung kommt und eine Mutation gefunden werden kann oder auch nicht, existiert die Mutation bereits in den Modi Zahl und Stammbaum: „Der Stammbaum füllt sich mit molekulargenetischen Daten. Er ist zwar auf der einen Seite der Stammbaum der uns sagt ‚krank, krank, krank, gesund‘, aber er ist auf der anderen Seite durchaus aufgefüllt mit den Daten ,Mutationsträger, Nicht-Mutationsträger, Mutationsträger, Nicht-Mutationsträger‘“ (Gimmel 2006: 14). Die Zahl ist insofern eine Doppelfigur. Sie vermittelt eine individuelle Aussage und rückt den Betreffenden von anderen Familienmitgliedern (ohne eine Zahl) und vom Stammbaum ab. Gleichzeitig ist sie eine abstrakte Zahl aus einem statistischen Programm. In der Tumorgenetik ist das vielleicht ein Grund, warum nicht auf die Zahl, sondern auf den Stammbaum geschaut wird. Die Heterozygotenwahrscheinlichkeit ist das offizielle Einschlusskriterium für die Testung, aber der Stammbaum ist dasjenige, worauf Meier schaut: „Wenn ich eine Frau habe, dann sehe ich oft schon am Stammbaum alleine, ob die Familie erblich belastet ist oder nicht und dann schaue ich nicht auf diese Zahl“ (Meier 2006: 18). Sie betont sogar, dass man nicht mit der Humangenetik an dieser Stelle tauschen wolle, da die Entscheidung am Rande eines Schwellenwertes schwierig sei und sie findet, man solle da nicht so streng sein. Der Stammbaum dagegen verrate einer erfahrenen Person mit einem „geschulten Auge“ (Meier 2006: 6) die notwendigen Informationen. Darauf, dass das Labor nicht nur eine Zuliefer- und Ausführungsfunktion gegenüber der Klinik inne hat, sondern mitentscheidet, ob aufgrund des Stammbaums ein Test gemacht wird oder nicht, hat Bourret (2005: 57) hingewiesen. Worauf sie allerdings nicht eingeht, ist die Frage, wovon in den Laboren im Einzelnen abhängig gemacht wird, ob getestet wird oder nicht. Was sind die Kriterien, nach denen Laborentscheidungen getroffen werden, die möglicherweise nicht mit Anforderungen der Klinik konform gehen? Aus der Tumorgenetik erfahre ich nichts über etwaige Störungen. Es ist vielmehr so, dass man sich auf die Arbeit der Humangenetikerin verlässt und diesbezüglich gute Erfahrun235

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gen macht: „Die hat alles im Kopf und weiß, was hereditär ist und was nicht und deshalb weiß sie schon vorher, ob die Patientin überhaupt zur Testung zugelassen werden kann“ (Meier 2006: 6). Insofern ist der Stammbaum zwar ein Passage- und Kontrollpunkt der Diagnostik, was jedoch viel entscheidender ist, ist ein anderes Dokument: die Einverständniserklärung.

„Das allerwichtigste ist die Einverständniserklärung“ (Meier 2006: 6) Die Einwilligungserklärung der Ratsuchenden und/oder der Indexpatientin muss vorliegen. Die Einwilligung ist vertraglich in §5 des Mustervertrages festgehalten. Neben der Durchführung der Gendiagnostik für BRCA1 und BRCA2 sowie der Datenerfassung und Auswertung der erhobenen Daten enthält die Einwilligungserklärung erstens einen Abschnitt über zukünftig vielleicht mögliche Testungen weiterer Risikogene, zweitens über die Verwendung des Materials im Rahmen von begleitenden Forschungen und drittens über die Informationsmöglichkeit im Hinblick auf gegebenenfalls zukünftig erzielte Forschungsergebnisse. Die Erklärungen sind nicht nur ausschlaggebend für die Zulassung zur Gendiagnostik. Sie sind Bedingung der Möglichkeit, dass aus dem Material und dem Stammbaum Daten gewonnen, zentral gesammelt und ausgewertet werden dürfen. Es wäre ein eigenes, aufregendes Thema, sich mit der Datenerfassung im Kontext des Verbundprojektes zu befassen. Erst seit 2002 ist das Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig im Verbundprojekt für die Dokumentation, Telematik und Biometrie zuständig. Das entwickelte einheitliche Dokumentationskonzept, die Entwicklung einer zentralen Datenbank sowie des elektronischen Datenerfassungswerkzeugs FamIS zur lokalen Dateneingabe in den Zentren deuten an, welch enorme Bestrebungen der Standardisierung und Klassifizierung von Körperdaten passieren. Ein eigenes Feld von riesigen Datenmengen spannt sich auf der einen Seite verbunden, und auf der anderen Seite neben der Testung und neben den unmittelbaren Auswirkungen jedweder Ergebnisse auf die betroffene Person auf. Jede einzelne unterschriebene Einwilligungserklärung leistet so ihren Beitrag zur Explosion von Daten. Ganz abgesehen davon, was es bedeutet, diese zu sinnvollen Informationen zusammenzuführen; wobei „sinnvoll“ eine dehnbare und offene Größe ist. Petra Gehring (2006: 67) weist darauf hin, dass Datenflüsse nicht vollständig durch Datenschutzbestimmungen zu kontrollieren sind. Und was mit den erhobenen Daten geschehen wird, ist nicht mehr Teil der Erklärung. Während Gehring sowohl Daten als auch Körperstoffe unter das Dach von Biobanken wandern sieht und dort prospektiv von ihrer 236

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Verwertung durch jene ausgeht, die einen Zugriff haben, muss einschränkend von meiner Seite angemerkt werden, dass zumindest auf dem Papier eine räumliche Einschränkung im Hinblick auf die Nutzung gemacht wird: Die Daten gehen in die zentrale Datenbank am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie an der Universität Leipzig ein. Neben der räumlichen umfasst die Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des biologischen Materials zudem eine zeitliche Komponente. Zeitlich und räumlich abgetrennt von den Menschen, die irgendwann einmal eine Blutprobe gaben, kann das Untersuchungsmaterial zu begleitenden Forschungen eingesetzt werden, an die man zum Zeitpunkt der Testung vielleicht noch nicht einmal dachte. Aber die Erklärung enthält den Passus, dass dies nur innerhalb des zeitlich begrenzten Raumes von bis zu zehn Jahren nach Beendigung der Untersuchung passieren dürfe. Außerdem ist es nach wie vor gängige Praxis, dass das Material in den jeweiligen Laboren verbleibt und nicht zentral gesammelt wird. Die Einwilligungserklärung ist ein zentrales Dokument nicht nur im Hinblick auf das Labor, sondern auch im Hinblick auf alle klinischen Daten aus dem Verbundprojekt. In ihr gibt ein Individuum sein Einverständnis, dass Körperstoffe und Körperdaten sich verselbstständigen dürfen. An die mit der Erklärung verbundenen Praktiken knüpfen sich viele Fragen. Was passiert mit dem Material nach Ablauf der zehn Jahre? Konkret spielt genau diese Frage gegenwärtig eine Rolle, da sich die DNAs in den Gefrierschränken der Labore mehren und manche beginnen, an die Zehn-Jahres-Grenze zu stoßen. Wer kontrolliert das zeitliche Maß? Auch wäre es interessant zu erfahren, ob es schon einmal vorgekommen ist, dass Einwilligungen zurückgezogen, Daten und Material vernichtet wurden. Schließlich wird diese Option in der Erklärung angeboten. Die Spannung zwischen technischer Machbarkeit bei gegenwärtig existierender Beschränkung von Machbarkeit durch Dokumente wie Einwilligungserklärungen liegt offen. Die Gefahr der Datenenthemmung sollte nicht unterschätzt werden. Die Ökonomisierung von Körperstoffen (von Eizellen bis zu Organen) ist augenscheinlich. Sollte die Einwilligungserklärung ernst genommen werden, so muss zum jetzigen Zeitpunkt einschränkend gesagt werden: Das Potential ist da, die absolute Enthemmung jedoch (noch) nicht möglich. Liegt die Unterschrift der Ratsuchenden/Indexpatientin vor, dann kann die Testung beginnen. Der Laboralltag wird zwar von Meier mit koordiniert, sie nimmt aber nicht mehr an ihm teil. Nur wenn Störungen auftreten, DNAs beispielsweise nicht funktionieren und die PCR fehl schlägt, wird das Büro vom Labor hinzugezogen. Wird die Laborarbeit zu einem erfolgreichen Abschluss geführt – sprich, die komplette Sequenzierung der Fragmente – kann die Auswertung beginnen. 237

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Was das Auge sieht Drei Dinge sind zu tun: Die Ansicht der produzierten Sequenzen, ihre Auswertung sowie eine Qualitätssicherung. Qualitätssicherung bedeutet, dass im Falle von Unstimmigkeiten oder Ungenauigkeiten die Wiederholung einer Probe angesetzt wird. Außerdem kann ein negativer Befund in spezifischen Fällen dazu führen, dass andere molekulargenetische Untersuchungsmöglichkeiten in Angriff genommen werden. Wenn beispielsweise bei einer Indexpatientin aus einer Hochrisikofamilie (mit einer empirischen Mutationswahrscheinlichkeit von größer/gleich 20 Prozent) keine Mutation gefunden wird, bzw. ein UV nachweisbar ist, dann wird die molekulargenetische Untersuchung auf die Identifizierung größerer Deletionen im BRCA1-Gen nach Standardverfahren erweitert. Oder es wird die Möglichkeit der Kopplungsanalyse anhand des Stammbaums geprüft. Die Sequenzen werden entlang der bestehenden Klassifikation von Veränderungen ausgewertet: Polymorphismen, Unklassifizierte Varianten (UVs) und krankheitsrelevante Mutationen. Vorausgesetzt ist eine Nomenklatur, eine sogenannte Wildtypsequenz der DNA. Nomenklaturen sind anerkannte Bezeichnungsschemata, die nicht notwendigerweise klassifikatorischen Prinzipien folgen müssen. Ihre Nennung ist Bestandteil jedes Befundbriefes: „Der Abgleich der ermittelten DNA-Sequenzen erfolgte mit der in der Genbank-Datenbank unter der Accession-Nr. U14680 (BRCA1) und NM000059 (BRCA2) niedergelegten Sequenz“ (aus einem Befundbrief der Tumorgenetik 2006). Der Begriff Wildtyp legt Assoziationen von Ursprünglichkeit und Naturhaftigkeit nahe. Dieser Wildtyp ist jedoch nichts anderes als das Ergebnis der Konstruktion eines genetischen Standards. Wie für andere Standards gilt auch für den Wildtyp: Seine Stabilität bedeutet nicht, dass er sich zukünftig nicht verändern wird. Ebenso ist das Bezeichnungsschema des Wildtyps, also die Nomenklatur, nicht unbedingt ein für alle Mal eindeutig. Der Trick besteht vielmehr darin, sich auf eine Nomenklatur zu einigen: „Es gibt schon mal Schwierigkeiten im Konsortium, weil die einen benutzen eine ganz andere Nomenklatur als wir. Wir benutzen eine Nomenklatur, die jetzt zunehmend weltweit akzeptiert wird“ (Meier 2006: 8). Würden alle unterschiedliche Nomenklaturen benutzen, könnte man mit den Angaben einer Position, beispielsweise einer Mutation, aus einem anderen Labor nichts anfangen, weil man nicht wüsste, wo sie zu finden ist. Die Lesarbeiten bestehen darin, die Sequenzen nach Veränderungen durchzusehen, also nach Abweichungen vom Wildtyp und auf dem Sequenzausdruck zu markieren.

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Die Durcharbeitung der Sequenzen aller analysierten DNA-Fragmente ist zeitaufwändig und anstrengend. Zwar gibt es eine Software, welche die Auswertung übernehmen könnte, jedoch will man sich in der Tumorgenetik nicht darauf verlassen. Meier vertraut eher ihren Augen: „In erster Linie arbeite ich mit dem Computer und mit meinen Augen. Wenn das ein Instrument ist. Wir müssen oft Sequenzen vergleichen und das mache ich nach wie vor, auch wenn es mühsam ist, per Auge, weil das Auge genauer ist. Es gibt Programme, aber meine Erfahrungen sind nicht so gut“ (Meier 2006: 5). Haben wir im letzten Abschnitt etwas über das Menschliche der Technik DHPLC erfahren, lernen wir nun etwas über das Technische des Menschen. Das Auge als Instrument. Ähnlich äußert sich Gimmel, wobei sie noch anfügt: „Man wird zwar müde, also birgt es auch Risiken, aber man sieht doch auch einiges mehr. Anstatt einfach einer Auswertungssoftware zu vertrauen und zu sagen, wenn die was gefunden hat, ist gut und sonst nicht“ (Gimmel 2006: 18). Wir lernen also zudem etwas über die Verteilung von Aufgaben zwischen Mensch und Technik. (Noch) ist das Auge und nicht die Software gefragt. Nicht, weil es die entsprechende Software nicht geben würde, sondern weil man schlechte Erfahrungen mit der Qualität der Ergebnisse gemacht hat. „Ein teureres und moderneres haben wir zurzeit nicht“ (Meier 2006: 6). Die Verteilung ist eine Qualitätsfrage, wobei die Fehlerhaftigkeit des Auges aufgrund von Ermüdungserscheinungen nicht negiert, sondern in den Laboralltag integriert wird. Und sie ist eine Geldfrage!

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Abbildung 11: Auswerten

Quelle: Sonja Palfner 2006

Fertig für die Passage: Befundbrief Im Büro werden die Befundbriefe geschrieben. Innerhalb des Verbundprojektes hat sich ein standardisiertes Befundformat entwickelt. Folgende Varianten sind möglich: negativer Genbefund/unklassifizierte Variante (Index), negativer Genbefund (Index), positiver Genbefund (Index), prädiktive Testung mit negativem Genbefund (Ratsuchende), prädiktive Testung mit positivem Genbefund (Ratsuchende). Im Falle eines positiven Befundes wird zur Kontrolle des Ergebnisses eine zweite Untersuchung anhand einer zweiten Blutprobe durchgeführt (Befundbestätigung). Der Befund wird in schriftlicher Form an die beratende Humangenetikerin geschickt. Der Brief enthält den Namen und das Geburtsdatum, wann die Analyse begonnen und abgeschlossen wurde, welche Methodik angewandt, wie vorgegangen und welche Nomenklatur dem Abgleich zugrundegelegt wurde. In der ersten Variante handelt es sich um eine Indexperson, bei welcher eine Mutation gefunden werden konnte. Auf Grundlage der festgestellten Mutation können sich Ratsuchende aus der Familie prädiktiv untersuchen lassen. Die Mutation ist demnach Bedingung der Möglichkeit für molekulargenetische Testungen von gesunden Familienangehörigen. Dabei wird nur der Sequenzbereich untersucht, in welchem die bekannte Mutation lokalisiert ist. 240

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Falls eine Ratsuchende getestet und bei ihr die gleiche Mutation wie bei der erkrankten Angehörigen (Index) festgestellt wird, gilt die gleiche Empfehlung wie für die Indexperson. Wenn keine Mutation gefunden wird, stellt der Befund fest: „Frau X ist nicht Trägerin der in der Familie von Frau X gefundenen pathogenen BRCA1-Mutation. Sie ist somit bezüglich ihres Risikos für Brust- und Eierstockkrebs entlastet“ (aus einem Befundbrief der Tumorgenetik 2006).

Findet man bei der Indexperson „nach dem heutigen Wissensstand“ allerdings keine krankheitsrelevante Mutation, dann ist eine prädiktive Testung weiterer Familienmitglieder nicht vorgesehen. Es wird empfohlen: „Da eine weiterhin bestehende genetische Prädisposition für Brust- und Eierstockkrebs bei Frau X nach dem gegenwärtigen Stand der molekulargenetischen Testung nicht ausgeschlossen werden kann, sollte die Patientin gemäß ihrem individuellen Erkrankungsrisiko beraten und klinisch überwacht werden“ (aus einem Befundbrief der Tumorgenetik 2006).

Die Testung von Gesunden ohne die vorherige Testung einer Indexperson ist nur dann möglich, wenn das Heterozygotenrisiko größer 20 Prozent und das Lebensrisiko größer 30 Prozent ist. Die letzte mögliche Befundvariante ist das Finden eines sogenannten UV. Ist dies bei einer Indexperson der Fall, dann heißt es in der Interpretation des Labors: „Bei der Indexpatientin Frau X konnte keine pathogene Mutation im BRCA1und BRCA2-Gen nachgewiesen werden. Die Bedeutung der nachgewiesenen BRCA1-Sequenzvariante p.Ser1301Asn für die Entstehung von Brust- und Eierstockkrebs ist nach heutigem Wissenstand nicht geklärt. Somit ist eine prädiktive Testung weiterer Familienmitglieder nicht vorgesehen. Da eine weiterhin bestehende genetische Prädisposition für Brust- und Eierstockkrebs bei Frau X nach dem gegenwärtigen Stand der molekulargenetischen Testung nicht ausgeschlossen werden kann, sollte die Patientin gemäß ihrem individuellen Erkrankungsrisiko beraten und klinisch überwacht werden“ (aus einem Befundbrief der Tumorgenetik 2006).

Beratung und klinische Überwachung werden sowohl beim negativen als auch beim positiven Befund empfohlen. Entweder eine genetische Disposition konnte anhand der pathogenen Mutation identifiziert werden oder ihre Existenz kann aufgrund des aktuellen Wissenstandes nicht ausgeschlossen werden. Summa summarum sieht es folgendermaßen 241

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aus: In allen Fällen mit anwesender/abwesender Mutation wird eine klinische Behandlung gemäß dem individuellen Erkrankungsrisikos empfohlen. Die einzige Ausnahme sind Ratsuchende, die entlastet werden können. Gemäß dem individuellen Erkrankungsrisiko bedeutet ein lebenslanges Erkrankungsrisiko von 30 Prozent und höher oder ein Heterozygotenrisiko von 20 Prozent und höher nach Cyrillic. Ein- und Ausschluss, Mutation und SNP, die Sprache des Labors ist nicht die der Wahrscheinlichkeiten. Sie kann nur in ihrem Klassifikationssystem das bestmögliche Ergebnis in ihrem Rahmen erzielen. Der Befund geht hinaus, die DNA bleibt im Labor. Man mag kaum glauben, dass sie jemals etwas miteinander zu tun hatten… Die exakte Beschreibung der Mutation im Befundbrief ist für eine außenstehende Person vielleicht verwirrend und zwar nicht nur aufgrund der für Fachfremde unverständlichen Termini. Ich erfahre, dass man begründen wolle, warum es sich um eine pathogene Mutation handelt. Aber: Sie hat in ihrer Spezifik bislang keine Relevanz bezüglich klinischer Maßnahmen. Warum, so fragt man sich, muss also diese komplizierte Beschreibung überhaupt im Brief enthalten sein? Man kann vermuten, dass es ein Indiz für die gegenwärtig (noch?) existierende wichtige Rolle der Mutation ist. War vor der Identifizierung von BRCA1 und BRCA2 das Brustkrebs-Gen anwesend/abwesend, so ist es mit der Möglichkeit der Testung die Mutation, die nur in wenigen Fällen anwesend (man konnte sie finden) und in der Mehrzahl anwesend/abwesend ist (man konnte sie nicht finden, aber es muss etwas da sein). Nur in wenigen Fällen ist sie wirklich abwesend, nämlich dann, wenn bei einer Indexperson eine Mutation lokalisiert wurde und diese nicht bei der Ratsuchenden gefunden werden konnte. Die sorgfältige Recherche nach gefundenen Mutationen ist nicht nur Teil der Diagnostik, sondern immer auch Teil der Forschung. „In den Anfängen habe ich mich gefreut, wenn ich eine Mutation gefunden habe. Weil wir als Wissenschaftler und in dem Labor, wo wir arbeiten, immer auch an Forschungsergebnissen interessiert waren. Und eine neue Mutation bedeutet immer eine Bereicherung unseres Forschungsfeldes. […] Da boten sich neue Möglichkeiten zu forschen und man hat sich gefreut. Aber die Konsequenz für die Familie ist eine ganz andere. Und in meiner Tätigkeit habe ich gelernt, damit anders umzugehen“ (Meier 2006: 7).

Insofern gehört die Mutation zu zwei Ballungsräumen und wandert zwischen Forschung und Diagnostik hin und her. BRCA-Forschungen bewegen sich allerdings auch schon längst in neuen Feldern, in denen Mutationen von SNPs und anderen Entitäten abgelöst werden. Dass solche 242

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Forschungsbewegungen im Alltag der Diagnostik immer wieder zu Verunsicherungen führen können, beschreibt Meier: „Wir hatten neulich erst die Situation, dass wir einen Befund von einem Privatlabor hatten und die haben einen SNP, also einen Polymorphismus, der Patientin dahingehend beschrieben, dass er mit einem erhöhten Krankheitsrisiko korreliert. Wir haben das bislang völlig außer acht gelassen – für uns war das ein SNP und das ist auch nach wie vor so. […] Das macht mich ein bisschen unsicher: Wie gehen wir in der Befunddarstellung, die ja doch eine wichtige Information für den Patienten ist, damit um“ (Meier 2006: 24).

Abgesehen von der Mühe des Lesens der Sequenzen könnte man denken, dass es immerhin keine Probleme bei der Zuordnung der Veränderungen geben dürfte. Schließlich existiert ein Klassifikationssystem und es gibt klare Vorgaben, was davon in einem Befundbrief zu stehen hat und was nicht. Aber selbst das erweist sich im Konkreten als trügerisch. „Also es gibt einen Punkt im Rahmen der BRCA1-/BRCA2-Gendiagnostik, wo ich mitunter unsicher bin und das betrifft eigentlich und damit auch ein bisschen unzufrieden, betrifft diese Klassifizierung der nichtklassifizierbaren Veränderungen“ (Meier 2006: 22). Damit kommen wir an einen interessanten Punkt. Wie kann etwas klassifiziert nicht-klassifiziert sein? Die Antwort liegt unterhalb der Dreiteilung (Mutation, SNP, UV) und erklärt das Dilemma. Die Einteilung in SNP und Mutation ist verbunden mit der Einteilung in nicht-pathogen und pathogen. Das Problem mit dem UV liegt genau in dieser Zweiteilung, denn „da können wir nicht sagen, das ist ein Polymorphismus und wir können nicht sagen, das ist eine pathogene Mutation. Das ist so ein Zwischending“ (Meier 2006: 2). Meier wünscht sich von Seiten des Verbundprojektes da eine klare Definition. „Institutions do the classifying“ – darauf hat uns Mary Douglas hingewiesen (1986). Es wird an sie herangetragen, es wird eine Begriffsmacht des Verbundprojektes eingefordert. Klassifikationen werden innerhalb des institutionellen Zusammenhangs produziert und gleichzeitig wird die institutionelle Vorgabe als wichtig erachtet. Pathogen und nicht-pathogen. Leben und Tod. Die Macht der Institution ist zwischen Norm und Abweichung, Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod zu entscheiden. Sicherlich wird einzuwenden sein, dass eine Mutation noch lange nicht bedeutet, dass die Person sterben wird. Genauso kann ein Mensch ohne Mutation an Brustkrebs oder an anderen Zufällen sterben. Aber die institutionelle Verfasstheit inkorporiert eine dichotome Ordnung und sie wird von den Personen eingefordert. Das Zwischending UV steht mit einem Fuß innerhalb dieser alten Ordnung, die ein Entweder-oder fordert. Es ist wohl 243

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kein Zufall, dass sich die Ordnung des Gens und die Ordnung der Gesellschaft in einer dichotomen Trennung ähneln; krank/gesund, normal/abweichend, Mutation/SNP: „Für jeden Zustand der Natur gibt es einen korrespondierenden Zustand der Gesellschaft“ (Latour 2002: 128). Gleichzeitig deutet sich immer stärker an, dass diese Ordnung nicht mehr hält. In Anbetracht der Forschungsentwicklungen darf man vermuten, dass sich die eine Seite – SNPs und Pathways – ausbreiten wird. Das Pathologische wird normal, aber es wird nicht mehr dasselbe wie noch innerhalb der dichotomen Ordnung sein. Mir scheint, dass wir hierfür noch keine Sprache entwickelt haben. Ob der Begriff des genetischen Risikos oder des gesunden Kranken – man bewegt sich damit nach wie vor in einer Ordnung, welche von Krankheit und Gesundheit ausgeht. Das Risiko inkorporiert die Krankheit ohne Erkrankung, der gesunde Kranke ist frei von körperlichen Symptomen aber nicht frei von Wissen über sein in den Genen lagerndes krankes Potential. Was aber geschieht, wenn die Grenzen verwischen? Wenn die Logik der Alternative keine Alternative mehr zulässt, sondern nur noch in flexiblen Mustern neuer Formen von Leben anzutreffen ist? Darauf wird die derzeitige institutionelle Verfasstheit des Verbundprojektes keine Antwort haben. Mit anderen Worten: Das Dach unter welchem die Gendiagnostik stattfindet, die Klinik, kann in ihrer Form den neuen Entwicklungen keinen Ort bieten. Entweder die Inhalte und Ziele werden in die Form gepresst, oder es müssen neue Formen entstehen. Der Prozess des Befundens muss genau mit diesen existierenden Spannungen umgehen. Diese müssen in den Alltag integriert werden. Es ist ein Zittern der Institution zu vernehmen. Meine Frage wäre, ob die Institution ähnlich des molekularen Wissens einen Wandel erfährt: von der singulären und fixen Mutation zu wandelbaren und multiplen SNP-Mustern, von der großen und schwerfälligen Klinik zu neuen beweglicheren Formen institutionellen Werdens.

Sind mobile Formen vorstellbar? Von Genen… „Es wird letztlich darauf hinauslaufen, dass jeder Patient seine Gruppe von Genen hat, die in irgendeiner Form verändert sind. Die führen dann plus Lebensstil und bestimmten Umweltfaktoren dazu, dass ein Tumor entstehen kann. Es wird sehr sehr schwer sein, das zu verallgemeinern und zu sagen, bei 10.000 oder 20.000 Patienten müssen es immer die fünf Gene sein. Bei dem einen werden es die ersten fünf Gene sein, bei dem nächsten wird es Gen drei bis sieben sein, bei dem nächsten Gen sechs bis. Es wird sehr heterogen sein“ (Heinz 2006: 9).

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… und ihren Institutionen „Schauen Sie mal, das finde ich verrückt und das müssen wir vielleicht ändern: Diese Frauen kommen zur Beratung fast immer in Krankenhäuser. Krankenhäuser, da sind vielleicht sogar ihre Angehörigen erkrankt und verstorben, haben die Chemotherapie oder verstümmelnde Operationen dort bekommen. Ich weiß nicht, ob es nicht besser wäre, diese ganze präventive Medizin raus aus dem Krankenhaus zu verlagern. Ich könnte mir vorstellen, dass ich meine Sprechstunde auch einmal im Monat von mir aus im Prenzlauer Berg anbiete. Aber nicht im Krankenhaus. Jedoch kenne ich keine Umfrage mit Frauen. Ich weiß nicht, wie die dazu stehen, ob das mit einem Problem verbunden wird. Ich meine, in einem Krankenhaus haben wir natürlich alles, was wir brauchen. Ein Ultraschallgerät, ausgebildete Ärzte, wir haben die Möglichkeit Blut abzunehmen für ein Labor und wir haben ein Mammographie- oder ein Kernspingerät. Also eigentlich ist alles im Krankenhaus“ (Untch 2006: 16).

7.3.2 Forschen: Zwischen Multifunktionalität und Management In der Arbeitsgruppe Tumorgenetik wird nicht nur Gendiagnostik betrieben, sondern auch geforscht. Im Rahmen des Verbundes gibt es immer wieder gemeinsame oder von den einzelnen Gruppen durchgeführte Forschungsprojekte. Diese befassen sich nicht nur mit der Suche nach neuen Genen, sondern beispielsweise auch mit der Versorgungsoptimierung für Frauen mit einer erblichen Belastung für Brust- und Eierstockkrebs durch ergebnisorientierte Evaluation der präventiven Maßnahmen. Neben dem Management der molekulargenetischen Testung sowie der Befundung betreibt Meier Forschung: „In erster Linie belese ich mich, was international publiziert wird und was international einzelne Arbeitsgruppen machen. Ich überlege, inwiefern wir einzelne Themen selber oder im Konsortium bearbeiten können“ (Meier 2006: 2). Ihre Zimmerkollegin ist nicht in die Testung involviert, sondern sie forscht zu neuen Brustkrebs-Genen. Dabei arbeitet sie in erster Linie mit Tumormaterial aus sporadischen Tumoren. Im Frischgewebe untersucht sie die Expressionen von Genen, das heißt, sie forscht danach, ob bestimmte Gene in Mammakarzinomen anders expremiert werden als in Normalgewebe und ob es Mutationen in diesen Genen gibt. Zu zeigen gilt, ob untersuchte Gene eine Relevanz für die Mammakarzinomentstehung oder auch die Progression von Mammakarzinomen haben. Die Proben erhält sie aus den Kliniken, meistens aus der Pathologie. Ein Problem mit Proben aus der Pathologie ist, dass sie in der Regel in Paraffin eingebettet sind. Dann kann man mit diesem Material nicht mehr alle Untersuchungen 245

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machen. Deshalb sind Gewebebanken mit Frischgewebe von Interesse. Ein weiterer Körperstoff, der in Banken gelagert wird.

Probleme mit den Proben Das Problem für die Forschung ist, dass neben der Probe wenig Daten über den Patienten vorliegen: „Das heißt, man weiß nicht, ist er vielleicht schon verstorben, hat er einen Zweittumor bekommen, hat er eine Metastase bekommen – und das ist unheimlich wichtig, um ein Gen zu charakterisieren“ (Heinz 2006: 4). Ähnlich der Forschungen zu BRCA1 und BRCA2 reicht es nicht aus, das Material zu haben, wenn es nicht kontextualisiert werden kann. Die Charakterisierung der Proben ist „das Hauptproblem was wir haben“ (Scherneck 2006: 23). Das zweite Problem ist überhaupt an Proben zu kommen. Wir erinnern uns, welch ein Aufwand geleistet werden musste, um in den Anfängen der BRCA-Forschung an Blutproben und Stammbäume zu gelangen. Bei einem Tumorstück wird die Angelegenheit noch komplizierter, weil dieses ja nur in Operationen gewonnen werden kann. Ich spreche bewusst von Gewinnung, um zu verdeutlichen, dass das Gewebe für die Forschung einen anderen Gegenstand darstellt, als für die Betroffene. Und es ist ein sehr begehrter Gegenstand, wie Heinz berichtet: „Es gibt viele Forscher und alle wollen ein Stückchen abhaben. Das hört sich vielleicht komisch an, aber das ist so“ (Heinz 2006: 4). Vor allem reichten ein oder zwei Tumoren nicht aus: „Um statistisch signifikante Aussagen zu machen, brauchen sie mitunter Hunderte. Und das ist der Grund, warum es ein Konsortium gibt, weil viel Material gesammelt und ausgetauscht wird“ (Scherneck 2006: 23). Man sieht ein MaterialProblem sich verdichten. Erstens muss es gesammelt werden, zweitens muss es in ausreichenden Mengen vorhanden sein, drittens muss es in spezifischen Zuständen erhalten sein und schließlich muss es informativ sein. Ich habe bereits thematisiert, dass die Zentralisation von Daten Teil des Verbundprojektes ist. Nun sehen wir, dass Material-Banken neben Daten-Banken treten. Aber erst die Verbindung macht, wie im angeführten Fall, Frischgewebe wertvoll. Und damit nicht genug. Informationen müssen aktualisiert werden. Dafür jedoch würde es einer langfristigen, wenn nicht sogar lebenslangen Kontrolle bedürfen, die im Falle von Stammbäumen sogar nächste Generationen einschließen würde. Es passt, was Deleuze über die Spezifik zweier Gesellschaftsformen beschreibt: „In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird“ (Deleuze 1993: 257). Was das im Konkreten bedeuten könnte, lässt sich nur 246

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erahnen. Auf jeden Fall müssen sich Technologien entwickeln und zum Einsatz kommen, die das Operieren mit riesigen Datenmengen überhaupt möglich werden lassen. Im Gesundheitssystem sind wir bereits Zeuge der Einführung von Chip-Karten geworden. Warum sollte es nicht möglich werden, Menschen in riesige Banken einzufassen und lebenslang zu reaktualisieren, den Bedürfnissen des Marktes anzupassen?

Vom Fortschritt erschlagen… Neben der Forschung an Mammakarzinom-Gewebe (sporadisch) forscht Heinz auch mit Material aus Familien. Ich war überrascht, in der Tumorgenetik zu erfahren, dass eine Familie, die schon zu Zeiten der Suche nach BRCA1 Gegenstand im Labor war, immer noch – beziehungsweise wieder – beforscht wird. In ihr hatte man keine Mutationen auf BRCA1 und BRCA2 gefunden, was darauf schließen ließ, dass sich in der Familie andere noch unbekannte genetische Komponenten für die große Anzahl an Krebserkrankungen verantwortlich zeichnen müssten. Diese Familie ist Teil der Bewegungen von Wissenschaft: Glaubte man mit den Brustkrebs-Genen BRCA1 und BRCA2 an ein Ende gelangt zu sein, hob sich die damit verbundene Hoffnung auf baldige gentherapeutische Interventionen, auf Hilfe und Heilung nach der „Entdeckung/Erfindung/ Konstruktion“ (Latour 1996: 107) der beiden Brustkrebs-Gene Mitte der 1990er Jahre schnell auf. Was sich indessen hielt, war der Glaube an einen wissenschaftlichen Fortschritt. Wissenschaftliche Arbeit, die Entdeckung neuer Brustkrebs-Gene, ist bekanntermaßen eingespannt in den Gedanken des Fortschritts. So gesehen produziert Wissenschaft Tatsachen, die in einer zukünftigen Gegenwart zu Irrtümern werden mögen, vielleicht vergessen werden und verstauben. Unglücklicherweise erscheint uns der Fortschritt auf einer linearen Zeitachse zu passieren. Erst bei genauerer Betrachtung wird man erkennen, dass er sehr viel mit Wiederholungen zu tun hat. Leben in und mit der Wissenschaft bedeutet das Erleben von Endlosschleifen. Dort, wo man etwas weiß, erfährt man im nächsten Atemzug oder bei der nächsten Internetrecherche, dass die Dinge nicht so liegen, wie man glaubte. Die eine Studie findet heraus, dass bestimmte SNPs mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko korrelieren, andere Studien beweisen das Gegenteil. „Es gibt viele so viele Informationen jeden Tag, dass es einen fast erschlägt. Jeden Tag kommt irgendein Bericht über ein neues Brustkrebs-Gen. […] Mir geht es immer so, dass ich denke, ich weiß überhaupt gar nichts, weil es zu viel Neues gibt. […] Die Entwicklung ist unheimlich schnell“ (Heinz 2006: 21f.).

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Mit dem Wissen wächst das Nicht-Wissen. Eine Ambivalenz, die erschlägt. Als eine „Entzauberung der Welt“ beschreibt Weber jenen Intellektualisierungs- und Rationalisierungsprozess der okzidentalen Kultur, in welchem wissenschaftlicher Fortschritt der wichtigste Bestandteil dieses Prozesses sei (Weber 1991: 250f.). Die Schrankenlosigkeit des Erfahrbaren führt zu dem Paradox, dass es nie genug sein kann. Antrieb und Frustration zugleich, bedeutet Endlosigkeit nicht nur Rastlosigkeit sondern immer auch Haltlosigkeit. Wo kein Ende in Sicht ist, herrscht Vorläufigkeit. Für den Kulturmenschen, so Weber, wird damit der Tod und daran gebunden das „Kulturleben“ als sinnlos erfahren. Was die Entgrenzung des Lebens für einen Menschen heißen kann spürt Simone de Beauvoir eindrucksvoll in ihrem Roman „Alle Menschen sind sterblich“ nach. Der Held der Geschichte, Fosca, wird durch ein Mittel unsterblich. Nach und nach verwandelt sich diese zunächst als machtvoll erfahrene Eigenschaft in ein unendliches Grauen: „Ein fremder war ich, ein Toter. Sie waren Menschen, sie lebten“ (Beauvoir 2003: 472). Nie an ein Ende zu gelangen ist das Motiv des wissenschaftlichen Fortschritts. Doch wo nur noch Wachstum regiert, hat das Schrumpfen keinen Platz mehr, ist der Kreislauf durch den Fortschritt ersetzt.

… und im kapitalistischen Kreislauf der Wissenschaften eingefangen Die Frage lautet dann: Wohin wird geschritten? Wie ist dieser wissenschaftliche Fortschritt und der Wissenschaftler in seiner oder die Wissenschaftlerin in ihrer darin stattfindenden Tätigkeit zu bestimmen? Betrachten wir die Forschung innerhalb unseres vertrauten Gefüges. Im Mittelpunkt treffen wir auf das Brustkrebs-Gen in seiner Vielheit, wie immer anwesend/abwesend zugleich: BRCA1, BRCA2, BRCAx: „Das ist natürlich sehr relevant für alle. […] Man kann darauf aufbauend neue Studien finanzieren. Das ist ja immer das erste, was man braucht. Also man bekommt Geld und das bekommt man nur, wenn man publiziert. […] Auf der anderen Seite ist es natürlich sehr relevant für die Familien. Das steht an erster Stelle. Also für die entsprechenden Betroffenen, die eine Mutation aufweisen“ (Heinz 2006: 9).

Zwei Aussagen erscheinen nebeneinander. Man forscht, um zu publizieren. Man forscht, um zu helfen. An einer anderen Stelle wiederholt sich die Paarung der Aussagen in ähnlicher Weise: „Für mich ist Erfolg nicht unbedingt, auf der Karriereleiter eine Stufe höher zu kommen. Viel wichtiger ist, dass ich jemandem damit helfen kann. […] Und

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Erfolg heißt bei uns viele Publikationen zu haben. […] Es wird gepunktet, wie viele Publikationen du hast, wie viele Kongresspräsentationen, wie viel Lehre. Es wird alles angehäuft zu irgendwelchen Punkten und wenn man so und so viele Punkte hat, dann bekommt man Geld. Wenn man zu wenig Punkte hat, dann bekommt man kein Geld“ (Heinz 2006: 15f.).

Die Aussagen erzeugen in ihrer Verschränkung eine Stabilität, die ein Gegengewicht zur wiederholt erlebten Destabilisierung durch Überholung des eigenen Denkens und Wissens bilden. Zwei Seiten einer Medaille. Wer Wissenschaft betreibt weiß, wie wichtig Veröffentlichen ist. In jeder Bewerbung fungiert die Publikationsliste als Beweis für das wissenschaftliche Kapital und die Kreditwürdigkeit des Forschenden. Dass das Labor ein Ort der Produktion von literary inscriptions ist und Wissenschaftler „readers and writers in the business of being convinced and convincing others“ (Latour/Woolgar 1986: 88) sind, legt uns die Laborstudie der beiden Autoren eindrücklich dar. Auch in der Gendiagnostik ist es ein schriftliches Dokument, welches am Ende der Produktionsreihe steht. Publikationen bringen nicht nur wissenschaftliches Renommee, sondern vor allem Geld. Genauer gesagt hängen Anerkennung und Publikationsliste eng zusammen. Beispielsweise ist es nicht unwichtig, in welchen Fachjournalen ein Artikel angenommen und veröffentlicht wird. Die Potenz wird in sogenannten „Impact-Faktoren“ berechnet. Wissenschaftliches Wissen wird zu Text und dieser wird zu Geld. Dies passiert auf indirektem Wege, da nicht der Artikel bezahlt wird. Vielmehr fließt dieser in das wissenschaftliche Kapital des Forschenden ein. Geld braucht man, um weitere Forschung betreiben zu können, neue Texte zu produzieren und dafür erneut die eigene Position auszubauen, um wiederum an neue Forschungsgelder und – im günstigen Fall – an höhere Beträge zu gelangen. Was sich zu Geld machen lässt, ist eine zentrale Frage. Zunächst einmal ist es notwendig, dass die Ergebnisse in irgendeiner Form Neues beinhalten und dass man es schafft, daran seinen Namen zu binden. Doch Neues entsteht nicht voraussetzungsfrei, sondern ist eingebunden in ein System der Rentabilität: „Es ist so, dass man versucht, aktuelle Themen zu bearbeiten, die möglichst modern sind, wie Mikro-RNAs. Das ist jetzt ein ganz aktuelles Thema. Wenn man dazu forscht und etwas Neues hat, dann bekommt man immer eine gute Publikation“ (Heinz 2006: 16). Für welche Richtung man sich entscheidet und warum, muss im Konkreten nachvollzogen werden. Im „Kreislauf des wissenschaftlichen Kapitals“ (Latour 1996: 121) ist es eine Frage von Gewinn und Verlust, von Angebot und Nachfrage sowie der Bereitschaft und vielleicht den Möglichkeiten, Risiken einzugehen. 249

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„Man muss natürlich auch Sachen nehmen, die vielleicht unsicher sind und wo man weiß, dass da nichts rauskommen könnte. Aber wenn etwas rauskommt. Zum Beispiel die Suche nach einem dritten Brustkrebs-Gen. Da kann man zehn Jahre verschwenden, sind es ja auch schon und nichts finden. Nichts. Und dann kommt zum Beispiel der Chef des MDC und sagt: ,Na was haben Sie denn die letzten zehn Jahre gemacht? Nichts.‘ Das muss doch abgestuft werden. Das muss man kritischer sehen“ (Heinz 2006: 19).

Man könnte es auch so formulieren: Wird nichts Neues gefunden, vergeht zu viel Zeit, und wird zu viel investiert, dann steht man früher oder später vor dem Konkurs. Es gilt, was Herbert Lachmayer über die Innovation in der Technik schreibt: „Das Originäre, der unverwechselbare Einfall, verliert mitunter die spontane Qualität und verselbstständigt sich als ein Zwang“ (Lachmayer 1996: 31). Eine gute Publikation ist eine, die in einem hochrangigen Journal veröffentlicht wird und was dort veröffentlicht werden kann, ist eine Frage des Marktwertes. Heinz sieht dies durchaus als problematisch an: „Man bekommt Institutsgelder und man beantragt Gelder. Aber man bekommt sie nur, wenn man nachweisen kann, dass man in dieser Forschungsrichtung gut ist. Und das kann man nur, wenn man publiziert hat. Also publiziert man häufig ein Ergebnis und denkt eigentlich ,Wenn ich noch das und das dazunehmen könnte, wäre es viel relevanter. Aber ich brauche jetzt die Publikation.‘ Wenn man sich habilitieren will, braucht man zehn Publikationen, in denen man als erster Autor steht. Also sagt man sich, publiziere ich das in einer kleinen Zeitschrift, aber dann habe ich noch eine dazu. Das System finde ich nicht gut. Man müsste versuchen, mehr zusammenzukommen und die Leute vortragen zu lassen, um einzuschätzen, was überhaupt gemacht wird und nicht abfällig irgendetwas zu bewerten ,Der hat gar nichts drauf!‘, bloß weil er keine Publikation hat“ (Heinz 2006: 17).

Neben den Impact gesellt sich eine zweite Notwendigkeit: die Masse an Publikationen. In das System der Hochschulen eingebunden, gibt es einen Zwang zur Publikation, um innerhalb des Systems eine Stufe höher zu gelangen, im dargestellte Fall, um sich habilitieren zu können. Die Autorenschaft muss gesichert sein, sie inkluiert sogar eine klare Vorgabe der Autor-Reihung. Auch wenn man das Schreiben im Labor als einen kollektiven Prozess des ständigen Überschreibens sehen könnte, in welchem eine Vielzahl von Inskriptionen hergestellt werden – Laborprotokolle, Notizen, technische Bilder und eben nicht nur die Publikation – so muss man doch darauf hinweisen, dass das Endprodukt, also die Veröffentlichung, einer eindeutigen Autorenschaft bedarf. Man wird nun besser verstehen, wie das Schreiben in einen Kreislauf eingebunden 250

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ist, der darauf aus ist, Mehrwert zu generieren. Insofern kann und muss folgende Erzählung über die Wissenschaften um eine nicht unwesentliche Komponente erweitert werden: „Als Alan Garen einst Alfred Hershey fragte, was der Traum des Wissenschaftlers vom Glück sei, antwortete dieser: ,Ein Experiment zu haben, das funktioniert, und unaufhörlich mit ihm weitermachen‘“ (Rheinberger 1992: 21). Der Traum vom Glück eines Wissenschaftlers ist es wohl auch, einen Platz im Kreislauf des wissenschaftlichen Kapitals zu bekommen. Diese Form wissenschaftlichen Arbeitens, auch wenn sie kritisch gesehen wird und man darüber vielleicht sogar die Lust verliert, funktioniert wie ein großer Staubsauger. Man kann sich bemühen, dem Sog zu entgehen, bleibt dann jedoch im Außen. Wird man erfasst, ist man zwangsläufig in ein transformatives Spiel eingefasst. Man kann darin versuchen, Nischen zu wahren oder zu erkämpfen; ein anderes Handeln ist nicht unmöglich. Aber, wie durch die Ausführungen deutlich geworden sein sollte, sind die Filter – um im Bild des Staubsaugers zu bleiben – durch die man schlüpfen könnte, recht fein und je weiter man auf der wissenschaftlichen Leiter nach oben klettert, desto feiner werden sie. Kehren wir zurück zu der sich wiederholenden Erfahrung, dass keine Wahrheit, keine wissenschaftliche Tatsache ewig währt. Solches Erleben ist innerhalb einer spezifischen Form von Wissenschaft eingefangen. Das Gefühl der eigenen Haltlosigkeit muss in seiner temporären Ausdehnung dem Alltagsgeschäft weichen. Ein Alltag, der prinzipiell durch eine Verknappung der Zeit charakterisiert ist: „Das Problem ist, dass keiner Zeit hat. […] Man muss viel mehr Zeit lassen, um über bestimmte Fragestellungen nachzudenken. Man hat immer viel zu tun. Man kommt gar nicht dazu zu überlegen, was man anders machen könnte, neu machen könnte oder mal zum Kliniker gehen. Dazu braucht man Zeit“ (Heinz 2006: 17).

Damit ist die Frage nach den gesellschaftlich existierenden Zeitökonomien angerührt. „Just-in-time-production ist politisch ausgeschlossen“ (Narr 2003: 256); dies gilt auch für die Wissenschaft, weil Handeln Zeit braucht, Denken braucht Zeit. In unserer „beschleunigungssüchtigen Jetztzeit“ (Weis 1997: 160) ist der Kairos nicht zu be- und ergreifen. Kairos, ein aus dem Griechischen stammendes Wort, „bezeichnet das Ziel, insofern es ganz vom Augenblick abhängt, er bezeichnet den Ort, insofern er restlos verzeitlicht ist“ (Cassin 1999: 57). Doch den richtigen Augenblick zu wählen, wird dort zu einem Problem, wo das Nachdenken und Vorbereiten desselben unmöglich ist.

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Fest in die dargelegten spezifischen Arbeitsformen eingeschlossen, hat es den Anschein, als wenn Wissenschaft als Beruf zu einer kapitalistischen Angelegenheit werden könnte oder schon geworden ist. Mir scheint, dass die Wissenschaftlerin in der Tumorgenetik in Berlin-Buch in zweierlei Ambivalenzen eingefangen ist. Die erste entfaltet sich innerhalb des wissenschaftlichen Fortschritts: Man produziert ohne jemals an ein Ende zu gelangen. Dieses Gefühl wird jedoch innerhalb des Kapitalkreislaufs, in welchem der wissenschaftliche Fortschritt wiederum zu seiner spezifischen Ordnung gekommen ist, mehr oder weniger durch das Alltagsgeschäft verschluckt. Hier kommt die zweite Ambivalenz hinzu: Man weiß um vorhandene Probleme, kann sogar eine Kritik formulieren, ist jedoch gezwungen, sich innerhalb dieser Ordnung einzurichten. Interessant ist, dass eine Ordnung von Problemen hergestellt wird zwischen jenen, die zum Laboralltag dazu gehören und jenen, die als Störungen empfunden werden. „Störend ist, dass man sich eigentlich um alles kümmern muss als Wissenschaftler. Man muss sich um die Materialbeschaffung kümmern, um die Bestellung einzelner Geräte und Chemikalien. Man muss sich um Geld kümmern, man muss sich um das Publizieren der Ergebnisse kümmern und man muss Anträge schreiben. Also eigentlich muss man alles machen. Und das ist störend. Der größte Teil der Zeit geht dafür drauf, dass man nicht forscht, sondern Geld beschafft und sich darstellt. Das empfinde ich als sehr störend. Dass ein Versuch mal nicht klappt, finde ich gar nicht so schlimm. Aber dass man eigentlich alles machen muss. Und dafür ist man ja auch nicht unbedingt ausgebildet. Ich bin kein Literaturwissenschaftler, der tolle Publikationen verfassen kann. Das wird einem nicht gezeigt oder gesagt ,wie schreibe ich einen Antrag‘. Es gibt manchmal Schulungen, aber trotzdem. Oder worauf muss ich achten, wo gibt es überhaupt die Gelder, die ich beantragen kann. […] Es wächst einem über den Kopf. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es zuviel ist. Man muss in allen Bereichen gut sein. […] Man muss gut schreiben können, man muss gut auswerten können, man muss gut leiten können, man muss sich gut darstellen können. Es werden unheimlich viele Eigenschaften abgefragt, die ein guter Wissenschaftler nicht unbedingt hat. Man schafft es zeitlich nicht, alles abzudecken. Man muss gucken, dass man sich eine Gruppe zusammenstellt, wo man Teile auslagern kann. Deswegen schaffe ich es jetzt gar nicht mehr praktisch zu arbeiten, was ich eigentlich sehr gerne mache, weil ich die Auswertung machen muss, ich muss die Projektanträge schreiben, ich muss die Publikationen schreiben und so weiter“ (Heinz 2006: 14f.).

Im Anschluss an dieses lange Zitat kann die Ordnung der Probleme genauer bestimmt werden: Die eine Sorte von Problemen wird in die eigentliche Arbeit des Labors einbezogen. Die andere Sorte entsteht durch 252

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Praktiken, die als Wissenschaftsmanagement beschrieben werden können. Managen im Gegensatz zum Experimentieren wird als eine Tätigkeit gesehen, die lästig ist. Oder anders formuliert: Kontaminationen durch Natur sind normal, Kontaminationen durch Gesellschaft sind störend. Es bleibt bei dem Beharren auf einer Ordnung, die das reflexive Potential der Labor-Menschen nur in eine Richtung zulässt. Reflexion, verstanden als „die Realisierung der im Denkenkönnen des Menschen liegenden Möglichkeit einer Selbstkritik der Erkenntnis“ (Kamper 1973: 106) macht vor der Natur halt. Die Trennung der Moderne Natur und Gesellschaft, Arbeits- und Erkenntnisteilung, funktioniert. Nachdem also deutlich geworden ist, dass die wissenschaftliche Arbeit kaum mehr an der Bench stattfindet, sondern maßgeblich in der Produktion von Dokumenten besteht, und dass diese innerhalb eines Systems stattfindet, welches nach kapitalistischen Gesetzen der Rentabilität zu funktionieren scheint, gesellt sich ein weiteres Erstaunen über den Alltag in der Forschung hinzu. Meilenweit entfernt von jenem Ideal Webers, dass Wissenschaft des richtigen Einfalls bedürfe, um Wertvolles zu leisten, sehen wir die Möglichkeit hierzu im Angesicht des Wissenschaftsmanagements schwinden (siehe Weber 1991: 245). Als Außenstehender hat man Forschen als praktische Arbeit im Labor vor Augen. Dem Chemieunterricht, in dem manchmal ein Hantieren mit Kolben, Flaschen, Flüssigkeiten und unterschiedlichsten Gerätschaften den Schulalltag belebte, ähnlich, stellte ich mir das Labor vor. Was man jedoch lernt, ist, dass der Laboralltag weit weniger mit der Arbeit an der Bench zu tun hat, als angenommen. Genauer gesagt, existiert eine klare Arbeitsteilung und als Arbeitsgruppenleiterin delegiert man Laborarbeit an billigere Arbeitskräfte. Über Delegationen habe ich schon im Hinblick auf die Arbeitsverteilung zwischen Mensch und Technik gesprochen. Die Delegation zwischen Menschen, wie sie von Heinz angesprochen wird, birgt ebenso wie die zwischen Mensch und Technik diverse Spannungen in sich. Auf der einen Seite sind Doktoranden, Diplomanden und Praktikanten billige Arbeitskräfte, auf der anderen Seite „sinkt das Niveau der Forschung. Viele Geräte gehen kaputt, weil sie nicht richtig bedient werden, viel Geld wird vertan, weil einiges umsonst gemacht wird. Es ist ganz klar, ein Doktorand oder Praktikant hat nicht die Erfahrung“ (Heinz 2006: 23). Erfahrung basiert darauf, Zeit zu haben. Weder eine Maschine, noch ein Doktorand sind in der Lage, jenes Maß an Erfahrung zu sammeln, welches notwendig ist, um das sensible Zusammenspiel innerhalb des forschenden Mäanderns zwischen Menschen und Dingen so auszurichten, dass Neues entstehen kann. Eine Bewegung, „die nicht zielgerichtet ist, aber nichtsdestoweniger alles andere als chaotisch“ (Rheinberger 253

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2002: 200) liegt im Begriff des Kairos. Erfahrenheit des Forschenden ist Bedingung für sein Ergreifen und wird durch die Zeitökonomie des Labors unmöglich gemacht; auch durch das institutionelle Zeitregime beispielsweise durch befristete Verträge. Schafft man es in der Vertragszeit nicht, in der disziplinären Hierarchie aufzusteigen, möglicherweise sogar in den wissenschaftlichen Olymp der Professuren Eingang zu finden, bleibt der „Wechsel irgendwo anders hin“ (Heinz 2006: 22).

Die andere Seite der Medaille Aus dem bisher Gesagten können die Relation zwischen den zwei Kapitalformen Wissen und Geld jetzt besser gefasst werden. Beide sind weder ausschließlich Ursache/Wirkung noch Mittel/Zweck in Bezug auf das jeweils andere. Ihnen gemein ist, dass ein Mehr an Wissen und ein Mehr an Geld erzeugt wird und werden muss. Was jedoch in den Erzählungen des Labors als sinnstiftend erfahren wird, ist nicht Mehr-Geld und auch nicht Mehr-Wissen, sondern Mehr-Leben. Damit komme ich zur zweiten Seite der Medaille: „[…] versuchen herauszufinden, wie man das vermeiden oder möglichst früh erkennen kann. Gene zu finden, irgendwelche Marker zu finden, um sehr sehr früh Frauen helfen zu können, dass sie keinen Tumor bekommen“ (Scherneck 2006: 8). Das Motiv des Helfens durchzieht das Gefüge von Anbeginn an. Mich interessiert, wie Aussagen „Ich/wir wollen mit unserer Forschung dazu beitragen, Frauen zu helfen“ zu verstehen sind. Man wird anmerken können, dass solch eine Aussage nicht weiter verwunderlich ist, da die Forschung an einer Krankheit unternommen würde und insofern diese im Labor tagtäglich präsent sei. Das stimmt; Krankheit ist im Labor anwesend. Nicht im Sinne der Erkrankung eines Menschen, sondern wie wir es bereits gesehen haben als Modell (Familiärer Brustkrebs als Modell) oder als Körperstoff: „Wenn man den Tumor bekommt, darf man nicht den Patienten dahinter sehen, ansonsten würde man sich zu viele Gedanken machen“ (Heinz 2006: 4). Gleichzeitig ist der Mensch hinter dem Material sehr wohl präsent: „Wenn man eine Familie hat, wo viele von Mammakarzinomen betroffen sind, ist das für die Familie ganz schrecklich. Ich freue mich natürlich, wenn ich so eine Familie analysieren kann, weil die Wahrscheinlichkeit, in so einer Familie etwas zu finden, viel höher ist als in einer einzelnen Probe. Aber es ist sehr schwer solche Familien zu finden“ (Heinz 2006: 11).

Die Freude an etwas Gewinnversprechendem forschen zu können, Neues zu entdecken, wird von dem damit verbundenen Schicksal der Menschen getrennt. Auf der einen Seite ist das Material neutral, gleichzeitig 254

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wird es mit dem Schicksal eines Menschen/einer Familie verbunden: „Für uns ist er mehr oder weniger nur Träger eines Tumor oder Mitglied einer Familie, die wir sammeln. […] Klar macht man sich Gedanken. Wenn man sich die Familie anschaut, dann denkt man ,Mein Gott, was da passiert‘, das ist klar“ (Scherneck 2006: 8). In der Arbeit wird auf der einen Seite vom Menschen abgesehen, gleichzeitig scheint er anwesend zu sein. Allerdings in gedoppelter Form: Auf der einen Seite in der Verbindung zum Material, auf der anderen Seite als Zielscheibe des Fortschritts. In diese Ambivalenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit wird eine Zukunft installiert. Leben im Labor ist neutral und krank. Leben in der Zukunft soll gesund sein. Gesundheit ist ein machtvoller Begriff und gegen ihn kann man schlecht argumentieren, denn es gilt heutzutage wirkungsmächtig „Wer heilt hat recht“ (Beck-Gernsheim 1997). Ich habe den Eindruck, dass man die im Labor zu beobachtende Bewegung am besten im Bild des inneren Ausschlusses des kranken Lebens aus dem Forschungsgegenstand – das Material ist nicht der Mensch – fassen kann. Das kranke Leben will man nicht und dennoch ist es Arbeitsgrundlage. Die Forschung besitzt wohl keinen Kairos mehr, Erfahrenheit wurde vom Management kassiert, aber sie besitzt ein Ziel. Es gilt zu beachten: Dieses Ziel ist nicht das im Kairos sich befindende mit dem Möglichen ausgestattete Ziel, sondern, wie bei einer Zielscheibe, das Schwarze in der Mitte. Die Frage des Erreichens oder des Treffens wird nicht mit und in einer Gegenwart, sondern mit und in einer vorgestellten Zukunft beantwortet. Früher oder später wird die Wissenschaft ins Schwarze führen, der Glaube an den Fortschritt lässt daran keinen Zweifel aufkommen. Dabei stößt man allerdings auf eine Merkwürdigkeit: Wie kann man an ein Ende kommen, wenn die Bewegung der Wissenschaft doch ins Unendliche geht? Die Antwort lautet: Man kommt an kein Ende. Das Leben ist ein offenes Projekt und genau darin liegt seine Attraktivität. Im bisherigen Verlauf der Studie konnte gezeigt werden, dass Forschung mit einer in die Zukunft projizierten Zeitlichkeit, einem Versprechen des Fortschritts, ausgestattet ist: Ein Mehr an Wissen wird zu einem Mehr an Leben führen. Doch was ist mit diesem Leben gemeint? Das Mehr an Leben bezieht sich erstens auf ein gesundes Leben (Verhinderung von Krankheit oder Früherkennung und dadurch bessere Heilungschancen) und zweitens auf ein längeres Leben (Verhinderung des frühzeitigen Todes durch Krankheit). Von wem? Der Wille zu helfen, wird auf ein Leben bezogen, welches abstrakt und offen bleibt. Der Mehrwert Leben kann somit vieles sein und werden, beispielsweise auch jene Körperstof-

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fe und Körperdaten, die im Laufe der Zeit im Verbundprojekt erzeugt werden. Das Paradox ist, dass die im Labor vorgestellte Erkrankung mit der in die Zukunft projizierten Krankheit nicht mehr identisch ist. Genauer gesagt, ist es das erklärte Ziel, die Krankheit erst gar nicht mehr zu ihrer Manifestation kommen zu lassen. Der Gehalt dieses Versprechens ist im Zusammenhang mit den Entwicklungen der Gen- und Reproduktionstechnologien mit enormer Kritik bedacht worden. Fehlgeschlagene Versuche, zumindest diejenigen, die an das Licht der Öffentlichkeit gelangen, werden nicht selten als Beweis für die Unmöglichkeit (sowohl technisch als auch ethisch) gen- oder reproduktionstechnologischer Praktiken angeführt beziehungsweise fast schon ins Lächerliche gezogen – als „Monstren wie arthritische Schweine, Krebsmäuse oder nicht faulende Tomaten“ (Kollek 1996: 148) kommentiert. Helfen heißt Krankheit verhindern. Dies wiederum heißt, die Möglichkeit zu besitzen, Wahrscheinlichkeiten zu erkennen. Und das schließlich bedeutet, das Einfassen des Lebens in ein medizinisches System der Kontrolle. Wer will nicht gesund sein? Das Problem scheint zu sein, dass Gesundheit und Krankheit in der prädiktiven Medizin nicht mehr als Ordnung passt, um menschliche Zustände und ihre Einfassung in medizinische Kontrollpraktiken zu beschreiben. Und doch finden die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der molekulargenetischen Testung und der intensivierten Früherkennung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs genau in dieser Ordnung statt. Es ist an der Zeit, die Tumorgenetik zu verlassen. Der Einblick in die drei Räume – Labor, Maschinenraum und Denkzelle – ließ die mannigfaltigen Bewegungen und Verbindungen zu Tage treten, die sich um das Werden des Brustkrebs-Gens in seiner Vielheit in Forschung und Gendiagnostik gruppieren. Technische Vermittlungen zwischen Mensch und Pipette, das Brustkrebs-Gen in seiner Vielheit zwischen Blutprobe, DNA, Exons und Patient, lokale Praktiken zwischen Standard und Störung, Etablierungspraktiken einer neuen Maschine und die Effekte von streikenden Geräten, Lese- und Schreibarbeiten in der Befundproduktion und Forschung zwischen Multifunktionalität und Management habe ich beschrieben. In den Bewegungen und Verbindungen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren/Aktanten wird das Brustkrebs-Gen hervorgebracht. Gleichzeitig lässt das Werden des Brustkrebs-Gens diese mannigfaltigen Bewegungen und Relationen in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik möglich werden; so ist es weder Ursache noch Wirkung. Es ist mittendrin ohne die Mitte zu sein. Den Alltag teilnehmend zu studieren, ermöglichte es die vermeintlich glatte Oberfläche von Routinen, 256

IM ALLTAG DER TUMORGENETIK

Standards und Klassifikationen zu falten und die Kompliziertheit von Laborwirklichkeit zu entfalten. Doch wo kommt das Brustkrebs-Gen her und wo geht es hin, wenn es die Räume der Tumorgenetik in Form von Blut oder DNA und Stammbäumen betritt und sie in Form von Befundbriefen verlässt? Diese Passage wird im Folgenden aufgenommen.

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8. K O M M E N , G E H E N , B L E I B E N – Z W I S C H E N H U M AN G E N E T I S C H E R B E R AT U N G U N D G Y N ÄK O L O G I S C H E R F R Ü H E R K E N N U N G

Wenn man den Bewegungen des Brustkrebs-Gens im Jahr 2006 über die Schwelle der Tumorgenetik folgt, findet man sich in der humangenetischen und gynäkologischen Beratung für Familiären Brust- und Eierstockkrebs wieder. Kein Gentest, kein Testergebnis ohne Beratung. Wie aber ist das Gen in die jeweiligen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken dieser Loci eingebunden? Was passiert, in welcher Beziehung stehen Humangenetik und Gynäkologie zueinander – was meint Beratung überhaupt? Diese Fragen werden im Folgenden zu behandeln sein.

Ein Doppel im Werden Die Doppelstruktur ist ein vorgegebener Bestandteil der Zentrumspraktiken innerhalb des Verbundes und im Vertrag mit den Krankenversicherungen in §3 festgehalten. Allerdings ist nicht definiert, in welcher Reihenfolge das Prozedere vonstattengehen muss, ob zuerst die humangenetische Beratung oder die Gynäkologin aufgesucht werden soll. In den Anlagen zum Vertrag mit den Krankenversicherungen ist sogar die Rede von einem interdisziplinären Beratungsgespräch, wobei obligate Gesprächsinhalte der gynäkologischen Beratung und der humangenetischen Beratung getrennt voneinander aufgelistet werden. Tatsächlich hat es vor einigen Jahren im Berliner Zentrum eine Beratung im Team durch Humangenetiker, Kliniker und Psychologen gegeben, erzählte mir im Jahr 2006 Christel Grau, eine damalige Gynäkologin im Zentrum. Aus ihrer Sicht wäre dies jedoch nicht sehr glücklich verlaufen. Drei Disziplinen mit drei jeweils anders gelagerten Perspektiven hätten am Stück 259

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Brustkrebs-Genwissen ausgebreitet und damit eher eine Überfüllung und Überforderung auf Seiten der Ratsuchenden hervorgerufen. Warum die Beratung irgendwann nicht mehr im Team erfolgte, hätte vor allem aber an der interdisziplinären Unmöglichkeit einer zeitlichen Koordination gelegen: „Das ist von der zeitlichen Belastung nicht mehr zu schaffen, weil die Sprechstunde zu lange dauern würde“ (Grau 2006: 33). Während meines Besuchs der Humangenetik im Winter 2006 hatte sich die gedoppelte Beratung bereits in zwei Einzelberatungen getrennt. Mehrheitlich schien es mir so zu sein, dass die Ratsuchenden zuerst in die humangenetische und anschließend in die gynäkologische Beratung gingen. Mirjam Spiegel, eine Ärztin, die die humangenetische Beratung durchführte, fuhr einmal in der Woche an das interdisziplinäre Brustzentrum nach Berlin-Mitte, damit den Ratsuchenden die Möglichkeit gegeben werden konnte, beide Erstberatungen an einem Tag nacheinander zu erhalten. Eine Wendung muss innerhalb weniger Monate erfolgt sein, da mir bereits im Februar 2007 Dorothee Speiser, die die Nachfolge von Christel Grau Anfang 2007 angetreten hatte, erzählte, dass sie in der Regel die Ratsuchenden zuerst sprechen würde. Als ich im Sommer 2007 ein Interview mit dem Nachfolger von Mirjam Spiegel in der Humangenetik führte, berichtete dieser mir ebenfalls, dass zuerst die gynäkologische Beratung stattfände: „Die Gynäkologen machen das erste Gespräch. Bei uns geht es darum, dass Risiko in Zahlen zu fassen mit statistischen Computerprogrammen, oder wenn es sich die Ratsuchenden wünschen, mit einer molekulargenetischen Testung zu klären, ob Veränderungen in den untersuchten Genen identifizierbar sind“ (Müller 2007: 1). Noch interessanter für mich war, dass mir nun berichtet wurde, es läge zwischen den beiden Beratungen ein Zeitraum von vier Wochen. Im November 2007 teilte mir Marc Müller aus der Humangenetik auf meine Nachfrage, wie sich die Beratungsstruktur entwickelt hat, mit, dass man sich innerhalb des Berliner Zentrums für Familiären Brustkrebs dazu entschlossen habe, bei der zweizeitigen Beratung zu bleiben. Als Grund führte er an, dass man die Erfahrung gemacht habe, dass die Ratsuchenden in der gynäkologischen Erstberatung für die Bedeutung einer möglichst genauen Familienanamnese sensibilisiert würden, sie in der Zeit zwischen den beiden Beratungen weitere Familieninformationen einholen würden und durch die angestoßene Kontaktaufnahme zu weiteren Familienmitgliedern diese dann zur humangenetischen Beratung mitkämen, sodass die Familie als Einheit beraten werden und moderierend auf möglicherweise auftretende Konflikte innerhalb der Familie eingegangen werden könne. Eine zeitnahe Beratung käme nur dann in Betracht, wenn die Ratsuchenden/Familien einen weiten Anreiseweg hätten (Müller in einer E-Mail vom 08.11.07). War in der vorangegan260

KOMMEN, GEHEN, BLEIBEN – ZWISCHEN BERATUNG UND FRÜHERKENNUNG

genen Passage einiges über die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Technik zu erfahren, so erfahren wir hier etwas über die Arbeitsteilung zwischen Disziplinen. Da Arbeitsteilung, wie deutlich gezeigt werden konnte, eine Frage von Verdrängung und somit eine Machtfrage ist, lautet eine in dieser Passage zu stellende Frage, was über die Beziehung zwischen der Humangenetik und der Gynäkologie in Anbetracht von Verteilung/Verdrängung/Macht gesagt werden kann. Einen anderen Entwicklungsstrang der Beratungsstruktur betrifft die Einbeziehung der Psychologie. In den Anfängen des Verbundprojektes, zu Zeiten der Förderung durch die Deutschen Krebshilfe, war auch die Psychoonkologie in die Beratungsstruktur obligatorisch eingefasst. Mittlerweile nicht mehr obligatorisch, wird die psychoonkologische Beratung weiterhin angeboten. Zu jeder Erstberatung wird eine sogenannte psychoonkologische Checkliste (PriF) ausgeteilt, welche mittels einer Risikocheckliste (PriCh) im interdisziplinären Brustzentrum auszuwerten ist. Bei auffälligem Ergebnis soll ein psychoonkologisches Beratungsgespräch für die Ratsuchende veranlasst werden. Die Beratungsstruktur entwickelt sich. Die Frage ist: Wohin? Wenn auch in einer Doppelstruktur vereint, gibt es einen zentralen Unterschied zwischen Humangenetik und Gynäkologie: Während die Menschen die humangenetische Beratung in der Regel nur zwei Mal passieren, vor der genetischen Testung und danach, wird die gynäkologische Sprechstunde zu einem langjährigen Projekt der Früherkennung. Man betrachtet hier zwei verschiedenen Disziplinen und doch wird klar: Eine Analyse beider muss relational verfolgt werden.

8.1 Humangenetik Ich hatte im Januar 2006 die Möglichkeit, die Humangenetik zu besuchen. Es ist meine zweite Station nach dem Laboraufenthalt in BerlinBuch. Die humangenetische Beratung findet zum einen im Interdisziplinären Brustzentrum am Campus Charité-Mitte (www.brustzentrumcharite.de) und zum anderen im Institut für Medizinische Genetik am Charité Campus Virchow-Klinikum (www.charite.de/humangenetik2/) statt. Das Brustzentrum in Berlin-Mitte befindet sich auf der dritten Etage eines Klinik-Altbaus. Das Institut für Medizinische Genetik ist ein Flachbau auf dem weitläufigen Klinikgelände am Augustenburger Platz in Berlin. Die Ärztin Spiegel war von 2005 bis 2006 für die Beratung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs im Rahmen des Zentrums für Familiären Brustkrebs zuständig. Sie wurde 2007 von einem Kollegen, dem Arzt Müller, abgelöst. Wie schon im Labor wurde ich auch in der 261

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Humangenetik freundlich begrüßt und hatte die Gelegenheit, den Alltag zu begleiten und an Beratungen teilzunehmen, sofern die Ratsuchenden sich damit einverstanden erklärten. Was passiert im humangenetischen Alltag? „Am Anfang steht immer die Beratung. Alles was folgt, sind die Konsequenzen der Beratung. Sprich, zu jeder Beratung gehört immer ein Beratungsbrief, den die Patienten schriftlich nach Hause bekommen. Wenn die Beratung eine molekulargenetische Testung nach sich zieht, bekomme ich irgendwann Befunde von den Molekulargenetikern, die ich den Patienten wieder in einem Beratungsgespräch nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik erläutern muss. Und auch dann bin ich verpflichtet, dieses den Patienten wieder in schriftlicher Form zusammenzufassen“ (Spiegel 2006: 1).

Damit allerdings das Beratungsgespräch zustande kommt, müssen erste Hürden genommen werden, denn…

…nicht alle Wege führen zur Beratung Damit es überhaupt zu einer Erstberatung kommen kann, muss im Vorfeld bereits eine Abklärung der Einschlusskriterien erfolgt sein. Dies geschieht im interdisziplinären Brustzentrum in einem initialen Telefonat. Die ratsuchende Person meldet sich telefonisch und wird von der dortigen Dokumentationskraft/Arzthelferin/Krankenschwester nach familiären Brust- und Eierstockkrebserkrankungen in ihrer Familie befragt. Die Fokussierung auf Familieninformationen – und gemeint ist ausschließlich biologisches und nicht soziales Familienwissen – zeigt deutlich die Engführung des Verbundprojektes auf eine genetisch definierte Personengruppe. Sprich, noch bevor es überhaupt zu einer humangenetischen Beratungssituation kommt, wird das Familienwissen des Anrufenden umgewandelt in ein klassifizierendes Wissen über spezifische Familienkonstellationen; Ein- oder Ausschluss? Für die Humangenetikerin ist das Telefoninterview ein kritischer Punkt, da mit diesem steht oder fällt, ob die anrufende Person eine Beratung angeboten bekommt oder nicht. Hier gälte es deshalb, eine genaue Dokumentation des Telefonats durchzuführen (Spiegel 2006: 46f.). Ein großes Problem der Beratung sei, dass die Ratsuchenden oftmals nicht hinreichend Informationen mitbrächten: „Im Vorfeld der Beratung ist klar, dass sich die Ratsuchenden über ihre Verwandten informieren sollen. Es müsste dann in fünf bis zehn Minuten möglich sein, einen Stammbaum zu machen. Das ist aber ganz oft nicht der Fall“ (Spiegel 2006: 44). Auf der einen Seite wird die Eigenverantwortlichkeit der Ratsuchenden und auf der anderen Seite die Einbestellungspraxis zur Bera262

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tung von der Ärztin problematisiert. Von klinischer Seite müsse im Telefongespräch klar gesagt werden, was für Leistungen von Seiten der Ratsuchenden vorab nötig sind. In anderen Zentren sei es der Fall, dass Ratsuchende erst Informationen erbringen müssten und dann eingeladen würden. Manche, so Spiegels Eindruck aus dem Beratungsalltag an der Charité, würden es sich zu einfach machen. Aber wer die Leistungen in Anspruch nehmen wolle, müsse hierzu etwas leisten und sich beispielsweise über den Stammbaum genau informieren oder eventuell Befunde der Angehörigen besorgen. Sie gibt allerdings auch zu bedenken, dass nicht jeder Mensch gleichermaßen in der Lage sei, gewünschte Informationen zu bekommen und die Aufgabe eine Überforderung sein könne. Zum Zeitpunkt meiner teilnehmenden Beobachtung und des Interviews im Frühjahr 2006 ist das Einbestellsystem mitten im Werden. Eine „Checkliste für die Anmeldung einer Patientin zur Sprechstunde Familiäres Mamma-Karzinom“ soll helfen, den Gesprächsablauf und das nachfolgende Prozedere zu standardisieren. Sind die Einschlusskriterien positiv, würde Mirjam Spiegel gerne einen weiteren Zwischenschritt vor dem Gespräch etablieren. Es sollte den Ratsuchenden Informationsmaterial zum erblichen Brust- und Eierstockkrebs zugesandt und schriftlich Informationen über den Familienstammbaum und eventuell Krankenberichte vorab eingeholt werden. Hierzu, so wird mir in einem Gespräch im Frühjahr 2006 berichtet, habe man ein Anschreiben und einen Fragebogen zur Familie entwickelt, um das Einbestellsystem zu optimieren. Ein solches Vorgehen wird im Übrigen auch in den Anlage zum Vertrag als normales Prozedere des Zugangs zur Betreuung im Zentrum angegeben. Sind die ersten Informationsgewinnungsmaßnahmen erfolgreich verlaufen, also die Einschlusskriterien erfüllt, kann zu einem Gespräch eingeladen werden.

8.1.1 Die Erstberatung: Eine Informationsbörse Im Beratungszimmer der Humangenetik sitzen die Ärztin/der Arzt mit dem Ratsuchenden und eventuell anderen Familienangehörigen an einem Tisch. Im Gegensatz zum kahl und unfreundlich wirkenden Flur, der gleichzeitig als Wartezimmer fungiert, ist das Beratungszimmer direkt ein angenehmer Ort. Hier finden Beratungen bezüglich verschiedener genetischer Krankheiten statt; nicht nur zu Familiärem Brustund/oder Eierstockkrebs. In Berlin-Mitte bekommt man einen ganz ähnlichen Eindruck der dortigen Räumlichkeiten. Der Wartebereich wirkt trostlos. Eine Sitzreihe auf einem Flur vor verschlossenen Untersuchungsräumen/Sprechzimmern. Auch hier gibt es kein separates Warte263

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zimmer. Verschiedene Broschüren und Angebote der Klinik für Frauen mit Brustkrebs liegen aus. In einem der Räume wird einmal pro Woche die humangenetische Erstberatung angeboten. Weitere Beratungen an anderen Tagen finden im Institut für Medizinische Genetik statt.

Wer wird beraten? Es ist in der Beratungsstruktur vorgesehen, dass nicht nur einzelne Personen beraten, sondern weitere Familienangehörige hinzugezogen werden sollen, weil das humangenetische Wissen eine Bedeutung für andere Familienmitglieder und nicht nur für die Ratsuchenden hat. Dies betrifft zum einen die Frage, welches Familienmitglied im Falle einer Testung zuerst getestet werden könne (Index). Gibt es jemanden, der/die erkrankt war/ist? Hat man Kontakt, würde er/sie sich testen lassen? Zum anderen betrifft es die Frage nach den Konsequenzen der prädiktiven Testung für gesunde Familienangehörige. Daneben gibt es jedoch auch noch einen ganz praktischen Grund: „Schon alleine, dass wir uns die Arbeit ersparen und Dinge nicht zweimal erklären müssen“ (Spiegel 2006: 29). Allerdings, so die Humangenetikerin, kämen in der Regel doch die Ratsuchenden zunächst alleine. Der Nachfolger von Spiegel scheint allerdings eine andere Erfahrung zu machen. Wenn die Ratsuchenden zuerst bei der Gynäkologin gewesen seinen, hätten sie bereits erfahren, dass für eine Testung in der Regel eine Indexperson nötig sei: „Deshalb kommen bei uns dann häufig auch die Indexpatienten direkt mit, das sind häufig zwei oder drei Personen, die sich gleichzeitig vorstellen“ (Müller 2007: 2). Von der Reihenfolge kann also abhängen, wer letztlich in die humangenetische Beratung kommt. Mir liegen leider keine Informationen darüber vor, in welchem Verhältnis Ratsuchende und Indexpersonen eine Erstberatung aufsuchen. Aber in beiden Interviews gewinne ich den Eindruck, dass meistens gesunde Frauen (je nachdem auch mit weiteren Familienangehörigen) die Erstberatung aufsuchen würden. Erkrankte (beziehungsweise Gesunde, die in der Vergangenheit erkrankt waren), so Müller, kämen eher mit der Sorge, etwas an ihre Töchter weitergegeben zu haben und/oder der Motivation, weiblichen Angehörigen helfen zu können. Helfen bedeutet dann, sich testen zu lassen und im Falle einer vorhandenen Mutation weiteren Angehörigen die Möglichkeit zu eröffnen, sich ebenfalls testen zu lassen. In der Humangenetik wird darauf Wert gelegt, dass es sich bei den Beratenen nicht um Patientinnen und Patienten, sondern um Ratsuchende handelt, „weil die Ratsuchenden eben keine Patienten für uns in dem Sinne sind, dass wir sie behandeln oder therapieren, sondern primär sind es erst einmal nur Ratsuchende, die eine Information wollen“ (Müller 264

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2007: 2). Ebenso wie im Labor ist man sich auf der einen Seite bewusst, dass die Bezeichnungspraxis „Patientin“ beziehungsweise „Patient“ nicht richtig ist. Gleichzeitig rutscht sie immer wieder in den Alltag. Die Begriffe wirbeln durcheinander: Ratsuchende, Patienten, Ratsuchende… Man kann daran sehen, wie kompliziert es ist, mit etwas Neuem im Alten umzugehen. Der Mensch in der Klinik ist Patient. Nur hat sich seine Erkrankung in der prädiktiven Medizin verflüchtigt. Die prädiktive Medizin besitzt zwar bereits neue Begriffe für den Menschen: Er ist ratsuchend und/oder Index. Gleichzeitig ist und bleibt er (noch) Patientin und Patient. Etwas anders verhält es sich mit der Bezeichnung Indexpatient, da es sich um eine erkrankte Person handelt; doch auch dabei verschwimmt die Sprachwahl, da man diesen Menschen in der Beratung nicht behandelt und von ihm ausgehend in der Regel gesunde Familienmitglieder als potentielle Nutzer der Testung und der Früherkennung im Auge hat (Spiegel 2006: 4). Dem ist hinzuzufügen, dass Indexpatientinnen schon längst nicht mehr erkrankt sein müssen. Sie können die Brustkrebserkrankung schon vor Jahren überwunden haben; in der Identifikationslogik der Brustkrebs-Gen-Praktiken bleiben sie oder werden sie wieder zu Patientinnen.

Gesprächskünste „Die allermeisten kommen hier hin und gehen davon aus, dass sie hier sind, um ihr Brustkrebs-Gen suchen zu lassen“ (Müller 2007: 11). Zwei Dinge passieren im Zentrum des ersten Gesprächs. Zum einen werden Informationen über Familiären Brustkrebs, die Vererbung des Familiären Brustkrebses und die molekulargenetische Diagnostik bei Familiärem Brustkrebs gegeben. Zum anderen wird der Stammbaum erstellt. Es findet ein Tausch statt. Informationen werden gegeben, Informationen werden erhalten. Beide Seiten sind sowohl Sender als auch Empfänger mit einem entscheidenden Unterschied: Die Ratsuchenden kommen mit einem bestimmten Familienwissen, welches im Gespräch im Hinblick auf relevantes Vererbungswissen gefiltert wird. Ich will sagen: Beide Wissensansammlungen stehen sich nicht gleichberechtigt gegenüber. Das Gespräch oder die „Gesprächskunst“ (Spiegel 2006: 3) dient aus der Perspektive der Beratenden dazu, die Ratsuchenden aufzuklären. Es wird innerhalb der Humangenetik als ein wesentliches Prinzip erachtet, dass der wechselseitige Informationsaustausch ein Prozess ist, welcher sich am Kenntnisstand der Ratsuchenden zu orientieren habe. Informationen seien nicht abzuspulen, sondern mit den Ratsuchenden entlang ihrer Bedürfnisse und Fragen gemeinsam zu erarbeiten (Gerhardus et al. 2004: 40).

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Gene zwischen Wissen und Wissenschaften Zum einen gilt es darzulegen, was es mit der genetischen Ausstattung des Menschen, der Vererbung (was ist ein autosomal-dominanter Erbgang) und dem Familiären Brust- und Eierstockkrebs auf sich hat. Immer wieder, so Spiegel, komme es vor, dass die Menschen nach der Erklärung ansetzen würden mit „Wenn ich dieses Gen habe…“ Dann müsse sie intervenieren und erläutern, dass alle Menschen Brustkrebs-Gene besäßen. Was man lediglich haben könne oder nicht seien pathogene Mutationen auf den Genen. Sie führt dieses Missverständnis auf die Komplexität der Thematik zurück. Dabei sind Begriffsverschwimmungen keineswegs ein Alltagsphänomen außerhalb der Klinik und jenseits des wissenschaftlichen Wissens über Vererbung. Ich habe es nicht nur einmal erlebt, dass die Rede von der Wahrscheinlichkeit ein Gen geerbt zu haben war oder dass Gene für die Krankheit verantwortlich seien. Von sozialwissenschaftlichen Artikeln (siehe beispielsweise Lemke 2004a) über zitierte medizinische Studien (siehe Richards 1993) bis hin zur Gebrauchsanweisung von BRCAPRO, eines Risikoberechnungsprogramms, im Cyrillic 3-Handbuch: Überall hat frau die Gene BRCA1 und BRCA2 oder eben nicht. Hier existieren zwei Aussagen gleichzeitig. Die erste Aussage lautet: Kranke Gene werden vererbt. Die zweite Aussage lautet: Nicht kranke Gene, sondern pathogene Mutationen werden vererbt. Die erste Aussage wird mittels der zweiten Aussage wissenschaftlich disqualifiziert und dennoch ist die erste Aussage Teil der Redeweisen innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Wie kann das sein? Beide Aussagen befinden „im Wahren“ einer bestimmten diskursiven Ordnung, wie Foucault es in der Ordnung des Diskurses für die Biologie des 19. Jahrhunderts beschreibt. Sätze können nach den Regeln der Disziplin als wahr oder falsch bezeichnet werden. In der genetischen Wissensordnung heißt das: Kranke Gene sind falsch. Mutationen sind wahr. Damit jedoch dieses Ordnen in falsche oder wahre Sätze funktionieren kann, müssen beide Aussagen überhaupt erst sagbar sein. Sie bilden meines Erachtens ein Scharnier zwischen Wissen und Wissenschaft. Wissen und Wissenschaft können nicht im Gegensatz zueinander begriffen werden, sondern ausschließlich in ihrem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis. Es stellt sich die Frage, welche Beziehung zwischen kranken Genen und dem wissenschaftlichen Gen existiert. Brustkrebs-Gen – ist der Name Programm einer anthropologischen Struktur, in welcher die „Medizin ihren bestimmenden Platz in der Gesamtarchitektur der Humanwissenschaften“ (Foucault 1999b: 208) eingenommen hat? Im Namen klingt die moderne Medizin an, welche dem Menschen „das hartnäckige und beruhigende Gesicht seiner Endlichkeit vor[hält]; in ihr wird der Tod ständig 266

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beschworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne Unterlass das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, positive und volle Form seiner Endlichkeit ist“ (Foucault 1999b: 208). Brustkrebs-Gen und Mutation schieben sich ineinander, überlagern sich und existieren in der Verkettung von Krankheit und Gesundheit, Leben und Tod. In einer Epoche, in der die Medizin alles daran setzt „leben zu machen“ (Foucault 1993: 28), lassen Brustkrebs-Gene erahnen, dass das Leben selbst zu einer ambivalenten Angelegenheit geworden ist. Brustkrebs-Gene zu haben macht keine Erkrankung, Mutationen zu haben auch nicht. Aber Brustkrebs-Gene schreiben eine pathogene Signatur ins Leben, zu der es keine Alternative gibt. Wo das Gesunde seinen Weg über das Kranke nimmt, bleibt es unweigerlich haften. Folgende Äußerung stellt in diesem Sinne keinen Zufall dar: „Wenn ich selber betroffen wäre, würde ich wahrscheinlich das Vorhandensein einer Mutation in einem der beiden Gene für Familiären Brustkrebs wie eine Krankheit werten, auch wenn ich selber nicht krank wäre. Ich denke, es würde mein Leben entscheidend beeinflussen was die Familienplanung anginge, was vielleicht auch die Berufswahl anginge, was die Konsequenzen prophylaktischer Operationen anginge – ich würde mich wahrscheinlich als Mutationsträger krank fühlen“ (Spiegel 2006: 10).

Körperliche Wahrnehmung trifft auf ein zunächst abstraktes Verhältnis zwischen der eigenen Wahrnehmung körperlicher Befindlichkeiten und dem wissenschaftlichen Wissen um eine Mutation. Schließlich kann das Abstrakte in die körperliche Wahrnehmung inkorporiert, es kann sogar gefühlt werden. Mir scheint, dass eine Bedingung der Möglichkeit für diesen Einschluss ist, dass das neue Wissen um die eigene molekulare Befindlichkeit mit Strängen des eigenen Lebens verbunden werden kann: Familienplanung, Berufswahl, medizinische Eingriffe. Man könnte auch sagen, dass der Mensch Beziehungsarbeit mit seinen Genen leisten muss.

Gene zwischen Mutationen und Zahlen Zum anderen bedeutet Aufklärung häufig auch, persönliches Risikogefühl mit statistischer Risikozahl zu konfrontieren und zu vermitteln, „dass häufig das reale Risiko doch zumindest geringer ist als das gefühlte Risiko“ (Müller 2007: 5). Es ist nicht nur eine Beratungs-Erfahrung, dass das individuelle Risiko von den Beratenen generell höher eingeschätzt wird und „viel gewonnen ist, wenn man die Leute auf das normale Maß zurückholt“ (Spiegel 2006: 32). Zu diesem Ergebnis kommen 267

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auch andere Autoren (vgl. Richards 1993, Mehnert et al. 2001). Besonders interessant ist, dass Mehnert et al. in einer Untersuchung herausfanden, dass die subjektive Risikowahrnehmung von Frauen mit und ohne Indikationskriterien für Familiären Brust- und Eierstockkrebs sich nicht groß unterschied. In beiden Gruppen lag das eingeschätzte Risiko im Durchschnitt über dem jeweiligen statistischen Risiko. Wahrscheinlichkeiten scheinen in der Beratung ein schwer zu vermittelndes Thema zu sein. Es trifft sich die persönliche Wahrscheinlichkeitsvorstellung eines Menschen mit der statistischen Wahrscheinlichkeit der Wissenschaft. Selbst dort, wo Spiegel oftmals dachte, dass ihre Erklärungen verstanden worden wären, musste sie manchmal feststellen, dass ein Vermitteln nicht gelungen war. Kann eine Übersetzung des gefühlten Risikos in einen Zahlenwert gelingen? Kann man den Unterschied zwischen 60 Prozent und 45 Prozent fühlen? Aber es ist nicht nur eine schwierige Vermittlungsarbeit, sondern auch eine als problematisch erlebte Generierungsarbeit der Wahrscheinlichkeiten, da die von den Ratsuchenden/Familien erhobenen Daten nicht mit absoluter Sicherheit stimmen müssen. Eine Ratsuchende kann sich beispielsweise bei der Angabe einer Jahreszahl der Brustkrebserkrankung einer Familienangehörigen um fünf Jahre vertun und schon rutscht das errechnete Risiko von 30 Prozent auf 29 Prozent ab. Die Vagheit der Zahl sei es deshalb auch, die eine molekulargenetische Untersuchung attraktiv mache: „Natürlich gibt es die Berechnung des Risikos. Aber prinzipiell ist es so, dass die meisten hier sind, weil sie Gewissheit bezüglich einer möglichen Genveränderung haben wollen. Denn viele sagen ‚Dass ich ein hohes Risiko habe, weiß ich selber‘“ (Müller 2007: 11). Wie wir allerdings wissen, wird oftmals keine Mutation gefunden und mehrheitlich muss das weitere Vorgehen von den errechneten Wahrscheinlichkeiten abhängig gemacht werden. Obwohl in dem Gespräch vermittelt wird, dass keineswegs davon auszugehen ist, dass immer eine Mutation gefunden werden kann, seien viele erstaunt, dass man in der molekulargenetischen Testung so wenig findet: „Die haben sich vorgestellt, ein Test heißt entweder ja oder nein“ (Spiegel 2006: 37). Der Test bringt häufig keine Sicherheit, wobei man hinzufügen muss, dass selbst eine Mutation noch nicht bedeutet, dass es mit einer 100-prozentigen Wahrscheinlichkeit zur Erkrankung kommen muss. Die Mischung aus Zahl und anwesendem/abwesendem Gen/ Mutation ist das Entscheidende: Man will wissen, ob man eine Mutation hat oder nicht; nachdem man aufgeklärt wurde, dass die Frage nicht lautet, ob man das Gen habe. Findet man keine Mutation, dann hat man das Gen auf jeden Fall und zusätzlich hat man die errechneten Heterozygoten-

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und Erkrankungswahrscheinlichkeiten mit dem wissenschaftlichen Zusatz-Wissen, dass es noch weitere verantwortliche Gene geben müsse. Der entscheidende Unterschied zwischen der gefühlten Zahl und der berechneten Zahl ist, dass nur die berechnete Zahl die Möglichkeit eines Zugangs zu weiteren intensivierten Früherkennungsmaßnahmen eröffnet. Und insofern scheint die Annahme Richards, „that a major motivation for joining the register or coming to a cancer genetic clinic is to get a screening rather than establishing genetic risk“ (Richards 1993: 573), naheliegend zu sein. Die eigene Arbeit wird dann als Erfolg gesehen, wenn „die Ratsuchenden mit weniger Fragen“ und „deutlich entspannter rausgehen als sie reingekommen sind“, wenn sie „ihre Entscheidung fundiert treffen können und so treffen können, dass sie auch in Zukunft mit Ihrer Entscheidung zufrieden sind“ (Müller 2007: 17f.). Welche Entscheidung? Im Gespräch wird vornehmlich die Möglichkeit und die Bedeutung der genetischen Testung erörtert (wer kann getestet werden und was kann die Testung bringen). Müller unterstreicht, dass es nicht darum ginge, die Personen zur Testung zu motivieren. Die Möglichkeit zur Testung wird klar von der gynäkologischen Möglichkeit der Früherkennung getrennt. So sei es den Beratenden ein wesentliches Anliegen, die Testung nicht einzufordern beziehungsweise als Notwendigkeit darlegen: „Es geht uns nicht darum, dass wir auf Teufel komm raus alles testen wollen. Wir bieten es an, wenn Interesse besteht. Aber die Testung ist nicht das einzige, worum es hier geht. Sie ist, wie gesagt, ein Mittel zur Risikokonkretisierung“ (Müller 2007: 12). Alle Aspekte, die den klinischen Bereich betreffen, werden in das gynäkologische Gespräch verwiesen. Waren die Ratsuchenden zuerst bei der Gynäkologin, dann wurden sie dort bereits informiert, „was Brustkrebs aus gynäkologischer Sicht für Konsequenzen hat und was man an Früherkennungsmaßnahmen prinzipiell machen kann“ (Müller 2007: 1). Die Früherkennung spielt somit, was die möglichen Konsequenzen und Handlungsoptionen anbelangt, im Erstberatungsgespräch der Humangenetik keine zentrale Rolle. Kommen die Beratenen darauf zu sprechen, dann sind die Berater und Beraterinnen jedoch nicht positions- und sprachlos. Früherkennungsmaßnahmen werden befürwortet. Im Gegensatz dazu wolle man nicht in eine bestimmte Richtung lenken, wenn es um prophylaktische Operationen ginge. In diesem Fall wird an die gynäkologische Kompetenz verwiesen. Wir erinnern uns: Nichts anderes hat Wender gemacht, als er sich auf seinen Fahrten durch die frisch vereinigte Bundesrepublik plötzlich damit konfrontiert sah, Ratschläge geben zu sollen. Auch für ihn stand Früherkennung als Notwendigkeit außer Frage und prophylaktische Operationen 269

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wurden in den Kompetenzbereich des behandelnden Arztes verwiesen. Nur hat sich mit der Möglichkeit der genetischen Diagnostik eine spezielle Früherkennung jenseits der ärztlichen Arbeit in niedergelassenen Praxen institutionalisiert. Wofür Wender noch in den Anfängen mehr oder weniger selbst zuständig war, sind heute die humangenetische und gynäkologische Beratung zuständig. Es kann festgestellt werden: Auch wenn die Hilfe zur freien Entscheidung als Prinzip des Gesprächs definiert wird, bedeutet dies noch lange nicht, dass die Beratung ein Ratschlagen nicht mit einbezieht. Drei Aussagen zu unterschiedlichen und möglicherweise auf die Beratung folgenden Praktiken zeigen sich:

Aussagenfeld Gendiagnostik wird weder empfohlen noch wird davon abgeraten. Die Entscheidung hat das beratene Individuum zu tragen. Prophylaktische Operationen werden in den Kompetenzbereich der Gynäkologie verwiesen. Früherkennungsmaßnahmen werden empfohlen.

Diese Aussagen müssen vor dem Hintergrund des Vergangenen und ihres Werdens genealogisch zumindest angerührt werden. Die sogenannte Nicht-Direktivität, die eine der Prinzipien humangenetischer Beratung ist, führt uns direkt zum disziplinären Zugriff auf die deutsche Geschichte. Oder wie Spiegel es sagt: „Man muss ganz klar sagen, wir leben in der Genetik nicht ohne die Zeit von 33 bis 45. Und es ist schwierig, jemanden zur molekulargenetischen Diagnostik zu zwingen“ (Spiegel 2006: 46). Ich will und kann mich an dieser Stelle nicht in die bundesdeutsche Geschichte der humangenetischen Beratung vertiefen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass der Rekurs auf Vergangenes ein zentrales Element der institutionellen Verfasstheit der Humangenetik ist. Die professionelle Handlungsorientierung der Humangenetik verläuft entlang von Prinzipien, welche erstens legitimierend mit der Wirkungsmacht von Geschichte aufgeladen sind, zweitens die Humangenetik innerhalb einer sich entwickelnden Molekularen Medizin stabilisierend positionieren und damit das Wirkungsfeld der humangenetischen Fachärzte innerhalb der Klinik ordnen. Die disziplinäre Zuordnung von prophylaktischen Operationen in das Reich der Gynäkologie zeigt, dass der Eingriff in den menschlichen Daten-Körper mittels zu berechnender Zahlen nach wie vor etwas anderes darstellt als der Schnitt des Arztes in den organischen Körper. Pro270

KOMMEN, GEHEN, BLEIBEN – ZWISCHEN BERATUNG UND FRÜHERKENNUNG

phylaktische Operationen wurden in den Anfängen des Verbundprojektes insgesamt, also auch von den beteiligten Gynäkologinnen und Gynäkologen, skeptisch gesehen. Mittlerweile werden sie jedoch in bestimmten Konstellationen empfohlen und man gewinnt den Eindruck, dass das Tabu, am gesunden Körper zu operieren, schrumpft. Dort, wo nicht mit dem Messer hantiert wird, ist die Empfehlungslage eindeutig. Früherkennung ist unhinterfragt das Nonplusultra der möglichen präventiven Maßnahmen und hat sich historisch in den gynäkologischen Praxen im Zusammenspiel mit der Entwicklung bildgebender Verfahren (Sonographie und vor allem Mammographie) durchgesetzt.

Wer zuerst kommt, malt zuerst: Stammbaumproduktionen Der Stammbaum sollte sich über mindestens drei Generationen unter Einschluss der väterlichen und der mütterlichen Linie erstrecken. „Stammbäume sind Stammbäume“ (Spiegel 2006: 17) – das Aufzeichnen eines solchen passiert mittels einer zweigeschlechtlichen Klassifikation innerhalb eines biologischen Familienmodells der Vererbung: ein Quadrat für ein männliches und ein Kreis für ein weibliches Familienmitglied. Ausgehend von der Ratsuchenden entsteht im Gespräch der Stammbaum mit Angaben zum Alter für alle Familienangehörigen, zur Diagnose aller Tumore für alle betroffenen Angehörigen, dem jeweiligen Erkrankungsalter und Todesdaten. Zwei Stammbaumprobleme werden in der Zukunft kommen gesehen: Erstens das Problem schrumpfender Familien: „Stammbäume sind heute oftmals kleiner, weil die Menschen weniger Kinder bekommen. Aber das wird in den nächsten 40, 50 Jahren zunehmend eine Rolle spielen“ (Spiegel 2006: 17). Zweitens: Patchworkfamilien. In der gegenwärtigen Beratung sieht die Ärztin darin noch kein großes Problem, da „die Patienten, die kommen, eher älter sind und der Anteil an Patchworkfamilien dort noch nicht sehr hoch ist“ (Spiegel 2006: 30). Der Stammbaum ist in seiner Form stabil. Aber was würde er noch aussagen können, wenn seine biologischen Äste kaum mehr zuordnungsfähig wären? Von einer einzelnen Erkrankung im Stammbaum auf Vererbung zu schließen, ist nicht möglich. Insofern spielt die Familie in der Beratung für die Ärztin eine große Rolle: „Keine genetische Beratung ohne Familienanamnese und Stammbaum“ (Spiegel 2006: 29). Wenn man es sich recht überlegt, ist die Arbeitsgrundlage der Humangenetik, die biologische Familie, ein recht prekärer Gegenstand. Es muss ein Familienwissen über die Häufung von Brust- und/oder Eierstockkrebserkrankungen geben. Der Stammbaum ist ohne diese Erkrankungen nicht informativ. Ergo braucht es weibliche Familienmitglieder, um Vererbung erkennen zu können: „Ich muss immer im Kopf haben, dass sich eine mögliche 271

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Vererbung über die väterliche Linie über Generationen nicht manifestieren kann“ (Spiegel 2006: 28). Die humangenetische Beratung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs ist eine vergeschlechtlichte Praxis, in welcher Phänotyp und Genotyp zusammenfallen und das genetische Wissen über die geschlechtsneutrale Vererbung von der weiblichen Krankheit überlagert wird. Dies gilt ungebrochen. Männer kommen in der Regel nicht in die Beratung; ihre Rolle als mögliche Vererber ist wenigen bekannt. Genauso wie ein Wissen darüber, dass auch Männer an Brustkrebs erkranken können. Weibliche Krankheit – weibliche Gene – weibliche Verantwortung? Auf jeden Fall werden die Mütter als „zentrale Figuren in der Informationsübermittlung“ (Gerhardus et al. 2004: 43) betrachtet. Ich komme auf das eingangs berichtete Phänomen zurück, dass sich der Beratungsablauf von Humangenetik und Gynäkologie zwischen 2006 und 2007 verschoben hat. Kam die Ratsuchende zuerst zu den Humangenetikern, entstand hier der Stammbaum im Gespräch mit der Ratsuchenden und eventuell weiteren anwesenden Familienangehörigen. Wird zuerst die Gynäkologin aufgesucht, dann zeichnet man ihn dort. In diesem Fall bringt die Ratsuchende eine Kopie zur humangenetischen Beratung mit. Marc Müller erzählt, dass eine Bedenkzeit von vier Wochen zwischen der gynäkologischen Beratung und der humangenetischen Beratung liegt. Dies sei sehr hilfreich, da „den Ratsuchenden in diesen vier Wochen häufig noch zusätzliche Informationen über die Familiengeschichte einfallen, dass Angaben korrigiert werden und anders dargestellt werden, wenn man in der Zwischenzeit mit einer Angehörigen gesprochen hat“ (Müller 2007: 8). Er könne mit dem vorliegenden Stammbaum weiterarbeiten, Korrekturen vornehmen, um dann auf einer größtmöglichen Informationsbasis die Stammbaum-Berechnung mittels einer Software vorzunehmen. Die Reihenfolge der Beratungen hat nicht nur Effekte auf die Frage, welche Personen in die Humangenetik kommen, sondern auch darauf, welches Wissen wann wie vermittelt wird und wie die Arbeitsteilung zwischen den beiden Disziplinen funktioniert. Daran gekoppelt schließt sich die Frage an, wie Kompetenzen zwischen Humangenetik und Gynäkologie geordnet und wo fachliche Grenzen gezogen werden. Der zurückgelegte Weg des Stammbaums aus der gynäkologischen Beratung zur Humangenetik funktioniert als eine Optimierungsstrecke für die zu berechnenden Zahlen. Indem die Beratungen zeitlich auseinandergezogen werden, besteht die Möglichkeit, zu weiteren Familieninformationen zu kommen. Es ist die Aufgabe der Humangenetik, ein möglichst umfassendes Wissen zu generieren. In Bezug auf inhaltliche 272

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Vermittlungskompetenzen verschwimmen die Aufgabenbereiche und es hängt sehr von der jeweiligen Kompetenz des Arztes ab, wie ausführlich in der gynäkologischen Beratung über genetische Aspekte gesprochen wird. Stammbauminformationen sind die Bedingung der Möglichkeit für die Berechnung der Wahrscheinlichkeiten: Erkrankungswahrscheinlichkeit und Heterozygotenwahrscheinlichkeit. Und diese werden auf jeden Fall berechnet. Mit der Berechnung steht und fällt vertraglich festgelegt die Frage nach dem Ein- oder Ausschluss in/aus dem angebotenen Früherkennungsprogramm. Und im Falle keiner vorhandenen Indexperson steht und fällt mit den errechneten Wahrscheinlichkeiten auch der Einoder Ausschluss zur Testung. Wodurch unterscheiden sich die Kompetenzbereiche der beiden Disziplinen? Ich glaube, es ist ein entscheidender Punkt, dass die humangenetische Beratung auf wenige Sitzungen beschränkt bleibt, während die gynäkologische Beratung – für den Fall eines Einschlusses – in die regelmäßige Früherkennung und evtl. operative Maßnahmen übergeht. Die humangenetische Beratung ist ein Passagepunkt innerhalb des Programms „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“. Hier werden aus Familienwissen Wahrscheinlichkeiten generiert und Familienmitglieder als Indexpatienten definiert. Zusammenfassend steht im Mittelpunkt des humangenetischen Erstgesprächs erstens die Informationsvermittlung über Familiären Brustund Eierstockkrebs und BRCA1 und BRCA2 sowie über die genetischen Testung. Zweitens gilt es Familieninformationen zur Erhebung der individuellen Wahrscheinlichkeiten für die Ratsuchende und evtl. weiterer Familienangehöriger, sofern diese auch beraten wurden, zu erfassen. Nach dem Gespräch muss ein Beratungsbrief verfasst und an die Beratene geschickt werden.

8.1.2 Schreib- und Rechenarbeiten Spiegel beziehungsweise Müller arbeitet zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen der Humangenetik in einem Arztzimmer. Am Arbeitsplatz stehen PC und Bildschirm. Aktenablagen befinden sich auf den Tischen und Bücherregale an der Wand. Obwohl Mirjam Spiegel für die Beratung einmal wöchentlich zum Brustzentrum nach Mitte fuhr, lag ihr Wirkungszentrum doch am Institut für Medizinische Genetik. Es ist einer der ersten Eindrücke meines Aufenthaltes: Die Beratung selbst macht nur einen Teil der Tätigkeit des Arztes beziehungsweise der Ärztin aus. Weitere Aufgaben sind es, die Beratungsgespräche zu verschriftlichen und in Form von Briefen an die Beratenden zu senden, die geleistete Arbeit zu dokumentieren, gegebenenfalls wichtige Informationen 273

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(alte Befunde et cetera) zu recherchieren, die Stammbauminformationen in die Software Cyillic zu übertragen und damit die Wahrscheinlichkeiten (Mutations- und Erkrankungswahrscheinlichkeit) zu berechnen.

Cyrillic – Intelligent Pedigree Management „Die Humangenetiker sind essentiell, weil von deren Ermittlung des Risikos abhängt, in welche Risikokategorie Patientinnen und Ratsuchende fallen“ (Grau 2006: 3). Die Risikoermittlung erfolgt, wie bereits dargelegt, anhand eines Stammbaums. Allerdings ist der auf ein Blatt Papier gezeichnete Stammbaum nicht am Ende seines Werdens angelangt (insofern ist er nie total unwandelbar) und auch ist er nicht die alleinige Basis der Risikoermittlung. Ein Stammbaum ist ein Stammbaum und bleibt ein Stammbaum… Aber neben diesem und aus ihm heraus entwickeln sich neue Gegenstände: beispielsweise die Aussage, mit einer 35-prozentigen Wahrscheinlichkeit Trägerin einer Mutation auf BRCA1 zu sein. Das vermeintlich unwandelbares Mobile besitzt in der Tat ein Potential zur weiteren Wandelbarkeit. Aus der Zeichnung wird ein elektronischer Stammbaum und aus dem elektronischen Stammbaum werden Wahrscheinlichkeiten! Ein zentraler Arbeitsschritt besteht in der elektronischen Erfassung mit Cyrillic (www.cyrillicsoftware.com). Die Entwicklung des Programms begann Ende der 1980er Jahre, als graphische Interfaces billiger und leichter verfügbar wurden. Die erste Version wurde von Cyril Chapman für den Atari ST geschrieben. Mit der inzwischen dritten Version hat die Humangenetik gearbeitet, als ich im Winter 2006 meine teilnehmende Beobachtung durchführte. Während es im bereits mehrfach erwähnten Health Technology Assessment noch heißt, dass Computermodelle zwar hilfreich seien, sie jedoch „die vom Berater persönlich vorgenommene Evaluation des Stammbaums“ (Gerhardus et al. 2004: 46) nicht ersetzen sollten, scheint mit dem Übergang in die kassenärztliche Versorgung ein Wechsel der Bedeutung erfolgt zu sein. Alle Familieninformationen fließen letztlich in den Cyrillic-Stammbaum. Mit ihm werden Berechnungen angestellt und ihn bekommen die Molekulargenetiker in das Labor geschickt, zusammen mit der Einverständniserklärung, einem Anforderungsschein für die Testung und natürlich dem Material DNA. Cyrillic ist also erstens ein Programm zur Erstellung von Stammbäumen und zweitens zur Risikokalkulation. Zwei Programme zur Berechnung der Heterozygotenwahrscheinlichkeit und des Erkrankungsrisikos sind als Standards in Cyrillic 3 integriert: BRCAPRO und MENDEL. Beide Programme wurden nicht von der Family Genetix Ltd., sondern von Dritten entwickelt und das Unternehmen weist aus-

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drücklich darauf hin, dass Benutzer auf ihr eigenes Risiko hin damit arbeiten. Das Stammbaum-Bild wird technisch und es wird zur Zahl. Latour hat argumentiert, dass unwandelbare Mobile sich kaskadenförmig in Richtung immer einfacherer und kostspieligerer Inskriptionen bewegen würden. Latour (1990) wie Serres (1987) benutzen den Begriff der Kaskade, um eine Bewegung verschiedener Elemente in Form ihrer beständigen Vermehrung zu beschreiben. Stufenförmig würden die unwandelbaren Mobile nach und nach nicht nur mobiler und unwandelbarer, kostspieliger und einfacher werden, sondern auch glaubwürdiger – eine „bizarre situation in which the last inscription is believed more than anything else“ (Latour 1990: 59). In der humangenetischen Beratung verschwindet der geleistete Produktionsaufwand zur Entwicklung in der Black Box Software: Die Programmierung, die Arbeit und das Geld, welche in die Entwicklung fließen mussten, sind für den Benutzer unsichtbar. An die Kostspieligkeit der Software erinnert das Copyright © Family Genetix Ltd. 2000. Cyrillic ist durch ein Copyright geschützt und die Lizenzvereinbarung legt klare Nutzermöglichkeiten nach englischem Recht fest. Wie wir schon bei der DHPLC sahen, sind Nutzungsmöglichkeiten nicht nur rechtlich vorgegeben, sondern auch in die Technologie selbst eingelassen, technisches Handeln wird maßgeblich von der Technologie vorgeschrieben. Die Eingabemaske beispielsweise lässt nicht jeden beliebigen Stammbaum-Inhalt zu. Die Zeichnung des elektronischen Stammbaums folgt definierten Schritten mit der Möglichkeit der Nutzung vorgegebener Tools. Die Berechnungen mit MENDEL oder BRCAPRO wiederum basieren auf bestimmten Algorithmen. Ergebnisse hängen somit nicht nur von der technischen Entwicklung ab, sondern auch von der Entscheidung, was in die Programmierung eingeht, welches Wissen wie in eine Software umgesetzt wird. Ist es auf einem Blatt Papier noch möglich, nach Belieben oder Interesse Informationen aufzunehmen, gibt die Software vor, was passt und was nicht. Der Mensch vor dem Bildschirm gibt ein, was möglich ist. Wie berechnet wird, bleibt in der Black Box und für die Humangenetiker unsichtbar. Mit dem Eintritt in den krankenkassenärztlichen Wirkungsbereich wurde Cyrillic zur zentralen Technik des Ein- und Ausschlusses von Ratsuchenden/Patientinnen zur Testung beziehungsweise zur Früherkennung. In allen Zentren des Verbundprojektes ist es durch den Vertrag mit den Krankenversicherungen vorgeschrieben, dass die Berechnungen mittels Cyrillic erfolgen müssen. Damit ist eine Vergleichbarkeit der ermittelten Wahrscheinlichkeiten möglich; eingefügt in einen standardisierten Beratungsablauf der Zentrumsarbeit. Für einen Außenste275

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henden mag es verwunderlich sein, dass eine Vereinheitlichung, also verbindliche Festlegung auf eine Software nötig ist. Man muss wissen, dass es Stammbaum-Programme mit verschiedenen zugrundeliegenden Risikokalkulationsmodellen gibt. Verschiedene Modelle führen zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem welche Risikofaktoren beispielsweise berücksichtigt werden. Gerhardus et al. kommen 2004 in ihrer Diskussion unterschiedlicher Risikokalkulationsmodelle zu dem Ergebnis, dass das sogenannte manuelle Claus-Modell, welches an die deutsche Bevölkerung angepasst wurde, am besten zur Risikokalkulation geeignet sei. Während allerdings verschiedene Computermodelle das tatsächliche Risiko unterschätzen, wurde das Risiko in der manuellen Risikoermittlung anhand der Claus-Tabellen überschätzt (Gerhardus et al. 2004: 49). Die Zahlen schwanken, was man aber vor allem im Auge behalten muss, ist die Tatsache, dass komplexe Risikoberechnungen extrem zeitaufwändig und kompliziert sind. Die Software wird aus diesem Grunde gebraucht. Zwar mag der Stammbaum (noch) schneller auf ein Blatt Papier zu zeichnen sein und die Eingabe in das Programm gerade für Ungeübte länger dauern. Aber in der Berechnung der Wahrscheinlichkeiten ist der Computer unvergleichlich schneller. Und die elektronische Existenz macht den Stammbaum zudem auf den Datenhighways um einiges mobiler. Die Unsicherheit der Zahlen wird von den Humangenetikern durchaus gesehen. Erstens wisse man, dass die Angaben der Ratsuchenden nicht unbedingt immer stimmen müssen; ganz abgesehen davon, dass häufig gewünschte Informationen über Familienmitglieder fehlten. Zweitens habe man feststellen können, „dass die Cyrillic-Berechnungen nicht exakt sind“ (Spiegel 2006: 20). Hier bringt sich die humangenetische Kompetenz ins Spiel: „Es ist wichtig, das ich bestimmte Berechnungen auch werten kann. Ich weiß inzwischen, dass dieses Programm die Vererbung über die väterliche Linie nicht so gut berücksichtigt und berechnet wie über die mütterliche Linie. Meiner Meinung nach berücksichtigt es die große Non-Penetranz bei Männern nicht genügend“ (Spiegel 2006: 36). Bis in die Programmierung der Software hinein führt die Vergeschlechtlichung der geschlechtsneutralen Vererbung. Wie wird mit der vagen Zahl umgegangen: „Ich persönlich denke, ob der Zahlenwert jetzt um zwei oder drei Prozent nach oben oder unten abweicht, spielt keine Rolle“ (Müller 2007: 15). Dies mag von der Humangenetik so gesehen werden. Ähnliches hörte ich ebenso von den Tumorgenetik und der Gynäkologie. Die Entwicklung einer eigenen Software ist innerhalb des Verbundprojektes Gegenstand der Auseinandersetzung, allerdings meines Wissens nach bis heute kein realisiertes Unternehmen. Die dargelegten Gründe sprechen für einen weichen Umgang mit den Zah276

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len. Und dennoch, es sind die Cyrillic-Zahlen, die am Ende wahr sprechen: „Die Entscheidung, welche Früherkennung durchgeführt wird, wird erst bei uns getroffen. Das können wir erst machen, weil wir eben diese Zahlenwerte generieren können“ (Müller 2007: 9). Bei der Erstberatung hat man noch nicht die Cyrillic-Zahlen und so „kann es passieren, dass die Prozentzahl, die errechnet wird, deutlich niedriger ausfällt, als die Patienten gedacht haben“ (Spiegel 2006: 2). Deshalb ist die Arbeit der Humangenetik essentiell, sie markiert Ein- oder Ausschluss.

Der Beratungsbrief Wie im Büroraum der Tumorgenetik ist die Schreibarbeit auch hier ein sehr zeitintensives Unternehmen. Jedes Beratungsgespräch, Erstberatung und Befundmitteilung, werden in Briefen zusammengefasst und an die beratende Person geschickt. Der Beratungsbrief enthält immer eine Einleitung mit Darstellung des Beratungsgrundes und der familiären Vorgeschichte. Im Hauptteil werden erstens der Familiäre Brustkrebs, die Vererbung desselben und die molekulargenetische Diagnostik bei Familiärem Brustkrebs kurz erläutert und zweitens wird über die eigene Erkrankungswahrscheinlichkeit und das weitere Prozedere informiert. Die eigene Erkrankungswahrscheinlichkeit bezieht sich sowohl auf das verbleibende Risiko an Brustkrebs als auch an Eierstockkrebs bis zum 85. Lebensjahr zu erkranken. Diese Zahlenwerte werden in einer computergestützten Analyse mittels Cyrillic berechnet. Zudem bekommt die beratene Person die mittels Cyrillic berechnete Heterozygotenwahrscheinlichkeit mitgeteilt. Diese Angaben sind entscheidende Voraussetzungen für den Einschluss in die Früherkennung, unabhängig von der möglichen Feststellung einer Mutation. Falls also eine Gendiagnostik bei einer Indexpatientin vorgenommen wird und keine Mutation gefunden werden kann, dann hat die Ratsuchende trotzdem einen Zugang zur Früherkennung, wenn das Heterozygotenrisiko der Ratsuchenden größer als 20 Prozent und das Lebensrisiko größer als 30 Prozent ist. Die Mutation mutiert zu einer Zahl. Je nach Höhe der Wahrscheinlichkeiten beziehungsweise abhängig vom Vorhandensein einer Indexperson in der Familie kann eine Testung vorgenommen werden. Wer getestet werden kann, wird in dem Brief mitgeteilt. Beispielsweise heißt es dann: „Eine solche molekulargenetische Diagnostik könnte demnach bei Ihrer […] durchgeführt werden. Sie wollten diesbezüglich mit Ihrer […] sprechen“ (aus einem Beratungsbrief der Humangenetik 2006). Wenn eine Indexperson vorhanden ist, reicht der einfache Einschluss von größer/gleich zehn Prozent bei der Ratsuchenden aus. Erklärt sich die Indexperson einverstanden, wird ihr 277

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Blut abgenommen und die Gendiagnostik gemacht. Eine prädiktive Testung ist nur möglich, wenn das Heterozygotenrisiko der Ratsuchenden größer als 20 Prozent und das Lebensrisiko größer als 30 Prozent nach Cyrillic ist. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wird im Brief mitgeteilt: „Da die betroffenen Familienangehörigen […] in Ihrer Familie bereits verstorben sind, ist zum jetzigen Zeitpunkt eine Testung bei einer betroffenen Person nicht möglich. Aufgrund Ihres errechneten Erkrankungsrisikos an Brust- oder Ovarialkrebs zu erkranken, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Indikation zu einer molekulargenetischen Untersuchung bei Ihnen selber gegeben“ (aus einem Beratungsbrief der Humangenetik 2006).

In jedem Fall findet sich folgender Satz im Brief wieder: „Hinsichtlich der für Sie geeigneten Früherkennungsmaßnahmen [beziehungsweise Vorsorge/Nachsorgemaßnahmen bei einer Indexpatientin, S.P.] von Brust- und Eierstockkrebs verweisen wir Sie auf den Arztbrief der gynäkologischen Kollegen“ (aus einem Beratungsbrief der Humangenetik 2006).

Man darf nicht vergessen, dass parallel zur humangenetischen Beratung die gynäkologische Beratung verläuft. Zwei Beratungen, zwei Briefe. Als eine Hilfestellung für die richtige Entscheidung gibt die Humangenetik eine vierwöchige Bedenkzeit zwischen Erstberatung und Gendiagnostik vor. Kommt es zu einer Testung, findet ein zweites Treffen statt und der Befund wird mitgeteilt. Eine Mitteilung hat nicht am Telefon oder schriftlich, sondern nur in einem gemeinsamen Gespräch zu erfolgen.

8.1.3 Befundmitteilung In einem zweiten Gespräch… Der Befund kommt aus dem Labor. Wir wissen bereits aus der Laborpassage, welches die Möglichkeiten sind: Entweder es wurde bei einer Indexperson eine Mutation gefunden, dann können Familienangehörige prädiktiv getestet werden. Wird keine Mutation gefunden, fällt die Möglichkeit zur Testung weg. Es kann bei einer Ratsuchenden prädiktiv entweder eine oder keine Mutation gefunden werden (bei entsprechenden Risikozahlen durch Cyrillic) und es kann bei einer Ratsuchenden, in deren Familie eine Mutation bekannt ist, eine „Entlastung“ vorgenommen werden, wenn keine Mutation in ihrer DNA gefunden wird. Entlastung bedeutet, dass für diese Person kein besonders hohes, sondern ein normales statistisches Risiko existiert, im Verlauf ihres Lebens an Brustkrebs zu erkranken. In einem zweiten Gespräch wird das Laborer278

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gebnis erörtert. Über therapeutische Möglichkeiten spricht man in der humangenetischen Beratung nur mit dem Zusatz, dass diese mit der Gynäkologin zu besprechen sind. Für den Fall, dass Fragen nicht beantwortet werden können, ist es aus Sicht der Ärztin oder des Arztes wichtig, damit offen gegenüber der Beratenen umzugehen. Nichtwissen wird integriert und stellt kein Problem im Beratungsalltag dar. „Wenn ich die Zahlen nicht parat habe, sage ich das auch, weil ich der Meinung bin, dass nichts schlimmer ist, als irgend etwas zu erzählen“ (Spiegel 2006: 44). Ein sensiblerer Punkt scheint hingegen dort zu liegen, wo die Konsequenzen des eigenen Handelns erstens für den Beratenen vorgestellt und zweitens auf sich selbst übertragen werden: „Mein Hauptproblem ist, dass man sich selbst nicht ausblenden kann. Man hat immer im Gefühl, was würde das für dich selber bedeuten, wenn dir jemand so etwas erzählt. Das hat bei einem jungen Menschen einen großen Einfluss auf viele Dinge. Vielleicht sogar auf die Berufswahl. Wann bekomme ich Kinder? Wie plane ich mein Leben? Ich habe schon gehört, dass Frauen, die ein hohes Risiko hatten und obwohl noch keine Mutation in der Familie bekannt war, sich von vornherein gegen eine wissenschaftliche Karriere entschieden haben, weil sie sagen ,Mit dem Risiko, was ich habe, will ich das nicht eingehen‘“ (Spiegel 2006: 40).

Man erkennt hier die enorme Wirkungsmacht genetischen Wissens für die Lebensführung. Doch inwieweit handelt es sich bei solchen Erzählungen eher um selbstlegitimierende Praktiken der Humangenetik? Bereits im Labor war das Subjekt als Patient existent und wurde mit Vorstellungen über die Konsequenzen des hergestellten Wissens versehen. Welches sind die Folgen einer gefundenen Mutation, wer steckt hinter der DNA? In der Humangenetik gibt es Erzählungen von Fällen, die dramatisch endeten, weil keine humangenetische Beratung in Anspruch genommen wurde, der Mensch mit der genetischen Information überfordert war und im schlimmsten Fall darum keine Früherkennung mehr in Anspruch nehmen wollte. Mit dem genetischen Wissen richtig umzugehen, wird deshalb als eine der zentralen Aufgaben in der humangenetischen Wissensvermittlung betrachtet und die Bedeutung der Beratung durch Fachärzte oder Ärzte mit der Zusatzbezeichnung medizinische Genetik stark gemacht.

…und einem abschließenden Brief Im Befundbrief wird das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung und eine Zusammenfassung des Gesprächs schriftlich mitgeteilt. 279

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Im einleitenden Teil wird die Vorgeschichte zusammengefasst, gefolgt von der Fragestellung, ob eine Keimbahnmutation vorliegt und dem Ergebnis der molekulargenetischen Testung. Eine kurze Erläuterung zur Methodik, uns noch bekannt aus dem Labor-Brief an die Humangenetik, liefert im Falle einer sequenzierten Mutation die genaue Beschreibung dieser. Im anschließenden Teil des Briefes wird auf die Schlussfolgerungen und das weitere Prozedere eingegangen. Im Fall einer gefundenen Mutation bei einer Indexpatienten heißt es beispielsweise: „Da bei Ihnen diese Mutation vorhanden ist, haben Sie gegenüber der Allgemeinbevölkerung ein Risiko von auf 60-65%, an einem Zweitkarzinom der Brust oder der Eierstöcke (30% bis zum 80.Lebensjahr) zu erkranken. Daher empfehlen wir Ihnen eine lebenslange engmaschige Nachsorge und haben Ihnen eine Vorstellung im Brustzentrum der Charité […] zur Besprechung von adäquaten Früherkennungs- bzw. Nachsorgemaßnahmen angeboten“ (aus einem Befundmitteilungsbrief der Humangenetik 2006).

Zudem wird eine psychotherapeutische Hilfe angeboten. Da es sich um die positive Testung einer Indexpatientin handelt, wird im Brief darauf hingewiesen, dass durch den Nachweis der Mutation jetzt für blutsverwandte Angehörige die Möglichkeit besteht, sich prädiktiv testen zu lassen. Ist der Brief verfasst, reißt der unmittelbare Kontakt ab. In der humangenetischen Beratung bleibt nur dann ein Kontakt bestehen, wenn weitere Familienmitglieder einer bereits beratenden Person vorstellig werden und eventuell die zuvor Beratene an solch einem Gespräch teilnimmt. Weiterhin scheint es gegenwärtig Praxis zu sein, dass Befunde von Früherkennungsuntersuchungen ebenfalls in die Humangenetik geschickt werden.

8.1.4 Die humangenetische Beratung: Ein Passagepunkt zwischen Menschen, Genen und Zahlen? „Es gibt ganz klare Richtlinien, wie wir vorzugehen haben“ (Spiegel 2006: 39). Bereits 1995 stellte die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik in einer Stellungsnahme zur Entdeckung von BRCA1 Prinzipien für die BRCA-Gentestung auf. Darin verweist sie im Hinblick auf die erforderlichen Rahmenbedingungen auf die Erklärungen der Gesellschaft für Humangenetik zur postnatalen prädiktiven genetischen Diagnostik von 1991, auf die Richtlinien des Berufsverbandes Medizinische Genetik zur genetischen Beratung und zur molekulargenetischen Diagnostik. Wie die 280

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American Society of Human Genetics rückt auch die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik ein klientenzentriertes Beratungskonzept in den Mittelpunkt. Zu den Leitprinzipien der genetischen Beratung gehören: Nicht-Direktivität, Wertneutralität, informierte Zustimmung, informationelle Selbstbestimmung und Recht auf Nichtwissen. Andreas Lösch hat das Beratungsgespräch mit einer Geständnistechnik im foucaultschen Sinn verglichen (2001: 255ff.) Das Geständnis wurde von Michel Foucault als eine wirkungsvolle Praxis der Wahrheitsproduktion seit dem Mittelalter erkannt und dann insbesondere als eine herausragende Technik analysiert des „auf den Sex gerichteten Willen zum Wissen, der das moderne Abendland charakterisiert“ (Foucault 1999a: 84). Im 19. Jahrhundert wird das Geständnis zu einer Arbeit zwischen Befrager und Befragtem, in welcher das Wissen an wissenschaftlicher Geltung gewinnt und dabei bislang Verborgenes für das Subjekt ans Licht bringt. Das Geständnis öffnet den Raum für medizinische Praktiken: „Das Wahre, rechtzeitig dem Richtigen gesagt und zwar von dem, der es innehat und zugleich verantwortet, dieses Wahre heilt“ (Foucault 1999a: 87). Objektivierung von Wissen auf der einen Seite, Subjektivierung des Beratenen durch Informations- und Kompetenzgewinnung auf der anderen Seite. Mit dem Gespräch entstehen Informationen, welche das Individuum zu seiner Lebensplanung und Lebensführung nutzen sollte. Gleichzeitig ist, wie wir gesehen haben, die Informations- und Materialgewinnung (Stammbaum und Blut) Teil eines Gefüges aus Genforschung und Medizin, sofern der betroffene Mensch seine Zustimmung, sein Wissen und sein Blut gibt. In der Beratung funktioniert die Verteilung der Rollen zwischen aktiv (Berater oder Beraterin) und passiv (Beratene oder Beratener) nicht. Das Konzept der humangenetischen Beratung mit solchen Elementen wie Nicht-Direktivität und Entscheidungsfreiheit legt nahe, Steuerungsmomente durch den Berater auszublenden. Nicht der Berater übernimmt die Entscheidung, was zu tun sein wird, sondern die ratsuchende Person. Dabei, so Lösch, entspräche die humangenetische Subjektivierung „einer ,lebenslangen Erfahrung‘, die den Klienten an Beratungspraxen der Humangenetik bindet“ (Lösch 2001: 293). Im Gegensatz zur Frage, wann eine Testung indiziert sei, wäre der Zugang zur Beratung bereits durch eine „vage ,Befürchtung‘“ (Lösch 2001: 313) möglich. Humangenetische Beratung für alle? Die Analyse von Lösch bezieht sich in erster Linie auf Dokumente aus Reihen der Humangenetik selbst. Das Problem ist meines Erachtens, dass damit vor allem diskursive Praktiken der institutionellen Selbsterhaltung und des Positionsausbaus der Disziplin Humangenetik innerhalb der Medizin in den Blick geraten. Sie weist sich innerhalb der auf281

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kommenden Molekularen Medizin einen zentralen Platz zu und sichert ihn mittels verschiedener Strategien ab. Sehr erfolgreich, wenn wir sehen, dass die humangenetische Beratung obligatorisch vor und nach der Testung von allen durchlaufen werden muss, welche die Gendiagnostik für BRCA1 und BRCA2 durchführen lassen und/oder die Früherkennungsmaßnahmen bei familiärer Belastung für Brust- und Eierstockkrebs in Anspruch nehmen möchten. Dennoch scheint es mir notwendig zu sein, die humangenetische Praxis konkret und vor allem relational, sprich eingebunden in ein Gefüge, zu lokalisieren. Wir können sehen, dass in den von mir untersuchten lokalen Praktiken die humangenetische Beratung nicht die von Lösch in seinen Dokumenten gefundene Position inne hat. Erstens hat sich die Geständnistechnik des Gesprächs arbeitsteilig ausdifferenziert und beinhaltet von vornherein Mechanismen der In- und Exklusion von Ratsuchenden. Was das Gespräch vereinen sollte, hat sich zwischen initialem Telefonat, humangenetischer Beratung und gynäkologischer Sprechstunde (möglicherweise auch noch der Psychoonkologie) verteilt. Das initiale Telefongespräch besitzt eine selektive Funktion. Es ist keineswegs so, dass eine vage Befürchtung ausreichen würde, um zu einem Gespräch eingeladen zu werden. Im Gegenteil! Es ist genau diese In- und Exklusionspraxis, welche im Rahmen einer Studie zur prädiktiven genetischen Diagnostik bei Brust- und Eierstockkrebs als Zielgruppenproblem des Beratungskonzeptes dargestellt wurde (Mehnert et al. 2001). In dieser Studie wurde gezeigt, dass ein großer Teil ratsuchender Frauen, der nicht zur definierten Risikogruppe gehört, sich als gefährdet einschätzt und verunsichert ist. Diese Personengruppe erhoffe sich, so ein interessantes Ergebnis der Studie, von der BRCADiagnostik Hilfe im Sinne einer Reduzierung der Ungewissheit über den eigenen Risikostatus. Zweitens bricht sich der institutionelle Traum einer lebenslangen humangenetischen Begleitung des Selbstmanagements eines Klienten an der vorgefundenen Realität. Nicht das Gespräch mit dem Humangenetiker wird fortgeführt, sondern die klinische Betreuung durch Gynäkologen. In dieser wird das Gespräch stattfinden, hier werden Aktualisierungen vorgenommen werden. Alles, was den Bereich der klinischen Maßnahmen betrifft, sofern es im humangenetischen Gespräch auftaucht, wird an das gynäkologische Gespräch verwiesen. Dies betrifft beispielsweise Fragen zu prophylaktischen Operationen. Drittens bilden die humangenetischen Prinzipien keinen unveränderlichen Bestandteil der Beratungspraxis:

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„Wir hatten im Oktober vergangenen Jahres ein Zentrumstreffen, wo die Gynäkologen mit den Krankenkassen zusammen die Meinung vertreten haben, dass jemand nur dann zur Früherkennung zugelassen wird, wenn er sich hat testen lassen. Das Recht auf Nichtwissen wird hinten angestellt und damit habe ich ein richtiges Problem“ (Spiegel 2006: 45).

Das Recht auf Nichtwissen und die Entscheidungsfreiheit für oder gegen die Testung findet dort eine Einschränkung, wo von den Krankenkassen in der Anlage zum Vertrag festgelegt ist, dass eine Familienangehörige, in deren Familie eine Mutation bekannt ist, nur dann Anspruch auf das Früherkennungsprogramm hat, wenn sie sich auch auf die Mutation testen lässt. Für sie gelten errechnete Wahrscheinlichkeiten nicht als alleiniges Einschlusskriterium für die klinische Prävention im Rahmen des Früherkennungsprogramms. Aus dieser Perspektive sind die vorgebrachten klinischen Gründe, dass möglicherweise eine Person, die entlastet werden könnte, mit unnötigen Maßnahmen (Strahlenbelastung und Eingriffe, zum Beispiel Punktionen, aufgrund uneindeutiger Befunde) konfrontiert wird, nicht so schwerwiegend, dass sie über der freien Entscheidung des Patienten beziehungsweise der Patientin stehen könnten. Dennoch ist die Humangenetik an den Vertrag mit den Krankenversicherungen gebunden und muss sich an die Vorgabe halten. Die Blutabnahme für die Testung kann in der Beratung der Humangenetik oder der Gynäkologie erfolgen. Spiegel sieht dies nicht unkritisch, da zwischen der Beratung und der Testung eine Bedenkzeit von vier Wochen liegen muss. Entweder wird das Blut abgenommen und bis zur Entscheidung eingefroren oder es wird ein Blutabnahme-Set an den behandelnden Hausarzt geschickt, sodass er im Fall der Entscheidung für eine Testung das Blut abnehmen und an die Humangenetik schicken kann. „Es ist natürlich richtig, dass es einfacher ist, dem Patienten gleich Blut abzunehmen. Man spart sich das Porto, ich kann das gleich mitnehmen und die Wahrscheinlichkeit, dass die Ratsuchende anruft und die Diagnostik ablehnt ist klein. Aber ich will die Leute nicht überrumpeln. Ich finde die Bedenkzeit ein bisschen eingeschränkt, wenn demjenigen doch gleich Blut abgenommen wird“ (Spiegel 2006: 39).

Den Begriff der Geständnisarbeit aufnehmend kann diese in mindestes vier Stufen unterteilt werden: Telefonat, humangenetische Beratung, gynäkologische Beratung und schließlich lebenslange Früherkennung. Die humangenetische Beratung erscheint so gesehen als eine Art Katalysator mit transformativer und inkluierender Funktion. Die Umwandlung von Familienwissen in Stammbaumwissen, von Stammbaumwissen in Wahr283

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scheinlichkeiten ist die Bedingung der Möglichkeit für den Zugang zur Gendiagnostik und Früherkennung. Eingebunden in die institutionelle Verfasstheit eines interdisziplinären Zusammenspiels ist die humangenetische Beratung so betrachtet längst nicht so wirkungsmächtig, wie es in ihrer Selbstdarstellung angelegt sein mag. Damit meine ich nicht, dass die gesamte Beratungspraxis irrelevant wäre. In ihr kommen die benannten Elemente wie Nicht-Direktivität, Entscheidungsfreiheit, Informationsvermittlung und Ermittlung auf der einen Seite zum Tragen und können Prozesse der Subjektivierung und Objektivierung in der Geständnisarbeit ausgemacht werden. Auf der anderen Seite ist diese Arbeit jedoch zeitlich so eingefasst, dass das von Lösch als zentrales Element des Gesprächs definierte Moment, nämlich die Aneignung von Selbsttechniken zur Lebensführung, meines Erachtens nicht funktioniert, da die notwendige Bedingung der Wiederholung fehlt. Diese findet in der Früherkennung statt, „weil wir die Patientin in der Regel nicht wieder sehen, wenn wir einmal das Risiko berechnet haben beziehungsweise eine eventuelle Gentestung abgeschlossen ist“ (Müller 2007: 5).

8 . 2 G yn ä k o l o g i e – E i n z w e i f a c h e r L o c u s Die Humangenetik kommt und geht, die Gynäkologie bleibt (lebenslang) – vorausgesetzt, die Ratsuchende wird in das strukturierte Früherkennungsprogramm eingeschlossen und lässt sich einschließen. Die Gynäkologie, Beratung und Früherkennung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs, ist der letzte Locus meiner Studie. Ich halte mich hier jedoch kaum mehr auf und streife die klinische Praxis nur noch an der Oberfläche. Als Beobachtungsnotiz ist anzumerken, dass ich neben den zwei Interviews mit den für diese Sprechstunde Verantwortlichen, bis auf einen Tag im Sommer 2006 keine Beobachtungen in den gynäkologischen Beratungen vorgenommen habe. Je näher ich im Verlauf meiner Studien unmittelbaren Praktiken am menschlichen Körper kam, desto schwieriger wurde es für mich zu beobachten. Es handelt sich nicht um Probleme inhaltlicher Art – im Gegenteil! Der Klinik-Alltag einer gynäkologischen Sprechstunde ist mir auf den ersten Blick sehr viel vertrauter als der Laboralltag mit seinen Tubes, DNAs und Technologien. Es ist die Intimität des Körpers in den Praktiken der Gynäkologie, die mich ein Stück weit zurückweichen ließ und die es vermutlich erforderlich gemacht hätte, eine längere Zeit in der Gynäkologie zu bleiben und mich intensiver mit dem gynäkologischen Alltag zu befassen, als es im Rahmen meiner Forschungen möglich gewesen ist. Diese Arbeit zu leisten muss darum an zukünftige Forschungsunterneh284

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men verwiesen werden. Folgende Ausführungen sind insofern als Streifzüge zu sehen. Die Gynäkologin Christel Grau hatte seit Beginn des Verbundprojektes im Jahr 1997 bis Ende 2006 die gynäkologische Beratung und Früherkennung bei Familiärem Brust- und Eierstockkrebs im Berliner Zentrum für Familiären Brustkrebs inne. Beides wurde von Dorothee Speiser übernommen. Sowohl die Erstberatung als auch die folgenden Sprechstunden im Rahmen des Früherkennungsprogramms Familiärer Brust- und Eierstockkrebs finden im interdisziplinären Brustzentrum an der Charité Mitte immer an einem Tag in der Woche statt.

Von der Erstberatung zur Früherkennung Im gynäkologischen Gespräch werden die klinischen Charakteristika und medizinischen Optionen zum Familiären Brust- und Eierstockkrebs thematisiert. Wird der Stammbaum gezeichnet, fließt genetisches Wissen über Vererbung und BRCA1 und BRCA2 in das Gespräch ein. Ähnlich den Erfahrungen aus der Humangenetik merkt auch Dorothee Speiser an, dass Gene in der Regel große Unbekannte sind: „Die allermeisten erfahren von mir das erste Mal von dem Gen“ (Speiser 2007: 13). Was im Gespräch über Brustkrebs-Gene zu erfahren ist, ähnelt der Aufklärung in der humangenetischen Beratung. Es gibt sozusagen eine für die Medizin stabile beziehungsweise standardisierte BRCA-Erzählung: Bei der genetisch bedingten Brustkrebserkrankung handelt es sich um eine autosomal-dominante Tumor-Prädispositionserkrankung. Eine Trägerin oder ein Träger einer Keimbahnmutation in einem der beiden Brustkrebs-Gene gibt diese mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit an die Kinder weiter. Es sind bisher zwei Erbanlagen bekannt, deren Veränderungen (Mutationen) für ca. 30 Prozent der Fälle von Familiärem Brustund/oder Eierstockkrebs verantwortlich sind: BRCA1 und BRCA2. Bei den restlichen Fällen liegt wahrscheinlich eine Mutation in weiteren, noch unbekannten Genen vor. Wir wissen aus den vorangegangenen Passagen von der bemerkenswerten Gleichzeitigkeit dieses mittlerweile sehr stabilen Genwissens und seiner zunehmenden Destabilisierung innerhalb der Forschung. Davon ist im Alltag keine Spur zu finden. In der Gynäkologie angekommen, ist das Gen eine dermaßen feste Größe, dass es wieder im Stammbaum verschwinden kann. Je stabiler die Gene, desto unsichtbarer sind sie. Es scheint auf den ersten Blick vielleicht, dass der Stammbaum der alte geblieben ist. Wozu braucht es überhaupt Brustkrebs-Gene, wenn man es im Stammbaum sieht. Die Frage ist, was man sehen kann. Er zeigt einem erfahrenen Auge das Risiko an: „Frau Grau konnte gleich sagen ,So eine Prozentzahl wird es sein‘. Das kann ich natürlich nicht. Aber so 285

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langsam sehe ich auch, wenn es sich um eine betroffene Familie handelt, wo es wirklich problematisch ist oder wo es nicht so stark ausgeprägt ist“ (Speiser 2007: 10). Das Risiko meint zum einen die Erkrankungswahrscheinlichkeit, aber in Zeiten von BRCA1 und BRCA2 ist ebenso die Heterozygotenwahrscheinlichkeit, also die Wahrscheinlichkeit eine genetische Disposition zu haben, gemeint. Risikoziffern beziehen sich auf Individuen und nicht auf Familien. Die Frage ist also, sieht man im Stammbaum die Organisation von Menschen in Abstammungslinien oder eine numerische Organisation von Menschen? Mir scheint, wir befinden uns im Übergang. Der Stammbaum besitzt beide Anteile und doch ist auszumachen, dass sich langsam aber sicher die Zahl über die Abstammungslinie legt. Die Besonderheit der Zahl ist, dass sie sich vom Stammbaum lösen kann. Noch wird von der Arithmesierung des Familienwissens ausgegangen. Aber das Versprechen der Molekulargenetik liegt in der Abkopplung von der alten Abstammungslinie Familie und dem Aussagen von Wahrscheinlichkeiten auf Basis molekularer Untersuchungen. Dieses haben wir am Beispiel der Forschungsentwicklungen zu BRCAx gesehen: Jedem sein eigenes SNP-Muster. Die Bewegung vom Besonderen (Familiärer Brustkrebs) zum Allgemeinen (sporadischer Brustkrebs) lag bereits in den Anfängen der BrustkrebsGenforschung; der Familiäre Brustkrebs erhielt seine Relevanz als Modell. Erst kürzlich wurde von US-amerikanischen Wissenschaftlern darauf hingewiesen, dass Dispositionen möglicherweise übersehen würden, wenn Frauen aus dem Familiären Raster hinausfielen, wenn in ihren Familien keine Erkrankungen vorkommen (siehe GID vom August 2007: 34).

Auf das Wort kommt es an In der Anlage zum Vertrag heißt es zum Inhalt: „Die gynäkologische Beratung umfasst die gynäkologische Anamnese sowie die klinischen Konsequenzen und Besonderheiten, die sich aus einer genetischen Analyse der Gene BRCA1 und BRCA2 oder einem statistisch erhöhten Risiko für erblichen Brust- und Eierstockkrebs ergeben können“ (Anlage 3.2. Gynäkologie).

Was in dieser formalen Krankenkassen-Bestimmung unsichtbar bleibt, ist die zentrale Bedeutung des Gesprächs: Zuhören und erspüren, wie man helfen kann und wo das Problem liegt (Speiser 2007: 2). Ebenso wie in der Humangenetik ist es ein Ziel, der Patientin ein gutes Gefühl zu geben, sodass sie erleichtert aus dem Sprechzimmer gehen kann, „sei es im Gespräch oder durch eine gute Untersuchung“ (Speiser 2007: 5). 286

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Neben dem Stammbaum und technischem Gerät, wie dem Ultraschall, wird „ganz viel mit Worten“ (Grau 2006: 1) gearbeitet. Das bezieht sich nicht nur auf die erste Beratung. Das Wort (im Gespräch) bleibt neben der Hand (in der Früherkennung) ein wesentlicher Bestandteil des Programms. Während es auf dem Papier eine Aufgabenteilung zwischen den beiden Beratungen gibt, scheint es in der Praxis dagegen so zu sein, dass die Ratsuchenden „zwei Mal mit dem vollen Programm konfrontiert werden“ (Speiser 2007: 3). Mein Eindruck ist, dass es erstens von der jeweiligen Beratungssituation abhängt, zweitens von der Kompetenz der Beratenden und drittens eben auch von der Reihenfolge der Beratungen, was wann wo gesagt wird. Während es manche Dinge gibt, die eher in den Bereich der jeweils anderen Disziplin verwiesen werden, sind andere Dinge an beiden Loci zu Hause. Die disziplinären Grenzen innerhalb der Doppelstruktur sind im Beratungsalltag überhaus vage. Eine neue Form quer zu den Disziplinen existiert noch nicht. Aber mir scheint, dass der sichere Boden disziplinärer Besitzstände ins Schwanken gerät. Da das familiäre Update des Stammbaums eine Angelegenheit des Früherkennungsprogramms ist, bleiben beispielsweise die Brustkrebs-Gene integraler Bestandteil der gynäkologischen Untersuchungen und eben nicht der Humangenetik.

Wer schließt ein? Im Anschluss an das Gespräch wird ebenso wie nach der humangenetischen Erstberatung ein Beratungsbrief verfasst. Dort ist zu lesen: „Da eine genetische Belastung für das Auftreten von Mamma- und/oder Ovarial-Karzinomen vorliegen könnte, haben wir Sie in unser Programm zum familiären Brust- und Eierstockkrebs aufgenommen, welches durch die Deutsche Krebshilfe und die Krankenkassen unterstützt wird“ (Textbaustein aus einem Beratungsbrief 2006).

Die Möglichkeit zur strukturierten Früherkennung wird angeboten. Der Einschluss in das Programm erfolgt laut Vertrag §3 mit den Krankenversicherungen, wenn entweder eine pathogene Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2 gefunden werden konnte oder wenn eine Hochrisikosituation definiert wurde: lebenslanges Erkrankungsrisiko von größer/gleich 30 Prozent und einem Heterozygotenrisiko von größer/gleich 20 Prozent nach Cyrillic. Höchst verwirrend für einen Beobachter ist, dass auf der einen Seite der Einschluss in die Früherkennung eigentlich nur entweder durch die Gendiagnostik oder durch die Berechnung erfolgen kann, auf der anderen Seite aber das Angebot gemacht wird, ohne 287

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auf die Cyrillic-Wahrscheinlichkeiten zu warten. Das Format der Doppelberatung ist vermutlich in der Zeit meiner Beobachtung so unsicher, dass es zu interdisziplinären Reibungen kommen muss. Welche Form sich durchsetzten wird, scheint eine noch nicht ausgemachte Sache zu sein. Erst die Zahlen, dann die Früherkennung oder Früherkennung ohne Zahlen? Gewinnt der Stammbaum oder die Wahrscheinlichkeit? Für die Gynäkologinnen besitzen die errechneten Wahrscheinlichkeiten im Berufsalltag keine große Bedeutung. Zwar haben die festgelegten Schwellenwerte sehr wohl eine Relevanz, aber selbst diese wird von Christel Grau als fragwürdig betrachtet: „Ich weiß, dass die absolute Risikoziffer in einem gewissen Sinne zufällig entstanden ist. Deswegen habe ich auch überhaupt kein Problem damit, eine Familie mit vier Betroffenen und einem Risiko von 29,5 Prozent empirischem Erkrankungsrisiko nach Chang-Claude als Hochrisikopatientin zu betreuen. Das sind keine 30 Prozent Erkrankungsrisiko und trotzdem fasse ich die zusammen und streite mich mit jedem, der das anders sieht“ (Grau 2006: 16).

8.2.1 Angekommen: Strukturierte Früherkennung (lebenslang?) Ziel dieses Programms ist es nach §2 Ziel der Vereinbarung, Frauen mit einem hohen Erkrankungsrisiko zu identifizieren, das tatsächliche Risiko festzustellen und Tumoren in einem möglichst frühen Stadium diagnostizieren zu können um den Verlauf der Erkrankung günstig beeinflussen zu können. Hochrisikopatientinnen sollen kontinuierlich betreut werden. Aber man kann niemanden zur Teilnahme an einer jahre- oder lebenslangen Kontrolle zwingen: „Ich kann das natürlich nicht verhindern, weil das letzten Endes immer die Entscheidung der Patientin ist, ob sie kommt oder nicht. […] Aber es gehen ja auch nicht alle regelmäßig zum Zahnarzt oder zum Gynäkologen“ (Grau 2006: 11). Auf der einen Seite wird von Seiten der Ärztin die Eigenverantwortlichkeit des PatientenSubjektes betont. Disziplinierende Maßnahmen wie Drohungen „Sie müssen, sonst fliegen Sie hier raus“, versucht sie zu vermeiden. Das bedeutet aber nicht, dass die Haltung gegenüber der Entscheidung einer Patientin eine neutrale wäre. Patienten, die „lost for follow up sind, vor allem Mutationspatientinnen“ (Grau 2006: 19), machen unzufrieden. Um die Kontrolle der eingeschlossenen Personen zu optimieren, wird die Notwendigkeit eines Abrechnungssystems betont, welches beispielsweise das Fehlen einer Patientin automatisch anzeigt und so die Möglichkeit gibt, direkten Kontakt mit der Person aufzunehmen. Noch 288

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existiert solch ein elektronisches Kontrollwerkzeug nicht, aber ich denke es ist eine Frage der Zeit und des Geldes, bis es zu Optimierungen der Datenkörper und ihrer Verwaltung kommt. Auf der anderen Seite wird der Entscheidungspfad deutlich von Seiten der Krankenversicherungen gelenkt: Eigenverantwortlichkeit und Kontrolloptimierung sind gut, Disziplinierung ist deshalb keineswegs abzuschaffen. Es ist vertraglich festgelegt, dass die Früherkennungsmaßnahmen regelmäßig durchgeführt werden müssen. Eine zweifache Nichtteilnahme führt zum Ausschluss aus dem Programm. Die Ratsuchende ist im disziplinierenden Milieu der Klinik verhaftet, in welchem eigenmächtiges Handeln mit Strafe (also der Ausschluss) bedroht wird. Aber während die Klinik den Menschen gemeinhin entlässt und er seinen Patientenstatus abstreifen kann, bleibt die Ratsuchende/Patientin Teil eines möglicherweise lebenslangen Kontrollmilieus. Meines Erachtens ist es eine wesentliche Frage, inwieweit die Inklusion in solch ein Pogramm funktionieren kann. Wir müssen uns vorstellen, dass die Früherkennung pro Jahr zwei Untersuchungen vorsieht: Sonographie halbjährlich und jährlich Mammographie beziehungsweise MRT. Dazu können weitere Untersuchungen zur Abklärung kommen, abgesehen von operativen Maßnahmen und auftretenden falschpositiven Befunden. Zur Untersuchungsdichte kommt hinzu, dass die Zentren nicht für alle gleichermaßen gut zu erreichen sind. Dies bedeutet, es wird die Bereitschaft zur Mobilität abverlangt, da vorgesehen ist, dass Brustuntersuchungen mittels Sonographie und MRT in jeweiligen Zentrum durchgeführt werden müssen. Bislang liegen keine Erkenntnisse darüber vor, wie stabil die Personen im Programm bleiben. Meine Vermutung wäre, dass die alte klinische Form inklusive ihrer wenig mobilen Technologien nicht einer solchen lebenslangen Früherkennung gerecht werden kann. Ein lebenslanges Kontrollsystem erfordert andere institutionelle Formen als die alten und trägen Formen der Disziplinarmacht, wie beispielsweise die Institution Klinik. Gleichzeitig scheint es mir wichtig, Selbst-Technologien, die auf das eigenverantwortliche Subjekt zielen, nicht gegen Disziplinartechnologien zu setzen, sondern vielmehr von ihrer Gleichzeitigkeit auszugehen.

Technische Bilder und prophylaktische Operationen In den Anlagen zum Vertrag ist ausführlich dargelegt, welche Maßnahmen wann zu erfolgen haben. Dies gilt sowohl für Früherkennungsmaßnahmen als auch für prophylaktische Operationen, die allerdings nach §6 Kostenübernahme nicht Gegenstand der Vereinbarung sind, ebenso wenig wie eine minimalinvasive Diagnostik.

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Der Brustultraschall wird von der Gynäkologin des Zentrums durchgeführt. Die Patientinnen kommen hierfür halbjährlich an das Brustzentrum. Der Einsatz dieser Technik hat jedoch neben dem erzeugten Bild noch eine andere Funktion: „Sie sehen, dass dieser Brustultraschall auch die Funktion hat, mit den Patienten regelmäßig zu sprechen und sie kontinuierlich zu betreuen“ (Grau 2006. 2). Seine diagnostische Qualität dagegen bewertet die Gynäkologin nicht sehr hoch, „weil alle Studien gezeigt haben, dass seine diagnostische Wertigkeit am geringsten ist“ (Grau 2006: 20). Neben den im Verlauf der Studie aufgetretenen verschiedenen Feldern technischen Handelns erweitert sich menschlichtechnisches Zusammenspiel um eine weitere Variante: Die Technik wird nicht nur ihrer ursprünglichen Bestimmung nach eingesetzt, sondern auch, um das zwischenmenschliche Gespräch zu ermöglichen. Sprechstunde – dieser Begriff erinnert an die Bedeutung des Wortes für das ärztliche Handeln. Aber es reicht nicht aus; ein Gerät muss den zeitlichen Aufwand eines zwischenmenschlichen Gesprächs legitimieren. Da der Ultraschall in seiner diagnostischen Aussagekraft als recht schwach begriffen wird, kommt es unweigerlich auf Seiten der Ärzte zu Leseschwierigkeiten. Diese können je nach Erfahrung der Ärztin abgemildert werden und unterschiedlich ausfallen. Das Gerät in seiner technischen Begrenztheit in Kombination mit der Übung des jeweiligen Arztes führt zu mehr oder weniger häufigen Absicherungsmaßnahmen durch Nutzung weiterer Geräte. In jedem Fall wird aber neben der Sonographie einmal im Jahr eine Mammographie beziehungsweise eine Magnetresonanztomographie durchgeführt. Die aktuell favorisierte, weil sensitivere Früherkennung erfolgt durch das MRT. MRT (Magnetresonanztomographie) auch MRI (Magnetresonanzbildgebung) oder Kernspintomographie genannt, ist ein bildgebendes Verfahren, welches in den letzten Jahren immer wieder als bessere Alternative zur Mammographie diskutiert worden ist. Eine aktuelle Untersuchung von 7300 Frauen, durchgeführt in einem Zeitraum von über fünf Jahren von Radiologen an der Universität Bonn, hebt die Überlegenheit dieses Verfahrens hervor (siehe www.ukb.uni-bonn.de); es ist sogar die Rede von einem Paradigmenwechsel in der Früherkennung von Brustkrebs, beziehungsweise von Brustkrebsvorstufen. Nur nebenbei will ich erwähnen, dass die Macher der Studie nicht ohne Stolz in einer Mitteilung auf der Internetseite der Universitätsklinik Bonn erwähnen, dass sie es bis auf die Titelseite der renommierten Zeitschrift Lancet (Band 370, 11. August 2007) geschafft haben – ein Erfolg im Kapitalkreislauf der Wissenschaften. Man muss darauf hinweisen, dass diese Studie einen Vorläufer hatte. 2004 war im Deutschen Ärzteblatt zu lesen: „Fünf Jahre lang waren 462 290

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Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko einmal jährlich mit verschiedenen Methoden (klinische Brustuntersuchung, Mammographie, Ultraschall mit hoher Auflösung oder MRI mit Kontrastmittel) gescreent worden“ (Junker 2004). Die damalige Empfehlung war, Hochrisikopatientinnen aufgrund der besseren Ergebnisse mit MRT zu untersuchen. Für Frauen mit normalem Risiko hingegen würde es keinen Unterschied zwischen den Ergebnissen beider Verfahren geben. Auch in Bezug auf die Entwicklung bei zeitgleicher Anwendung von Screening-Technologien muss man also sagen, dass der familiäre Brust- und Eierstockkrebs ein Experimentalfeld darstellt. Der Weg über die Brustkrebs-Gene führt zu technologischen Entwicklungen von Screening-Verfahren bei sporadischen Krebsen. Allerdings kommt es nicht unmittelbar zu einem Austausch der Verfahren. Mammographie gegen MRT auszutauschen sei gegenwärtig aus zweierlei Gründen utopisch: Erstens ist die Technologie sehr viel teurer. Ein MRT kostet ca. 600 Euro, eine Mammographie dagegen nur 65 Euro. Zweitens dauert ein MRT ca. eine halbe Stunde, eine Mammographie dagegen nur eine Minute (siehe Dambeck 2007). Eine Trennung zwischen Anwendung und Forschung erweist sich als obsolet. Dies zeigt auch ein Blick in die „nie zum Stillstand gekommene Innovationsgeschichte“ (Orland 2002: 246) der Magnetresonanztechnik. Entwicklung und klinische Erprobung ließen sich von Anbeginn an nicht voneinander trennen: „Innovation im Anwendungskontext“ (Orland 2002: 227). Interessanterweise waren es in den Anfängen Kinder, an denen diese neue Technologie in den 1970er Jahren klinisch erprobt und entwickelt wurde, und zwar aus dem einfachen technischen Grund, dass die meisten Magneten für Erwachsene ungeeignet waren. Im Bereich der Krebsfrüherkennung läuft die Entwicklung nicht über Kinderkörper, sondern über Frauenkörper. Von der Einführung in die Routinediagnostik zwar noch entfernt, zeigen die klinischen Studien, dass das MRT auf dem Weg ist, sich auszubreiten und vielleicht eines Tages die ganz normalen Bilder der Mammographie zu verdrängen. Dazu nur noch eine letzte Bemerkung: Magnetresonanztechnologien müssen nicht im Bild enden. Der ärztliche Blick oder die „Herrschaft des Sichtbaren“ (Foucault 1999b: 178) in der Medizin könnte sich verändern. Die Darstellbarkeit der Messdaten könnte auch eine andere sein. Und sowohl Magnetresonanztechnologien als auch die vorgestellte Stammbaumsoftware Cyrillic besitzen die doppelte Möglichkeit: Bild und Zahl.

Prophylaktische Operationen Prophylaktische Operationen sind keine Früherkennungsmaßnahmen, sondern Eingriffe in einen nicht erkrankten Körper. Ziel ist die Vermeidung von Erkrankung, aber die Operation ist nie ein Garant. Sprich: Ein 291

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Risiko wird trotzt OP immer bleiben. Die Empfehlung zur prophylaktischen Mastektomie und zur bilateralen prophylaktischen Oophorektomie (Entfernung eines oder beider Eierstöcke) bei Hochrisikopatientinnen wurde anfänglich in den frühen 1970er Jahren in den USA von Henry T. Lynch und Kollegen gegeben. Zahlreiche Studien folgten (siehe hierzu Hartmann et al. 1999, Meijers-Heiboer et al. 2001, Lynch et al. 2004, Bouchard et al. 2004, Narod/Offit 2005). Der wissenschaftliche Mainstream sagt gegenwärtig, dass die beiden genannten prophylaktische Operationen bei Hochrisikopatinnen die Wahrscheinlichkeit zur Brust- und/oder Eierstockkrebserkrankung reduzieren. Der chirurgische Eingriff bei Mammakarzinomen hat eine lange Geschichte. Während zum Ende des letzten Jahrhunderts die radikale Mastektomie (sie beinhaltet zusätzlich zur einfachen Mastektomie die Entfernung von Lymphknoten in der Achselhöhle) zu einer Standardoperation geworden war, schwächte sich die Radikalität zunehmend wieder ab. Heute ist es allgemein anerkannt, dass „most women with breast cancer can safely be treated with breast-conserving surgery instead of mastectomy“ (Eisen/Weber 2001: 207). Es ist bemerkenswert, dass im Zusammenhang mit den Brustkrebs-Genen, die ein Versprechen der Molekularen Medizin in sich tragen – „Dass man die Klinik nicht nur mit einem Messer betreiben kann, sondern auch von der Diagnostik her“ (Scherneck 2006: 38) – doch wieder chirurgische Eingriffe prominent werden, diesmal allerdings bevor sich der Brustkrebs oder der Eierstockkrebs überhaupt manifestiert hat. Bedingung der Möglichkeit dieser Vorverzeitlichung des chirurgischen Handanlegens ist der Einzug des Kranken in das Gesunde, das Werden einer pathogenen Signatur der Gene und damit des Lebens. Das Operieren am gesunden Körper kann gegenwärtig nicht als eine normale medizinische Praxis in der BRD gewertet werden. Aber sie ist eine sich normalisierende Praxis: „Reproductive organs are, in the final analysis, the embodiment of hereditary risk and as such become the site of intervention“ (Happe 2006: 181). In der Erstberatung (eventuell bereits in der humangenetischen Beratung) ist der Hinweis auf die Möglichkeit von prophylaktischen Operationen bereits Teil des Gesprächs. Aus Christel Graus’ Perspektive wird mit der Empfehlung zu prophylaktischen Operationen innerhalb der Zentren nach wie vor zurückhaltend umgegangen, wobei eine langsam zunehmende Befürwortung zu verzeichnen sei. Früher sei man extrem zurückhaltend gewesen, aber seit 2005 wird beispielsweise bei Mutationsträgerinnen eine Adnexektomie (ein- oder beidseitige, operative Entfernung von Eileiter und Eierstock) empfohlen, nachdem sowohl eigene Daten als auch internationale Studien gezeigt hätten, dass eine 292

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Früherkennung beim Eierstockkrebs nicht funktioniert und somit gilt: „Bei einer BRCA1 Mutation sollte man seine Eierstöcke definitiv nicht behalten“ (Grau 2006: 20). Entsprechend ist der transvaginale Ultraschall als Früherkennungsmaßnahme aus der halbjährlichen Untersuchung genommen worden. Früher ist besser und das heißt unweigerlich Operieren am Gesunden: „Jeder Brustkrebs, der entsteht, hat potentiell die Möglichkeit einer Metastasierung und es gibt auch ganz kleine Tumoren, die streuen. Wenn er da ist, ist er da. Dann ist die Möglichkeit der Prophylaxe verwirkt“ (Grau 2006: 6). Deshalb sieht sie ihre Aufgabe darin, Patientinnen von der Nützlichkeit der Operation zu überzeugen und sie im Vorfeld gut über die Konsequenzen einer solchen Operation zu informieren. „[…] und je besser die Frau drüber informiert worden ist, umso besser kann sie am Ende damit umgehen. Umso besser kann sie auch mit der Nebenwirkung, die sie erwartet, umgehen, von der sie ungefähr weiß, wie sie sich im Ernstfall dagegen wappnen kann“ (Grau 2006: 6). Auch wenn prophylaktische Operationen nicht Bestandteil des Vertrages mit den Krankenversicherungen sind, wird in den Anlagen zum Vertrag auf sie eingegangen. Erstens soll es ein obligater Gesprächsinhalt der gynäkologischen Beratung sein, dass bei Mutationsträgerinnen und Hochrisikopatientinnen eine prophylaktische Mastektomie das Erkrankungsrisiko für das Mammakarzinom um mehr als 90 Prozent senken würde und diese Operation „eine effiziente Option zur Risikosenkung“ (Anlagen zum Vertrag) sei. Für die prophylaktische Ovarektomie wird angegeben, dass sich mit der Operation das Ovarialkarzinomrisiko um mehr als 90 Prozent und das Mammakarzinomrisiko um rund 50 Prozent bei Mutationsträgerinnen senken würde, falls die OP prämenopausal erfolgt. Zweitens werden in den Anlagen die jeweiligen Indikationen, Voraussetzungen und Operationen genannt. Eine Indikation bei prophylaktischer Adnexektomie (sowohl Ovarien als auch Eileiter) ist ein abgeschlossener Kinderwunsch. In beiden Fällen gilt als Voraussetzung entweder der Nachweis einer Mutation in BRCA1 oder BRCA2 oder ein Hochrisiko. Drittens ist genau vorgegeben, dass die prophylaktisch entnommenen Organe im Rahmen einer Referenzpathologie standardisiert aufbereitet werden müssen. Ich kann nicht detailliert auf die Unterschiede zwischen Brust- und Eierstockkrebs und die jeweiligen Empfehlungen für Mutationsträgerinnen und Hochrisikopatientinnen eingehen. Insgesamt ist zu sagen, dass es von Angebotsseite (Klinik und Krankenversicherungen) die Befürwortung beider prophylaktischen Operationen gibt. Bei Mutationsträgerinnen und insbesondere bei Familiärem Eierstockkrebs geschieht dies von 293

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Seiten der Gynäkologie mit größerem Nachdruck, wobei auch Operationen von Nicht-Mutationsträgerinnen nicht ausgeschlossen werden. Von den Gynäkologinnen werden mit den Operationen einhergehende Probleme keineswegs ausgeblendet. Die Ärztinnen sind sich sehr wohl bewusst, dass Operationen zwar auf der einen Seite Leben verbessern/verlängern können, auf der anderen Seite aber auch Einschnitte in das Leben der Patientin bedeuten, die neue Belastungen nach sich ziehen können. Zwei Unterschiede zwischen den Operationen möchte ich nennen: erstens die divergierenden Möglichkeiten der Früherkennung. Der transvaginale Ultraschall zeigt keinen besonders positiven Wert, da die Technologie nicht in der Lage ist, früheste Stadien eines Tumors zu erfassen. Die prophylaktische Mastektomie besitzt aufgrund des sensitiven MRTVerfahrens scheinbar nicht solch eine Notwendigkeit zur OP. Es wäre zu untersuchen, welche Bedeutung die (Un-)Sichtbarkeit der operativen Folgen besitzt und inwieweit der symbolische Status der weiblichen Brust mit zur Empfehlungshaltung und zum Umgang in Bezug auf Operationen beiträgt. Zumindest wurde mir berichtet, dass im Gegensatz zur Adnexektomie die Mastektomie ein „ganz großes rotes Tuch“ (Speiser 2007: 27) sei. Fehlende Eierstöcke sind nicht am Körper sichtbar, eine fehlende Brust sehr wohl. Zweitens betreffen die beiden Operationen in verschiedener Weise Fragen der Reproduktion. Die Entscheidung zur prophylaktischen Adnexektomie wird an die Frage nach der Familienplanung der Frau gebunden. Die prophylaktische Mastektomie berührt zumindest auf der klinischen Ebene nicht die Reproduktion. Auch wenn prophylaktische Operationen zunehmend als Option angeboten werden, die Nachfrage muss nicht dem Angebot entsprechen. Im Gegenteil. Dorothee Speiser erzählt, dass prophylaktische Operationen wenig von den Patientinnen nachgefragt werden. Und Christel Grau führt an, dass dies nur logisch sei, da man sich normalerweise erst operieren lasse, wenn die Erkrankung aufgetreten sei. Es liegt also in der Hand der betreuenden Ärztin Überzeugungsarbeit zu leisten. Es seien häufiger betroffene Kolleginnen als andere Frauen, denn „die wollen das alles gar nicht hören“ (Speiser 2007: 27). Wohin geht die Entwicklung? Eine interessante Einschätzung erhielt ich von Mirjam Spiegel in der Humangenetik: „Ich denke, es wird zunehmen, je mehr hier in Deutschland allgemein plastische Operationen akzeptiert werden und wir sind auf dem besten Weg, wenn man sich die Fernsehshows der letzten zwei Jahre anschaut“ (Spiegel 2006: 12). Aus solch einer Perspektive muss man also prophylaktische Operationen nicht nur im Kontext der Pathologisierung weiblicher Geschlechtsorgane analysieren, sondern ebenso 294

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im Kontext plastischer Chirurgie und schönheitschirurgischer Interventionen (nicht nur) in den weiblichen Körper.

8.2.2 2007 – Das anwesend/abwesende Gen in der gynäkologischen Praxis „Wenn mich jemand fragt ,Bekomme ich denn jetzt Krebs?‘, kann ich nur sagen ,Sie haben ein Risiko von 47 Prozent. Aber ich kann Ihnen das nicht sagen, das wissen wir alle nicht. Da sind wir noch nicht so weit‘“ (Speiser 2007: 16). Wir sind in den Gefilden der medizinischen Praxis angelangt: Gynäkologische Früherkennung ist in der Regel Frauen in der Bundesrepublik Deutschland ein vertrautes Unternehmen. Der Einschluss eines besonderen Früherkennungsprogramms für Frauen aus Familien mit gehäuften Brust- und/oder Ovarialkarzinomen in diese medizinische Praxis scheint uns selbstverständlich zu sein. Wo ein erhöhtes Risiko vorliegt, muss Obacht, muss Beobachtung herrschen. Moment! Haben wir nicht gesehen, dass es gerade keine Selbstverständlichkeit war, sich institutionalisiert damit zu befassen, bevor die Gene BRCA1 und BRCA2 sequenziert wurden? Das Sehen im Stammbaum reichte vor 1994 nicht aus, um aus Familiärem Brust- und Eierstockkrebs eine Krankheit zu machen, die eines Programms zur Früherkennung bedurfte. Erst die BrustkrebsGene stießen das medizinische Programm an und in ihm entfalten sie ihre Konkretion am Körper. Der Beweis musste zunächst erbracht sein, schwarz auf weiß, damit der medizinische Apparat anspringen konnte – „Man braucht in der Medizin immer erst mal den Beweis. Dann kann man weitermachen“ (Speiser 2007: 30). Was ist das für ein Beweis, der sich in der Mehrheit der Fälle nicht erbringen lässt? Warum beweisen Brustkrebs-Gene, obwohl man „nur“ in ca. 30 Prozent der Testungen eine Mutation findet, mehr als ein Stammbaum? Weil der Stammbaum noch nicht die Ursache ist. Während jedoch beispielsweise Bakterien als Krankheitsursache ausfindig gemacht und bewiesen werden müssen, rückt an die Stelle der anwesenden/abwesenden Mutation ihre Wahrscheinlichkeit. Die Ursache ist eine angenommene und die enormen Mühen und Kosten ihrer Stabilisierung haben uns seit Beginn dieses Buches begleitet. Früherkennung mag uns normal erscheinen, Normalitäten und Normen sind aber nichts Naturhaftes. Was für ein Leben wird in einem Kontrollsystem gelebt? Die derzeitige Früherkennung macht aus gesunden Menschen Patientinnen. Die Hoffnung ist, dass mittels Früherkennung und prophylaktischen Operationen Lebenszeit gewonnen wird. Die Hoffnung auf einen Mehrwert Leben bedeutet die Transformation des Lebens auf der Kippe zwischen 295

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Gesundheit und Krankheit: Mehrwert bedeutet die Inklusion in einen medizinischen Apparat, der von seiner Form her kaum etwas anderes möglich macht, als die Ausweitung des Kranken in das Leben. Es gibt ein Innen und ein Außen, einen Ein- und einen Ausschluss. Klinik und Gen scheinen in ihrer Ordnung ähnlich zu funktionieren. Während sich aber das Gen durchaus in neue Formen hineinbewegt (vom Gen zum Pathway), scheint die Klinik in ihrer alten Form zu verharren. Risiken werden in der alten Ordnung zwischen Gesundheit und Krankheit verhandelt, wobei die prädiktive Medizin in Richtung des Kranken wandert. Die letzen beiden Kapitel haben gemein, dass ich in ihnen dem Gen an die verschiedenen Loci (Labor, Humangenetik und Gynäkologie) gefolgt bin. Weitere Beziehungen und Akteure/Aktanten innerhalb der Zentrumsstruktur sind nicht behandelt worden, beispielsweise die Radiologie, die Pathologie oder die zentrale Dokumentationsstelle des Verbundprojektes in Leipzig. Ich möchte die beiden Kapitel gemeinsam abschließen, indem ich auf einen letzten Aspekt zu sprechen komme, der mir im Hinblick auf die Frage nach dem Zusammenhalt der Loci wichtig erscheint: Interdisziplinarität.

8.3 Was heißt Interdisziplinarität? Die Arbeitsteilung zwischen den Loci innerhalb des Zentrums für Familiären Brustkrebs in Berlin ist eingefasst in eine übergreifende institutionelle Form (Verbundprojekt) und die bestehenden Beziehungen sind gegenwärtig in hohem Maße durch Vorgaben des Leistungsträgers (Krankenversicherungen) standardisiert. Einige Bruchstellen auf der glatten Oberfläche des Standards haben wir kennen gelernt. Sie erinnern daran, dass die enthaltenen Praktiken und Produktionsziele nie perfekt realisiert werden und man insofern im Auge behalten muss, dass Standards „in some sense idealized“ (Bowker/Star 2000: 15) sind. Standards zeichnen sich durch eine gewisse Stabilität aus, aber sie sind nicht fix. Standardisierung ist ein sehr mühsamer Prozess, an dem eine Menge an Akteuren/Aktanten beteiligt ist. Je stabiler ein Standard ist, desto unsichtbarer wird für den Betrachter der Aufwand, welcher nötig war und ist, um Stabilität zu erreichen. Wir haben im Verlauf der Studie erfahren, wie facettenreich das Zusammenspiel im Gefüge der Brustkrebs-Gene ist. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen wird von allen Befragten betont. Im Falle der untersuchten BRCA-Interaktionen liegt es nahe, von 296

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einer Art standardisierter und institutionalisierter Interdisziplinarität zu sprechen. Wobei der vage und vielfach bemühte Begriff der Interdisziplinarität für unser Untersuchungsfeld genauer zu bestimmen ist. Zur Frage der Interdisziplinarität einige Stimmen aus meinem Feld: „Ich finde, dass es ein Paradebeispiel ist, wie man arbeiten muss. Dass verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten, um zum Erfolg zu kommen (Scherneck 2006: 30). „Also ich denke, interdisziplinäres Arbeiten ist unendlich wichtig. […] Ich denke, der Austausch ist in unserem Rahmen relativ gut gewährleistet, was bei anderen vielleicht nicht so möglich wäre. […] Man ist effektiver, man bekommt neue Ideen, weil man aus einem anderen Blickwinkel mal darauf guckt und man kann besser agieren“ (Gimmel 2006: 24). „Eine sehr gute und enge Zusammenarbeit habe ich inzwischen mit der Humangenetik. […] Mit den Klinikern ist es ein bisschen schwieriger, aber ich denke, da ist der direkte Kontakt auch nicht wirklich wichtig. […] Und grundsätzlich würde ich sagen, finde ich den Gedanken der interdisziplinären Zusammenarbeit, den das Konsortium und die Deutsche Krebshilfe angestrebt haben, sehr gut“ (Meier 2006: 26f.). „In der Regel macht mir das Spaß. Ich arbeite gerne mit anderen Disziplinen zusammen, weil es für mich immer eine Bereicherung ist. Bei der Zusammenarbeit gibt es natürlich immer auch Reibungspunkte, wo man Sachen unterschiedlich sieht, zum großen Teil sind das eigentlich logistische Sachen, manchmal auch fachliche“ (Spiegel 2006: 45). „Die Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen funktioniert auf Zuruf eigentlich ziemlich gut. Das ist sehr angenehm. Und die Zentrumstreffen, die wir seit Jahr und Tag haben, funktionieren gut, weil da jede Disziplin ihre Probleme und Neuigkeiten darstellt“ (Grau 2006: 21).

Die Relevanz interdisziplinärer Zusammenarbeit scheint ein „sine qua non for clinical cancer genetics“ (Bourret 2005: 57) zu sein. Inter gilt als Qualitätsmerkmal in weiten Bereichen des großen Feldes der Life Sciences der Gegenwart. Und auch in anderen Forschungsfeldern ist Interdisziplinarität zu einem Kriterium der Förderungswürdigkeit von Forschungsprojekten geworden. Was aber meint das Zwischen den Disziplinen eigentlich? Stefan Beck merkt an, dass „nicht mehr nur das Verstehen des eigenen disziplinären Gegenstandsbereichs gefordert [ist], sondern auch ein Verständnis der Gegenstandsbereiche der Koopera297

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tionsdisziplinen und der in ihnen verwendeten Theorien und Methoden – ihrer divergierenden ,styles of reasoning‘“ (Beck 1997: 168f.). Ist es das Verstehen des Verstehensprozesses der anderen Disziplinen, welches das Inter des Verbundprojektes ausmacht? Was genau bedeutet Verstehen und was braucht es, um verstehen zu können? Ich habe die Interviews genutzt, um zu erfahren, wie viel man im eigenen Arbeitsalltag vom Arbeitsalltag der Anderen erfährt. Hier einige Auszüge. Was bekommen Humangenetik und Gynäkologie vom Ablauf der molekulargenetischen Diagnostik mit? „Nicht viel“ (Spiegel 2006: 47). „Nichts. Lange Wartezeiten. Die Patienten kommen hier an, sind schon in der Früherkennung und fragen mich, wann sie endlich ihr Ergebnis bekommen. […] Ich denke, ich sollte mal überall hingehen, dass ich mal in die Humangenetik gehe und sehe, wie es da läuft. Dann würde ich gerne in der Diagnostik gucken, was da überhaupt abläuft“ (Speiser 2007: 26). „Vom Ablauf der Diagnostik bekomme ich extrem mit, wenn sie zu lange dauert. […] Praktisch, was die Sequenzierautomaten machen oder die DHPLC, ich glaube ich bin noch nie da gewesen, habe noch nie vor so einem Automaten gestanden“ (Grau 2006: 23ff.).

Was erfährt die Tumorgenetik über Humangenetik und Früherkennung? „Da bekomme ich gar nichts mit. Gar nichts bekomme ich davon mit.[…] Es ist aber auch nicht schlimm, wenn ich es nicht mitbekomme, weil es eigentlich nicht meine Aufgabe ist“ (Meier 2006: 28). „Wenig. Ich weiß im Prinzip nur, was gemacht wird und was gemacht werden soll, wenn eine Mutation gefunden worden ist. Aber wie das Prozedere mit einzelnen Personen dann abläuft, das weiß ich nicht mehr“ (Scherneck 2006: 33). „Ganz wenig, ganz wenig. Eigentlich nur, wenn irgendetwas nicht klappt“ (Gimmel 2006: 25).

Was erfährt die Humangenetik von der Früherkennung? „Vom Praktischen her bekomme ich relativ wenig mit. Wo die Mammographie gemacht wird, wo das MRT gemacht wird. Sonographie manchmal, wenn ich mit der Gynäkologin was zu besprechen habe und sie gerade schallt, das bekomme ich dann schon mit. Aber ansonsten wenig“ (Spiegel 2006: 48). 298

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Interdisziplinarität wird von allen als wichtig erachtet, aber in der Regel weiß man nicht, was die anderen machen. Wie soll man Prozesse des Verstehens verstehen lernen, wenn man diese nicht vermittelt bekommen kann? Braucht Interdisziplinarität also die Möglichkeit, zum Erfahren, was im Konkreten passiert? Verstehen kann auf einer Seite bedeuten, dass man von Abläufen weiß. Es kann auch bedeuten, dass man vom Gegenstand weiß. Aber was ist das für ein Gegenstand, der, wie das Brustkrebs-Gen, in eine Erzählung gesteckt wird, die so glatt ist, dass sie in keiner Weise die Lebendigkeit von Wissens-Praktiken verrät? Was versteht man über Laborpraktiken, wenn man weiß, dass das Gen einem autosomal-dominanten Vererbungsmodus folgt? Oder wenn man auf einer technischen Ebene den Ablauf einer Sequenzierung versteht? Ich glaube, dass das Erfahren des Anderen der Schlüssel zum interdisziplinären Verstehen ist, will man damit ein disziplinäres Verhältnis beschreiben, welches mehr als eine bloße Worthülse ist. Die standardisierte Interdisziplinarität hat damit kaum etwas zu tun. Sie scheint vielmehr ein Begriff für eine effektive Ordnung der Arbeitsteilung zu sein. Eine Bedingung der Möglichkeit für interdisziplinäres Verstehen ist nicht nur von der individuellen Bereitschaft abhängig, sondern vor allem von der Zeitökonomie der Institution. Um Erfahrungen sammeln zu können braucht es Zeit. Und die ist ein knappes Gut. Den verknappten Zeithaushalt als „spezifischen Macht- und Herrschaftshaushalt“ (Narr 2003: 241) zu fassen ist notwendig, will man über dieses Phänomen nicht hinwegsehen. „Time is money“ – deshalb scheint es schwierig zu sein, ein solch zeitintensives Unternehmen wie „Erfahren und Verstehen lernen“ möglich werden zu lassen. Die Routinen des Alltags verschlucken die Zeit. Um Erfahrung sammeln zu können, braucht es Bewegung. Bewegung ist nicht nur körperlich sondern auch geistig zu verstehen. Die Zentrumstreffen setzen auf den ersten Blick Bewegung voraus. Doch wird sie mit Mobilität verwechselt. Oder anders formuliert: Man kann heutzutage problemlos und in hoher Geschwindigkeit von einem Ort zum anderen gelangen, ohne sich dabei bewegen zu müssen. Man trifft sich und trotzdem wird in der Auseinandersetzung sitzen geblieben. Das körperliche Sich-Zusammensetzen schließt ein gedankliches Fest-Sitzen nicht aus. Dass man sich an einen anderen Ort bewegt, muss noch lange nicht heißen, dass man sich gedanklich bewegt. Denn dafür braucht es Zeit, die abhanden gekommen ist. Damit soll die Wichtigkeit des räumlichen Zusammenkommens als eine Bedingung der Möglichkeit für interdisziplinäre Prozesse nicht abgetan werden. Im Gegenteil – solche Treffen gilt es zu institutionalisieren, um ihren Bestand zu gewährleisten. Ich habe leider nie die Gelegenheit erhalten, an einem der Berliner Zen299

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trumstreffen teilzunehmen. Wie ich erfahren habe, fanden sie – zumindest im Zeitraum meiner Forschungen – unregelmäßig statt. Mir scheint, dass man Treffen nicht nur institutionalisieren, sondern auch um ihren Erhalt ringen muss, damit sie nicht im Sog der disziplinären Zeitverknappungen und disziplinären Routinen untergehen.

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9. G E F Ü G E -S T I M M E N

Wie im Verlauf der Studie herauspräpariert werden konnte, haben alle Beteiligten einen ganz eigenen Bezug zu Brustkrebs-Genen, je nachdem in welche diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken die BrustkrebsGene jeweils eingebunden sind. Folgende Personen im Zentrum Berlin für Familiären Brustkrebs habe ich im Verlauf meiner Forschungen zwischen 2006 und 2007 interviewt: Mirjam Spiegel, Genetische Beratung „Mein Arbeitsalltag beinhaltet die genetische Beratung von Patienten.“ Marc Müller, Genetische Beratung „Also in der Brustkrebsberatung haben wir Ratsuchende, die sich vorstellen mit der Frage, ob aus ihrer Familiengeschichte irgendwelche Risiken für sie persönlich hervorgehen bezüglich genetischer Krebserkrankungen und eben Brust- und Eierstockkrebs. Ich habe dementsprechend mit den Ratsuchenden selber zu tun und im Anschluss mit den Familien. Dann mit den Patientenunterlagen natürlich und mit der entsprechenden Literatur.“ Christel Grau, Gynäkologische Beratung und Betreuung „Ich habe in meinem Arbeitsalltag hauptsächlich mit Patienten zu tun, die eine familiäre Mammakarzinom-Belastung haben.“ Dorothee Speiser, Gynäkologische Beratung und Betreuung „Es sind die Patienten und deren Nöte und Ängste, gerade in dieser Sprechstunde.“

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Siegfried Scherneck, Leiter der Tumorgenetik, Sprecher des Zentrums Berlin/Gendiagnostik (BRCA1/2) „Aber ich habe dazu noch die Aufgabe, die Sachen zu koordinieren, zusammenzufassen, niederzuschreiben. Es Leuten darlegen, um das publik zu machen.“ Verena Gimmel, Tumorgenetik, hauptsächlich Gendiagnostik (BRCA1/2) „Bei mir ist es die routinierte Abarbeitung der Proben, also der Patienten-DNA, die wir bekommen.“ Kerstin Meier, Tumorgenetik, hauptsächlich Leitung der Gendiagnostik (BRCA1/2) „Neben der Koordinierung des Laboralltags […] muss ich vorher die Stammbäume angucken, ob die überhaupt in die Diagnostik reinkommen dürfen. […] Ich werte in erster Linie aus und führe noch eine Qualitätssicherung durch. […] Dann schreibe ich einen Befund.[…] Nebenbei mache ich auch noch Forschung.“ Sabine Heinz, Tumorgenetik, Gen-Forschung im Bereich Brustkrebs „Im Augenblick sieht der Arbeitsalltag so aus, dass ich die Auswertung mache. Das heißt, es gibt technische Assistentinnen in der Arbeitsgruppe, die produzieren im Prinzip die Ergebnisse und ich werte die Ergebnisse aus.“ An allen beschriebenen Loci und je nach Eingebundenheit besitzt das Brustkrebs-Gen eine ganz eigene Materialität. Und doch ist es möglich, dass es zwischen den verschiedenen Loci zirkuliert und produktiv in einem Gefüge wirkt, welches Verbindungen schafft. Das Brustkrebs-Gen ist in institutionalisierte und standardisierte Abläufe eingefasst, die zwischen Stabilisierungen und Destabilisierungen, zwischen Wachsen und Schrumpfen hin und her schwanken. Die Komplexität des Gefüges gilt es nicht zu reduzieren, sondern sichtbar zu machen. Dies noch einmal deutlich werden zu lassen, ist Ziel der folgenden Versammlung jener Menschen, die mir dankenswerterweise ihre Worte gegeben haben. Es ist gleichsam als ein Rätsel „Wer sagt was?“ aufgebaut. Die Auflösung finden Sie am Ende des Kapitels.

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Was sind die Instrumente der eigenen Arbeit? 1. „Die Instrumente sind die, die die Mitarbeiter auch haben. […] Auch den eigenen Kopf gebrauchen und überlegen, wie man was zusammenfassen kann, was man weitermachen kann und wie man so ein Gen findet.“ 2. „Das Gespräch mit der Ratsuchenden um die Anamnese zu erheben. Dann ist der Stammbaum wichtiges Instrument mit dem man arbeitet. Dann die Software, um bestimmte Berechnungen zu machen, weil das sehr komplexe statistische Berechnungen sind, die mit der Hand eigentlich nicht mehr sinnvoll möglich sind. […] Die Befunde selber sind natürlich dann wichtig, um mit dem Patienten besprechen zu können, wie es bezüglich gewisser Risiken aussieht.“ 3. „In erster Linie arbeite ich mit dem Computer und mit den Augen, wenn das ein Instrument ist.“ 4. „Mein Kopf. Ich denke, ganz wichtig für die Gespräche […] ist Empathie. Kein Instrument eigentlich, sondern den Patienten zuhören und auch erspüren, was sie wollen, wie man ihnen helfen kann, wo das eigentliche Problem liegt. Und in dem anderen Teil der Sprechstunde ist es der Ultraschall, sind es meine Hände und meine Erfahrung in Anführungszeichen.“ 5. „Das ist hauptsächlich computerbasierend. Was man noch hat ist ein Leuchttisch, um sich die ganzen Gele anzugucken. Gelbilder, die man hat. Instrumente sind alle Geräte, die man braucht, um die Proben entsprechend zu bearbeiten.“ 6. „Instrument meiner Arbeit ist hauptsächlich der Stammbaum. […] Dann natürlich der Nachweis einer Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen. Ansonsten arbeite ich mit der klinischen Untersuchung, mit den radiologischen Untersuchungen, Mammographie, MRT, mit dem Ultraschall und ganz viel mit Worten.“ 7. „Die Pipette und mein Daumen, der im Moment ein bisschen nicht mehr mitspielt. Ansonsten die technischen Geräte, der Kapillarsequenzer, die DHPLC ist ein Instrument, PCR-Maschinen. Also die technischen Geräte und die Materialien, die chemischen Materialien.“ 8. „Meine Instrumente sind zum einen mein Kopf und meine Gesprächskunst, die ich hier in den Beratungen mit den Patienten anwende. Dann natürlich die klinische Untersuchung, die bei Brustkrebs nicht so einen großen Raum einnimmt. […] Dann die Benutzung der Computerprogramme zur Berechnung des Risikos.“

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Hat sich im eigenen Arbeitsbereich ein Standard etabliert? 1. „Standard wird ja immer wieder verändert, ja nachdem, was gerade an Methoden möglich ist. Man versucht ja den vorhandenen Standard qualitativ zu verbessern und zu erhöhen. In der Diagnostik ist es ein bisschen anders, weil da müssen viele Labore zu einer Aussage kommen. Also müssen alle den gleichen Hergang haben, die gleiche Methode nehmen.“ 2. „Also ein Standard hat sich definitiv nicht etabliert. So einen arbeitstechnischen Standard haben wir definitiv nicht. […] Wir haben vieles in eine Form gepresst und sind immer noch dabei.“ 3. „Bezüglich auf Brust- und Eierstockskrebsberatung ist es schon so, dass es sehr standardisiert ist. Es ist auch schon ganz klar, wer wird untersucht, unter welchen Kriterien wird wer zuerst untersucht, wer danach, was wird mit welchen Programmen ausgerechnet, wie werden die Briefe formuliert, damit möglichst einheitliche Aussagen deutschlandweit getroffen werden. Dass man sagen kann, dass die Qualität in allen zwölf Zentren gleich ist.“ 4. „Es gibt natürlich in jedem Experiment was Sie machen einen Standard, den Sie einhalten müssen. Und der Standard wird in der Regel von dem Produzenten beispielsweise von einem Kit festgelegt. […] Für die Testung gibt es natürlich einen festen Standard. Das geht schon damit los, dass man sagt, ich nehme den und den Kit zur Testung oder ich nehme das Gerät. […] Standard ist ein schwieriger Begriff für eine Routinearbeit, die von mehreren Leuten gemacht wird und die immer gleich gemacht werden muss.“ 5. „Da arbeiten wir dran. Es läuft eigentlich ganz gut, aber es gibt immer noch gewissen Schwierigkeiten. Also wir sind dabei noch mehr einen Standard zu etablieren.“ 6. „Ja, ich würde schon sagen. Es gibt ganz klare Richtlinien, wie wir vorzugehen haben. Es ist relativ klar, was wir mit den Leuten machen, wem wir welche Diagnostik anbieten, wie berechnet wird, also da gibt es auf alle Fälle einen Standard.“ 7. „Ich würde schon sagen, dass wir einen Standard haben. Der ist eigentlich auch relativ stark in den Anlagen zum Vertrag festgelegt. Das ist zwar manchmal ein bisschen päpstlicher als der Papst, aber im Grunde genommen hat das schon seinen Sinn.“ 8. „Da ist in den letzten Jahren ganz viel auf molekulargenetischer Ebene passiert, also der Arbeitsweise im Labor. Da haben sich gewisse Standards etabliert.“

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GEFÜGE-STIMMEN

Was bedeutet der Mensch in der Arbeit? 1. „Es wird immer weniger ein Mensch. Also ich denke, bis es bei uns ankommt, ist es sehr entpersonalisiert. […] Also der Mensch dahinter ist in dem Moment, wo ich die Probe bearbeite, nicht im Kopf. Das kommt dann, wenn man sich nach der Arbeit die Sequenz anguckt und dann sieht, dass da was drin ist.“ 2. „Er bedeutet nicht so viel, wie er einem Kliniker oder einem Humangenetiker bedeutet. Für uns ist er mehr oder weniger Träger eines Tumors. Oder er ist ein Mitglied einer Familie, die wir sammeln. Wir haben keine persönliche Beziehung zu den Patienten.“ 3. „Es dreht sich immer alles um den Patienten und wie er mit seiner Risikosituation umgeht, wie er mit dem Rezidivrisiko im Falle eines Indexpatienten, wie er mit dem Eierstockkrebsrisiko umgeht, wie er mit der prädiktiven molekulargenetischen Testung umgeht. Ich versuche immer mit der Patientin irgend eine Lösung zu finden, ohne sie zu drängen.“ 4. „Das ist natürlich das Zentrum der Arbeit, die Ratsuchenden als Personen. Denn die anderen Untersuchungen, sei es jetzt die Genetik oder eine statistische Berechnung, das ist mittelbar, das hat ja erst einen Wert, wenn es den Ratsuchenden irgendwie weiterbringt, wenn er dadurch Entscheidung treffen kann oder Vorsorgeuntersuchungen unternehmen kann, die ihm gesundheitlich weiterhelfen.“ 5. „Ich habe nur eine Patientennummer. Mit den Patienten selber habe ich gar nichts zu tun. […] Man ist eigentlich weit weg von der Krankheit. Man hat zwar den Zusammenhang, weil man etwas finden will, was dazu führt, dass man die Krankheit heilen kann, aber dadurch, dass man mit farblosen Flüssigkeiten arbeitet, sieht man das Elend, was so eine Krebserkrankung hervorruft, nicht.“ 6. „Eigentlich abstrahiert man das völlig. Man denkt in dem Moment, wo man mit den Proben arbeitet oder die Auswertung macht nicht darüber nach, wer jetzt direkt dahinter steht. […] Wenn ich einen Befund schreibe und wenn ich den Namen und das Alter eintrage, dann bekomme ich einen anderen Bezug.“ 7. „Bei Familiärem Brustkrebs ist es so, dass es doch oft Patientinnen sind, die selber an Brustkrebs erkrankt sind, da kann man dann auch von einem Patienten sprechen, wobei ich als Genetiker die Leute ja nicht behandele. Von daher sehe ich sie für mich weniger als Patient, sondern doch eher als Ratsuchende, weil ich auch immer die gesamte Familie im Hinterkopf habe.“

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Im Arbeitsalltag: Welche Bedeutung hat das Brustkrebs-Gen? 1. „Es hat für mich eine große Bedeutung, weil es meine Arbeitsgrundlage ist. Also ich bearbeite die bekannten Gene und wir suchen nach neuen BrustkrebsGenen.“ 2. „Ich muss ganz ehrlich sagen, das ist mir noch ein bisschen fremd. Ich würde jetzt nicht von mir behaupten, dass ich schon richtig viel Bescheid weiß. Wie genau die Mutationen laufen, über die assoziierten Erkrankungen, wie Mutationen weitergegeben werden können, welche Exons und Introns und so weiter. In meiner Arbeit spielt es keine 100-prozentige Rolle, weil bei einem hohen Risiko ist es für mich irrelevant, ob es tatsächlich eine Mutation gibt oder ein 60-prozentiges Risiko nach Cyrillic. Weil im Grunde mache ich es nicht anders. Ich biete ihnen die intensivierte Früherkennung an.“ 3. „Na ja, erst mal finde ich es wichtig zu sagen, dass es keine BrustkrebsGene sind, sondern Gene, die, wenn sie verändert sind, ein Risiko für Brustkrebs bedeuten. Weil das Gen haben wir alle, das habe ich, das haben Sie und für mich individuell eine Bedeutung hat es einfach, weil es eine Möglichkeit ist, für eine zwar kleine Gruppe der Population Untersuchungen machen zu können, die wirklich auch klinische Konsequenzen haben.“ 4. „Das ist natürlich sehr relevant für alle. […] Man kann darauf aufbauend neue Studien finanzieren. Das ist ja immer das erste, was man braucht. Also man bekommt Geld und das bekommt man nur, wenn man publiziert. […] Auf der anderen Seite ist es natürlich sehr relevant für die Familien. Das steht an erster Stelle. Also für die entsprechenden Betroffenen, die eine Mutation aufweisen.“ 5. „In meiner Arbeit nimmt es einen großen Raum ein, weil einfach die Beratungen so einen großen Raum einnehmen. Ansonsten ist es für mich ein Gen, wie viele andere Gene auch, die für eine bestimmte Erkrankung verantwortlich sind.“ 6. „Das hat einfach die Bedeutung, dass ich damit ein einzelnes von vielen möglichen Risiken im Leben genauer klassifizieren kann.“ 7. „Für mich ist es meine Arbeitsgrundlage. Meine Forschungsgrundlage. Das ist natürlich irgendwo ein bisschen absurd. Eigentlich ist es ein Gen, was genau das Gegenteil bewirkt, nämlich, dass es die DNA repariert, also das Protein. Nur wenn es kaputt ist, kommt es zu einer Krankheit.“

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GEFÜGE-STIMMEN

Krankheit in der Arbeit 1. „Für die Arbeit im Labor ist Krankheit das Objekt, an dem ich arbeite, im speziellen Fall der Tumor.“ 2. „Aber ich versuche natürlich schon primär, wenn jemand gesund ist, möglichst ihn dahingehend zu unterstützen, dass wenn eine Erkrankung auftritt, diese so wenig negative Konsequenzen wie möglich hat, dass man frühzeitig was gegen diese Erkrankung machen kann. […] Ich würde eine genetische Disposition nicht als Krankheit bezeichnen.“ 3. „Krankheit spielt hier nicht so eine Rolle. Wir abstrahieren da natürlich.“ 4. „Als Mediziner hat man natürlich immer irgendwelche Definitionen von Krankheit im Kopf, Definitionen der WHO oder ähnliches. […] Mit der Definition der Krankheit ist es schwierig. Jedenfalls wäre für mich wahrscheinlich, wenn ich selber betroffen wäre, das Vorhandensein einer Mutation in einem der beiden Gene für Familiären Brustkrebs quasi wie eine Krankheit zu werten, auch wenn ich selber nicht krank bin. Weil es mein Leben, wenn es mich selber beträfe, entscheidend beeinflussen würde, was Familienplanung anginge, was, wenn ich es früh genug wüsste, vielleicht auch die Berufswahl anginge, was die Konsequenzen hinsichtlich prophylaktischer Operationen anginge. Ich würde mich wahrscheinlich als Mutationsträger krank fühlen.“ 5. „Im Grunde besteht meine Arbeit ja daraus. Obwohl das hier ja eine Früherkennungssprechstunde ist und wir eigentlich Krankheit vermeiden wollen, trotzdem hängt auch in dieser Sprechstunde die Krankheit, das Karzinom, wie ein Damoklesschwert über allem.“ 6. „Es ist für mich nicht so, dass ich, weil ich hier arbeite, immer die Krankheit vor Augen habe. […] Ich denke, dafür bekomme ich zu wenig von den kranken Menschen selber mit.“ 7. „Ich würde sagen, Krankheit ist immer negativ besetzt, egal ob in der Arbeit oder zu Hause. Obwohl ich ja dann Proben von den Kranken oder Betroffenen bekomme, sehe ich es trotzdem negativ.“

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Haben Sie sich Zeit genommen und ist Ihnen die Zuordnung gelungen? Welche disziplinären Differenzen konnten deutlich identifiziert werden? Wo verschwammen die Grenzen?

Auflösung: Was sind die Instrumente der eigenen Arbeit? 1. Scherneck, Tumorgenetik, 2. Müller, Humangenetik, 3. Meier, Tumorgenetik, 4. Speiser, Gynäkologie, 5. Heinz, Tumorgenetik, 6. Grau, Gynäkologie, 7. Gimmel, Tumorgenetik, 8. Spiegel, Humangenetik Hat sich im eigenen Arbeitsbereich ein Standard etabliert? 1. Heinz, Tumorgenetik, 2. Gimmel, Tumorgenetik, 3. Müller, Humangenetik, 4. Scherneck, Tumorgenetik, 5. Speiser, Gynäkologie, 6. Spiegel, Humangenetik, 7. Grau, Gynäkologie, 8. Meier, Tumorgenetik Was bedeutet der Mensch in der Arbeit? 1. Gimmel, Tumorgenetik, 2. Scherneck, Tumorgenetik, 3. Grau, Gynäkologie, 4. Müller, Humangenetik, 5. Heinz, Tumorgenetik, 6. Meier, Tumorgenetik, 7. Spiegel, Humangenetik Im Arbeitsalltag: Welche Bedeutung hat das Brustkrebs-Gen? 1. Scherneck, Tumorgenetik, 2. Speiser, Gynäkologie, 3. Müller, Humangenetik, 4. Heinz, Tumorgenetik, 5. Spiegel, Humangenetik, 6. Grau, Gynäkologie, 7. Gimmel, Tumorgenetik Krankheit in der Arbeit 1. Scherneck, Tumorgenetik, 2. Müller, Humangenetik, 3. Meier, Tumorgenetik, 4. Spiegel, Humangenetik, 5. Speiser, Gynäkologie, 6. Gimmel, Tumorgenetik, 7. Heinz, Tumorgenetik

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10. S C H L U S S

Es heißt „Aller Anfang ist schwer“ – dass das Ende dem anfänglichen Ringen nicht im Mindesten nachsteht, ist weniger geläufig. Nach beizeiten recht turbulenten Passagen und glücklicherweise stetigem Vorankommen heißt es jetzt sinnvoll die Kunst der Verallgemeinerung zu üben. Zu Beginn der Studie waren mir die Komplexitäten des Konkreten in dem gewählten Wirklichkeitsausschnitt über Brustkrebs-Gene in Forschung und Medizin fremd. Mittels einer Analytik in Passagen gelang es, um auf die anfänglich erzählte Schiffspassage zurückzukommen, den Schiffsalltag mittels dreier Navigationshilfen – Bewegung, Relationalität und Werden – zu beleben, Wirklichkeit zu entfalten. Voll mit Sinnen des Besonderen, wider jedwede Eindeutigkeit oder Selbstverständlichkeit, galt es im Verlauf der Studie die Passagen-Übung wiederholend zu vollziehen. Nun ist die Quintessenz der unternommenen Anstrengungen zu ziehen und nach den Erträgen zu fragen. Zunächst werde ich in Siebenmeilenstiefeln die Passagen abschreiten. In Kurzformeln gebracht, besteht die Gelegenheit, die Studie Revue passieren lassen. Im Anschluss werde ich meine analytischen Bewegungen rekapitulieren und einige Überlegungen zum erhobenen und verwendeten Material anstellen. Aus den gewonnenen Einsichten verdichtend gilt es Destillate herauszufiltern und verallgemeinernde Überlegungen bezüglich ihrer Anschlussfähigkeit an größere Zusammenhänge unserer Gegenwart zu diskutieren.

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10.1 Kurzformeln Zweites Kapitel: Koordinaten für anstehende Passagen • Forschung findet nie in einem luftleeren Raum statt. Die Arbeitsgruppe Tumorgenetik befand sich am, nach der Wiedervereinigung aus den Forschungseinrichtungen der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch hervorgegangenen, Max-Delbrück-Cenrum für Molekulare Medizin (MDC). Als eine der ersten Gruppen in der BRD beteiligte sie sich an der Suche nach BRCA1 und baute Mitte der 1990er Jahre die Brustkrebs-Gendiagnostik mit auf. Es mussten nicht nur die institutionellen Begebenheiten existieren, in welchen sich die Arbeit der Tumorgenetiker entfalten konnte. Wichtig war die Aktivität einer Person, dem Biowissenschaftler Siegfried Scherneck, welcher die Arbeitsgruppe bis zu ihrem Ende 2006 leitete. Institutionen und Personen sind nicht nur mögliche Forschungsgegenstände, sondern sie schaffen unsere Forschungszugänge. Mein Glück, diese Gruppe als Forschungsfeld gewonnen zu haben. • In den 1980er und Anfang der 1990er Jahre erschien, angestoßen durch gentechnische Entwicklungen, das Brustkrebs-Gen als Gegenstand molekularen wissenschaftlichen Begehrens. Bedingung der Möglichkeit dafür war, dass ein bereits existierendes Wissen über Vererbung und Brustkrebs aufgenommen und dass eine Relation zwischen Familiärem Brustkrebs und Brustkrebs-Gen hergestellt und als wahr hingestellt wurde. So war das Brustkrebs-Gen bereits vor seiner Substanzwerdung Mitte der 1990er Jahre existent; anwesend und abwesend zugleich. • Der Familiäre Brustkrebs wurde wiederentdeckt. Indem er in die entstehenden Konstellationen der sich formierenden BrustkrebsGenforschung eintauchte, ein Gemisch aus Technologien, Akteuren/Aktanten, Begehren, diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, wurde er gleichzeitig zu einem neuen Gegenstand innerhalb dieser Bewegung. Der Familiäre Brustkrebs ist nicht immer und überall gleich gewesen und seine Existenz führte nicht immer zu denselben Maßnahmen und Effekten. Auch wenn die Dinge über Jahre denselben Namen tragen, sie können je nach den Beziehungen in denen sie stehen, etwas anderes sein! • Auf der einen Seite wurde eine wissenschaftliche Kontinuität hergestellt, indem man dem Familiären Brustkrebs und seine Beforschung mit Geschichtlichkeit ausstattete. Gleichzeitig wurde ein Bruch vollzogen: Lange Zeit haben Wissenschaftler versucht, die Ursache für den Familiären Brustkrebs zu finden, aber erst uns wird es gelingen. Kontinuität und Diskontinuität, Einschluss und Ausschluss: Die 310

SCHLUSS



Grenze wurde dort gezogen, wo das Gen in der Möglichkeit seiner Substanzwerdung dank Gentechnologie die Bühne betrat. Wissenschaft kann immer auch als genealogische Praxis verstanden werden. Eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird hergestellt. Dabei werden Verwandtschaftsverhältnisse (neu) geordnet. Familiärer Brustkrebs wurde nicht als zu behandelnde Krankheit relevant, sondern als Modell für die Forschung. Familiärer Brustkrebs ist in diesem Sinne keine Krankheit, beziehungsweise die Krankheit ist das Modell. Als Modell braucht es die Erkrankungen, da nur durch sie (Phänotyp) die mögliche Existenz einer genetischen Disposition (Genotyp) sichtbar wird. Es braucht demnach Familien; diese wiederum nicht im Sinne eines sozialen Zusammenhangs, sondern im Sinne biologischer Vererbung. Als Modell war der Familiäre Brustkrebs zum einen attraktiv, weil er zu Stammbäumen und Blutproben führte, beziehungsweise diese beiden Materialitäten am spezifischen Werden des Familiären Brustkrebses gleichsam beteiligt waren. Zum anderen war in das Modell die Annahme eingeschlossen, dass man die erhofften Erkenntnisse auf sporadische Krebse übertragen könne und in Verbindung mit gentechnologischen Entwicklungen zu Möglichkeiten der Gentherapie gelangen würde (Versprechen). Das Modell strebt vom Besonderen zum Allgemeinen. Das Leben im Gefüge der Brustkrebs-Gene flieht vom Familiären Brustkrebs hin zum Menschen mit sporadischem Krebs, hin zum Menschen in der prädiktiven Medizin, hin zum Menschen mit gesunden Genen. Das Wissen im Gefüge der Brustkrebs-Gene flieht von BRCA1 und BRCA2 hin zu neuen Brustkrebs-Genen, hin zu individuellen Gen-Profilen, hin zu gentherapeutischen Interventionen.

Drittes Kapitel: Beziehungen in (Un-)Ordnung • Ohne Forschungsmaterial keine Forschung. Dafür brauchte es Menschen als Quellen für Stammbäume und Blutproben. Der Kontakt über Ärztinnen und Ärzte erwies sich aus der Sicht von Scherneck als schwierig, weil diese nicht in dem Maße kooperiert haben, wie es zu wünschen gewesen wäre. Scherneck wunderte sich fortschrittslogisch, dass die Ärztinnen und Ärzte nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 nach wie vor nicht in gewünschtem Maße Interesse gezeigt hätten. Gleichzeitig zeigte man von sich aus kaum Interesse an der Arbeit dieser. Ein Dialog war von Anfang an fast unmöglich, weil man nicht gemeinsam handelnd wissen und wissend handeln wollte, sondern vor allem das Material begehrte. Was wäre ein Gewinn für die Ärzte vor Ort gewesen? Was konnte der Lohn für 311

GEN-PASSAGEN









die Lieferanten sein? Die Gesundheit der Patientinnen? Dort, wo die Ökonomie im Unternehmen Gesundheit Platz genommen hat, musste dies ein schlechter Austausch sein. Aus dem Gesagten folgt: Wissenschaftlicher Forschritt beinhaltet keinen Automatismus der Anwendung von neuem Wissen. Dagegen schien die über Medien vermittelte Kontaktaufnahme zu den Familien besser vonstattenzugehen. Sie setzte ein Familienwissen voraus, welches nicht deckungsgleich mit dem genetischen Wissen der Tumorgenetiker gewesen sein musste und wohl auch kaum war. Sprich, Vererbungswissen hat viele Facetten. Die gemeinsame Schnittstelle war die Häufung von Erkrankungen innerhalb einer Familie (Familienwissen) und die Setzung von Familie als biologischen Vererbungszusammenhang (genetisches Wissen). Vererbungswissen über Brustkrebs-Gene war und ist ein geschlechtsneutrales wissenschaftliches Wissen. Gleichzeitig wird dieses Wissen von vergeschlechtlichtem Vererbungswissen durchzogen und kreuzt sich mit dem Familienwissen um Brustkrebserkrankungen, welches wiederum von einem Wissen um die Verbindung von Krankheit und Weiblichkeit durchzogen wird. Man kann sich das Verhältnis zwischen dem disziplinären Vererbungswissen und dem Wissen um Krankheit und Geschlecht als einen inneren Ausschluss vorstellen. Krankheit und Geschlecht wurden in das Brustkrebs-Gen eingeschlossen und gleichzeitig aus dem Wissen um Vererbung als neutralem Vorgang ausgeschlossen. Aber das Eingeschlossene ist weder stumm noch ohne Einfluss, sondern es prägt in hohem Maße alles, was wir mit dem Gen verbinden. Das so entstandene Gemisch drückt sich im Namen aus: Brustkrebs-Gen. Die Krankheit und das Geschlecht sind darin Programm. Die scheinbar neutrale Signatur der Gene ist pathogen. Die molekulare Innovation Brustkrebs-Gen, die einen gewaltigen Schub innerhalb der prädiktiven Medizin versprach, zielte nicht zuerst auf die an Brustkrebs erkrankte Frau, sondern wurde am weiblichen Körper in der Verschaltung von Krankheit und Geschlecht möglich. Die verschiedenen Wissensmengen von Familien und Forschenden trafen sich nicht im Nichts, sondern in einem Gemenge aus dem Begehren der Forschung nach dem Brustkrebs-Gen (Wille zum Wissen) und der Erfahrung von Brust- und/oder Eierstockkrebserkrankungen in Familien (Wille zum Leben). Das gesponnene und vom anwesenden/abwesenden Brustkrebs-Gen zusammengehaltene Band war eines des Versprechens und der Hoffnung auf Hilfe oder Heilung. Es entstand ein ungleichzeitiges Austauschverhältnis, welches zwei Zeitökonomien zusammenprallen ließ: Die Forschung er-

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SCHLUSS



hielt ihr Forschungsmaterial in einer Gegenwart, wobei die Forschung zukünftig etwas für die Familien bringen sollte. Die auf eine Zukunft ausgerichtete Zeitlichkeit des Versprechens ist aus Sicht der Forschung Teil eines Wissens von Wissenschaftsentwicklung als Fortschritt in einer universalen und linearen Zeit. Augenfällig ist, dass damit nicht nur eine bestimmte Zukunft gemalt, sondern vor allem eine Gegenwart hergestellt wurde. Dies zeigte sich, als für die Tumorgenetik Unerwartetes passierte: Die Menschen, die ihr Blut gaben, wollten in ihrer Gegenwart etwas dafür zurückbekommen (Hilfe/Heilung). Im Kontakt mit den Familien begab man sich auf medizinisches Terrain und lehnte dies im selben Moment für sich ab (Trennung zwischen Forschung und Anwendung). Schon von Anbeginn an war jedoch Früherkennung ein gewichtiger medizinischer Teil des entstehenden Gefüges der Brustkrebs-Gene. Eine Trennung zwischen Medizin und Forschung hat es insofern kaum gegeben. Während jedoch das Mehr-Wissen der Forschung auf eine Zukunft projiziert blieb, sickerte das Versprechen auf Mehr-Leben in die Gegenwart ein. Indem das Versprechen in die Gegenwart rückte, kam es zunächst einmal nicht zur Ausbreitung von gesunder Zeit, sondern von medizinisch kontrollierter Zeit. Davon freie Gegenwart schrumpfte: Früherkennung. Gleichzeitig blieb das Fortschrittsversprechen auf eine bessere Zukunft bestehen.

Viertes Kapitel: Brustkrebs-Gene INSIDEOUT • Die „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) von BRCA1 sollte nicht als Ereignis ohne Einbettung gesehen werden, reduziert auf den flüchtigen Moment im Jahr 1994, als es Forschenden gelang, BRCA1 zu sequenzieren. Angefüllt mit Versprechen und Erwartungen existierte das Gen vor seiner Existenz – anwesend/abwesend. Als solches war es die Bedingung der Möglichkeit von Institutionalisierungsbewegungen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kamen zusammen und bildeten ein Beziehungsnetz, weil man sich von der Kooperation einen Profit erhoffte. Alle gaben etwas in das BCLC (Wissen, Familien), in der Hoffnung, etwas aus der Gruppe zurückzubekommen. Das Forschungsmaterial bildete eine Währung, die je nach Qualität des Materials die eigene Position beeinflusste. Um die Familien bildeten sich wissenschaftliche Wahlverwandtschaften heraus und besonders gefragt waren jene, die gutes Material einbrachten. • Sowohl BRCA1 als auch BRCA 2 wurden jedoch nicht in den Reihen des BCLC sequenziert, sondern durch Forschungsteams unter 313

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der Federführung von Myriad Genetics. Eine prominente Entdeckungsgeschichte lautet: Skolnick und sein Team hätten in Konkurrenz zu anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die mit BRCA befasst waren, gearbeitet. Als privatwirtschaftliches Unternehmen schien Myriad Genetics innerhalb der Scientific Community großes Unbehagen zu bescheren. Das Patent auf Körperstoffe, und in unserem Fall auf BRCA1 beziehungsweise BRCA2, scheint das Sinnbild für die Ökonomisierung von Wissenschaft zu sein. Aber sind die Grenzen so leicht zu ziehen? Muss man nicht DEN MARKT vervielfältigen, anstatt ihn auf ein bestimmtes Begehren – den ökonomischen Gewinn – engzuführen? Wissenschaft ebenfalls in solcherlei Überlegungen einzubeziehen und nicht schlicht unter ein ökonomisches Kapital zu subsumieren, erscheint mir sinnvoll, um nicht in die dichotome Falle von Konkurrenz versus Kooperation zu geraten. Vom Großen (Forschungszusammenhänge) ins Kleine (Laborpraktiken) geschwenkt, habe ich schemenhaft einige der Bedingungen der Möglichkeit für die erfolgreiche Sequenzierung von BRCA1 skizziert: gutes Material (Stammbäume und Blutproben), produktive technische Bedingungen (die Wahl des Systems), ausreichend menschliche Ressourcen (Qualität und Quantität) und ein bisschen Glück. Laborarbeit ist ein komplexes Unternehmen. Obwohl nur gestreift, war zu sehen, was alles zusammenkommen musste, damit sich der Möglichkeitsraum öffnete, in welchem das Brustkrebs-Gen entdeckt/erfunden/konstruiert werden konnte. ANALYTISCHES UNWETTER AUF HOHER SEE: Wenn das Gen von seiner unmittelbaren Umgebung (Labor) abhängig ist und diese Umgebung wiederum Teil größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge ist, wie kann dann nicht nur das Werden des Gens anders als in der Sprache der Naturwissenschaften begriffen werden, sondern auch das, was unter dem Gen verstanden wird? Denkbewegung: Das Gen ist auf der einen Seite Mittelpunkt der mannigfaltigen Praktiken, die sich um es gruppierten. Auf der anderen Seite ist das Gen kein Mittel- sondern ein Kreuzungspunkt von Linien. Diese haben sich in den vorangegangenen Passagen verdichtet: Leben, Wissen und Geld. In der Faltung dieser Linien ließ ich ein Gefüge in der Form eines Dreiecks entstehen. So wurde aus dem Punkt, der kein Punkt, sondern eine Linienmenge ist, ein Gefüge. Das Gen als Gefüge ist mehr ein soziales Verhältnis, denn ein fixer Gegenstand. Die Frage war, was macht dieses Gefüge aus, was sind seine Besonderheiten und Merkmale? Leben, Wissen und Geld sind seine Linien, aber was konnte über ihre Spezifik im Gefüge gesagt werden? Sie al-

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le waren an ein MEHR gebunden: Mehr-Wissen, Mehr-Leben, Mehr-Geld. Das Kapital als „soziales Verhältnis“ (Narr 1988: 120) und die Behauptung Haraways, dass das Gen „a node of durable action where many actors, human and nonhuman meet“ (Haraway 1997: 142) bedeutet, rückten für mich im Gefüge zusammen. Damit hatte ich neben den Navigationshilfen Bewegung, Werden und Relationalität Linien gefunden, welche ich im Weiteren aufnehmen konnte, um die Passagen analytisch zu verdichten.

Fünftes Kapitel: Brustkrebs-Gene in Forschungsbewegungen • Nachdem BRCA1 und BRCA2 sequenziert worden waren, passierte Folgendes: BRCA1 und BRCA2 wurden zu sicheren Orten (technischen Bedingungen) für die Erforschung ihres „Innenlebens“: Mutationen, SNPs und UVs. Auf der einen Seite wuchs das Wissen um die beiden Gene, auf der anderen Seite schrumpften sie, weil sie nicht hielten, was man sich von ihnen versprochen hatte. Das Mehr an Wissen über Gene konnte das Nichtwissen über sie nicht reduzieren. Vielmehr nahm mit dem Wissen das Nichtwissen zu. Zudem musste die Hoffnung auf einen schnellen und erfolgreichen Brückenschlag hin zum sporadischen Krebs aufgegeben werden. Außerdem rückten Hoffnungen auf baldige gentherapeutische Anwendungen in die Zukunft. Die Substanzwerdung der beiden BrustkrebsGene, also ihre gentechnische Verfügbarmachung, schloss nicht den Spalt zwischen Erwartung und Erfüllung, sondern sperrte ihn weiter auf. Sie stellte einen enormen Forschungsattraktor für neues Wachstum dar: BRCAx • Die Mutation platzierte sich als bedeutende Gen-Figur im Zentrum des wachsenden Wissens über BRCA1 und BRCA2. Im Falle von Brustkrebs-Genen ist Mutation kein neutraler Begriff für Veränderung. Die Krankheit Brustkrebs und die eventuell krankmachende Mutation vermischten sich. Nun fand man aber nicht nur als pathogen eingestufte Mutationen, sondern auch eine ganze Reihe Veränderungen, von denen man nicht wusste, was sie in Bezug auf das Protein zu bedeuten hatten. Diese Veränderungen wurden als Unklassifizierte Varianten (UVs) bezeichnet. Neben Mutationen und UVs befinden sich zudem sogenannte Polymorphismen, auch SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) genannt, auf den Genen. Waren zunächst die Mutationen im Zentrum des forschenden Interesses, rückten die UVs und die SNPs nach und nach ins Zentrum vor; als hätte es einen pathogenen Sog gegeben, welcher von den Mutationen ausgehend die Polymorphismen erfasste. Anders formuliert: Auch

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das vermeintlich Normale konnte krank machen; man wusste es nur noch nicht. 2004 hatte man immer noch kein drittes Gen (BRCAx) gefunden. Da man offensichtlich mit der Suche nach neuen Genen an Grenzen stieß, musste etwas passieren. Entweder hätte man die Suche aufgeben können – was angesichts der erwarteten Mehrwerte (Geld, Wissen und Leben) vermutlich kaum in Betracht gekommen wäre, oder man hätte seine Forschungen neu ausrichten müssen. Genau das passierte. Das Brustkrebs-Gen blieb weiterhin ein noch zu wissendes und zu entdeckendes Ding, aber innerhalb sich verändernder technischer Möglichkeiten und neuer Denkbewegungen wandelte es sich in Pathways und SNP-Muster. Vom Gen zum zerstreuten Zustand, die Mitte schien überall! Dies zeitigte Effekte auf den als potentiellen Anwender vorgestellten Menschen. Jeder, und nicht mehr nur Menschen aus dem eingeschränkten Kreis von charakterisierten Familien, besitzt seine individuelle pathogene Signatur, die gleichzeitig normal ist, weil sie ihn von anderen Menschen unterscheidet.

Sechstes Kapitel: Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ • Mit der „Entdeckung/Erfindung/Konstruktion“ (Latour 1996: 107) der beiden Brustkrebs-Gene und den sich daran anschließenden vielfältig wuchernden Brustkrebs-Genforschungen, kam es in der Folgezeit nicht nur zu Ernüchterungen bezüglich der biologischen Wirkungsmacht der Gene, sondern auch zu zahlreichen Unternehmungen in der BRD, die sich schließlich 1997 zu einem Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ verdichten sollten. Die Klonierung und Sequenzierung von BRCA1 markierte einen zentralen Katalysator für Prozesse der Institutionalisierung medizinischer Brustkrebs-Gen-Praktiken, weil mit der Sequenzierung die gentechnologische Verfügbarkeit von BRCA1 und damit der Weg zur Entwicklung eines Gentests offen lag. • Familiärer Brustkrebs blieb nicht nur ein Modell für die Forschung im Labor, sondern wurde zu einem Modell, um die Etablierung und den Einsatz prädiktiver Medizin zu erproben und zu erforschen. Die Forschung wurde gleichsam Teil eines medizinischen Projekts, in dessen Gravitationszentrum sich die molekulargenetische Testung festsetzte. • Die Bedingung der Möglichkeit für das Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ war die Verknüpfung von BrustkrebsGenen und molekulargenetischer Testung in einem medizinischen, forschenden und – nicht zu vergessen – kommerziellen Zusammen316

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hang. Im Mittelpunkt des Ganzen zeichnete sich das Werden eines Subjektes der genetischen Diagnostik ab. In den, mittels des Stammbaums praktizierten, In- und Exklusionspraktiken wurde ein bestimmtes Patientinnen-Subjekt geschaffen: die betroffene, hilflose und, ob des Vorhandenseins von Testmöglichkeiten beziehungsweise von Testergebnissen, überforderte Frau. In der Institutionalisierung hervorgebracht, trug dieses entworfene Patientinnen-Subjekt gleichzeitig zum Werden der Institution bei, weil es das eigene forschendmedizinische Handeln nicht nur legitimierte, sondern es geradezu dringend erforderlich machte. Das Verbundprojekt brachte etwas Neues hervor: Die Etablierung einer medizinischen Praxis bei gleichzeitiger Inkluierung dieser in ein großes Experiment: Prädiktive Medizin. Im Verbundprojekt institutionalisierte sich eine medizinische Praxis der Prävention und eine molekulare Praxis der Gentestung im Labor. In der Institution des Verbundprojektes wurde die Erarbeitung, Etablierung und Praktizierung von Standards eine zentrale Aufgabe und gleichzeitig wirkten diese Prozesse formgebend auf die Institution und ihre Menschen ein. Oder anders formuliert: Institutionalisierung bedeutete Standardisierung und Standardisierung bedeutete Institutionalisierung. Beide zusammen ließen und lassen Dinge und Menschen auf spezifische Art und Weise entstehen.

Siebtes Kapitel Teil 1: Laborraum • Im Labor finden Prozesse der technischen Vermittlung statt. Ich habe über den „Hybrid-Akteur“ (Latour 1998: 35) PipetteHand berichtet. Die Hand verschmilzt mit der Technik. In der gemeinsamen Bewegung lässt sich kaum mehr von einem handelnden Subjekt und einem funktionierenden Objekt sprechen. Gemeinsam müssen sie Teil eines kohärenten Handlungsprogramms innerhalb der Gendiagnostik werden. In der Pipette verschwinden die Prozesse ihres Werdens und sind für uns unsichtbar. Ein Teil der Geschichtlichkeit der Pipette ist die der Zeitersparnis; sie verläuft von der Pasteurschen Glaspipette bis hin zur heutigen Pipettiermaschine. Es ist eine Geschichte der Arbeitsverteilung zwischen Mensch und Technik und es ist eine Geschichte ihres spezifischen Einsatzes: In der Tumorgenetik wird nicht von Hand pipettiert, weil eine Neuverteilung zwischen Mensch und Maschine nicht rentabel ist. Sprich, mit der Pipettiermaschine stellt sich nicht nur die Frage des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine, sondern auch zwischen Maschine und Mate-

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rial: Eine Automatisierung würde aus sich heraus einen Hunger nach Proben erzeugen. It´s like magic! Damit Laborabläufe funktionieren, sind Standardisierungen und Stabilisierungen notwendig. Nur sieht der Alltag alles andere als magic aus. Er ist durchsetzt und kontaminiert von diversen Störungen und Widerständen des Materials. Laborpraktiken bewegen sich zwischen Standards und Standardisierungen, zwischen Stabilisierungen und Destabilisierungen. Die Insignien der Diagnostik – Routine, Stabilität, etablierte Verfahren – werden in den Alltagspraktiken in ihrer Fragilität vorgeführt. Im Labor muss die Spannung zwischen den lokalen Ist-Zuständen und den innerhalb des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ angesetzten Soll-Zuständen produktiv umgesetzt werden. Bestimmte Störungen gilt es in den Alltag zu integrieren, weil sie nicht zu beseitigen sind, wie zum Beispiel die Tatsache, dass manche PCR einfach nicht gelingen will. Andere Störungen dagegen gilt es zu beseitigen. Dazu gehört in gewissem Maße die Störung Mensch. Er steht in Konkurrenz zur Maschine. Mehr noch, er erscheint fast wie ein antiquiertes Anhängsel eines automatischen Ablaufs: er ist langsamer und macht Fehler. Da die Maschine auf Masse zielt, scheint Folgendes zu passieren: Eine Bewegung vom dezentralen Menschen der Tumorgenetik zur zentralen Maschine der molekulargenetischen Testung. Der Patient ist im Labor. Das Material, die DNA, wird als Patient bezeichnet. Das Labor ein Locus, der über den Status des Menschen wahr spricht: Findet man eine Mutation oder nicht? Gleichzeitig wird in der Bezeichnungspraxis des Menschen als Patienten wahr gesprochen, noch bevor ein Testergebnis vorliegt. Allein die Tatsache, dass sich die DNA im Labor befindet, der Mensch also bereits über den Stammbaum eingeschlossen wurde, macht ihn zum Patienten. Das Merkmal der Erkrankung wird sekundär und auch das Finden einer Mutation scheint nicht den zentralen Ausschlag in der Sinngebung des Alltags der molekulargenetischen Testung zu geben. Vielmehr scheinen die 30 Prozent hinter den Prozessen von Standardisierung und Stabilisierung der Diagnostik zu verschwinden. Über den vorgestellten Patienten wird eine Beziehung im Begriff der Verantwortung zu ihm und damit zum Arbeitsgegenstand DNA hergestellt. Der Patient ist im Labor wegen der Effekte, die das Laborergebnis auf den Menschen haben wird – beides jedoch, Effekt und Mensch, sind vorgestellt. Gleichzeitig wird der Patient aus dem Laboralltag herausgereinigt. Die Probe wird abgearbeitet. Der Patient anwesend abwesend wird vom Alltag des Labors mit seinen Routi-

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nen verschluckt. Die Zweiheit des Brustkrebs-Gens, Mensch und Material zu sein, wird schließlich in den Erzählungen über die eigene Arbeit auf das Material enggeführt und das Gespenst, der vorgestellte Mensch/Patient vertrieben, herausgereinigt. So wird die Laborarbeit als neutraler technischer Vorgang dar- und hergestellt.

Teil 2: Maschinenraum • Die DHPLC im Alltag des Labors. Läuft eine Maschine, verschwindet alles, was nötig war, um sie zum Laufen zu bringen. Sie wird zu einer Black Box. Die DHPLC wurde in der Tumorgenetik als Methode etabliert. Ihre Lokalität ist erstaunlich. Während das Prinzip der Maschine immer gleich ist und die Reihenfolge der einzelnen Arbeitsschritte immer demselben Muster folgt, ist die Durchführung variabel und muss in jedem einzelnen Labor entsprechend angepasst werden. Man könnte meinen, dass es sich dabei um einen einmaligen Arbeitsaufwand handeln würde – wenn eine Maschine läuft, läuft sie. Doch auch wenn eine Etablierung lokal erfolgte, ist die DHPLC kein Selbstläufer. Menschliche Arbeit muss zu ihrer Stabilisierung geleistet werden, auch wenn diese hinter den Maschinen zu verschwinden scheint und oftmals unsichtbar wird. Aber Hightech vorgestellt als menschenarmes Unternehmen gibt es nicht. Doch kann diese menschliche Arbeit kaum lokal bewältigt werden. Die Komplexität der Maschine markiert die Grenze des lokalen Handelns und erweitert das Netz derjenigen, die in ihr Laufen involviert sind. Ein Beispiel ist der Wartungsvertrag, an welchem sich wiederum die Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung zwischen menschlichen Akteuren studieren lässt. • Vor allem trägt die DHPLC einen spezifischen Techno-Logos in sich: Je mehr die Maschine ausgelastet ist, desto besser. Sowohl ihr Stillstand als auch eine zu geringe Auslastung mit Proben verursachen Kosten. Ohne Menge keine Maschine. In der Umkehrung bedeutet das: Die Maschine läuft nicht nur zur Bearbeitung der Proben, sondern die Proben laufen gleichsam zur Kostenminimierung dieser Technik und zur Instandhaltung derselben. Sie ist also nicht neutral. In ihr wirkt der Logos des Kapitals und zwar in der Potentialität des Wachstums an Probendurchsätzen und der Kostenreduktion. Insofern „stecken bestimmte soziale Effekte in einem mehr oder minder großen Möglichkeitsspektrum in den Techniken selbst“ (Narr 2000: 42). • Maschinen können streiken. Ist hier ein Antropomorphismus, also eine Vermenschlichung der DHPLC am Werk? Dieses Reden über Technik lediglich als Projektion menschlichen Verhaltens oder 319

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menschlicher Eigenschaften auf ein nichtmenschliches Ding abzutun, scheint mit jener Haltung konform, welche auf der Unterscheidung zwischen nutzendem Subjekt und benutztem Objekt beharrt. Es ist der Versuch einer Trennung zwischen sich und der Technik, wobei diese Trennung ständig von den sinnlichen Erfahrungen mit der Technik durchkreuzt wird. Ich meine, dass jeder von uns schon einmal Technik mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet hat, wenn dies nicht sogar alltäglich geschieht. Das ist nicht lächerlich, sondern weist auf die tiefe Verwobenheit technischen Handelns mit Gefühlen hin.

Teil 3: Denkzelle-Diagnostik • Die molekulargenetische Testung ist Lese- und Schreibarbeit. Für den Einschluss einer Probe in die Testung wird nicht auf die Heterozygotenwahrscheinlichkeit (offizielles Einschlusskriterium) sondern auf den Stammbaum geschaut. Hier bedeutet Lesen ein geschultes Auge zu haben und zu wissen, was der Stammbaum sagt. Insofern ist der Stammbaum ein Passage- und Kontrollpunkt der Diagnostik. Viel entscheidender ist jedoch ein anderes Dokument: „Das allerwichtigste ist die Einverständniserklärung“ (Meier 2006: 6). Sie ist Bedingung der Möglichkeit, dass aus dem Material und dem Stammbaum Daten gewonnen, zentral gesammelt und ausgewertet werden dürfen. Das entwickelte einheitliche Dokumentationskonzept, die Entwicklung einer zentralen Datenbank sowie des elektronischen Datenerfassungswerkzeugs FamIS zur lokalen Dateneingabe in den Zentren deuten an, welch enorme Bestrebungen der Standardisierung und Klassifizierung von Körperdaten bestehen. Ein eigenes Feld von riesigen Datenmengen spannt sich auf. Jede einzelne unterschriebene Einwilligungserklärung leistet so ihren Beitrag zur Explosion von Daten. Ganz abgesehen davon, was es bedeutet, diese zu sinnvollen Informationen zusammenzuführen; wobei sinnvoll eine dehnbare und offene Größe ist. • Ist die Testung abgeschlossen, wird ein Befundbrief verfasst. Beratung und klinische Überwachung werden sowohl beim negativen als auch beim positiven Befund empfohlen. Entweder konnte eine genetische Disposition anhand der pathogenen Mutation identifiziert werden oder ihre Existenz kann aufgrund des aktuellen Wissenstandes nicht ausgeschlossen werden. Summa summarum sieht es folgendermaßen aus: In allen Fällen mit anwesender/abwesender Mutation wird eine klinische Behandlung gemäß dem individuellen Erkrankungsrisikos empfohlen. Die einzige Ausnahme sind Ratsuchende, die entlastet werden, wo also bei einer Indexperson eine Muta320

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tion gefunden wird und diese dann nicht in der DNA der Ratsuchenden vorhanden ist. Man könnte denken, dass es keine Probleme bei der Befundung von gefundenen Veränderungen gäbe. Schließlich existieren sowohl ein Klassifikationssystem als auch klare Vorgaben, was in einem Befundbrief zu stehen hat und was nicht. Aber selbst das erweist sich im Konkreten als trügerisch. Das Brustkrebs-Gen ist bevölkert von pathogenen Mutationen, SNPs und UVs, und was als krank oder gesund zu verstehen ist, ist eine offene Frage, die jedoch in einen Brief gepresst beantwortet werden muss. Während sich die Mutationen als stabile Entitäten in der Befundung erweisen, fällt das Urteil bei den UVs und den SNPs nicht leicht. Insofern ist das Klassifikationssystem nicht fix, sondern tendenziell mobil. Gleichzeitig muss mit ihm der diagnostische Alltag bestritten werden und dies erfordert ein Maß an Stabilität.

Teil 4: Denkzelle-Wissenschaft • Zum Forschen braucht es Material. Das Problem mit den Proben ist, dass es hiervon zu wenige gibt, beziehungsweise, dass zu viele Forschende etwas, beispielsweise von einem Tumor, haben wollen. Um dem Materialmangel Abhilfe zu schaffen, wird zentralisiert und kooperiert. Die Zentralisation von Daten ist Teil des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“. Neben Datenbanken treten Materialbanken. Die unwandelbaren Mobile streben zur Zentralisation. Doch damit nicht genug: Informationen müssen aktualisiert werden. Es reicht nicht, einmal eine Probe oder einen Stammbaum bekommen zu haben. Das Sammeln und Aktualisieren ist ein offenes Projekt, welches einer lebenslangen Form der Kontrolle und damit zusammenhängend entsprechender institutioneller Formen und Technologien bedürfte. • Forschung ist ein Leben der Forschenden in Endlosschleifen. Dort, wo man etwas weiß, erfährt man im nächsten Atemzug oder bei der nächsten Internetrecherche, dass die Dinge nicht so liegen, wie man glaubte. Mit dem Wissen wächst das Nichtwissen. Eine Ambivalenz, die erschlägt. Die Schrankenlosigkeit des Erfahrbaren führt zu dem Paradox, dass es nie genug sein kann. Wo nur noch Wachstum regiert, hat das Schrumpfen keinen Platz mehr, ist der Kreislauf durch den Fortschritt ersetzt, in welchem ein Innehalten den Positionsverlust im wissenschaftlichen Wettbewerb bedeuten kann. • Die Frage lautet dann: Wohin wird geschritten? Wer Wissenschaft betreibt weiß, wie wichtig zum Beispiel Veröffentlichungen sind. In jeder Bewerbung fungiert die Publikationsliste als Beweis für das 321

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wissenschaftliche Kapital und die Kreditwürdigkeit des Forschenden. Was sich zu Geld machen lässt, ist eine zentrale Frage. Neues entsteht nicht voraussetzungsfrei, sondern ist eingebunden in ein System der Rentabilität. Wird nichts Neues gefunden, vergeht zu viel Zeit, und wird zuviel investiert, dann steht man früher oder später vor dem Konkurs. Ein Alltag, der prinzipiell durch eine Verknappung der Zeit charakterisiert ist. „Just-in-time-production ist politisch ausgeschlossen“ (Narr 2003: 256); dies gilt auch für die Wissenschaft, weil Handeln Zeit braucht, Denken braucht Zeit. In unserer „beschleunigungssüchtigen Jetztzeit“ (Weis 1997: 160) ist der Kairos nicht zu be- und ergreifen. Das Gefühl der eigenen Haltlosigkeit wird wissenschaftsdynamisch absorbiert und muss in seiner temporären Ausdehnung dem Alltagsgeschäft weichen. Wissenschaft scheint zu einer Angelegenheit von Wissenschaftsmanagement zu werden.

Achtes Kapitel Teil 1: Humangenetik • In der Humangenetik wird darauf Wert gelegt, dass es sich bei den Beratenen nicht um Patienten und Patientinnen, sondern um Ratsuchende handelt. Ebenso wie im Labor, ist man sich auf der einen Seite bewusst, dass die Bezeichnungspraxis „Patientin“ beziehungsweise „Patient“ nicht richtig ist. Gleichzeitig rutscht sie immer wieder in den Alltag. Die Begriffe wirbeln durcheinander: Ratsuchende, Patienten, Ratsuchende… Man kann daran sehen, wie kompliziert es ist, mit etwas Neuem im Alten umzugehen. Der Mensch in der Klinik ist Patient. Nur hat sich seine Erkrankung in der prädiktiven Medizin verflüchtigt. Die prädiktive Medizin besitzt zwar bereits neue Begriffe für den Menschen: Er ist ratsuchend und/oder Index. Gleichzeitig ist und bleibt er (noch) Patientin und Patient. • Ein zentraler Arbeitsschritt besteht in der elektronischen Erfassung mit Cyrillic. Cyrillic ist erstens ein Programm zur Erstellung von Stammbäumen und zweitens zur Risikokalkulation. Wie wir schon bei der DHPLC sahen, sind Nutzungsmöglichkeiten nicht nur rechtlich vorgegeben, sondern auch in die Technologie selbst eingelassen, technisches Handeln wird maßgeblich von der Technologie vorgeschrieben. Berechnungsergebnisse hängen somit nicht nur von der technischen Entwicklung ab, sondern auch von der Entscheidung, was in die Programmierung eingeht, welches Wissen wie in eine Software umgesetzt wird. Das Geschlecht im Techno-Logos: Die männliche Linie wird von Cyrillic nicht gleichermaßen berücksichtig wie die weibliche Linie der Vererbung. Bis in die Programmierung 322

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der Software hinein führt die Vergeschlechtlichung der geschlechtsneutralen Vererbung. Die in der computergestützten Analyse berechneten Zahlenwerte sind die entscheidende Voraussetzung für den Einschluss in die Früherkennung, unabhängig von der möglichen Feststellung einer Mutation. Falls also eine Gendiagnostik bei einer Indexpatientin vorgenommen wird und keine Mutation gefunden werden kann, dann hat die Ratsuchende trotzdem einen Zugang zur Früherkennung, wenn das Heterozygotenrisiko der Ratsuchenden größer als 20 Prozent und das Lebensrisiko größer als 30 Prozent ist. Die Mutation mutiert zu einer Zahl. Den Begriff der Geständnisarbeit aufnehmend kann die humangenetische Beratung in einem vierstufigen Prozess vom initialen Telefonat und der humangenetischen Beratung über die gynäkologische Beratung und schließlich die lebenslange Früherkennung lokalisiert werden. Die humangenetische Beratung erscheint so gesehen als eine Art Katalysator mit transformativer und inkluierender Funktion. Die Umwandlung von Familienwissen in Stammbaumwissen und von Stammbaumwissen in Wahrscheinlichkeiten, ist die Bedingung der Möglichkeit für den Zugang zur Gendiagnostik und Früherkennung. In der Beratung kommen Elemente wie Nicht-Direktivität, Entscheidungsfreiheit, Informationsvermittlung und Ermittlung auf der einen Seite zum Tragen und können Prozesse der Subjektivierung und Objektivierung in der Geständnisarbeit ausgemacht werden. Auf der anderen Seite ist diese Arbeit jedoch zeitlich so eingefasst, dass das Gespräch, als Ort der Aneignung von Selbsttechniken zur Lebensführung, meines Erachtens nicht funktioniert, da die notwendige Bedingung der Wiederholung fehlt. Diese findet nicht in der Humangenetik sondern in der Früherkennung statt.

Teil 2: Gynäkologie • Die Humangenetik kommt und geht, die Gynäkologie bleibt (lebenslang) – vorausgesetzt, die Ratsuchende wird in das strukturierte Früherkennungsprogramm eingeschlossen und lässt sich einschließen. In der Gynäkologie angekommen, ist das Gen eine dermaßen feste Größe, dass es wieder im Stammbaum verschwinden kann. Je stabiler die Gene, desto unsichtbarer sind sie. Auch wenn von den Gynäkologinnen betont wird, dass der Stammbaum und nicht die Wahrscheinlichkeit Ein- und Ausschluss bestimmt – institutionell verfasst zählt die Zahl. Der Einschluss in das Programm erfolgt laut Vertrag §3 mit den Krankenversicherungen, wenn entweder eine pathogene Mutation gefunden werden konnte oder wenn eine Hochri323

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sikosituation definiert wurde: lebenslanges Erkrankungsrisiko von größer/gleich 30 Prozent und einem Heterozygotenrisiko von größer/gleich 20 Prozent nach Cyrillic. Hochrisikopatientinnen sollen kontinuierlich betreut werden. Aber man kann niemanden zur Teilnahme an einer jahre- oder lebenslangen Kontrolle zwingen. Auf der einen Seite wird von Seiten der Ärztin die Eigenverantwortlichkeit des Patienten-Subjektes betont. Auf der anderen Seite wird der Entscheidungspfad deutlich von Seiten der Krankenversicherungen gelenkt: Eigenverantwortlichkeit und Kontrolloptimierung sind gut, Disziplinierung ist deshalb keineswegs abzuschaffen. Es ist vertraglich festgelegt, dass die Früherkennungsmaßnahmen regelmäßig durchgeführt werden müssen, sonst droht der Ausschluss aus dem Programm. Während die Klinik den Menschen gemeinhin entlässt und er seinen Patientenstatus abstreifen kann, bleibt die Ratsuchende/Patientin Teil eines möglicherweise lebenslangen Kontrollmilieus. Meines Erachtens ist es eine wesentliche Frage, inwieweit die Inklusion in solch ein Pogramm funktionieren kann. Meine Vermutung wäre, dass die alte klinische Form inklusive ihrer wenig mobilen Technologien nicht einer solchen lebenslangen Früherkennung gerecht werden kann. Ein lebenslanges Kontrollsystem erfordert andere institutionelle Formen als die alten und trägen Formen der Disziplinarmacht, wie beispielsweise die Institution Klinik. Gleichzeitig scheint es mir wichtig, Selbst-Technologien, die auf das eigenverantwortliche Subjekt zielen, nicht gegen Disziplinartechnologien zu setzen, sondern vielmehr von ihrer Gleichzeitigkeit auszugehen. Mein Eindruck ist, dass es erstens von der jeweiligen Beratungssituation abhängt, zweitens von der Kompetenz der Beratenden und drittens eben auch von der Reihenfolge der Beratungen, was wann wo gesagt wird. Während es manche Dinge gibt, die eher in den Bereich der jeweils anderen Disziplin verwiesen werden, sind andere Dinge an beiden Loci zu Hause. Die disziplinären Grenzen innerhalb der Doppelstruktur sind im Beratungsalltag überhaus vage. Eine neue Form quer zu den Disziplinen existiert noch nicht. Aber mir scheint, dass der sichere Boden disziplinärer Besitzstände ins Schwanken gerät. Da das familiäre Update des Stammbaums eine Angelegenheit des Früherkennungsprogramms ist, bleiben beispielsweise die Brustkrebs-Gene integraler Bestandteil der gynäkologischen Untersuchungen und eben nicht der Humangenetik.

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Teil 3: Interdisziplinäre Praktiken • Die Arbeitsteilung der BRCA-Diagnostik/Früherkennung innerhalb des Zentrums für Familiären Brustkrebs in Berlin ist eingefasst in eine institutionelle Form (Verbundprojekt) und die bestehenden Beziehungen sind gegenwärtig in hohem Maße durch Vorgaben des Leistungsträgers (Krankenversicherungen) standardisiert. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen wird von allen Befragten betont. Im Falle der BRCA-Kooperationen liegt es nahe, von einer Art standardisierter und institutionalisierter Interdisziplinarität zu sprechen. • Die Relevanz interdisziplinärer Zusammenarbeit scheint ein „sine qua non for clinical cancer genetics“ (Bourret 2005: 57) zu sein. Was aber meint das Zwischen den Disziplinen eigentlich? Interdisziplinarität wird von allen als wichtig erachtet, aber in der Regel weiß man nicht, was die anderen machen. Wie soll man Prozesse des Verstehens verstehen lernen, wenn man diese nicht vermittelt bekommen kann, weil dafür interdisziplinäre Zeit notwendig wäre, die im disziplinären Alltag kaum einen Platz findet?

1 0 . 2 I n B ew e g u n g d i e V e r a l l g e m e i n e r u n g ü b e n d : Von Passagen und Gefügen Das Thema hieß Gen-Passagen. Gleich mehrere galt es mit- und nacherfahrend zu studieren. Ich werde im Folgenden die Analytik in Bewegung reflektieren. Mein Motiv war wissen zu wollen, was es mit dem Brustkrebs-Gen auf sich hat. Wie konnte ein Gegenstand in wenigen Jahren Menschen und Dinge (vor allem nicht unerhebliche finanzielle Ressourcen) in Bewegung setzen, der zunächst lediglich in der Vorstellung existierte? Mögliche Antwort: weil er bereits vor seiner Substanzwerdung/technischen Verfügbarwerdung als höchst attraktives Universales hingestellt und von hohen Erwartungen umzingelt worden war. Ähnlich der Forschungsperspektive Foucaults auf den Wahnsinn – „Angenommen, der Wahnsinn existiert nicht. Was ist dann die Geschichte, die man anhand dieser verschiedenen Ereignisse, dieser verschiedenen Praktiken schreiben kann, die sich anscheinend um diese unterstellte Sache, den Wahnsinn, gruppieren?“ (Foucault 2006: 16) – musste danach gefragt werden, was für eine Geschichte wohl um die Brustkrebs-Gene herum geschrieben werden müsste? Ausgestattet mit begrifflichem Gepäck aufs schwankende Schiff gestiegen: Bewegungen, Relationen und Werden. Lost in Translation. Was PASSIERT, in der Doppeldeutigkeit des 325

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Verbs, welches sowohl durchqueren als auch geschehen meint? Zu analysierender Zeit-Raum: von den 1980er Jahren bis heute; von Geschehen innerhalb größerer Forschungszusammenhänge (BCLC) bis hin zu lokalen Praktiken der Brustkrebs-Genforschung, Diagnostik und Früherkennung in Berlin: Labor, Humangenetik, Gynäkologie. Von Bord gegangen und zur nächsten Passage geschritten/gestolpert/getastet. Meine Aufgabe: Folge den Dingen, die an Bord geschehen, falte die Kompliziertheit von Wirklichkeit auf. Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für das Werden der Brustkrebs-Gene und den Konstellationen, die sich um es herum gruppieren konnten. Was passiert(e); wieder und wieder und wieder.

Mannigfaltiges zulassen, aushalten... Um dies zu erfahren, machte ich die Bewegung weg vom Schreibtisch und hin zu anderen Orten. Die Passagen schlossen mich ein. Sich-inBewegung-Setzen war nicht nur ein räumliches, sondern ebenso ein gedankliches Unterfangen. Nicht von vornherein eingeschlossen in theoretischen Festungen sollte ein aufgeschlossenes Mit- und Nacherfahren praktiziert werden. Darin kam es unweigerlich zu Verwirrungen. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, in den einzelnen Passagen deutlich werden zu lassen, dass der Gang der Ereignisse von Gleichzeitigkeiten, Ambivalenzen und Vielheiten durchzogen war und ist. Was tun in Angesicht zunehmender Unordnung? Aushalten und sich in der Wiederholung üben. Meine Erfahrung war, dass ein erster Reflex zur Flucht vor der Konfusion durch die Entfaltung von Wirklichkeit treibt. Schnell weg, weil man das zunehmende Rauschen im Kopf nicht mehr aushält. Unordnung und Rauschen sind allerdings wesentlich für die Entwicklung von Wissenschaft, auch wenn die Erzählung der Wissenschaft oft darin besteht, genau dies unter einer glatten Oberfläche wissenschaftlicher Tatsachen verschwinden zu lassen. Tatsachen, die werden (Anerkennung von Geschichtlichkeit) und nicht einfach sind (Voraussetzung von präexistierender Natur). Herumzuirren gehört also ein Stück weit zum Unternehmen Wissenschaft dazu und hat nichts mit Beliebigkeit, sondern mit wissenschaftlicher Fertigkeit zu tun. Die Frage ist, ob es gelingt diesen Zustand produktiv werden zu lassen und nicht über Bord zu gehen. Man sollte das Schiff nicht verlassen, sondern das Schwanken des Bodens erkenntnisgewinnbringend einsetzen – noch mal und noch mal und noch mal hinschauen und hinhören. So fordert man das Allgemeine im Besonderen heraus. Dies alleine zu bewerkstelligen, scheint mir unmöglich zu sein. Deshalb ist es ratsam, sich stetig gedachter und denkender Unterstützung zu versichern.

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„In Betracht der Voraussetzungen und der Folgen der geistigen Weltordnung aber ist die Wahrnehmung ein Störenfried. Sie widerstreitet der Gewohnheit anzunehmen, dass alles im Griff sei, und geht gelegentlich über jene Grenzen hinaus, die das Leiden vom Tun trennt. Denn wenn Theorien nicht mehr an der Erfahrung scheitern können, da sie gegen eine solche abgedichtet sind, müssen sie aufgesprengt werden. Als Sprengsatz wirkt jede andere Wahrnehmung des Anderen. Daraus folgt: statt der geläufigen Komplexitätsreduktion muss umgekehrt die sinnliche Komplexität der Welt forciert werden“ (Kamper 1995: 24). „Nur, indem das angeblich souverän erkennende ich seiner eigenen Objektivität als subjectum bewusst wird, nur indem dieses vielstellig unterworfene Subjekt den determinierenden Riesenrest außer sich selber, die Fülle der Objekte zugleich als eigenständige (Quasi-)Subjekte begreift, kann es Objektivität in ihrer ungeheuerlichen Bestimmungsmacht durchschauen. Es vermag außerdem, mir den jeweiligen Objektivitäten, dem in der Fülle diverser Qualitäten kaum ausmachbaren Anderen an sich selber, angemessener zu verfahren. Indem alle Sinne benutzt werden. Indem all das Andere nicht mit einem Begriffsfänger pauschal gehascht und/oder wie mit einer Begriffsklatsche totgeschlagen wird. Siehe aufgeherrschte, herrschaftsvolle, Anderes übermächtigende Erkenntnisillusion! Um all das Andere, unvermeidlich meist zeittypisch ausgewählt, nicht zuletzt in seinen sich ins Eigene erstreckenden Geltungen, seinen Kontinuitäten und Brüchen auszumachen, ist möglichst immanentes Verfahren geboten, das sich auf das erschreckend faszinierend unverständliche Andere einlässt“ (Narr 2006: 346).

Damit erhält man kein fix und fertiges Navigationssystem mit einprogrammierter Zielbestimmung geliefert. Dies würde Wissenschaft zum Erstarren bringen. Das Gefühl, nicht alleine auf offener See zu sein oder mitten um Strom zu straucheln, hat vor allem etwas Beruhigendes. Die entscheidende analytische Frage war: Konnte es mir gelingen, kartographisch Linien zu legen, zu verbinden und darüber zu neuen Erkenntnissen zu gelangen? Entscheidend war hierbei das Mittel der Wiederholung. Man stelle sich die Schiffs-Passagen vor: Trotz ihrer Verschiedenheit tauchen bestimmte Bestandteile immer wieder auf, die jedoch nicht unbedingt gleich bleiben, so wie die Konstellationen, in denen sie sich jeweils befinden, nie statisch sind. Indem man diese Passagen nebeneinander legt, wird ist es nicht nur möglich, die Verschiedenheiten zu erfassen, sondern auch Verkettungen und Überlagerungen aufzuspüren. Durch die Übung der Wiederholung – Passage für Passage – in Begriffen der Bewegung, der Relationen und des Werdens, gelang es mir langsam ein Gefühl dafür auszubilden, was in der Bewegung zunehmender Verdichtung über das Geschehen hinausweist. Es ist, als würde man 327

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verschieden geformte Dinge übereinanderschichten. Am Ende wird man dahin kommen zu sehen, was in der Variabilität an Konstantem verborgen ist. Damit meine ich wiederum kein immer schon vorhandenes Universales, sondern einen Passagenüberschuss, welcher sie, trotz aller Unterschiedlichkeiten im Konkreten, verbindet und ihnen gemein ist.

... und wider den Sog der Komplexitätsreduktion entfalten Daraus ergab sich eine Folge von Passagen, deren geschriebene Ordnung in diesem Buch – der Buchdruck begünstigt von sich aus die Darstellung in Folgen – eine zeitliche ist: angefangen bei den Bedingungen der Möglichkeit für die Brustkrebs-Genforschung, der Suche nach den Genen und ihrer Sequenzierung, der Entstehung des Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ und der Institutionalisierung von Gendiagnostik und Früherkennung im gleichnamigen Programm bis hin zu Gegenwartspraktiken insbesondere des Labors und abgeschwächt der humangenetischen Beratung und der Gynäkologie; eingefasst durch die Einleitung und nun, den Schlussteil. Solcherlei Linearisierungen sind tückisch. Sie bieten eine gewohnte Täuschung an; nämlich dass die Passagen wie auf einer Perlenkette aufgereiht liegen würden. Der Text befriedigt die unerbittliche Sehnsucht nach Ordnung; vor allem nach Zeitordnung. Aber die Darstellung täuscht auf den ersten Blick Wirklichkeit in der linearen Bewegung in einer singulären Zeit vor. Selbstverständlich bauen Dinge aufeinander auf, bilden Verdichtungen, führen zu Neuem. Insofern bedeutet Wiederholung nicht, dass immer wieder ein und dieselbe Geschichte zu erzählen wäre. Keine Passage ist wie die anderen. Die Passagen bilden zwar auch eine große Geschichte (von der Suche bis zum Alltag der Diagnostik), aber sie liegen vor allem nebeneinander, beziehungsweise befinden sich ineinander geschoben. So wird das Voranschreiten mehrfach gebrochen: von der Suche bis zur Etablierung des Früherkennungsprogramms. Ich habe erstens zeigen können, dass Prozesse der Stabilisierung von BRCA1 und BRCA2 im Zusammenhang medizinischer Praktiken mit Prozessen ihrer Destabilisierung in Forschungsbewegungen einhergehen. Im Dazwischen liegt der Wille zum Wissen. Die Suche nach neuen Genen (BRCAx) als Teil des Forschungsbegehrens ist nie zu einem Stillstand gekommen. Ausschließlich auf den Moment der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2 Mitte der 1990er Jahre zu schauen, würde blind für die Forschungsbewegungen machen, die sich mäandernd und gleichzeitig mit der Etablierung einer genetischen Diagnostik entwickelten. Zukunftsgerichtete Forschung stellt Gegenwart her und gegen-

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wartsgerichtete Medizin stellt als prädiktive Medizin immer auch eine Zukunft her. BRCA1 und BRCA2 stabilisierten sich in einer sich um sie und mit ihnen neu formierenden Gendiagnostik und medizinischen Praxis der Früherkennung. Die Gene stabilisierten sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern innerhalb eines Institutionalisierungs- und Standardisierungsprozesses im Rahmen des entstehenden Verbundprojektes „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“. Auch wenn das Brustkrebs-Gen von Anbeginn an kein reines Ding des Labors war, sondern immer schon medizinisch durchdrungen, trat es mit seiner Sequenzierung und der Möglichkeit zur Gendiagnostik in die institutionelle Verfasstheit der medizinischen Ordnung ein. Das anfängliche Versprechen auf Hilfe rückte organisiert in die Gegenwart vor. Mit der Institutionalisierung veränderte sich die Qualität des Gefüges und die Erarbeitung, Etablierung und Praktizierung von Standards wurde zu einer zentralen Aufgabe innerhalb des Verbundprojektes. Gleichzeitig wirkten diese Prozesse auf die Institutionalisierung ein: Standardisierung und Institutionalisierung bildeten zwei Seiten einer Medaille. Institutionen und Standards als Praktiken zu fassen ermöglichte es, jener zentralen Eigenart von Institutionen, ihr eigenes Werden auszulöschen, entgegenzuwirken. Dabei habe ich erstens zentrale In- und Exklusionen, zweitens Prozesse der Subjektivierung, drittens disziplinäre Rollen und Reibungen und viertens die Lebendigkeit von Institutionen und Standards studiert (siehe sechste Passage). Gleichzeitig destabilisierten sich BRCA1 und BRCA2, weil auf ihnen oftmals nicht das gefunden wurde (pathogene Mutationen), was man erwartet hatte. Die Brustkrebs-Gene blieben ein offenes Projekt für die Wissenschaft. So wie das Gen anwesend und abwesend zugleich war und ist, existiert(e) eine Gleichzeitigkeit von Prozessen seiner Stabilisierung und Destabilisierung. Das faszinierende Moment, über welches ich mich nur wundern oder an dem ich verzweifeln konnte, war für mich diese Gleichzeitigkeit. Wie konnten sich Gendiagnostik und Früherkennung dermaßen stabilisieren, am Ende sogar in die Regelversorgung übergehen (zumindest als Versuch) und gleichzeitig der Kern des Ganzen, also die Gene, an allen Ecken und Enden porös werden? Zweitens ist deutlich geworden, dass die Sammlung von Material, wie ich sie vor allem in der dritten Passage beschreibe, nie aufhörte. Der Materialhunger war zu keinem Zeitpunkt gestillt. Deshalb darf man nicht vergessen, dass diese Praxis kein singuläres Ereignis war. Vielmehr veränderten sich die Konstellationen aus Akteuren/Aktanten und Praktiken des Sammelns, die Subjekte und Objekte des Hungers. Insofern darf man auch nicht meinen, dass das Sammeln zu jedem Zeitpunkt 329

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ein und dieselbe Sache meint(e). Sie institutionalisierte sich im Rahmen des Verbundprojektes, was wiederum mit der Standardisierung des Sammelns (seit 2005 festgelegt im Anhang des Vertrages mit den Krankenversicherungen) einherging. Institutionalisierungen und Standardisierungen sind miteinander verbundene Bewegungen. In ihrem Zusammenspiel ließen sie den Prozess der Materialproduktion selbst mehr oder weniger unsichtbar werden. Er wurde an der Oberfläche zu einer Nebenhandlung der Gendiagnostik. Der Wert des Materials sowie die Erhebungen und Zusammenführungen von zu gewinnenden Informationen, ihre Zentralisation in Banken (Daten- und Gewebebanken), verschwanden in der Normalität des klinischen Alltags um die Brustkrebs-Gene.

Das paradoxe Gen: anwesend/abwesend Ich denke, dass es ein bedeutender Schlüssel dieser Studie war, das Gen in einem sehr ernst zu nehmen: Es entpuppte sich von Beginn an als ein merkwürdig doppeltes, es war immer anwesend und abwesend zugleich. Ich wollte es be-greifen, aber es entzog sich. Ich schlage vor, diese Existenzweise mit dem Begriff der Paradoxie zu fassen. Der Begriff meint ein „Neben der (anerkannten) Lehre“ (Kamper 2001: 159). Wir sind es gewohnt, dass die Dinge entweder anwesend oder abwesend sind, aber was bedeutet An- oder Abwesenheit? Diese dichotome Wissensordnung trennt und trägt, indem sie das tut, zur Verhinderung bei, sich selbst zu widersprechen und Ambivalenzen der Wirklichkeit zuzulassen. Das Problem ist, dass sich solcherlei Dinge wie das Gen nicht in der Ordnung halten lassen. Axel Honneth (2002: 7ff.) diagnostiziert, dass gesellschaftliche Entwicklungen im Kapitalismus nicht mehr mit Begriffen wie „Widerspruch“ oder „Krise“ adäquat erfasst werden können. Er schlägt als analytische Kategorie „Paradoxie“ vor, um zu untersuchen, wie Strukturwandlungen „die einerseits normative Fortschritte bedingen, diese gleichzeitig auch wieder in Frage stellen, indem sie zu deren Aushöhlung, Vereinseitigung oder sozialen Monopolisierung beitragen“ (Honneth 2002: 9). Damit ist eine Forschungsarbeit gefordert, die sich nicht disziplinär auf einen Gegenstand engführen lässt, sondern die interdisziplinäre Einbeziehung verschiedener gesellschaftlicher Sphären in ihrer Gleichzeitigkeit erforderlich macht. Doch nicht nur das. Sie muss sich mit bestimmten Lesarten von gesellschaftlicher Wirklichkeit kritisch auseinandersetzen. Der Begriff der Paradoxie könnte meines Erachtens produktiv eingesetzt werden, um die gewohnte Ordnung des Wissens inter-disziplinär zu stören und für eine Wissenschaftsforschung fruchtbar zu machen, die es nicht auf Linearisierung und Objektivierung, sondern auf Komplexität und Beweglichkeit anlegt.

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Ich hoffe, dass die Studie deutlich machen konnte, dass historische als auch aktuelle Wissenschaftsforschung für die Gegenwartsanalytik ein wichtiges Feld der Sozialwissenschaften ist. Erstens, weil Naturwissenschaft und Technik gesellschaftlich wirken. Zweitens, weil sie selbst gesellschaftlich sind. Dem Werden wissenschaftlicher Tatsachen nachzugehen bedeutet die Trennung zwischen Gesellschaft und Natur selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen. Dabei gilt es herauszuarbeiten, dass „natürliche“ Entitäten selbst eine soziale Wirklichkeit in sich eingeschrieben haben, die je nach Ort und Zeit spezifische Effekte hervorbringt. Es gibt nicht das Brustkrebs-Gen und spannend ist, es als Vielheit in Bewegung zu studieren. Nun könnte man sagen, dass es sich von seiner Abwesenheit (vor der Sequenzierung) hin zu seiner Anwesenheit (nach der Sequenzierung) bewegte. Aber wir haben gesehen, wie existent das Gen schon vor seiner Sequenzierung war. Man sah es im Stammbaum, da musste etwas sein. Eine Existenz vor der Substanzwerdung. Das singuläre Ereignis 1994 muss mit den Erwartungen, mit all den diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken verbunden werden um zu verstehen, wie das Gen werden konnte. Der zentrale Unterschied zwischen einem Davor und einem Danach lag in der technischen In-Wert-Setzung durch die Möglichkeit der Entwicklung einer Gendiagnostik von BRCA1 und BRCA2. Aber in der Gendiagnostik selbst machte es sich, kaum war es gefunden, alsbald erneut rar. Es war jetzt anwesend (auf der DNA lokalisier- und sequenzierbar) und gleichzeitig hielt es nicht das, was man sich von ihm versprochen hatte. Nicht einmal in der Hälfte aller Testungen war es möglich, eine pathogene Mutation zu finden. Man sah es im Stammbaum; fand es aber allzu häufig nicht! Also suchte man weiter: Wieder war das Kandidaten-Gen (BRCAx) abwesend und gleichzeitig anwesend. Es musste existieren, man hatte es nur noch nicht gefunden (Logik des Fortschritts). So wiederholen sich die Dinge und immer ist das Gen auf der einen Seite im Mittelpunkt und gleichzeitig nicht greifbar. Ich komme auf das Paradoxe zurück. Kamper (2001: 159) hat den Begriff „,exzentrische‘ Paradoxie“ für folgende Überlegung eingeführt: In der Logik gälte der performative Selbstwiderspruch als verboten und als unfreiwillige Selbstwiderlegung. Dennoch seien die Menschen heute nur noch zu solchem in der Lage: „Sie sagen entweder Ja oder Nein zu einer Zumutung, die weder mit Ja noch mit Nein hinlänglich beantwortet werden kann. Es handelt sich um einen verkapselten Widerstreit, der in die Körper der Menschen vorgerückt ist und darauf wartet, gespürt und gedacht zu werden“ (Kamper 2001: 159). Mir scheint, dass das Gen so etwas wie die Invasion dieses verkapselten Widerstreits in das Körperinnere ist. Ja 331

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oder Nein, anwesend oder abwesend – man hat es mit ein und derselben Logik zu tun. Die Entscheidung für eine Seite ist zwar unmöglich, dennoch muss sie getroffen werden. In den Naturwissenschaften praktiziert man dies zum einen durch das Einfangen des Gegenstandes in und mit Technologien und die Herstellung von Bildern. In Gelen oder Sequenzausdrucken wird das Gen sichtbar. Ist das Bild das Gen? Zum anderen ist es integraler Bestandteil forschenden Arbeitens, dass die Dinge sich ständig in Bewegung befinden. Würde das Brustkrebs-Gen zum Stillstand kommen, wäre es kein attraktiver Forschungsgegenstand mehr. So rückt das Gen immer wieder in eine noch zu wissende Zukunft. Das Versprechen liegt darin, dass wir diese früher oder später erreichen werden. Prominent hierfür ist der immer wiederkehrende Satz: Es muss noch etwas anderes (weitere unbekannte Gene) geben, wir haben es/sie nur noch nicht (entdeckt). Anwesenheit in Bildern, Abwesenheit in Bewegung. In den Sozialwissenschaften scheint es, als würde man den Blick vom Gegenstand in Richtung seiner Herstellung und/oder seiner Effekte verlagern. Nicht die Frage „Was ist das Gen?“, sondern die Frage „Wie wird es hergestellt?“ beziehungsweise „Wie wirkt das hergestellte Gen in Gesellschaft?“ stehen dabei im Vordergrund. Gibt es eine Aufgabenteilung zwischen denjenigen, die etwas darüber sagen, was das Gen ist und denjenigen, die seine Herstellungsprozesse und gesellschaftlichen Effekte studieren?

Wie kann man sich diesem unmöglichen Ding nähern? Was ist das abwesende/anwesende Gen? Ein Mittelpunkt, der sich demnach anders beschreiben lassen muss, als in der Fixierung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit? Wie kann es beides sein oder als verstreute Mitte überhaupt gepackt werden? Ich habe nach einer adäquaten Form gesucht, in welcher man dieses merkwürdige Ding fassen kann. Dabei ist im Verlauf meiner Beschäftigung mit dem Material deutlich geworden, dass es beständig wiederkehrende Motive gab, die sich um das Gen spannten und in seinem Zusammenhang aufschienen. Da trat zuerst das Leben und zwar das gesunde/kranke Leben auf. Das Brustkrebs-Gen wurde zum Versprechen auf Hilfe und/oder Heilung. Gleichzeitig war das Leben Material für die Forschung in Form von Stammbäumen und Blutproben. Hinzu kam der Wille zum Wissen: Was ist im Stammbaum, wie kann ein Zugriff erfolgen und was kann damit möglich werden? Schließlich war damit ein Begehren nach finanziellem Gewinn damit verbunden: Was brachten Investitionen und wer konnte an den Genen verdienen? Drei zweifelsfrei enorm große Themen, wenn nicht sogar zentrale Leitmotive unserer Gegenwart: LEBEN, WISSEN und GELD. 332

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Es sind Begriffe, die uns auf den ersten Blick als selbstverständlich erscheinen; wir sind von ihnen im Alltag umgeben und führen sie häufig im Munde. Erst im Nachdenken über sie wird deutlich, dass sich hinter der Leichfertigkeit im Umgang mit ihnen ein weites Feld ihres jeweiligen Einsatzes verbirgt. Ich habe versucht, das Vage der Begriffe an meinem Forschungsmaterial zu konkretisieren, die großen Begriffe klein zu machen. Was ließ sich mit diesen Begriffsungetümen also anfangen? Ich hatte mein analytisches Rüstzeug – Bewegung, Relationen, Werden. Der Trick bestand darin, die Ungetüme in Bewegung, Relationen, Werden zu bringen. Man denke sie sich zunächst als Linien.

Linien, Gefüge und ein Dreieck Ich beziehe mich auf das Konzept der Linien und der Gefüge von Deleuze und Guattari (2005). Man möge mir das bruchstückhafte Herausgreifen aus dem Gedankengemenge von „Tausend Plateaus“ verzeihen. Ich glaube, dass das Buch einen derartigen Zugriff herausfordert, weil es keine einheitliche oder geradlinige Spur vorgibt, sondern sich im Mannigfaltigen aufhält. Auf diese Weise entstehen für die Leserin und den Leser Anschlüsse und Aufschlüsse verschiedenster Art, welche für das eigene Denken zum Einsatz gebracht werden können. Oder wie Stefan Hesper es formuliert: „Das Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari ist ein Bau, ein Rhizom, mit vielen Ein- und Ausgängen, deren Benutzungs- und Verteilungsnetze man nicht so schnell erkennt und das durch zahllose Begriffe abschreckt und Benutzer in die Flucht schlägt“ (Hesper 1994: 7). Deleuze sagte einmal: „Wir sahen unsere Aufgabe, gemischte Zustände zu analysieren, Gefüge, Verkettungen, von Foucault Dispositive genannt. Dazu musste man Linien folgen und sie entwirren, und nicht auf Punkte zurückgehen. Das ergab eine Kartographie, zu der eine Mikroanalyse gehörte (von Foucault Mikrophysik der Macht genannt und von Guattari Mikropolitik des Wunsches). In den Verkettungen konnte man dann Vereinheitlichungsbrennpunkte finden, Totalisierungsknoten, Subjektivierungsprozesse, immer relativ, immer auszulösen, um einer unruhigen Linie noch weiter zu folgen“ (Deleuze 1993: 125f.).

Ein Gefüge entsteht also aus und in der Bewegung der Linien. Gefüge bilden einen „Komplex von Besonderheiten und Merkmalen, die der Strömung – selektiert, organisiert und stratifiziert – entnommen werden“ (Deleuze/Guattari 2005: 562). Gefüge sind demnach erfundene und im Folgen von Linien gefundene Gebilde, um forcierte Komplexität von Welt zu studieren. Linien lassen Bewegungen erkennen, sie sind Bewegung. An der Kreuzung verschiedener Linien erscheinen Punkte; sie sind 333

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demnach relational. Als wenn Linien sich kreuzen würden und an Kreuzungspunkten selbst erst dadurch etwas entstünde. Zusammengenommen lassen die Linien Dinge passieren, indem sie etwas durchqueren, woraus dieses dann geschieht (Werden). Konnte es möglich sein, dass das anwesend abwesende Gen in Form solcher Kreuzungen existierte, beziehungsweise so zu seiner Existenz kam? Das Bild dreier Linien schien zum Einfangen des Brustkrebs-Gens ein produktives Denkmittel zu sein. Die Gefahr einer solchen Darstellung besteht unweigerlich darin, den Punkt als das Zentrum zu setzen und die Linien diesem unterzuordnen. Unser Auge zielt auf die Mitte. Aber das Gen ist, wie wir jetzt besser verstehen, mehr als anwesende abwesende Vielheit zu begreifen. Wie können wir den Punkt zerstreuen? Ich stellte mir vor, dass die Linien in einem Dreieck zusammenkamen. Abbildung 12: Von Linien, Kreuzungen und einem Gefüge

Quelle: Sonja Palfner 2007 Das Dreieck erschien mir als Denkfigur aus zweierlei Gründen als gelungen. Erstens hängt jede Linie mit den anderen zusammen. Dieses Bild unterstützte meine Vorstellung einer Analytik in Begriffen des Re334

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lationalen. Im Falle des von mir selektierten Gefüges stellten sich die Linien immer als miteinander verbunden heraus. Wissen (über Gene) führte zu Leben (Versprechen), um zu wissen brauchte man Geld (Finanzierung der Forschung) und zudem auch Leben (Forschungsmaterial), Leben und Geld führten zu Wissen et cetera. Zweitens und damit zusammenhängend spannt das Dreieck eine gleichberechtigte Fläche auf, die gleichzeitig einen Raum oder ein Kraftfeld besitzt. Deleuze und Guattari sind sehr daran interessiert, dass das Gefüge nicht hierarchisch ist. Sie schreiben: „Ein Gefüge hat weder Basis noch Überbau, weder Tiefenstruktur noch Oberflächenstruktur, sondern es glättet all seine Dimensionen zu ein und derselben Konsistenzebene, auf der die gegenseitigen Voraussetzungen und die wechselseitigen Einschübe ablaufen“ (Deleuze/Guattari 2005: 126). Keine Linie ist der anderen untergeordnet. Sie bilden gegenseitige Voraussetzungen ohne einen Ursprung oder ein Ende. Das Dreieck war in diesem Sinne Teil meiner gedanklichen Versuchsanordnung, um erstens besser zu verstehen, was es mit dem Brustkrebs-Gen auf sich haben könnte und zweitens ein Raster zu entwickeln, um in der Auseinandersetzung mit meinem Studienmaterial weiter zu gelangen. Die Frage war, was die Linien wohl zusammenkommen ließ; in welchem Gefüge sie sich aufhielten. Gab es einen Komplex von Besonderheiten und Merkmalen in welchem sie auftauchte und auf spezifische Art und Weise gebildet werden konnten?

Der Wille zum Wachsen Es schien mir tatsächlich so etwas zu geben, was ich als ihre Kapitalförmigkeit begriffen habe. Als Kapitalformen und Linien des Dreiecks sind sie miteinander verbunden, schießen gleichzeitig über das Dreieck hinaus. Zur Annahme der Kapitalförmigkeit sah ich mich veranlasst, weil von Anbeginn an das Streben, das Versprechen, die Hoffnung auf ein Mehr, auf Wachstum, die Passagen durchzog. Mehr Wissen, mehr Leben, mehr Geld. Alles schien im Wachstum begriffen. Der Wachstumsglaube ist eine modern eingelassene und soziale Wirklichkeit bestimmende Kraft. Wirtschaft und Wachstum sind in unserer Gesellschaft nicht voneinander zu trennen, da die „wirtschaftliche Logik in einer Geldwirtschaft [...] auf Wachstum angelegt [ist]“ (Hager/Schenkel 2000: 6). Es ist ein zentraler Gedanke, über kapitalistische Spielarten im Zusammenhang mit paradoxen Genen nachzudenken. Was genau bedeutet es, dass die „kapitalistische Verwertungs-, also Wertlogik [...] die Gesellschaften insgesamt [durchdringt]“ (Narr 2000: 40)? Gene in der Sprache des Ökonomischen zu fassen, scheint keineswegs eine gesellschaftliche Außenseiterposition zu markieren. Wir konnten sehen, dass gerade die Frage nach der Patentierbarkeit von „Natur“ in 335

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diesem Zusammenhang so etwas wie einen Ort der Verdichtung und Problematisierung darstellt. Sie deshalb und ausschließlich unter dem Aspekt des Geldes zu betrachten, wäre jedoch verkürzt. Donna Haraway spricht von „genetic commodity fetishism“ (Haraway 1997: 143) und bezieht sich auf die Kapital-Theorie von Marx. Gene-an-sich, so Haraway, seinen gerade nicht als die Quelle von Wert zu sehen. Genau diese Betrachtungsweise sei das Produkt von Fetischisierung. Ergänzend dazu merkt sie an, dass man sich auch der nichtmenschlichen Akteure erinnern sollte und sie führt an: „This kind of gene fetishism rests on the denial and disavowal of all the natural-social articulations and agentic relationships among researchers, farmers, factory workers, patients, policy-makers, molecules, model organisms, machines, forests, seeds, financial instruments, computers, and much else that bring ,genes‘ into material-semiotic being” (Haraway 1997: 143).

Gene scheinen von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken hervorgebracht zu werden und dabei gleichzeitig Ausgangsmoment des Zusammenkommens von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren/Aktanten zu sein. Zweifelsohne erinnert dies wiederum an Michel Foucaults Analyse zum Wahnsinn – angenommen das Universale existiert nicht, was wäre dann über die Bedingungen zu sagen, die erfüllt sein mussten, damit der Gegenstand zu seiner Existenz kommen konnte? Sowohl bei Foucault als auch bei Haraway tritt deutlich zu Tage, dass es jeweils um die Bestimmung der Bewegungen und Relationen geht, in welchen Gegenstände hervorgebracht werden können und nicht um die Gegenstände an sich. Von Gen-Kapital zu sprechen könnte bedeuten, den Blick entsprechend vom Gegenstand auf das Gefüge zu lenken. Könnte Kapital mehr als Prozess und weniger als etwas Festes betrachtet werden? Könnte so mit ein wenig Vorstellungskraft deutlich werden, dass Gene eine verstreute Mitte oder eine Art Kraftfeld bilden und sich an verschiedenen Kreuzungspunkten materialisieren, insofern immer anwesend und abwesend zugleich sind? Castoriadis weist darauf hin, dass Marx mit dem Begriff des Warenfetischismus über die bloße ökonomische Betrachtungsweise hinausgegangen sei und die Bedeutung des Imaginären anerkannt hätte (Castoriadis 1984: 226). Das Gen unter dem Aspekt von Kapitalformen zu verstehen ist deshalb eine Angelegenheit, die über den reduzierenden Blick auf das Unmittelbarste hinaus und auf die Rolle des Imaginären weist. Dieses Doppelte gehört, wie mir scheint, zu der beschriebenen Existenz des Gens, anwesend und abwesend zugleich zu sein, dazu. 336

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Indem ich das Gen in drei Linien gebracht habe oder die drei Linien in das Gen, war es möglich, nach der Bedeutung der angenommenen Kapitalförmigkeit im Konkreten zu forschen. Nur einer Linie zu folgen, hätte das Unternehmen nicht vorangebracht, weil die Produktivität des Gefüges in der Kopplung der Linien liegt. Man kann es von jeder beliebigen Seite aus betrachten und wird immer dahin kommen, dass man früher oder später von jeder Kapitalform bei den anderen landet. Ihre Beziehungen zueinander können nicht in Begriffen von Ursache und Folge gefasst werden. Sie setzen einander voraus und zielen aufeinander ab. Sie sehen, wie mein analytisches Gepäck im Verlauf der Arbeit an Gewicht zunahm. Die Frage blieb: Was passiert? Ab der vierten Passage und mit dem neu erworbenen Gefüge hatte ich jetzt Konkretionen vorzunehmen: Was passierte in Anbetracht von Wissen, Leben und Geld nach der Sequenzierung von BRCA1 und BRCA2? Ich habe gesagt, dass das Spannende ist, dass diese Linien sich kreuzen und sie jeweils alleine zu denken nicht dem Gefüge entspricht. Für die Analyse jedoch mussten die Linien auseinandergenommen werden. Warum? Weil sich Mannigfaltigkeit ebenso wie Gleichzeitigkeit kaum adäquat darstellen lässt. Dazu müsste das Buch eine ganz andere Beschaffenheit haben; zum Beispiel mehrdimensional sein.

Über das Forschungsmaterial und meine Beziehung zu ihm Kein Gemisch ohne Ort. Kein Ort ohne das Besondere, welches ihn von anderen unterscheidet. Forschung fand und findet niemals in einem luftleeren oder toten Raum statt. Mikrostudien sind in der Lage, ein belebtes Bild zu erfassen und glatte Oberflächen großer Erzählungen zu kontaminieren. Mit ihnen besteht jedoch auch die Gefahr, sich im Detail zu verirren und somit Anschlussfähigkeiten an größere Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Schon in der ersten Passage deutete sich an, dass der Verlauf der Studie ein Changieren im Dazwischen sein würde. Um darin nicht verloren zugehen, brauchte ich nicht nur gedankliche Weggefährten, sondern auch einen sicheren Hafen zur Erforschung von Gen-Passagen. Dieser war für mich die Tumorgenetik. Oder anders formuliert: Das schönste theoretisch-gedankliche Gerüst hilft wenig, wenn man keinen Boden in der sozialen Wirklichkeit unter die forschenden Füße bekommt; wenn das Feld den Zugang verwehrt. Ich will untersteichen, dass Forschungsgegenstände und/oder Forschungsfelder insofern niemals passiv sind. Sie greifen aktiv in unser Leben ein, sie bestimmen den Weg des Forschens mit und sie verändern uns in diesem Prozess. Wir gewinnen nicht nur Material, sondern das Material gewinnt auch uns! Dies beschreibt Rheinberger in Anlehnung an Lacan als „in337

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time Exteriorität“ oder „Extimität“ (Rheinberger 2002: 18). Je mehr der Wissenschaftler lerne, mit seiner Experimentalordnung umzugehen, desto stärker spiele sie ihre eigenen inhärenten Möglichkeiten aus. Der Forscher würde in einem inneren Ausschluss von seinem Objekt eingeschlossen (Rheinberger 2002: 18). Die Tumorgenetik entstand an der Schwelle deutsch-deutscher Transformationsprozesse, in deren Fahrwasser wiederum das MDC als institutionelles Zuhause der Tumorgenetik entstand. Einen solchen Ort besessen zu haben, war die Bedingung der Möglichkeit für meine Studie. Die Tumorgenetik stellte für meine Studie einen Glücksfall dar, weil sie als eine der ersten Gruppen in der BRD über Brustkrebs-Gene forschte. Damit hatte ich also nicht nur einen ethnographischen Zugang in das Forschungsfeld über BRCA, sondern auch einen zeitgeschichtlichen Zugriff auf Vergangenes in Reichweite. Zudem spielte es eine wesentliche Rolle, dass Scherneck jahrelang (1997-2006) Sprecher des Berliner Zentrums im Rahmen des Verbundprojektes „Familiärer Brustund Eierstockkrebs“ war. Ein Akteur von Gewicht, der mir mit Sicherheit als eine Art Gate Keeper den Zugang zur humangenetischen Beratung und zur Gynäkologie erleichtert hat. Mit den durchgeführten Interviews, den Beobachtungen und den im Feld erhaltenen Dokumenten konnte ich eine Forschung aufspannen, die ausschließlich auf der Grundlage von Publikationen nicht möglich gewesen wäre. Veröffentlichungen in Fachzeitschriften bildeten einen weiteren Teil meines Materialkorpus. In einem beständigen Hin und Her ergänzten sich Interviews, Beobachtungen und die verschiedenen Sorten von Schreiberzeugnissen (Publikationen, Befund-Briefe et cetera). Sie stießen sich gegenseitig zu Fragen an, trieben mich vorwärts und ließen mich an Orte (physisch und gedanklich) zurückkehren, um neue Fäden aufzunehmen. Das Forschungsfeld blieb somit ein offenes, was sich beispielsweise bei der Untersuchung des Mensch-Technik-Verhältnisses im Labor (Etablierung und Arbeit mit der DHPLC) als glücklich erwies. Während ich in der Zeit meiner Beobachtung die Etablierung der DHPLC erlebte, erfuhr ich Monate später, während eines weiteren Besuchs der Tumorgenetik, von den Störungen im Alltag der DHPLC. Das Verhältnis zwischen teilnehmender Beobachtung und Interview habe ich insofern als produktiv erlebt, als dass im Labor Alltagspraktiken zu beobachten waren, die möglicherweise nicht in einem Interview thematisiert worden wären. Erstens, weil der Interviewte sie als normal betrachtet und sie deshalb nicht für erwähnenswert gehalten hätte beziehungsweise weil es sich um Praktiken gehandelt hätte, die dem Akteur möglicherweise selbst nicht unbedingt bewusst gewesen sein mussten. Zweitens, weil ich als Außenstehende nicht darauf gekommen wäre, nach bestimmten Dingen zu fragen 338

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und selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, eine bestimmte Frage zu stellen, hätte ich möglicherweise eine Antwort erhalten, die von dem Beobachteten abgewichen wäre. Ein besonders einprägendes Erlebnis diesbezüglich war die Beobachtung der Existenz des Patienten im Labors auf der einen Seite und der Darstellung von Laborarbeit als vom Menschen entfernte, abstrakte Arbeit im Interview auf der anderen Seite. Ein Spannungsverhältnis zwischen der Arbeit (Beobachtung) und dem Reden über die Arbeit (Interview), welches für die eigene Analyse fruchtbar gemacht werden konnte. Es wäre an dieser Stelle eine Beschönigung, nicht die „Politik der Quellen“ (Rheinberger 2006: 189), die Politik des Forschungsmaterials, zu erwähnen. Ich konnte letztlich darüber schreiben, wozu ich einen Zugang erhielt. Und je nach Zugang ergaben sich wiederum besondere Fragen, die mich weiterführten und die ich nicht hätte stellen können, wenn ich keine Zugangsmöglichkeiten zu Menschen, Institutionen und Material (Schreiberzeugnisse wie zum Beispiel Befundbriefe) gehabt hätte. Beispielsweise war es mir nicht möglich, die Rolle der Deutschen Krebshilfe genauer zu studieren, da sich der Kontakt trotz meiner über ein Jahr anhaltenden Bemühungen als unmöglich erwies. Selbstverständlich war sie ein zentraler Akteur, da sie langjährig das Verbundprojekt finanzierte und es mit auf den Weg brachte. Fragen nach der Motivation zur Finanzierung, zur Gestaltung des Projektes, Zielvorstellungen und Evaluationspraktiken wollte ich nachgehen – mein Fragen stieß jedoch nicht auf Interesse vonseiten der DKH. Warum dies so war, werde ich wohl nie erfahren. Insofern konnte dieser Teil der Geschichte nicht eine Geschichte im Rahmen meiner Studie werden. Sie zu verfolgen und zu schreiben wäre vermutlich ein eigenes, Zeit und Hartnäckigkeit verlangendes Projekt, welches ich nach wie vor für höchst spannend halte. Immerhin handelt es sich bei der DKH um einen sehr großen und finanzkräftigen Akteur, wenn nicht die bedeutsamste Institution in der Bundesrepublik Deutschland innerhalb des weiten forschenden, medizinischen und gesundheitspolitischen Feldes von KREBS. Anderes Material konnte von meiner Seite aus nicht hinzugezogen werden, weil es schlicht den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. So habe ich die Rolle der Krankenversicherungen nur am Rande streifen können. Die Frage, ob und wenn ja wie das Programm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ weiter in der Regelversorgung bleibt, wird sich zu stellen sein. Dieses Buch bietet insofern sowohl Auf- als auch Anschlüsse. Es ist mehr ein Flickenteppich, denn ein geschlossenes und an allen Ecken und Enden gesättigtes Materialgewebe, eine in den Passagen gewonnene Kartographie des Beweglichen und kein fixes, an ein Ende gedachtes und gebrachtes Unternehmen. 339

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Wie vermutlich immer, scheint der eigene Materialhunger nur schwerlich Sättigung zu erfahren. Ein jeder weiß am besten um die eigenen Lücken im Material. Ich habe im Grunde bis zum Schluss Dinge aufgenommen, die mir wichtig erschienen, wie beispielsweise die Publikationen über neue Brustkrebs-Gene im Sommer 2007. Auch von Bedeutung war und ist, dass ich nach wie vor mit einigen Menschen aus dem Feld in Kontakt stehe. Das Material existiert, wenn man so will, in einer dialogischen Form weiter; auch indem ich mein Schreiben versuche zurückzugeben, beziehungsweise um Hilfe bitte, wenn ich in den Kompliziertheiten molekularer Entwicklungen unterzugehen drohe. Michel Serres hat über den Dialog geschrieben, dass dieser nur dann beginne, „wenn das Gezänk aufhört, bei dem niemand jemanden zuhört und jeder den anderen zu übertönen sucht“ (Serres 1994: 159). Das bedeutet Anerkennung des Anderen und seines Wissens und ein Bemühen um das Verstehen-Wollen von biologischen Sachverhalten, was nicht mit der Hinstellung dieser als unhinterfragbare Wahrheiten gleichzusetzen ist. Ich weiß nicht, ob ein Dialog möglich ist. Ich habe den Eindruck, dass dies zum einen davon abhängig ist, ob eine Notwendigkeit hierfür erkannt wird. Daneben stellt sich die Frage, ob überhaupt Zeit – dieses knappe Gut der Wissenschaften – vorhanden ist. Und schließlich denke ich, dass es im Wesentlichen eine Frage der institutionellen Voraussetzungen ist, ob ein interdisziplinäres Zusammenkommen und Reden möglich wird. Vor allem aufgrund meines Interesses an Rückmeldungen der Menschen aus meinem Forschungsfeld zu gewonnenen Erkenntnissen, brach der Kontakt nicht vollständig ab. Ich glaube, dass es meine Verantwortung gegenüber den Menschen ist, die sich für mich Zeit genommen haben, ihnen meine Ergebnisse der Forschung mitzuteilen; nicht als neue Wahrheit, sondern als eine mögliche andere Sichtweise.

10.3 Wissen, Leben, Geld – K a p i t a l e Am b i v a l e n z e n d e r G e g e nw a r t In den Passagen lernte ich schnell, dass man nicht nur vor der unmöglichen Anwesenheit/Abwesenheit des paradoxen Gens die Augen nicht verschließen durfte, sondern auch lernen musste, die einströmenden mannigfaltigen Ambivalenzen in die Analytik aufzunehmen. Denn eines wurde beim in der beschriebenen Art sich entwickelnden Blick auf mein Material deutlich: Die zuvor definierten Linien erwiesen sich als hochgradig gekrümmt, ambivalent, verworren und dynamisch – heraus traten kapitale Ambivalenzen der Gegenwart. 340

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10.3.1 Wissen Es ist nicht unproblematisch, mit dem Begriff des Wissens zu hantieren. Was ist Wissen? Foucault beispielsweise löst den Begriff aus dem engen Rahmen der Wissenschaften und setzt Wissenschaft und Wissen in ein Verhältnis zueinander, wobei er die analytische Aufgabe darin sieht zu zeigen, „wie sich eine Wissenschaft ins Element des Wissen einreiht und funktioniert“ (Foucault 1981: 263). In diskursiven Praktiken würde, so Foucault, Wissen regelmäßig gebildet und die Frage sei, nach welchen Regeln dies geschähe. Mir scheint die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Wissen insofern sinnvoll, als dass sie dazu anhält, Wissenschaft nicht als zeit- und raumleere Veranstaltung jenseits ihrer gesellschaftlichen Einbettung (Wissen) zu denken. Gerade die Rede vom kranken Gen und die sprachlichen Verwirrungen darüber, was eigentlich vererbt wird, zeugen von Vermischungen, die mehr als nur Versprecher, ein Stolpern der Zunge, sind. Ich werde im Folgenden von Wissen sprechen, dabei zuvorderst wissenschaftliches Wissen (sowohl in seiner Gewinnung als auch in seinem diagnostischen Einsatz) meinen. Vor allem aber werde ich Wissen um Nichtwissen und Erwartungen ergänzen und schemenhaft skizzieren, was in und mit ihren spezifischen institutionellen Produktionen auf dem Spiel steht.

Wachsen von Wissen und Nicht-Wissen Es wurden zentrale Entwicklungen der Brustkrebs-Genforschung skizziert. Sie sind haltlos und mäandern in viele, wenn auch nicht vollkommen unbestimmte, Richtungen. Das wissenschaftliche Wissen wächst in jeder Sekunde, sodass es ein einzelner Mensch längst nicht mehr überblicken kann. Jeden Tag erscheinen weltweit neue Studien und im Zeitalter schneller elektronischer Verfügbarkeit multiplizieren sie sich in Windeseile. Nun scheint es, dass man Prozesse des Wachstums an Wissen um Prozesse des Wachstums an Nichtwissen ergänzen sollte. Das ist die erste Ambivalenz: „Das Wissen konnte das Nichtwissen in der Welt nicht verringern, vielmehr ist mit dem Wissen das Nichtwissen gewachsen, und zwar in einer bedrohlichen Weise für den Wissenden“ (Kamper 1998: 25). Wer will hinterherkommen? Genau dieses Gefühl scheint bei den Menschen einzutreten: Man schafft es nicht, man schafft es nie! Jede Antwort gibt neue Fragen auf und selbst die Zerlegung von Forschungsfeldern in immer kleinere Einheiten verringert nicht die unweigerlich eintretende Erfahrung des Nichtwissens. Nun könnte man sagen, dass Nichtwissen vor allem eines sei: Die Bedingung der Möglichkeit zu forschen. Wo alle Fragen geklärt sind, kommt der Forschungsprozess zum Erliegen. Mir liegt nicht daran, die Produktivität beiseite zu schie341

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ben. Aber mir scheint, dass sich im Spannungsfeld zwischen Wissen und Nichtwissen Fragen auftun, die im bloßen Hinweis auf die Produktivität von Nichtwissen unterzugehen drohen; vielleicht gerade weil Nichtwissen oftmals nur als vorübergehendes Moment oder Antrieb hin zum Wissen erscheint und ihm nicht ebenso wie dem Wissen eine eigene, wenn auch in Relation zum Wissen zu fassende, Bedeutung zuerkannt wird.

Schrumpfungen Es ist zu wenig Gegenwartszeit vorhanden, um in Ruhe Wissen einsickern zu lassen. Es ist nicht nur die Masse, von der man überrollt zu werden droht, sondern auch die Haltbarkeit von Wissen, welche im Schrumpfen begriffen ist. Kaum weiß man etwas, erfährt man von anderer Seite, dass man es eigentlich doch nicht (genau oder richtig) wusste. Meine Skizze ist zugegebenermaßen einfach. Es gibt genügend Wissen, welches nicht von einem auf den anderen Tag vergeht. Es kann sogar so stabil werden, dass es zu einer technischen Bedingung für weitere Forschungen wird. Ich habe dies für BRCA1 und BRCA2 beschrieben. Nachdem man sie sequenziert hatte, wurden sie zur Bedingung der Erforschung auf ihnen liegender diverser Veränderungen (Mutationen, SNPs und UVs). Aber gerade was diese Dreiteilung anbelangt, konnte man beobachten, dass sich hier alles hin und her bewegt(e). Aus angenommenen harmlosen SNPs wurden beispielsweise mögliche pathogene Veränderungen. Anderswo wurden wiederum solche Annahmen revidiert. Es gibt also nicht nur ein Wachstum von Wissen und Nichtwissen, sondern damit einhergehend ein Schrumpfen des auf die Wirklichkeit projizierten Wissens. Was schrumpfte in unserem Beispiel jedoch, wenn von einer Bewegung des Wachstums auszugehen ist? Es waren die Erwartungen, welche sich in den zu wissenden Gegenstand BrustkrebsGen einlagerten und sein Werden vorantrieben. Sie schrumpften am konkreten Gegenstand BRCA1 und BRCA2, nicht aber am anwesend/abwesenden Gen, welches hinreichend offen war und ist, um Erwartungen einzuschließen beziehungsweise auszulösen. Vom Wachsen und Schrumpfen Wachsen und Schrumpfen passiert gleichzeitig. Auf der Linie des Wissens gerinnt mit dem Schrumpfen der Erwartung ein Kreuzungspunkt. Das Mehr an Wissen, welches man gewinnen konnte, beinhaltet auch die Erkenntnis, dass man sehr Vieles noch nicht weiß. Der Kreuzungspunkt, an welchem BRCA1 manifest wird, ist wieder mit Erwartungen verbunden. Wissen und Erwartungen gehören in der Bewegung zusammen.

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Wachstum und Schrumpfung: das eine ist die Bedingung der Möglichkeit für das andere.

Verwertungen Forschungen finden so in einer eigentlich unmöglichen Gegenwart ab. Sie scheinen haltlos und atemlos voranzuschreiten; aber sie tun dies keineswegs mit Beliebigkeit. Sie verlaufen massiv in Bahnen von Verwertungsfragen. Erforscht wird, was sich im kapitalistischen Prozess der Wissensproduktion in Form von Publikationen in angesehenen Zeitschriften, der Bewilligung neuer Forschungsmittel bezahlt macht. Ich spreche nicht gegen jene Prozesse des Auftauchens von Neuem, die Rheinberger (2002) unter dem Begriff des Experimentalsystems analysiert. Forschung zu einem bloßen Anhängsel wirtschaftlicher Interessen zu machen, würde eine grobe Verkürzung darstellen und wäre falsch. Forschung ist kein gradliniger Prozess und die Verteilung zwischen forschendem Subjekt und erforschtem Objekt muss hinterfragt werden. Das Tasten und Tappen des Forschenden kann zu Antworten auf Fragen führen, die man noch nicht in der Lage war zu stellen. Erst kürzlich war in der Zeitung eine Meldung zu lesen, welche diese Beschaffenheit zum Ausdruck brachte: „Klonfälscher Hwang erbrachte aus Versehen eine Pionierleistung“ (Der Tagesspiegel vom 04.08.2007). Ungewollt hätte er die weltweit ersten menschlichen Stammzellen per Parthenogenese hergestellt. Was hier als versehentliches Produkt eines Fälschers in die Schlagzeilen geriet, ist nichts anderes als ein Teil von Wissenschaft. Wäre Hwang nicht schon als Wissenschaftler diskreditiert gewesen, hätte die Geschichte vielleicht ganz anders aussehen können. Dann wäre vielleicht die Pionierleistung als ein von vornherein geplantes und zielgerichtet verfolgtes Unternehmen dargestellt und das Zufällige unsichtbar gemacht worden. Man könnte sagen: Science in Making ist History in Making. Was an solch nachträglichen Linearisierungen von Forschungsprozessen auffällt ist, dass sie Nichtwissen ausschließlich schrumpfend ins Verhältnis zu wachsendem Wissen stellen. Ein Fortschrittsgedanke, welcher nur Erfolge oder Niederlagen zulässt, aber keine Gleichzeitigkeiten denken kann. Das Neue entsteht also zu einem Zeitpunkt, wo man es als solches noch nicht erkennen konnte. Man könnte auch sagen, es ist zu diesem Zeitpunkt anwesend und gleichzeitig abwesend. Mein Einsatz an dieser Stelle ist es, die Bedeutung des Ereignisses etwas mehr in eine Bewegung zu setzen, „since every minute action participates in broader social structures” (Chadarevian 2005: 64) und beispielsweise die Anwesenheit von Dingen im Wissen oder Wahren und in den bereits existenten Erwartungen ernst zu nehmen, bevor sie zu einer bestimmten Zeit und an 343

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einem bestimmten Ort hergestellt/entdeckt werden. Und hier scheint mir deutlich hervorzutreten, dass Wissenschaft nicht frei von Verwertungsfragen vonstatten geht. Auf der Linie des Wissens/der Erwartungen kann ein neuer Punkt zum Ausgangspunkt weiterer Forschungsbewegungen werden. So verschiebt sich die Richtung, möglicherweise in Abhängigkeit von der institutionellen Verfasstheit der Forschung und den weiteren Linien, die die Linie des Wissens durchkreuzen. Im Falle des Gefüges der BrustkrebsGene, Leben und Geld. Ich spreche nicht gegen existierende Nischen an den Rändern der Wissenschaften und auch nicht gegen andere Forschungsbegehren einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wissenschaft macht Spaß und treibt an. Von Scherneck war zu erfahren, wie begeisternd die Entwicklungen gewesen sein müssen, als man sich im internationalen Konsortium zusammenfand, um das Gen zu erhaschen: „Das war eine sehr schöne Zeit, als noch nichts bekannt war und alle suchten“ (Scherneck 2006: 27). Genau das macht es so kompliziert; der oder die Einzelne verantwortet wahrscheinlich/vielleicht gewissenhaft und oftmals leidenschaftlich seine Arbeit. Wissenschaft zu betreiben ist eine leidenschaftliche Angelegenheit. Davon legen viele Menschen Zeugnis ab, die sich darin bewegen. Aber es gibt auch etwas anderes, was man eigentlich nur noch mit der Ökonomisierung von Wissenschaft beschreiben kann. Latour verfolgt anhand des Portraits eines Biologen den Kreislauf des wissenschaftlichen Kredits: „Das Kapital des wissenschaftlichen Kredits beschränkt sich nicht auf die (symbolische) Anerkennung, welche die Forscher füreinander hegen können [...], sondern erstreckt sich auf den gesamten Kreislauf – einschließlich Daten, Wahrheiten, Begriffe und wissenschaftlichen Artikeln“ (Latour 1996: 121). Wir mögen noch immer das Bild eines im Labor stehenden Wissenschaftlers vor Augen haben, der in Symbiose mit seiner Versuchsanordnung zu neuen Erkenntnissen gelangen will. Aber im Unternehmen Wissenschaft ist hiefür die Zeit weggeschrumpft. Für das Forschung und Fragen, Wundern und Sickern schrumpft die vorhandene Zeit, weil man andere Dinge tun muss: Anträge schreiben, Publikationen schreiben, immer auf dem neuesten Stand bleiben, die Forschung organisieren (die günstigsten Produkte sondieren, das Team rekrutieren und auch hier Kosten einsparen) und auf jeden Fall muss auch noch etwas Neues herauskommen. Die Frage ist, welche Art von Beziehung zum Forschungsgegenstand aufgebaut werden kann. Es ist gerade dieses Verhältnis, welches als bedeutungsvoll für wissenschaftliche Aktivität in und von Experimental344

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systemen (Rheinberger 2002: 18ff.) gesehen wird. Stengers schreibt: „Und das ist für mich das Kriterium einer Wissenschaft, die nicht traurig ist: wenn es gelingt, eine Beziehung zu dem Gegenstand zu entwickeln, den man befragt, und so etwas wie eine Geschichte dieser Beziehung entsteht, in deren Verlauf das Verständnis für die Phänomene immer subtiler wird“ (Stengers 94: 74). Mir scheint, dass es nicht nur ein Problem mit der Zeit gibt, welche Beziehungsarbeit braucht, sondern auch mit der Art und Weise, in welcher eine Beziehung aufgebaut werden kann. Die Geschichte(n) des Entstehens von Neuem können nicht auf das Labor beschränkt sein. Wir haben sehen können, dass es gerade nicht mehr das Labor ist, in welchem sich der Wissenschaftler und die Wissenschaftlerin primär aufhalten. Raumverteilung ist auch Arbeitsverteilung (vica versa) und diese wiederum scheint innerhalb einer Verwertungslogik zu funktionieren.

Institution Wissenschaft Das Neue sollte als Teil dieser Logik nichts Beliebiges sein, sondern sich gut In-Wert-Setzen lassen. Der Wissenschaftler muss vor allem eines können: Management. Es entsteht möglicherweise eine schräge Zweiteilung: Auf der einen Seite der eigentlich wollende aber nicht könnende Forschende und auf der anderen Seite die dirigierende Verwertungsmaschine Wissenschaft. Es wird die moderne Vorstellung des forschenden Subjektes auf den Kopf gestellt oder objektiviert. Mit solch einem Rollentausch ist nichts gewonnen. Die Verwertungslogik von Wissenschaft ist ohne Zweifel ein starker Grund für die Formierungen von Wissenschaftsmanagements. Ein guter Wissenschaftler/Manager schafft es Kapital zu bilden und zu vermehren. Spätestens als Gruppenleiter ist die Arbeit an der Bench vorbei, delegiert an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist mit Sicherheit eine Frage von bestehenden Infrastrukturen und finanziellen Ressourcen, inwieweit die Arbeit als Zerreißprobe gesehen wird. Wie viel Arbeit kann ich delegieren, um was muss ich mich alles selber kümmern, wie viele Freiräume werden mir gelassen et cetera? Etwas fehlt. In der großen Welt des wissenschaftlichen Wissens und ihrer Organisation ist eines schnell aus dem Blick geraten: die Frage, was aus dem Nichtwissen in der Wissenschaft wird. Nicht nur als eine Bedingung der Möglichkeit für Forschung überhaupt, sondern als gleichzeitig und immer wieder zu machende Erfahrung. Mir scheint also, dass die Darstellung noch einmal von folgenden beobachteten Phänomenen durchkreuzt werden muss: Die beschriebene Haltlosigkeit des Wissens, der freie Fall in das Nichtwissen, die Erfahrung, dass es nie genug sein kann, dass es kein Ende geben wird. Wo ist hierfür Platz und Zeit in der Verwertungslogik? Eigentlich nirgendwo. Nimmt 345

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man jedoch die ambivalente Struktur ernst, dann stellt sich die Frage, wie das Nichtwissen in seinen konkreten Wirkungen existieren kann. Vielleicht ist die Einlagerung von Forschung in Managementstrukturen nicht nur eine unliebsame und störende, sondern auch ein haltgebende Ordnung? Vielleicht ist sie auch eine Antwort auf folgendes Gegenwarts-Gefühl: „Wir haben keine Zeit mehr. Sie ist weggeschrumpft. Sie vergeht wie im Fluge. Wir reisen ab, bevor wir angekommen sind. Wir erfahren die Welt, aber wir kennen sie nicht mehr. Ganz offensichtlich verlieren wir wichtige Lebensqualitäten mit der schrumpfenden Zeit. Aber wir sind schneller am Ziel. Wir wissen zwar nicht wohin der Weg führt, aber wir gehen ihn immer schneller“ (Hager/Schenkel 2000: 8).

Vielleicht ist aber auch die Managementdurchdringung von Wissenschaft Ursache für ebenjene Haltlosigkeit im Spannungsfeld zwischen Wissen und Nichtwissen? Vermutlich besitzt beides seine Berechtigung und insofern scheint es kaum im Verhältnis von Ursache und Folge zu fassen zu sein. Ich möchte die Institution Wissenschaft, die viel mit Wissenschaftsmanagement zu tun hat, als eine Art Gerinnung auf der Linie des Wissens skizzieren, welche von Geld und Leben durchquert wird.

Diagnostik: Wissensproduktion braucht keine Probleme, sondern Problemlösungen Wenn hier von Wissen die Rede ist, dann muss neben dem ambivalenten Wachstum von Nichtwissen und Wissen auch auf die Produktionen des Wissens geschaut werden, welche sich im Zusammenhang mit der Einbettung der Gendiagnostik in ein medizinisches Unternehmen Verbundprojekt „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ ereignen. Angesprochen sind die Bewegungen zwischen humangenetischer Beratung, gynäkologischer Beratung, Laborpraktiken und Früherkennung/Prophylaxe. Institutionalisiert und standardisiert werden Befundbriefe und Befunde, Beratungen, Ratschläge und Dokumentationen hergestellt beziehungsweise durchgeführt. In der Diagnostik ist man darauf aus, einen Befund zu liefern. Das produzierte Wissen lässt keine Unmöglichkeiten zu. Die Verläufe sind durch vertragliche Vorgaben festgezurrt: Entweder man findet eine Mutation oder nicht. Entweder eine Person wird in das Programm „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ eingeschlossen oder nicht. Im Alltag dagegen wimmelt es von Grautönen. Mit diesen versucht man sich zu arrangieren. Wirklichkeit erweist sich als sehr viel brüchiger und komplizierter, als es Formalia (festgehalten in Dokumenten wie den An346

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lagen zum Vertrag mit den Krankenversicherungen) vorgeben oder vortäuschen. Diese Kompliziertheit reibt sich an den festen Formen, welche sie einfängt und springt darüber hinaus. Die daraus resultierenden Probleme werden so gut es geht instrumentell eingefangen. Die Herstellung technischer Bilder mildert Anflüge von Verunsicherungen ab. Wenn ein Gel oder eine Sequenz nicht gut aussieht, wird das Herstellungsverfahren wiederholt; dies gilt ebenso für Sonographien oder Mammographien. Es wird alles getan, damit die Produktion von Wissen zu einer stabilen Größe wird. In welchem Verhältnis stehen also Standard und Stabilität zu den Grautönen des Alltags? Im Labor ist es ein Ziel, die Widerstände zu beseitigen oder zu integrieren, um einen reibungslosen Ablauf zu bewerkstelligen. Das ganze passiert in einer Bewegung wachsender Technisierung. Der Mensch als Fehlerquelle scheint zunehmend hinter den Maschinen zu verschwinden. Automatisierung, so die Logik, bedeuten Fehlerreduktion und Kostenreduktion. Aber Automatisierung bedeutet noch ganz anderes. Erstens: Maschinen, wie die DHPLC, lohnen sich nicht für kleine Stückmengen. Ergo wird man, um die Technik lohnend einzusetzen, den mitgebrachten Materialhunger stillen müssen. Dies wiederum läuft in der Tendenz auf Zentralisierungen in Großlaboren hinaus. Zweitens: Menschen sollen ebenfalls standardisiert, also ersetzbar, beliebig austauschbar gemacht werden. Wir haben dagegen erfahren, wie wichtig der einzelne und nicht der standardisierte Mensch in der Mensch-Technik-Interaktion sein kann. Dies betrifft nicht nur Prozesse der Etablierung von Maschinen, sondern auch den Umgang mit und die Produktion von Ergebnissen. Nur ein wissender und erfahrener Mensch kann zu kreativen Umwegen lenken und über Probleme nachdenken. Dazu wiederum braucht es Zeit und eine institutionelle Umgebung, die diesen Frei-Raum des nichtstandardisierten Handelns ermöglicht. Nun wird man zurecht sagen können, dass lange Grübeleien in der Produktion diagnostischer Ergebnisse nichts zu suchen haben. Was passiert mit dem Nichtwissen, wenn alles darauf hinstrebt, gewusst zu werden? Die Erfahrung des Nichtwissens verlagert sich auf die Ebene von Problemlösungen. Standardisierung und Technisierung tragen zur Bewerkstelligung eines Ablaufs bei, ohne dass es notwendig wäre, die Dinge im Einzelnen genauer in Augenschein zu nehmen. In meinen Beobachtungen lernte ich, dass die einzelnen Akteure in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern viel tun, um gewissenhaft mit den Sperrigkeiten und Problemen umzugehen. Sie werden kaum leichfertig übergangen. Aber über die Sinnhaftigkeit der Praktiken wird eher selten nachgedacht. Die molekulargenetische Testung beispielsweise wird abgearbeitet, wobei Störungen integriert und/oder behoben werden. Die Tatsache, dass nur 347

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in ca. 30 Prozent der DNAs auch eine Mutation gefunden wird, ist allen präsent. Sie wird in den Alltag integriert, der Alltag wird nicht hinterfragt. Schrumpfung wird unsichtbar und strategisch abgesichert: Eine Strategie besteht darin zu sagen, dass es immer noch sehr viele Diagnosen seien, die wiederum den Betroffenen helfen würden. Es ist ein wirkungsmächtiges Argument in der Verschränkung mit dem Begehren nach gesundem Leben. Aber was bedeutet Hilfe/Heilung, wer ist der im Labor imaginierte Patient (welcher zwar in der Regel männlich benannt, gleichzeitig aber als Frau vorgestellt wird) und gibt es hierüber einen Gedankenaustausch? Ein weiteres Argument ist, dass die Krankenversicherungen die Testungen nicht bezahlen würden, wenn sie nichts einbrächten. Aber was genau bedeutet es, ob Dinge etwas bringen oder nicht? Was ist unter Erfolg zu verstehen, wenn Gendiagnostik in die Regelversorgung übernommen wird? All diese Fragen verschwinden hinter dem Alltag, in welchem es vorrangig darum geht, den Ablauf nicht zu gefährden, Ergebnisse zu produzieren und Probleme (beispielsweise mit Maschinen) zu lösen. Damit ist eine Gedankenspur aufgenommen, die mir zentral für eine Analytik der Gegenwart erscheint und die von Dietmar Kamper wie folgt formuliert wurde: „Probleme, die aus der Bewältigung von Problemen entstehen, können nicht bewältigt werden. Man weiß es, auf logische Weise, d.h. konsequenzlos. Vielmehr werden dieselben Lösungsstrategien, die selbst Ursachen für Probleme sind, zur Lösung eben derselben Probleme eingesetzt. Das Ergebnis dieser blinden Iteration ist das Unmögliche, das überhand nimmt“ (Kamper 1995: 143).

Dies alles geschieht in einem Zeitfenster, welches optimiert, sprich eingeschrumpft werden soll. Zeit ist Geld. Auch dies spricht für die Technisierung, setzt aber voraus, dass alles glatt läuft. Wenn Maschinen streiken, so haben wir gesehen, kostet ihre Instandsetzung Zeit, weil entweder sie zur Reparatur geschickt werden müssen oder jemand kommen muss, der sich mit dem Gerät auskennt. Dies wiederum zielt auf Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung von Wissen und Können. Oder anders formuliert: Jeder kommt so zu seiner eigenen Black Box, zusammengehalten durch das Band des institutionalisierten Standards oder der standardisierten Institution. Aus dem Gesagten lediglich die Konsequenz abzuleiten, dass alle einfach mehr Zeit haben müssten, wäre verkürzt. Aber es wäre immerhin eine Bedingung der Möglichkeit, um sich vielleicht an einem anderen Zugriff auf die Präsenz von Wissen und Nichtwissen üben zu können. Alles andere erweckt dagegen den Eindruck, dass ein 348

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Agieren nur noch und ausschließlich in einem Spiel stattfinden kann, dessen Spielregeln jedoch dem Akteur unsichtbar bleiben.

10.3.2 Leben Leben ist ein großer Begriff und „fragt man nach seinem ontologischen Status, eine schillernde Angelegenheit“ (Gehring 2006: 33). In den Diskussionen über menschliche Stammzellen, Patente auf Gene oder sogenannte Organspenden stellt sich vor allem massiv die Frage der Kapitalisierung von Körpern/Körperstoffen und damit verbunden die Frage nach gesellschaftspolitischen Entwicklungen, „including ethics, forms of governmentality, and mechanisms that displace or reorient dominant understandings of ,human‘, ,life‘, and ,animation‘“ (Hogle 2003: 66). Während die Möglichkeiten der technischen Entwicklungen in der BRD in der Regel (noch) mit einem gewissen Skeptizismus betrachtet werden (beispielsweise im gentherapeutischen Bereich), beginnt dort der Spagat zwischen Chance und Risiko, wo dass Leben als ein gesundes und zu heilendes in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft rückt und diese von einem zunehmend dichter werdenden Netz von Geboten, Verboten und Angeboten, Selbst-Technologien, Gesundheitswissen und Gesundheitsverantwortung durchzogen wird. Wo liegen welche Grenzen des Machens, wenn gilt, dass Gesundheit zu einem „Leitwert der Moderne“ (Beck-Gernsheim 1997: 81) geworden ist? Was bedeutet Gesundheit in Anbetracht von Optimierungshorizonten und molekularer Intervention, welche auf „Reprogrammierung metabolischer Vorgänge [zielt], nicht bloß auf ihre Modifikation“ (Rheinberger 1997: 291)? In diesem klaffenden Spalt tummeln sich Debatten um das Für und Wider des technisch Vorstellbaren und des technisch Machbaren, wobei in der Tendenz gilt, „dass gegenwärtig nur dort harte Grenzen für Eingriffs- und Konstruktionslizenzen gezogen werden, wo die Kunst analytischer Identifikation und re-/konstruktiver Eingriffe und Produktionen (noch) nicht weit genug gediehen ist“ (Narr 2000: 52). Heute mag ein Schaf mit genetischen Menschanteilen noch eine Schlagzeile wert sein, aber das MENSCH(unsichtbar)-SCHAF(sichtbar) braucht schon keine Grenze des Verbots mehr zu überschreiten, es wird gemacht. Vermutlich läge eine Grenze dort, wo dem Schaf nicht nur genotypisch, sondern auch phänotypisch der Mensch auf den Körper rückt; wobei Tiere als Zuchtstellen für Menschenmaterial ebenso kaum mehr als grenzgängerisches Tabu gesehen werden. Es bröckelt und bebt an allen Ecken und Enden. Ehe man sich versieht, bewegt man sich in einem sehr spezifischen Feld der Problematisierung von Leben, welches namentlich mit dem Begriff Bioethik versehen und verwissenschaftlicht wurde. Proble349

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matisierung wiederum will ich mit Foucault verstehen als das „Ensemble diskursiver und nicht diskursiver Praktiken, das etwas ins Spiel des Wahren und des Falschen eintreten lässt und es als Gegenstand fürs Denken konstituiert“ (Foucault 1989: 17). In das Spiel eingesogen, taucht Leben an allen Ecken und Enden der Gesellschaft auf. Es wird bioethisch versetzt zu einem alltäglichen Begleiter in Gesundheitsfragen, Erziehungsfragen und Reproduktionsfragen, wobei die Unterscheidung zwischen Optimierung und Prävention/Heilung kaum mehr zu treffen ist. Oder anders formuliert: Wer nicht das Beste will, macht sich verdächtig. Nur was ist das Beste und vor allem wer bestimmt darüber? Ich habe dargelegt, dass es sich beim Familiären Brustkrebs um ein Modell handelte. Die Hoffnung bestand darin, über das Modell zum sporadischen Krebs und zu seiner besseren Heilung (Früherkennung/prophylaktische Operationen), beziehungsweise sogar zur Verhinderung der Erkrankung auf molekularer Ebene (Gentherapie) zu gelangen. Skeptikerinnen und Skeptiker werden sagen, dass das Argument Leben nur ein vorgeschobenes war, um die eigenen Forschungen finanziert zu bekommen. Ich würde dies nicht absolut bestreiten, jedoch nur als einen kleinen Teil von Interessen und Begehren verstehen wollen. Genauso scheint meines Erachtens die Kritik, dass die hehren Ziele nicht erreicht werden konnten und insofern die Forschung sich diskreditiert hätte, ins Leere zu laufen. Auf der einen Seite stimmt dieser Befund ohne Zweifel, auf der anderen Seite ist er vereinfachend und verunmöglicht den Blick auf die Komplexität wissenschaftlicher Entwicklungen und die Bedeutung des Fehlschlagens oder des Auftretens von Unerwartetem als Attraktor dieser. So bemüht man ist, Antworten auf die Frage nach dem Wollen, Sollen, Können, Müssen und Dürfen von bestimmten Praktiken der Inversionen ins Körperinnere sowie möglicher Körpervermischungen zu finden, so schwierig scheint dieses Unterfangen zu sein. Man kann für oder gegen etwas sein, man kann ein „Ja, aber“ nachschieben. Man kann probieren, erst gar nicht eine Frage stellen zu müssen, weil man sie dann schließlich nicht zu beantworten braucht. Irgendwie scheinen jedoch die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht auszureichen. Man sagt, dass es keine falschen Fragen, sondern nur falsche Antworten geben kann. Was aber ist, wenn dies nicht ganz zutrifft, wenn es sehr wohl auf die Frage ankommt? Welcherlei Fragen gälte es in Anbetracht jenes schwer auszuhaltenden Zustandes zu stellen, Antworten innerhalb einer Logik der Alternative von „Ja“ und „Nein“ geben zu müssen – einer Alternative, die keine zu sein scheint? Ich versuche also den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. In der Studie fragte ich nach dem Einsatz des Le350

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bens im Konkreten. Was konnte in den Gen-Passagen über das Leben in Erfahrung gebracht werden?

Mehrwert Leben zwischen Versprechen und institutioneller Einlassung Von Anbeginn an war das Versprechen auf einen Mehrwert Leben zentraler Topos der Brustkrebs-Genforschung. Mit dem Versprechen auf Heilung/Hilfe wurde in den Anfängen der Suche nach BRCA1 und BRCA2 eine Zukunft in die Gegenwart derjenigen geholt, von denen man Forschungsmaterial brauchte. Nicht ihnen, so die damalige Argumentation, sei durch die Forschungen zu helfen gewesen, sondern zukünftigen Generationen. Der Mehrwert bestand also aus zukünftig zu gewinnender Lebenszeit. Über diesen Mehrwert schreibt Gehring: „Im Hintergrund der biotechnischen und biopolitischen Nutzung der Körperstoffe und der Körperdaten formiert sich womöglich ein sehr spezifischer Markt, auf dem nicht finanzielle Profite das letzte Ziel sind, sondern die Erwirtschaftung und Verteilbarmachung von biologisch gewonnener Zeit“ (Gehring 2006: 34).

Im Dreieck aus Leben, Wissen und Geld gedacht, sollte man gegenüber vereinfachenden Hierarchisierungen zwischen finanziellen Profiten und Lebensprofiten meines Erachtens etwas vorsichtig sein. Aber der Einsatz stimmt: Es geht um Zeit und um Leben. Ich will meinen, dass man erstens nach dem Verhältnis beider zueinander fragen muss und zweitens dabei nicht von einer Existenz im Singularen ausgehen sollte. Damit ist angedeutet, dass sowohl Zeit als auch Leben in Vielheiten existieren. So wie es mehrere Zeiten innerhalb einer Gesellschaft gibt, so gibt es auch mehrere Leben. Das Leben im Gefüge der Brustkrebs-Gene erhielt jene Existenzweisen, die ich unter Bezug auf Latour als immutable mobiles beschrieben habe. Es entstanden Blutproben, DNA und Gewebeproben sowie vielerlei Informationen. Als Körperstoffe und Daten lösten sie sich vom Körper des einzelnen Menschen ab. Eine Art Haftung an den Ursprungskörper blieb ihnen zwar durch eine einmalig geleistete Unterschrift der Betroffenen (schriftliche Einwilligungserklärung) bestehen, aber letztlich ist es eine offene Frage, was beispielsweise mit den Proben im Konkreten irgendwann und irgendwo geschieht (ganz abgesehen von den enormen Datenmengen, welche sich rasant und tagtäglich vermehren!). In wechselseitiger Bedingtheit mit den stetig produzierten immutable mobiles, trat das Leben als ein Doppeltes dort auf, wo die Forschung Material benötigte. Ein versprochenes/erhofftes/begehrtes gesundes Leben 351

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traf auf ein am eigenen Leib oder familiär erfahrenes krankes Leben. Das Versprechen der Forschung bestand darin, die Zukunft irgendwann (sogar recht bald) zur Gegenwart werden zu lassen. Es waren vor allem Frauen, die angesprochen wurden und sich angesprochen fühlten. Es waren Frauen aus Familien, in denen Brust- und/oder Ovarialkrebserkrankungen über Generationen auftraten. Auch wenn der angenommene Erbgang als ein geschlechtsneutraler Vorgang Teil von Vererbungswissen war und ist, blieb der Mann (als potentieller Überträger) mehr oder weniger unsichtbar. Ausnahmen will ich hier nicht negieren, aber es ist bezeichnend, dass in der Regel nicht Männer, sondern Frauen in die Beratung zu Familiärem Brust- und Eierstockkrebs kommen. Über Brustkrebs als weibliche Krankheit hielt das Geschlecht Einzug in die Neutralität der Vererbung. Der Familiäre Brustkrebs wurde zu einem zentralen Gegenstand, nicht nur der Forschung. Auch bildgebende medizinische Verfahren wie das MRT werden mithilfe dieses Modells erforscht. Schließlich wird die Praxis einer prädiktiven Medizin am Modell erprobt. Latour hat einmal in einem Aufsatz mit dem schönen Titel „Ein Experiment von und mit uns allen“ geschrieben, dass „wir alle in eine Reihe kollektiver Experimente einbezogen [sind], die die engen Grenzen der Laboratorien überschreiten“ (Latour 2004). Dieses Wir gilt es skeptisch zu hinterfragen. Wer ist damit gemeint? Im Hinblick auf die Brustkrebs-Genforschung, die durchaus eine Strahlkraft in andere Forschungsbereiche und die Medizin besitzt, muss gesagt werden: Es gibt ein Experiment; aber nicht von und mit uns allen, sondern mit Frauen. Man war sich sicher, jenes große Versprechen auf gesundes Leben einzulösen zu können. Die Erwartungen an das Brustkrebs-Gen waren enorm. Entsprechend groß fiel der Enthusiasmus aus, als 1994 BRCA1 und kurze Zeit später BRCA2 sequenziert wurden. Nun merkte man alsbald, dass die Gene nicht hielten, was man sich von ihnen versprochen hatte. Auf die Wirklichkeit projiziert musste man begreifen, dass eine schnelle Übertragung vom Besonderen (Familiärer Brustkrebs) auf das Allgemeine (sporadischer Brustkrebs) nicht funktionierte. Zudem ließen sich nicht überall dort pathogene Mutationen auf den beiden Genen finden, wo man es vom Stammbaum her erwartet hätte. Was sollte mit dem Versprechen nun geschehen? Erstens blieb es zentrales Motiv für weitere Forschungen nach neuen und noch unbekannten Genen (Zukunft). Wir wissen noch nicht genug, aber wir werden dahin gelangen! Zweitens wurde es zu einer institutionalisierten medizinischen Praxis (Gegenwart) und als solche eine Praxis am nicht erkrankten weiblichen Körper.

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Das Leben von Individuen fand mit der Entstehung der molekulargenetischen Testung Eingang in das Verbundprojekt „Familiärer Brustund Eierstockkrebs“ und damit in eine medizinische Praxis innerhalb der Institution Klinik – in Berlin, wie wir gesehen haben, unter dem Dach der Charité. Gleichzeitig war die Testung Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung des Verbundprojektes! Zwei Bewegungen: Erstens entstand ein spezifisches Patientinnen-Subjekt, welches als ein aufgrund der neuen gendiagnostischen Möglichkeiten Überfordertes vorgestellt wurde. So wurde die Aussage möglich, Institutionalisierung aus Verantwortung vorantreiben zu müssen. Zweitens brauchte es einen institutionellen Rahmen, weil sonst das Modell Familiärer Brustkrebs nicht produktiv zum Einsatz hätte gebracht werden können. Verstreute Tests hätten weder Informationen noch Forschungsmaterialien geliefert. Mit der Sequenzierung war die Bedingung für die Testung gegeben. Mit ihr wurde das Brustkrebs-Gen molekular im technischen Bild sichtbar und damit wahr. Man sah es nicht mehr nur im Stammbaum als ein Imaginiertes (anwesende Abwesenheit), sondern als eine Sequenz, die freilich ihrerseits Imagination notwendig brauchte, um die Kurven als das Gen identifizieren zu können (abwesende Anwesenheit). Dieses Spiel der Spuren oder Verkettungen von Vorstellbarem und Sichtbarem, das anwesende abwesende Gen, habe ich im Bild des Dreiecks beschrieben. Das Gen ist Mittelpunkt ohne Mitte zu sein. Es faltete vielmehr einen Raum auf, welcher Verhältnisse auf spezifische Art und Weise möglich werden ließ. In diesem Raum wurde mit der molekulargenetischen Testung ein neuer Mittelpunkt erzeugt. Das Patientinnen-Subjekt entstand an einem Kreuzungspunkt von Leben, Wissen und Geld und zwar mit der Institutionalisierung der prädiktiven Medizin für Familiären Brust- und Eierstockkrebs. Das Gefüge der Brustkebs-Gene erhielt seine institutionelle Verfasstheit als Verbundprojekt mit dazugehörigen Zentren für Familiären Brustkrebs über den betroffenen Menschen, der gleichzeitig anwesend und abwesend ist, hergestellt wird und gleichsam an der Herstellung seines eigenen Herstellungszusammenhangs beteiligt ist.

Eine neue „Lebens-Qualität“: Kontrolle Indem das menschliche Leben die Klinik betrat, veränderte sich das Versprechen in eine medizinische Praxis der Früherkennung und Prophylaxe (Zukunft zieht in Gegenwart ein). Es war nicht mehr in die Ferne auf zukünftige Generationen gerichtet, sondern rückte der Ratsuchenden auf den Leib. Das bedeutet, dass vorgestellte PatientinnenSubjekt erhielt seine Materialität im Frauenkörper, welcher bei entsprechender Qualität (Heterozygotenwahrscheinlichkeit/Mutation) in das 353

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Programm eingeschlossen wurde. Von nun an war und ist das Versprechen auf Leben an ein konkretes menschliches Leben und dieses an eine regelmäßige Kontrollpraxis gekoppelt. Kontrolle sollte – so das Versprechen – dazu beitragen, einen Tumor möglichst früh zu erkennen und damit die Heilungschancen zu verbessern. Das Patientinnen-Subjekt hat sich langjährig oder sogar lebenslang in die Kontrolle einzufügen. Man sieht hier die Institutionalisierung einer forcierten Früherkennungspraxis, wie sie in anderen medizinischen Bereichen und prominent in der Gynäkologie bereits in abgeschwächter Form existierte, wenn auch nicht räumlich deckungsgleich, da gynäkologische Früherkennung hauptsächlich in Praxen und nicht in Kliniken durchgeführt wird. Die Ambivalenz dieses Unternehmens tritt deutlich zutage: Das Pathologische rückt(e) in das Leben ein. Und zwar nicht aufgrund von Erkrankung, sondern aufgrund der Erfassung des Lebens in eine Doppelstruktur von Gen und Klinik, welche wiederum innerhalb einer Ordnung von Gesundheit und Krankheit existiert. Es ist eine faszinierende Dopplung des Lebens zwischen Natur- und Gesellschaftspol, die an folgenden Befund Latours erinnert: „Aber die Gesellschaft ist, wie wir mittlerweile wissen, nicht weniger konstruiert als die Natur, denn beide sind das doppelte Resultat eines einzigen Stabilisierungsprozesses. Für jeden Zustand der Natur gibt es einen korrespondierenden Zustand der Gesellschaft“ (Latour 2002: 128). Wenn von genetischen Krankheiten die Rede ist, dann muss gefragt werden, was für ein Genbegriff damit verbunden ist. BRCA1 und BRCA2 werden als Gene verstanden, die auf wunderbare Weise der bekannten medizinischen Ordnung zwischen krank und gesund entsprechen. Entweder es gibt pathogene Veränderungen (Mutationen) oder es gibt normale Veränderungen (SNPs). Alles was dazwischen liegt (UVs) gilt es entweder der einen oder anderen Seite zuzuordnen. In dieser Spannung findet Entwicklung statt. Die Klinik ist ein institutioneller Teil innerhalb jener Ordnung des Lebens zwischen Krankheit und Gesundheit. Krankenhäuser dienen der Krankenbehandlung und der Geburtshilfe, sie stehen unter ständiger ärztlicher Leitung, verfügen über therapeutische und diagnostische Möglichkeiten, bieten ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen um „Krankheiten der Patienten zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten, Krankheitsbeschwerden zu lindern oder Geburtshilfe zu leisten“ (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 137). Man könnte auch sagen, dass die natürliche Verfasstheit des Gens (pathogene Mutation oder Polymorphismus) der institutionellen Verfasstheit der Klinik (gesund oder krank) entspricht. Oder anders formuliert: Die hingestellte Natur des 354

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Gens funktioniert wie die Klinik. Beides sind abgeschlossene Bereiche mit klar zugewiesenen Funktionen. Alles verläuft über die Trennung zwischen krank und gesund. Doch ist diese Trennung haltbar? Georges Canguilhem schreibt über die paradoxe Pathologie des normalen Menschen: „Unter der Krankheit des normalen Menschen wäre vielmehr jene Störung zu verstehen, die mit der Zeit dem Fortdauern des Normalzustands, der gleichmäßigen Einförmigkeit des Normalen entspringt, jene Krankheit also, die aus dem Mangel an Krankheiten, aus einem mit der Krankheit quasi unverträglichen Dasein entsteht. [...] Die Krankheit des normalen Menschen besteht letztlich darin, dass sein biologisches Selbstvertrauen einen Knacks bekommt“ (Canguilhem 2004: 60f.).

Canguilhem räumt ein, dass diese pathologische Skizze eine Fiktion sei. Seine Beobachtungen über das Pathologische sind vor allem deshalb spannend, weil sie erstens daran erinnern, dass Krankheit und Gesundheit keine feststehenden Begriffe sind. Zweitens, unter Verweis auf Foucaults Buch über die Geburt der Klinik (1999), weist Canguilhem darauf hin, wie tief und grundlegend das Pathologische im Normalen zu Hause ist. Foucault schreibt, dass „es unmöglich ist, eine Wissenschaft vom Leben zu konstituieren, ohne die Möglichkeit der Krankheit, des Todes, der Monströsität, der Anomalie, des Irrtums als wesentliches Merkmal ihres Gegenstandes in Rechnung zu stellen“ (Foucault 2004: 116). Mit den Möglichkeiten der prädiktiven Medizin kann man wohl sagen, dass die von Canguilhem beschriebene Fiktion einer paradoxen Pathologie des normalen Menschen in Alltagspraktiken vorgerückt ist. Es ist kein Wunder, wenn auf der einen Seite von kranken Genen und auf der anderen Seite von gesunden Kranken gesprochen wird. Die Kategorie gesunder Kranker wird gerade mit gentechnischen Entwicklungen verbunden, wenn nicht sogar auf das Wissen über krankheitsverursachende Gene zurückgeführt. Hier gälte es zu intervenieren und nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Aussagen über Krankheit und Gesundheit zu fragen. Wenn davon ausgegangen werden kann, dass das Pathologische normal ist, beziehungsweise die Trennung zwischen gesund und krank nicht natürlich oder eindeutig ist, dann stellt sich die Frage, warum gerade in Verbindung mit Gentechnik die Rede vom gesunden Kranken Konjunktur hat. Mit dem Begriff der Konjunktur wird auf eine Perspektivverschiebung gezielt: Nicht die Gentechnik ist alleinige Ursache für spezifische gesellschaftliche Phänomene der Gegenwart. Der gesunde Kranke ist in diesem Sinne nichts Neues. Er ist aber auch nicht einfach

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etwas bereits Vorhandenes. Man könnte sagen: Die paradoxe Pathologie des normalen Menschen hat eine pathogene Signatur bekommen.

Krankheit und Gesundheit Der Begriff der genetischen Krankheit und die damit verbundenen möglichen Konsequenzen halten sich in der Regel in der Ordnung von Krankheit und Gesundheit auf. Was macht das neue genetische Wissen in Bezug auf ein verändertes Verhalten der Betroffenen, welche neuen Möglichkeiten an Steuerbarkeit und Regulation des Verhaltens von ihnen sind damit verbunden? Auch wenn mit der Gentechnologie ein neues Wissen über genetische Dispositionen verbunden ist, entsteht daraus nicht automatisch etwas Neues. Das Wissen um ein individuelles genetisches Risiko alleine macht noch keine Praxis. Was ist der Anreiz sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten? Insbesondere dann, wenn damit Aspekte verbunden sind, die das ganze Leben beeinflussen werden? Die Patientinnen nicht zu verlieren, war, wie wir gesehen haben, eine der Sorgen der Gynäkologie – lost for follow up. Zwei Strategien treffen sich: auf der einen Seite Subjektivierungsstrategien. Das Patientinnen-Subjekt soll informiert Verantwortung im Sinne von Früherkennung übernehmen. Auf der anderen Seite wird von Seiten der Krankenversicherungen vertraglich festgehalten mit Disziplinierung gedroht, sollte das Patientinnen-Subjekt nicht regelmäßig bei den Kontrollen erscheinen. Diese doppelte Praxis zeigt, dass mit vorschnellen Befunden über die Abnahme von unmittelbaren Vorgaben zugunsten von Selbst-Technologien vorsichtig umgegangen werden muss. „Vorhersagen und Vorbeugung ersetzen in Verbindung mit individuellem Selbstmanagement die Gefahren expliziter staatlicher Vorgaben und Verbote“ (Lemke 2000: 241) eben nicht. Vielmehr ergänzen sich die verschiedenen Strategien und das Beispiel des Programms für Familiären Brustkrebs stellt eine solche Mischung dar. Vor allem scheint mir die Frage nach Zeit im Zusammenhang mit prädiktiver Medizin von Bedeutung zu sein. Wie ich gezeigt habe, sind an dem Programm verschiedene Menschen und Dinge beteiligt. Diese besitzen ihre eigenen Zeitökonomien und es ist keineswegs gesagt, dass die Zeitökonomie der medizinischen Praktiken von den Individuen angenommen wird. Es kommt jedoch nicht nur zu zeitlichen, sondern auch zu räumlichen Störungen. Die Umsetzung des Programms führt in der alten Ordnung zwischen Gesundheit und Krankheit zu Komplikationen. Die Klinik ist nicht dafür gedacht, eine Kontrollmaschine zu sein. Sie nimmt auf und entlässt wieder. Konkretes Beispiel für das Reiben und Stoßen zwischen alt und neu ist das Einbestellsystem im Programm „Familiärer Brust- und Eierstock356

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krebs“. Es braucht ganz andere Datenzugriffsmöglichkeiten und Software, um das regelmäßige und langjährige/lebenslange Einbestellen und die Kontrolle der Patientinnen zu bewerkstelligen. Was sich hier andeutet, kann vielleicht nicht mehr in der Ordnung von Krankheit/Gesundheit gedacht werden. Können wir sagen, dass das „Pathologische [...] nicht mehr als Krankheit, die es auszuschließen und/oder zu heilen gälte, sondern als die ‚Konfigurationen‘ und ‚Raster‘, die einmal unsere Geschichte geschrieben haben werden“ (Dotzler 1992: 20) interessiert? Und welche klinischen oder institutionellen Konfigurationen müssten dies sein, die die pathogenen Signaturen des Lebens beherbergen, verwalten, organisieren und kontrollieren könnten? Müssen neue Namen für ein Problem gefunden werden, welches erst in seiner Problematisierung in der Sprache der alten Ordnung von Krankheit/Gesundheit erscheinen kann, weil kein anderes Sprechen möglich ist? Der Begriff der Krankheit im Zusammenhang mit genetischem Wissen könnte zu einem unzeitgemäßen Begriff werden. Und auch das genetische Wissen könnte sich dahingehend wandeln, dass es nicht mehr in die alte Ordnung passt. Wir haben bei der Betrachtung der Forschungsentwicklungen gemerkt, dass nicht mehr ein einzelnes Gen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern Zusammenhänge zwischen vormals als gesund angesehenen SNPs interessant werden. Die spannende Frage ist, ob die institutionelle Verfasstheit der Medizin in Form von Kliniken genauso wie die Gene mobiler und interaktiver wird? Betrachtet man das deutsche Gesundheitssystem, sieht man auf Seiten der gesetzlichen Krankenversicherungen Veränderungen, die auf eine Umordnung der Versorgung zielen. Thomas Gerlinger hat in seiner Betrachtung der rot-grünen Gesundheitspolitik zwischen 1998 und 2003 zu den Schwierigkeiten der Modernisierung und Implementierung innovativer Versorgungsstrukturen gezeigt, dass die GKVs viel eher ein Interesse daran haben, teure Versicherte zu reduzieren als neue Versorgungsstrukturen aufzubauen, um den eigenen Kostenvorteil zu sichern. Innovative Versorgungsstrukturen für chronisch Kranke aufzubauen, lohne sich nicht, da damit teure Patienten finanziert werden müssen. Aus einer solchen Logik kann die Ausweitung des Pathologischen in der alten medizinischen Ordnung nicht im Interesse der GKVs liegen. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Früherkennungsprogramm, wie es für Familiären Brust- und Eierstockkrebs derzeit (noch) finanziert wird, auf eine größere Menschengruppe übertragen werden kann. Es ist vorstellbar, dass einzelne Praktiken, die im Rahmen des Verbundes erprobt wurden oder am Familiären Brustkrebs experimentiert und entwickelt wurden, ihren Weg in andere medi357

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zinische Praktiken finden. So gelangt man vom Besonderen zum Allgemeinen, wobei das Allgemeine wiederum ebenfalls ein Besonderes darund herstellt.

10.3.3 Geld Ohne Zweifel habe ich diesen Aspekt im Gefüge der Brustkrebs-Gene am wenigsten verfolgt. Über Geld wurde mir gegenüber kaum freiwillig gesprochen und eine entsprechende Frage war in meinem Leitfaden damals nicht enthalten. Dennoch sind alle Praktiken von der Frage nach dem Geld durchzogen; ob für neue Forschungsprojekte oder die Finanzierung der Beratung, Diagnostik und Früherkennung. Es bleibt eine Leerstelle erhalten, die es zu füllen gälte. Somit kann für das spezifische Feld der Brustkrebs-Gene in Anschlag gebracht werden, was Ulrich Dolata bereits Mitte der 1990er Jahre konstatierte: dass es an einer systematischen Aufarbeitung der politischen Ökonomie der Gentechnik fehle (Dolata 1996: 12). Als die molekulargenetische Testung Mitte der 1990er Jahre möglich wurde, hat es vor allem Diskussionen über Patentierungen gegeben. Konnte/durfte/sollte das Unternehmen Myriad Patente auf BRCA1 und BRCA2 haben? In vielen Ländern, unter anderem in der BRD, lautete die öffentliche Antwort mehrheitlich „Nein“. Ein gewichtiges Argument lautete, dass sich Frauen ohne Beratung testen lassen würden und mit dem Ergebnis nicht umgehen könnten. Aber was passierte im Gefolge der Möglichkeit zur Testung? Sie wurde zur Bedingung der Möglichkeit der Finanzierung eines Verbundprojektes durch die Deutsche Krebshilfe mittels des Entwurfs eines hilflosen und von der Möglichkeit der Testung überforderten Patientinnen-Subjektes. Gleichzeitig wurden nicht alle Frauen in diesem Entwurf eingeschlossen und erhielten die Möglichkeit zur Beratung. Gute Interessen gegen schlechte Interessen? Kann man diese Trennung ohne weiteres machen? Ich bezweifle dies. Man sollte eher die Frage stellen, wer wann womit Geld verdient und wie hoch der Verdienst ist. Die Arbeitsgruppe Tumorgenetik hat an ihren Forschungen keinen Gewinn gemacht, sofern man nicht den Erhalt der Tumorgenetik inklusive der dortigen Arbeitsplätze über die Jahre als einen solchen Gewinn betrachten will. Aber sie funktionierte nicht wie ein Startup-Unternehmen. Auch die Anfänge der Gendiagnostik waren keine kostendeckenden Zeiten. Mit der Übernahme der Finanzierung durch die Krankenversicherungen eröffnet sich die Möglichkeit für die Vertragskliniken über die Pauschalen für Risikofeststellung und Beratung, Genanalyse und Früherkennungsmaßnahmen einen Gewinn zu erwirtschaften. Mir 358

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liegen über diese Zahlen jedoch keine Informationen vor. Würde man die Linie des Geldes weiter verfolgen, würde man auch in Gefilde vorstoßen, die sonst eher unsichtbar bleiben. Alle Materialien und Techniken kosten Geld. Der Markt an Anbietern und Produkten ist enorm und die Konkurrenz ist groß. Die Pipette genauso wie jeder Primer haben ihre eigenen Geschichten der Herstellung, die im Produkt nicht mehr auffällt. Die ausführlichste Kostenaufstellung der BRCA-Diagnostik und Beratung im Kontext des bundesdeutschen Verbundprojektes findet sich im „Health Technology Assessment“ für den AOK-Bundesverband aus dem Jahr 2004. In einer Zusammenfassung mit ökonomischen Schlussfolgerungen werden folgende Bereiche angesprochen, erstens die Kosten der genetischen Beratung: Hier wird die Frage gestellt, ob die zeitintensive interdisziplinäre Beratung „Sinn macht und nicht Beratungsinhalte in die zweite Beratungsphase zu verlagern sind, in der weniger Frauen beraten werden“ (Gerhardus et al. 2004: 176). Zweitens wird die Diagnostik aus der Perspektive von Kosteneinsparpotentialen betrachtet und dabei werden die drei Bereiche Personal, Verbrauchsmaterial und Laborgeräte identifiziert. Hier wird Outsourcing als Mittel der Kosteneinsparung genannt, da „die Angebote niedergelassener Labore zeigen, dass die Kosten der direkten Sequenzierung um bis zu 45% gesenkt werden können“ (Gerhardus et al. 2004: 177). Wie aus diesen schemenhaften Skizzen zu erkennen ist, stellt sich die Frage nach dem Geld im Zusammenhang mit der Frage nach den gesellschaftlichen Verteilungen von Zeiten und Räumen. In der Beratung soll Zeit gespart werden. Die Testung soll ausgelagert und in Großlaboren vorgenommen werden, um Material-, Personal- und Gerätekosten zu reduzieren. Diese dominanten Zeit- und Raumökonomien haben Effekte auf gleichzeitig existierende Zeit- und Raumökonomien, beispielsweise der Ratsuchenden in der genetischen Beratung oder der im Labor Arbeitenden. Vor allem hat mich eindrücklich berührt, dass sowohl im Labor als auch in der Humangenetik die Arbeitsplätze prekär und Zeitverträge an der Tagesordnung waren/sind. Welche Effekte hat eine solche Zeitökonomie auf die in ihr Arbeitenden und das in diesem Kontext produzierte Wissen? Damit gelangt man von der Linie des Geldes erneut zur Linie des Wissens.

10.4 Zusammenschau Das Gen ist auf der einen Seite Mittelpunkt der mannigfaltigen Praktiken, die sich um es gruppierten. Auf der anderen Seite ist das Gen kein Mittel- sondern ein Kreuzungspunkt von Linien. Diese haben sich in den 359

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vorangegangenen Passagen verdichtet: Leben, Wissen und Geld. In der Faltung dieser Linien ließ ich ein Gefüge in der Form eines Dreiecks entstehen. So wurde aus dem Kreuzungspunkt, der kein Punkt, sondern eine Linienmenge ist, ein Gefüge. Das Gen als Gefüge ist mehr ein soziales Verhältnis, denn ein fixer Gegenstand. Im Gefüge der BrustkrebsGene traten weitere wichtige Kategorien zum Vorschein: Institutionalisierung, Standardisierung, Krankheit/Gesundheit, Technologie und Zeit. Die Entwicklungen molekularbiologischer und medizinischer Praktiken gehen weiter. Meine Gen-Passagen sind an ein Ende gelangt. Nach einem ersten Abschreiten der Passagen werden sie nun abschließend ein weiteres Mal zusammengezogen.

Leben Das Leben im Gefüge der Brustkrebs-Gene flieht vom Familiären Brustkrebs hin zum Menschen mit sporadischem Krebs, hin zum Menschen in der prädiktiven Medizin, hin zum Menschen mit gesunden Genen: Pathogene Normalität. Jeder, und nicht mehr nur Menschen aus dem eingeschränkten Kreis von charakterisierten Familien, besitzt seine individuelle pathogene Signatur. Familiärer Brustkrebs wurde nicht als zu behandelnde Krankheit relevant, sondern als Modell für die Forschung. Familiärer Brustkrebs blieb nicht nur ein Modell für die Forschung im Labor, sondern wurde zu einem Modell, um die Etablierung und den Einsatz prädiktiver Medizin zu erproben und zu erforschen. Allein die Tatsache, dass sich die DNA im Labor befindet, der Mensch also bereits über den Stammbaum eingeschlossen wurde, macht ihn zum Patienten. Der Mensch in der Klinik ist Patient. Nur hat sich seine Erkrankung in der prädiktiven Medizin verflüchtigt. In allen Fällen mit anwesender/abwesender Mutation wird eine klinische Behandlung gemäß des individuellen Erkrankungsrisikos empfohlen. Die einzige Ausnahme sind Ratsuchende, die entlastet werden, wo also bei einer Indexperson eine Mutation gefunden wird und diese dann nicht in der DNA der Ratsuchenden vorhanden ist. In den, mittels des Stammbaums praktizierten, In- und Exklusionspraktiken wurde ein bestimmtes Patientinnen-Subjekt geschaffen: die betroffene, hilflose und, ob des Vorhandenseins von Testmöglichkeiten, beziehungsweise von Testergebnissen, überforderte Frau. Der Patient im Labor: Die Effekte, die ein genetisches Ergebnis auf den Menschen haben wird und auch der Mensch, auf den sie zielen, sind im Labor vorgestellte. Der Mensch ist eine Störung. Er steht in Konkurrenz zur Maschine. Mehr noch, er erscheint fast wie ein antiquiertes Anhängsel eines automatischen Ablaufs: er ist langsamer und macht Fehler.

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SCHLUSS

Wissen/Wissenschaft Wissenschaft kann immer auch als genealogische Praxis verstanden werden. Eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird hergestellt. Dabei werden Verwandtschaftsverhältnisse (neu) geordnet. Das Wissen im Gefüge der Brustkrebs-Gene flieht von BRCA1 und BRCA2 hin zu neuen Genen, hin zu individuellen Gen-Profilen, hin zu gen-therapeutischen Interventionen. Waren zunächst die Mutationen im Zentrum des forschenden Interesses, rückten die UVs und die SNPs nach und nach ins Zentrum vor: Pathogener Sog. Krankheit und Geschlecht wurden in das Gen eingeschlossen und gleichzeitig aus dem Wissen um Vererbung als neutralem Vorgang ausgeschlossen: Innerer Ausschluss. Das Geschlecht im Techno-Logos: Die männliche Linie wird von Cyrillic nicht gleichermaßen berücksichtig wie die weibliche Linie der Vererbung. Bis in die Programmierung der Software hinein führt die Vergeschlechtlichung der geschlechtsneutralen Vererbung. Mit dem Wissen nahm das Nicht-Wissen zu. Forschung ist ein Leben der Forschenden in Endlosschleifen. Die Umwandlung von FamilienWissen in Stammbaumwissen und von Stammbaumwissen in Wahrscheinlichkeiten, ist die Bedingung der Möglichkeit für den Zugang zur Gen-Diagnostik und Früherkennung. Ein eigenes Feld von riesigen Datenmengen spannt sich auf. Um dem Materialmangel Abhilfe zu schaffen, wird zentralisiert und kooperiert. Neben Datenbanken treten Materialbanken. Wissenschaftliches Kapital. Neues entsteht nicht voraussetzungsfrei, sondern ist eingebunden in ein System der Rentabilität. Institutionen/Standards Die Klonierung und Sequenzierung von BRCA1 markierte einen zentralen Katalysator für Prozesse der Institutionalisierung medizinischer Praktiken, weil mit der Sequenzierung die gentechnologische Verfügbarkeit von BRCA1 und damit der Weg zur Entwicklung eines GenTests offen lag. Im Verbundprojekt wurde die Erarbeitung, Etablierung und Praktizierung von Standards eine zentrale Aufgabe und gleichzeitig wirkten diese Prozesse formgebend auf die Institution und ihre Menschen ein. Oder anders formuliert: Institutionalisierung bedeutete Standardisierung und Standardisierung bedeutete Institutionalisierung. Beide zusammen ließen und lassen Dinge und Menschen auf spezifische Art und Weise entstehen. Laborpraktiken bewegen sich zwischen Standards und Standardisierungen, zwischen Stabilisierungen und Destabilisierungen. Die Insignien der Diagnostik – Routine, Stabilität, etablierte Verfahren – werden in den Alltagspraktiken in ihrer Fragilität vorgeführt. Während sich die Mutationen als stabile Entitäten in der Befundung erweisen, fällt das Urteil bei den UVs und den SNPs nicht leicht. Insofern 361

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ist das Klassifikationssystem nicht fixiert, sondern tendenziell mobil. Auch wenn von den Gynäkologinnen betont wird, dass der Stammbaum und nicht die Wahrscheinlichkeit Ein- und Ausschluss bestimmt: institutionell verfasst zählt die Zahl. Auf der einen Seite wird von klinischer Seite die Eigenverantwortlichkeit des Patienten-Subjektes betont und gefordert. Auf der anderen Seite wird der Entscheidungspfad deutlich von Seiten der Krankenversicherungen gelenkt: Eigenverantwortlichkeit und Kontrolloptimierung sind gut, Disziplinierung ist deshalb keineswegs abzuschaffen. Die disziplinären Grenzen innerhalb der Doppelstruktur von humangenetischer und gynäkologischer Beratung sind im Beratungsalltag überaus vage. Der sichere Boden disziplinärer Besitzstände ist am Schwanken. Im Falle der BRCA-Kooperationen liegt es nahe, von einer Art standardisierter und institutionalisierter Interdisziplinarität zu sprechen.

Zeit Wie soll man Prozesse des Verstehens verstehen lernen, wenn man diese nicht vermittelt bekommen kann, weil dafür interdisziplinäre Zeit notwendig wäre, die im disziplinären Alltag kaum einen Platz findet? Wird nichts Neues gefunden, vergeht zuviel Zeit, und wird zu viel investiert, dann steht man früher oder später vor dem Konkurs. Das gesponnene und vom anwesenden/abwesenden Brustkrebs-Gen zusammengehaltene Band war eines des Versprechens und der Hoffnung auf Hilfe und Heilung. Die Substanzwerdung von BRCA und BRCA2, also ihre gentechnische Verfügbarmachung, schloss den Spalt zwischen Erwartung und Erfüllung, sondern sperrte ihn weiter auf. Sie stellte einen enormen Forschungsattraktor für neues Wachstum dar: BRCAx. Augenfällig ist, dass forschend nicht nur eine bestimmte Zukunft gezeichnet, sondern vor allem eine Gegenwart hergestellt wurde. Indem das Versprechen in die Gegenwart rückte, kam es nicht zur Ausbreitung von gesunder Zeit, sondern von medizinisch kontrollierter Zeit; davon freie Gegenwart schrumpfte: Früherkennung. Gleichzeitig blieb das Fortschritts-Versprechen auf eine bessere Zukunft bestehen. Angefüllt mit Versprechen und Erwartungen existierte das Gen vor seiner Existenz: anwesend/abwesend. Als solches war es die Bedingung der Möglichkeit von Institutionalisierungsbewegungen. Technologie Läuft eine Maschine, verschwindet alles, was nötig war, um sie zum Laufen zu bringen. Sie wird zu einer Black Box. Auch wenn eine Etablierung lokal erfolgte, ist die DHPLC kein Selbstläufer. Menschliche Arbeit muss zu ihrer Stabilisierung geleistet werden, auch wenn diese 362

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hinter den Maschinen zu verschwinden scheint und oftmals unsichtbar wird. Aber High-Tech vorgestellt als menschenarmes Unternehmen gibt es nicht. Maschinen können streiken. Das ist nicht lächerlich, sondern weist auf die tiefe Verwobenheit technischen Handelns mit Gefühlen hin. Vor allem trägt die DHPLC einen spezifischen Techno-Logos in sich: Je mehr die Maschine ausgelastet ist, desto besser. In der Technik wirkt der Logos des Kapitals und zwar in der Potentialität des Wachstums an Probendurchsätzen und der Kostenreduktion. In der Tumorgenetik wird nicht von Hand pipettiert, weil eine Neu-Verteilung zwischen Mensch und Maschine nicht rentabel ist. Sprich, mit der PipettierMaschine stellt sich nicht nur die Frage des Verhältnisses zwischen Mensch und Maschine, sondern auch zwischen Maschine und Material: Eine Automatisierung würde aus sich heraus einen Hunger nach Proben erzeugen.

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E M P I R I S C H E S M AT E R I AL

I n t e r v i ew s m i t Ernst Wender (Name geändert) am 15.11.2006 Privat Verena Gimmel am 29.03.2006 und am 06.11.2006 am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Arbeitsgruppe Tumorgenetik, Robert-Rössle-Str. 10, 13092 Berlin. Gabriele Hundsdörfer am 01.06.2006 Telefonisch Christel Grau (Name geändert) am 09.06.2006 am Interdisziplinären Brustzentrum, Charité-Universitätsmedizin, Campus Mitte, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin. Kerstin Meier (Name geändert) am 29.03.2006 am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Arbeitsgruppe Tumorgenetik, Robert-Rössle-Str. 10, 13092 Berlin. Marc Müller (Name geändert) am 19.06.2007 am Institut für Medizinische Genetik, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin. Siegfried Scherneck am 30.03.2006 und am 05.04.2006 am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Arbeitsgruppe Tumorgenetik, Robert-Rössle-Str. 10, 13092 Berlin. Sabine Heinz (Name geändert) am 17.11.2006 am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Arbeitsgruppe Tumorgenetik, Robert-Rössle-Str. 10, 13092 Berlin.

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GEN-PASSAGEN

Dorothee Speiser am 02.02.2007 am Interdisziplinären Brustzentrum, Charité-Universitätsmedizin, Campus Mitte, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin. Mirjam Spiegel am 03.04.2006 und am 10.04.2006 am Institut für Medizinische Genetik, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin. Michael Untch am 26.06.2006 am Helios Klinikum Berlin-Buch, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Charité, Wiltbergstr. 50, 13125 Berlin

Teilnehmende Beobachtungen und Kontakte Erster Besuch der Arbeitsgruppe Tumorgenetik und Treffen mit Siegfried Scherneck am 14.07.2005. Teilnehmende Beobachtung vom 14.11.2005-25.11.2005 sowie im Verlauf der Forschung (2005-2007) begleitend an einzelnen Tagen in der Arbeitsgruppe Tumorgenetik am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Der Kontakt bestand bis zur Auflösung der Arbeitsgruppe Tumorgenetik Anfang 2007 (Erstellung eines Forschungstagebuchs). Teilnehmende Beobachtung vom 16.01.2006-20.01.2006 am Institut für Medizinische Genetik, Charité-Campus Virchow-Klinikum in Berlin bei Mirjam Spiegel (Erstellung eines Forschungstagebuchs). 09.06.2006 Möglichkeit der Hospitierung in der gynäkologischen Sprechstunde (im Rahmen des Zentrums Berlin für Familiärem Brustkrebs) von Christel Grau am Interdisziplinären Brustzentrum, Charité-Universitätsmedizin in Berlin.

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380

EMPIRISCHES MATERIAL

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EMPIRISCHES MATERIAL

Zentrum Berlin für Familiären Brustkrebs: Vorlagen für Befundbriefe aus der genetischen Diagnostik BRCA1 /BRCA2. (Zur Verfügung gestellt 2006.)

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A N H AN G

Ab b i l d u n g s ve r z e i c h n i s Abbildung 1: „Typischer“ Stammbaum von Familiärem Brustkrebs Quelle: Scherneck/Hofmann 1999: 374 Abbildung 2: Weiblicher Stammbaum Quelle: The Lancet 17.06.1967: 1332 Abbildung 3: Vererbung der BRCA1/2-Mutation Quelle: Gerhardus et al. 2004: 39 Abbildung 4: Brief von Mary-Claire King Quelle: zur Verfügung gestellt von Siegfried Scherneck 2006 Abbildung 5: Von Linien, Kreuzungen und einem Gefüge Quelle: Sonja Palfner 2007 Abbildung 6: Die Bewegung des Brustkrebs-Gens Quelle: Sonja Palfner 2007 Abbildung 7: Zentrum Berlin für Familiären Brustkrebs 2005 Quelle: Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ Abbildung 8: Laborraum Quelle: Sonja Palfner 2006 Abbildung 9: PipetteHand Quelle: Sonja Palfner 2006 Abbildung 10: Der Patient in der Tube Quelle: Sonja Palfner 2006 Abbildung 11: Auswerten Quelle: Sonja Palfner 2006 Abbildung 12: Von Linien, Kreuzungen und einem Gefüge Quelle: Sonja Palfner 2007 387

GEN-PASSAGEN

I n t e r v i ew l e i t f a d e n

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Was sind die „Objekte“ Ihrer Arbeit, also womit haben Sie es im Arbeitsalltag zu tun? Was sind die Instrumente der eigenen Arbeit? Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen der Menschen, die direkt oder indirekt in Ihre Arbeit involviert sind. Ratsuchende, Patienten, Indexpatienten et cetera. Was ist der Mensch für Sie und welche Bedeutung hat er für die Arbeit? Was denken Sie über die eigene Arbeit in Bezug auf die Konsequenzen, die damit für den Patienten/die Patientin verbunden sind? Was bedeutet Krankheit für Sie in der Arbeit? Es heißt ja „Familiärer Brust- und Eierstockkrebs“ – Es wird oftmals nur von Familiärem Brustkrebs gesprochen. Was fällt Ihnen hierzu ein? Welche Bedeutung hat für Sie der Stammbaum? Spielt er für Ihre eigene Arbeit eine Rolle? Wenn ja, welche? Welche Bedeutung hat für Sie „das“ Brustkrebsgen? Spielt das Gen in Ihrer eigenen Arbeit eine Rolle? Wenn ja, welche? Wie wichtig ist das Finden von Mutationen für Ihre Arbeit? Was denken Sie dazu, dass Brustkrebs zum größten Teil eine weibliche Krankheit ist, die Mutationen jedoch von Männern ebenso wie von Frauen vererbt werden? Welche Bedeutung hat Familie in Ihrer Arbeit? Welche Bedeutung hat es für Sie, dass in der humangenetischen Diagnostik Aussagen über Wahrscheinlichkeiten getroffen werden? Ist es für Sie wichtig zu wissen, wie die Wahrscheinlichkeiten berechnet werden? Würden Sie sagen, dass sich in ihrem Arbeitsbereich ein Standard etabliert hat? Was nehmen Sie in der Arbeit als Probleme oder Störungen war? Was macht Sie unzufrieden? Sind Sie manchmal unsicher? Wie gehen Sie dann mit der Unsicherheit um? Was bedeutet für Sie Erfolg in Ihrer Arbeit? Wenn Sie an die Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen denken, was fällt Ihnen dazu ein? Gibt es Dinge, die Sie in der Zusammenarbeit ändern würden und wenn ja, welche? Was bekommen Sie in ihrer Arbeit vom Ablauf der Diagnostik mit? Was bekommen Sie von dem weiteren Weg der Früherkennung und der Maßnahmen mit?

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ANAHNG

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Verfolgen Sie die Forschung im Bereich der Brustkrebsgene? Forschen Sie selbst? Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Diagnostik und Forschung beschreiben?

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2008-05-27 12-26-20 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02a8179786122216|(S.

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) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240