Gefährlicher Gott, riskanter Teufel, normalisierter Mensch: Katholische Kontingenzdispositive im 19. Jahrhundert [1 ed.] 9783666371011, 9783525371015

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Gefährlicher Gott, riskanter Teufel, normalisierter Mensch: Katholische Kontingenzdispositive im 19. Jahrhundert [1 ed.]
 9783666371011, 9783525371015

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Johann Kirchinger

Gefährlicher Gott, riskanter Teufel, normalisierter Mensch Katholische Kontingenzdispositive im 19. Jahrhundert

Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Miloš Havelka, Friedrich Wilhelm Graf, Przemysław Matusik und Martin Schulze Wessel

Band 21

Johann Kirchinger

Gefährlicher Gott, riskanter Teufel, normalisierter Mensch Katholische Kontingenzdispositive im 19. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill S­ chöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Holzschnitt mit dem Titel »Eröffnung des siebenmal versiegelten Buches durch das Lamm«, aus: Schnorr von Carolsfeld, Julius: Die Bibel in Bildern. Leipzig 1860, Nr. 237. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0955 ISBN 978-3-666-37101-1

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.

Zum Forschungsstand: »Moderne« und »Katholizismus« . . . 12

2.

Zur Methode: »Religion« und »Kultur« . . . . . . . . . . . . . . 38

3.

Zu den Quellen: »Diskurs« und »Theologie« . . . . . . . . . . . 49

II. Strukturen der Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.

Sicherheit und Unsicherheit: Zur Begriffsbestimmung . . . . . 55

2.

Eine Teufelsaustreibung von 1828: Exorzismusdispositiv und Gnadendispositiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

3.

Gefährlicher Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

4.

Riskanter Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

III. Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv . . . . . . . . . . . . . 99 1.

Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

2.

Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

3.

Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

4.

Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

5.

Negation von Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

IV. Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv . . . . . . . . . . 144 1.

Eine lieblose Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

2.

Neuscholastischer Rationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

3.

Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht 161

4.

Gewissheit: Mathematik, Recht und Theologie . . . . . . . . . 170

5.

Objektivierung der sozialen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . 183

6.

Das Ende der Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

7.

Willensfreiheit: Verantwortlichkeit, Unvollkommenheit und Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

6 Inhalt 8. Handeln statt Dulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 9. Der agonale Charakter der Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . 228 10. Gefahr als soziales Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 11. Von der Vollkommenheit als Ideal … . . . . . . . . . . . . . . . 245 12. … zur Akzeptanz von Unvollkommenheit . . . . . . . . . . . . 254 13. Die Kirche als Heterotopie I: Gewissheit . . . . . . . . . . . . . 258 14. Risiko als sozialpolitische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 15. Der andere sozialethische Sinn der Sozialversicherung . . . . . 272 16. Sozialversicherungen: Konsens im Zweck, Dissens in der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 17. Die Kirche als Heterotopie II: Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . 283 18. Emanzipation der Welt von Gott, aber nicht vom Teufel . . . . 291 V. Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv . . . . . . . . 306 1. Das Paradox der Unvollkommenheit – Vom Gesetz zur Gesetzmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Kampf und Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 3. Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 4. Das Geschwür und die Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . 357 5. Zufall und Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 6. Die moralische und die mathematische Wahrscheinlichkeit

. 382

  7. Die Normalisierung der sozialen Gerechtigkeit . . . . . . . . . 385 8. Der Geist des Mittelstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396   9. Die moralische Aufwertung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . 409 10. Das Einkommen der Heiligen Familie . . . . . . . . . . . . . . 416 11. Vom Ordnen zum Messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 12. Die Sakralisierung des Nutzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 13. Verwalten statt Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 14. Die Normierung der Willensfreiheit, das Interesse an der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 15. Synchronisierung der Beschleunigung, Gradualisierung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 16. Bistumsbeschreibungen: Vom Strafen zum Verwalten, vom Verwalten zum Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

Inhalt  7

17. Die heilige Kleinfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 18. Die Kontinuierung des Duals Heilig / Profan . . . . . . . . . . . 483 19. Katholische Degenerationskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . 488 20. Der ungeduldige Bischof, oder: ultramontane Nervosität . . . . 499 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Biogramme der verwendeten Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 1.

Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

2.

Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

3.

Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551

4.

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2020/2021 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart als Habilitationsschrift angenommen. Das Verfahren wurde mit dem Habilitationsvortrag (Thema des Vortrages: »Geistliche Frauengemeinschaften und die kulturelle Urbanisierung ländlicher Räume 1850 bis 1950«) am 27. Janu­­ar 2021 erfolgreich abgeschlossen. Die Venia Legendi lautet auf »Neuere Geschichte«. Vor allen danke ich dem Hauptberichter Prof.  Dr.  Wolfram Pyta, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart, für die Betreuung der Habilitationsschrift. Sein großes Interesse, seine Aufmunterungen und die fachlichen Diskussionen mit ihm haben wesentlich zum Gelingen beigetragen. Als weiterer Gutachter fungierte Prof. Dr. Klaus Unterburger, Ordinarius für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg, dessen Assistent ich seit 2012 bin. Er ermöglichte mir an seinem theologischen Lehrstuhl die Abfassung einer ›profan‹geschichtlichen Habilitationsschrift mit einem religionsgeschichtlichen Thema. Dafür und für seinen kompetenten Blick auf meine religionsgeschichtlichen Thesen bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Das dritte Gutachten übernahm Prof. Dr. Birgit Aschmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie hat sich in ihrem Gutachten ebenfalls intensiv mit meiner Arbeit auseinandergesetzt und konnte mich dadurch auf einige Einseitigkeiten hinweisen. Dafür sei ihr mein Dank ausgesprochen. Für die Aufnahme in die Reihe »Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit« danke ich den Reihenherausgebern Prof. Dr. Miloš Havelka, Professor für Soziologie und Philosophie an der Karls-Universität Prag, Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf, emeritierter Ordinarius für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, Prof. Dr. Przemysław Matusik, stellvertretender Direktor des Instituts für Geschichte an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen, und Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die stets freundliche und pragmatische verlegerische Betreuung danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, insbesondere Daniel Sander und Matthias Ansorge. Der mühevollen Arbeit des Korrekturlesens hat sich

10 Vorwort mein Kollege und Freund Dr. Christian König, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Regensburg, unterzogen. Dafür gebührt ihm mein herzlicher Dank. Als Kenner jeglicher geschichtswissenschaftlicher Theorie konnte er mich vor der Gefahr des bloßen Empirismus bewahren. Dr. Johann Kirchinger

Regensburg, im November 2021

I. Einleitung Der katholische Sozialethiker Albert Maria Weiß (1844–1925) urteilte in seinen Lebenserinnerungen über die Katholiken um die Jahrhundertwende: Einfach stumm sich allen modernen Einrichtungen unterwerfen wie etwa zu Anfang des 19. Jahrhunderts, das war vorüber, darin stimmten sie alle überein. Bloß platonische Luftgebilde entwerfen, im übrigen sich auf Proteste und Opposition beschränken, konnte auch zu nichts führen. Soviel war ebenfalls klar.1

Nach Ansicht von Weiß stellten die Katholiken von reaktivem Erdulden auf proaktives Eingreifen in die sozialen Strukturen um. Ein Blick auf die Entwürfe der katholischen Sozialethik bestätigt diese Sichtweise. Zielten sie am Beginn des 19. Jahrhunderts auf eine Gesinnungsreform als Voraussetzung für die Behebung von Missständen, waren sie am Ende des 19. Jahrhunderts auf eine Veränderung der sozialen Strukturen als Voraussetzung einer Rechristianisierung orientiert.2 Die katholische Sozialethik nimmt daher Anteil an der Erweiterung des menschlichen Handlungsspielraums. Dieser lässt sich nicht nur zurückführen auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse, was zu einer Domestizierung der Natur führte, sondern erstreckte sich nicht zuletzt auf politische, administrative und zivilgesellschaftliche Bereiche. Er lässt sich zurückführen auf zunehmende Handlungsnotwendigkeiten angesichts der mit der Kapitalisierung und Industrialisierung der Wirtschaft verbundenen sozialen Probleme und auf zunehmende Handlungsmöglichkeiten, erstens in politischer Hinsicht aufgrund der Parlamentarisierung und zweitens in administrativer Hinsicht durch den Willen des Sozial- und Interventionsstaates, in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben einzugreifen. Wenn die katholische Sozialethik diesen erweiterten menschlichen Handlungsspielraum füllte, dann tat sie dies sicherlich, um Herrschaft auszuüben. Eine solche Sichtweise reduzierte die katholische Kirche aber auf die Rolle eines politischen Akteurs, dessen theologische Aussagen nur Opium fürs Volk sind. Selbst wenn dies so wäre, bleibt aber immer noch zu fragen, warum die katholische Kirche mit ihrer Sozialethik bereit war, diesen erweiterten Handlungsspielraum zu füllen, während die protestantische Sozialethik während des gesamten 19. Jahrhunderts im Stadium der Gesinnungsreform verharrte.3 Deshalb ist es nötig, alles Katholische im 19. Jahrhundert als das zu betrachten, was es zuvör 1 Weiß: Lebensweg 398. 2 Vgl. dazu den Überblick bei Stegmann / Langhorst: Geschichte; ferner Heitzer: Einleitung. 3 Vgl. dazu den Überblick bei Jähnichen / Friedrich: Geschichte.

12 Einleitung derst sein wollte, nämlich als Religion und die katholische Ausfüllung des erweiterten menschlichen Handlungsspielraums nicht nur als politik-, sondern als religionsgeschichtliches Phänomen zu betrachten. Immerhin führte Max Weber (1864–1920) auch nicht die Entwicklung des Kapitalismus auf die protestantische Gnadentheologie zurück, sondern beschrieb, welchen dynamisierenden Effekt diese auf den vorhandenen Kapitalismus hatte, wodurch eben der »kapitalistische Geist« entstand.4 Weber stellte fest: Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: Die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen werden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.5

Es war der spezifisch religiöse Sinn, der einer sozioökonomischen Entwicklung verliehen wurde, der die proaktive religiöse Gestaltung der Immanenz durch die katholische Sozialethik ermöglichte, durch die protestantische dagegen nicht. Es ist deshalb zu fragen, wie und warum die katholische Sozialethik die sich im 19. Jahrhundert erweiternden Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten derart integrierte, dass eine spezifische, auf die Veränderung von sozialen Strukturen orientierte Haltung entstand und welche dynamisierenden bzw. restringierenden Impulse sie im Hinblick auf die gesamte soziale und ökonomische Entwicklung setzte.

1. Zum Forschungsstand: »Moderne« und »Katholizismus« Die Erweiterung des menschlichen Handlungsraumes gilt als zentrales Kennzeichen der »Moderne« als historischer Epoche.6 Der Historiker Jürgen Kocka bezeichnet das 19.  Jahrhundert als Epoche der »Klassischen Moderne«, gekennzeichnet von einer politisch-ökonomischen Doppelrevolution. Er meint damit auf wirtschaftlichem Gebiet Industrialisierung und Durchsetzung der Marktwirtschaft, auf politischem Gebiet den Übergang vom Feudalismus zur beginnenden Demokratie, auf sozialem Gebiet die Ersetzung der ständischen durch die Klassengesellschaft bzw. der kulturellen Dominanz des Adels durch diejenige des Bürgertums.7 In einem soziologischen Lehrbuch wird der Modernisierungsprozess auf acht Dimensionen verdichtet. Demnach handelt es sich 4 Weber: Ethik. Vgl. dazu Ghosh: Historian. 5 Weber: Wirtschaftsethik 101. 6 Vgl. Elvin: Definition; Benavides: Moderne 87; Unterburger: Moderne 26. 7 Kocka: Jahrhundert 149–154. Vgl. dazu kritisch Aschmann: Säkulum 7–28. Aschmann ist der Ansicht, dass sich das 19. Jahrhundert aufgrund seiner Widersprüche nicht einheitlich etikettieren lasse.

Zum Forschungsstand: »Moderne« und »Katholizismus«  13

bei der Modernisierung im Hinblick auf die soziale Struktur um funktionale Differenzierung, um Rationalisierung in der Kultur, Individualisierung der Person, Domestizierung der Natur, Beschleunigung der Zeit, Globalisierung in der räumlichen Dimension, um Vergeschlechtlichung und in epistemologischer Hinsicht um Reflexivität.8 Dabei ist die Rationalisierung ein zentraler Begriff jeder Perspektive auf die verschiedenen Modernisierungsprozesse. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz charakterisiert die Moderne mit Hilfe »sozialer Rationalitätspotentiale«. Diese sind die Mechanismen des Marktes, das unparteiische Recht, demokra­tisch legitimierte Politik, wertneutrale Wissenschaft, arbeitsteilig und spezialisiert organisierte Wirtschaft sowie die Vorstellung eines selbstkontrollierten Subjekts.9 Diese Rationalisierungsprozesse werden seit Max Weber mit Säkularisierung gleichgesetzt.10 Als Funktion von Rationalisierung gilt Säkularisierung also als zentrales Merkmal von Modernisierung. Sie besteht aus dem zunehmenden Verlust religiöser Deutungsangebote an Überzeugungskraft angesichts konkurrierender natur- und sozialwissenschaftlicher Deutungsangebote sowie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, weshalb sie sich zunehmend von der öffentlichen in die private Sphäre zurückzieht.11 Deshalb stellte das 19. Jahrhundert für die Kirche eine der »massivsten Provokationen und umfassendsten Deutungs- und ›Wirklichkeitskrisen‹ ihrer Geschichte dar«, so der Religionssoziologe Michael N. Ebertz.12 Obwohl Weber die Rationalisierung als Säkularisierung beschrieb, war er sich über die religiösen Wurzeln der Rationalisierung in Europa im Klaren. Er beschrieb die Herausbildung von Rationalität, die Entwicklung eines Drangs zum Handeln statt zum Dulden und die Entstehung einer Sittlichkeit, die zur Disziplin, zum sozialen Zwang, wurde, in seiner »Protestantischen Ethik« als Kennzeichen des Puritanismus mit seiner augustinischen Gnadenlehre. Bernhard Groethuysen (1880–1946) glaubte eine rationalisierende Entwicklung im 8 Degele / Dries: Modernisierungstheorie 21–23. 9 Reckwitz: Politik 36 f. 10 Weber: Wirtschaftsethik 512: »Wo immer aber rational empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulates: daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor. Denn die empirische und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung entwickelt prinzipiell die Ablehnung jeder Betrachtungsweise, welche überhaupt nach einem ›Sinn‹ des innerweltlichen Geschehens fragt. Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin.« 11 Vgl. dazu Hahn: Religion; Lehmann: Säkularisierungsthese 144–156; Schlögl: Glaube (2013) 440 f.; Sutterlüty: Religion 49–51. 12 Ebertz: Organisierung 39.

14 Einleitung rechtgläubigen katholischen Bürgertum des frühneuzeitlichen Frankreich erkennen zu können. Im diametralen Gegensatz zu Weber gründete er die »Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich« gerade an die jesuitische Werkfrömmigkeit, die im Unterschied zur augustinischen Prädestinationslehre der Jansenisten immanente Handlungsautonomie ermöglicht habe.13 Sowohl bei Weber als auch bei Groethuysen war das moderne bürgerliche Weltbild also rationalistisch und doch religiös determiniert. Beiden ging es also um eine sensible Analyse der Rationalisierungspotentiale von Religion – wobei Weber freilich davon ausging, dass Rationalisierung langfristig zum Verschwinden von Religion führen würde. Im Unterschied zu den differenzierten Entwürfen von Weber und Groethuysen mit ihrem komplexen Verhältnis von Religio und Ratio setzte sich aber schließlich eine dialektische, um nicht zu sagen dualistische, Sichtweise durch, die Rationalisierung als Säkularisierung betrachtete und in der alles Religiöse zur Opposition gegen die Moderne werden musste. Insbesondere die katholische Kirche galt bereits im 19. Jahrhundert als Bollwerk gegen die Moderne.14 Indem die katholische Kirche gegen aufklärerische Vernunft die Verbindlichkeit der Offenbarung und des kirchlichen Lehramts postulierte, indem sie gegen die Volkssouveränität auf den göttlichen Ursprung der Staatsgewalt pochte, indem sie gegen den agonalen Kapitalismus die Harmonie der Ständeordnung setzte, indem sie gegen Nationalismus auf Universalismus pochte, stellte sie sich gegen die Moderne, so das herrschende Narrativ.15 Der katholische Kirchenhistoriker Alber Ehrhard beklagte im Jahr 1901, es werde »in weiten Kreisen in allem Ernste und mit einem Aufwand von Gründen wie nie zuvor« behauptet, daß der Katholizismus der große Gegner der modernen Kultur sei, ihre Fortschritte hemme und schuld daran sei, wenn die moderne Kultur sich nicht rascher und fruchtbarer durchwirke, ihre Segnungen nicht in größerem Maßstabe und weiterem Umfange über die Menschheit ausgießen könne.16

Dabei war er sich bewusst, dass diese Einschätzung durchaus auch innerhalb der katholischen Kirche geteilt wurde.17 Der Katholizismus wurde »in- und außerhalb der eigenen Reihen« als »Verschwörung gegen die Moderne« betrachtet, so der Kirchenhistoriker Viktor Conzemius.18 Die Selbstwahrnehmung als antimodern diente der Konstruktion einer eigenen katholischen Identität. Und genauso diente die Fremdwahrnehmung des Katholischen als antimodern der 13 Groethuysen: Entstehung Bd. 1 und Bd. 2. Zu Groethuysen vgl. Große Kracht: Berlin. 14 Vgl. Freytag: Aberglauben 59. 15 Loth: Einleitung 9–11. 16 Ehrhard: Katholizismus 3. 17 Ebd. 303. 18 Conzemius: Rom 201. Vgl. Nowak: Geschichte 64–66; Holzem: Milieu 17 f.; Clark: Catholicism 12 f.; Maier: Standort 63; Unterburger: Moderne 26 f.

Zum Forschungsstand: »Moderne« und »Katholizismus«  15

Konstruktion von bürgerlicher Identität.19 In der Antimodernität trafen sich also Selbst- und bürgerlich-liberale Fremdwahrnehmung des Katholischen. Dies erklärt die Persistenz dieses Interpretaments. Der evangelische Kirchenhistoriker Kurt Nowak spricht zutreffend von einer »Spannung zwischen Fremdausgrenzung durch die nichtkatholische Mehrheit und Selbstausgrenzung durch das religiöse und kulturelle Selbstverständnis«.20 Insbesondere die sozialhistorische Forschung ging in der Nachfolge HansUlrich Wehlers von der dialektischen Opposition der katholischen Kirche gegen die Moderne aus. Für Wehler handelt es sich bei der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts um eine antimoderne Institution. Ihre inneren Entwicklungen liefen konträr zu den emanzipativen politischen Prozessen. Während sich die Monarchien liberalisierten, sei die katholische Kirche den umgekehrten Weg gegangen.21 Der Historiker Nils Freytag interpretiert die katholische Konjunktur des Übernatürlichen damit übereinstimmend dialektisch als Kompensation für das immer dominierender werdende rational-wissenschaftliche Weltbild.22 Und auch der britische Historiker David Blackbourn erklärt den sich in Marien­ erscheinungen zeigenden zunehmenden katholischen Mystizismus ebenso als dialektische Reaktion auf den Kampf, den die moderne bürgerliche Gesellschaft gegen das Katholische führte.23 Dabei eignete sich die katholische Kirche kaum als Forschungsgegenstand der Sozialgeschichte, da ihre Wahrnehmung auf die klerikale Hierarchie beschränkt war und sich in dieser Perspektive die gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten von Katholiken nicht umfassend erfassen ließen. Zum sozialgeschichtlichen Forschungsgegenstand wurde deshalb der Katholizismus. Der katholische Theologe Karl Rahner (1904–1984) verstand darunter die politische und gesellschaftliche Ausprägung des Katholischen im Unterschied zur katholischen Kirche.24 Dagegen versteht der Soziologe Karl Gabriel unter Katholizismus eine die katholische Kirche umfassende, aber darüber hinausreichende »Sozialform«, in der ein universaler religiöser Deutungsanspruch trotz funktionaler Differenzierung aufrechterhalten wurde und außerhalb des religiösen Systems nicht zuletzt mit politischen Mitteln durchgesetzt werden sollte.25 Der Begriff 19 Unter Identität ist ein kommunikatives Konstrukt zu verstehen, das als Selbstbild einer Gruppe dient und ihrem Handeln Sinn verleiht, woran sich Praktiken der Inklusion und Exklusion anschließen. Vgl. dazu Reckwitz: Identitätsdiskurs. 20 Nowak: Geschichte 150. 21 Wehler: Gesellschaftsgeschichte 471. Vgl. auch: Ders.: Modernisierungstheorie 34–38. 22 Freytag: Aberglauben 387. 23 Blackbourn: Gottheit 182: »Nach jeder neuen Attacke zeitigten die wachsende Panik und Verzweiflung weitere Berichte von Stigmatisierten und Propheten, Ausdruck einer kollektiven Sehnsucht nach himmlischem Beistand und Errettung.« 24 Zum Katholizismusbegriff vgl. Scheidgen: Katholizismus 26–33; ferner Nell-Breuning: Katholizismus. 25 Gabriel: Gesellschaftsentwicklung 211 f.

16 Einleitung des Katholizismus bringt also letztlich zum Ausdruck, dass das Katholische seit der Französischen Revolution politisiert worden ist.26 Der Begriff des Katholizismus erlaubt also die Wahrnehmung einer isolierten katholischen Identität in einer modernen Umwelt, weshalb seine historiographische Existenz an die Behauptung von der Opposition des Katholischen gegen die Moderne und damit in sozialhistorischer Hinsicht gegen das Bürgertum gebunden ist. Denn das Bürgertum gilt als sozialer Träger der Moderne. Der evangelische Kirchenhistoriker Klaus Fitschen behauptet, dass der Katholizismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »den größten Teil seines Modernisierungspotenzials« verloren habe, weil er sich gegen die »bürgerlichen« Freiheitsrechte gewandt habe.27 Während das Bürgertum am Ende des 19. Jahrhunderts ohne das am Rande zum Proletariat stehende Kleinbürgertum nur sieben Prozent der Bevölkerung ausmachte, wurden die bürgerlichen Werte kulturell aber dominierend. Bildungsideal, Berufs- und Karrierebegriff des Bürgertums, die bürgerliche Geselligkeitsform des Vereins, bürgerlicher Geschmack, bürgerliche Reinlichkeit und bürgerliche Kleinfamilie setzten sich als kulturelle, soziale und ökonomische Leitbilder durch.28 Dabei war der Katholik des 19. Jahrhunderts aus Sicht des überwiegend protestantischen Bürgertums rückständig, faul, ungebildet und schmutzig und dadurch vom sauberen, fleißigen und intelligenten Bürger klar unterschieden.29 Daran anschließend konstruiert der Historiker Thomas Nipperdey einen Idealtypus des Katholiken in Differenz zur sozialen Norm, die Protestantismus und Bürgerlichkeit identifizierte. Katholiken waren »weniger modern, weniger etabliert, weniger aufgestiegen als die Protestanten, weniger professionell und individualisiert, weniger auf Aufstieg und Erfolg aus«.30 Der eidgenössische Katholizismusforscher Urs Altermatt folgt ihm dabei. Er betrachtet den Katholizismus als »Überbleibsel der vormodernen Kultur«. Katholiken lebten in anderen Zeitdimensionen, besaßen größere Familien, folgten einer laxeren Arbeitsmoral, sparten weniger, betrachteten die aufkommenden Wissenschaften und Techniken skeptisch, fühlten sich zu magischen Kultformen wie Segnungen hingezogen und zeigten sich überhaupt dem rationalistischen, industriellen und liberalen Zeitgeist gegenüber wenig aufgeschlossen.31 26 Vgl. Nowak: Geschichte 64–66. 27 Fitschen: Freiheit 9. 28 Vgl. Kocka: Jahrhundert 98–138. 29 Zum bürgerlichen Katholikenbild des 19. Jahrhunderts vgl. Altermatt: Katholizismus (1991) 52 f. – In seinem Forschungsüberblick zur Katholizismusforschung beklagt der Historiker Rudolf Lill ein Verharren von Wehler in den Denkformen des 19. Jahrhunderts. Vgl. Lill: Katholizismus 45. 30 Nipperdey: Religion 41. 31 Altermatt: Katholizismus (1991) 56. Vgl. dazu auch Nowak: Geschichte 149–158; ferner Baumeister: Parität 40–49; Maier: Soziologie.

Zum Forschungsstand: »Moderne« und »Katholizismus«  17

Der Katholik musste unmodern und unbürgerlich sein, sonst wäre er als solcher nicht wahrnehmbar gewesen. Seine religiöse Identität war es, die den Katholiken unmodern machte. Denn für das Bürgertum besaß Religion Relevanz allenfalls in der Privatsphäre. Dabei stellten die Katholiken im Bürgertum einerseits tatsächlich eine Minderheit dar und andererseits das Bürgertum im Katholizismus.32 Nach Ansicht von Gabriel schuf die katholische Kirche den Katholizismus, indem sie sich in ihrem Existenzkampf gegen die Moderne mit sozialen Gruppen verbündete, die ebenfalls um ihre Existenz gegen die wirtschaftliche Modernisierung und ihre bürgerliche Trägerschicht kämpften. Sie habe sich mit den von der Industrialisierung bedrohten Bauern verbündet, mit den Arbeitern im Kampf gegen die Unternehmer und mit dem Adel im Kampf um die Erhaltung von Privilegien.33 Das katholische Selbstbild sei unbürgerlich und klassenübergreifend gewesen, stellte der Historiker Thomas Mergel fest.34 Zur katholischen Gegnerschaft gegen die bürgerliche Moderne mochte aber die Beteiligung katholischer Parteien an Parlamentswahlen und Parlamentsarbeit sowie die Expansion des katholischen Vereinswesens, und damit einer spezifisch bürgerlichen Geselligkeitsform, nicht recht passen. Entgegen der Annahme von der zunehmenden Säkularisierung wurde der Katholizismus vor allem in politischer Hinsicht nicht marginalisiert, was bereits die Zeitgenossen irritierte.35 Deshalb sah sich Nipperdey 1988 genötigt, eine über Wehler hinausgehende Lösung des Problems vorzuschlagen. Nipperdey konstatierte zwar ein katholisches Gegenmodell gegen die moderne Welt, gegen Rationalismus und Materialismus, Befestigung der Autorität gegen die Demokratie, der Unabhängigkeit der Kirche gegen die Machtansprüche der Regierungen und der Völker, ihrer Geschlossenheit gegen alle Auflösung, ihres Weltanschauungsmonopols gegenüber allen katholischen Laien.36

Aber das katholische Vereinswesen, das der katholischen Kirche zur politischen Durchsetzung ihrer Interessen gedient habe, bezeichnete er als ein »Stück Teilemanzipation und Modernisierung des Katholizismus«. Dadurch entfaltete sich »eine moderne, demokratische, emanzipatorische Tendenz«, die »den traditionellen Rahmen katholischer politischer Kultur« gesprengt habe.37 Den Katholizismus bezeichnete er deshalb als »Freiheits- und Emanzipationsbewegung des – vom Klerus mobilisierten und geführten – katholischen Volkes, der Mas 32 Vgl. Kocka: Jahrhundert 119–128. So auch Holzem: Weltversuchung 213 f.; ders.: Christentum 984–1005; Mergel: Klasse 5. 33 Gabriel: Christentum 96–104; so auch Geller: Voraussetzungen 67; Loth: Katholiken 41 f.; Schatz: Säkularisation 172. 34 Mergel: Klasse 2 f. 35 Vgl. Anderson: Grenzen 194 f.; Holzem: Geßlerhüte 277 f. 36 Nipperdey: Religion 9. 37 Ders.: Geschichte 454.

18 Einleitung sen gegen das Establishment des 19. Jahrhunderts«. Im Katholizismus sei aber keine pluralistische, sondern eine populistische und plebiszitäre Demokratie propagiert worden.38 Auch der Katholizismusforscher Wilfried Loth spricht im Zusammenhang mit dem Katholizismus von einer »Bewegung«, die sich »in ihrer Mischung aus rückwärtsgewandten und modernen, antiliberalen und elementardemokratischen Elementen am besten als populistisch charakterisieren läßt«.39 In Übereinstimmung damit sieht Altermatt im katholischen Vereins- und Parteiwesen des 19. und 20. Jahrhunderts einen »Antimodernismus mit modernen Mitteln«, indem er »den im Modernisierungs- und Wachstumsprozeß Zukurzgekommenen eine politische Stimme« verliehen und »marginalisierte Menschen, Institutionen und Regionen an die Politik« herangeführt habe.40 Auch der Kirchenhistoriker Victor Conzemius erkennt im Katholizismus schließlich »Modernisierungsschübe«, die allerdings beschränkt sind auf die Formen politischer Meinungsbildung (Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Petitionswesen, Errichtung einer Partei). Dabei habe die Kirche »meist zögernd, unter äußerem und innerem Druck, eine Anpassung an moderne Erkenntnisse und Wirklichkeiten vollzogen«.41 Immer stärker wurden seither die modernen Elemente des Katholizismus betont. Loth sieht im (politischen) Katholizismus schließlich eine »moderne Bewegung«, die an die »Errungenschaften der Revolution und der Säkularisierung gebunden war«, die »Elemente der Moderne« in sich trug und die Kirche »partiell modernisierte«, da sie die verlorenen feudalen Fundamente durch »gesellschaftliche und politische Mobilisierung« der Massen ersetzte.42 Dabei gibt Loth zu bedenken, dass die Parteiherrschaft des Zentrums zwar die Parlamentarisierung befördert, die Demokratisierung aber behindert habe.43 Er deutete damit die bisher dominierende Forschungsmeinung teilweise um, als er behauptete, das Zentrum habe einen »bürgerlich dominierten Klassenstaat« angestrebt, in dem den proletarischen Massen die politische Gleichberechtigung verwehrt bleiben sollte.44 Im Unterscheid zu Loth sieht der Historiker Rudolf Morsey in den katholischen Vereinen in apologetischer Übersteigerung »Bewegungen demokratischer Natur in einer keineswegs demokratischen Epoche«.45 Aber auch der Historiker Wolfgang Altgeld warnt davor, den Katholizismus als »bloße 38 Ders.: Religion 45. 39 Loth: Katholiken 41 f. 40 Altermatt: Katholizismus (1995) 48 f.; ders.: Kirchengeschichte 30. So auch Clark: Catholicism 44 f. 41 Conzemius: Katholizismus 21–25. 42 Loth: Katholizismus 13–15; ders.: Freiheit 21 f. 43 Ders.: Ordnung 49 f. 44 Ebd. 62. 45 Morsey: Katholizismus 34. So auch Becker: Zentrumspartei 14–19; Lill: Katholizismus 45; Lönne: Katholizismus 9.

Zum Forschungsstand: »Moderne« und »Katholizismus«  19

Reaktion gegen Modernisierung« wahrzunehmen, begünstigt von »unvermeidlichen Modernisierungskrisen« und im Bündnis mit »historiographisch ziemlich vernachlässigbaren Modernisierungsverlierern«. Vielmehr sei der Katholizismus selbst ein »Modernisierungsphänomen« gewesen und ein »eigenständiger Faktor moderner sozialer Mobilisierung, fundamentaler Massenpolitisierung und demokratisierender Partizipation«.46 Die Wahrnehmung modernisierender Effekte im Katholizismus war verbunden mit einer scharfen Differenzierung zwischen traditionalistischer Kirche und modernem katholischen Vereins- und Parteiwesen, d. h. zwischen antimoderner Religion und moderner Politik. Der Katholizismus wurde dort als modern wahrgenommen, wo er am wenigsten religiös war – also bei sozialen und politischen Interessen.47 Wenn Loth im Katholizismus »eine moderne Bewegung gegen die Moderne« erkennt,48 dann sind Modernität und Antimodernität eindeutig zugeordnet. Die von Loth aufgeführten traditionalistischen Elemente des Katholizismus – die Betonung von Tradition statt Fortschritt, Offenbarung statt Vernunft, Ständeordnung statt bürgerlicher Gesellschaft, mittelalterliche Scholastik statt Wissenschaftsexplosion49  – sind alle in kirchlicher Hierarchie und Theologie verortet. Die modernisierenden Elemente – Eigendynamik jenseits der bischöflichen Weisungen, Verwendung rechtsstaatlicher Mittel, parlamentarische Arbeit, Forderung nach Meinungs- und Pressefreiheit sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit – verortet er dagegen in den katholischen Vereinen und Parteien.50 Der Historiker Karl Egon Lönne bringt diese Sichtweise auf den Punkt: »Der politische Katholizismus ist eine Erscheinung der sich modernisierenden Welt, deren kirchliche Strukturen noch weitgehend von der mittelalterlichen Ordnung geprägt waren.«51 Um die rückwärtsgewandte Kirche vom modernen Vereins- und Parteiwesen zu trennen, wurde der Begriff des Ultramontanismus für die von der kirchlichen Hierarchie ausgehende Opposition zur Moderne verwendet.52 Dabei wird der 46 Altgeld: Christentum 502. 47 Der evangelische Kirchenhistoriker Gerhard Besier kritisierte an Hürtens und Lönnes Katholizismusgeschichten die Negierung der religiösen Elemente im politischen Katholizismus, um ihn zur »demokratischen Verfassungsbewegung mit sozialem Impetus« werden zu lassen. Vgl. Besier: Kirche 81 f. 48 Loth: Freiheit 21 f. 49 Ders.: Katholizismus 11; vgl. dazu auch Altermatt: Katholizismus (1991) 52 f. 50 Loth: Katholizismus 13–15. 51 Lönne: Katholizismus 9. 52 Das Begriffsfeld des Ultramontanismus umfasst nach Gisela Fleckenstein und Joachim Schmiedl Obskurantismus (Irrationalität, Aberglaube, Antimodernität), Papismus (römischer Zentralismus), Jesuitismus (Intransparenz, Geheimverbünde, internationale Verschwörung, Antiprotestantismus, Gegenreformation, nationale Unzuverlässigkeit). Christoph Weber be­ trachtet Ultramontanismus als ahistorische kirchenpolitische Tendenz und zählt zwölf Merkmale des Ultramontanismus auf: Traditionalismus und Konservativismus, Autoritarismus,

20 Einleitung Prozess der Ultramontanisierung der Kirche mit ihrer Entbürgerlichung erklärt. Während zwischen 1821 und 1846 tatsächlich 43,6 Prozent der Neupriester in der Erzdiözese München und Freising aus den Städten stammten, in denen nur ein Viertel der Gesamtbevölkerung lebte,53 geht der Historiker Rudolf Schlögl davon aus, dass die Priesteramtskandidaten seit der Mitte des Jahrhunderts überwiegend aus dem ländlichen Raum stammten, wozu die Knabenkonvikte beitrugen, die das katholische Bildungsdefizit zumindest für den Klerus ausglichen.54 Im Gegensatz dazu stellte Franz Xaver Hartmann bereits 1918 fest, dass im Augsburger Diözesanklerus des gesamten 19. Jahrhunderts die Priester städtischer Herkunft im Vergleich zum Anteil der städtischen an der gesamten Bevölkerung überrepräsentiert waren. Aus der landwirtschaftlichen Bevölkerung stammte nur ein Drittel des Klerus.55 Differenzierter geht der Historiker Helmut Rönz bei seiner Analyse der sozialen Herkunft des Trierer Diözesanklerus im 19. Jahrhundert vor. Er stellt seit der Jahrhundertmitte eine Verstädterung des Klerus fest. Dieser war überwiegend kleinbürgerlich-kleinstädtischer Herkunft. Daraus schließt Rönz, dass der Priesterberuf vor allem für »minderprivilegierte, aber durchaus regional und kommunal einflußreiche Mittel- und Unterschichten« interessant gewesen sei, da er gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte.56 Damit übereinstimmend stellt die Historikerin Irmtraud Götz von Olenhusen für den Klerus des Erzbistums Freiburg im Breisgau fest, dass der Priesterberuf für das Bildungsbürgertum ab 1840 nicht mehr interessant war und die »traditionalistischen Milieus« dominierten. Die Priester wurden zum »Repräsentanten der einfachen katholischen Landbevölkerung und des alten Mittelstandes«, was sie allerdings als Entbürgerlichung beschreibt.57 Tatsächlich handelte es sich aber bei den Wandlungen in der sozialen Herkunft des katholischen Klerus im 19. Jahrhundert nicht um eine Entbürgerlichung, sondern ganz wesentlich um eine Verschiebung innerhalb des Bürgertums vom Groß- zum Kleinbürgertum. Dabei stellt sich die Frage, was die soziale Herkunft über die Einstellung des Klerus zur Moderne überhaupt auszusagen in der Lage ist, wurden die angehenden Kleriker doch bereits im Kindesalter im Knabenseminar isoliert und nicht in ihren Herkunftsfamilien sozialisiert. Gerade darin lag nun für Götz von religiöser Fanatismus, historischer Dualismus, ökonomischer Romantizismus, Antifeminismus und Antisexualismus, antidemokratische politische Ideologie, Ablehnung der modernen Wissenschaft, Ritualismus, Mystizismus, Vorliebe für Neugotik und Nazarenertum sowie Historismus. Zum Ultramontanismus vgl. Fleckenstein / Schmiedl: Ultramontanismus; Holzem: Christentum 970–984; Weber: Ultramontanismus; Weiß: Ultramontanismus (1978); ders.: Ultramontanismus (2005); zur Geschichte des Begriffs Ultramontanismus vgl. Raab: Görres (1973) 159–173. 53 Vgl. Forstner: Priester 111. 54 Schlögl: Glaube (2013) 240. 55 Hartmann: Herkunft 45–49. 56 Rönz: Diözesanklerus 1235–1273. 57 Götz von Olenhusen: Klerus 130–139.

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Olenhusen ein wesentlicher Grund für den unbürgerlichen Charakter des katholischen Klerus im 19. Jahrhundert. Denn dieser habe sich gegenüber der bürgerlichen Gesellschaftsform nicht nur aufgrund seiner unterbürgerlichen Herkunft, sondern auch durch die Sakralisierung des Priesterbildes, grundgelegt in der kindlichen Sozialisierung in den Knabenseminaren, abgeschottet. Die unbürgerliche Sakralisierung des Priesterbildes umfasste den gesamten Habitus, also Lebensstil, Verhalten, äußeres Erscheinungsbild, Amtsverständnis.58 Die soziale und kulturelle Entbürgerlichung – in Kleidung und Lebensstil – ist für den Historiker Olaf Blaschke neben Professionalisierung sowie Kompetenz- und Machtausdehnung das zentrale Merkmal der für die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts bestimmenden Klerikalisierung.59 Nowak spricht von einer doppelten Entbürgerlichung des Klerus, sowohl im Hinblick auf die soziale Herkunft als auch auf die Isolierung der Priester gegenüber den Kommunikationsformen des bürgerlichen Lebens.60 Die Katholizismusforscherin Margaret Lavinia Anderson indes betrachtet die Behauptung von der doppelten Entbürgerlichung skeptisch. Sie stellt zwar in Übereinstimmung mit Götz von Olenhusen eine soziale Entbürgerlichung des Klerus fest, warnt aber davor, daraus eine kulturelle Entbürgerlichung abzuleiten. Denn das Bildungsniveau sei in Deutschland auch für den Klerus wegen des Gebots der akademischen Ausbildung höher gewesen als in Frankreich.61 Auch der Kirchenhistoriker Claus Arnold gibt zu bedenken, dass die Priester durch die akademische Sozialisation mehr geprägt wurden als durch ihre bäuerliche bzw. unterbürgerliche Abstammung, was ihnen ein bildungsbürgerliches Verhalten verliehen habe.62 Der Kirchenhistoriker Hubert Jedin weist ebenfalls darauf hin, dass der katholische Klerus der wilhelminischen Ära universitär gebildet und in studentische Korporationen integriert gewesen sei. Deshalb habe er nicht nur ein akademisches Selbstverständnis besessen, sondern auch ein solches als Amtsperson. Schließlich war er im Bereich des Schulwesens und der Armenpflege in die öffentliche Verwaltung integriert.63 Die Frage der Stellung des Katholizismus zur Moderne entzündete sich also immer wieder an seiner Stellung zur Bürgerlichkeit. Im konfessionell gespaltenen Deutschland musste die Identifikation von Bürgerlichkeit, Nationalstaat und Protestantismus64 immer wieder Antimodernität und Unbürgerlichkeit des Katholizismus gleichermaßen nachweisen. Im konfessionell homogenen Belgien war und ist dies nicht nötig. Dort entwickelte sich in dem Bemühen um die 58 Ebd. 188–192; vgl. dazu Nickel: Monatsschrift 199–304. 59 Blaschke: Jahrhundert 61. 60 Nowak: Geschichte 133. 61 Anderson: Grenzen 211–213. Zum vergleichsweise hohen Niveau der universitären Priesterausbildung im deutschen Sprachraum vgl. auch Unterburger: Akademisierung 58–62. 62 Arnold: Antisemitismus 248 f. 63 Jedin: Kirche 78–82. 64 Vgl. Blaschke: Bürgertum; Mergel: Klasse 1 f.

22 Einleitung Emanzipation von den mehrheitlich protestantischen nördlichen Niederlanden eine Identifikation von Bürgerlichkeit, Nationalismus und Katholizismus. Der Historiker Vincent Viaene zeigt am belgischen Beispiel auf, wie der katholische »Reveil« als Antwort auf die Französische Revolution sozioökonomische Modernisierung und religiöse Freiheit identifizierte und zu einem Element der belgischen nationalen Identität wurde. Deshalb behauptet er, der Katholizismus habe sich als »konstitutiv für die Moderne« erwiesen, »keineswegs zog er sich aus der Moderne zurück oder stellte nur eine Kopie der Moderne dar, sondern er war vielmehr Mit-Schöpfer der Moderne«.65 Kommt Viaene zu einem Ergebnis, das katholische Religiosität und Modernität identifiziert, tut sich die Geschichtswissenschaft im deutschen Sprachraum damit schwer. Die spezifisch deutsche Trennung zwischen antimoderner Kirche und modernem Vereins- und Parteiwesen konsequent zu Ende gedacht hat Nowak. Er bezeichnet die Handhabung moderner kommunikativer und politischer Methoden durch den Katholizismus als »instrumentelle Modernität«.66 Der Katholizismus konnte deshalb »konservativ und restaurativ und er konnte liberal und konstitutionell sein«.67 Dabei ist sich Nowak bewusst, dass sich der Katholizismus am Vorabend des Ersten Weltkriegs im »Verständnis des Politischen« und in der »Entfaltung des sozialen Lebens« doch »in vielen Punkten auf der Höhe der Zeit« befunden habe.68 Nowaks instrumentelle Modernität des Katholizismus bedeutet religiöse Beliebigkeit katholischer Politik. Politik dient allein der Machterhaltung. Die Frage nach dem Religiösen in katholischer Politik erübrigt sich dann. Der Politologe Francis Fukuyama behauptet ohnehin, dass Religionen die in einer Gesellschaft geltenden Regeln konkretisieren, aber keine eigenen schaffen.69 Damit übereinstimmend geht der Historiker Robert Muchembled davon aus, dass Religion »lediglich die grundsätzlicheren Ordnungswünsche einer fragmentierten, von Konflikten zerrissenen Gesellschaft aufgegriffen und zum Ausdruck gebracht« habe.70 Der Sexualhistoriker Jos van Ussel hatte bereits 1970 die Ansicht vertreten, dass die Kirchen keinen Einfluss auf die Sexualmoral ausübten, da es im 19. Jahrhundert keine unterschiedlichen Sexualnormen in den Konfessionen gegeben habe. In ihnen spiegelten sich deshalb in erster Linie sozioökonomische Faktoren wider. Die Prüderie des 19. Jahrhunderts sei Teil eines umfassenden Tabukomplexes, der jenseits des Konfessionellen für Verbürgerlichung kennzeichnend sei.71 Diese Perspektive macht Religion – in marxistischer Manier – zur bloßen Ideologie, deren Aufgabe darin besteht, herrschende soziale 65 Viaene: Reveil 112 f. Vgl. dazu Aubert / Lill / Corish: Kirche 360–365. 66 Nowak: Geschichte 134. 67 Ebd. 76. 68 Ebd. 158. 69 Fukuyama: Aufbruch 317. 70 Muchembled: Verwandlung 38. 71 Ussel: Sexualunterdrückung 52–55.

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Strukturen zu legitimieren. Dies zeigt, dass die strukturalistische Perspektive der Sozialgeschichte auf den Katholizismus religiöses eben nur als soziales Verhalten betrachtet. Gesellschaft wird als Ergebnis des funktionalen Zusammenwirkens von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur betrachtet. Religion als zentrales Element von Kultur wird nur in ihrer Funktion für das gesellschaftliche Zusammenleben betrachtet und dadurch als eigenständiger Faktor gesellschaftlicher Strukturen nicht wahrgenommen. Zentrale Frage ist die politische und soziale Emanzipation und Partizipation. Es werden die sozialen und politischen Wirkungen von Religion analysiert, nicht die Religion selbst.72 Damit ist freilich eine Aporie jeglicher Forschung, die sich wie die Katholizismusforschung ein religiös determiniertes Untersuchungsfeld zum Gegenstand nimmt und den religiösen Charakter zu negieren versucht, bezeichnet. Es setzte deshalb eine Gegenbewegung ein, für die das Religiöse ein integraler Bestandteil der Erforschung des Katholizismus darstellte. Kaufmann stellte von religionssoziologischer Seite bereits 1980 fest, dass die »Relevanz des Religiösen bzw. Konfessionellen in der Bedeutungshierarchie der unterschiedlichen Lebensverhältnisse außerordentlich hoch« gewesen sei.73 Der Historiker Wolfgang Schieder beklagte 1993 die Religionsblindheit der Sozialhistoriker, die die normative Forderung nach Säkularisierung zum Kennzeichen der Moderne machten.74 Schieder warnte davor, einen antimodernen religiösen von einem modernen profanen Handlungsbereich des Katholizismus abzugrenzen. Die politische Massenmobilisierung im Katholizismus habe nicht emanzipatorisch und modernisierend wirken können, da dieser immer maßgeblich unter klerikalem Einfluss gestanden sei. Stattdessen will er in der katholischen Massenmobilisierung eine »religiöse Vitalisierungsbewegung gegen den säkularen Zeitgeist« sehen.75 Im Anschluss daran meldete der Sozialhistoriker Josef Mooser 1996 Skepsis gegenüber dem Modernisierungspotential des katholischen Vereinswesens an, da die Kleriker aufgrund der »Präsidesverfassung« darin führend blieben.76 Ebenfalls 1996 stellte Blaschke einen wachsenden Einfluss des Klerus im und durch das katholische Vereinswesen fest. Er führt dies auf den Kulturkampf, die Sakralisierung des Priesterbildes, das gestiegene Ansehen des Papsttums sowie die Zentralisierung und Uniformierung von Kirche und Frömmigkeit zurück. Durch die Massenmobilisierung habe sich das in der kirchlichen Hierarchie verankerte Herrschaftsmonopol des Klerus auf alle Lebensbereite der Laien ausgedehnt.77 72 Vgl. dazu Altgeld: Christentum; Holzem: Geßlerhüte 275–277; Lill: Katholizismus; Schneider: Welt; Weiß: Geschichte. 73 Kaufmann: Einführung 17. 74 Schieder: Sozialgeschichte 17. Vgl. dazu auch Aschmann: Säkulum 17. 75 Schieder: Sozialgeschichte 25. 76 Mooser: Milieu 455 f. 77 Blaschke: Kolonialisierung 98–116. Vgl. dazu auch Schrott: Seelsorge.

24 Einleitung Die Berücksichtigung des Religiösen bei der Analyse des Katholizismus führte also wieder zur stärkeren Betonung von dessen Antimodernität. Religion blieb unmodern. Dies zeigt sich vor allem in Blaschkes umstrittenem Konzept des zweiten konfessionellen Zeitalters aus dem Jahr 2000.78 Laut Blaschke lagen die Gemeinsamkeiten zwischen diesem und dem ersten, frühneuzeitlichen konfessionellen Zeitalter in dogmatischer Verfestigung, universalem kirchlichem Deutungsanspruch, sittlicher und religiöser Uniformierung, Klerikalisierung und konfessioneller Polarisierung.79 Während er in der ersten, mit der Entstehung des frühmodernen Staates eng verbundenen Konfessionalisierung noch einen Modernisierungsschub erkennen wollte, erblickte er in der zweiten Konfessionalisierung des 19. Jahrhunderts ein antimodernes Phänomen, gerichtet gegen den Nationalstaat, die Säkularisierung, die Individualisierung und den Materialismus, insgesamt also »sowohl intentional als auch funktional eine gegen die Moderne gerichtete Erscheinung«.80 Dabei bemerkt er immerhin, dass die zweite Konfessionalisierung bei der Umsetzung ihrer Ziele wesentlich effektiver gewesen sei als die erste. Uniformierung und Disziplinierung der Gläubigen seien erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt worden.81 Im Anschluss an – wenn auch im wertenden Unterschied zu – Blaschke betont Altermatt die modernisierenden Wirkungen der neuen Verkehrs-, Kommunikations- und Vergesellschaftungsformen des 19. Jahrhunderts auf das Religiöse im Katholizismus. Altermatt beschreibt im 19. Jahrhundert eine »zweite Missionierungswelle«. Die frühneuzeitliche Disziplinierung der Gläubigen durch Gegenreformation und katholische Reform sei unvollständig geblieben. Die religiöse Praxis sei uneinheitlich gewesen und habe deshalb große regionale Unterschiede, Abweichungen und Eigenheiten aufgewiesen. Erst im 19. Jahrhundert sei dann die »Durchorganisation des religiösen Lebens« gelungen.82 Im Anschluss daran betont der US -amerikanische Deutschlandhistoriker Anthony J. Steinhoff in seiner Erwiderung auf Blaschke im Jahr 2004, dass die Verwendung moderner Kommunikations- und Vergesellschaftungsformen mehr dargestellt habe als eine »Modernisierung aus antimodernen Absichten«, da sich dadurch auch Glaubensvorstellungen und -praktiken geändert hätten.83 Der Historiker Winfried Becker mahnte dann 2013 zwar nach herkömmlichem Muster eine Unterscheidung im Katholizismus zwischen der antimodernen Theologie der

78 Zur Diskussion um Blaschkes Konzept des zweiten konfessionellen Zeitalters vgl. Kretschmann / Pahl: Zeitalter. 79 Blaschke: Jahrhundert; vgl. auch: Ders. / Kuhlemann: Religion. 80 Blaschke: Jahrhundert 70–72. 81 Ebd. 72–75. 82 Altermatt: Katholizismus (1995) 37. 83 Steinhoff: Zeitalter 565.

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Neuscholastik und den modernen Formen katholischer Politik an.84 Um aber den »Widerspruch in den Griff zu bekommen zwischen der gegenweltlichen Bindungswirkung des Katholizismus und der inneren Modernisierungsfähigkeit desselben«, sah er sich gezwungen, die Theologie einzubeziehen. Dabei ahnte er, dass die neuscholastische Theologie sehr wohl einen »Platz innerhalb dieser modernen Entwicklung« haben müsse.85 Von daher war es nur noch ein kleiner Schritt, das Katholische des 19. Jahrhunderts als integralen Bestandteil der Moderne wahrzunehmen. Gabriel wollte bereits 1980 »das beliebte Denkschema«, wonach die Kirche auf außerhalb und unabhängig von ihr ablaufende Entwicklungen reagierte, aufbrechen. Vielmehr sei die Kirche »zentral« in neuzeitliche soziale Entwicklungen eingebunden gewesen. Die »christliche Tradition« wähle im Rahmen dieser Entwicklungen ihre Optionen.86 Dabei habe der Katholizismus seine Stabilität »aus einer gelungenen Verschränkung und wechselseitigen Stützung von traditionellen Wissens- und Symbolformen mit modernen Herrschafts- und Sozialformen« bezogen und dadurch zur Integration katholischer Bevölkerungsteile beigetragen.87 Nicht mehr ein instrumentelles, sondern ein graduelles Verhältnis zur Moderne wurde angenommen. Für die Religionssoziologen Gabriel und Kaufmann stellt der ultramontane Katholizismus eine »Denk- und Sozialform der halb entfalteten Moderne« dar.88 Gabriel verzeitlicht das Verhältnis und betrachtet den Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Durchgangsstadium im Modernisierungsprozess, »in dem Elemente traditionaler Gesellschaftsformationen sich mit modernen Produktionsformen zur bürgerlich-modernen Industriegesellschaft vermischten«.89 Auch der »Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte in Münster« verzeitlicht das Verhältnis zwischen Katholizismus und Moderne und spricht im Zusammenhang mit dem Katholizismus des 19.  Jahrhunderts von »defensiver Modernisierung«.90 Schließlich hält der Kirchenhistoriker August Hermann Leugers-Scherzberg sogar das graduelle Verhältnis zwischen Katholizismus und Moderne für eine unzureichende Feststellung. Der Katholizismus dürfe überhaupt nicht in Beziehung zu einer als Norm definierten modernen Gesellschaft untersucht werden, was zwangsläufig zur Betonung seiner traditionalen Elemente führen müsse. Er schlägt deshalb vor, ohne Bezug auf den Begriff 84 Becker: Milieu 49: »So sind von den Inhalten der in diesem Zusammenhang gern genannten, an der Kurie geschätzten neuscholastischen (ultramontanen) Theologie die Organisationsformen zu unterscheiden, deren sich der politische und soziale Katholizismus bediente und bedienen musste, um im Übergang zum modernen Pluralismus bestehen zu können.« 85 Ebd. 58 f. 86 Gabriel: Gesellschaftsentwicklung 208. 87 Ebd. 221–223. 88 Zit. nach Fleckenstein / Schmiedl: Ultramontanismus 17 f. 89 Gabriel: Christentum 93–119. 90 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster: Konfession 380.

26 Einleitung der Moderne die Antworten zu untersuchen, die innerhalb des Katholizismus auf die sozialen, ökonomischen und kulturellen Herausforderungen gefunden wurden.91 Letztlich war es vor allem die Systemtheorie mit ihrer Feststellung von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, die eine Wahrnehmung der spezifisch katholischen Religiosität des 19. Jahrhunderts als Phänomen der Moderne ermöglichte. Sie beschränkte einerseits die Säkularisierungsthese auf den Verlust bzw. die Bekämpfung des gesamtgesellschaftlichen Deutungsanspruchs von Religion. Andererseits nahm sie Religion nicht nur in ihrer Funktion für die Gesellschaft wahr, sondern in ihrer systemischen Eigenwertigkeit. Die Ausdifferenzierung eines religiösen Systems habe zwar den gesamtgesellschaftlichen Deutungsanspruch von Religion beschnitten, aber zu einer Verkirchlichung von Religion geführt.92 Für Ebertz ist der Katholizismus in seiner Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Religion und Moderne demgemäß ein »im Austausch mit seiner gesellschaftlichen Umwelt stehender priesterherrschaftlicher Sozialzusammenhang«.93 Dabei geht er zwar von der Opposition des Katholizismus gegen die Moderne aus, da die funktionale Differenzierung immer mehr Lebensbereiche dem Zugriff der Kirche entziehe.94 Darauf aber habe die Kirche nicht nur mit Abschottung reagiert, sondern auch mit Kompromissen. Darunter versteht er den »Einbau solcher Strukturelemente in ihr überkommenes Sozialgefüge, welche in unseren Augen ebenso wie in denen der Zeitgenossen als spezifisch modern beurteilt werden«, worunter er neben der Massenmobilisierung vor allem die Bürokratisierung der kirchlichen Hierarchie versteht. Es sei deshalb zu einer »temperierten Modernisierung« gekommen, was es der Kirche erlaubt habe, »ihre institutionelle Identität als priesterherrschaftliche Massenreligion« in gewandelter gesellschaftlicher Umwelt zu bewahren.95 Dabei habe das Problem des Katholizismus darin bestanden, dass die »priesterherrschaftliche Massenreligion« der katholischen Kirche von denen »legitimationsabhängig« war, die von der Dispositionsgewalt über die Heilswahrheiten und Heilsgüter ausgeschlossen waren. Darin gründeten die plebiszitären Komponenten bei kultischen Veranstaltungen und die partizipatorischen Elemente der Vereine. Dadurch sei die hingenommene traditionale Frömmigkeit in reflektierte Frömmigkeit transformiert worden. Dies zeige, dass es nicht reiche, die Vereine im Hinblick auf ihre Struktur 91 Leugers-Scherzberg: Modernisierung 226 f. 92 Zur systemtheoretischen Analyse des Katholizismus vgl. Hellemans: Zeitalter 102–104; Kaufmann: Theologie 85–87; ders.: Überlegungen 156 f. 93 Ebertz: Bürokratisierung 137. 94 Ders.: Haus 62 f. 95 Ebd. 64. – Mit Ebertz übereinstimmend sieht Gabriel in Bürokratisierung, Zentralisierung, Disziplinierung, Professionalisierung und Überwindung des kirchlichen Feudalismus strukturelle Modernisierungsphänomene der katholischen Kirche. Vgl. Gabriel: Christentum 80–82.

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als modernisierend wahrzunehmen, sondern vor allem im Hinblick auf das religiöse Bewusstsein. Indem sie den Katholizismus als »diskursive Gegenwahrheit gegen die Zeitgeister« formulierten, förderten sie die Reflexion. Und er gehört zu denjenigen, die darin das eigentliche Kennzeichen der Moderne sehen.96 Die systemtheoretische Perspektive erlaubt es, die Abgrenzung des Katholizismus von der gesellschaftlichen Umwelt, bisher als Beweis für katholische Antimodernität betrachtet, als spezifisches Phänomen der Moderne wahrzunehmen. Es war die funktionale Differenzierung, die für den Historiker Rudolf Schlögl dafür sorgte, dass die Distanz zwischen Religion und Welt sowohl innerhalb als auch außerhalb des religiösen Systems als wachsend wahrgenommen wurde.97 Dabei sieht der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf eine modernisierende Dialektik in den katholischen Bemühungen zur Abgrenzung von der Moderne. Während prominente Modernisten »von einer neuen religiösen, dominant katholischen Integration der Kultur« geträumt und »intolerante Homogenitätsvisionen« zwischen Kultur und Religion entwickelt hätten, seien die Theologen der Neuscholastik bereit gewesen, Prozesse kultureller Differenzierung »insoweit zu akzeptieren, als die innere Homogenität der katholischen Lebenswelt nicht tangiert wird«. Deshalb so Graf, seien sie insofern »strukturell modern«, als scharfe »Innen-Außen-Distinktionen« formuliert werden.98 Auch der katholische Kirchenhistoriker Andreas Holzem verwendet einen systemtheoretischen Ansatz zur Bestätigung seiner Behauptung von der katholischen Verweigerung, sich dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft habe dazu geführt, dass systemische Funktionsstörungen nicht mehr durch Anpassung an andere Teilsysteme bewältigt werden konnten. Diese seien, als Umwelt betrachtet, zunehmend feindlich behandelt worden. Deshalb sei der Ausdifferenzierungsprozess nicht nur als politischer, sozialer und wirtschaftlicher, sondern auch als weltanschaulicher Konflikt ausgetragen worden.99 Dabei habe die funktionale Differenzierung zu einer dynamischen Verhärtung der Gegensätze geführt, »zur dauernden Stimulanz des Gegensatzes«, dem sich der Katholizismus »nicht mehr notgedrungen stellt, sondern von dem er nun lebt«.100 Deshalb bezeichnet Holzem den Katholizismus der Jahrhundertwende als »gegengesellschaftlich strukturiert«. Da dieser »Selbstbilder, Gesellschaftsanalysen und Leitideen« von tradierten weltanschaulichen Voraussetzungen her formuliert habe, hätten sich die katholischen Bemühungen um soziale Integration auf soziale Teilhabe beschränkt und sich nicht auf Werte erstreckt.101 Dies habe dazu geführt, dass der Katholizismus um 96 Ebertz: Haus 81–84. 97 Schlögl: Glaube (2013) 455. 98 Graf: Geist 206 f. 99 Holzem: Weltversuchung 179. 100 Ebd. 207. 101 Ders.: Milieu 22 f.

28 Einleitung die Jahrhundertwende unter einem »doppelten Integrationsdruck« gestanden sei. Einerseits habe die binnenkonfessionelle Integration unter der funktionalen Differenzierung zunehmend gelitten. Andererseits habe der Katholizismus keine Anknüpfungspunkte an gesamtgesellschaftliche Werte geboten. Deshalb könne er als letzter Versuch einer »eigenständigen Symbolisierungsleistung für den Zusammenhang von Religion und Gesellschaft« nach dem Untergang der ständischen Gesellschaft gedeutet werden. Denn im Katholizismus habe sich nochmals der »enge Zusammenhang von Religion und Soziabilität, der jegliche Form der Vergemeinschaftung in religiösen Kategorien interpretierte«, gezeigt. Darin aber sieht er nun den Grund dafür, warum der Katholizismus wie keine andere Großgruppe in die »Vergemeinschaftungsformen und Institutionalisierungen der modernen Gesellschaft« eingeführt habe. An die Partizipationschancen über katholische Vereine, Parteien und Medien hätten nicht einmal die Bemühungen der Sozialdemokratie herangereicht.102 Holzem gab also letztlich eine systemtheoretische Erklärung für die auf Nipperdey zurückgehende Behauptung von der instrumentellen Modernität im Katholizismus. Daran anschließend, aber doch deutlich darüber hinausgehend, betont der Theologe und Historiker Hermann-Josef Große Kracht das »konfliktreiche Verhältnis von Abschottung und Verweigerung, von Annäherung und Integration zwischen antimodernem Katholizismus und modernem Staat«, was er als »modernen Antimodernismus« bezeichnet.103 Als Beispiel dafür nennt er die »inszenierte Gegenöffentlichkeit« der Wallfahrten. Auf der Grundlage eines vormodernen Gemeinschaftserlebnisses und von älteren Traditionen geprägter Formen der Volksfrömmigkeit hätten die Wallfahrten doch eine Annäherung an die moderne politische Öffentlichkeit dargestellt und dem einfachen Volk eine Würde, die ihm der Staat verweigerte, verschafft.104 Dabei sei es zu einer Differenzierung zwischen den nicht akzeptierten materialen Inhalten der bürgerlich-liberalen Weltanschauung und den formalen Gleichheits- und Freiheitsregeln des Verfassungsstaates gekommen, wodurch vormoderne Einstellungen erhalten worden seien und trotzdem in den Verfassungsstaat integriert werden konnten.105 Dieses als »Modernitätsparadox« des Ultramontanismus bezeichnete Phänomen habe darin bestanden, dass dieser zur Verteidigung seiner vormodernen Privilegien mit den »modernen universalistischen Prinzipien des neuen Verfassungsstaates« argumentierte. Dies habe den Katholiken jenseits aller antimodernen Abschottung einen »zwar indirekten, aber dennoch produktiven Weg in den modernen Staat eröffnet«.106 102 Ders.: Katholizismus 27. 103 Große Kracht: Fremdlinge 89. 104 Ebd. 92–97. 105 Ebd. 105. 106 Ebd. 102.

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Die widersprüchlichen Bemühungen um die analytische Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Moderne und Religion zeigen, dass die Religion dazu geeignet ist, die lineare Einheitlichkeit des Modernisierungsbegriffs zu sprengen. Der kanadische Politologe Charles Taylor, für den das Postulat der autonomen Vernunft ein Missverständnis der Moderne über ihre eigenen Grundlagen darstellt, behauptete 1992, dass die moderne Identität gleichermaßen auf expressiver Individuation, rational kontrollierender Vernunft und jüdisch-christlichem Theis­mus beruht. Diese drei Quellen des modernen Selbstverständnisses lassen sich aber nicht zu einer Einheit zusammenführen. Die Moderne lässt sich deshalb nicht als konsistenter Zusammenhang verstehen, sondern als Zusammenspiel verschiedener Vorstellungen, die sich nie ganz miteinander versöhnen lassen.107 Die weltanschauliche Normativität des Modernisierungsbegriffs wurde nun immer offensichtlicher.108 Der Religionssoziologe Franz Xaver Kaufmann wandte sich 1986 gegen diese normative Aufladung auf phänomenologischer Grundlage, weshalb er die Moderne nicht als Epochenbegriff, sondern als »Kategorie zur Bezeichnung bestimmter charakteristischer Merkmale neuzeitlicher Gesellschaftsentwicklung« verwenden wollte.109 Von Moderne könne man nur dann sprechen, wenn »die Veränderung des Gegebenen zur akzeptierten Norm der faktischen Entwicklung wird«.110 Er lehnte einen »postulierten einsinnigen Entwicklungslauf« ab, weshalb er von »unterschiedlichen Graden der Modernisierung« bestimmter Gesellschaftsbereiche sprach.111 Übereinstimmend damit fordert Kocka die Pluralisierung des Modernebegriffs, denn die Modernisierung sei in den verschiedenen Systemen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit abgelaufen. Es sei zu »partiellen Modernisierungen« gekommen, mit Spannungen und Krisen als Folgen.112 Damit greift er auf das Konzept multipler Modernen des Soziologen Shmuel N. Eisenstadt (1923–2010) zurück. Im Anschluss an Weber geht dieser davon aus, dass die Moderne in der Dekonstruktion der ethischen Vorstellung zu suchen sei, dass die Welt eine sinnvoll geordnete Gesamtheit darstelle, worauf Ungewissheit und Offenheit, also Möglichkeitsüberschuss, folge. In unterschiedlichen sozialen Kontexten seien deshalb unterschiedliche Modernen aufgrund von unterschiedlichen Antworten auf diese Problematik entstanden. Reflexion über die Moderne habe nämlich auch bei ihren Kritikern stattgefunden.113

107 Taylor: Quellen. 108 Vgl. dazu im Hinblick auf die Erforschung der Kirchengeschichte Holzem: Geßlerhüte 274. 109 Kaufmann: Religion 284 f. 110 Ebd. 288. 111 Ebd. 290. 112 Kocka: Jahrhundert 151 f. 113 Eisenstadt: Modernen 37–39. Vgl. dazu auch Schwinn: Vielfalt.

30 Einleitung Reflexion, provoziert von einem zunehmenden Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, wird dadurch zum zentralen Kennzeichen der Moderne.114 Genau an diesem Punkt bekommt das Religiöse Bedeutung für die Moderne, und zwar für ihre Pluralität. Denn Traditionen sind, wie Thomas Schwinn im Anschluss an Eisenstadt behauptet, die entscheidenden Faktoren für die Ausbildung verschiedener Formen von Modernität.115 Für Schwinn gibt es also keinen Gegensatz zwischen Tradition, auch religiöser, und Moderne, da Tradition erst durch die Reflexivität der Moderne entsteht, wenn die eigene (traditionelle) Praxis als von der modernen Praxis unterschieden wahrgenommen wird.116 Auch für den Historiker Gangolf Hübinger besteht das Kennzeichen der Moderne in der Selbstbeobachtung, die sich im Spalt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont etabliert. Der Drang des Menschen nach Autonomie und berechenbarer Beherrschung seiner »Lebensordnungen« führe zu einer »Dauerspannung der Werte und Interessen innerhalb und zwischen diesen ökonomischen, politischen oder religiösen Lebensordnungen«, weshalb die eigene Wirklichkeit in Kategorien der Bewegung und Beschleunigung analysiert werde, was den Verlust aller historischen, auch religiösen, Gewissheiten mit sich bringe.117 Dabei lasse sich die Geschichte der Moderne nur »aus den Spannungen und Balancen zwischen religiösen und säkularen Praktiken und Weltdeutungen« schreiben. Er bezeichnet deshalb die »Grundspannung zwischen säkularem und religiösem Weltverhalten als genuines Merkmal der Moderne«.118 Religion wird dadurch zum Bestandteil von Moderne. Die normative Gewissheit des sozialhistorischen Modernebegriffs löst sich dadurch in kulturhistorisch zu untersuchender Reflexivität auf. Die Kulturgeschichte geht wie die Sozialgeschichte von der Umstellung der sozialen Binnenstrukturierung auf funktionale Differenzierung als Kennzeichen der Moderne aus. Diese funktionale Differenzierung alleine hält sie aber nicht für hinreichend, um vormoderne und moderne Gesellschaften zu unterscheiden. Erst die »Veränderung der historischen Semantik, die Umstellungen in der Selbstbeschreibung von Gesellschaften«, so der Historiker Lutz Raphael, ermöglichen eine Unterscheidung von Moderne und Vormoderne. Im Mittelpunkt des kulturgeschichtlichen Interesses stehen deshalb die »Wechselwirkungen zwischen den symbolischen und den sozialen Strukturen«.119 Die Moderne erschöpfe sich nicht in basalen Rationalisierungsprozessen, wie das »strukturfunktionalistische Tendenzmodell« behaupte, kennzeichnend sei vielmehr das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, was die Selbstbeobachtung ermög 114 Vgl. Benavides: Moderne 88. 115 Schwinn: Vielfalt 11 f. 116 Ebd. 22. 117 Hübinger: Säkularisierung 94. 118 Ebd. 97. 119 Raphael: Ordnungsmuster 75–77.

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liche.120 Deshalb müsse die Annahme einer Sogwirkung der rationalisierenden Basisprozesse auf »in ihren Strukturen ›ältere‹, vorsichtiger formuliert: anders organisierte Lebensbereiche« ersetzt werden durch Eisenstadts Konzept der multiplen Modernen. Durch die Vermehrung von Gestaltungsoptionen sei es zu einer »Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit« gekommen.121 Durch die Betonung der Selbstreflexivität als zentralem Merkmal der Moderne ist das Religiöse also zu einem ihrer integralen Bestandteile geworden. Die lineare Normativität der Moderne wurde dadurch zur uneindeutigen Multiperspektivität. An die Stelle des ahistorisch-normativen Charakters der Moderne ist eine dynamisch-historische Perspektive getreten, welche den verunsichernden Charakter des Modernisierungsprozesses betont.122 Als Konsequenz daraus plädiert Altermatt doch dafür, die Modernisierung als »diffuses und ambivalentes Konzept, das zwar Orientierungshilfen vermittelt, keineswegs aber schematisch angewendet werden darf«, zu betrachten.123 Damit hat sich das integrative Konzept der Moderne forschungspragmatisch in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst. In einem derartigen Auflösungsprozess befindet sich nun auch der Katholizismusbegriff, was nochmals zeigt, wie eng dieser als Gegenbegriff an die Annahme einer normativ verstandenen Moderne gekoppelt war. Dabei erfolgt die Auflösung eines integrativen Katholizismusbegriffs über das Milieukonzept. Dessen wissenschaftliche Verwendung geht auf den Soziologen M. Rainer Lepsius zurück, der damit das stabile deutsche Wählerverhalten erklären wollte. Dabei diente der Milieubegriff zur Untermauerung der Behauptung vom deutschen Sonderweg, der dadurch gekennzeichnet gewesen sei, dass die politische Modernisierung (Demokratisierung) mit der wirtschaftlichen (Industrialisierung) nicht schrittgehalten habe. Der zeitgleiche Ablauf von Demokratisierung und Industrialisierung habe das politische System überlastet. Das Deutsche Reich sei deshalb von einer vormodernen Sozialordnung geprägt gewesen, beherrscht von einer »preußisch-aristokratischen Reichsbürokratie«, »getragen von einem feudalisierten Bürgertum« und »durchdrungen von einer autoritären und paternalistischen Leitbildern folgenden öffentlichen Sozialmoral«.124 Dies habe zu einem gehemmten Demokratisierungsprozess bei einem stabilen Parteiensystem geführt. Dies führt Lepsius darauf zurück, dass die Parteien auf vorpolitische Gesinnungsgemeinschaften fixiert gewesen seien und sich mit sozioökonomischen Interessen verbunden hätten.125 Dabei bewirkte die Koinzidenz von 120 Ebd. 78–81. 121 Ebd. 83–86. 122 Vgl. Degele / Dries: Modernisierungstheorie 16–18. 123 Altermatt: Katholizismus (1995) 34. 124 Lepsius: Parteiensystem 25. 125 Ebd. 29–32.

32 Einleitung weltanschaulichen, sozioökonomischen und politischen Interessen das Entstehen politisch stabiler »sozialmoralischer Milieus«. Lepsius unterschied für das Kaiserreich und die Weimarer Republik vier derartige Milieus, und zwar ein konservativ-protestantisches, ein liberal-protestantisches, ein sozialdemokratisches und ein katholisches Milieu.126 Das katholische Milieu sei im Kulturkampf zwischen Staat und Kirche entstanden. Es war deshalb »auf die Erhaltung der inneren Autonomie gerichtet, nach außen auf die Verteidigung eingestellt und bewirkte eine fortdauernde Isolierung des katholischen Volksteiles aus der umfassenderen Gesamtgesellschaft und ihren sozialen, kulturellen und politischen Tendenzen«. Im Milieu drückte sich deshalb für Lepsius die spezifisch katholische Antimodernität aus: Voll mobilisiert und organisiert tritt der katholische Volksteil in das Kaiserreich ein, verpflichtet auf eine wesentlich vorindustrielle und vordemokratische Sozialmoral und integriert in eine Subkultur, in der wirtschaftliche und politische Fragen mindere Dignität besitzen.127

Es ist also für Lepsius der religiöse Faktor des katholischen Milieus, der dessen Aufbrechen entlang von sozioökonomischen Interessen verhinderte.128 Das katholische Milieu von Lepsius ist ein homogenes Milieu, dessen Homogenität an seiner Antimodernität liegt. Im Anschluss daran zeichnet Blaschke das Bild eines »geschlossenen Milieus«, in dem eine »klerikale Machtelite« einer »an ihrer Basis vollkommen klerikalen Partei« die Katholiken bevormundet und an der »Totalrekatholisierung« der Gesellschaft gearbeitet habe.129 Die Annahme von der Homogenität eines katholischen Milieus, in synonymer Verwendung zu Katholizismus, ließ sich aber – zumindest in dieser Radikalität – nicht aufrecht erhalten. Die im Milieu zusammenwirkenden religiösen und sozialen Faktoren erwiesen sich auf Dauer als zu heterogen, um sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu lassen. Dabei führte die Betonung des Religiösen in der Betrachtung des katholischen Milieus zur Annahme von dessen Homogenität, die Betonung des Sozialen zu seiner Diversifizierung. Deshalb betrachtet Loth, der die sozialen Faktoren der Milieubildung hervorhebt, den Katholizismus als »Koalition« von Sozialmilieus, die sich auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Interessen gegen den Säkularisierungsprozess mobilisieren ließen.130 Dabei definiert er Sozialmilieu als »Form der Vergesellschaftung«, die »auf gemeinsamen oder gleichartigen Erfahrungen, Interessen und geteilten Überzeugungen beruht und folglich von Traditionen, 126 Ebd. 32–38. 127 Ebd. 39. 128 Ebd. 47. 129 Blaschke: Katholizismus 265. 130 Vgl. dazu Loth: Milieus 123–127. Vgl. dazu auch: Ders.: Integration 266–268.

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wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lagen geprägt wird«. Diese Vergesellschaftung habe »zur Ausbildung einer gemeinsamen Lebensweise, die affektiv besetzt ist und wesentlich zur Tradierung der Deutungskultur des Milieus beiträgt«, geführt.131 Erst im Kulturkampf seien die verschiedenen katholischen Sozialmilieus dann zu einer katholischen »Subgesellschaft« geformt worden.132 Nach dem Abklingen des Kulturkampfes habe sich diese wieder in »regional und sozial unterschiedlich akzentuierte Sozialmilieus« aufgelöst.133 Dabei vertritt Loth die Ansicht von der instrumentellen Modernität des Katholizismus.134 Dadurch kann er den anhaltenden Erfolg der katholischen Zentrumspartei bei abnehmender religiöser Integrationskraft nach dem Ende des Kulturkampfes – letztlich jenseits des Milieubegriffs – mit taktischer Geschicklichkeit der Zentrumsführung, mit dem Programm des sozialen Ausgleichs, der anhaltenden wirtschaftlichen und kulturellen Benachteiligung von Katholiken, mit dem Rückgriff auf nationale Parolen und den Organisierungserfolgen der Vereine und Verbände erklären.135 So wie Blaschkes Annahme von totaler Milieuhomogenität keine Nachfolge fand, tat es das zerfallene Milieu von Loth auch nicht. Denn die integrative Wirkung des Zentrums lässt sich nicht auf bloße Interessenbefriedigung zurückführen. Es setzten sich vermittelnde Standpunkte durch. Denn für Mooser etwa besteht die Stärke der Milieuthese gerade darin, »daß sie auf die enge Verflechtung von Religion, sozialen Normen und kultureller Orientierung, von wirtschaftlicher Lage, regionalen Traditionen und dem schichtenspezifischen Profil der intermediären Gruppen verweist«.136 Altermatt, der den Begriff der »Subgesellschaft« demjenigen des »Milieus« vorzieht, weist darauf hin, dass soziale Faktoren alleine noch keine »Subgesellschaft« konstituierten. Dafür sei das Hinzutreten von weltanschaulichen Faktoren nötig. Diese Subgesellschaften besäßen eine gemeinsame Subkultur, bestehend aus gemeinsamen Wertvorstellungen, Gefühlen und Verhaltensweisen sowie eine gemeinsame Substruktur, d. h. »gemeinsame Bande sozialer Beziehungen und Organisationen«. Eine Subgesellschaft sei dadurch gekennzeichnet, »daß in ihr die organisatorischen Beziehungen ideologisiert und die ideologischen Positionen organisiert werden«.137 Der Politologe Karl Rohe plädiert für einen Milieubegriff, der von der Dominanz der »sozialkulturellen Dimension« als milieubildendem Faktor ausgeht. Zusammenhalt basiere nicht auf gemeinsamen ökonomischen Interessen, sondern auf ge-

131 Loth: Milieus 132 f. 132 Ebd. 133 f. 133 Ders.: Bewegungen 282. So auch Holzem: Milieu 30–34. 134 Loth: Integration 266. 135 Ebd. 275 f. 136 Mooser: Volk 260. 137 Altermatt: Subgesellschaft 146 f.; vgl. auch: Ders.: Katholizismus (1991) 103–118.

34 Einleitung meinsamer Lebensweise und Alltagsüberzeugungen.138 Dabei bemerkte er aber sehr wohl eine unterschiedliche Mobilisierungskraft des Zentrums, abhängig vom Urbanitäts- und Industrialisierungsgrad, dem Vorhandensein nationaler Minoritäten und unterschiedlichen politischen Traditionen.139 So betonte der westfälische Wahlaufruf des Zentrums 1874 die Bedeutung des Katholischen als Garant von Ruhe und Ordnung, der rheinische zeigte emanzipatorische Züge und der schlesische zeichnete sich durch Staatstreue aus.140 Ein differenzierter Milieubegriff wurde zu einem zentralen heuristischen Instrument der kulturgeschichtlich inspirierten Sozialgeschichte. Denn er eignete sich einerseits zur sozialgeschichtlichen Erweiterung von Kirchengeschichte und andererseits zur Überwindung von sozialhistorischem Funktionalismus und Materialismus.141 Dabei wird der Milieubegriff vor allem von der Katholizismusforschung verwendet.142 Das ist nicht überraschend. Denn eine Einwirkung des Religiösen auf das Soziale galt ja seit dem 19. Jahrhundert als katholisches Merkmal. Dabei war es vor allem der »Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte in Münster«, der das Milieukonzept in mehreren Veröffentlichungen um die Jahrtausendwende zu einem elaborierten und differenzierten heuristischen Instrument der Katholizismusforschung machte. Auch nach Ansicht des Münsteraner Arbeitskreises seien sozioökonomische Faktoren allein nicht ausreichend, um die anhaltende Integrationskraft der Zentrumspartei nach dem Ende des Kulturkampfes zu erklären. Die sozioökonomischen Interessen der Katholiken seien dafür zu unterschiedlich gewesen.143 Deshalb nimmt der Münsteraner Arbeitskreis die Existenz eines katholischen Milieus an. Damit es zur Bildung eines Milieus kommen konnte, mussten sich die von den Soziologen Seymor Martin Lipset und Stein Rokkan als Hauptkonfliktlinien (»Cleavages«) europäischer Modernisierung erkannten Gegensätze von Staat und Kirche, Zentrum und Peripherie, Stadt und Land, Arbeit und Kapital überlagern. Dabei wird der Mobilisierungsfaktor Religion aufgrund des hohen Verpflichtungsgrades dieser Zugehörigkeit im Alltag vom Münsteraner Arbeitskreis sehr stark gewichtet.144 Dabei ist das Milieu für die diesem angehörenden Forscher eine »phänomenologisch-analytische Kategorie zur Bezeichnung bestimmter charakteristischer Merkmale neuzeitlicher Gesellschaftsentwicklung«. Die Milieubildung habe die 138 Rohe: Wahlanalyse 350. 139 Ders.: Wahlen 75 f. 140 Ebd. 78. 141 Vgl. Tischner: Wege 197–213; Altermatt: Kirchengeschichte. 142 Wolfram Pytas Studie zur politischen Kultur protestantischer Dörfer (Pyta: Dorfgemeinschaft) stellt einen der wenigen Versuche zur Anwendung des Milieubegriffs im Protestantismus dar. 143 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster: Katholiken 592–594. So auch Liedhegener: Marktgesellschaft 349 f. 144 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster: Konfession 372–379. Zu diesen Cleavages vgl. Lipset / Rokkan: Cleavage Structures.

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moderne Individualisierung, wodurch der Einzelne bei der Konstruktion seiner Identität alleine gelassen wurde, kompensiert und ihr entgegengearbeitet. Milieus seien als Reaktion auf gesellschaftliche Differenzierung und soziokulturelle Desorganisation, d. h. die Auflösung traditionaler Lebensformen, entstanden. Das Milieu diene dann als »Hilfskonstruktion« zum Ersatz für die verlorengegangene Ganzheit der Gesellschaft, indem es Überschaubarkeit und Stabilität herstelle. Es sei »Träger kollektiver Sinndeutung von Wirklichkeit«, das reale Verhaltensmuster auspräge, die sich an einem Werte- und Normenkomplex orientierten, was vom Münsteraner Arbeitskreis als »Milieustandard« bezeichnet wird. Der das Milieu integrierende Faktor ist also wieder, wenig überraschend, die kollektive Sinndeutung, bestehend aus kognitiven und affektiven Elementen.145 So sehr sich der Münsteraner Arbeitskreis ansonsten von Loth unterscheidet, wird auch in ihm das Interpretament von der instrumentellen Modernität des Katholizismus verwendet. Katholisches Presse-, Vereins- und Parteiwesen dienten ihm als moderne Mittel zur Abgrenzung von der Moderne an der Schnittstelle zwischen Milieu und Gesellschaft. Was zur Verteidigung des Katholischen gegen die Moderne dienen sollte, musste den Spielregeln der modernen Gesellschaft entsprechen.146 Dabei benötige die Stabilität des Milieus angesichts dominanter funktionaler Differenzierung Außendruck.147 Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft ist also hier Voraussetzung der Bildung des Milieus, das gerade gegen diese Differenzierung ankämpft. Wieder einmal gipfelt die Analyse des Verhältnisses zwischen Katholizismus und Moderne in einer Aporie. Der Münsteraner Arbeitskreis geht von der Messbarkeit der Milieukohäsion aus. Als messbare Indikatoren werden das Wahlverhalten, die Vereinspartizipation, die Familienstruktur und der Empfang der Sakramente genannt.148 Gerade dadurch verlor der Milieubegriff bei seinen engagiertesten Anwendern sein heuristisches Monopol zur Beschreibung des Katholizismus. Während sich Milieus durch hohe soziale Reichweite (hohe Osterkommunion) und hohe Intensität (hohe Jahreskommunion je Osterkommunion) auszeichneten, seien traditionale Lebenswelten ohne Milieubildung durch hohe soziale Reichweite (hohe Osterkommunion) und geringe Intensität (niedrige Jahreskommunion je Osterkommunion) geprägt. Milieus zeichneten sich durch ein dichtes Vereinswesen, eine starke Bindung an das Zentrum, ein ausgebautes konfessionelles Pressewesen, eine dichte pastorale Versorgung und die Mobilisierung der Laien aus. Traditionale Lebenswelten  – etwa im dominant katholischen Bayern mit vergleichsweise geringem Außendruck – kennzeichne eine ritualisierte Frömmigkeit, die Konzentration der Seelsorge auf den Priester, klerikale Skepsis 145 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster: Katholiken 602–611. 146 Ebd. 616. 147 Ebd. 617 f. Vgl. dazu auch Geller: Voraussetzungen 72–77. 148 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte Münster: Katholiken 621–631.

36 Einleitung gegenüber dem Vereinswesen und eine geringere Bindung an das Zentrum.149 Durch die Abspaltung einer zum Milieukonzept wenig kompatiblen traditionalen Lebenswelt konnte aber die Homogenität des Rest-Milieus auch nicht gerettet werden. Der Münsteraner Arbeitskreis geht zwar von der Entstehung eines »katholischen Milieus auf nationaler Ebene« als Folge von Reichsgründung und Kulturkampf aus, daneben aber auch von der Existenz von spezifischen »Regionalmilieus«.150 Und diese Regionalmilieus wurden wieder als heuristische Zusammenfassungen unterschiedlicher Lokalmilieus betrachtet. Der Katholizismusforscher Joachim Kuropka unterscheidet schließlich zwischen »agrarisch-industriellen Mischmilieus«, »traditionalen Lokal-/Regionalmilieus« und »vormodernen agrarisch-­katholischen Milieus«.151 Das Milieu ist von einem makrogeschichtlichen Synonym für Katholizismus zu einem mikrogeschicht­ lichen Untersuchungsgegenstand geworden, wodurch seine Einheitlichkeit nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Dabei steht neben der Frage nach der Homogenität des katholischen Milieus immer noch die Frage nach der Modernität der katholischen Milieubildung im Raum.152 Diejenigen Autoren, die mit Lepsius die Milieubildung vor Reichsgründung und Kulturkampf ansetzen, weshalb es vormoderner Sozialmoral verbunden gewesen sei, betonen die Antimodernität des Milieus.153 Diejenigen Autoren, die die Milieubildungsphase mit Holzem in der Kulturkampfzeit verorten, betonen die modernisierenden Aspekte der Milieubildung.154 Schließlich formuliert der Historiker Siegfried Weichlein eine dritte Position, welche die Frage nach der Modernität vermeidet, indem sie sich einer Weber’schen Begrifflichkeit bedient. Er betont, dass es bereits vor der Reichsgründung aufgrund der zahlreichen Konflikte zwischen Staat und Kirche zur Politisierung des Katholischen und daher zur Bildung eines Milieus gekommen sei. Diese Milieubildung umfasst für ihn Homogenisierung, Politisierung und (massenhafte) Organisierung. Dabei hätten religiöse über ökonomische Interessengegensätze dominiert. Deshalb konnte er diese Politisierung als Voraussetzung für die »Etablierung geistlicher Herrschaft im katholischen Volksteil« bezeichnen, wobei diese geistliche Herrschaft traditionale, rationale und charismatische Elemente umfasst habe.155 Für den Zeithistoriker Wolfgang Tischner ist die Frage nach der Modernität des katholischen Milieus ohnehin irrelevant. Verantwortlich für das Entstehen eines katholischen Milieus sei ein Konflikt zwischen dem Katholischen und seiner sozialen Umwelt, »wobei gleichgültig ist, ob dieser Konflikt einem katho 149 Ders.: Konfession 365–371. 150 Ebd. 384. 151 Kuropka: Regionalmilieus. 152 Vgl. dazu Weichlein: Konfession 193 f. 153 Lepsius: Parteiensystem 39. 154 Holzem: Milieu 30–34. 155 Weichlein: Konfession. So auch Becker: Milieu 32.

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lischen Modernisierungsdefizit oder aber einem atheistischen Kirchenkampf entspringt«. Er spricht deshalb von einem »angeblichen Gegensatz zwischen Katholizismus und moderner Gesellschaft«. Für ihn liegt die Bedeutung des Milieubegriffs zwar darin, dass sich mit ihm eine »Verlagerung des Forschungsinteresses von einer eher kirchen- und politikgeschichtlichen Analyse hin zu sozial- und religionsgeschichtlichen Fragestellungen ergeben« habe. Insgesamt würden mit ihm aber die Strukturen der Vergesellschaftung zu stark betont. Für Tischner ist deshalb das »Erkenntnispotential dieses Ansatzes ausgereizt«. Zu erforschen sei nicht das katholische Milieu, sondern die katholische Kultur. Die Verengung auf das Vereinswesen und die Fixierung auf die Modernisierungsdebatte sei aufzugeben: »Man könnte in Zukunft über die Elemente einer katholischen Kultur und ihre Dynamik diskutieren und müßte sich nicht permanent mit dem Vorwurf mangelnder Modernität abgeben.«156 In Übereinstimmung damit hält auch der Katholizismusforscher Otto Weiß den Milieubegriff für zu unterkomplex, um die gesellschaftliche Realität des Katholischen angemessen zu beschreiben und schlug vor, von »katholisch geprägten Kulturen« zu sprechen.157 Diese Kritik verweist darauf, dass die Forschungen zum katholischen Milieu – nicht zuletzt in der Selbstsicht der Forscher – von Ausblendung der amtskirchlichen und theologisch-dogmatischen Aspekte gekennzeichnet sind.158 Die Integration religionsgeschichtlicher Fragen in die sozialhistorische Forschung durch das Milieukonzept führte zwar zu einem starken Interesse an der »Volksreligion«, aber zu einer Vernachlässigung der weitgehend von der konfessionellen Theologie- und Kirchengeschichtsforschung beanspruchten »Elitenreligion«.159 Das Konzept des Milieus stellte durch die Integration sozial-, politik- und religionsgeschichtlicher Fragestellungen und Methoden einen epochalen Schritt bei der Erforschung der Wechselbeziehung zwischen Religion und Gesellschaft im 19.  Jahrhundert dar. Dabei war der religionsgeschichtliche Blick auf das Milieu im Hinblick auf die laikalen Mitglieder substantiell, im Hinblick auf die klerikalen Mitglieder funktionalistisch. Dieser Bias ist zu überwinden, da die klerikalen Mitglieder des Milieus nicht nur Herrschaft durch die Deutung von gesellschaftlichem Wandel ausübten, sondern ihr Handeln dieser Deutung auch selbst unterworfen war. Deshalb befleißigt sich diese Studie eines kulturwissenschaftlichen Blickes auf die religiösen Virtuosen des Katholischen.

156 Tischner: Milieu 216–221. 157 Weiß: Geschichte 304. 158 So beschreibt Altermatt selbst sein Konzept der katholischen Subgesellschaft. Vgl. Altermatt: Katholizismus (1991) 17–20. Vgl. die auch Forschungsüberblicke bei Altgeld: Christentum; Anderson: Piety; Fleckenstein: Kirchengeschichte; Weiß: Geschichte. 159 Vgl. dazu Altgeld: Christentum; Blackbourn: Volksfrömmigkeit; Holzem: Geßlerhüte; Korff: Heiligenverehrung; Lill: Katholizismus; Schieder: Sozialgeschichte; Schneider: Welt; Weiß: Geschichte.

38 Einleitung

2. Zur Methode: »Religion« und »Kultur« Wenn es in dieser Arbeit also darum geht, katholische Sinnproduktion als religionsgeschichtliches Phänomen und nicht als bloßes Herrschaftsinstrument zu analysieren, dann droht die Frage nach der Definition des Forschungsgegenstandes, der Religion  – einer Frage, der sich religionswissenschaftliche Lehrbücher gerne und aus gutem Grund verweigern.160 Es gibt kein Merkmal, das allen kulturellen Phänomenen, die mit dem Begriff der Religion bezeichnet werden, gemein wäre – nicht Gott, nicht Glaube, nicht Jenseits. Für Franz Xaver Kaufmann handelt es sich deshalb erst dann um eine Religion, wenn mehrere von bestimmten sechs Leistungen erfüllt werden (Identitätsstiftung, Handlungsführung im Außeralltäglichen, Kontingenzbewältigung, Sozialintegration durch Legitimierung von Gemeinschaftsbildung, Kosmisierung, Weltdistanzierung), wobei freilich keine dieser Leistungen nur von Religion erbracht werden. Dabei zeigt sich letztlich auch darin das grundlegende Problem des Religionsbegriffs, das in seinem Eurozentrismus liegt. Denn für Kaufmann war es das mittelalterliche Christentum, das diese Funktionen noch alle erfüllte. Also auch diese Leistungen gründen in einem europäischen Religionsverständnis.161 So sehr sich die Religionswissenschaft bei der Erforschung konkreter religiöser Phänomene um eine Überwindung des Eurozentrismus bemüht, dass dies bei der Definition von Religion gescheitert ist, zeigt sich an der Abstinenz von Definitionsbemühungen. Die Problematik von religionswissenschaftlichem Eurozentrismus spielt in dieser Studie allerdings keine Rolle. Denn beim Katholizismus des 19. Jahrhunderts handelt es sich um ein religiöses und europäisches Phänomen. Gott und Glaube als spezifisch europäische Merkmale von Religion sind für die katholische Konfession kennzeichnend, so wenig verallgemeinerbar sie für einen umfassenden Religionsbegriff sind. Das macht es nun aber auch nicht leichter, den Grund für das Entstehen von Religion zu bestimmen, insofern man nicht von der Existenz einer göttlichen Offenbarung ausgeht. Hier konkurrieren funktionale Erklärungen, für die Religion einen sozialen Zweck erfüllt, mit substantiellen Erklärungen, die Religion auf eine bestimmte, religiöse, Erfahrung zurückführen. Deshalb stellt sich für die Vertreter dieser Perspektive – etwa Rudolf Otto (protestantischer Theologe und Religionswissenschaftler, 1869–1937) oder Mircea Eliade (Religionswissenschaftler, 1907–1986) – die Frage nach dem Zweck der Religion gar nicht. Da diese substantielle Perspektive Religion aber außerhalb des Menschen verortet, ist sie für eine kulturwissenschaftliche Analyse nicht geeignet, ja sie wird nicht zu Unrecht in die Nähe der Theologie gerückt.162 160 Vgl. Zinser: Grundfragen 35. 161 Vgl. dazu Gabriel: Verkirchlichung 230 f. 162 Vgl. Zinser: Grundfragen 28.

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Deshalb konzentriert sich die Religionswissenschaft auf die funktionalistische Perspektive.163 Für Emil Durkheim (Soziologe, 1858–1917), einen der frühesten Vertreter der funktionalistischen Perspektive, besteht der Zweck von Religion in der Herstellung von sozialem Zusammenhalt. Dabei stellt vor allem die Bewältigung von Angst  – auch selbst erzeugter  – eine der ältesten Funktionsbestimmungen von Religion dar.164 Damit nicht identisch, aber eine große Schnittmenge aufweisend, wurde die Verarbeitung von Unsicherheit zu einem wesentlichen Merkmal von Religion. Erstmals wurde dies von dem schottischen Philosophen David Hume (1711–1776) in seinem Werk »The Nature History of Religion« von 1757 formuliert.165 René Girard (Literatur- und Religionswissenschaftler, 1923–2015) etwa betont den Faktor Gewalt bei der Erklärung religiöser Phänomene und sieht den Zweck von Religion in der Umwandlung von unkontrollierter in kontrollierte Gewalt.166 Umfassender noch dient Religion in der Religionstheorie von Clifford Geertz (Ethnologe, 1926–2006) der Bewältigung von Konflikten, die aus chaotischen Situationen hervorgegangen sind. Religion beantworte Fragen nach dem Sinn von Unvernunft, Leiden und Ungerechtigkeit.167 Auf den Begriff der Kontingenzbewältigung gebracht, spielt die Auseinandersetzung damit mittlerweile eine Hauptrolle in philosophischen (Hermann Lübbe, geb. 1926) und soziologischen (Niklas Luhmann, 1927–1998) Religionstheorien.168 Für Luhmann ist die Kontingenzbewältigung eine Funktion, welche die Religion nur unter den Bedingungen einer (modernen) funktional differenzierten Gesellschaft erfüllen kann. Der Verlust gesamtgesellschaftlicher Deutungsansprüche (Säkularisierung) führe zu einem Autonomiegewinn von Religion (Verkirchlichung). Dadurch erst könne Religion aber die Funktion der Kontingenzbewältigung erfüllen. In einer funktional differenzierte Gesellschaft diene Religion also nicht mehr zur gesellschaftlichen Integration, sehr wohl aber zur Kontingenzbewältigung.169 Für den Soziologen Günter Dux ist die Kontingenzbewältigung als Funktion von Religion nicht Folge der funktionalen Differenzierung, sondern »anthropologischer Grundsachverhalt«. Für ihn findet sich Religion überall dort, wo Unsicherheit zu bewältigen ist. Denn aus der Tatsache, dass der Mensch den Zwangscharakter der Natur überwunden habe, folge Un 163 Zu den verschiedenen Konzepten von Religionsfunktionen vgl. Kaufmann: Religion 303 f.; Seubert: Religion 59–72; Stolz: Grundzüge 11–34. 164 Vgl. Zinser: Grundfragen 40–51. 165 Vgl. dazu Kippenberg: Entdeckung 18–21. 166 Girard: Heilige 36–43. 167 Vgl. Zinser: Grundfragen 49. 168 Dabei äußert sich Lübbe: Religion 160–178 kritisch zur Funktion der Kontingenzbewältigung. Für ihn besitzt menschliche Kontingenz, da unhintergehbar, keine handlungsleitende Funktion. 169 Luhmann: Funktion; ders.: Religion.

40 Einleitung sicherheit. Diese werde nicht nur durch Religion verarbeitet. Es gehe bei der Frage nach der Entstehung von Religion vielmehr um die Art, wie Unsicherheit verarbeitet wird. Religion sei »Routine im Umgang mit dem routinemäßig nicht Fixierten«. Deshalb ist Religion für Dux nicht unbedingt jenseitsorientiert.170 Anders verhält es sich bei Ulrich Oevermann, wenn auch für ihn die Unsicherheit im Mittelpunkt seines religionssoziologischen Interesses steht und diese bei ihm nicht von einem gesellschaftlichen Entwicklungsstand abhängt. Im Hinblick auf die Endlichkeit des Lebens und der Knappheit der Zeit ergebe sich zwingend das Problem der Bewährung. Um die daraus entstehende Unsicherheit auszuhalten, bedarf es der Milderung durch einen Bewährungsmythos, der die Lösung des Bewährungsproblems in Aussicht stellt. Dies ist notwendigerweise nach dem Ende der Bewährung, also im Jenseits.171 Schließlich betrachtet auch der Soziologe Martin Riesebrodt Religion im Hinblick auf ihre Leistungen zur Bewältigung von Unsicherheit. Für ihn gründet Religion in der Erfahrung von Krisen. Religionen seien es gewesen, die »das chaotische Potential von Krisen in Ordnungsvorstellungen transformiert haben«, indem sie ihnen Sinn verliehen haben. Dabei lege die Universalität von Religion nahe, so Riesebrodt, dass der Mensch nur eine begrenzte Fähigkeit zum Umgang mit »Ungewißheit« habe.172 Wird Religion auf ihre Funktion zur Kontingenzbewältigung reduziert, ist dies sicherlich ein reduktionistischer Ansatz. Religion, selbst funktionalistisch betrachtet, lässt sich darauf nicht beschränken. Andererseits lässt sich die Funktion der Kontingenzbewältigung nicht auf Religion beschränken, auch Wissenschaft, Recht und Politik haben auf unterschiedliche Weise daran teil.173 Jedenfalls, so haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, handelt es sich bei der Kontingenzbewältigung um einen zentralen Aspekt jedes wissenschaftlichen Nachdenkens über Religion. Umso erstaunlicher ist, dass dieses Nachdenken weitgehend auf die Theorie beschränkt ist und kaum geschichtswissenschaftlicher Empirie unterworfen wird. Wenn eine der hauptsächlichen Funktionen von Religion in der Bewältigung von Kontingenz besteht, dann bedeutet das nicht, dass Religion die Produktion von Sicherheit anstrebt. Für den Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) besteht der Zweck aller Religion zwar sehr wohl in der Vermittlung von Sicherheit durch die Wiederholung der Kindheitserfahrungen von Liebe, Zuwendung und Geborgenheit sowie Zurückweisung, Gehorsamsforderung, Verbot und Strafe.174 Dem widerspricht aber der Ethnologe Robert Ranulph Marett (1866–1943). Seiner Ansicht nach gründe jede Religion in der Erfahrung von 170 Zu Dux vgl. Gabriel: Religion 245 f. 171 Zu Oevermann vgl. Gabriel: Bewährungsdynamik 261 f. 172 Zu Riesebrodt vgl. Große Kracht: Revitalisierung. 173 Vgl. dazu Gabriel / Reuter: Einleitung 22–30. 174 Vgl. dazu Röckelein: Psychohistorie(n) 18.

Zur Methode: »Religion« und »Kultur«  41

Kontingenz, in der Erfahrung, dass die Welt von unkontrollierbaren Mächten beherrscht wird. Die Aufgabe von Religionen ist deshalb zwar die Verarbeitung von Unsicherheiten, nicht aber zwingend durch die Herstellung von Sicherheit, sondern indem Unsicherheit Sinn verliehen wird.175 Im Anschluss daran führt der Soziologe Christoph Lau aus, dass Religion Unsicherheit durch Rituale nicht einfach in Sicherheit, sondern in außeralltägliche Heiligkeit transformiert, um das Alltagshandeln davon weitgehend zu entlasten.176 Überhaupt bewertet Kaufmann die Entwicklung von Sicherheit zur gesellschaftlichen Leitidee in der Moderne als Säkularisierung. Denn das Streben nach Sicherheit steht im Widerspruch zur göttlichen Allmacht.177 Wenn aber die Erweiterung des menschlichen Handlungsraums, was als Kennzeichen der Moderne gilt, notwendigerweise zu vermehrter Unsicherheit führt, dann ergibt sich daraus – nicht in methodischer, aber inhaltlicher Übereinstimmung mit Luhmann – ein erweiterter Bedarf für Religion. Dies rechtfertigt dann letztlich die religionsgeschichtliche Analyse der Erweiterung des menschlichen Handlungsraums im 19. Jahrhundert, was hier am katholischen Beispiel geschehen soll. Da Religion die Welt deutet, handelt es sich bei ihr um ein kulturelles Phänomen. Denn Kultur meint stets die Deutung von Welt.178 Kultur ist für Geertz ein System, »mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln«. Dabei drücken sich diese Vorstellungen in symbolischer Gestalt aus.179 Kulturelle Handlungen seien deshalb symbolische, also zeichenhafte Handlungen. Kulturelle Tätigkeiten seien empirisch nur über ihren symbolischen Charakter fassbar. Symbole sind für Geertz »aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen«.180 Diese Symbole sind für Geertz zu Kulturmustern angeordnet. Darunter versteht er »Programme für die Anordnung der sozialen und psychologischen Prozesse, die das öffentliche Verhalten steuern«.181 Diese benötige der Mensch, da dessen angeborene Reaktionsfähigkeit unspezifisch und veränderbar ist. Der Mensch benötige »Symbole

175 Vgl. dazu Kippenberg / Stuckrad: Einführung 30; Riesebrodt: Marett. 176 Lau gibt zu bedenken, dass durch Religionen »Zeiten bewußt eingegangener Gefahr durch Übergangsrituale und Abgrenzungssymbole der Charakter des ›Außeralltäglichen‹, des Heiligen, verliehen« wurde. Dadurch sei »das Alltagshandeln von Ängsten abgeschirmt und mit Vorstellungen von Normalität und Sicherheit ausgestattet« worden. Vgl. Lau: Risikodiskurse 426. 177 Kaufmann: Leitbild 74–87. Vgl. dazu auch Kleinschmidt: Legitimität 91. 178 Zur Diskussion um den Kulturbegriff vgl. Tschopp: Forschungskontroversen 27–52. 179 Geertz: Religion 46. 180 Ebd. 49 f. 181 Ebd. 51.

42 Einleitung der allgemeinen Orientierung«, um noch unbekannte Phänomene einordnen zu können.182 Religion stellt für Geertz ein derartiges Kulturmuster dar. Religion ist nach Geertz’ substantieller Ansicht der Akt der »Überschreitung der verfügbaren Lebenswelt des Menschen«, der »durch die gleichzeitige Bezugnahme auf eben diese Lebenswelt« rückgebunden bleibt.183 Religion sei das, was jenseits einer relativ festgelegten Linie sicheren Wissens liegt und hinter dem täglichen praktischen Lebensablauf immer spürbar bleibt, was die gewöhnliche menschliche Erfahrung fortwährend in den Kontext metaphysischer Fragen stellt und den dunklen, undeutlich bewußten Verdacht hervorruft, man könnte einer absoluten Welt ausgeliefert sein.184

Religion bewältigt also auch für Geertz Kontingenz. Religion ersetze die Erfahrung kontingenter Unordnung mit Hilfe von Symbolen durch »Ordnung«.185 Religion gründe deshalb nicht in Alltagserfahrung, sondern ist eine Autorität, die diese Erfahrung »verwandelt«.186 Die religiöse Perspektive korrigiere und ergänze die Alltagserfahrung, ohne sie – im Unterschied zur wissenschaftlichen Perspektive – in Frage zu stellen. Sie schafft eine »Aura vollkommener Wirklichkeit«,187 weshalb religiöse Vorstellungen nicht auf den metaphysischen Bereich beschränkt blieben, sondern immanente Erfahrungen sinnvoll ausdrückten.188 Dabei lehnt Geertz in Übereinstimmung mit Max Weber die Behauptung des funktionalistischen »Vulgärpositivismus« ab, wonach Religion die soziale Ordnung lediglich widerspiegele.189 Der ethnologische Blick  – etwa von Geertz  – nimmt Religion als etwas Fremdes wahr. Die dadurch hergestellte Distanz ist hilfreich. Denn sie kann dazu beitragen, katholische Diskurse und Praktiken des 19. Jahrhunderts nicht als defizitär gegenüber einer normativ gesetzten Moderne

182 Ebd. 60–63. 183 Ebd. 48. 184 Ebd. 63 f. 185 Ebd. 71: »Die befremdliche Unverständlichkeit bestimmter empirischer Ereignisse, die dumpfe Sinnlosigkeit heftiger und unerbittlicher Schmerzen und die rätselhafte Unerklärbarkeit schreiender Ungerechtigkeit lassen gleichermaßen den beunruhigenden Verdacht aufkommen, daß die Welt, und damit das Leben der Menschen in der Welt, im Grunde vielleicht gar keine Ordnung aufweist – weder empirische Regelmäßigkeit noch emotionale Form noch moralische Kohärenz. Und die religiöse Antwort auf diesen Verdacht ist in allen Fällen dieselbe: sie formt mittels Symbolen das Bild einer solchen genuinen Ordnung, das die ins Auge springenden Zweideutigkeiten, Rätsel und Widersinnigkeiten in der menschlichen Erfahrung erklärt oder sogar hervorhebt.« 186 Ebd. 73. 187 Ebd. 77. 188 Ebd. 92 f. 189 Ebd. 87. Vgl. dazu Kippenberg / Stuckrad: Einführung 33.

Zur Methode: »Religion« und »Kultur«  43

wahrzunehmen. Die Eigendynamik des Religiösen wird dadurch erkennbar.190 Dadurch lässt sich die Aufklärung als »Verstehensbarriere« (Andreas Holzem) gegenüber der Religion überwinden. Anders erscheint es geradezu unmöglich, »in den fremden religiösen Welten des Katholizismus anderes als Dummheit und Manipulation, säkulare Unerlöstheit und Führbarkeit des Volkes zu sehen«.191 Dabei überwindet nicht nur die ethnologische Perspektive von Geertz einen allzu positivistischen Funktionalismus in der Analyse von Religion. Auch Luhmanns systemtheoretischer Ansatz wirkt dem entgegen. Aufgabe von Systemen ist demnach die Komplexitätsreduzierung, d. h. die Transformation von unbestimmter in bestimmte oder doch bestimmbare Komplexität durch Sinn. Denn die Umwelt eines Systems ist immer komplexer als das System selbst. Deshalb verhalten sich Systeme gegenüber einer Vielzahl von Möglichkeiten selektiv, was zur Herausbildung eines binären Codes führt. Dieser Code ist die Leitdifferenz, an welcher die Kommunikation des Systems orientiert ist. Das religiöse System wird durch die Leitdifferenz von Immanenz und Transzendenz bestimmt. Dieser abstrakte Code muss durch ein Programm konkretisiert werden, d. h. durch Regeln, wie der Code zu verstehen ist. Im religiösen System handelt es sich dabei um die Dogmen. Kommunikation hat im System keine Dauer, verschwindet im Entstehen und muss deshalb ständig reproduziert werden. Kommunikation geschieht durch Sprache, Verbreitungsmedien, aber auch durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. Das sind Generalisierungen, welche bestimmten Sinn zeitlich dauerhaft, räumlich allgemein und sozial übergreifend darstellen und doch konkretisierbar sind. Im religiösen System handelt es sich dabei etwa um Liebe oder Gerechtigkeit.192 Die Kirche ist die »Funktion« des religiösen Systems, ihre Aufgabe besteht in der Beziehung des Systems zur Gesamtgesellschaft. Diakonie nennt Luhmann die »Leistung« des religiösen Systems, ihre Aufgabe besteht in der Beziehung zu anderen Systemen. Die Beziehung des religiösen Systems zu sich selbst, die Aufgabe der »Reflexion«, übernimmt die Theologie.193 Sowohl Geertz als auch Luhmann geht es also um die Eigendynamik des Religiösen in einer nichtreligiösen Umwelt. Der Soziologe Otwin Massing weist darauf hin, dass Systeme dahin tendieren, »binnensystemisch verankerte Funktionsziele zu optimieren«, um ihre Bestandserhaltung zu garantieren. Deshalb tritt Religion immer als Mischform zwischen konservativ-beharrender und progressiver Potenz in Erscheinung. Deshalb sind eine mythisch rückwärts 190 Zur ethnologischen Perspektive auf die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts vgl. Holzem: Geßlerhüte 277 f. 191 Ebd. 280. 192 Luhmann: Funktion 72–181; ders.: Religion 53–114. Vgl. dazu Kneer / Nassehi: Theorie; Degele / Dries: Modernisierungstheorie 59–68. 193 Luhmann: Funktion 56–60.

44 Einleitung gewandte und eine messianisch zukunftsbezogene »Potentialität« unterscheidbar.194 Der katholische Theologe und Religionswissenschaftler Staf Hellemanns konstatiert auf systemtheoretischer Grundlage, »dass Religion ein integraler Bestandteil der Moderne ist und also auch orthodoxe Religion durch und durch modern ist«. Wie alle anderen Subsysteme auch ist sie in Modernisierungsprozesse einbezogen. Religion verändert sich in und durch die Moderne.195 Deshalb gebe es keinen Gegensatz zwischen Religion und Moderne: »Alle Religion in der Moderne ist modern, unter Einschluss der orthodoxesten und modernitätsfeindlichsten.«196 Es gehe deshalb nicht darum, die Opposition von Religion und Moderne zu untersuchen, sondern die Transformationen der Religion, die permanente Konstruktion von Religion.197 In Übereinstimmung damit fordert der Historiker Hartmut Lehmann, nicht von Säkularisierung, sondern von Transformation des Religiösen zu sprechen, da vom irreversiblen Verfall des Religiösen in der Moderne nicht die Rede sein könne. Er stellt fest: »Zwischen starker religiöser Überzeugung und ökonomischer sowie technologischer Modernisierung besteht offensichtlich kein Gegensatz.«198 Deshalb fordern die katholischen Kirchenhistoriker Bernhard Schneider und Andreas Holzem, die gesellschaftliche Bedingtheit von Religion aufzuzeigen, ohne sie als bloßen Reflex auf soziale Prozesse wahrzunehmen. Die Eigendynamik von Religion, die ihrerseits soziale Prozesse anstößt, sei zu untersuchen.199 Um die Analyse der Religion als kulturelles Phänomen in einer die menschlichen Handlungsmöglichkeiten stets erweiternden Umwelt methodisch zu bewältigen, lohnt es, einen Blick auf die Forschungen zur Politischen Kultur zu werfen.200 Der Politologe Karl Rohe begreift Politische Kultur – ähnlich wie ­Geertz sein Kulturmuster – als Rahmen, in dem das Denken, Fühlen und Handeln eines Kollektivs konditioniert, aber nicht determiniert, wird. Bestimmte Formen des Denkens, Fühlens und Handelns werden gestützt, andere erschwert oder unmöglich gemacht. Politische Kultur wirkt also selektiv. Dabei geht es Rohe nicht um Einstellungen, sondern um die Wahrnehmungsmuster und Beurteilungsmaßstäbe, die diesen Einstellungen zugrunde liegen. Bei der Politischen Kultur nach Rohe handelt sich um eine »politische Lebensweise«, was bedeutet, dass sich die grundlegenden politischen Vorstellungen eines Kollektivs zu operativen Normen, eingeschliffenen Gewohnheiten, Konventionen, »öffentlichen Tugenden«,

194 Massing: Religiosität 7 f. 195 Hellemans: Zeitalter 15–17. 196 Ebd. 34 f. 197 Ebd. 36. 198 Lehmann: Säkularisierungsthese 144–156. 199 Schneider: Welt 57; Holzem: Geßlerhüte 277 f. 200 Zur Forschungsgeschichte des heuristischen Konzepts Politische Kultur vgl. Pappi: Politische Kultur.

Zur Methode: »Religion« und »Kultur«  45

d. h. zu einer Art »ungeschriebener Verfassung« verdichtet haben.201 Deshalb gehe es bei der Untersuchung von Politischer Kultur »um die Analyse der zu einem jeweiligen Zeitpunkt in einem sozialen Verband bestehenden politischen Möglichkeiten«.202 Politische Kultur stifte Sinnbezüge und diene als »Maßstab zur Auswahl, Organisation, Interpretation, Sinngebung und Beurteilung politischer Phänomene«.203 Politische Kultur ist für Rohe »politischer Sinn, der auch sinnenfällig werden muß«, um geteilt zu werden. Diese affektive und ästhetische (neben der kognitiven und normativen) Dimension von Politischer Kultur konditioniert die Akzeptanz von politischem Sinn.204 So beschreibt Politische Kultur die Wechselwirkung zwischen Ideen und Politik.205 Dabei unterscheidet Rohe zwischen der politischen Sozialkultur, worunter er unreflektierte »undiskutierte Selbstverständlichkeiten« versteht und der politischen Deutungskultur, die diese Selbstverständlichkeiten reflektiert.206 Der Historiker Wolfram Pyta, der Rohes Konzept der Politischen Kultur in der Geschichtswissenschaft eingeführt hat, weist darauf hin, »daß die symbolische Verdichtung der in einer politischen Soziokultur vorhandenen politischen Grundannahmen ein eigenständiger Prozeß ist, an dem nicht zuletzt professionelle Interpreten politischer Wirklichkeit beteiligt sind«.207 Bei der Analyse politischer Deutungskultur handelt es sich folglich darum, die kulturellen Sinnbezüge hinter Sozialstrukturvariablen aufzudecken. Nach Karl Rohe sind diese kulturellen Sinnbezüge immer wirksam, aber kaum sichtbar. Umgekehrt können Sozialstrukturvariablen nur wirksam werden, wenn sie mit kulturellen Sinnbezügen aufgeladen sind.208 Wohlstand, Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft hängen seiner Ansicht nach entscheidend davon ab, welche Sinnbildungsprozesse auf eine Soziokultur einwirken.209 Denn bei Politischer Kultur im Sinne Rohes handelt es sich nicht nur um Aneignungsprozesse, also Sozialisations- und Vermittlungsprozesse, sondern auch um kulturschöpferische Prozesse, »mag es sich dabei mehr um politisch-kulturelle Anpassungsleistungen 201 Rohe: Kultur (1987) 40–45. Ders.: Politik 163 versteht Politische Kultur als »Regelsystem, von dem abhängt, was und wie ›man‹ innerhalb eines sozialen Verbandes politisch handeln, politisch reden und politisch denken kann, ohne mit informellen gesellschaftlichen Sanktionen rechnen zu müssen«. 202 Ders.: Kultur (1990) 333 f.; vgl. auch: Ders.: Kultur (1994) 5. 203 Ebd. 3. 204 Ders.: Kultur (1990) 337 f.; vgl. auch: Ders.: Kultur (1994) 7. 205 Ebd. 9. 206 Ders.: Kultur (1987) 41–43. Löffler: Kultur 130 bezeichnet Politische Kultur als das »Verhältnis bzw. die Wechselbeziehung zwischen der objektiven und subjektiven Dimension von Politik«. 207 Pyta: Hindenburg 61. Zur Anwendung des Konzepts der Politischen Kultur nach Rohe auf die Geschichtswissenschaft vgl. auch Pyta: Demokratiekultur. 208 Rohe: Wahlen 12 f. 209 Ebd. 15–17.

46 Einleitung oder um politisch-kulturelle Innovationen handeln, die neue politische Denkund Handlungsmöglichkeiten eröffnen, Sinnbezüge neu erschließen oder neue politische Formen und Symbole entwickeln«.210 Im Unterschied zu den Pionieren der politischen Kulturforschung Gabriel Almond und Sidney Verba geht es bei der Politischen Kultur nach Rohe nicht um Einstellungen zur Politik, sondern um die Strukturen von Politik, nicht um die Rezeption, sondern die Perzeption von Politik.211 Rohe stützt sich dabei auf die Politologen David J. Elkins und Richard E. Simeon. Auskunft über eine Politische Kultur geben ihrer Ansicht nach Annahmen über die Ordnung des Universums, die Natur der Kausalität, Zufälligkeit oder Vorherbestimmtheit in der Weltgeschichte, die Bedeutung des menschlichen Handelns, das Bestreben Gewinne zu maximieren oder Verluste zu minimieren, über Inklusion und Exklusion, über den Inhalt des Politischen und dessen Bewertung.212 Auch für den Politologen Lowell Dittmer äußert sich Politische Kultur nicht in den Begriffen der politischen Sprache, sondern in deren Grammatik, weshalb er sie als semiotisches System analysiert.213 Die Zeithistorikerin Birgit Schwelling bezeichnet politische Kultur als Choreographie, deren Entschlüsselung uns Fragen nach dem ›Warum‹ so und nicht anders eingeschlagener Wege, so und nicht anders ausgeformter Institutionen, so und nicht anders gestalteter Symbole, so und nicht anders ausgerichteter alltäglicher Selbstverständlichkeiten und Lebensweisen beantworten kann.214

Deshalb lässt sich mit Rohes Politischer Kultur an das Konzept der symbolischen Macht des Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002) anknüpfen. Bourdieu vertritt die »Auffassung der materiellen oder symbolischen Herrschaftsbeziehungen als von den Agenten unabhängige Strukturen«. Seine Untersuchungen beziehen sich deshalb nicht auf das Gesagte, Gedachte und Wahrgenommene, sondern auf die Grenzen des Sagbaren, Denkbaren und Wahrgenommenen, wobei es die symbolische Macht ist, die diese Grenzen definiert.215 Die politologische Beschäftigung mit Politischer Kultur regte in der Geschichtswissenschaft den umfassenderen Ansatz einer Kulturgeschichte des Politischen an. Beim kulturgeschichtlichen Blick auf das Politische geht es nach Achim Landwehr um die »Prozesse der Herstellung von symbolischen Ordnungen, die für sich in Anspruch nehmen, die Einrichtung und Organisation des 210 Ders.: Politik 168. 211 Zur Anwendung der unterschiedlichen Ansätze in der Analyse der Politischen Kultur durch die Geschichtswissenschaft vgl. Mergel: Kulturwissenschaft 415 f.; Schwelling: Blick 19–21; dies.: Kulturforschung 604–612. 212 Elkins / Simeon: Search. Vgl. dazu Reichel: Kultur 38. 213 Dittmer: Culture 552–583. 214 Schwelling: Kulturforschung 616 f. 215 Bourdieu: Feld 483–485.

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gesellschaftlichen Lebens zu regeln«.216 Reckwitz bezeichnet diesen Prozess im Anschluss an den Sozialphilosophen Michel Foucault (1926–1984) als Gouvernementalität. Darunter versteht er Techniken des Regierens, mit denen bestimmte Formen des Subjekts entstehen, und zwar durch Muster, nach denen die Akteure ihre Lebensformen legitim führen können. Dabei handelt es sich um die Produktion von Klassen- und Geschlechtsdifferenzen, von wohlfahrtsstaatlichen, liberalen, diszipliniert-selbstkontrollierten oder konsumorientierten Mustern der Lebensführung.217 So fragt die kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Politische beispielsweise nicht nach Effizienz und Legitimität (den politischen Codes des Liberalismus) sondern nach der Bedeutung von Effizienz in der politischen Kommunikation. Bei der Kulturgeschichte des Politischen handelt es sich also um die Analyse symbolischer, komplexitätsreduzierender Verdichtung politischer Aussagen, wodurch politische Kommunikation erst ermöglicht wird. Die Kulturgeschichte des Politischen ist also Kommunikationsgeschichte. Es geht um dabei um die Erforschung von Begrifflichkeiten und Leitvokabeln, mit denen Wahrnehmung strukturiert wird.218 Demgegenüber tritt die Kausalität politischer Ereignisse, welche die ältere Politikgeschichte rekonstruiert, in den Hintergrund.219 Eine Übertragung des Konzepts der Politischen Kultur auf das Religiöse ist möglich, insofern es sich bei Religion um eine öffentliches Phänomen handelt, das nach Ausweis der Katholizismusforschung im 19. und 20.  Jahrhundert großen parlamentarischen Einfluss ausübte. Trotzdem lässt sich das Konzept der Politischen Kultur nicht unbesehen auf das Religiöse übertragen, ohne in die Religionsblindheit der funktionalistischen Sozialgeschichtsforschung zurückzufallen und Religion nur als Instrument von Herrschaft zu untersuchen. Ein Blick auf die frühneuzeitliche Konfessionalisierungsforschung zeigt, dass sich ein diskursiver Kulturbegriff aber sehr wohl für die Analyse des Religiösen eignet. Diese durchlief eine ähnliche Entwicklung wie die spätneuzeitliche Katholizismusforschung. Im Unterschied zu dieser hat die Konfessionalisierungsthese allerdings die Differenz zwischen vorwärtsstrebendem Protestantismus und katholischem Traditionalismus aufgelöst. Konfessionalisierung meint den beide Konfessionen gleichermaßen erfassenden Prozess der Formulierung klarer Glaubensbekenntnisse, der Ausmerzung von Unklarheiten, der Monopolisierung von Bildung, der Intensivierung von Riten und einer klaren apologetischen Unterscheidung der

216 Landwehr: Volk 211 f. Thomas Nicklas wendet sich polemisch gegen die politische Kulturgeschichte und plädierte für eine kausale Ereignisgeschichte des Politischen. Vgl. Nicklas: Macht. 217 Reckwitz: Politik 34 f. 218 Vgl. Mergel: Kulturwissenschaft; ders.: Überlegungen 224–230. 219 Zum Unterschied zwischen älterer Politikgeschichte und politischer Kulturgeschichte vgl. Ebd. 233; Stollberg-Rilinger: Kulturgeschichte.

48 Einleitung Konfessionen.220 Im Mittelpunkt des forschenden Interesses stand die homogenisierende, sozialdisziplinierende und herrschaftsstabilisierende Funktion der Konfessionen für den frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesse.221 Diese funktionalistische Engführung stieß schließlich auf zunehmende Kritik, da vor allem alltagsgeschichtliche Eigengesetzlichkeiten ausgeblendet wurden.222 Der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann antwortet auf diese etatistische Engführung, indem er sich ausdrücklich gegen eine »modernisierungstheoretische Generalperspektive« wendet und »konfessionskulturhistorische Kritik« übt. Er beklagt die Differenzierung in modernisierende Staatlichkeit und retardierende Religiosität in der Konfessionalisierungsthese. Deshalb nimmt er den religiösen Charakter des Phänomens Konfession ernst und betrachtet sie als Konstruktion, als »Moment kultureller Praxis«. Dabei führt er den Begriff der »Konfessionskultur« ein. Darunter versteht er »eine bestimmte Deutungsmatrix, Symbolwelt oder Diskursform«, die Zugehörigkeit definiert und »bestimmte Werte und Orientierungsmuster, Ängste und Abwehrstrategien, Handlungsformen und Umgangsweisen des Leidens« vermittelte. Dabei betont er die Gleichzeitigkeit von Rationalisierung und Irrationalisierung – eine Sichtweise, die den »Mythos einer irreversiblen, modernisierungsinhärenten Säkularisierungsdynamik« ersetzt durch die Perspektive einer »permanenten, dynamischen Transformation des Religiösen«.223 Deshalb sieht es die Frühneuzeithistorikerin Barbara Stollberg-Rilinger als Aufgabe der Forschung, kulturalistische, diskurstheoretische und praxeologische Ansätze aufzugreifen und Konfessionalität nicht essentialistisch als eine feste Größe zu behandeln, die sich einmal herausgebildet und dauerhaft verfestigt hat, sondern sie als eine stets schwankende und instabile kulturelle Praxis im jeweiligen performativen Vollzug zu beschreiben.224

Das Konzept der Konfessionskultur reagiert also für die frühe Neuzeit auf die gleiche Engführung, der auch die sozialgeschichtliche Katholizismusforschung des 19. und 20. Jahrhunderts lange unterworfen war. Um die soziale Bedeutung des Religiösen, Konfessionellen, Katholischen im 19. Jahrhundert jenseits modernisierungstheoretischer Eindimensionalität analysieren zu können, bietet sich ihre zeitliche Ausdehnung auf die späte Neuzeit an.225 Die Gemeinsamkeit 220 Holzem: Christentum 13; vgl. auch Unterburger: Ambiguität 103–119, der darauf hinweist, dass die religiöse Homogenisierung bereits vor der Reformation im späten Mittelalter begonnen hatte. 221 Vgl. dazu Schilling: Konfessionskonflikt; ders.: Konfessionalisierung (1988). Zum Forschungsstand vgl. ders.: Konfessionalisierung (2009). 222 Vgl. dazu Schnabel-Schüle: Jahre. 223 Kaufmann: Konfession 7–16. 224 Stollberg-Rilinger: Einleitung 13 f. 225 Kaufmann rechtfertigt sein Konzept der Konfessionskultur ja nicht zuletzt mit der Prägekraft des Konfessionellen im deutschen Kontext über die Frühe Neuzeit hinaus. Vgl. Kaufmann: Konfession 15.

Zu den Quellen: »Diskurs« und »Theologie«  49

zwischen dem Konzept der Konfessionskultur und demjenigen der Politischen Kultur nach Rohe besteht darin, dass beide die diskursive Matrix, die das Denken disponiert, untersuchen. Nur handelt es sich das eine Mal um politisches, das andere Mal um religiöses Denken.

3. Zu den Quellen: »Diskurs« und »Theologie« Die kulturgeschichtliche Perspektive überwindet die Einseitigkeit strukturdeterministischer Ansätze, um die Relation des handelnden Subjekts mit überindividuellen Strukturen zu untersuchen. Struktur und Handlung sind relational aufeinander bezogen. Strukturen determinieren Handlungsmöglichkeiten und werden von ihnen determiniert. Es geht um die Erforschung der Konstruktion von Wirklichkeit durch Produktion von Sinn.226 Die Grundannahme der Kulturgeschichte besteht darin, dass die Wirklichkeit hinter den Aussagen über sie nicht zu erforschen ist. Jegliche erkennbare Wirklichkeit ist sozial konstruiert. Die Ordnung des Sozialen muss in permanenten Bemühungen kommunikativ hergestellt werden. Sie ist nicht schon vorhanden. Die Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann betonen deshalb den Doppelcharakter der Gesellschaft als »objektive Faktizität und subjektiv gemeinter Sinn«.227 Dabei handelt es sich bei der Hervorbringung von Wahrnehmungsschemata nach Bourdieu um eine zentrale Machtform, die symbolische Macht, verstanden als »Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen«.228 Dies erfolgt nach Regeln. Die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Sagbaren, zwischen dem Gedachten und dem Denkbaren, zwischen dem Gemachten und dem Machbaren produziert Wissen.229 Die Aufgabe, Wirklichkeit durch Verknappung von Aussagemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, übernehmen Diskurse, die aus Zeichen bestehen. Diese Diskurse sind restriktiv und produktiv gleichermaßen, strukturiert und strukturierend. Es entsteht ein Feld von Aussagen.230 Diskurse sind für Landwehr »regelmäßige, strukturierte und sich in einem systematischen Zusammenhang bewegende Praktiken und Redeweisen, die einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreicht haben und benennbaren Formationsregeln unterliegen«.231 Diskurse werden zu »objektivierten, sozusagen geronnenen kommunikativen Mustern«.232 Dabei verdichten sich Diskurse in Begriffen. Der 226 Parr: Diskurs; ferner Landwehr: Diskurs 77 f.; ders.: Volk 211 f. 227 Berger / Luckmann: Konstruktion 20. 228 Bourdieu: Raum 153. 229 Landwehr: Diskursanalyse 17–22; ders.: Volk 212. 230 Ders.: Diskursanalyse 91–97. 231 Ders.: Diskurs 105. Vgl. auch: Ders.: Diskursanalyse 92 f.; ders.: Volk 212. 232 Mergel: Kulturwissenschaft 416 f.; Parr: Diskurs 234. Dabei stellen Institutionen selbst symbolische Ordnungen dar. Vgl. Rehberg: Institutionen.

50 Einleitung Historiker Lucian Hölscher versteht Begriffe als »semiotische Zusammenfassung ganzer Diskurse zu einem bestimmten Gegenstands- und Handlungsbereich«.233 Die Diskursanalyse ist deshalb die Methode der Kulturgeschichte schlechthin. Es geht deshalb in dieser Studie nicht darum, katholisches Denken des 19.  Jahrhunderts in der Manier der traditionellen Theologiegeschichte ideengeschichtlich zu analysieren und katholische Autoren genealogisch aneinanderzureihen, in die Geschichte theologischen Denkens einzuordnen und auf ihre intellektuelle Qualität hin zu bewerten. Es sollen vielmehr die Regeln, mit denen strukturierte Aussagen über das Soziale gegeben werden und wodurch dieses Soziale erst wahrnehmbar wird, analysiert werden. Es soll untersucht werden, wo die einzelnen katholischen Diskurse angesichts zunächst nicht von ihnen zu verantwortender erweiterter menschlicher Handlungsmöglichkeiten Grenzen des Machbaren setzten, diese Grenzen verschoben sowie wann und wo restringierende und akzelerierende Impulse gesetzt wurden. Gegenstand ist die diskursive Restriktion und Produktion von menschlichem Handlungsspielraum durch Verleihung von religiösem Sinn an soziale, ökonomische und politische Prozesse. Dabei ist es nicht mehr möglich, einen erweiterten menschlichen Handlungsspielraum als Kennzeichen einer einheitlichen Moderne aufzufassen. Während sich der Handlungsraum für die Unternehmer im 19. Jahrhundert erweiterte, verengte er sich für die Arbeiter. Andererseits wurde mit akzelerierender industrieller Entwicklung um die Jahrhundertmitte die restringierende Wirkung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten auf die Unternehmen immer sichtbarer.234 Diese sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen erscheinen zu komplex zu sein, um sie in einen einheitlichen Begriff von generalisierter Moderne zu integrieren. Deshalb wird in dieser Studie ganz darauf verzichtet und die einzelnen Elemente sozialer, ökonomischer und politischer Entwicklung werden bei ihrem konkreten Namen genannt. Deshalb lässt sich auch der mit der Moderne untrennbar verbundene Begriff des Katholizismus in dieser Studie nicht gebrauchen. Die Konstruktion von Entitäten wie Katholizismus, katholischem Milieu oder katholischen Kirche ist nicht Gegenstand dieser Studie. Es geht vielmehr um die Analyse der diskursiven Verfasstheit des Katholischen in seiner reflexiven Form, also der Theologie. Es geht darum, wie katholisch-theologische Diskurse den sozialen Veränderungen Sinn gaben und diese dadurch mitgestalteten, welche Grenzen des Wahrnehmbaren sie setzten und welche Funktion die 233 Hölscher: Begriffsgeschichte 723.  – Koselleck: Begriffsgeschichte 120: »Ein Begriff bündelt die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einem Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist und wirklich erfahrbar wird.« 234 Bonß: Risiko 286 f.; Link: Versuch 342.  – Straßheim: Differenzmaschine 184: »Mit Hilfe kalkulatorischer Maschinen hoffte man darauf, jeden sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Ablauf aus seinem Kontext lösen zu können, um ihn dann durch Übersetzung in Algorithmen beherrschbar zu machen.«

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einzelnen Elemente für die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit übernahmen. Da die Wahrnehmung eines erweiterten Handlungsraums notwendigerweise mit der Wahrnehmung von Unsicherheit verbunden ist, handelt sich um die Analyse der Wechselbeziehung von Gesellschafts- und Unsicherheitskonzepten. Dadurch soll ein Beitrag zum Verständnis katholischer Konfessionskultur im 19. Jahrhundert geleistet werden. Dabei ergibt sich das (lange) 19. Jahrhundert als Untersuchungszeitraum daraus, dass die Erweiterung des menschlichen Handlungsraums zwar bereits vorher eingesetzt hatte, aber dann nicht zuletzt aus katholischer Sicht geradezu zum Kennzeichen des 19. Jahrhunderts wurde, wie aus dem eingangs angeführten Zitat von Albert Maria Weiß bereits andeutungsweise deutlich wurde. Diskurse äußern sich im Katholischen an prominenter Stelle als Theologie, d. h. in dem seit dem hohen Mittelalter geltenden Verständnis als Zusammenhang aus wissenschaftlichen, d. h. methodisch reflektierten Aussagen über Religion. Theologie ist im christlichen Kontext religiöse Theorie und von Frömmigkeit als religiöser Praxis unterschieden.235 Wenn die religiöse Produktion und Restriktion menschlichen Handlungsraums durch Theologie untersucht werden soll, dann geht es in erster Linie um den moraltheologischen Diskurs, denn die Frage nach dem Machbaren ergibt sich in der Untersuchung sittlich erlaubten und verbotenen Handelns. Der moraltheologische Diskurs enthielt eine anthropologische und eine sozialethische Komponente, die sich mit den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft beschäftigte und sich am Ende des 19. Jahrhunderts in der so genannten katholischen Soziallehre dogmatisch verfestigte,236 was an sich schon ein Zeichen für einen veränderten sozialen Handlungsraum ist. Während sich die anthropologische Komponente mit den individuellen Bedingungen und Folgen menschlichen Handelns beschäftigt, fragt die Sozialethik nach den sozialen und ökonomischen Strukturen, in denen ein auf das Heil des Menschen ausgerichtetes Handeln erfolgreich möglich ist.237 Diese theologischen Diskurse manifestierten sich in Publikationen klerikaler Autoren. Daneben gab es im 19.  Jahrhundert  – mit abnehmender Tendenz  – religiöse Interpretationen des Sozialen durch laikale Autoren, deren Beiträge in fachlicher Hinsicht wesentlich waren, jedoch nicht als theologisch bezeichnet werden können, weshalb sie als sozialphilosophisch benannt werden sollen.238 Wie die Forschungsgeschichte zur katholischen Sozialethik des 19. Jahrhunderts zeigt, handelt es sich dabei um 235 Wiedenhofer: Theologie. Zur Akademisierung der Theologie seit dem hohen Mittelalter vgl. Unterburger: Akademisierung. 236 Zur Ausdifferenzierung der katholischen Soziallehre vgl. Anzenbacher: Sozialethik 125–144. 237 Zur Sozialethik als Strukturenethik vgl. Korff: Sozialethik 767–771. 238 Zum laikalen Element in der frühen kirchlichen Erneuerung nach dem von der Säkularisation verursachten Einbruch der Klerikalität vgl. Burkard: Aktivitäten; ferner Hausberger: Bewegung; Maier: Standort 62.

52 Einleitung einen Gegenstand, von dessen religiösen Grundlagen leicht abstrahiert werden kann, was nicht zuletzt am naturrechtlichen Charakter der neuscholastischen Sozialethik liegt. Um nicht in den Fehler einer funktionalistischen Interpretation der sozialethischen Diskurse zu verfallen, bilden diese zwar den Kern der Studie, werden aber mit den moraltheologischen und den eschatologischen Diskursen – also letztlich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Diesseits und Jenseits – in Relation gesetzt. Denn dabei handelt es sich um genuin religiöse Diskurse, ohne die die Sozialethik nur rudimentär verstanden werden kann. Dabei wird eine makrogeschichtliche Perspektive eingenommen, die eine hilfreiche und notwendige Ergänzung zu den Milieustudien, die das Theologische schon aufgrund ihrer mikrogeschichtlichen Perspektive weitgehend ausblenden, darstellen kann. Gegenstand der Studie sind diejenigen theologischen Strömungen, welche von einer Mehrheit der Autoren vertreten und der lehramtlichen Autorität propagiert wurden. Sie beschränkt sich deshalb auf solche Veröffentlichungen, die nicht indiziert wurden. Dabei konzentriert sich die Analyse auf deutschsprachige Diskurse, fremdsprachige werden nur einbezogen, insoweit sie Einfluss auf den deutschsprachigen Raum besaßen, was vor allem für französischsprachige Autoren zu Beginn und für italienische Autoren für das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts gilt. Dabei ergibt sich die Beschränkung auf deutschsprachige Autoren schon daraus, dass die Analyse der sozialethischen Diskurse den Kern dieser Studie darstellt, diese aber von entscheidendem Einfluss auf die Dogmatisierung der katholischen Soziallehre waren.239 Die Sozialethik des deutschsprachigen Raums war besonders elaboriert. Dies liegt am Zusammentreffen verschiedener Faktoren, und zwar einer vergleichsweise fortgeschrittenen wirtschaftlichen Entwicklung, politischen Partizipationsmöglichkeiten, die auch durch den Kulturkampf nicht grundsätzlich eingeschränkt wurden, einer konfessionellen Spaltung, welche apologetische Energien freisetzte, der Irrelevanz der Frage nach der Staatsform und einer Theologie, die sich durch die staatliche Forderung nach universitärer Anbindung auf hohem Niveau befand. Im Gegensatz zu Italien und Frankreich, den beiden anderen Zentren der katholischen Erneuerung im 19. Jahrhundert, bestand im deutschsprachigen Raum keine prinzipielle katholische Gegnerschaft gegen die Staatsform. Im wirtschaftlich entwickelten Frankreich dominierte die Frage der Staatsform seit der Französischen Revolution alle übrigen Probleme. Der französische Katholizismus musste sich erst aus der Umklammerung durch die Monarchisten lösen. Der sozialethische Diskurs in Frankreich war deshalb lediglich in der Lage, wichtige Impulse zu geben, aber ließ sich nicht dogmatisch verdichten. Es fehlte auch ein dichtes Netz an theo-

239 Zur Entstehung der Sozialenzyklika »Rerum novarum« vgl. Köhler: Ausbildung 207– 216; Mayeur: Frage 474–483.

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logischen Lehrstühlen.240 In Italien war die wirtschaftliche Entwicklung nicht weit genug fortgeschritten, um zu einem elaborierten sozialethischen Diskurs zu gelangen. Es fehlten auch die universitären Ressourcen. Schließlich waren die politischen Partizipationsmöglichkeiten der Katholiken im italienischen Nationalstaat, der das Ende des Kirchenstaates brachte, durch das »Non expedit« Papst Leos XIII. stark beschränkt.241 So entwickelte sich in den drei Zentren der katholischen Erneuerung in Europa nur im deutschen Sprachraum eine elaborierte Sozialethik.242 In diesem Rahmen werden alle katholischen Autoren, die im 19. Jahrhundert einen wesentlichen Beitrag zu einem sozialethischen Diskurs geleistet haben, ausgewertet. Um diesen Bereich abzudecken, wurden auch katholische Zeitschriften in die Analyse einbezogen: die ultramontan-klerikale Zeitschrift »Der Katholik« (erschienen 1821 bis 1918),243 die ultramontanen, aber eher laikalen »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland« (erschienen 1838 bis 1923),244 die jesuitischen »Stimmen aus Maria Laach« (erschienen ab 1865)245 und die pastoraltheologische »Theologisch-praktische Monats-Schrift« (erschienen 1891 bis 1920).246 Berücksichtigung fanden auch zentrale theologische Lexika: Johann Peter Silberts »Conversations-Lexicon des geistlichen Lebens« (1839), das »Homiletische Real-Lexicon« von Franz Edmund Krönes (1856 bis 1863), das »Kirchen-Lexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften« von Heinrich Joseph Wetzer und Benedikt Welte (1847 bis 1854), in zweiter Auflage erschienen als »Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon« (1882 bis 1903), und die erste Auflage des sozialphilosophischen »Staatslexikons der Görres-Gesellschaft« (1889 bis 1896). Um die Konkretion der Diskurse in der administrativen Praxis der katholischen Kirche darzustellen, wurde vor allem auf das Bistum Regensburg unter Bischof Ignatius von Senestrey zurückgegriffen. Denn es wurde von ihm zum ultramontanen Musterbistum umgestaltet.247 Um die Relationen zwischen den moraltheologischen, sozialethischen und eschatologischen Diskursen heuristisch zu fassen, wird der insbesondere von Foucault geprägte Begriff des Dispositivs verwendet. Damit bezeichnet dieser nicht nur ein Netz zwischen verschiedenen Diskursen, sondern zwischen dis 240 Vgl. Gurian: Ideen 60–101; Gadille: Scheitern 100–112; Encrevé / Gadille: Frankreich 106–132. Die Konzentration auf Fragen der Staatsform kennzeichnet auch die französische Geschichtswissenschaft. Vgl. Aschmann: Säkulum 8. 241 Vgl. Bendiscioli: Katholiken 86–100; Durand: Kirche 595–620. 242 Zu den verschiedenen katholischen Konfessionskulturen in Europa vgl. zusammenfassend Birke: Nation; Stambolis: Nationalisierung. 243 Vgl. Schwalbach: Mainzer. 244 Vgl. dazu Weber: Blätter. 245 Vgl. Männer: Stimmen. 246 Vgl. Nickel: Monatsschrift. 247 Vgl. Schrüfer: Pastoral-Erlaß 209–234.

54 Einleitung kursiven und nichtdiskursiven Elementen (Praktiken, Institutionen). Dabei sind die diskursiven Elemente des Dispositivs inter- und transdiskursiv. Die »strategische« Funktion des Dispositivs besteht darin, in einer kontingenten Situation auf einen »Notstand« zu reagieren und Handlungen zu disponieren, nicht aber zu determinieren.248 Ein foucaultsches Dispositiv ist nach Jürgen Link eine »relativ stabile Kopplung aus einem spezifischen interdiskursiven Integral (›horizontal‹) sowie einem spezifischen Machtverhältnis (›vertikal‹)«.249 Dabei liegt der Vorteil des Dispositivs darin, dass bestimmte intellektuelle Strukturen nicht allzu rasch als Instrumente der Herrschaft der Amtskirche gegenüber den Gläubigen wahrgenommen werden.250 Im Dispositiv gibt es keine anordnende Zentralmacht. Beim Dispositiv geht es nicht um die Frage, wer wen disponiert, sondern wie disponiert wird. Denn Ausübung von Herrschaft wirkt sich nicht nur auf die Beherrschten aus, sondern auch auf die Herrschenden. Kirchliches Handeln lässt sich ohne Zynismus nie auf reines Herrschaftshandeln reduzieren. Beabsichtigt ist deshalb nicht die Analyse von linear von oben nach unten gerichteter Herrschaft, sondern eine der Struktur der Foucault’schen Macht, die sich in Techniken ausdrückt.251 Dies macht deutlich, dass es das »Dispositiv« von Foucault dem »Kulturmuster« von Geertz und der »politischen Deutungskultur« von Rohe entspricht. Zusammenfassend kann das Ziel dieser Studie festgestellt werden. Zur Untersuchung der kontingenzverarbeitenden Strukturen katholischen Denkens und Handelns im 19.  Jahrhundert, ist es nötig, den eschatologischen, also genuin kontingenzverarbeitenden und zeitstrukturierenden Diskurs gemeinsam mit den sozial relevanten moraltheologischen bzw. sozialethischen Diskursen und den Praktiken des sozialen Zusammenschlusses sowie den Techniken der Macht zu betrachten und auf dieser Grundlage Kontingenzdispositive zu unterscheiden, um die religiös-katholische Bewältigung des erweiterten menschlichen Handlungsraums erkennen zu können. Methoden und Grenzen katholischer Aneignung von immanentem Handlungsspielraum können so präzise bestimmt werden. Dies ist nur möglich, wenn die Theologie als Teil von Religion nicht als Funktion von Herrschaft interpretiert wird, sondern ihr religiöser Charakter ernst genommen wird. Deshalb handelt es sich um eine religionswissenschaftliche Analyse von Theologie.

248 Da sich das Dispositiv im Werk Foucaults weiterentwickelte und veränderte, sei auf die Synthese von Jürgen Link im Foucault-Handbuch (Link: Dispositiv) verwiesen. Die Zitate stammen von Foucault. 249 Link: Dispositiv 239 f. 250 Die klassische Herrschaftsdefinition von Max Weber (Weber: Grundbegriffe 89) lautet: »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmen Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.« 251 Vgl. dazu Bublitz: Macht.

II. Strukturen der Kontingenz 1. Sicherheit und Unsicherheit: Zur Begriffsbestimmung Sicherheitsforschung hat Konjunktur.1 Bei der geschichtswissenschaftlichen Untersuchung des Sicherheitsdiskurses geht es nicht nur um außenpolitische »State Security«, sondern auch um »Human Security«, d. h. die Absicherung gegen Armut, Gewalt und Naturkatastrophen. Darauf weisen Christoph Kampmann und Ulrich Niggemann in ihrem Vorwort zu dem 2013 erschienenen und 50 Beiträge umfassenden Sammelband »Sicherheit in der Frühen Neuzeit« hin.2 Dabei ist die Konjunktur der Sicherheitsforschung auf die explosionsartige Ausdehnung des Human-Security-Begriffs, der die Aufhebung der Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit bedeutet, zurückzuführen.3 Dies zeigt, dass die Erforschung der Sicherheit von den Wandlungen des Sicherheitsbegriffs in der Gegenwart des Forschers abhängig ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass Sicherheit ein gesellschaftliches Konstrukt und deshalb mit Werten und Sinn behaftet ist. Deshalb stellt sich der kulturgeschichtlichen Sicherheitsforschung die Frage nach den Faktoren, die aus einem historischen Phänomen ein Sicherheitsproblem machen und wie in einem Sicherheitsdiskurs politische und gesellschaftliche Zielvorstellungen thematisiert werden.4 Der Begriff der Sicherheit ist deshalb geeignet für eine neuere Politikgeschichte, welche im Gegensatz zu der auf das Regierungshandeln fixierten älteren Politikgeschichte die Distanz zwischen Gesellschaft und Politik überwinden will. Der Historiker Eckart Conze versteht deshalb Sicherheit als »umfassenden sozialkulturellen Orientierungshorizont«, der sich nicht auf Regierungshandeln und gesellschaftliche Politikerwartung reduzieren lasse.5 Für den Soziologen Franz Xaver Kaufmann, den Verfasser der Pionierstudie zur historischen Genese der Sicherheitsidee aus dem Jahr 1970, handelt es sich bei Sicherheit um eine gesellschaftliche Leitidee, worunter er »für ein Handlungssystem relevante Vorstellungen von 1 Dabei wurde die Erforschung der Sicherheit bereits 1956 von dem Annales-Historiker Lucien Febvre in die geschichtswissenschaftliche Diskussion eingebracht. Vgl. Febvre: histoire. 2 Kampmann / Niggemann: Sicherheit 22; vgl. dazu Daase: Security. 3 Vgl. dazu Zwierlein: Sicherheitsgeschichte. 4 Vgl. dazu Conze: Sicherheit (2005) 362–365; Douglas / Wildavsky: Risiko; Kaufmann: Sicherheit (1973) 14; Niggemann: Places 579. 5 Conze: Sicherheit (2005) 359 f.

56  Strukturen der Kontingenz Sein-Sollendem« versteht. Es handelt sich dabei um einen Zusammenhang von kulturellen Werten, auf die verschiedene Bedürfnisse bezogen werden können, die symbolisierbar, in Handlungen entwickelbar und teilindeterminiert sind. Deshalb besitzen sie handlungsorientierende Wirkung.6 Dabei unterscheidet Kaufmann drei Konkretionen von Sicherheit. Die Systemsicherheit definiert er als »Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit eines komplexen, den Beteiligten im einzelnen nicht mehr durchschaubaren Systems, für dessen Bereich die Ungewissheit der Zukunft ausgeschlossen werden kann«. Es handelt sich dabei um die berechenbare Verfügbarkeit von Mitteln, d. h. eine erst herzustellende Sicherheit.7 Dagegen sieht er in dem Streben nach Geborgenheit die Suche nach verlorener Sicherheit. Kaufmann definiert Geborgenheit als »Zustand umfassender statischer Ordnung«. Es handle sich dabei um einen »Zustand der Unmündigkeit, in dem einem die Verantwortung für das eigene Handeln abgenommen ist«.8 Schließlich meint Gewissheit das Streben nach sicherem Wissen, ist also ein kognitives Phänomen.9 Der Politologe Adalbert Evers und die Soziologin Helga Nowotny sehen in der Vermittlung von Gewissheit neben der Abwehr von Gefahr die zentrale Dimension bei der Produktion von Sicherheit.10 Ein Begriff von politischer Sicherheit entwickelte sich erst in der Frühen Neuzeit, wobei der ältere Begriff des Friedens verdrängt wurde. Ausschlaggebend waren dafür die konfessionspolitischen Kämpfe nach der Reformation. Dadurch stieg der immanente Sicherheitsbedarf. Versuche zur Herstellung von immanenter Sicherheit waren die Antwort darauf, dass religiöser Pluralismus nach der Reformation zwar nicht anerkannt wurde, aber religiöse Konformität nicht mehr herzustellen war. Dabei ging es bei den Bemühungen zur Befriedung der religiösen Auseinandersetzungen nicht um universal gültige Regelungen, sondern um räumlich und zeitlich begrenzte Sicherheitszonen gewaltfreier Koexistenz. Durch diesen Bezug auf den Raum konnte Sicherheit zum politischen Leitbegriff des werdenden Territorialstaats werden, da sich der ältere Begriff des Friedens auf Personen bezog. Deshalb stand der Begriff der Sicherheit in Relation zum Territorialstaat, in dem er sich von seiner beschränkten religiösen Bedeutung aus generalisierte.11 Daraus folgte die Tendenz, politische Probleme als 6 Kaufmann: Sicherheit (1973) 34–38. 7 Ders.: Leitbild 93. 8 Ders.: Sicherheit (1973) 341–344; Evers / Nowotny: Umgang 27–29. 9 Kaufmann: Sicherheit (1973) 70–75. 10 Vgl. dazu Evers / Nowotny: Umgang 45 f. 11 Zur Geschichte des Sicherheitsbegriffs vgl. Conze: Sicherheit (1984); Kampmann / Niggemann: Sicherheit 14–18; Kampmann / Mathieu: Sicherheit 1143 f.; Zwierlein: Sicherheitsgeschichte; vgl. auch Burkhardt: Konfessionsbildung 181–190; Collet: Kultur 367–380; Kleinschmidt: Legitimität 9–92; Niggemann: Places 569–584. Zur theologischen Wurzel staatlicher Sicherheitspolitik vgl. auch Depkat: Sicherheit.

Sicherheit und Unsicherheit: Zur Begriffsbestimmung  57

Sicherheitsprobleme wahrzunehmen, was wiederum zur Ausdehnung der Staatstätigkeit führte.12 Der Sicherheitsbegriff wirkt per se expansiv. In dem Maße, in dem Politik Sicherheitsfiktionen produziert, die Unsicherheit als pathologisch erscheinen lassen, wird Unsicherheit gesteigert. Denn sie machen Kontingenz bewusst und erwecken weitergehende Sicherheitswünsche.13 Sicherheit ist dann nicht mehr konkretes Instrument zur Herstellung der Ordnung, sondern wird zum Selbstzweck.14 Sicherheit wurde seit dem 17. Jahrhundert über den Bereich von staatlicher Herrschaft hinaus immer mehr zum »Leitbild beherrschbarer Komplexität« (Franz Xaver Kaufmann), weshalb der Sicherheitsbegriff als Ausdruck zunehmender Diesseitsorientierung wahrgenommen wird. Es entwickelte sich die Vorstellung von generalisierter, abstrakter Systemsicherheit.15 Dies führte dazu, dass die Problematisierung von Sicherheit zu den Kennzeichen der Moderne zählt.16 Der Historiker Karl Heinz Metz weist darauf hin, dass die Abhängigkeit von der Natur in einer agrarischen Gesellschaft als derart unberechenbar erfahren worden sei, dass die Forderung nach Sicherheit nicht sinnvoll habe erhoben werden können. Die Forderung nach Sicherheit gebe es nur dort, wo Zukunft technisch verfügbar geworden ist.17 In dem Maße, in dem Zukunft durch das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont aufgrund von sozialen, ökonomischen und politischen Wandlungen unsicher wurde – um mit den Worten des Zeit-Historikers Reinhart Koselleck zu sprechen –, wurde sie auch gestaltbar. Indem sich der Mensch als handelndes Subjekt konstituierte, konnte sich Sicherheit zur gesellschaftlichen Leitidee entwickeln, so das dominierende Narrativ der Sicherheitsforschung. Sicherheitsbedürfnis und Unsicherheitserfahrung wachsen darin in dem Maße, in dem sich der immanente Handlungsspielraum des Menschen erweitert. Die Thematisierung der Sicherheit wird aufgrund dieser Handlungsorientierung an die Wahrnehmung der Zukunft als Gefährdung gebunden. Die unsichere Zukunft sollte durch Planung gesichert werden.18 Das Streben nach Sicherheit bezieht sich deshalb nach Franz Xaver Kaufmann einerseits auf die Zukunft, andererseits auf die »Vernichtung der Zeitlichkeit der Zukunft«, da das Sicherheitsstreben auf Dauer 12 Zur expansiven Tendenz des Sicherheitsdispositivs vgl. Foucault: Geschichte 73. Vgl. dazu auch Hannig: Suche 39 f. 13 Degele / Dries: Modernisierungstheorie 13. 14 Dies geschah im 19. Jahrhundert durch das Privatrecht. Sicherheit wurde zur Garantie privater Rechte. Vgl. Kaufmann: Sicherheit (1973) 57 f. 15 Ders.: Leitbild 89–93. 16 Für dens.: Sicherheit (1973) 175 stellt die Sicherheit ein zentrales Thema im Übergang von den traditionalen zu den modernen Stabilitätsbedingungen dar. 17 Metz: Sicherheit 43. 18 Vgl. Evers / Nowotny: Umgang 72; Foucault: Geschichte 39 f.; Kaufmann: Leitbild 92; ders.: Sicherheit (1973) 165–176; vgl. dazu auch Zwierlein: Sicherheit 381–399.

58  Strukturen der Kontingenz haftigkeit gestellt ist.19 Die Erforschung von Sicherheitskonzepten ist deshalb mit der Erforschung von Zeitkonzepten verbunden.20 Niggemann bezeichnet das »Verhältnis von Eschatologie und Endzeiterwartung auf der einen sowie Streben nach innerweltlicher Sicherheit und Zukunftsplanung auf der anderen Seite« als lohnendes – frühneuzeitliches – Forschungsfeld.21 Im Zentrum der geschichtswissenschaftlichen Sicherheitsforschung steht die Sicherheitserwartung, während die Unsicherheitserfahrung kaum eine Rolle spielt.22 Dabei ist es von großer Bedeutung, ob die Unsicherheit als Gefahr oder Risiko wahrgenommen wurde. Gefahren sind unkalkulierbare Unsicherheiten, Risiken sind kalkulierbar. Deshalb stellen Gefahren immer eine Bedrohung dar, während Risiken sowohl positiv als auch negativ bewertet werden können. Bei der Konstruktion von Risiken geht es nicht um die Transformation von Unsicherheit in Sicherheit, sondern darum, mit Unsicherheit nicht reaktiv, sondern proaktiv umzugehen.23 Dabei stellt auch die Wahrnehmung von Unsicherheit als Gefahr oder Risiko eine gesellschaftliche Konstruktion dar. Bei der Risikoforschung handelt es sich nach Luhmann um die Frage, »ob die soziale Wirklichkeit gesellschaftlich mit dem Schematismus von Risiko und Sicherheit beobachtet wird«.24 Jede Form des sozialen Lebens habe ihre eigene »typische Risikostruktur«, so die Ethnologen Mary Douglas und Aaron Wildavsky.25 Der Soziologe Wolfgang Bonß weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Unsicherheit als Risiko erst möglich wird, wenn die Unsicherheit nicht mehr als »kosmologische Bedrohung und Gefahr«, sondern als beherrschbar wahrgenommen wird.26 Riskantes Handeln setzt ein gewisses Wissen über die Folgen des Handelns voraus. Unter Risiko ist nach Aussage des Soziologen Armin Nassehi im Unterschied zur Gefahr »der in einer Handlungsgegenwart antizipierbare mögliche Schaden zu verstehen, der sich als Folge der gegenwärtigen Handlung ergeben könnte«. Deshalb können Gefahren erst dann in Risiken verwandelt werden, wenn sich durch das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont ein Möglichkeitsüberschuss in einer offenen Zukunft ergibt. Dies ergibt Möglichkeit und Notwendigkeit einer Antizipation der Zukunft, eröffnet einen Entscheidungsspielraum und ermöglicht Be- und Zurechenbarkeit 19 Kaufmann: Sicherheit (1973) 156–176. 20 Ders.: Leitbild 73–104. 21 Niggemann: Places 584. 22 Vgl. dazu Zwierlein: Sicherheit 392. 23 Luhmann: Aufklärung 126–162; ders.: Moral. Zum Risikobegriff Luhmanns vgl. Kneer  / ​ Nassehi: Theorie 167–178. 24 Luhmann: Aufklärung 128 und 142; vgl. dazu Beck: Risikogesellschaft 37–39; Bonß: Unsicherheit 261; Douglas / Wildavsky: Risiko 113–137; Lau: Risikodiskurse 419 f.; Nassehi: Risikogesellschaft 255–257. 25 Douglas / Wildavsky: Risiko 121. 26 Bonß: Konstruktion 26.

Sicherheit und Unsicherheit: Zur Begriffsbestimmung  59

einer Handlungsfolge.27 Risiken setzen einen »normativen Horizont verlorener Sicherheit« voraus, so der Risikoforscher Ulrich Beck.28 Denn, so Luhmann, »die Zurechnungstendenz driftet in Richtung Risiko, wenn mehr und mehr Entscheidungsmöglichkeiten erkennbar werden, die einen etwaigen Schadenseintritt beeinflussen bzw. ihn vermeiden helfen können«.29 Deshalb ist Fatalismus die adäquate Antwort auf eine Gefahr, Kalkulation die adäquate Antwort auf das Risiko.30 Die Wahrnehmung von Unsicherheit als Risiko wird also als Phänomen der Moderne beschrieben, näherhin als Entzauberung und deshalb als Säkularisierungsphänomen betrachtet.31 Risiken werden, so der Soziologe Christoph Lau, »zu Einfallstoren jenes Prozesses formaler Rationalisierung, der Begründungsmuster nach Maßgabe wissenschaftlicher Rationalitätskriterien systematisierter, logisch konsistenter, differenzierter und intersubjektiv überprüfbar werden läßt«.32 Deshalb bezeichnet Bonß das Risiko als »spezifisches, für die Moderne typisches Muster der Wahrnehmung und Verarbeitung von Ungewißheit, das sich von vorangegangenen Formen des Umgangs mit Unsicherheit und den dazugehörigen Sicherheitskonstruktionen signifikant unterscheidet«.33 Dem Fou­cault-Schüler François Ewald gilt die Dialektik von Verantwortung und Nichtverantwortung als entscheidendes Charakteristikum für den modernen Umgang mit Unsicherheit.34 Er versteht die Erhebung der Verantwortlichkeit zum zentralen Regulationsprinzip als emanzipatorischen Akt, der bürgerliche Handlungsautonomie begründet.35 Dabei äußert der Frühneuzeithistoriker Cornel Zwierlein angesichts eines Mangels an empirischen Untersuchungen Zweifel, ob sich die Dichotomie von Gefahr und Risiko zur Abgrenzung der Epochen zwischen Vormoderne und Moderne eignet.36 Für Nassehi besteht der Unterschied zwischen vormoderner und moderner Risikowahrnehmung darin, dass Risiken in der Vormoderne individuell erlebt und nicht kollektiv konstruiert wurden. Durch die Industrialisierung wurden Angehörige von auf Mutualität, Versorgung und Solidarität basierenden Gruppen »auf sich selbst zurückgeworfen« und den »Zwängen eines abstrakten, universalistischen und voll durchrationalisierten Arbeitsmarktes« ausgesetzt. Deshalb wurden individuelle Lebenslagen riskant. Da immer mehr Menschen 27 Nassehi: Risikogesellschaft 252–258. 28 Beck: Risikogesellschaft 37. 29 Luhmann: Aufklärung 141. 30 Ebd. 149. Vgl. ferner Lau: Risikodiskurse 433. 31 Vgl. dazu Beck: Risikogesellschaft 134 f.; Bonß: Konstruktion 27; Cevolini: Einrichtung 80 f.; Rüb: Risiko 311 f. 32 Lau: Risikodiskurse 432. Vgl. dazu Luhmann: Aufklärung 129. 33 Bonß: Risiko 18. So auch Rosenhaft: Chance 17. 34 Ewald: Vorsorgestaat 10 f. 35 Ebd. 78–85. 36 Zwierlein: Sicherheit 393.

60  Strukturen der Kontingenz dieser Entwicklung unterworfen wurden, entwickelte sich die wachsende Unsicherheit gleichzeitig zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Es entstand das Konzept der kollektiven Daseinsvorsorge in Form der Sozialversicherung als wohlfahrtsstaatliches Mittel zur Umlegung individueller Risiken auf die Allgemeinheit.37 Dabei ist es der obligatorische Charakter der Sozialversicherungen, der die Berechenbarkeit von Unsicherheit und ihre Wahrnehmung als Risiko ermöglicht.38 Luhmann weist darauf hin, dass die Regelungslast in diesem Prozess »von subjektiven Rechten auf öffentlich-rechtliche Regulierungen und administrative Kontrollen« übergeht.39 Auch für Lau ist das Risiko erst dann ein Kennzeichen der Moderne, wenn es gesamtgesellschaftlichen Charakter annimmt. Traditionelle Risiken wurden nach Lau freiwillig eingegangen, gehörten zum Ethos bestimmter Berufs- und Standesgruppen und folgten gruppenspezifischen Verhaltensregeln. Deshalb wirkten sie gemeinschaftsstabilisierend und waren mit Sozialisationsprozessen verbunden. Schadereignisse, die nicht gruppenspezifisch wirkten, wurden als Gefahren wahrgenommen. Sie wirkten individualisierend, da sie den Einzelnen in ein unmittelbares Verhältnis zu Gott setzten.40 Dabei wirkt die Wahrnehmung von Unsicherheit als Risiko im Hinblick auf den menschlichen Handlungsspielraum erweiternd, gleichzeitig aber im Hinblick auf den Möglichkeitsüberschuss einschränkend, durch Berechnung normalisierend.41 Nach Luhmann wurde Komplexität von Zukunft in der stratifizierten Gesellschaft mittels Knappheit reduziert, in der funktional differenzierten Gesellschaft mittels Recht. Da die Möglichkeiten des Rechts allerdings begrenzt sind, trat die berechnende Normalisierung hinzu.42 Recht stellt also ein Mittel dar, um Gefahren in Risiken zu transformieren.43 Da es aber letztlich unzureichend ist, trat die Berechnung hinzu. Ein Mittel, um Gefahren durch Berechnung in Risiken zu verwandeln, stellen die Versicherungen dar.44 Dabei wirkt das Recht normierend, die Berechnung – und dadurch die Versicherung – normalisierend. Die Wahrnehmung von Unsicherheit im Dual von Gefahr und Risiko ist tatsächlich mit der Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung seit dem 17. Jahrhundert verbunden. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ermöglichte erst die Versicherung als Technologie des Risikos.45 Die Wahrscheinlichkeitsrech 37 Nassehi: Risikogesellschaft 259–261. Vgl. dazu auch Lau: Risikodiskurse 420–423. 38 Nassehi: Risikogesellschaft 262. 39 Luhmann: Aufklärung 138. 40 Lau: Risikodiskurse 420–422. 41 Bonß: Konstruktion 30 f.; Ewald: Vorsorgestaat 210 f.; Luhmann: Aufklärung 135. 42 Ebd. 135–138. 43 Diedrichsen: Risikobewältigung 150–155. 44 Vgl. dazu Ewald: Vorsorgestaat 210; Bonß: Risiko 178. 45 Luhmann: Aufklärung 149–152. Vgl. dazu Bonß: Konstruktion 28; Ewald: Vorsorge­ staat 173.

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nung erlaubte die Erschließung des Marktes für Privatversicherungen und die Etablierung des Sozialstaates durch Sozialversicherungen seit dem 19. Jahrhundert.46 Dabei macht die Wahrscheinlichkeitsrechnung die Unterscheidung von Versicherung und Wette möglich.47 Die Versicherung verlor ihren Charakter des Zufalls und machte die Versicherung für die katholische Moraltheologie handhabbar. Die spanische Spätscholastik, deren zentrale Frage der Stellenwert der menschlichen Willensfreiheit in einer von göttlicher Vorsehung geordneten Welt war, stand dem Versicherungsvertrag positiv gegenüber.48 Die Ansicht, dass die katholische Moraltheologie durch die Betonung der göttlichen Vorsehung, das Wucherverbot und das Verbot des Zinsnehmens Versicherungen ablehnte, kann nicht mehr aufrecht erhalten werden. Das Wucherverbot wurde durch den Gesellschaftsvertrag und den Rentenkauf umgangen. Statt des Darlehenszinses wurde ein Entgelt vereinbart, das sich nach der Größe der Verlustmöglichkeit richtete.49 Die Versicherung und die Wahrnehmung von Unsicherheit als Risiko sind also keineswegs Kennzeichen einer säkularisierten Welt. Vielmehr ist die religiöse Bedeutung des Duals von Gefahr und Risiko zu untersuchen.50 Tatsächlich ist es ein integraler Bestandteil katholischer Weltbetrachtung. Es wurde wegen der spezifisch katholischen Unterscheidung von menschlicher Willensfreiheit und göttlicher Vorsehung zum (moral)theologisch zu bewältigenden Problem. Das Dual von Gefahr und Risiko überlagert sich im moraltheologischen Diskurs mit dem Dual von Gut und Böse, was sich am Beispiel einer im Folgenden darzustellenden vormärzlichen Teufelsaustreibung zeigen lässt.

2. Eine Teufelsaustreibung von 1828: Exorzismusdispositiv und Gnadendispositiv Ein anonymer Pfarrer berichtete in einem handgeschriebenen Büchlein mit dem Titel »Merkwürdige Geschichte einer Beseßenen, geschrieben im Jahre 1828. Krankheit und dämonische Plagen« die Leidensgeschichte einer 42jährigen Bäuerin.51 Eva Huber aus Kienberg in der Pfarrei Gaindorf, in der niederbayerischen Provinz südlich von Landshut, hatte »allerley sonderbare Krankheiten 46 Vgl. Cevolini: Einrichtung. 47 Daston: Domestication. 48 Bergfeld: Stellungnahme 465 f. 49 Schmitt-Lermann: Versicherungsgedanke 27–29. 50 Religionsgeschichtlich fruchtbar gemacht wurde das Dual von Gefahr und Risiko noch nicht. So untersucht auch Stephanie Garling nicht die innerreligiöse Bedeutung von Gefahr und Risiko, sondern die Transformation der Religion von einer tabuisierten Gefahr in ein beeinflussbares Risiko im politischen Diskurs um die Jahrtausendwende. Vgl. Garling: Danger. 51 Das Büchlein befindet sich in: BZAR , OA-Gen 2382.

62  Strukturen der Kontingenz und Leiden zu erdulden«, und zwar bereits seit ihrer Hochzeit vor 15 Jahren. Sie war oft sehr traurig, konnte nicht beten und wollte in keine Kirche gehen. Sie hatte Angstzustände, so dass sie das eine Mal nicht alleine sein wollte, das andere Mal sich in »abgelegene Winkel« verkroch. Außerdem empfand sie »größte Abneigung« gegen ihren Mann und wurde von einem »grimmigen Haß gegen ihre Kinder ergriffen, so daß sie dieselben mit den Füßen von sich stieß«. Auch selbst verletzte sie sich. Sie verweigerte oft tagelang die Nahrungsaufnahme. Wenn sie aß, schmeckten ihr die Speisen wie Kot und Kupfer. Manchmal war sie wie stumm. Bisweilen verließ sie das Haus bei Kälte ohne Kleidung. Sie verlor ihre Sprache. Ihren Mann und ihre Kinder erkannte sie manchmal nicht. Sie schlafwandelte. Oft fiel sie in Ohnmacht und lag dann stundenlang wie tot auf dem Boden. Wegen eines Juckreizes kratzte sie sich blutig und sie hatte heftige Zahnschmerzen. Aus ihrem Mund kam ein derart »gräulicher Gestank, daß es niemand in der Nähe auszuhalten vermochte«. Schüttelfrost wechselte mit Fieber. Sie litt auch an schmerzhaften Krämpfen, was ihr das Stehen unmöglich machte. Hinzu kamen Husten und Kopfschmerzen. Diese Symptome traten periodisch auf. Dazwischen gab es Tage, an denen sie völlig gesund war. Die Ärzte waren ratlos und wussten ihr nicht zu helfen. Deshalb wandten sich die Angehörigen Bäuerin an den Pfarrer, der »wegen ihrer sonderbaren Gemütskrankheit« an das bischöfliche Ordinariat nach Regensburg schrieb und um die Erlaubnis zur Durchführung eines Exorzismus bat, da es sich seiner Ansicht nach um »höllische Martern« handelte. Die Erlaubnis wurde ihm schließlich erteilt. Er meinte, »daß die Sache ganz schnell abgethan seyn wird« und führte den Exorzismus bei der Bäuerin zu Hause durch, aller­ dings ohne Erfolg. Deshalb nahm er die Bäuerin zwölf Wochen lang in sein Pfarrhaus auf. Schon als der Pfarrer sie persönlich abholte, »gab es allerlei Spuk und Lärm« und das Pferd wurde scheu. Im Pfarrhaus angekommen litt sie weiterhin an starken Krämpfen, war aggressiv gegen sich und andere. Sie umgab ein »äusserst böser Geruch«, aus Nase und Augen trat gelbliches Wasser und der Urin war übelriechend. Während in der Pfarrkirche die Messe gelesen wurde, fiel sie in Ohnmacht, wenn zur Wandlung geläutet wurde, brüllte sie laut auf. Täglich wurde der Exorzismus angewandt, zweimal täglich Zimmer, Bett und Kleidung geräuchert, ihr nur pflanzliche Nahrung verabreicht und kein Bier gegeben. Ihre Glieder wurden mit geweihtem Baumöl eingerieben und ihr Weihwasser zu trinken gegeben, wovor ihr allerdings ekelte. In der fünften Woche begann der Pfarrer damit, sie wegen ihrer mangelhaften religiösen Bildung im Katechismus zu unterweisen und ihr lauwarme Bäder mit Salz und Asche zu bereiten. Das gefiel den Dämonen nicht: »Die bösen Geister erhoben einen fürchterlichen Lärm darüber und hatten großen Zorn.« Daraufhin legte der Pfarrer Reliquien und Osterkerzenwachs unter das Kopfkissen der Bäuerin, »was den Geistern nach ihrer Aussage ebenfalls sehr peinlich war und ihre Macht schwächte«. Diese geweihten Gegenstände wirkten wie eine Zugsalbe, denn sie »mußten beim Tage an

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die freie Luft gebracht werden und so wieder von der eingesognen dämonischen Unreinigkeit gereinigt werden«. Die Exorzismen hatten bewirkt, dass die Dämonen mit dem Pfarrer redeten. Vor allem als »man anfing alle Speisen und Getränke zu segnen, jammerten die Geister entsetzlich, daß sie jetzt gar nichts mehr bekommen und vor Hunger sterben müssen«. Deshalb »hatten sie auch selber die Mittel angegeben, die ihren Ausgang beschleunigen«. Die Dämonen rieten dem Pfarrer, den Fußboden von Evas Zimmer sorgfältig auszuwaschen, dieses mit Weihrauch auszuräuchern, mit Weihwasser zu besprengen und einige Tage die Fenster offenstehen zu lassen. Die Badewanne sollte mit heißer Lauge ausgewaschen und einige Tage an die Luft gestellt werden. Die Bettüberzüge und die Leibwäsche sollten in einer scharfen Lauge gewaschen und dann dem Mondschein ausgesetzt werden, denn: »Der Mond soll die Kraft haben, die dämonische Unreinigkeit an sich zu ziehen.« Schließlich nannten sie dem Pfarrer »Speisen und Getränke, welche den Dämonen willkommen sind«: Fische, Milchspeisen, Obst und Gemüse, darunter vor allem Salat, Gurken, Rettich, Zwiebel und Knoblauch, unter den Fleischspeisen vor allem Enten- und Schweinefleisch, an Getränken Bier, Branntwein und Kaffee. Deshalb rieten sie zu strenger Diät: »Das Weib muß strenge faßten, sie soll nichts genießen als täglich einmal eine Wassersuppe von schwarzen Brod.« Der Pfarrer setzte die dämonischen Ratschläge unverzüglich um, allerdings nicht »um dieser Aussage willen, sondern wie mir selber der Gedanke kam, daß sie strenge fasten müsse«, wie er beflissen anfügte. Bei den Exorzismen befragte der Pfarrer die Dämonen auch über den Zeitpunkt »ihres Abgangs«. Darauf antworteten sie für gewöhnlich, »jetzt ist noch nicht Zeit dazu, aber zu seiner Zeit müssen wir dieses und noch vieles andere offenbaren«. Als der Pfarrer in der neunten Woche, am 3. September, nach der Messe zur Bäuerin ging, »fingen die Geister gleich wieder zu reden an, und sagten: Heut ist der Tag, wo wir ausfahren, und zwar abends zwischen ¾ und 6 Uhr«. Daraufhin machten sie dem Pfarrer wieder einige »Verordnungen«. Der Bäuerin sollte ein lauwarmes Bad mit Asche und geweihtem Salz, drei Wachskügelchen von der Osterkerze und drei »Palmblüthen« nebst »einigen rüchenden Kräutern«, vor allem Aniskraut, bereitet werden. Die Ernährung der Bäuerin sollte noch einige Tage aus Brotsuppe bestehen, nach einer Woche solle abgeführt werden, Fleisch und Bier solle sie noch vier Wochen meiden, kalte Milch noch ein ganzes Jahr. Nach vierzehn Tagen sollte sie zur Ader gelassen werden. Die Schlafkammer sollte noch ein Jahr lang geräuchert werden, die Bäuerin selbst vom Pfarrer alle vier Wochen gesegnet werden. Soweit die Anweisungen der Dämonen, die an diesem Nachmittag des 3. September auch erstmals über sich selbst Auskunft gaben. Demnach handelte es sich um drei Dämonen. Vom ersten, dem »Manngeist«, war die Bäuerin seit ihrer Hochzeit vor 15  Jahren besessen. Dieser wurde ihr von einem Nebenbuhler ihres Gatten aus Zorn über die Abweisung »eingewunschen«. Den zweiten, den

64  Strukturen der Kontingenz »Sechswochengeist«, hatte sie elf Jahre in sich, seitdem sie im ersten Wochenbett gelegen war. Damals war sie »von einer entsetzlichen Furcht überfallen« worden, »so daß sie aus vollen Kräften um Hilfe schreyend und ganz verwirrt, zitternd und bebend aus der Kammer lief«. Vom dritten Dämon, dem »Milchgeist« oder »Belzebub«, war sie seit sechs Jahren besessen. Diesen »soll sie durch eine böse Nachbarin, der sie einst in aller Gutmüthigkeit ihren ganzen Milch- und Schmalz-Vorrath zeigte, in der Milch erhalten haben«. Bevor diese drei Geister in die Bäuerin einfuhren, waren sie 15 Jahre lang in einem ledigen Mann aus der Gegend von Augsburg. Er war von ihnen in einem Kloster befreit worden. Im Umkreis von drei bis vier Stunden befanden sich ihrer Aussage nach 4000 Dämonen. Und der »Oberste der ganzen Legion, dem die Uebrigen unterworfen sind, befände sich in der Niedermayer-Bäuerin v. Bauern-Seiboldsdorf«. Obwohl sich der Pfarrer im Klaren darüber war, dass er die Dämonen nicht nach der Zukunft fragen durfte, tat er es.52 Die Dämonen nannten ihm die Namen zahlreicher Menschen, »die bereits von bösen Geistern besessen sind, von welchen einige schon jetzt allerlei Geistes- und Körpersplagen empfinden«. Außerdem gebe es viele Zauberer, Schwarzkünstler und Hexen, welche mit dem Teufel in Verbindung stehen und Schadenszauber betreiben. Die Zahl der Besessenen und dieser »Teufelsmenschen« werde »täglich größer«. Es sei bereits gegenwärtig so, dass »die meisten Menschen« dem Teufel dienten. Deshalb herrsche »große Unruhe und Bewegung in der Geisterwelt«, da »jetzt unzählige böse Geister aus der Hölle kommen«. Deshalb werde es »wieder zu spuken anfangen. Man wird in Häusern, auf Wegen, in Hölzern allerlei Gepolter, Brüllen, Pfeiffen, Jauchzen und Heulen vernehmen. Bei der Nacht wird man vielfältig Lichter sehen.« Sie, die Dämonen, halten sich vornehmlich in Flüssen und Bächen auf, weshalb man den Kindern das Baden dort »strengstens untersagen« solle, »weil sie dabei dämonische Plagen erhalten können«. Die Ursache, »warum die bösen Geister so unruhig werden, ist, weil gar so betrübte und schlimme Zeiten bevorstehen«. Deshalb sei die wachsende Zahl der Besessenen ein Zeichen für das nahende Weltende. Die ganze Welt werde in Aufruhr und Verwirrung sein, weltliche und geistliche Obrigkeiten werden gehasst: Unglaube, Sünde und Laster, besonders Unzucht, werden wie ein reißender Strom alles überschwemmen, der Glaube wird so abnehmen und so klein werden, daß die Welt glauben wird, es sey nun aus mit ihr. Nächstens haben wir eine fürchterliche Hungersnoth und Theuerung zu erwarten, die noch ärger seyn wird als die in den Jahren 1817 und 1818, wo man ums theure Geld nichts mehr zu erhalten wissen wird. Darauf werden hie und da ansteckende Krankheiten und Seuchen ausbrechen, die große Verheerungen anrichten und wobei ganze Ortschaften aussterben werden. Auch 52 Diese Frage war kirchenrechtlich ausdrücklich verboten. Erlaubt waren nur Fragen nach der Anzahl und den Namen der Dämonen, dem Beginn und dem Grund der Besessenheit. Vgl. Rodewyk: Besessenheit 116.

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wird es fürchterliche Erdbeben geben, wobei viele Städte und Orte zu Grunde gehen. Bald wird ein furchtbarer Krieg ausbrechen, der seine Verheerungen über viele Länder ausbreiten wird, daß sich die Menschen in Wälder und auf Bäumen verstecken werden.

In zehn Jahren dann »wird sich eine grausame Verfolgung der Christen erheben, wobei es viele Martyrer geben wird. Der Antichrist, der schon am Leben ist, wird offenbar werden, Bilder in den Kirchen aufstellen lassen und Anbethung fordern.« Erst dann werde Satan mit seinem Anhang zurück in die Hölle gestürzt, »die Luft von bösen Geistern gereinigt und großer Friede auf der ganzen Erde sich verbreiten«. Am Abend des 3.  September um fünf Uhr verschlechterte sich dann der Zustand der Bäuerin. Der Priester sprach wieder den Exorzismus. Sie geriet in »fürchterliche Konvollsion«. Daraufhin gaben die Dämonen zu, gelogen zu haben. Sie wollten nicht eher aus der Bäuerin fahren, als sie tot sei. Und zum Priester gewandt, gaben sie an: »[…] und je mehr du dich anstrengst, desto größer wird ihre Pein.« Des Priesters »Glaube wurde dadurch nicht wenig erschüttert«. Er wusste nicht mehr, was er den Dämonen glauben sollte: Ich war immer der Meinung, die Geister mußten mit einem Male gänzlich weichen und es würde dann keine Spur ihres Einflußes sich mehr zeigen. Allein die Sache ging ganz anders, ihre Macht über solche Besessene verliert sich nach und nach, sie sagten mir dieses öfters, allein ich wollte es nie recht glauben.

Tags darauf wurden im Pfarrhof Enten geschlachtet, worüber »die Teufel einen gewaltigen Lärm« anfingen. Sie »fluchten über die Aenten, daß sie ihnen so viel Schmerzen verursachten«, vor allem die Spitzfedern. Als diese in die Nähe der Bäuerin gebracht wurden, bekam sie heftige Krämpfe. Daraufhin wurde ihr wieder ein Bad bereitet, in dem sie eine halbe Stunde lang in Ohnmacht fiel. Nachdem sie erwachte, behauptete sie, für die Sünden ihrer Geschwister leiden zu müssen. Daraufhin fiel sie wieder in Ohnmacht. »Endlich wurde sie, den Kopf rückwärts gestreckt und ganz steif, – dreimal – langsam in die Höhe gehoben. Dann brüllte sie einigemal wie ein Ochs – zuletzt sagte sie mit einer tiefen Baßstimme, der Belzebub geht.« Dieser Vorgang wiederholte sich noch zwei Mal. Beim dritten Mal »brüllte sie fürchterlicher und länger als zuvor« und »schrie zuletzt: das ist der Manngeist, der ist am längsten da, und der geht jetzt auch«. Daraufhin wurde der Pfarrer gerufen. Als er das Zimmer betrat, erlitt sie derart heftige Konvulsionen, dass die Bettstatt »zitterte«. Dies geschah in kurzen Abständen dreimal. Dann sagte sie »das Leben des Menschen habe seinen Sitz in drei Orten des Körpers: im Gehirn, vorwärts bei der Stirn und Scheitel und beim Nabel«. Dann bat sie, man solle geweihtes Salz, Asche und Wachs von der Osterkerze mischen und es ihr in einem Leintuch gewickelt auf den Nabel und um den Scheitel binden, denn: »Dieser Umschlag werde das unreine Wasser von den Zähnen, Augen, Ohren, dem ganzen Kopfe und den übrigen Theilen

66  Strukturen der Kontingenz des Körpers ausziehen.« Als ihr der Umschlag aufgelegt wurde, empfand sie ein »gewaltiges Ziehen«. Offenbar waren aber doch noch nicht alle Dämonen vertrieben worden. Zwischen dem 5. und dem 8. September wechselten dämonische mit gesunden Zuständen. Nach einem Bad am 10. September »versicherten« die Dämonen, »daß es nun allmählich mit dem Weibe vorwärts gehe, sie können jetzt von dem, was die Eva genieße, nichts mehr an sich ziehen«. Die Dämonen rieten: »Eva soll allmählig in die freye Luft und unter die Leute gehen, um sich zum Kirchgang vorzubereiten, es werde ihr manchmal noch übel werden, aber nach und nach werden alle Plagen ganz aufhören.« Langsam besserte sich ihr Zustand, Rückfälle gab es nur, wenn sie aus »Leichtsinn« zu wenig betete. Am 14. September bekam sie Besuch von ihrem Schwager, der ihr riet, sich zu bessern, und nicht »in ihr altes Wesen – des Wuchers und des Weltsinnes – zu verfallen«. Am 15. September nahm Eva ein Abführmittel, was ihr große Erleichterung verschaffte. Am 16. September reinigte sie ihre Zähne »nach einer Eingebung« mit geweihtem Salz und Wasser, woraufhin sich der »böse Geruch, den Eva seit langer Zeit von sich gab«, verlor. Am 23. September hatte sie die »Eingebung«, »daß die bösen Geister bey den Weibsbildern, hinsichtlich der Monatszeit viele Unordnung und Hinderniße verursachen können«. Es folgten weitere »Eingebungen«. Am 24.  September äußerte sie, dass Entenfleisch die »dämonische Unreinigkeit« genauso aus dem Körper ziehe wie auf dem Zimmerboden ausgebreitete Entenfedern. An den folgenden Tagen hatte sie zahlreiche Visionen von armen Seelen im Fegefeuer. Unter anderem hatte sie »die Eingebung, daß sogar die kleinen Kinder durch das Fegfeuer fliegen müssen, und daß Niemand ohne Fegfeuer durchkomme«. Am 26. September durfte Eva nach Hause zurückkehren. Der Pfarrer war überzeugt, dass der Heilige Geist in ihr »ein ganz großes Gnadengeschenk begonnen habe«. Er war sich sicher: »Dieses Weib, daß so unwissend war ihr Lebtag und nicht lesen noch schreiben kann, wird noch solche Erleuchtung und tiefe Einsicht in die Geheimniße der Gottheit erlangen, daß sich Alles darüber wundern wird.« Am 8. Oktober wurde sie zur Ader gelassen, »damit das unreine Geisterblut leichter weggeschafft werden könne«. Sie hatte immer noch Rückfälle. Der Besuch einer Wallfahrtskirche machte sie krank, ebenso der Kontakt mit Bekannten und Verwandten, so »daß sie nicht mehr wußte, wo sie hinlaufen oder sich verkriechen sollte«. Auch die Dämonen meldeten sich wieder. Sie »gaben ihr ein, jetzt wird es erst recht arg mit dir, weil wir dich nur aus dem Pfarrhof weg haben. Den Pfarrer haben wir recht angelogen, jetzt kann dir Niemand mehr helfen.« Der Pfarrer erkannte nun, dass es der unchristliche Lebenswandel von Evas Ehemann war, der die Macht der Dämonen über sie ermöglicht hatte: In dem Hause der Eva sieht es sehr schlimm aus. Der Mann ist ganz dem Geitz und Wucher ergeben, die Dienstbothen können nicht genug arbeiten, es giebt keine Zeit zum Gebeth, die Kinder sind sehr schlimm, ohne Zucht, keine Liebe und Zufriedenheit, daher wohl die große Macht der Dämonen über das Haus.

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Dabei vermutete er, dass sich Eva beim Gänserupfen mit den Dämonen angesteckt habe. Denn »die Gänse waren gewiß voll dämonischer Unreinigkeit, welche während der Arbeit in die Eva überging«. Außerdem hatte sie unreifes Obst gegessen, ohne es vorher mit Weihwasser zu besprengen und sie hatte »aus Übereilung« einen Trunk Branntwein genommen. Seitdem dann die Gänse und die Schweine vom Hof fortgeschafft wurden, besserte sich ihr Zustand wieder. Es wechselten sich nun die »guten Eingebungen« mit denjenigen »der bösen Geister« ab.53 Sie erkannte schließlich, »daß der Mensch aus sich durchaus nichts sey und vermöge, wenn es nicht von oben herab gegeben werde, und daß es überall nicht am Rennen und Laufen des Menschen liege, sondern an Gottes Erbarmen«. Ihr »einziges Streben« sei, »den Willen des Herrn zu erfüllen; dabei hat sie oft die tröstliche Eingebung, sie soll sich nur durchaus um nichts bekümmern, auch mit der Kinderzucht«. Wenn sie morgens um Beistand bei der Arbeitet betet, so ist ihr bei diesen Verrichtungen, als stünde jemand bei ihr, der ihr ins Ohr sagt: »[…] jetzt mußt du das thun – jetzt jenes; so daß sie sich gar nicht mehr besinnen kann und darf, was zu thun sey«. Der Pfarrer riet ihr: »Sie soll der bösen Nachbarin vom Herzen danken für alle Leiden, die sie ihr zugefügt hat, diese Leiden hatten ihr zur Erkenntniß und Liebe Gottes verholfen, ohne dieselbe wäre sie auf dem breiten Weg des Verderbens geblieben.« Eva mied fortan Menschenansammlungen. Denn sie hatte Angst, sich wieder mit Dämonen anzustecken, auch bei kirchlichen Veranstaltungen. An Portiunkula 1829 wäre sie gerne zur Predigt des bekannten »Segenspfarrers« Franz Sales Handwercher auf den Mariahilfberg nach Vilsbiburg gegangen. Sie hatte aber die Eingebung nicht hinzugehen, denn »der Zusammenfluß von Menschen aller Art sey zu groß, sie würde sich wieder viele Plagen holen«. Tatsächlich kam es, dass sie beim Besuch der Wallfahrtskirche Dorfen im Dezember 1829 »viele dämonische Unreinigkeit in sich zog«. Am 28. Dezember hatte sie die Eingebung, »noch nicht ganz rein« zu sein». Eine Stimme sagte ihr, sie solle »nur folgende Mittel fleißig« anwenden: Täglich morgens und abends ein Kreuz mit geweihten Kräutern auf Stirne, Schläfe, Magen, Gelenke, Hände und Füße zeichnen, vor dem Schlafengehen Fußbäder mit geweihtem Salz und Asche anwenden, Gerstenwasser mit abgesottenen Wacholdersprösslingen trinken, einen Umschlag mit geweihtem Salz und Asche auf den Nabel binden, schließlich Abführmittel einnehmen. Endlich notierte der Pfarrer am 26. Dezember 1830 die völlige Heilung der Huberin. Sie »wandelt fröhlich den Weg des Herrn und erstarkt immer mehr am inneren Menschen«. Es gelang ihr, ein krankes Pferd gesund zu beten. Als sie beichten und kommunizieren wollte, aber der Pfarrer nicht zu erreichen 53 Dies entspricht der bei Besessenheitsfällen häufig festgestellten Phase der »Circumsessio« bzw. »Umsessenheit«, d. h. nach erfolgreichem Exorzismus kann es noch zu leichteren Störungen kommen, die als Rückzugsgefechte des Teufels interpretiert werden. Vgl. Ernst: Teufelaustreibungen 23.

68  Strukturen der Kontingenz war, hörte sie eine Stimme: »Warum bist du so traurig! kann ich dich nicht auch absolvieren – ist denn nicht der Priester mein Stellvertreter, bin ich es nicht, der dich durch ihn von deinen Sünden losspricht: und kann ich dir nicht ohne ihn die Kommunion reichen, darum sey nicht traurig – sondern glaube!« Sie fühlte einen »göttlichen Frieden in ihrem Herzen, und es war ihr gewiss, daß der Herr sie absolviert habe. Darnach empfing sie auch von ihm auf eine geheimnißvolle Weise die heilige Kommunion, wobei sie wirklich himmlischen Wohlgeschmack auf der Zunge und im Munde hatte.« Solange die Bäuerin als besessen galt, zeigte sie an ihrem Körper alle Symp­ tome der Hässlichkeit und Aggressivität, die sie nach dem Rituale Romanum von 1614 als vom Teufel besessen erscheinen ließ. Ihr Körper stank, konnte außergewöhnliche Kraft entwickeln, war einmal starr und das andere Mal krampfhaft gekrümmt, er erzeugte brüllende Laute und wechselte rasch zwischen gestörtem und ungestörtem Zustand. Dabei beschränkte sich Hässlichkeit und Aggressivität nicht nur auf den Körper, sondern erstreckte sich auch auf die Psyche. Sie verletzte sich selbst, suchte die Einsamkeit, hatte Abscheu vor geweihten Gegenständen und heiligen Handlungen. Dabei konnte sich die Besessenheit nicht auf natürliche Symptome beschränken. Da der Teufel ein übernatürliches Wesen war, mussten sich bei Besessenen auch übernatürliche Phänomene zeigen. Dies zeigte sich bei Eva neben der Entwicklung übernatürlicher Kräfte in der Kenntnis verborgener Dinge, die der Teufel durch sie zum Besten gab. Allein das Sprechen in einer nicht erlernten Sprache konnte nicht einmal der Teufel in ihr bewirken.54 Jedenfalls reichten die Symptome aus, um die Durchführung des großen Exorzismus zu rechtfertigen.55 Dabei war es nicht nur die Diagnose, die eine exorzistische Therapie nahelegte, sondern auch die Anamnese. In ihrer Besessenheit war die Bäuerin zwar ein Opfer von Verwünschungen, denen sie aber durch ihren eigenen unsittlichen Lebenswandel den Boden bereitet hatte. Besessene waren nie nur Opfer, sondern stets auch Täter.56 Dabei ist gerade diese Dichotomie von Opfer und Täter, von Passivität und Aktivität in der Besessenheit für einen narrativen Bruch in dem Bericht verantwortlich, der ihn für die Beantwortung der Frage nach der religiösen Bewältigung von Kontingenz so interessant macht. So lange die Eva als besessen galt, erschien neben religiösen Mitteln die ganze Spannbreite der diätetischen sex res non naturales (Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen, Affekte) zu ihrer Therapie geeignet. Das ist nicht 54 Zu den Symptomen der Besessenheit vgl. Ernst: Teufelaustreibungen 17–23; Rodewyk: Besessenheit 74–108. 55 Neben dem großen, feierlichen Exorzismus, der in Fällen von Besessenheit nur von Priestern und nur mit bischöflicher Erlaubnis angewandt wird, gibt es auch den kleinen Exorzismus, der etwa in Fällen von Umsessenheit auch von Laien gesprochen werden kann. Vgl. Rodewyk: Besessenheit 62–108. 56 Vgl. Beck: Mäuselmacher 448–456.

Gefährlicher Gott  69

überraschend. Denn nach der seit der Antike tradierten Vorstellung waren diese Maßnahmen der körperlichen und seelischen Gesunderhaltung gleichermaßen förderlich. Und derartige Vorstellungen waren noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lebendig.57 Bemerkenswert ist, dass die Phase andauernder – spiritueller und diätetischer – Aktivität in eine Phase der Passivität umschlug, ohne dass es zu einer Heilung gekommen wäre. Wahnvorstellungen finden sich nachher wie vorher. Die Phase der Aktivität ist diejenige der Besessenheit, die Phase der Passivität ist diejenige der göttlichen Begnadung. Zunächst hatte sich aus dem Netz aus diätetischen Techniken und dämonologischem Diskurs ein agonales Exorzismusdispositiv gebildet, das durch proaktiven Kampf gegen das Böse angesichts einer unsicheren, aber wissbaren Zukunft charakterisiert ist. Dabei zeigt sich der proaktive Aspekt dieses Exorzismusdispositivs an der Anwendung diätetischer Mittel, der dynamische Aspekt am Drang des Pfarrers, mit diesen zu experimentieren, obwohl es verboten war.58 Die Phase der Passivität ist diejenige der göttlichen Begnadung. Der Kampf hörte auf, es blieb allein zu glauben und sich der göttlichen Gnade hinzugeben. Es ging nicht um den Kampf gegen das Böse, sondern um das dankbare Hinnehmen des Leidens. In mehreren Visionen wurde die Huberin aufgefordert, ihre Zukunftssorgen der göttlichen Vorsehung anheimzugeben. Angesichts Gottes war die Zukunft sicher, aber nicht wissbar. Dieses diskursiv-technische Netz bildet ein fatalistisches Gnadendispositiv. Im Exorzismusdispositiv erweiterte sich der menschliche Handlungsspielraum, im Gnadendispositiv verengte er sich. Handeln war angesichts des Teufels erfolgversprechend, angesichts Gottes vergeblich. Der Teufel war riskant, aber Gott war gefährlich. Mit dem gefährlichen Gnaden- und dem riskanten Exorzismusdispositiv liegen nun zwei Möglichkeiten religiöser Kontingenzbewältigung vor, deren allgemeine religionswissenschaftliche Relevanz im katholischen moraltheologischen Diskurs im Folgenden nachzuweisen ist.

3. Gefährlicher Gott Eine 1881 veröffentlichte Sammlung von Grabreden machte Gott für sämtliche Übel der Welt verantwortlich: Wir wünschen reich zu sein, und wie oft nimmt Gott statt zu geben; wir möchten geehrt sein und Gott läßt Verachtung über uns kommen; wir möchten aufhören können, große Sorgen zu haben und Gott sendet zu den alten noch neue; wir möchten gesund sein und Gott sendet Krankheiten, die vielleicht sehr langwierig sind.59 57 Vgl. dazu Sarasin: Maschinen 33–51; Emch-Dériaz: Non-naturals 134–159. 58 Vgl. dazu Rodewyk: Besessenheit 115. 59 Grabreden 69.

70  Strukturen der Kontingenz Bereits 1851 war Gott im »Katholik« für alle immanenten Probleme verantwortlich gemacht worden: Die Menschen haben wir nicht zu fürchten, die Revolution haben wir nicht zu fürchten, den Absolutismus haben wir nicht zu fürchten, die Häresie, die falsche Wissenschaft, die ganze Welt haben wir nicht zu fürchten: sondern Gott allein haben wir zu fürchten; wir haben zu fürchten, daß Gott um unserer zu großen Sünden und Schulden willen durch all jene und noch andere Feinde ein großes Strafgericht über uns werde ergehen lassen.60

Von Gott geschicktes Unglück diente dem Prediger Westermayer 1848 dazu, den Menschen darauf aufmerksam zu machen, »daß sein Schifflein unrechtes, gefährliches Fahrwasser hat«: »Da läßt Gott einen Sturm kommen, Viehseuche, Brandunglück, ungerathene Kinder, Tod der Kinder, Krankheit und sonstige Übel kommen jetzt daher.«61 Bautz bezeichnete menschliche Leiden 1882 als Strafe Gottes für begangene Sünden. Dabei gehe es »um die unendlich hehre Majestät Gottes, die gegen die schnöden Attentate eines entarteten Geschöpfes möglichst gesichert werden muß«.62 Bautz fragte sich aber angesichts der Kontingenz der menschlichen Leiden: Wie oft erleben wir, daß selbst die größten Sünder straflos bleiben? Sie genießen reichen Wohlstand, Ueberfluß an irdischem Gute, an Ehren und an Freuden, und scheiden pomphaft aus dem Leben. Der fromme Diener Gottes aber, der Gottes heiliges Gebot so hochgehalten, der Unschuld, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit geübt, muß leiden, darben; arm, krank, verachtet durchlebt er seine Tage und ohne Lohn verläßt er diese Welt. Wo also ist der Lohn und wo die Strafe?

Deshalb verlegte er die Berechenbarkeit der göttlichen Strafe ins Jenseits: »Gott muß die Sünde endlich strafen; sie findet aber diese Strafe auf dieser Erde nicht. Und folglich steht es unumstößlich fest, daß in der anderen Welt absolut gewiß das Strafgericht erfolgen wird.«63 Keppler wies 1904 darauf hin, dass vor allem das schuldlose Leiden erhöhte Sühnekraft besitze.64 Deshalb sei es kein Feind, »welchen es zu bekämpfen, zu ignorieren, zu verdrängen gilt mit Aufbietung aller Kraft; man schätzt, ja bewillkommt es als Freund, von welchem man nur lernen und gewinnen kann«.65

60 Betrachtungen über die Gegenwart. In: Der Katholik 4 (1851) 72–84 und 183–191, hier 183 f. 61 Westermayer: Bauernpredigten II / I 175 f. 62 Bautz: Hölle 53. So auch Martin: Osterzeit 394 f. 63 Bautz: Hölle 7. 64 Keppler: Problem 16 f. 65 Ebd. 20.

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Zahn erinnerte zu Beginn des 20. Jahrhunderts daran, dass Gottes Wege unergründlich seien: Wie verborgen sind doch oft die Wege, auf denen Gott seine Kirche leitet! Wie verborgen schon in den Jahrhunderten des Anfangs! Wie geheimnisvoll trotz allem die Zulassung der langen, blutigen Christenverfolgungen! Wie geheimnisvoll die Zulassung der Zerspaltung und Zersplitterung der Christen zwischen Morgenland und Abendland […].66

In die Geheimnisse der göttlichen Weisheit, könne der Mensch »hier auf Erden niemals eindringen«, so Lorinser 1878.67 Die diesseitigen Leiden mussten deshalb noch andere Zwecke erfüllen als die Strafe. Der Höllenexperte Bautz führte sie 1882 am Beispiel der Besessenheit aus. Diese diene entweder zur Strafe für begangene Sünden, zur »Erweckung heilsamer Buße«, zur Prüfung, zur Stärkung der Liebe zu Gott oder zur »Verherrlichung seiner selbst und der von ihm gegründeten Kirche Macht«.68 Biggel bezeichnete die menschlichen Leiden 1839 und 1862 als »Heimsuchungen Gottes«, die »uns viele frohe Botschaften vom Vaterhause mitzubringen haben«. Er bezeichnete sie als Engel des Lichtes, die uns zur tiefern Erkenntniß Gottes und seines heiligsten Willens, seiner unverbrüchlichen Heiligkeit und Gerechtigkeit, zum aufmerksamen Nachdenken über uns selbst, über unsere bisherige Denk- und Handlungsweise, die uns zur Selbsterkenntniß, zur Sinnesänderung, Besserung und Heiligung führen.

Leiden seien »heilbringende Arzneien«, »strenge, aber lehrreiche Schulen der Weisheit und Tugend«, »Saatfelder der himmlischen Freuden«.69 Das Homiletische Real-Lexicon führte 1839 alle Übel der Welt auf Gottes Vorsehung zurück. Sie besaßen demnach einen vierfachen Nutzen. Sie halten die Menschen vom Bösen ab, führen zu Gott zurück, binden enger an Gott und flößen die Sehnsucht nach dem ewigen Leben ein.70 Gott verfolge mit den Leiden wohltätige Ziele, so die bereits zitierte Sammlung von Grabreden: Bisweilen läßt der Allerbarmer Trauerfälle eintreten, um uns unsere Abhängigkeit von ihm zu veranschaulichen oder um unsere Anhänglichkeit an das Irdische zu mäßigen. Bisweilen ruft er diejenigen zu sich, gegen die man unrecht gehandelt hat, um den Undank der Hinterlassenen zu züchtigen. Bisweilen will er die Kinder zur Arbeitsamkeit, Bescheidenheit und Gottesfurcht nötigen, indem er ihnen die Eltern sterben läßt, durch deren Verzärtelung sie Taugenichtse geworden wären.71

66 Zahn: Jenseits 313 f. 67 Lorinser: Geographie 54. 68 Bautz: Hölle 138 f. So auch Häglsperger: Seelenleiden 36 f. 69 Biggel: Wandel (1839) 179 f.; ders.: Wandel (1862) 180 f. 70 Krönes: Real-Lexicon XII 85–94. 71 Grabreden 136.

72  Strukturen der Kontingenz Deshalb fürchte der Priester, so der Arzt Stöhr in einem medizinischen Handbuch für Geistliche aus dem Jahr 1887, die Krankheit nicht, »die, im Beruf erworben, für ihn so ehrenvoll ist, wie die im siegreichen Kampfe erhaltene Wunde; nicht die Krankheit, die er als Gnade Gottes preist, und die es ihm sogar möglich macht, in christlich geduldigem Ertragen Beispiel und Vorbild zu werden«.72 Der katholisch-eschatologische Diskurs transformierte Übel in Leiden bzw. Opfer, indem er ihnen Sinn als Strafe und Prüfung, als Mittel zur Erziehung und als Gelegenheit zum Sammeln von Verdiensten verlieh.73 Als unvollkommenes Wesen war es unmöglich, dass der Mensch Gott als dem Vollkommenen genügen konnte, so der Paderborner Bischof Conrad Martin in einer 1883 posthum erschienenen Predigtsammlung: Oder sollte uns nicht erschrecken und beunruhigen der feste Glaube, daß Gottes Heiligkeit so groß, so unantastbar, daß sie auch nicht den geringsten Flecken zu ertragen vermag; daß selbst die geringste Unreinheit vor ihr nicht bestehen, daß ich, auch nur mit der geringsten Sünde befleckt, Gottes Angesicht nicht schauen kann?74

Da Gott als der Vollkommene dargestellt wurde, stellte selbst jede noch so kleine Sünde eine »unendliche Beleidigung« dar, die Gott »unendlich  – d. h. ewig strafen oder dafür eine unendliche Genugthuung fordern« musste.75 Deshalb verletze der Mörder in erster Linie nicht das Recht des Menschen auf Leben, so Lomb 1844 in seiner Moraltheologie. Mord stelle vor allem einen »Eingriff in Gottes heiligste Rechte« als »Herr über Leben und Tod« dar. Der Mörder handle »unehrerbietig gegen Gott, greift störend in den Plan der Weisheit und Güte Gottes ein«.76 Als Vollkommenheit wurde Gott also als unendlich, ewig, d. h. unberechenbar gedacht. Der Katholik brachte die unberechenbare Gefährlichkeit Gottes 1850 auf die Formel: »Die göttliche Führung aber ist voll Schrecken und Wunder.«77 Im Jahr 1853 betonte der Katholik, »daß Gott an keines der Gesetze, die Er für einen Theil seiner Schöpfung gibt, so gebunden ist, daß Er nicht in jedem andern wieder neue Bestimmungen könnte maßgebend sein lassen, oder das, was für eine Zeit gilt, für eine andere aufheben«.78 Es könne, so der frühe Neuscholastiker Plaßmann 1861, »keine Creatur, sondern nur Gott selbst, total von jedem Gesetze frei sein«.79 Die Behauptung, dass »Gott nichts gegen die Naturordnung 72 Stöhr: Handbuch 23 f. 73 Krönes: Real-Lexicon IX 103–118. Vgl. dazu Holzem: Kriminalisierung 166–172. 74 Martin: Fest- und Gelegenheitsreden 494. 75 Ders.: Osterzeit 360 f. 76 Lomb: Moral 242. 77 Zur Orientierung in der Gegenwart. In: Der Katholik 1 (1850) 5–21, hier 7. 78 Die Behandlung der Naturwissenschaften in der Schule nach christlicher Auffassung. In: Der Katholik 8 (1853) 199–213 und 269–283, hier 276. 79 Plaßmann: Moral 329.

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thun könne, ohne mit sich selbst in Widerspruch zu treten, hat durchaus keine Berechtigung«, so der Moraltheologe Schneider 1882.80 Wer das Wunder leugne, vernichte deshalb »das sichtbare Zeugniss [!] und mit ihm das unentbehrliche Kriterium der göttlichen Offenbarung und vergreift sich an den ewig unantastbaren Rechten Gottes«.81 Im Verhältnis zu Gott herrsche für den Menschen deshalb Unsicherheit, so Martin, »weil auch die gewissenhaftesten, frömmsten und gottseligsten Menschen immer in Ungewißheit schweben, ob sie der Liebe oder des Hasses Gottes würdig, ob sie in der Gnade ausharren werden bis zu Ende und daher immer ihr Heil in Furcht und Zittern wirken«. Erst am Tag des Jüngsten Gerichts »wird aufhören diese Furcht und dieses Zittern«.82 Das Kirchenjahr erinnerte Martin »an die Gewißheit des Gerichtes, an die Ungewißheit, ob wir in demselben bestehen, an die Gewißheit unserer Bestimmung für den Himmel, an die Ungewißheit, ob wir nicht aus eigener Verschuldung desselben uns verlustig machen werden«.83 Gewiss war die Ungewissheit: »Es ist also eine klare und unzweifelhafte Glaubenswahrheit, daß kein Mensch hienieden untrüglich weiß, ob er Jesum liebe, ob er der Freundschaft Gottes würdig sei und im Stande der heiligmachenden Gnade sich befinde.«84 Deshalb seien die christlichen Lehren »zugleich überaus tröstlich und überaus erschreckend und gerade dadurch heiligend, daß sie uns stets in Furcht und Hoffnung erhalten«.85 Der jenseitige Zustand des Menschen gründete im katholisch-eschatologischen Diskurs also nie nur auf einem Rechtsanspruch, sondern war immer auch ungeschuldeter Ausfluss der Gnade Gottes.86 Betrachteten die Gläubigen auf der Suche nach Heilssicherheit die Werkgerechtigkeit als rational kontrollierbares Geschäft mit rechenhaften Zügen, etwa beim Herz-Jesu-Kult, so betonten die Jesuiten, dass die göttliche Verheißung keine unbedingte Sicherheit bot.87 Für den Regensburger Bischof Ignatius von Senestrey war deshalb die Unerklärlichkeit eines Ereignisses Kennzeichen für das Wirken Gottes, wie er in einem Hirtenbrief anlässlich des Ausbruches des deutsch-französischen Krieges verdeutlichte: »Je unerwarteter, je rascher der Krieg über uns kam, je weniger wir selbst ihn verursacht haben, je geringfügiger anscheinend der Grund war, weßhalb er entstand, desto leichter gelangt man zu der Erkenntniß, daß Gott es war, der ihn über uns verhängte.«88 80 Schneider: Geisterglaube 345. 81 Ebd. 346. 82 Martin: Pfingstzeit 127 f. 83 Ders.: Osterzeit 50. 84 Ebd. 542 f. So auch Lomb: Moral 84. 85 Martin: Fest- und Gelegenheitsreden 493. 86 Vgl. dazu Müller-Goldkuhle: Eschatologie 41. 87 Busch: Frömmigkeit 186 und 248 f. 88 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1870 (1.8.1870). Anlässlich der Ausbreitung einer Krankheit betonte Senestrey im Fastenpatent vom 27.1.1890 (Oberhirtliches VerordnungsBlatt 1890) die Allmacht Gottes: »Erinnert nicht die schnelle Ausbreitung dieser Krankheit, ihr räthselhafter Charakter an den Finger des allmächtigen Gottes? Er hat Mittel ohne Zahl,

74  Strukturen der Kontingenz Die Betonung der Unberechenbarkeit Gottes zeigte sich nicht zuletzt in der Ausschließlichkeit, mit der Latein als Liturgiesprache nach den volkssprachlichen Experimenten der Aufklärung und Romantik gefordert wurde. In der Unverständlichkeit der lateinischen Sprache zeige sich die Unverständlichkeit Gottes, so der Pastoraltheologe Benger 1862: »[…] die liturgische Sprache muß geheimnißvoll sein; dieß ist ein Gefühl, was allgemein anerkannt wird, weil es auf der Natur der Sache beruht, daß heilige Sachen unter dem Schleier geheimnißvoller Worte erfüllt werden […].« Es müsse »dem kurzsichtigen Menschen der Gegenstand der Anbetung und das Band, welches sie mit dem Himmel verbindet, mit einem heiligen Schleier verhüllt sein, das Anschauen der Herrlichkeit Gottes ist der Ewigkeit vorbehalten«.89 Zur göttlichen Unberechenbarkeit passt, dass das bischöfliche Ordinariat von Regensburg am 13. Januar 1847 die Versicherungsfähigkeit kirchlicher Gegenstände von der Nähe zu Gott abhängig machte. Die Versicherung von liturgischen Gefäßen und Paramenten gegen Feuer wurde abgelehnt, diejenige von Glocken, Kanzeln, Chor- und Betstühlen zugelassen.90 Die Unsicherheit war heilsrelevant. Während Gott unberechenbar war, wollte der Teufel die Menschen in Sicherheit wiegen. Ein 1750 erstmals in Bamberg erschienenes und 1846 in Straubing wieder aufgelegtes Werk warnte vor den Sicherheitssuggestionen des Teufels. Auf dem Sterbebett verführe er die Kranken, es sey nicht vonnöthen, sie hätten keine Gefahr, sie kämen so gewiß in den Himmel, sie hätten ja fromm gelebt etc. In solcher falschen Sicherheit erhält der Satan die Kranken, bis sie nimmer reden können. Alsdann gibt sich die höllische Schlange zu erkennen, und stellt dem Sterbenden seine Sünden und närrische Sicherheit vor und bringt ihn in Verzweiflung.91

Angesichts des Krieges in Norditalien wies der Katholik 1859 darauf hin, »daß nach Gottes Weltregierung auf dieser Erde der Sieg keineswegs unmittelbar an die Fahne des Rechtes geknüpft ist«. Nicht augenblickliche Erfolge sind für Österreich »offenbar« das Nützlichste, »sondern was am Nachhaltigsten dahin wirkt, jene innere sittliche, religiöse und damit auch politische Regeneration zu erzielen«. Aber es lehre die Geschichte, »daß im großen Ganzen zur sittlichen Erhebung eines Volkes nichts mehr beiträgt, als wenn es lange und mit höchster Anstrengung für eine große und gerechte Sache Opfer bringen und kämpfen muß«.92 Deshalb schloss der Katholik:

um die Menschheit heimzusuchen, zu prüfen und zu bestrafen. Ihm gegenüber steht die menschliche Kunst und Wissenschaft, aller Fortschritt ohnmächtig dar. Er ist der Herr und sein allmächtiger Wille regiert die Welt und wendet die Zeiten.« 89 Benger: Pastoraltheologie 241. 90 Oberhirtliche Verordnungen 486 f. 91 Bacher: Waffen 247 f. 92 Weltlage. In: Der Katholik 2 (1859) 771–786 und 1020–1024, hier 775–777.

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Wie immer ist auch heute an den Ereignissen eine klare und eine verborgene Seite. Klar im Großen und Ganzen sind die Werke der Menschen, sind ihre Verbrechen und Tugenden, sind die einfachen Fragen über Recht und Pflicht; klar sind auch die Gefahren, die menschlichem Ermessen nach in der Natur der Dinge liegen. Verborgen und geheimnißvoll sind die Fügungen und Zulassungen Gottes, sind die Wege, in welchen er seine Kirche führen wird.93

Nach Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704), einem klassischen französischen Homiletiker des 17. Jahrhunderts, basiere der Glaube nicht auf Gewissheit und auch nicht auf Wahrscheinlichkeit. Der Glaube verlange Mut zur Ungewissheit.94 Für Häglsperger stellte das »Leiden der Ungewißheit, ob man sich im Stande der Gnade befinde oder nicht« 1843 eine »besondere Begnadigung von Seite Gottes« dar, um »auf weit höhere Standpunkte der Heiligkeit« zu führen.95 Der unberechenbare katholische Gott ist ein spezifisches Produkt des 19. Jahrhunderts. Die göttliche Unberechenbarkeit und Launenhaftigkeit war im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit durch die Annahme einer sakramentalen Wirksamkeit der Gebete und Riten, abhängig jedoch von der Gesinnung des Gläubigen, eingedämmt worden.96 Dieses sakramentale, leicht magisch zu deutende Verständnis der Riten und Gebete war im aufgeklärten Denken nicht mehr haltbar. Gott war nicht mehr konditionierbar.97 Vor allem die Französische Revolution trug dazu bei, den Zusammenhang zwischen der Bestrafung des Bösen und der Belohnung des Guten aufzulösen und die Unberechenbarkeit Gottes zu betonen, worauf der Philosophiehistoriker Wilhelm Schmidt-Biggemann hinweist. Gut und Böse waren nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Es blieb »die pure Anwesenheit der göttlichen Macht und die elementarste Logik der puren Macht übrig: Gehorsam und Opfer«. Denn wenn die (göttlichen) Prädikate nicht mehr bestimmbar sind, bleibt nur noch Macht: »Die pure Faktizität der Macht ist deren Legitimität. Der göttliche Plan der Geschichte ist opak geworden, Geschichte ist nur noch die Konfrontation des gefallenen Menschen mit dem unversöhnten Gott, der sein Opfer haben will.«98 Zusammenfassend erscheint der katholische Gott des 19. Jahrhunderts als rachsüchtig, grausam, zornerfüllt und unberechenbar – trotz aller der katholischen Kirche zur Verfügung stehenden Mittel zur Beeinflussung des göttlichen Willens. Zwischen Gott und Mensch herrschten

93 Ebd. 772. 94 Vgl. Löwith: Weltgeschichte 157. 95 Häglsperger: Seelenleiden 191 f. 96 Vgl. dazu Scribner: Wahrnehmung 101–119. 97 Vgl. Schlögl: Rationalisierung 57 f. 98 Vgl. Schmidt-Biggemann: Theologie 45–51. Vgl. dazu auch Holzem: Christentum 991, der allerdings betont, dass sich die Unberechenbarkeit des ultramontanen Gottesbildes nicht nur in Angst, sondern auch in Vertrauen in die göttliche Vorsehung äußerte.

76  Strukturen der Kontingenz Macht- und Gewaltbeziehungen, so Ebertz.99 Somit ist es nur konsequent, dass die endgültige Durchsetzung der Vorstellung vom lieben Gott in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Ebertz in Anlehnung an Norbert Elias als »Zivilisierung« bezeichnet und als Spiegelbild der zunehmenden gesellschaftlichen Affektregulierung darstellt,100 verbunden ist mit Entpönisierung, Heilsoptimismus und Gewissheitshoffnung.101 Der katholische Philosoph und theologische Außenseiter Martin Deutinger kritisierte die Vorstellung vom unberechenbaren Gott bereits 1850: Gott ist ihnen nicht ein allweiser, nach einem geordneten Plane die Welt regierender Herr, der dem Gange der Begebenheiten aus einer ewigen Ordnung heraus ihr Ziel und ihre Grenzen gesetzt, sondern ein eben so blinder als unumschränkter Despot, der sich nur willkürlich hie und da in das zufällige bunte Spiel des Lebens mengt und ohne Plan und Ordnung den Gang der Dinge nach den Wünschen und dem Begehren Einzelner durcheinander wirft.102

Darin spiegelt sich die »Plan- und Systemlosigkeit«, von der die katholische Lebensführung nach Max Weber gekennzeichnet war und durch die sie sich von protestantisch-methodischer Lebensführung unterschieden haben soll.103 Obwohl auch protestantischen Predigten die Unberechenbarkeit Gottes im Strafen postulierten,104 erhob Häglsperger die Unsicherheit gegenüber Gott 1843 zum konfessionellen Unterscheidungsmerkmal. Jeder Katholik kenne die Aussprüche des heil. Geistes bei Eccl. 9,1 und bei 1. Cor. 4,4 gar wohl und verabscheut aus dieser Ursache den Grundsatz des lutherischen Protestantismus und des Aftermysticismus von dem ›süßen‹ Vorausversichertseyn über die künftige ewige Seligkeit auf den bloßen unthätigen Glauben hin.

Zwar könne »auch Zweifel und Schwanken nicht Sache Gottes seyn, nicht als Wirkung des heil. Geistes gelten« und jeder wahre Christ wisse, »daß im festen kindlichen Vertrauen auf Gott und im liebethätigen Glauben alles Schwanken, alles Zweifeln untergehen müsse«. Häglsperger aber hatte beobachtet, daß Sich der liebe Gott bei Führung der Seelen nicht immer an die Regeln einer menschlichen Logik halte, daß Er vielmehr manche Seelen öfters auf Wegen leite, die 99 Vgl. Ebertz: Erosionen 112–123; Ebertz: Zivilisierung 335–337. Vgl. dazu auch Gestrich: Religion 275–293. Dabei ist der rachsüchtige Gott für Ebertz nicht Folge der Französischen Revolution, sondern im Gegenteil Spiegelbild der feudalen Ordnung und ihrer Überreste im 19. Jahrhundert, da die Sünde als Anschlag auf die Ehre Gottes wahrgenommen wurde. Vgl. Ebertz: Erosionen 123–127; ders.: Zivilisierung 155–160. 100 Vgl. ders.: Erosionen 123–127; ders.: Zivilisierung 155–160. 101 Ebd. 346–356. 102 Deutinger: Zeichen 30. 103 Weber: Ethik 154 f. 104 Vgl. dazu Graf: Gottesbild 100.

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von den gewöhnlichen Bahnen durchaus abweichen, und daß Er besonders die auserwähltesten Seelen auf einige Zeit in ein höchst martervolles Purgatorium der Zweifel über die Wirklichkeit der Gnadenführung und der künftigen Seligkeit versetze.105

Auch Görres betrachtete die Betonung der Sicherheit als protestantisches Proprium, die Betonung der Unsicherheit als katholisches. In »Teutschland und die Revolution« (1819) postulierte er ein automatisches und ein willkürliches Gesetz. Jenes sei das »Element des Staates«, dieses das »kirchliche Element«. Innerhalb der Kirche »selbst aber wird jenes mehr die protestantische, dieses die katholische Richtung in sich tragen, im Staate aber das Eine das demokratische, das Andere das monarchische Prinzip darstellen«.106 Der Sozialpsychologe Erich Fromm unterscheidet zwischen bedingungsloser und deshalb sicherer Mutterliebe sowie der an die Erfüllung von Bedingungen, vor allem an Gehorsam, geknüpften, also juridischen, und daher unsicheren Vaterliebe. Denn »wenn man dagegen seiner eigenen Verdienste wegen geliebt wird, so bleiben immer irgendwelche Zweifel bestehen; vielleicht habe ich es dem, der mich lieben soll, nicht recht gemacht, oder ich habe dies oder jenes falsch gemacht – immer muß ich fürchten, die Liebe könnte vergehen«.107 Diesen Unterschied zwischen sicherer Mutterliebe und unsicherer Vaterliebe übertrug er auf die christlichen Gottesbilder. Der katholische Gott sei ein Vatergott. Der patriarchalische Aspekt »veranlaßt mich, Gott wie einen Vater zu lieben; ich nehme dann an, daß er gerecht und streng ist, daß er belohnt und bestraft«. Dagegen enthalte der lutherische Gott ein »verborgenes matriarchalisches Element«, da die Liebe Gottes nicht erwerbbar sei.108 Tatsächlich war es ja die Frage nach der Heilsgewissheit, die Luther zu seinen glaubensspaltenden Ansichten geführt hatte. Sicherheit war einer der Leitbegriffe der Reformation.109 Gottes Handeln war für Luther sicher erkennbar. Luther war der Ansicht, dass die Handlungen von Menschen, die nicht von der Gnade berührt sind, nicht vorhersagbar sind, im Unterschied zu den Handlungen von Menschen, die die Gnade empfangen haben.110 Der menschliche Handlungsspielraum verringerte sich in katholischer Perspektive angesichts der göttlichen Unberechenbarkeit drastisch. Für Adam Müller war es 1809 eine Illusion, den Wohlstand durch eine »Assecuranz« vor den 105 Häglsperger: Seelenleiden 192 f. 106 Görres, Joseph: Teutschland und die Revolution. Koblenz 1819. In: Ders.: Politische Schriften 35–143, hier 110. Zu diesem Werk vgl. Raab: Görres (1975). 107 Fromm: Kunst 64–75. 108 Ebd. 101–127. 109 Vgl. Frühwald: Spätwerk 166–188. 110 Vgl. Sabean: Schwert 64. Zur Einstellung der frühneuzeitlichen Konfessionen zu Sicherheit vgl. Collet: Kultur 367–380; Hahn: Sicherheit 47–56; Jakubowski-Tissen: Umgang 332; Kaufmann: Sicherheit (1973) 154 f.; Makropoulos: Sicherheit 746.

78  Strukturen der Kontingenz »Schwankungen der großen Weltbegebenheiten« schützen zu können.111 Dies exemplifizierte er am Beispiel der Hungersnöte. Das »Zufällige, was die Natur nicht ohne große und tiefe Absicht gerade in den Ertrag des Landbaues gelegt« habe, sei »von der rhythmischen Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht ergriffen«, weshalb das Gesetz gegenüber der Natur ohnmächtig sei. Den Menschen werde es nicht gelingen, sich durch Gesetze zu »Selbstherrschern über die Natur« zu machen. Sie werde »unaufhörlich neue Calamitäten« hervorbringen, von Müller »Verzauberungen« genannt. Der Handlungsspielraum des Menschen bestehe nur darin, dass er »den in der Bezauberung befangenen Gegenstand, Krieg, Hunger, Krankheit, wie der alte Ritter die Prinzessin in der Verzauberung, lieb gewinnt«. Der Mensch müsse sich dem Übel »mit Freiheit unterwerfen und, anstatt eines willkürlich schaltenden Schicksals, einen überall durch die Treue, wie durch den Schmerz, hindurch blickenden Gott, ein über Unglück und Glück erhabenes göttliches Gesetz erblicken, glauben und ihm gehorchen!« Dies bedeute, dass der Mensch keinen »polizeilichen Krieg« gegen die Natur führen dürfe, sondern dass es in der ökonomischen Production demnach vorzüglich auf eine Harmonie, auf eine Wechselwirkung zwischen der Natur und dem Menschen ankommt und daß sie nicht etwa – wie unfreundlich die Natur, wie tyrannisch und despotisch ihr Verfahren auch scheinen möge – irgend jemals mit einem bloßen Gegen-Despotismus von Seiten des Menschen beantwortet werden kann.112

Bereits für Baader war der Mensch nicht handelndes Subjekt, sondern Objekt göttlichen Handelns: »Der Mensch ist nicht eigentlich Gesetzgeber, somit nicht selber das gestaltende, bildende und erhaltende Princip der Gesellschaft, sondern er hat sich zum letztern als dem wahrhaft konstitutiven Princip nur als Organ zu verhalten […].«113 Vorausschauendes, planendes Handeln erübrigte sich daher. Stolberg schrieb 1819 über den heiliggesprochenen Vinzenz von Paul: »Immer bereit den Willen Gottes zu erfüllen, machte er selbst keine Plane [!].«114 Angesichts der Cholera warnte Görres zwar 1832 vor »schlaffer Passivität« und rief dazu auf, sich »der Herrschaft über die Naturkräfte« zu bedienen, hielt aber trotzdem »alle jene Anstalten für müssig und unfruchtbar«, die »allein auf eigne Hand, aus irgend einer besondern Machtvollkommenheit heilsam Förderndes und Abwehrendes hervorrufen zu können wähnen«.115 Johann Nepomuk Schneid stellte 1832 seine Geschichte einer fiktiven Hirtenfamilie unter das 111 Müller: Elemente I 356–358. 112 Ders.: Elemente II 60–78. 113 Franz von Baaders Gedanken 18. 114 Stolberg: Leben 4. 115 Görres, Joseph: Kirche, Staat und Cholera. Eine Betrachtung. Frankfurt am Main 1832. In: Ders.: Schriften der Münchner Zeit 406–424, hier 412.

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Motto: »Wo man’s mit Gott hält, da fügt und schickt sich alles gut.«116 Obwohl sich die Familie bei gleichbleibender Armut stetig vergrößerte, machten sie sich keine Zukunftssorgen: Sie vertrauten auf Gott und immer sagten sie zu einander: ›Schickt uns der liebe Gott Kinder, so wird er uns auch das tägliche Brod dafür schicken. Er hat uns einmal in diesen Stand gesetzt, er wird uns also auch schon forthelfen und uns die Gnade der Gesundheit und Kraft zur Arbeit geben, wenn wir ihn nur täglich im Gebethe darum bitten.‹117

Die Krankheit der Mutter belastete zwar die Familie, »aber weil sie recht gottesfürchtige Leute waren, so ließen sie sich doch von dieser schweren Heimsuchung Gottes nichts weniger als niederschlagen, sondern stellten die Krankheit der Mutter dem lieben Gott heim«.118 Denn »der liebe Gott hat uns das Nothwendigste verschafft, er wird es also gewiß auch noch in der Zukunft thun«.119 Die Menschen, so Gaume 1845, seien »untergeordnete und oft blinde Agenten der Vorsehung«, der Mensch »bewegt sich, und Gott führt ihn«.120 Nach Ansicht des Katholik aus dem Jahr 1851 sei es vergebens, »die künftigen Ereignisse erforschen wollen, eitel ist es, viel um schreckende oder tröstende Weissagungen sich kümmern, eitel ist, auf außerordentliche Katastrophen hoffen, eitel, auf Menschenhülfe vertrauen«.121 Senestrey gab anlässlich der Vollendung der Regensburger Domtürme in einem Hirtenbrief am 2. Februar 1859 zu bedenken, daß Wir, nach bloß irdischer und gewöhnlicher Weise rechnend, niemals den Bau wagen dürfen; denn die vorhandenen Mittel sind so viel wie keine im Vergleiche zu dem Bedarf. Aber Wir rechnen auch nicht so. Wie nicht ein irdischer Zweck, sondern Gottes Ehre, wie nicht irdische Beweggründe, sondern der unschwer erkennbare Wink der Vorsehung zu dem Baue Uns bewog, so rechnen Wir, was die Mittel betrifft, auf dieselbe Vorsehung und auf euren Eifer für die Ehre Gottes. Und diese Quelle, das wissen Wir, ist reich und gewissermaßen unerschöpflich.122

Als sich Bandorf 1860 Gedanken über den Weltuntergang machte, gab er dem Menschen zu bedenken, »daß er nie in das Rad, nie in das Getriebe der ewigen Weltordnung einzugreifen vermag: wenn er weiß, daß er hier nicht Einhalt und dort nicht Abänderung gebieten kann«.123 116 Schneid: Hirtenfamilie III. 117 Ebd. 22. 118 Ebd. 23. 119 Ebd. 33. 120 Gaume: Blick 197 f. 121 Betrachtungen über die Gegenwart. In: Der Katholik 4 (1851) 72–84 und 183–191, hier 191. 122 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1859 (2.2.1859). 123 Bandorf: Umgestaltung 367.

80  Strukturen der Kontingenz Der Mensch müsse, so Albert Stöckl 1861, den Vorsehungswillen Gottes an sich in Erfüllung gehen lassen, d. h. er muß sich der vorsehenden Leitung Gottes unterwerfen, Alles, was ihm im Verlaufe seines Leben Günstiges oder Widriges begegnet, willig von Gottes Hand annehmen, und überhaupt in Allem der leitenden Vorsehung Gottes sich überlassen.

Dies bedeute nicht »auf alle eigene Thätigkeit« zu verzichten, »im Gegentheil ist er überall zu eigener That verpflichtet; nur muß er nicht blos diese Thätigkeit selbst unter die leitende Hand der göttlichen Vorsehung stellen, sondern auch den Erfolg oder Nichterfolg derselben dem göttlichen Wohlgefallen anheimstellen.«124 Damit übereinstimmend betont eine Grabredensammlung von 1881: Man hofft auf Geld, auf Macht, eigene Weisheit, auf sein Glück, seinen Stern, d. h. den blinden Zufall, auf Menschen, selbst hilflose Geschöpfe. Wenn all das nicht hilft, will man mit Sünden Rettung gewinnen. Man lügt, man betrügt. Der in Geldnot ist, setzt in Lotterien, Hazardspiele, geht zu Wahrsagern, und das Ende ist oft Selbstmord. Andere hoffen auf Festungen, Kanonen, große Kriegsheere, erfahrene vom Glück begünstigte Heerführer. Aber es ist kein Rat, keine Weisheit und Macht gegen Gott.125

Armut und Reichtum erscheinen dann als »Fügung des Schicksals oder vielmehr der Vorsehung; denn ihr Walten erkennt der Christ an, bei und in dem unbedeutendsten Vorfalle. Es kommt darauf an, wie sie sich in diesem ihrem Lose betragen haben, das kommt auf ihre Rechnung, es ist ihre eigene That.«126 Auch Martin wies darauf hin, dass sich der menschliche Handlungsspielraum angesichts Gottes als des Vollkommenen verringere. Er machte deutlich, dass sich selbst die Pflicht zur Erhaltung des eigenen Lebens der Pflicht zur Anbetung Gottes unterordnen müsse. Es dürfe »keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß ich eher mein Leben aufopfern müßte, als Gott zu beleidigen«.127 Das reaktive Leiden besaß angesichts Gottes Heilsrelevanz, das proaktive, agonale Handeln war angesichts Gottes vergeblich.128 Nach Ansicht des erzbischöflichen Ordinariats von München und Freising von 1831 lag es »im Wesen des Christenthums«, »alle zeitl. Übel als Strafen unserer Verfehlungen anzusehen und daher dieselben demüthig zu ertragen«.129 Unter dem Lemma »Drangsale« hieß es im »Geistlichen Conversations-Lexicon« 1839: 124 Stöckl: Opfer 25 f. 125 Grabreden 142 f. 126 Ebd. 378. 127 Martin: Pfingstzeit 113 f. 128 Ein Beispiel dafür ist die Wahrnehmung von Sturmfluten in der Frühen Neuzeit. Brachen die Deiche, so handelte es sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen um eine von Gott gesandte Sturmflut. Vgl. Allemeyer: Sicherheit 351–366. 129 Schreiben des Erzbischöflichen Ordinariats München und Freising an das Ordinariat Regensburg vom 16.9.1831. BZAR , OA-Gen 3686. So auch Krönes: Real-Lexicon IX 103–118.

Gefährlicher Gott  81

Kommt aber eine schwere Krankheit, ein bitterer Verlust, ein sogenanntes großes Unglück über sie, dann unterscheiden sich die Auserwählten von den Verworfenen. Denn diese beißen gleich dem Hunde in den Stein, mit welchem er beworfen wird; schütteln gleich gefesselten Sclaven ihre Ketten mit Wuth und ergrimmen wider Gott; jenen dagegen beginnt ein anderes Licht aufzugehen; sie werden nüchtern, kommen zu sich; erkennen, daß sie die Strafe verdienten, und küssen die züchtigende Hand Gottes.130

Das »Leiden«, das Häglsperger 1843 als »göttliches Gnadengeschenk« bezeichnete, einige »das Leben des Menschen mehr mit Gott, als das bloße Handeln«.131 Auch Senestrey forderte zu demütigem Ertragen der Leiden auf, wie er anlässlich der Kriegsgefahr am 24. Mai 1859 deutlich machte: Die Geißel des Krieges ist eine der schwersten Heimsuchungen Gottes für die Völker und unter ihr muß Alles leiden, was zum Volke gehört. Diese Geißel – sie trifft gegenwärtig schon unsere Brüder und sie scheint erhoben, um auch uns zu treffen. Fragen wir nicht, wodurch wir sie verdient haben.132

Martin machte in einer Predigt mit dem Titel »Über den Werth der Leiden« deutlich, dass es keinen Widerstand gegen das von Gott gesandte Leiden geben könne: »Gleich von vornherein will ich euch sagen, daß ihr das Kreuz tragen, die Leiden erdulden müsset; ihr möget wollen oder nicht.«133 Sich gegen Gottes Willen aufzulehnen, war eben vergeblich, wie ein päpstliches Rundschreiben 1903 betonte.134 Andreas Holzem spricht vom Verbot der Klage gegenüber dem Leiden. Dieses Verbot sei konstitutiv für die Möglichkeit der Gewinnung ewigen Heils gewesen. Es habe keine Möglichkeit gegeben, »aufstörend in diesen Leidensdiskurs einzudringen, ohne sich gegen Gott und den Glauben durch Ungeduld und Zweifel zu versündigen«. Diese Einbettung des individuellen Leidens in einen verobjektivierten Sinnzusammenhang wertet er als Entsubjektivierungsstrategie gegen die Individualisierungstenzenden der modernen Gesellschaft und deshalb als Grund für »kognitive Integrationssperren«.135 Agonales Handeln war aber nur angesichts Gottes, im Gnadendispositiv, vergeblich, nicht beim Kampf gegen das Böse, im Exorzismusdispositiv. 130 Silbert: Conversations-Lexicon I 128. 131 Häglsperger: Seelenleiden 23. 132 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1859 (24.5.1859). 133 Martin: Osterzeit 391. 134 Päpstliches Rundschreiben vom 4.10.1903. In: Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1903: »Wie dieser Kampf der Menschen gegen Gott enden werde, weiß jeder, der vernünftig denkt. Es kann zwar der Mensch seine Freiheit mißbrauchen und die Rechte und die Autorität seines Schöpfers verletzen; aber der Sieg ist immer auf seiten Gottes, und desto näher steht die Niederlage bevor, je kühner der Mensch in eitler Siegeshoffnung sich gebärdet.« 135 Holzem: Kriminalisierung 180 f.

82  Strukturen der Kontingenz

4. Riskanter Teufel Für alle Übel, die auf Gott zurückgeführt wurden, konnte auch das personifizierte Böse verantwortlich gemacht werden. Nach Augustin Calmets 1855 in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Über Geistererscheinungen« erschienenen Ausführungen zählten zu den »Erscheinungen des Satans« als Vollstrecker Gottes die »verheerenden Krankheiten, die Kriege, die Stürme, die öffentlichen und besonderen Unglücksfälle, die Gott über Nationen, Provinzen, Städte, Familien verhängt, welchen er die schrecklichen Folgen seines Zornes und seiner gerechten Rache fühlen läßt«.136 Der französische Priester Auguste F. Lecanu, dessen Werk über den Satan 1863 in deutscher Übersetzung erschien, behauptete die »fortwährende Einmischung des Satans in die allgemeinen und besonderen Ereignisse dieser Welt«. Er »wirkt auf den Fortgang oder Wechsel beinahe aller menschlichen Dinge ein«.137 Nach Henses Ausführungen von 1890 waren die Teufel »Geister, denen nichts Körperliches anhaftet und die daher ohne Widerstand alles durchdringen: sie dringen ein in die Sinne, in die Augen, in die Ohren; sie dringen ein in die Einbildungskraft, in das Gedächtniß, in dein sinnliches Begehren«.138 Dem Teufel war es also möglich psychisch und physisch zu wirken.139 Der Teufel, so Bautz 1882, »erweckt unordentliche Vorstellungen in seiner Phantasie, unordentliche Bewegungen im sinnlichen Begehren. Dabei pflegt er darauf auszugehen, unsere Erkenntniß durch Lüge und falsche Vorspiegelungen in Verwirrung zu bringen.«140 Der Teufel sei in der Lage, Licht, Wärme, Feuer, Schall und Elektrizität durch die chemische Verknüpfung von Elementen oder die »Bewegung der Luft« zu erzeugen. Durch »Condensierung des Wasserdampfes erzeugt er Regenwolken«, »durch gewaltigen Impuls in der Luft« Sturmwinde. Er könne die Fortpflanzung beeinflussen, indem er »Samenzellen organischer Wesen an die geeignete Stelle« bringt, damit sich daraus »lebendige Wesen« entwickeln. Er könne durch die Anwendung von Heilmitteln oder »directe Einwirkungen auf den Organismus« Krankheiten heilen. Er bilde »Körper, die menschlichen oder thierischen Leibern nachgebildet sind und gibt ihnen durch mechanische Kraftanwendung die entsprechenden äußeren Qualitäten«. Er lasse diese Körper »plötzlich erscheinen und wieder verschwinden, versetzt sie oder andere Gegenstände durch unsichtbare Gewalt von Ort zu Ort, läßt sie in Wirklichkeit oder

136 Calmet: Geistererscheinungen 37. 137 Lecanu: Geschichte 5. 138 Hense: Versuchungen 24. 139 Schild des Glaubens 29–34; Kleutgen: Glauben 241–244. 140 Bautz: Hölle 137. Vgl. dazu auch Calmet: Geistererscheinungen 365–371.

Riskanter Teufel  83

zum Schein durch andere Körper hindurch gehen u. s. w.«.141 Deshalb sei Besessenheit daran zu erkennen, dass der Besessene übernatürliche physische und psychische Fähigkeiten habe, wie etwa die »Erkenntniß verborgener, entfernter zukünftiger Dinge, fremder Gedanken« und die »Kenntniß von Sprachen und Wissenschaften, die man niemals gelernt hat«. Außerdem könne der Besessene »unerklärliche Töne, Gesänge, Bewegungen von Gegenständen« hervorrufen.142 Foucault benennt den dämonischen Einfluss auf die Seele als Hexerei, den dämonischen Einfluss auf den Körper als Besessenheit. Während die Hexerei einen Pakt aufgrund sexueller Begierde darstelle, erfolge die Besessenheit durch die Invasion des Körpers, die dort auftrete, wo das Christentum »Kontrollmechanismen und individualisierende und obligatorische Diskurse in Funktion setzen will«.143 Was die Hexerei für die Inquisition sei, sei deshalb die Besessenheit für den Beichtstuhl. Deshalb solle man die Besessenheit als Teil einer »politischen Geschichte des Körpers« betrachten.144 Als wesentlicher Bestandteil der menschlichen Natur besaß auch der Körper nach katholischer Auffassung sittlichen Charakter, was sich am Glauben an die Auferstehung des Fleisches am Jüngsten Tag zeige, so der Eschatologe Oswald im Jahr 1868: Der menschliche Leib ist laut der Auferstehungslehre kein gleichgültiges Kleid des Geistes, das er, wenn verbraucht, ablegt, kein todtes Werkzeug, das er, wenn abgenutzt, wegwirft, sondern ein zur ewigen Lebenseinheit mit dem Geiste berufener Wesensbestandtheil der menschlichen Natur […].145

Dass sich Besessenheit körperlich ausdrückte, machte sie zur Krankheit. Tatsächlich war es in der Frühen Neuzeit zu massenhaften Besessenheitsphänomenen gekommen, die die Interpretation als Seuche naheliegen ließen.146 Die Vorstellung, dass die Dämonen in der Luft existierten,147 hatte diese Interpretation begünstigt. Vorschriften zur Durchführung von Exorzismen hatten deshalb die Beiziehung eines Arztes gefordert.148 Wenn die Diagnose auf Besessenheit lautete, waren Medikamente gereicht worden, da diese als dämonisch verursachte 141 Bautz: Hölle 141. 142 Ebd. 142 f. 143 Foucault: Anormalen 266–270.  – Bis ins 19.  Jahrhundert hinein wurde neben einer moralischen eine körperliche Prädisposition für Besessenheit angenommen. Vgl. Rodewyk: Besessenheit 126 f. 144 Foucault: Anormalen 277 f. 145 Oswald: Eschatologie 321–324. 146 Oesterreich: Besessenheit 182–185. 147 Bacher: Waffen 18: »Viele schweben in der Luft; viele wohnen in Wässern, in Sümpfen, in Wäldern und Feldern, in Wüsten und Einöden, in Häusern, in den Menschen, ja sogar in den Kirchen.« 148 Eine kurfürstlich-bayerische Verordnung vom 29.3.1802 erlaubte Exorzismen nur mehr nach vorherigem Gutachten eines Arztes über den »Krankheits-Zustand des Exorcisirenden« (Kurfürstliche Verordnung vom 29.3.1802. AEMF, S 380).

84  Strukturen der Kontingenz körperliche Krankheit wahrgenommen wurde.149 Die Melancholie etwa war in der Humoralpathologie als Überschuss an schwarzer Galle interpretiert worden, was die Abwehrkräfte gegen Dämonen schwäche und deshalb zur Besessenheit disponiere. Zu ihrer Bekämpfung wurden die von der Diätetik angeordneten Mittel verschrieben.150 Görres sprach in seiner zwischen 1836 und 1842 veröffentlichten Mystik, einer mit fanatischem Eifer unternommenen Sammlung dämonologischer Quellen,151 von »dämonischer Ansteckung«152 und meinte dies durchaus physisch: Nun aber gibt es zwei Weisen, in denen dieser Rapport der Leiblichkeit mit dem physisch Bösen sich bilden kann. Einmal, wenn der engere Bezug von dem letzteren ausgehend durch Eingreifen in die Erste begründet wird. Die Natur wirkt in diesem Falle contagiös; das Übel, das sie ausgebrütet, durch Ansteckung in das gesunde Leben übertragend und dieses in den Kreis desselben ziehend, wie es sich bei Seuchen und Epidemien zeigt.153

Der Dämon könne nach Görres »eingegessen werden oder eingetrunken, oder auch eingeathmet und die der Verrichtung angehörigen Nerven, die Eingeweide und Lungengeflechte haben alsdann die Zuleitung gebildet«.154 Über das Nervensystem krieche die Besessenheit ins Lungensystem, das vor allen andern mit dem Verdauungssystem in nächster Sympathie verbunden ist. Sie wird dann auch dies System und die damit zunächst verbundenen Organe ergreifen und alle, von der dem einwohnenden Leben fremden Macht gebunden, werden durch sie aus dem Rhythmus der ihnen eigenthümlichen Verrichtungen und Bewegungen herausgetrieben […].155

Besessenheit werde theils durch die Verzerrung des Organes, theils die Störung aller seiner Funktionen und ihre Übertreibung sich verrathen. Der nächste Ausdruck solcher Übertreibung aber sind Krämpfe und Convulsionen, in denen das aus seinem Gleichgewichte herausgedrängte System nach dem Verlorenen ringt oder auch mit blinden Kräften nach bösen Zwecken strebt.156 149 Watzka: Hospital 16 f. 150 Schott / Tölle: Geschichte 328 f. und 402–418. 151 Zur Mystik von Görres, deren Indizierung der bayerische König Ludwig I. (1786–1868) verhindern konnte und die wegen ihrer Kompliziertheit kaum auf Resonanz stieß, vgl. Bürke: Mythos; Fink-Lang: Görres 256–261; Wacker: Revolution 148–178; Weiß: Ort; Zahn: Einführung. Als Sammlung von dämonologischen Quellen ist sie jedoch von großem Wert. 152 Görres: Mystik IV 66. 153 Ders.: Mystik II 500 f. 154 Ders.: Mystik IV 205. 155 Ebd. 217 f. 156 Ebd. 165.

Riskanter Teufel  85

Die Besessenheit war für Görres eine »acute dämonische Krankheit, die ihre Stadien durchläuft, ihre Krisen macht und dann nach einem bestimmten Zeitverlaufe endet.«157 Deshalb stünden schmutzige Orte »in einem bestimmten Rapporte mit dämonischen Mächten«, es sei »die leibliche Unreine, an der die Besessenheit haftet«: »Alles, was in der Mischung des Leibes aus dem scharf gemessenen Maße weicht, was als Unflath sich vom Besseren sondert, was durch Auflösung und Fäulniß die entwichene Harmonie andeutet, das wird auch als bergende Hülle dem Bösen dienen.«158 Deshalb empfahl er als Mittel gegen Besessenheit die Anwendung von Abführmitteln.159 Die Vorstellung von Besessenheit als dämonisch verursachter und sich körperlich manifestierender Krankheit zeigte sich auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch für Lecanu zeigte die Besessenheit 1863 den Verlauf einer Krankheit.160 Besessenheit konnte deshalb einen epidemischen Verlauf annehmen: Von Alters her – und vielleicht zu allen Zeitperioden – zieht sich über Europa nach Art der Epidemien ein Hang zum Dämonischen hin und theilt sich durch Ansteckung jenen Orten mit, wo der erste Keim seine Wurzeln zu schlagen im Stande war. Wir zweifeln nicht, daß diese Krankheit in ihrem Ursprung ganz natürlich ist, wie andere z. B. die Cholera oder die Pest, die isolirt oder in Masse verheerend wirken; aber sie hat das Eigene, daß sie dem Dämon den Zutritt öffnet […].161

Durch die Erbsünde kennzeichne den Menschen, so Schneider 1882, eine »krankhafte Disposition« zum Bösen, weshalb es vorkomme, dass ein Mensch ohne Verschulden »durch das dämonische Contagium inficirt« werde.162 Für Gutberlet war es 1882 »schwer, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen offener Besessenheit, bloßer Infestation von Seiten des Teufels und rein natürlichen krankhaften Zuständen, häufig ganz unmöglich«.163 Der Franziskaner Ignatius Jeiler (1823– 1904) äußerte in der zweiten Auflage von Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon 1883 zwar die Ansicht, dass »natürliche Mittel gegen die bösen Geister nicht genügen«,164 es könnten aber, »da in der Regel auch der Körper krank ist, Diät und medicinelle Behandlung indirect zur Heilung dienlich, da erforderlich sein«.165

157 Ebd. 103. 158 Ebd. 202. 159 Ebd. 383. 160 Lecanu: Geschichte 10. 161 Ebd. 312. 162 Schneider: Geisterglaube 46–49. 163 Gutberlet: Spiritismus 80. 164 Jeiler: Besessene 522. 165 Ebd. 525.

86  Strukturen der Kontingenz Pruner behauptete 1901, dass jede Krankheit von »dämo­nischen Einflüssen beursacht« sein könne, nicht nur diejenigen »außerordentlicher Art«.166 Der dämonologische und der moraltheologische Diskurs identifizierten Krankheit und Sünde im gesamten 19. Jahrhundert entsprechend der katholischen Erbsündenlehre, wonach die Krankheit durch die erste Sünde in die Welt gekommen sei.167 Tod, Sünde und Teufel befänden sich gemeinsam »unter der Hülle eines natürlichen Miasmas«, so Görres in seiner Mystik.168 Für die katholischen Ärzte Karl Joseph Windischmann und Johann Nepomuk von Ringseis (1785–1880) wurzelte deshalb jede Krankheit in der Sünde.169 Deshalb setzte Windischmann das Altarsakrament als physisches Heilmittel ein und wandte den Exorzismus bei somatischen Beschwerden an.170 Andererseits waren Priester noch am Ende des 19. Jahrhunderts medizinisch tätig.171 Es entstand das Genre der so genannten Pastoralmedizinen, die die Priester zu ihrer medizinischen Tätigkeit befähigen sollten. Diese Texte wurden meist von Ärzten verfasst, aber auch von Priestern und sie waren das gesamte 19.  Jahrhundert über auf dem Markt.172 Dabei ist dies nur eine religiöse Ausprägung der antiken diätetischen Tradition, die keinen Gegensatz zwischen Medizin und Religion bzw. Moral kannte, die andere ist die bürgerliche Vorstellung der Identität von moralischer und körperlicher Gesundheit, von innerer und äußerer Reinheit. Deshalb war Sauberkeit 166 Pruner: Pastoraltheologie II 276. 167 Silbert: Conversations-Lexicon I 417 f.: »Krankheiten sind eine natürliche Folge des durch die Ursünde geschwächten und zum Tode verurtheilten menschlichen Körpers; ja, sie sind ein Anfang dieses Todes. Diese Krankheiten lagen in dem zweiten Plane des weisen und gütigen Schöpfers, der selbst aus dem Bösen Gutes und aus Trübsalen Belohnungen für seine getreuen Geschöpfe erzielt. Denn die Absicht seiner Güte war, den Menschen dadurch väterlich in der Zeit zu bestrafen, zu bessern, und zu heiligen.« Vgl. dazu Siebenthal: Krankheit; Labisch: Homo Hygienicus 43; Mesmer: Gesundheit 123 f. 168 Görres: Mystik II XII. 169 Vgl. Treiber: Lebensweg 300 f. 170 Vgl. Weber: Aufklärung 46–51. 171 In den 1870er Jahren häuften sich im Rheinland Klagen von Ärzten über Geistliche, die auch medizinische tätig waren. Vgl. Freytag: Aberglauben 225 f. 172 Vgl. Pompey: Bedeutung. Beispiele für derartige Pastoralmedizinen sind: Britzger: Handbuch; Capellmann: Pastoralmedizin; Marx: Pastoral-Medizin; Olfers: Pastoralmedizin; Stöhr: Handbuch. – Schanderl: Leichenschauscheine 566: »Des Geistlichen vorausgegangene naturwissenschaftliche Studien, seine infolge seiner allgemeinen Bildung unvergleichlich höhere Kombinationsgabe, die ihn befähigt, vorliegende Krankheitserscheinungen mit früheren bei andern Personen ärztlich diagnostizierten Krankheitserscheinungen zu vergleichen, seine sonstigen diesbezüglichen empirischen Kenntnisse ermöglichen ihm in ungleich höherem Grade als allen anderen nichtärztlichen Personen, eine richtige Diagnose zu stellen, da er ja oft am Krankenbette geweilt, sich teilnahmsvoll um die einzelnen Krankheitserscheinungen erkundigt und den Klagen des Kranken ein aufmerksames Ohr geliehen und so durch alle Stadien der Krankheit hindurch ein immer richtigeres Bild der Krankheit sich verschafft hat, während der Leichenschauer innerhalb der Krankheitszeit vielleicht nie den Kranken gesehen hat.«

Riskanter Teufel  87

im 18. Jahrhundert nicht aus naturwissenschaftlichen, sondern aus moralischen Gründen empfohlen worden. Sauberkeit wurde dadurch zur Demonstration von bürgerlicher Überlegenheit. Krankheit wurde demnach als individuelles Versagen gewertet.173 Und nach der Vorstellung des Oberschneidinger Mystikers Häglsperger aus dem Jahr 1823 stellte eben die Sünde ein individuelles Versagen dar, als er den diätetischen Zusammenhang von reinlicher Kleidung, sauberer Wohnung und reinem Herzen herstellte.174 Es ging also sowohl dem katholischen als auch dem bürgerlichen Diätetikdiskurs um Moralität, wobei der katholische seine Handlungsoptionen eben aus seinen dämonologischen Wurzeln zog. Ganz deutlich wird dies, wenn man die Warnung des exorzierenden Priesters von 1828 vor der »dämonischen Unreinigkeit« der Gänse in Relation zu einer Pastoralmedizin von 1853 setzt, die vom Verzehr von Gänsefleisch als schwer verdaulich abriet.175 Dabei galt Fasten als diätetischer Ratschlag ohnehin nie nur als körper­liches, sondern auch als seelisches Heilmittel.176 Franz Walter rief 1905 zur Körperpflege auf, indem er deren ethischen Wert behauptete.177 Reinheit und Mäßigung seien »Grundsäulen« der Hygiene ebenso wie der Moral. In der Hochschätzung der Mäßigung »begegnen sich christliche Ethik und Hygiene«.178 Dabei machte er deutlich, dass die Körperpflege ein Teil des Exorzismusdispositivs war, nicht jedoch des Gnadendispositivs: »Die Sorge für das Seelenheil ließ naturgemäß die Pflege des Leibes mehr zurücktreten und in Gemäßheit der Worte Christi: Sorget nicht, was ihr essen, noch womit ihr euch bekleiden werdet, die biblisch gelehrte und von der Kirche stets betonte Pflicht der Abtötung des Leibes, der Selbstverleugnung, der Übung der Demut, der Bekämpfung der Eitelkeit usw. bisweilen einseitig ins Auge fassen.«179

Jedenfalls machte die Kongruenz von Sünde und Krankheit die Besessenheit zu einem ubiquitären Phänomen,180 dessen Symbol die dämonomanische Erklärung auch leichter Verstopfungen durch Görres zwar ist,181 das sich darin aber 173 Vgl. dazu Döcker: Ordnung 85–109; Labisch: Hygiene; Metz: Geschichte 198. 174 Häglsperger: Zollbrucker 85. 175 Gesundheitskunde 23. 176 Silbert: Conversations-Lexicon I 185 f. 177 Walter: Leib 6. 178 Ebd. 38. 179 Ebd. 16. 180 Aufgrund der Annahme von der moralischen Schwäche der Frauen ist es nur konsequent, dass sich dieser ubiquitäre Charakter der Besessenheit darin äußert, dass vor allem Frauen für teuflische Einflüsse empfänglich waren. Vgl. Roper: Ödipus 199 f. Besessenheit kann jedoch keinesfalls als rein weibliches Phänomen betrachtet werden, es gab auch eine erhebliche Anzahl besessener Männer Vgl. Waardt: Besessenheit 10. Eine geschlechtergeschichtliche Betrachtung der Besessenheit stellt deshalb nicht die einzige Perspektive auf das Phänomen Besessenheit dar. 181 Görres: Mystik IV 202

88  Strukturen der Kontingenz nicht erschöpft. Die Annahme, mit diätetischen Mitteln das Böse bekämpfen zu können, ist von grundlegender religionsgeschichtlicher Bedeutung. Schmutz ist nach Mary Douglas das »Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens«. Reinheit bezieht sich deshalb auf die Unterscheidung von Ordnung und Unordnung. Schmutz ist dann die »Residualkategorie«, die »aus unserem normalen Klassifikationsschema herausfällt«.182 Reinheitsvorschriften entstehen dort, wo die Trennlinie gefährdet ist.183 Dabei entsteht Reinheit durch Aussondern. Reinheit ist deshalb reduziert und steril. Sie ist, so Douglas, »hart und tot wie Stein«, Reinheit sei »der Feind aller Veränderungen, Mehrdeutigkeiten und Kompromisse«. Die Charakterisierung des Teufels als schmutzig ist vor diesem Hintergrund vielsagend. Denn Schmutz ist ein Symbol, das »kreative Formlosigkeit« ausdrücken kann.184 Das Böse erforderte Handeln und Innovation, das Gute nicht. Das Göttliche verringerte den menschlichen Handlungsspielraum, das Dämonische erweiterte ihn. Luhmann betont ebenfalls die Handlungen ermöglichende Funktion des Teufels.185 Bereits Hirscher war sich bewusst gewesen, dass der menschliche Handlungsspielraum angesichts des Bösen weiter war als angesichts des Guten.186 Der Kulturhistoriker Hans de Waardt stellt fest, dass es geradezu ein Charakteristikum von Besessenheit sei, »daß sie eine Ausdrucksmöglichkeit für Probleme bot, die ansonsten in ihrer Zeit nicht diskutierbar gewesen wären«.187 Ein Merkmal von Besessenheit ist nach Waardt die Überschreitung der Grenzen gewohnter menschlicher Handlungsmöglichkeiten.188 182 Douglas: Reinheit 53. 183 Ebd. 182. 184 Ebd. 209 f. 185 Luhmann: Aufklärung 147: »In einer Gesellschaft, die noch Zukunft hat, ist weder Legitimität noch Sicherheit noch Objektivität erreichbar. Es gibt, weil es Zukunft gibt, immer auch Positionen, von denen aus Handeln kritisch beobachtet und allen guten Argumenten getrotzt werden kann. In der alteuropäischen Tradition war dies mit der Figur des Teufels symbolisiert und als Freiheit zum Bösen aufgefaßt worden. Die moderne Gesellschaft hat zumindest die Möglichkeit, darüber anders zu urteilen.« – Wenn Holzem: Christentum 1004 im 19. Jahrhundert »trotz aller Repristinisationen in der religiösen Massenliteratur« eine »Marginalisierung des Teufels« feststellen wollte, dann deshalb, weil er die damalige katholische Dämonologie nicht ernst nimmt und betont, dass es beim kirchlichen Postulat der Heilsunsicherheit nicht um den Teufel, sondern um Gott gehe. Das ist theologisch richtig. In kulturgeschichtlicher Hinsicht ist diese Perspektive aber nicht in der Lage, die spezifische dispositive Funktion des im 19. Jahrhundert in der Tat weit verbreiteten dämonologischen Diskurses (vgl. dazu Kapitel IV.18) zu erkennen. 186 Vgl. dazu Tillmann: Lehre 57 f. 187 Waardt: Besessenheit 16. 188 Hans de Waardt ist der Ansicht, dass solche Handlungen als Zeichen dämonischer Besessenheit interpretiert wurden, die »die Grenzen der physischen, mentalen oder soziokulturellen Kapazität einer bestimmten Person überschreiten«. Vgl. Waardt: Besessenheit 11. Und Roper: Ödipus 200 interpretiert Besessenheit als »Durchbrechen normalen weiblichen Verhaltens«.

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Die Medizinhistorikerin Cécile Ernst behauptet in ihrer Geschichte frühneuzeitlicher Teufelsaustreibungen, dass Besessenheit für Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen, als Mittel diente, ihre soziale Position zu verbessern, auszubrechen aus tradierten Strukturen, wenigstens für einen begrenzten Zeitraum Aufmerksamkeit zu erhalten. Sie konnten politischen und religiösen Einfluss gewinnen.189 Dass Besessenheit in der Frühen Neuzeit jedenfalls ein Mittel war, sich selbst als handelndes Subjekt wahrzunehmen, zeigt sich auch daran, dass Besessene zunehmend ihre Erfahrungen niederschrieben.190 In diesem Zusammenhang ist auch die epidemische Besessenheit in dem spanischen Dorf Tosos während der Wirren im Übergang zwischen napoleonischer und bourbonischer Herrschaft zwischen 1812 und 1814 von Interesse. Die Proklamation der Volkssouveränität durch die Verfassung von 1812 spiegelte sich in der Ablehnung jeglicher Autorität durch die Besessenen von Tosos.191 Der Zusammenhang zwischen Besessenheit und der Überschreitung gewohnter menschlicher Handlungsmöglichkeiten erklärt, warum Besessenheit weniger ein mittelalterliches, denn ein neuzeitliches Phänomen darstellt.192 Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert kam es zu einer Konjunktur der Besessenheit, so dass diese nach Ansicht des Historikers David Lederer, der sie am bayerischen Beispiel untersucht, zum »Bestandteil der Alltags-, wenn nicht der alltäglichen Kultur« wurde.193 Dabei wird die Konjunktur von Besessenheit und Exorzismus im 16. und 17. Jahrhundert mit der Konfessionalisierung erklärt. Denn während die protestantische Theologie Besessenheit zwar kannte, Exorzismen aber aus soteriologischen Gründen ablehnte, ermöglichte die katholische Gnadentheologie den Exorzismus, der deshalb zu einem apologetischen Instrument wurde, weshalb es zur Expansion exorzistischer Praktiken kam.194 Auch Lyndal Roper erklärt die Konjunktur des Exorzismus damit, dass er sich als apologetisches Mittel in der konfessionellen Auseinandersetzung eignete. Denn er stand wegen der protestantischen Entkoppelung von Körperlichem und Geistigem nur mehr der katholischen Theologie zur Verfügung.195 Während die protestantische Recht­fertigungslehre also einen unüberwindlichen Teufel schuf, dem gegenüber 189 Ernst: Teufelaustreibungen 17 und 125 f. Eine gleiche, die individuelle Position aktivierende Bedeutung gesteht Beck: Mäuselmacher 468 f. der Rede vom Teufel anlässlich von Verhören in frühneuzeitlichen Hexenprozessen zu. 190 Rodewyk: Beurteilung 475. 191 Vgl. Tausiet: Possessed. 192 Vgl. dazu Lederer: Lizenz 213 f. Während die Kirchenväter und die Scholastiker der Besessenheit kaum Aufmerksamkeit widmen, wurde die erste Monographie über Besessenheit von einem rheinischen Jesuiten im 16. Jahrhundert verfasst. Vgl. Rodewyk: Beurteilung 472–474. 193 Lederer: Lizenz 214. 194 Vgl. Ernst: Teufelaustreibungen 126; Rodewyk: Beurteilung 466 und 476 f.; Waardt: Besessenheit 13 f. 195 Vgl. Roper: Ödipus 173–203.

90  Strukturen der Kontingenz der Protestant »hilflos« war, wie der Religionshistoriker Robert W. Scribner betont,196 konnte sich der Katholik gegen den Teufel wehren. Deshalb kann die Konjunktur des katholischen Exorzismus auch in dem Sinne als Phänomen der Konfessionalisierung betrachtet werden, als es eine spezifisch katholische Interpretation der zunehmenden Subjektwerdung des Menschen darstellt.197 Gegen den unberechenbaren Gott war es unerlaubt und nutzlos sich zu wehren. Das Gnadendispositiv erlaubte nur reaktives Erdulden. Schob sich der Teufel zwischen Gott und die Menschen, wurde proaktives Handeln möglich. Für eine derartige Interpretation spricht letztlich auch, dass Besessenheit und Exorzismus nach dem 17. Jahrhundert keineswegs verschwanden, sondern aufgrund der zunehmenden Skepsis geistlicher und weltlicher katholischer Eliten aufgrund der Aufklärung nur aus der Öffentlichkeit verschwanden und für die Unterschichten mit ihren vergleichsweise beschränkten Handlungsmöglichkeiten von Bedeutung blieben.198 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ablehnung von individueller Besessenheit und Exorzismus durch katholische Eliten nicht automatisch eine Ablehnung der innerweltlichen Wirksamkeit des Teufels an sich bedeutete. Wenn Revolutionen von katholischen Autoren im 19. Jahrhundert als dämonisch wahrgenommen und interpretiert wurden,199 dann initialisierte 196 Scribner: Magie 362 f. Vgl. dazu auch Delumeau: Angst 375. 197 Auf den Zusammenhang zwischen Besessenheit und der Frage des Subjekts verweist auch Certeau: Geschichte 197. 198 Vgl. Lederer: Lizenz 213 f. Vgl. dazu auch Beck: Mäuselmacher 439–448, der im Verlauf der Frühen Neuzeit allenfalls einen Rückgang öffentlicher Exorzismen feststellen will, nicht jedoch einen solchen von Exorzismen an sich. 199 Vgl. Baumgartner: Seelsorge 512 f. Die dämonologische Interpretation der Französischen Revolution sei nach Schneider: Katholiken 95–107 bei deutschsprachigen katholischen Autoren im Unterschied zu ihren französischen Kollegen kaum vertreten gewesen. Beispiele für dämonologische Interpretationen der Französischen Revolution durch deutschsprachige katholische Autoren lassen sich indes durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch finden: Joseph von Eichendorff (1788–1857) und Clemens Brentano (vgl. Frühwald: Spätwerk 179); Carl Ludwig von Haller (Haller: Satan 111: »Die Revolution oder der Zeitgeist zeichnet sich ferner gerade durch alle diejenigen Leidenschaften aus, die nicht einmal durch menschliche Gebrechlichkeit oder durch den Hang nach sinnlichen Gütern und Vergnügungen entschuldigt werden können, sondern einen wahrhaft satanischen Charakter haben, und zu allen Zeiten, von allen Völkern, dem bösen Feinde, dem Widersacher alles Guten, zugeschrieben wurden.«); Franz von Baader (Baader: Revolution 19); Karl Joseph Windischmann (Windischmann: Gericht 211 f.); Joseph Görres (Teutschland und die Revolution. Koblenz 1819. In: Ders.: Politische Schriften 35–143, hier 99; zur dämonologischen Revolutionstheorie von Görres vgl. Wacker: Revolution 132 f.); Friedrich Schlegel (Schlegel: Signatur 487 f.); Adam Müller (vgl. Camiani: diavolo 485–519), Franz Seraph Häglsperger (Häglsperger: Curatklerus 16); Historisch-politische Blätter 19 (1847) 79 f. (»Selbst noch weiter hinauf, vor Anfang unserer Zeitrechnung, steht ein hieher zu rechnendes, gewaltiges und inhaltschweres Factum, bei welchem freilich die Forschung stehen bleiben muß. Wir meinen die Insurrection eines Theiles der himmlischen Heerschaaren gegen Den, der da war, und ist und seyn wird. Das sind die Antecedenzen der kirchlichen wie der politischen Revolution.«); Historisch-politische Blätter 36 (1855) 800–805; Beobachtungen über religiöse Zustände in Tyrol. In: Der Katholik 1 (1859) 490–502, hier 496;

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dies Handlungsmöglichkeiten, welche die bei protestantischen Autoren dominierende Interpretation der Revolution als Strafe Gottes verbot.200 Dabei lässt sich die handlungsermöglichende Bedeutung des Bösen auch an der Kulturgeschichte der Medizin bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein verfolgen. Besessenheit war im Unterschied zu Krankheiten, die nicht dämonischen Ursprungs waren, auf jeden Fall therapierbar. Geisteskranke wurden nur dann (exorzistisch) therapiert, wenn sie als besessen galten, und wenn nicht, wurden sie ihrem Schicksal überlassen.201 Andererseits wurde die Wirksamkeit von (medizinischen) Therapien angesichts ihrer geringen Erfolgsaussichten bis ins 19. Jahrhundert hinein als an die göttliche Zustimmung gebunden wahrgenommen. Denn bereits die Krankheit an sich galt als von Gott geschickt, weshalb man sich nicht gegen sie wehren durfte.202 Nun erklärt sich auch, warum der Priester in dem niederbayerischen Besessenheitsfall von 1828 von teuflischer Besessenheit auf göttliche Begnadung umstellte. Es war das Scheitern der Heilung, die diese Umstellung bewirkte. Es war im Gegenteil die Erschöpfung aller zur Verfügung stehenden diätetischen und geistlichen Therapiemethoden, die die Umstellung bewirkte. Der therapeutische Handlungsspielraum hatte sich geschlossen, es musste Gott am Werk sein. Der Wechsel zwischen proaktiver Therapierbarkeit des Bösen und fatalistischer Erduldung des Göttlichen ist geradezu ein Merkmal von Exorzismusberichten. Ein 1848 an einer Nonne durchgeführter Exorzismus in der Schweiz zeigt den gleichen Verlauf wie in Niederbayern.203 Bereits der berühmte Fall der Besessenheitsepidemie im Ursulinenkloster der französischen Stadt Loudun im 17.  Jahrhundert hatte diese Dichotomie aufgewiesen. Die besessene Oberin war von einer inneren Stimme aufgefordert worden, mit den Dämonen zu kämpfen: »aber ich will auch, dass du mit deinem Geiste ringest«, »tummele dich im Kampf und weich nicht zurück«. Sie war einer ständigen Abfolge von Bußübungen und Exorzismen unterworfen worden.204 Sie hatte sich dadurch als handelndes Subjekt wahrgenommen: »Durch diese Praktik der Abtötung gewährte mir Unser Herr große Macht über mich selber.«205 Ihr Beichtvater hatte es ohnehin abgelehnt, den »Teufel als Ursache meiner Störung« anzusehen und hatte sie und ihre Sünden dafür verantwortlich machen wolAnton Westermayer (Westermayer: Bauernpredigten I/I 205); Heinrich Denifle (Denifle: Kirche 15); Paul Haffner (Haffner: Bacillen 14). 200 Der Historiker Horst Carl stellte fest, dass die Wahrnehmung der Französischen Revolution als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen nur die leidende Hinnahme ermöglichte. Es war die darauf folgende apokalyptische Deutung, welche den Kampf gegen die dämonisierten Anhänger der Französischen Revolution ermöglichte. Vgl. Carl: Strafe 279–295. Vgl. dazu auch Blessing: Kirchen; Planert: Mythos 507–523; Schneider: Finger 39–45. 201 Ernst: Teufelaustreibungen 126. 202 Jütte: Krankheit 133 f. und 186. 203 Wyrsch: Exorzismus 339 f. 204 Sœur Jeanne. Memoiren einer Besessenen 139 f. Zu dem Fall vgl. Certeau: possession. 205 Sœur Jeanne. Memoiren einer Besessenen 141.

92  Strukturen der Kontingenz len.206 Dabei hatte sie ihrem Beichtvater von einer offenbar unter dem TouretteSyndrom leidenden, als besessen wahrgenommenen Freundin berichtet, bei der die Exorzismen und Bußübungen nicht erfolgreich gewesen waren. An einem Fronleichnamstag hatte diese dann eine Stimme gehört, die ihr zu Passivität riet: »Laß ab von der Gewaltsamkeit, die du dir antust; sie ist nicht von Gehorsam begleitet; befleißige dich lieber der Anschauung Gottes, der nicht zu bekämpfen ist; seine Gnade muß dir genügen […].«207 Dabei war das Exorzismusdispositiv keineswegs auf den Klerus beschränkt. Das Böse existierte nach Aussage eines Freiburger Priesters in einer dämonologischen Schrift aus dem Jahr 1846 deshalb, daß der Mensch, ungeachtet er zum Bösen gereizt wird, doch nicht der Reizung folgen, sondern dagegen kämpfen und, indem ihm Gott seine Freiheit ohne Zwang läßt, mit freiem und gutem Willen das Böse hassen, dem Guten nachjagen und seine Glück­ seligkeit durch freie Auswahl erreichen soll.208

Dazu aber brauche es den Teufel: Freilich werden wir von uns selbst und von unserer Begierlichkeit versucht, aber der Satan erwecket die Begierlichkeit des Fleisches und der Welt oder die bösen Grundsätze und Beispiele der Gottlosen und vermehrt ihre Versuchung, so daß wir nicht nur wider Fleisch und Blut, sondern auch wider die bösen Geister in der Luft zu kämpfen haben.209

Während die Kirche im Exorzismus eine »besondere« Gewalt über den Teufel besitze, habe der Mensch durch Christus eine »allgemeine« bekommen, so Benger in seiner 1862 erschienenen Pastoraltheologie: Christus hat uns von der Herrschaft des Teufels befreit und Gewalt über die Teufel gegeben nicht nur seinen Jüngern, sondern Allen, die an ihn glauben. Die Dämonen sind der Gewalt der Christen unterworfen. Jeder Gläubige hat, selbst zur Zeit des Antichristes, die Macht, sich selbst und Andere gegen die Anfälle des bösen Feindes zu schützen.210

Nur wenn Gott selbst eingriff, wurde der Erfolg wieder unberechenbar.211 Übereinstimmend damit äußerte sich auch Lecanu 1863. Wenn die Besessenheit als Prüfung oder Strafe Gottes anzusehen war, »vermag man weder die Mittel da-

206 Ebd. 143. 207 Ebd. 256 f. 208 Schild des Glaubens 19. 209 Ebd. 26. 210 Benger: Pastoraltheologie 708. 211 Ebd. 712.

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gegen, noch das Organ zu bezeichnen, in welchem es seinen Hauptsitz hat«, anders bei dämonischer Verursachung.212 Dabei erkannte die Amtskirche auch die günstige Wirkung des Teufels auf die Bindung der Gläubigen an die Kirche. Alban Stolz war der Ansicht, »daß wir Gott noch für die Existenz der Hölle danken sollen, weil der Glaube daran zahllos viele Menschen zurückhalte, die schwersten Sünden und Missetaten auszuüben«.213 Für Oswald stellte 1868 die »heilsame Furcht vor den Höllenstrafen durchweg, vielleicht nur wenige Fälle ausgenommen, den Anfang der Bekehrung und Heilswirkung« dar, »die mächtigste Stütze der Tugend, so der unerschütterliche Fels, an welchem auch die furchtbarsten Wogen und Brandungen der Versuchung abprallen«.214 Noch in den 1960er Jahren ergab eine Umfrage, dass die Furcht vor der Hölle antreibender wirke als die Hoffnung auf das Heil.215 Der Teufel stand also nicht nur für erweiterte menschliche Handlungsmöglichkeiten, sondern auch für Effizienz. Allein diesen zweiten Aspekt betonte bisher die geschichtswissenschaftliche und theologische Forschung, wenn sie den Teufel zum kirchlichen Herrschafts- und Disziplinierungsinstrument degradiert.216 Für Altermatt war der ultramontane Katholizismus geprägt von einem »Moralismus«, der »mit Sünde und Tod, Fegfeuer, Hölle und Verdammnis die Gläubigen in Schuldgefühlen gefangen hielt und sie über den Beichtstuhl von der Absolution des Klerus abhängig machte«. Das Ergebnis sei eine »Theologie der Angst und die Pastoral der Qual« gewesen.217 Minois argumentiert modernisierungstheoretisch, wenn er betont, dass die katholische Kirche die Existenz der Hölle umso mehr betont habe, als diese angezweifelt wurde, was den Höllenglauben zum wichtigen Symbol für den selbstgewählten Abschluss von der Welt gemacht habe.218 Die bisherigen Ausführungen aber haben gezeigt, dass der Teufel nicht nur mit Angst und Isolation, sondern eher mit handlungsermöglichendem Kampf in Verbindung zu bringen ist. Und der Kampf gegen ihn bedeutete nicht Isolation von der Welt, sondern Hinwendung zur Welt. Denn der Teufel war bezwingbar, da er den Naturgesetzen unterworfen war. Angesichts des gefährlichen Gottes des 19. Jahrhunderts ist die Beobachtung von Minois bedeutsam, dass die Hölle seit dem 18.  Jahrhundert als ein Abbild der juristischen Praxis »gezähmt, zivilisiert, organisiert« sowie »inventarisiert, katalogisiert und klassifiziert« wurde. In Bezug auf die Hölle herrschte

212 Lecanu: Geschichte 10. 213 Bilder zur christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre 145. 214 Oswald: Eschatologie 72. 215 Barro / McCleary: Religion 771–779. 216 Vgl. Busch: Frömmigkeit 135; Ebertz: Erosionen 83–123; Fischer: Sarg 166–169; Heller: Hölle 29; Leimgruber: Teufel 149–152. 217 Altermatt: Katholizismus (1995) 45. 218 Minois: Hölle 373.

94  Strukturen der Kontingenz Angst und Sicherheit zugleich, da sie festen Verfahrensordnungen unterworfen wurde.219 Haller schrieb 1834 im Anschluss an Augustinus, dass der Teufel wie ein angeketteter Hund sei, »der nur diejenigen beißt, die sich ihm nähern«.220 Görres erklärte in seiner Dämonologie die naturwissenschaftlich-experimentelle Nachprüfbarkeit dämonischen Wirkens.221 Cortés wies in einem von Buß übersetzten und veröffentlichten Brief vom 16. Juli 1849 darauf hin, dass Gott unberechenbar sei, der Teufel aber den Naturgesetzen unterworfen.222 Deshalb bedurfte es nach Ansicht von Lecanu für die Besessenheit durch den Teufel gar keiner Anordnung Gottes, sondern lediglich einer »physischen« Disposition.223 Denn Gott habe den Dämonen »die Welt überlassen, die sein Werk ist, wie er sie den Betrügern, den Dieben, den Mördern überlassen hat, – doch nur in beschränkten Grenzen«.224 Das waren die Grenzen der Naturgesetze, wie Schneider 1882 deutlich machte: »Satan besitzt nicht die Macht, die von Gott gesetzten Schranken der Naturordnung nach freiem Belieben zu durchbrechen, seine Wirkungssphäre liegt vielmehr innerhalb der creatürlichen Grenzen.« Darin sah er dann auch den Grund, warum der Teufel unmittelbar ausschließlich auf den Körper wirken könne: Phantasie, Temperament, Gemüthsverfassung, Triebe und Neigungen sind in hohem Grade abhängig von der Organisation und Disposition des Leibes, von der Stimmung des Nervenapparates, von der Beschaffenheit und Circulation des Blutes etc., mithin von körperlichen Zuständen und Einflüssen, in welche die reinen Geister, die guten wie die bösen, hineinspielen können.225

Gutberlet wollte bei der Beobachtung von Besessenheit 1882 »eine gewisse Gesetzmäßigkeit« beobachten können. Die »eigentlichen Wunder« dagegen, »auf welche das Christenthum sich stützt und welche die Heiligen zum Wohl der Menschheit wirkten, befolgen durchaus keine allgemeinen Regeln, sind durch 219 Ebd. 286–288. 220 Haller: Satan 106 f. 221 Weiß: Ort 90 f. 222 Cortés / Buß: Politik 36–52, hier 45: »Was mich betrifft, so viel weiß ich, diese großen Wachsthümer des Bösen können nur auf zwei Weisen geschehen: entweder plötzlich und durch Wunder, oder fortschreitend und langsam, nach dem natürlichen Gesetz der Ursachen und Wirkungen. Der erstere Weg ist unmöglich, weil daraus hervorgehen würde, das Böse stamme von Gott und nicht von der Freiheit des Menschen, und folglich sei Gott das Böse und Gott sei der Teufel, nach der Gotteslästerung Proudhon’s [Pierre Joseph, 1809–1865, französischer Frühsozialist]. Ist es unmöglich, diesen ersten Weg anzunehmen, so ist es dagegen unvermeidlich, den zweiten anzunehmen.« 223 Lecanu behauptete, dass der Teufel »keine förmliche Anordnung Gottes« benötige, es sei lediglich »zum Handeln eine physische Anlage bei jener Person nöthig, die er zu quälen beabsichtigt«. Vgl. Lecanu: Geschichte 7. Pruner behauptete indes, dass das Wirken des Teufels von Gott zugelassen werden müsse. Vgl. Pruner: Wirksamkeit 81. 224 Lecanu: Geschichte 14. 225 Schneider: Geisterglaube 408–415.

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aus nicht an äußere Mittel oder an eine bestimmte Organisation gebunden.«226 Das Wunder sei, so Korum 1891, eine »sinnfällige Thatsache oder Wirkung, welche von Gott außer der von ihm festgesetzten und in der Natur beobachteten Ordnung hervorgebracht wird«.227 Während Gott unberechenbar war, handelte der Teufel nach katholischer Auffassung regelhaft. Während Gott die Naturgesetze überwinden konnte, konnte dies der Teufel nicht. Die Wahrnehmung einer Krankheit als dämonisch und natürlich schlossen sich deshalb nicht aus.228 Gegen den Teufel durfte und musste man sich wehren, und man konnte es aufgrund seiner Gebundenheit an Regeln. Er war berechenbar. Der Teufel war keine Gefahr, er stellte ein Risiko dar. Deshalb äußerte Lecanu 1863 sogar die Ansicht, dass man sich des Teufels bedienen könne. Er sei zwar ein »furchtbares Element, dessen Aufgabe Zerstörung ist, dessen Macht aber eine kundige Hand zu zügeln, zu lenken und nützlich zu machen weiß«.229 Davor warnte Simar 1877 aber ganz entschieden. Wenn sich der Teufel auch an die Naturgesetze halten musste, so gab Simar doch zu bedenken, dass er »eine unvergleichlich größere Kraft und ausgiebigere Mittel als der Mensch« besitze, »um den Schein solcher die Naturgrenzen überschreitenden Wirkungen hervorzurufen«.230 Die Wahrnehmung eines Phänomens als dämonisch bedeutete für Schneider (1882) deshalb, »dass die Natur in ihrem Schoosse Kräfte berge, welche den Blicken und Händen der Menschen unerreichbar geblieben sind, während sie den Dämonen vermöge deren grösserer Intelligenz und Geschicklichkeit, umfassender Natur- und Seelenwissenschaft zur Verfügung stehen«. Dies erlaube den Dämonen die Kenntnis der Zukunft: Den Astronomen, welche das Erscheinen der Gestirne ankündigen, den Meteorologen, welche das Wetter prophezeien, den Medizinern, welche die Prognose der Krankheit stellen, sind sie bei weitem überlegen, weil sie alle Geschehnisse, die nach dem gesetzmässigen Naturlauf und damit mit Naturnothwendigkeit sich begeben, in ihren Ursachen voraussehn oder nach sicheren Anhaltspunkten vorausberechnen.

Es handelte sich also nicht um eine echte Zukunftsschau, die nur Gott vorbehalten sei, weshalb es vorkomme, »dass Satan trotz alles Scharfsinnes und trotz seiner Schlauheit und Combinationsgabe in seinen Weissagungen über das be 226 Gutberlet: Spiritismus 81. – Ebd. 82: »Allerdings befolgt auch die Gnade häufig eine gewisse Gesetzmäßigkeit in der Ausspendung ihrer gewöhnlichen und außergewöhnlichen Gaben, aber daraus folgt kein Naturgesetz, ebensowenig als aus der Gesetzmäßigkeit, mit welcher die dämonischen Erscheinungen sehr häufig auftreten.« 227 Korum: Wunder 8 f. 228 Dies übersieht Freytag: Aberglauben 120, wenn er seit den 1830er Jahren einen »bahnbrechenden Wandel« in der katholischen Dämonologie erblickt, da seither naturwissenschaftliche Erklärungen von Krankheiten vor theologischen Vorrang genossen hätten. 229 Lecanu: Geschichte 5. 230 Simar: Aberglaube 22.

96  Strukturen der Kontingenz dingt Zukünftige, insbesondere über die freien Handlungen der Menschen, sich oft genug blamirt«. Trotzdem aber dürfe der Teufel »bei seinen Conjekturen mehr Glück haben, als die Staatsmänner, Politiker und Geschäftsleute bei den ihrigen«.231 Hansen hatte bereits 1850 darauf hingewiesen, dass allein Gott die Zukunft kenne, dass aber der Teufel eine gewisse beschränkte Kompetenz zur zeitlichen Vorhersage besitze.232 Diese Fähigkeit wurzelte nach Ansicht Henses aus dem Jahr 1890 in der »geistigen Überlegenheit« der Teufel, eine Folge »ihrer höhern, vollkommenern Natur, die sie durch den Sündenfall nicht verloren haben«, gesteigert »durch die vieltausendjährige, beständige Übung und Erfahrung«.233 Die Fähigkeit zur Prognose war also eine dämonische Eigenschaft, weshalb sich die Exorzisten trotz Warnungen immer wieder dazu hinreißen ließen, die Besessenen über die Zukunft zu befragen.234 Die prognostischen Fähigkeiten des Teufels gründeten für Simar 1877 nicht zuletzt in seiner Schnelligkeit: Es ist dem körperlosen Geiste nach der Lehre der kirchlichen Wissenschaft möglich, mit Blitzesschnelle von einem Punkte des Raumes zu einem andern weit entfernten sich hin zu wenden, und auf diese Weise fast in demselben Momente die verschiedensten Anschauungen und Erkenntnisse zu vereinigen und zu verwerthen.

Dadurch sei er »im Stande, dem Menschen ›verborgene Geheimnisse‹ zu enthüllen«.235 Schnelligkeit und Unstetigkeit waren bereits für Haller dämonische Eigenschaften gewesen. Für Haller (1834) war der »Zeitgeist, der Sohn des Satan«, verantwortlich für die gesellschaftliche Unstetigkeit, »nichts ist von Dauer, alles mißlingt und stets muß wieder von vorne angefangen werden; Konstitutionen, Gesetze, Reglemente u. s. w. sind einem beständigen Wechsel, einer ewigen Revision unterworfen, und der spätere Versuch ist allemal noch schlechter als der frühere«.236 Und auch für Ratzinger war gesellschaftliche Beschleunigung 1869 ein Kennzeichen für dämonischen Einfluss: Infernale Naturen können wohl momentane Umwälzungen hervorrufen, aber dauernde Verbesserungen schafft nur die friedliche, langsam aber unaufhaltsam fortschreitende Macht des Geistes der Wahrheit. Das Christenthum hat die Welt radikal 231 Schneider: Geisterglaube 408–415. 232 Vgl. Hansen: Morgenstern 4. So auch Haffner: Schlafen 326–328. 233 Hense: Versuchungen 24. 234 Die Exorzisten erlagen häufig der Versuchung, von der besessenen Person Aussagen über die Zukunft zu erfragen, wovor Benger: Pastoraltheologie 712 ausdrücklich warnte: »Der Exorcist soll nicht zu geschwätzig sein, nicht Überflüssiges oder Neugieriges erforschen, sondern bloß fragen, was zur Vertreibung des bösen Feindes dienlich ist (Zahl, Namen der bösen Geister, Zeit, Ursache u. s. f. der Besessenheit).« Die Exorzisten »müssen dem Satan gebieten, und nicht mit ihm plaudern«, mahnte Lecanu: Geschichte 11 f. 235 Simar: Aberglaube 19. So auch Walter: Aberglaube 265 f. 236 Haller: Satan 114.

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umgestaltet, alle sozialen Verhältnisse gänzlich verändert. Und dieß nur durch die Macht der Principien, die Gewalt der Überzeugung.237

Der riskante, naturgesetzlichen Regeln unterworfene, zur Prognose befähigte und rasch handelnde Teufel stellt eine Rationalisierungsstrategie angesichts steigenden immanenten Handlungsdrucks dar. Es handelt sich um eine Rationalisierungsstrategie, die katholisch war und deshalb nicht säkularisierend sein konnte. Es handelt sich deshalb letztlich um eine implizit dämonologische Perspektive, wenn Vogelsang den Verlauf von Revolutionen mit naturgesetzlicher Gewissheit vorhersagen zu können behauptete.238 Der von Max Weber beschriebene Gegensatz von Mystik und Rationalität wurde überlagert vom Gegensatz zwischen Gott und Teufel, Gut und Böse. Die Spaltung des archaischen einheitlichen Weltbildes, in dem alle konkreten Erscheinungen Magie waren, in ein »entgottetes« rationales Erkennen und berechnendes Beherrschen der Natur einerseits sowie andererseits in mystische Erlebnisse, die angesichts dessen ins Jenseits ausgelagert wurden,239 vollzieht sich im katholisch-eschatologischen Diskurs anders als im protestantischen. Ein unbeherrschbarer Gott steht einem beherrschbaren Bösen gegenüber. Ein unberechenbarer Gott braucht einen berechenbaren Teufel. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Teufel mit der Entstehung des lieben Gottes seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr verschwand.240 Mit dem Gnaden- und dem Exorzismusdispositiv liegen nun zwei heuristische Instrumente von allgemeiner religionswissenschaftlicher Relevanz vor, um katholisches Handeln oder katholische Passivität kulturwissenschaftlich – d. h. im Hinblick auf katholische Sinngebung immanenter Phänomene – zu analysieren. Dabei hat sich vor allem die moraltheologische, auf das Handeln des Einzelnen bezogene Relevanz der beiden Dispositive gezeigt. Wenn die Bewältigung von Kontingenz auf gesellschaftlicher, das individuelle Handeln übersteigender Ebene nach Ausweise der religionssoziologischen Forschung in der Auseinandersetzung mit Luhmann etwas ist, was dem religiösen System erst in der »Moderne«, aufgrund der Umstellung von stratifikatorischer zu funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung zuwächst,241 und das gleiche für die Wahrnehmung 237 Ratzinger: Frage 391. 238 Vogelsang, Carl von: Das Socialistengesetz. In: Ders.: Aufsätze 10–12: »Jedes Eingreifen entfesselter Leidenschaft und Gewalt kann seiner Natur nach und nach geschichtlicher Erfahrung nur zu einer noch größeren Verschlechterung der Zustände führen; nach der einen oder nach der anderen Seite hin, je nachdem die Würfel der gewaltsamen Entscheidung fallen. Die letzten revolutionären Umwälzungen haben dieß mit der Regelmäßigkeit des Naturgesetzes bewiesen, und sie sind es, welche die begründete Befürchtung neuer Umwälzungen jetzt hervorrufen.« 239 Weber: Wirtschaftsethik 102–104. Vgl. dazu Kippenberg / Stuckrad: Einführung 78. 240 Erst mit der Durchsetzung des liebenden Gottes seit der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte auch ein Funktionsverlust von Teufel und Hölle ein. Vgl. Ebertz: Erosionen 90–92. 241 Vgl. Kapitel I.2.

98  Strukturen der Kontingenz einer Dichotomie von Gefahr und Risiko auf überindividueller, gesellschaftlicher Ebene gilt,242 dann ist nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Gnaden- und Exorzismusdispositiv zu fragen. War die katholische Kirche in der Frühen Neuzeit in der Lage, individuelle Kontingenz moraltheologisch mit Hilfe des Duals von (göttlicher) Gefahr und (dämonischem) Risiko zu bewältigen, so müsste die neue gesellschaftliche Unsicherheit – laut Ausweis der soziologischen Forschung ein Kennzeichen der funktional differenzierten Gesellschaft – sozialethisch mit Hilfe dieses Duals religiös erklärt worden sein. Dass sich der Blickwinkel der Exorzisten tatsächlich von der Besessenheit von Individuen auf die Besessenheit der Gesellschaft richtete, zeigt das Beispiel von Jeilers Beitrag in Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon. Er bemerkte 1883 einen Rückgang von Besessenheitsfällen und vermutete als Grund dafür die Verlagerung der dämonischen Aktivität auf die gesellschaftliche Ebene: Es möchte kein gutes Zeichen für das letzte Jahrhundert sein, daß einerseits Unglaube und Sünde gewachsen sind und andererseits die leibliche Besessenheit, wenigstens die offenkundige, abgenommen hat. Sollte es vielleicht eine furchtbare Strafe der so weit verbreiteten Apostasie sein, daß Gott dem Teufel die Taktik erlaubt hat, inkognito sein Geschäft zu treiben und so die blinden Seelen um so sicherer in den Abgrund zu jagen?243

242 Vgl. Kapitel II.1. 243 Jeiler: Besessene 519.

III. Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv 1. Liebe Eine jener Generalisierungen im Sinne Luhmanns, mit deren Hilfe das religiöse System Sinn konkretisierbar und kommunizierbar macht, d. h. als diskursive Matrix, die gewisse Handlungen ermöglicht und andere ausschließt, ist die Liebe.1 Denn Liebe gilt – für Christen – als Proprium ihres Glaubens. Für den frühchristlichen Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) war die Liebe die einzige religiöse und ethische Vorschrift für die Christen.2 Den zentralen theologischen Stellenwert der Liebe brauchten auch vormärzliche Autoren zum Ausdruck. Hirscher identifizierte Glaube und Liebe in den älteren Auflagen seiner Moraltheologie.3 Bernhard Fuchs äußerte 1851 im Kirchenlexikon, dass der Vorzug der christlichen gegenüber der jüdischen und heidnischen Moral darin bestehe, »das Princip der Liebe, die Seele alles sittlichen Lebens, nach seiner ganzen Universalität, Energie und Innigkeit geltend zu machen«.4 Deshalb sei es die Liebe, die den christlichen Charakter einer Gesellschaft herstelle: Was aber dem menschlichen Gesammtleben ein christliches Gepräge aufdrückt, ist der Geist der heiligen Liebe (Charitas). Unter dem Einflusse desselben werden alle socialen Verhältnisse und Entwicklungen, so wie sie aus dem göttlichen Lebensgrunde hervorgegangen sind, auch auf das Eine und gemeinsame Ziel, das Gottesreich und die göttliche Lebensgemeinschaft, bezogen und diesem Ziele durch die vereinte Willensund Thatkraft zugebildet.5

Nach Ansicht des »Katholik« von 1854 war es die Liebe, die das Handeln des Priesters auszeichne:

1 Liebe lässt sich auch als Institution im Sinne von Berger und Luckmann verstehen, d. h. als Folge von habitualisierten Handlungen. In diesem Verständnis halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle, indem sie Verhaltensmuster aufstellen. Institutionen sind permanente Lösungen permanenter Probleme. Vgl. Berger / Luckmann: Konstruktion 58. 2 Vgl. dazu Nygren: Eros 354–359. 3 Vgl. Beumer: Neuscholastik 27 f. 4 Fuchs: Moral 283. 5 Ders.: System 513.

100  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Was kann ein Seelsorger wirken in seiner Gemeinde, wenn er nicht von ihr geliebt wird? Was vermag er nicht Alles, wenn seine Gemeinde ihn liebt? Und welchen Lohn auf Erden will ein Priester, ein Pfarrer, wenn er nicht ein Miethling ist, als den, geliebt zu werden von seiner Gemeinde? Nun, wenn du geliebt sein willst von deiner Gemeinde, so liebe sie zuvor.6

Liebe ist im Vormärz offenbar eine wichtige Generalisierung katholischer Theologie. Um ihren Stellenwert im katholisch-sozialethischen Diskurs innertheologisch und gegenüber den profanen sozialethischen Diskursen jedoch bestimmen zu können, ist zunächst ein Blick darauf zu werfen, was mit Liebe überhaupt gemeint sein konnte. Liebe, die stets eine unmittelbare Beziehung zwischen Menschen ausdrückt, ist nicht nur biologisch, sondern auch psychologisch, sozial und kulturell determiniert, weshalb sie konstruiert und historisch kontingent ist.7 In der Frühen Neuzeit war Liebe mehr äußeres Verhalten – sichtbar, kontrolliert, bewusst und einforderbar – denn inneres, unbewusstes, unkontrollierbares und bedingungsloses Gefühl.8 Dazu wurde sie erst im Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850. Dieser gesellschaftliche Wandel führte – nach Luhmann – dazu, dass sich der Einzelne nicht mehr in einem, sondern in mehreren Subsystemen verortet sah. Der Einzelne wurde aus den Bindungen der ständischen Ordnung freigesetzt, die soziale Identität musste durch individuelle Identität ersetzt werden. Die neue Komplexität wurde durch personale Beziehungen auszugleichen versucht. Dies führte zur sozialen Relevanz von Liebe, die ebenfalls aus ständischen Bindungen freigesetzt wurde, was sie unbegründbar und persönlich machte, d. h. sie als Affekt wahrnehmbar machte.9 Das machte die Liebe zum zentralen Begriff der politischen Romantik in Abgrenzung von der in der Französischen Revolution gipfelnden Aufklärung. Denn mit den gewaltsamen Auswüchsen der Französischen Revolution hatte die aufgeklärte Vorstellung von der Rationalität der Welt an Legitimität verloren. Die romantischen Gegner der Aufklärung wandten sich der Irrationalität zu.10 Die Romantik ersetzte die aufgeklärten Werte von Verbindlichkeit, Klarheit, Kausalität und Gewissheit durch die Unbestimmtheit von Stimmungen, Emotionen und Affekten.11 In diesem Bereich der 6 Zur Gewissenserforschung. In: Der Katholik 10 (1854) 185–189, hier 185 f. 7 Vgl. dazu Fromm: Kunst. Ein Beispiel für die Untersuchung der Konstruktionen von Liebe liefert der Kulturhistoriker Peter Gay. Vgl. Gay: Leidenschaft. 8 Jarzebowski: Liebe. 9 Luhmann: Liebe. Vgl. dazu Hoffmann: Freundschaft; Kapl-Blume: Liebe 65–82; Trepp: Emotion. – Eine Definition des Gefühls ist problematisch. Physische Empfindungen und kognitive Interpretationen stehen in enger Wechselbeziehung. Zum Bemühen um die Definition von Gefühl vgl. Aschmann: Zeitalter 86–89. 10 Stolleis: Geschichte (1992) 129 f.; Raab: Wiederentdeckung 195; Maier: Sozial- und Staatslehre 12 f. 11 Berlin: Revolution 294.

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Affektivität war das neue Verständnis von Liebe angesiedelt. Gegen aufgeklärte Werte, aber in der Nachfolge aufgeklärter Religionskritik entwickelte sich die Liebe am Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft als »quasi-religiöse Sinnstiftung und Medium individueller Selbstfindung« im Bürgertum »zu einer eigenen Wertvorstellung und letztlich auch zu einer sozialen Norm«, so die Historikerin Anne-Charlott Trepp.12 Es war das die Öffentlichkeit immer mehr bestimmende Bürgertum, das vor allem das neue Verständnis von Liebe verbreitete. Ausschlaggebend dafür war ein neues Familienbild. Die zunehmende Kapitalisierung der Wirtschaft war von einem Wandel der bürgerlichen Familienvorstellungen begleitet. Die frühneuzeitliche Verbindung von Familie und Arbeit wurde getrennt. Die kapitalisierte Wirtschaft wurde von familiärem Ballast befreit, die Liebe als Grundlage der bürgerlichen Kleinfamilie konnte sich emotionalisieren und entrechtlichen.13 Sie konnte von einem äußerlichen Verhalten zu einer inneren Haltung werden. Grundlage einer Ehe und damit einer Familie durfte nur mehr eine interessenlose und bedingungslose Liebe sein.14 Nicht die Reproduktion, sondern die Liebe war seither der Zweck der Ehe – freilich beschränkt auf diejenigen bürgerlichen Gruppen, die sich die Ausdifferenzierung der Wirtschaft aus der Ehe leisten konnten.15 Die Liebe kam also im 19.  Jahrhundert als in der Familie verankertes Gefühl zu sozialethischer Bedeutung. Das Ideal der Liebe, der zentrale Begriff der Romantik, sollte in der Gesellschaft verwirklicht werden, zunächst in der Familie, aber auch im Staat, der als auf der Familie beruhend wahrgenommen wurde.16 Noch mehr als bisher wurde die Familie von romantischen Autoren in Abgrenzung zum rational konstruierten Staat der Aufklärung nach den negativen Erfahrungen mit der Französischen Revolution zur Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung genommen. Für den frühromantischen Schriftsteller Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772–1801) war die Familie die Grundlage aller gesellschaftlichen Ordnung. Und so wie die Liebe die sozialen Beziehungen in der Familie prägte, so sollte sie diese auch im Staat prägen.17 In diesem Sinne stellte die Liebe als Band zwischen dem Einzelnen und dem Staat den »Kern politischer und ökonomischer Romantik« dar, so der Historiker Andreas Groh.18 Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bezeichnet die Liebe als »Zauberwort« der Romantik, das als soziales Gegenbild gegen gesellschaftliche 12 Trepp: Emotion 24 f. 13 Vgl. Schwab: Ehe 116. 14 Gefühle werden als irrational wahrgenommen, sind es aber keineswegs, vielmehr sind sie mit Interessen, in diesem Fall mit bürgerlichen, verbunden. Vgl. dazu Aschmann: Zeitalter 84. 15 Vgl. Luhmann: Liebe 172 f. 16 Vgl. dazu Kluckhohn: Auffassung 609; Grane: Kirche 55; Bündgens: Vorbemerkungen 16. 17 Vgl. Maatsch: Gesetz 253 f. 18 Groh: Gesellschaftskritik 21–37.

102  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Missstände fungierte.19 Dabei wirkte die Liebe über den Bereich der politischen Romantik im engeren Sinne hinaus. So war es für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) ebenfalls die Liebe, die das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit bestimmte.20 Dabei gelangte die Liebe nicht zuletzt deshalb zu sozialethischer Bedeutung, da das Gottesgnadentum zur Zeit der Restauration zur Legitimation der Monarchien trotz aller Ablehnung der Aufklärung nicht mehr ausreichte, die Vertragstheorie aber abgelehnt wurde. Die Postulierung einer affektiven Bindung zwischen Untertanen und Monarch bot sich zur Kompensation dieser Legitimationslücke an.21 Diese interesse- und bedingungslose Liebe, die das Bürgertum in seinem Familienideal verwirklicht sah, wurde auch von der katholischen Theologie eingefordert. Zweck der Ehe war für Bernhard Fuchs nicht die Reproduktion, sondern die Liebe zwischen Mann und Frau.22 Für Hirscher bestand der erste Zweck der Ehe nicht in der Fortpflanzung, sondern in der Liebe; nämlich »ein Seelenbedürfnis zu stillen, gab Gott dem Adam die Eva«.23 Auch für Westermayer war die Liebe Zweck der Ehe: Treue, aufrichtige Liebe, Einsicht und Verstand bei Regierung des Hauswesens und der Kinderzucht, Geschick und Liebe zu nützlicher Arbeit, Liebe zum Frieden, zur Einigkeit und Verträglichkeit, dieß alles liegt im Zwecke der Einsetzung dieses heiligen Standes von Seite Gottes.24

Mangelnde Liebe war für Kolping 1849 das eigentliche Unglück der Gesellen, weshalb er in den Gesellenvereinen einen Ersatz für die Familienliebe schaffen wollte.25 Über die Familie kam dann die interesse- und bedingungslose Liebe auch im katholisch-sozialethischen Diskurs zu gesellschaftsstrukturierender Bedeutung. 19 Assmann: Erinnerungsräume 110. 20 Vgl. dazu Römpp: Geist 145. 21 Vgl. Scholz: Restauration 18–20; Büschel: Untertanenliebe 189–273. 22 Fuchs: System 514: »Das Wesen der Ehe besteht in der Liebes- und Lebensgemeinschaft von Mann und Weib.« 23 Hirscher: Moral III 506. 24 Westermayer: Bauernpredigten II/I 151. 25 Kolping, Adolph: Der Gesellenverein. Zur Beherzigung für alle, die es mit dem wahren Volkswohl gut meinen. In: Adolph-Kolping-Schriften III 44–60, hier 49: »In den meisten Fällen ist er geworden, was er ist, weil die Umstände hauptsächlich ihn dazu gemacht haben. Dem Lehrling spricht niemand Mut und Trost ein, wenn die eigene Familie ihn nicht zuzeiten unter ihre wärmenden Flügel nimmt, geringen, oft fehlenden Schutz findet er gegen die Quälereien und Verführungen seiner Umgebung, freundliche Liebe bleibt ihm fern, da kältet das Herz. Gehetzt von Meister und Gesellen, kann er sich der Ausübung seiner Religion nicht mehr mit Andacht hingeben, er wird ihrer nicht mehr froh, und deshalb wird sie ihm gleichgültig. Der Geselle ist in den Feierstunden geradezu auf die Straße gewiesen oder ins Wirtshaus; denn zu Hause, beim Meister, ist kein rechter Verbleib. Er ist ein freier Mensch, aber auch so frei, daß die Freiheit zuzeiten eine Last wird. Doch kümmert sich niemand mit wahrer Liebe um ihn.«

Liebe  103

Denn auch hier führte die Abgrenzung von der Französischen Revolution mit ihrer rationalen Staatskonstruktion zur Suche nach politischen Elementen, denen Rationalität abgesprochen wurde. So betrachtete Haller Sozial- und Machtbeziehungen 1820 als emotionales Verhältnis analog zur Familie. Er bezog väterliche Liebe und kindlichen Gehorsam aufeinander. Die »Völker« werden nur »mit liebreicher Hülfe« an der Macht des Fürsten teilhaben wollen und »daß es ihm wohlergehe« sei der »Wunsch ihres Herzens«. Dann werde der »Argwohn aus dem Gemüth der Fürsten« schwinden, es werde »ihr Herz nothwendig zu allem Gerechten, allem Großmüthigen gestimmt werden«. Es werde »die Entfremdung der Gemüther« schwinden, das »freundliche Zutrauen« werde zurückkehren: Mit einem Wort, die Diener werden ihre Herren, die Herren ihre Diener lieben, jene in diesem einen von Gott gegebenen Ernährer, Beschützer und Wohlthäter, dieser in jenen seine nächsten, ebenfalls von Gott gegebenen Freunde und Gehülfen erkennen, deren Zutrauen man erwidern, denen man möglichst nüzen [!] und nicht schaden soll.

Es werde »die alte Liebe wiederkehren zwischen denen, welche Gott zunächst für einander geschaffen hat, und kein anderes Gesez [!], keine Constitution mehr seyn, als die, sich wechselseitig liebes und nichts Leides [!] zu thun«.26 Bereits einige Jahre vorher hatte Adam Müller sein sozialethisches Konzept in seinem Hauptwerk »Elemente der Staatskunst« von 1809 auf dem Ausgleich der Interessen durch die Liebe in einer patriarchalischen Monarchie gegründet.27 Die Staaten seien derzeit nur »zufällige Sicherheitsanstalten für das physische Wohlseyn, denen sich, da sie Aufwand erfordern, jeder Einzelne aus allen Kräften zu entziehen sucht«.28 Der Staat könne zwar den Bürger »durch mechanische Gewalt« zwingen, aber »sein Herz, seine Liebe kann der Bürger dem Staate verweigern, schenken und zurücknehmen, wie er will«. Es sei deshalb falsch, wenn die aufgeklärten Staatstheorien »auf den schöneren Theil des menschlichen Wesens, auf die Gefühle und die Gedanken der Menschen, Verzicht leisten, und sich mit rohem Gehorsam, mit der Furcht der Beherrschten, anstatt aller Liebe, mit grober Tributzahlung begnügen«.29 Der »zartere, schönere Teil der Menschheit«, womit er die »unsichtbaren Mächte im Innern eines jeden Menschen« gemeint hatte, stünden »hors de la loi; und mit ihnen wird dem Staate unaufhörlich, was er vornehmlich braucht, Neigung und Liebe der Bürger entzogen«.30 Deshalb hatte Müller den Staat als »Gegenstand einer unendlichen Liebe« darstellen wollen.31

26 Haller: Restauration LXVIII–LXX . Vgl. dazu Schlögl: Glaube (2013) 324 f. 27 Vgl. dazu Groh: Gesellschaftskritik 210; Kluckhohn: Auffassung 539–542; Kraus: Denken 60 f.; Müller-Schmid: Müller 117–123. 28 Müller: Elemente II 51. 29 Ders.: Elemente I 32. 30 Ebd. 106. 31 Ebd. 217.

104  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Für den priesterlichen Moraltheologen Sailer war die Liebe 1805 das »Prinzip der Ordnung in der ganzen menschlichen Gesellschaft«, indem sie »die öffentliche Autorität durch die Majestät Gottes, von der sie ein Ausfluß ist, in den Herzen der Unterthanen sichert«.32 Die »Menschenliebe« mache das »Wesen der Vaterlandsliebe« aus, so Sailer zwei Jahre später.33 In der Religiosität des Fürsten sah er die höchste Bürgschaft für das Volk, daß der Fürst sein Volk liebe, und des Volkes Heil in den besten Händen sey. Und nur aus diesem Glauben: ›der Fürst liebt sein Volk, des Volkes Heil ist in den besten Händen‹, geht die Liebe des Volkes und das Zutrauen zum Fürsten hervor. Und nur jene Liebe des Volkes ist die sicherste Leibwache für den Fürsten, und nur dieses Zutrauen des Volkes ist die festeste Stütze des Thrones.34

Nach der Ansicht von Görres von 1828 waren sich Staat und Kirche nach dem Gesetz der Liebe zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet.35 Die katholische Zeitschrift »Eos« sprach 1831 von der Liebe als dem »wichtigsten Theil der Staatswirthschaft«.36 Auch bei Schlegels sozialethischen Überlegungen spielte die Liebe eine zentrale Rolle.37 Baader, der sich selbst als »Professor der Liebe« bezeichnete,38 ließ die Gesellschaft in den »Grundzügen der Societätsphilosophie« im Jahr 1837 aus der Nächstenliebe entstehen. Die Liebe war für Baader die Grundlage der Gesellschaft: »Denn nur der Liebende trennt das Herrschen nicht vom Dienen, das Recht nicht von der Pflicht, das Besitzen nicht vom Sichbesitzenlassen.«39 Deshalb entstehe »aus der Liebe zum Nächsten alle wahre Geselligkeit und Gesellschaft«.40 Auch der Staat »besteht nur in der harmonischen Zusammenwirkung äußerer Macht und innerer Liebe, d. h. der Natur und der Gnade. In dem Verhältnis als die Liebe als der wahre Gemeingeist zwischen den Elementen eines Staates entweicht, nähert sich dieser Staat dem Verfall.«41 Ohne die »ausgleichende Wirksamkeit« der Liebe müsse es zu »Druck, Zwang, Not und Elend« kommen.42 Die Liebe verbinde die Menschen »zu einem gemeinsamen, einander helfenden 32 Sailer: Grundlehren 438 f. 33 Ders.: Erziehung 132. 34 Ebd. 136. 35 Eos Nr. 70/1828, zit. nach Kapfinger: Eoskreis 52. 36 Eos Nr. 139/1831, zit. nach Kapfinger: Eoskreis 47. 37 Kluckhohn: Auffassung 342–424. 38 Zit. nach Kuhn: Liebe 184.  – Betanzos: Philosophie 51 f. kommt zu dem Ergebnis, »daß Liebe der eigentlich allen anderen Schlüsselbegriffen des Baaderschen Denkens zugrundeliegende Brennpunkt ist«. Baumgardt: Baader 370 spricht von Baaders »Enthusiasmus für das Liebes-Patriarchentum der christlichen Sozialidee«. Vgl. dazu auch Pascale: Sozialphilosophie. 39 Franz von Baaders Gedanken 16. 40 Ebd. 35 f. 41 Ebd. 52. 42 Ebd. 53.

Liebe  105

und fördernden Leben auf die innigste und unzertrennlichste Weise«.43 Mit einer »bloß negativen wechselseitigen Assecuranz- oder Bürgschaftsanstalt zwischen Regenten und Volk« lasse sich keine Verbindung zwischen diesen herstellen, da »keine Liebe und Lust einander zu dienen« hergestellt werden könne.44 Dabei teilte Baader die Geschichte in drei Stadien ein, je nach der Bedeutung, die die Liebe in ihnen hatte. In der natürlichen Gesellschaft herrsche die Liebe, in der Zivilgesellschaft werde die Liebe verletzt, weshalb das Recht substituierend eingreifen müsse, in der politischen Gesellschaft schließlich herrsche die Autorität, weil das Gesetz verletzt werde.45 Baaders Ausführungen zeigen, dass die Wertschätzung der Liebe mit einer Geringschätzung des Rechts verbunden war. Gesetzgebung hielt Adam Müller 1809 für mechanisch und daher tot: Angenommen, man hätte die einfachste Gesetzgebung, und dazu einen Souverän, der sich, unerreichbar für alle Bestechung der Sinne und des Lebens, ganz dem Ausdrucke dieser Gesetzgebung unterzuordnen wüßte, der, wie eine reine Verstandesmaschine, unbedingt nach dem Gesetze spräche: so wäre das bürgerliche Leben zu Ende, alle Kraft todt, d. h. alle Freiheit, oder alles Gesetz todt. Das lebendige Leben kann todten Schranken ewig nicht unterworfen werden, und in dieser Hinsicht wäre es völlig gleich, ob die Willkür eines Tyrannen oder der starre Buchstabe des weisesten Gesetzes Regel für die unterworfenen Naturen wäre; der Widerspruch würde gleich groß seyn.46

Ein »unvollkommenes, lebendiges Gesetz ist, allen meinen Voraussetzungen zu Folge, besser als ein noch so logisches, künstliches, aber todtes Gesetz«.47 Damit übereinstimmend lehnte Görres den Rechtsstaat 1819 als mathematisch und daher gefühllos ab.48 Auch für Haller war das Recht nicht in der Lage, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sorgen, denn »nach dem Geseze [!] des bloßen 43 Baader: Revolution 8 f. 44 Ders.: Über die Zeitschrift Avenir und ihre Principien. Aus einem Sendschreiben an den Herrn Grafen Carl Montalembert in Paris. München 1831. In: Ders.: Schriften II 29–44, hier 40. 45 Vgl. Baxa: Einführung 249–258; Hammerstein: Entwicklung 52–55; Kluckhohn: Auffassung 542–553; Kuhn: Liebe 198–202. 46 Müller: Elemente I 172 f. 47 Ebd. 174 f. 48 Görres, Joseph: Teutschland und die Revolution. Koblenz 1819. In: Ders.: Politische Schriften 35–143, hier 134: »Alle diese ethischen Gesetze müssen in der Gesellschaft mit der Gewißheit mathematischer Axiome geltend werden; sie müssen als allgemein unverbrüchliche Maximen sie in allen ihren Elementen durchdrungen haben: dann mag sie immerhin ohne Gefahr ihrem Instinkte folgen; sie mag ihre Verfassungen gründen einzig auf den Ackerboden und den Verkehr, auf Actien und Erben und die Aristocratie der Meistbeerbten; sie mag die wirkenden lebendigen Kräfte in der Verfassung vielfältig zersetzend und wieder nach der Diagonale vereinigend ihre mathematischen Belustigungen und ihre stöchyometrischen Calcüle treiben und die Gesellschaft auf der untersten Stufe des Lebens einstweilen zum tausendarmigen Polypen machen.«

106  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Rechts ist jeder für sich selbst vorhanden, sein eigener Zwek [!]«. Aber »nach dem Gesez [!] der Liebe und dem Austausch wechselseitiger Wohlthaten ist jeder für den anderen gemacht«.49 Ein »liebreicher Austausch wechselseitiger Wohlthaten, das ist wodurch die Natur gesellige Bande knüpft«, so werde »der Starke der Freund des Schwachen und dieser hinwieder der Freund des Starken«.50 Für den Hofprediger Westermayer besaß das Recht 1848 eine geringere sozialethische Wirksamkeit als die Liebe: Was nützt uns z. B. ein verbessertes Verfahren bei der Aburtheilung im Rechtsstreit liegender Gegenstände? Ein Volk ist in dem Maaße glücklich, als es gar keine Prozesse hat, sondern christliche Nachgiebigkeit und Rechtlichkeit und Liebe zur Versöhnung und zum Vergleiche dafür da sind.51

Der Sozialethiker Kolping kritisierte 1850 die »Gesetzesmacherei«: Wir werden totgemacht durch lauter Gesetze und Verordnungen, die sich wie Schmarotzerpflanzen um unser Leben und Weben bis in seine unbedeutendsten Regungen hinein schlingen und verketten, dadurch dem wirklichen Leben Luft und Licht rauben, es verkümmern und ersticken.

Wer Menschen gewinnen wolle, »muß das Herz zum Pfande einsetzen«, denn die »Liebe ist der Quell der Autorität, vor der sich das Herz um so williger beugt, als es eben nur Gutes von ihr zu erfahren hat«. Das »Band der Liebe« halte die Menschen zusammen.52 Gesetze seien dazu unfähig, solange »nicht das Familienleben der übrigen Gesellschaft Würde und Halt gibt«, so Kolping 1851.53 Die Moraltheologie von Sailer, der kaum über rechtliche Fragen reflektierte, stellt eine Abkehr von der juridischen Kasuistik der frühneuzeitlichen Scholastik dar, die die probabilistische Frage nach der Schuld des Pönitenten in den Mittelpunkt stellte.54 Die Liebe war der zentrale Begriff in seiner Moraltheologie. Denn die »höchste Liebe« bedürfe des Gesetzes nicht mehr.55 Liebe war für ihn »der Inbegriff alles Gesetzes«, das »höchste Gesetz«, die »Bedingung aller Bedingungen«, es könne »in der göttlichen Gesetzgebung nichts geboten werden als Liebe«.56 In den »Vorlesungen aus der Pastoraltheologie« formulierte er: »Die Eine heilige Liebe ist Fülle alles Gesetzes. Die aus Religion geborne Menschenliebe ist also mit: die Fülle des Gesetzes.«57 Gerechtigkeit ging bei Sailer völlig in der Liebe auf: 49 Haller: Restauration 514. 50 Ebd. 375. 51 Westermayer: Bauernpredigten II/II 29. 52 Kolping, Adolph: Der Gesellenverein und seine Aufgabe. In: Adolph-Kolping-­Schriften III 102–125, hier 116 f. 53 Ders.: Familienangelegenheiten. In: Adolph-Kolping-Schriften III 148–198, hier 151. 54 Vgl. Wachinger: Moraltheologie 264–267; Aubert: Fortführung 443–447. 55 Sailer: Handbuch I 128. 56 Ders.: Grundlehren 404 f. 57 Ders.: Vorlesungen 63. Vgl. auch: Ders.: Handbuch I 138.

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Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, hat ihr Werden, ihr Fortschreiten, ihre Vollendung. Sie wird (gewinnt ihr Seyn) in und durch jene Umwandlung, die die Wirksamkeit des Glaubens in Liebe gründet; sie schreitet fort, wie die Wirksamkeit des Glaubens in Liebe fortschreitet; sie wird vollendet, wie die Wirksamkeit des Glaubens in Liebe vollendet wird.

Gerechtigkeit gebe es unabhängig von Liebe nicht. Sie sei nur ein anderer Name für die Liebe, und zwar »in sofern sie aus Gott geboren, in Gott bleibt und vor Gott thut, was recht ist«. Dann ist Liebe die »Universal-Gerechtigkeit«.58 Liebe sah er als »einzig gültiges, praktisches Moralprinzip«.59 Die Gerechtigkeit wurde in der caritativen Sozialethik ganz von der Liebe absorbiert.60 Der 1826 abgeschlossene und bis 1848 gültige Freisinger Katechismus mit dem Titel »Unterricht in der christkatholischen Religion für die reifere Jugend und für Erwachsene« war in die Kapitel Glaube, Hoffnung und Liebe unterteilt. Die Anfügung des seit der Reformation wegen der Betonung der Gnadenlehre für katholische Katechismen üblichen Kapitels Gerechtigkeit unterblieb.61 Der frühe Ketteler bezeichnete den Staat 1862 in »Freiheit, Autorität und Kirche« als »Gesetzgebungsfabrik«. Die Gesetze seien »in Fluß gerathen, und zahllose Kammern – in Permanenz – machen ohne Unterlaß neue Gesetze, zahllose Regierungsblätter verkünden neue Verordnungen«. Diese Fülle an Gesetzen erzeuge entgegen ihrer Intention »Rechtsunsicherheit«: »Man kann bei keinem Processe dem Ausgang mit einiger Zuversicht entgegensehen. Das Volk hat bei jedem Processe Etwas von dem Gefühle, mit dem die Spieler dem Ausgang eines Hasardspieles beiwohnen.« Nicht Gerechtigkeit, sondern Geschicklichkeit des Advokaten sei ausschlaggebend. Deshalb schwinde »das Recht mehr und mehr aus dem Bewußtsein des Volkes«.62 Deshalb vertraute er auf die Liebe, die »höchste Form aller gesellschaftlichen Verbindungen«. Die Liebe sollte »das Band sein, das Gott und die Menschen verbindet; die auf Wahrheit gegründete Liebe, wie sie uns Christus in ihrer Vollkommenheit gelehrt hat; und diese Liebe soll wiederglänzen in allen Verbindungen und Vereinigungen, in denen die Menschen untereinander 58 Ders.: Handbuch II 1–5. 59 Ders.: Handbuch I 144. Vgl. dazu Keller: Moraltheologie 302–313; Klotz: Sailer 46–52. 60 Auch im »Geistlichen Conversations-Lexicon« von 1839 war die Gerechtigkeit ganz durch die Liebe absorbiert: »Gleichwie nun seine Liebe ewig in den Belohnungen der vernünftigen Wesen sich verherrlicht, die sich Ihm ähnlich bildeten, also verherrlicht sich auch seine Gerechtigkeit ewig in den Strafen Derjenigen, die dieser Ähnlichkeit widerstrebten und sich ihr entgegen setzten; denn nicht minder ewig und unendlich ist seine Gerechtigkeit als seine Liebe; ja seine Gerechtigkeit ist nichts anders als seine Liebe.« Silbert: ConversationsLexicon I 271. 61 Erst der 1847 veröffentlichte Katechismus von Joseph Deharbe (1800–1871) enthielt wieder ein eigenes Kapitel zur Gerechtigkeit. Vgl. Baumgartner: Seelsorge 356–360. 62 Ketteler: Freiheit 250 f.

108  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv stehen.«63 Deshalb sei die Armenhilfe Aufgabe der Kirche, so Ketteler 1864 in »Die Arbeiterfrage und das Christenthum«. Für die Armen, worunter er die Arbeitsunfähigen verstand, könne nur das Christentum, d. h. die Kirche, sorgen, »dadurch, daß es durch die Kraft seiner übernatürlichen Liebe Menschen bewegt, sich selbst, ihr Leben, alle ihre Kräfte dem Dienste der armen Arbeiter in jenen Anstalten zu widmen«.64 Denn nicht einmal die Eltern- und Kindesliebe, sondern nur »die übernatürliche Liebe, die Christus in die Menschenherzen ausgießt, vermag eine Kraft zu verleihen, die den Armen in den Zufluchtsstätten des menschlichen Elendes eine Pflege zuwendet, so andauernd und so liebevoll, wie der Arme sie in der That bedarf«.65 Nur die Sicherung des Existenzminimums sei durch rechtlichen Zwang möglich: »Über diese Grenze hinaus kennt aber die Theologie eigentlich keine Zwangspflicht zur Milderung der Noth der Mitmenschen, sondern nur eine moralische Pflicht, eine Pflicht der christlichen Nächstenliebe.«66 Der wesentliche Unterschied zwischen Liebe und Recht wurde in der Erzwingbarkeit des Rechts und der Freiwilligkeit der Liebe gesehen. Für Schlegel war Liebe 1820 zum Gehorsam nötig, da sich auch dieser dauerhaft nicht erzwingen lasse.67 Im Jahr 1830 thematisierten die Pastoralkonferenzen des Bistums Augsburg den Unterschied zwischen freiwilliger Liebe und erzwingbarer Gerechtigkeit.68 Für Drey stellte das erzwingbare Recht nur ein gemeinschaftsbildendes Moment gegenüber denjenigen dar, die der Liebe nicht freiwillig folgen wollten.69 Ein Rechtanspruch auf Hilfe in der Not widersprach nach Ansicht Ratzingers der Freiwilligkeit der Nächstenliebe.70 Der Kölner Weihbischof Peter Joseph Lausberg (1852–1922) äußerte anlässlich der Gründung des Diözesancaritasverbandes am 28. Februar 1916: »Wer Almosen ablehnt und von Rechten spricht, vergißt, daß Rechte immer nur ein Stück erzwingbarer Ordnung sind. Was man aber braucht, um den leidenden, hilfsbedürftigen, gesunkenen Menschen Trost, Hilfe, Veredelung und Hebung zu bringen, ist Liebe.«71 Die caritative Sozialethik forderte also, in Übereinstimmung mit der politischen Romantik, eine direkte, nicht durch Recht vermittelte, sondern auf Liebe gründende Bindung der Menschen aneinander.72 In seiner Moraltheologie ersetzte Sailer deshalb die juridische Auffassung von der Kirche durch die Ge 63 Ebd. 327. 64 Ders.: Arbeiterfrage 376. 65 Ebd. 433. 66 Ebd. 415. 67 Schlegel: Signatur 540 f. 68 Ordinariatsdekret über die Pastoralkonferenzen im Bistum Augsburg 1830. AEMF, Realia 2348. 69 Vgl. Rief: Reich 245–248. 70 Vgl. dazu Uertz: Gottesrecht 280. 71 Zit. nach Eder: Armenfürsorge 340. 72 Zum Personalismus der Romantik vgl. Groh: Gesellschaftskritik 35 f. Zum Personalismus der caritativen Sozialethik vgl. Diebolt: Théologie; Friemel: Sailer 248.

Liebe  109

meinschaft der Menschen mit Gott und der Menschen untereinander.73 Auch der Staat besaß für Sailer kein eigenes Wesen. Es war für ihn »unwiderleglich, daß der Staat nur aus einzelnen Menschen bestehe«.74 Gesellschaft entstand für Sailer deshalb aus Geselligkeit, aus der zwischenmenschlichen Kommunikation.75 Gesellschaft war für Sailer deshalb mit Geselligkeit identisch. Seine Gesellschaftslehre war personalistisch.76 Dementsprechend legte Sailer bei der Priesterbildung auch Wert auf die Schulung sozialer Kompetenzen statt auf die Vermittlung dogmatischer Orthodoxie.77 Der Pastoraltheologe Konrad Baum­gartner nennt Sailer einen »Brief- und Kontaktseelsorger«.78 An dem katho­lischen Priester Ignaz Valentin Heggelin (1738–1801) lobte Sailer dementsprechend: »Heggelin, der Mensch, war besonders Mensch in der Gesellschaft, und wenn ihm die Lehrgabe in Predigten, Christenlehren, Krankenbesuchen, Privatunterrichten etc. die Herzen aufschloß, so lehrte, im Verkehre des Menschen mit Menschen, schon sein bloßer Anblick.«79 Philipp Klotz urteilte in seiner 1909 erschienenen moraltheologischen Dissertation deshalb, dass Sailer die »Vorurteile und Irrtümer seiner Zeit nicht so fast begrifflich, sondern in Menschen verkörpert vor sich sah«.80 Sailer propagierte »Gefühlsreligiosität« und »Erlebnistheologie«, die der »transsubjektiven Wirklichkeit von Kirche und Dogma nicht vollauf gerecht wurde«, so der Dogmatiker Leo Scheffczyk.81 Die sozialethische Wirkung der Zwischenmenschlichkeit als Charakteristikum der Liebe erklärte der Neuscholastiker Friedhoff 1865 in seiner Moral­ theologie: Aus einem zweifachen Grunde aber können wir die Leiden Anderer als die unsern ansehen, theils wegen der Vereinigung mit ihnen vermittelst unserer Liebe oder Zuneigung zu ihnen, theils wegen der wirklichen Vereinigung mit ihnen. Denn weil der Liebende den Freund als sich selbst betrachtet, so betrachtet er auch dessen Leiden als sein Leiden und betrübt sich darüber wie über sein eigenes.82 73 Vgl. Hausberger: Stellenwert. 74 Sailer: Glückseligkeitslehre 272. 75 Ebd. 246–249: »Je böser die Menschen, in deren Kreis wir treten, je größer ihre Zahl, je fester ihre Verknüpfung, je gebildeter ihr Kopf, je feiner ihr Äußeres, je bedeutender ihr Einfluß auf Leistung anderer Menschen: desto schädlicher kann und wird diese böse Gesellschaft unserm Gut- und Wohlseyn werden, wenn wir ihren seuchartigen Ausflüssen durch Annäherung oder vertrauten Umgang Thür und Thor öffnen und uns davon verpesten lassen.« 76 Vgl. Rief: Reich 347–351. 77 Vgl. dazu Schindler: Prozess 243. 78 Baumgartner: Sailer (1982) 299 f. 79 Sailer, Johann Michael: Heggelin, der Gesellschafter. In: Ders.: Früchte 105–109. 80 Vgl. Klotz: Sailer 24. Keller: Moraltheologie 193 führt Sailers personalistische Pastoraltheologie auf die Bedeutung des »begriffsfern Intuitiven« zurück. Vgl. dazu auch Scheuchenpflug: Bibelbewegung 40. 81 Scheffczyk: Theologie XI f. 82 Friedhoff: Moraltheologie 126.

110  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Deshalb nehme die Liebe in dem Ausmaß zu, als die persönliche Verbundenheit zunimmt: »Denn schlechthin zu reden müssen wir einem jeden Menschen vorzugsweise diejenige Wohlthat erzeigen, welche sich auf die Rücksicht bezieht, nach welcher er näher mit uns verbunden ist. Jedoch kann sich dies nach Verschiedenheit der Orte, Zeiten und Pflichten ändern.«83 Die Liebe transformierte das institutionell und medial vermittele Verhältnis zwischen Herrscher und Untertan bzw. zwischen den Untertanen in eine persönliche Beziehung (bzw. in die Fiktion einer solchen).84 Deshalb ist der Entwurf einer auf der Liebe bzw. der Familie basierenden Gesellschaft gegen den Entwurf einer Gesellschaft gerichtet, die über transpersonale Institutionen und Medien (Recht, Bürokratie, Markt) integriert ist. Der Entwurf einer auf Liebe basierenden Gesellschaft geht davon aus, dass nur der direkte Umgang der Menschen miteinander die Übereinstimmung der Überzeugungen herstellt, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nötig ist.85 Der Raum, den sich die Liebe in der katholischen Sozialethik des Vormärz eroberte, kann deshalb als Folge des Verfalls der kirchlichen Strukturen durch die Säkularisation gesehen werden.86 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Interesse- und Bedingungslosigkeit der Liebe seit dem Vormärz in erster Linie in ihrer mangelnden Einklagbarkeit und in ihrem konstruierten Gegensatz zum Recht zeigt. Denn sie ließ sich nach der Auffassung der Zeit innerhalb und außerhalb der Theologie im Unterschied zu Gerechtigkeit nicht in formale Regeln fassen, da sie sich im konkreten und freiwilligen Handeln vollzieht und deshalb intersubjektiv nicht überprüfbar ist.87 In dieser Hinsicht ist sie ein bürgerliches Konstrukt, das erstmals im bürgerlichen Familienideal zum diskursiven Durchbruch gelangte. Es ist deshalb nur konsequent, dass Brentano die caritative Tätigkeit der Barmherzigen Schwestern auf bürgerliche Selbstständigkeit gründete. Aufgenommen würden nur Töchter von Eltern, die »wenigstens in bürgerlicher Selbstständigkeit sich ernähren können«, während Töchter »von Eltern der niedersten Classe« ausge-

83 Ebd. 128. 84 Vgl. Schlögl: Glaube (2013) 175 f. 85 Ebd. 163. 86 Zu den Folgen der Säkularisation auf die kirchlichen Strukturen vgl. Schatz: Säkularisation 27–37; Aubert / Lill / Beckmann: Reorganisation 160–173; Holzem: Christentum 911–932. – Hammerstein: Entwicklung 37 und Erdö: Geschichte 141 führen das weitgehende Fehlen rechtsphilosophischer Schriften katholischer Provenienz im Vormärz auf den Untergang katholischer Bildungseinrichtungen in der Säkularisation zurück, was allerdings eine zu reduktionistische Schlussfolgerung ist. – Raab: Wiederentdeckung 196 führt es darauf zurück, dass das Komplementärverhältnis von Imperium und Sacerdotium, das für das Verständnis der thomistischen Staatslehre bestimmend war, zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr existierte. 87 Zur Dichotomie von Recht und Liebe vgl. Zaborowski: Liebe 72–77; Luhmann: Liebe 83; Höffe: Gerechtigkeit 29–31.

Reich Gottes  111

schlossen blieben.88 Die Barmherzigen Schwestern seien »freiwillig, in der Blüthe ihres Lebens, gesund, rüstig, ohne Fehl an Körper und Ehre, aus tadellosen, selbstständigen, theils reichen Familien, alle mit ausgezeichneten Herzens- und Seelenkräften« ausgestattet in die Kongregation eingetreten.89 Zwischen dem bürgerlichen und dem katholischen sozialethischen Diskurs gab es keine grundlegenden Unterschiede. Dabei konkretisierte sich die Liebe im katholisch-sozialethischen Diskurs im Vollkommenheitspostulat der Reich-Gottes-Lehre, im Freundschaftskult und in der Barmherzigkeit.

2. Reich Gottes Für Baader stand die Tugend der Liebe über derjenigen der Gerechtigkeit, da die Liebe als »Vermittler immer höher steht als die zu Vermittelnden«. Deshalb »muß man die Offenbarung der vermittelnden und versöhnenden Liebe für eine tiefere Offenbarung Gottes anerkennen als jene seiner Gerechtigkeit (des Gesetzes), mit welcher die Kreatur zu vermitteln ist«.90 Dabei wurde die Liebe als vollkommen beschrieben. Für Lamennais war die Liebe die Tugend, die das menschliche Leben vervollkommnete: »Die Liebe hat das Menschengeschlecht erschaffen, die Liebe hat dasselbe erlöset, und die Liebe wird, seine irdische Einheit vollendend, ihm noch hienieden wie ein herrliches Vorbild dessen zeigen, was es in einem anderen Vaterlande zu werden berufen ist.«91 »Wahrlich ich sage Euch«, so Lamennais, »wer liebt, dessen Herz ist ein Paradies auf Erden.«92 Das homiletische Real-Lexikon von Krönes bezeichnete die Nächstenliebe 1860 als Gemüthsverfassung, kraft welcher wir jeden Menschen werth schätzen, ihm wohlwollen, alles Gute herzlich gönnen und aus Achtung gegen die Pflicht und Liebe gegen Gott bereit sind, seine Vollkommenheit zu erhalten und nach Kräften die Erreichung seiner dieß- und jenseitigen Bestimmung zu befördern.

Denn im Nächsten solle man Gott erkennen: »Stelle dir recht lebhaft in jedem Nebenmenschen deinen göttlichen Heiland vor, der ja auch selbst jeden Liebesdienst, den wir unseren Mitbrüdern erweisen, so ansieht, als wäre es Ihm selbst geschehen […].«93 Wegen der Orientierung der Liebe an der Vollkommenheit war auch die Behebung materieller Not nicht Zweck der Nächstenliebe, sondern 88 Brentano, Clemens: Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen- und Krankenpflege. Nebst einem Bericht über das Bürgerhospital in Coblenz und erläuternden Beiträgen. Koblenz 1831. In: Ders.: Werke 9–475, hier 36. 89 Ebd. 65. 90 Baader: Liebe 100. 91 Lamennais zit. nach Valerius: Katholizismus 224 f. Vgl. dazu auch Uertz: Gottes­recht 93. 92 Lamennais: Worte 32. 93 Krönes: Real-Lexicon IX 402–422.

112  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv das jenseitige Heil. Georg von Hertling äußerte 1874 zum Zweck der caritativ tätigen Vinzenzvereine: Der Verein vom heiligen Vinzenz bezweckt nicht als Hauptsache die Begründung oder Förderung irgendeines besonderen gemeinnützigen Unternehmens oder die Hebung irgendeines bestimmten sozialen Übels. Entsprungen aus dem lebendigen Glauben seiner Stifter und dem glühenden Eifer für die Ehre Gottes, ist sein erster und Hauptzweck die Vervollkommnung seiner Mitglieder durch die Gemeinschaftlichkeit der guten Werke.94

Martin äußerte 1882, dass die »christliche Vollkommenheit« in der Liebe bestehe. Diese Liebe Gottes, dieses unser Herz gleichsam überfließende, überströmende und unend­ lich wohlthuende Gefühl der Wonne und der Freude an Gott und an göttlichen Dingen, welches wir nicht in jedem Augenblicke in uns zu erwecken vermögen, ist hier auf Erden mehr eine Belohnung, als ein Verdienst.95

Begrifflich wurde die Liebe mit Vollkommenheit und Unbegrenztheit verbunden. Für Hirscher war die Liebe die »unbegrenzte Hingabe seiner selbst an den Vater und den Sohn« und die »freudige Vollführung eben dieses Willens und seiner Liebe an uns selbst und an unsern Brüdern«.96 Dagegen war das Recht für ihn Menschenwerk und deshalb unvollkommen97 und im Staat nur subsidiär zur Liebe tätig: Nur den Schlechten trifft der Zwang, nur ihn zügelt die Furcht. (Röm. XIII, 3. 4.) Die Schlechten aber, zu äußerem rechtlichem Wandel durch die Obrigkeit gezwungen, sind nicht der Staat; der Staat ist vielmehr die große Masse Derer, welche durch ihren Gemeinwillen die Herrschaft des Rechtes geltend machen und der Obrigkeit ihr Daseyn und ihre Macht ertheilen. Und eben so erscheint das Reich Gottes im Staate auch als Liebe: zwar noch nicht als jene frei überfließende, wohlwollende, segnende, sich selbst opfernde, welche in der Kirche und dem Wandel ihrer Heiligen sichtbar wird; wohl aber als jene negative, welche nicht verletzt – nicht tödtet, nicht stiehlt, nicht ehebricht, nicht falsch Zeugniß giebt u. s. w.98

Liebe, so Hirschers Schüler Lomb 1844, kenne »keine Grenzen«, sie sei »unbegrenzt«,99 während das Recht begrenzt und unvollkommen sei.100

94 Zit. nach Eder: Armenfürsorge 219. 95 Martin: Pfingstzeit 192. 96 Hirscher: Moral II 7. 97 Ders.: Moral III 702. 98 Ebd. 697 f. 99 Lomb: Moral 53. 100 Ebd. 192 f.

Reich Gottes  113

Für das »Geistliche Conversations-Lexicon« (1839) machte die Liebe den Menschen Gott ähnlich.101 Friedhoff machte 1865 deutlich: »Gott lieben heißt aber seinen Willen Gott gänzlich unterwerfen und mit ihm als unserem höchsten Gute vereinigt sein.«102 Dabei war es die Ignoranz gegenüber dem Gesetz, die diese Ähnlichkeit herstellte, wie der Thomist Plaßmann 1861 erkannte: Zwar kann keine Creatur, sondern nur Gott selbst, total von jedem Gesetze frei sein; aber doch kann in doppelter Weise die creatürliche Gesetzesfreiheit eintreten, entweder nämlich so, daß dieses oder jenes particuläre Gesetz nicht vorhanden, oder so, daß der vollkommen Gerechte durch vollkommen liebende Freiwilligkeit das thut, was des Gesetzes ist und so sich gewisser Maßen über das Gesetz erhebt, weil ›die Liebe des Gesetzes Erfüllung‹ ist, so daß, wenn auch kein Gesetz wäre, er doch so handelt, wie es das vorhandene Gesetz verlangte.103

Auch für Sailer war die Liebe mit Vollkommenheit verbunden. Er bezeichnete sie als das »vollkommenste Band« zwischen den Menschen untereinander sowie zwischen Mensch und Gott.104 Er wusste aber, dass diese Vollkommenheit durch den Menschen nicht zu erreichen war.105 Deshalb hoffte er auf Gott: »Die Menschheit kam aus Gottes Hand rein, helle, selig; blieb aber nicht in diesem Urstande, sondern fiel in Sünde, Nacht, Tod; kann aber und wird wieder zur reinen, hellen, seligen, zur Ur-Menschheit umgeschaffen werden durch Christus.«106 Sailers utopische Sozialethik ging von der Möglichkeit zur Wiederherstellung der Vollkommenheit des paradiesischen Menschen aus. Dies konnte er, da es die Vorstellung einer definierten Grenze zwischen Diesseits und Jenseits bzw. Immanenz und Transzendenz nicht gab, es gab noch nicht einmal die Begriffe Diesseits und Jenseits.107 Das menschliche Leben besaß trotz seiner Unvollkommenheit Anteil an der Vollkommenheit des Reiches Gottes, dem Zentralbegriff in theologischen Schriften zwischen 1780 und 1830.108 Baader lehnte deshalb 1815 eine transzendente Interpretation des Reiches Gottes ab: 101 Silbert: Conversations-Lexicon I 59 f.: »Keine Tugend bildet den Menschen Gott so ähnlich als die heilige Barmherzigkeit; darum auch liebt der Allerhöchste sie als seine wahre Freundin. Sie hält seinen allmächtigen Arm zurück; denn sie erhält von Ihm, was sie will; weil sie selbst Ihn zu ihrem Schuldner macht. Sie erbaut eine gewaltige Brücke von der Erde bis zum Himmel, auf welcher sie die Barmherzigen sicher hinüber führt.« 102 Friedhoff: Moraltheologie 99. 103 Plaßmann: Moral 329 f. 104 Sailer: Grundlehren 416. 105 Ders.: Handbuch I 128. 106 Ders.: Grundlehren 195. 107 Vgl. Kapitel IV.17. 108 Prominente Vertreter der Reich-Gottes-Lehre sind der Brixener Fürstbischof Bernhard Galura (1764–1856), der Bamberger Dogmatiker Friedrich Brenner (1784–1848), der Würzburger Dogmatiker Franz Oberthür (1745–1831) sowie die Tübinger Theologen Möhler und Hirscher. Vgl. Ruf: System 102–126.

114  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Einer Religion die sich als Botschaft des nahe gekommenen Reichs Gottes unter den Menschen ankündete, wird man doch ihre weltbürgerliche (politische) Tendenz nicht absprechen können, und wenn schon dieses Reich nicht von dieser Welt ist und kommt, so kommt es doch für und in sie.

Für ihn bestand eine »Pflicht der Herbeiführung und Ausbreitung dieses Reichs«.109 Und für Häglsperger war die Offenbarung des Johannes 1826 deshalb keine »Prophezeiung einer künftigen Entwicklung«, sondern das »Bild der bereits bestehenden Kirche«. Die Kirche sei bereits das »Messiasreich«, weshalb es keines chiliastischen tausendjährigen Friedensreiches bedürfe.110 Dabei äußerte sich die Vollkommenheit des Reiches Gottes praktisch in der Vollkommenheit der Liebe. Für Sailer war die Liebe »das Reich Gottes in uns, der uns zugleich gerecht und reich an Friede und Freude macht«.111 Für Hirscher, einen der Hauptvertreter der so genannten Tübinger Schule, welche einen Mittelweg zwischen aufgeklärtem Rationalismus und romantischem Idealismus verfolgte,112 war das Reich Gottes der in Liebe tätig gewordene Glaube.113 Im Reich Gottes solle der Wille Gottes geschehen, »der Gehorsam in Liebe herrschend sein; der heil. Geist, der Geist der hl. Liebe in uns gebieten«.114 Es verwirkliche sich im »großen freundwilligen Verkehr Aller untereinander – in dem allgemein brüderlich-geselligen Zusammenseyn«.115 Lomb stützte sich in seiner 1844 erschienenen Moraltheologie auf seinen Lehrer Hirscher, als er die Bestimmung des Menschen darin sah, »daß das Reich Gottes zu ihm komme und er der Güter dieses Reiches theilhaftig werde (Matth. 6, 10)«.116 Aufgabe der Moraltheologie sei es deshalb, »innere Heiligung und Liebe zur Tugend, aber auch äußere Liebe-Thätigkeit zu erzeugen«.117 Das Reich Gottes äußere sich aber in der Nächstenliebe: Nicht bloß Kenntniß und Achtung des Mitmenschen ist Pflicht, wir sind gegen denselben auch zu einem aus übernatürlichem Beweggrunde (der Liebe Gottes) hervorgehenden thätigen Wohlwollen verpflichtet oder zur christlichen Nächstenliebe, welche die Liebe Gottes in ihrer Thätigkeit gegen den Nächsten ist, thätig zur Förderung des Wohles des Nächsten und geleitet durch Beweggründe, welche sich auf Gott beziehen.118 109 Baader: Revolution 24. 110 Häglsperger: Wiedererhöhung II 365–367. 111 Sailer: Handbuch II 1–5. 112 Zur Tübinger Schule vgl. Aubert / Lill: Erwachen 294–296; Holzem: Christentum 951–957. 113 Hirscher: Moral III 1. 114 Ders.: Moral II 2. 115 Ders.: Moral III 372 f. 116 Lomb: Moral 1. 117 Ebd. 7. 118 Ebd. 215.

Reich Gottes  115

Am radikalsten wurden die sozialen Implikationen des Reiches Gottes von Lamennais vertreten. Im Juni 1831 veröffentlichte dieser in seiner Zeitschrift »Avenir« eine Artikelserie unter dem Titel »Über die Zukunft der Gesellschaft«. Er entwarf die apokalyptische Vision einer idealen Gesellschaft, die die letzte auf Erden sein werde, zwangsläufig herbeigeführt durch die revolutionären Krisen der Gegenwart.119 In »Paroles d’un croyant« entfaltete er die Möglichkeit einer idealen Gesellschaft 1834 in 41 Visionen.120 In ihr herrsche aufgrund der Gottesebenbildlichkeit des Menschen natürliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die durch die Verführung des Satans verloren gegangen seien.121 Armut als Folge der Sünde und damit dämonischen Wirkens gebe es nicht mehr.122 Lamennais sah »Satan entfliehen und Christus, umgeben von seinen Engeln, kommt um zu herrschen«.123 Das praktische Mittel zur Herstellung dieser egalitären idealen Gesellschaft war die Liebe: »Und Jeder wird sich lieben in seinem Bruder und wird sich glücklich schätzen, wenn er ihm dienen kann, und es wird weder Kleine noch Große geben, vermöge der Liebe, die Alles gleich macht, und alle Familien werden nur Eine Familie seyn und alle Nationen nur Eine Nation.«124 Dabei besaß der Mensch keine Verantwortung für die Herstellung dieser idealen Gesellschaft. Sie werde vielmehr bewirkt durch die göttliche Vorsehung, der sich der Mensch nicht entziehen könne.125 Trotzdem sah die Kurie in den Ausführungen von Lamennais den Aufruf zur Revolution und verurteilte ihn mit der Enzyklika »Singulari nos« am 25. Juni 1834 zum zweiten Mal nach »Mirari vos« (15. August 1832). Mit dieser zweiten Verurteilung erst nahm der Einfluss von Lamennais ab. Nur noch Baader blieb Anhänger von Lamennais.126 Konsequent zu Ende gedacht werden musste die Reich-Gottes-Lehre außerhalb der katholischen Theologie. Der Tübinger Apologet Möhler kritisierte schließlich die »Weltbeglückungstheorie«127 der frühsozialistischen Saint-Simonisten, die eine »völlige Vertilgung alles Bösen« versprechen.128 Im Reich Gottes war die Kompetenz des Teufels genauso stark eingeschränkt wie die Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Das dämonologische Werk eines anonymen Freiburger Diözesanpriesters, das 1846 unter dem Titel »Der Schild des Glaubens wider alle zeitliche Uebel« erschien und in dem die Not 119 Vgl. Valerius: Katholizismus 215–250. 120 Vgl. dazu Gurian: Ideen 147; Valerius: Katholizismus 14–22; Uertz: Gottesrecht 91–106. 121 Lamennais: Worte 5 f. 122 Ebd. 76–78. 123 Ebd. 4. 124 Ebd. 52. 125 Es ist deshalb problematisch, Lamennais mit Aubert: Phase 321 f. als katholischen Liberalen zu bezeichnen. 126 Vgl. Valerius: Katholizismus 356–358; zur Verurteilung von Lamennais vgl. Aubert: Phase 336–347. 127 Möhler: Saint-Simonismus 45. 128 Ebd. 50.

116  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv wendigkeit des menschlichen Kampfes gegen das Böse betont wurde, stieß auf die Kritik der Amtskirche. Das Erzbischöfliche Ordinariat von München und Freising warnte am 27. Februar 1846 vor diesem Buch, indem es feststellte, dass »die Lehre von dem Einfluße des Teufels in einer solchen Ausdehnung und Allgemeinheit vom Sinne und der Praxis der Kirche abweiche«.129 Das Regensburger Ordinariat folgte am 3. März. Es sei zu befürchten, daß dadurch der gemeine Mann, welcher ohnehin geneigt ist, alle Krankheiten und andere Übel für Wirkungen des Teufels oder böser Menschen zu halten, in dieser Neigung und Meinung sehr bestärkt werde, da in der bezeichneten Schrift fast alle physischen und moralischen Übel dem Teufel zugeschrieben werden.130

Westermayer stellte 1848 fest, dass das Verlangen nach Exorzismen in der Landbevölkerung zunehme und kritisierte diese Entwicklung. Man finde »in ganz natürlichen Sachen oft etwas Unheimliches und wittert den Teufel dahinter«.131 Während sich Theologie und Kirche im Gnadendispositiv befanden, agierte zumindest ein Teil der Gläubigen im alltäglichen Leben im Exorzismusdispositiv. Das lag nahe. Denn der volkstümliche Teufel war im Unterschied zu Gott ohnehin nie besonders furchterregend, da man mit ihm handeln und ihn auch betrügen konnte.132 Für die Theologen hatte der Teufel im Reich Gottes aber kaum Platz. Die Reich-Gottes-Lehre war die katholisch-theologische Konkretion des romantischen Strebens nach Einheit, das sich einer dualistischen Weltsicht verschloss.133 Dieser romantische Monismus zeigt sich etwa bei Görres, ohne dass dieser das Reich Gottes thematisierte. Für Görres wurden dualistische Gegensätze in einem höheren dritten Element ausgeglichen und zur Harmonie gebracht.134 Görres vertrat einen biologisch-chemischen Monismus. Psyche und Soma waren nicht getrennt: Jede geistige Gährung entspringt aber, wie die chemische, aus dem Stoß und Kampf von Gegensätzen, und je tiefgreifender diese Gährung das Geisterreich bewegt, je gründlicher und ernstlicher alle großen Elemente von Staat und Kirche in Streit begriffen sind, um so größere Allgemeinheit werden jene Gegensätze gewinnen; und da jeder nothwendig in einem Zwiespalt der Triebe wurzelt, werden endlich alle Grundtriebe der menschlichen Natur in den Kampf hineingezogen, sichtbar in der stärksten

129 Rundschreiben des Erzbischöflichen Ordinariats München und Freising vom 27.2.1846. BZAR , OA-Gen 2367. 130 Erlass des Bischöflichen Ordinariats Regensburg vom 3.3.1846. BZAR , OA-Gen 2367. 131 Westermayer: Bauernpredigten II/I 263–271. 132 Vgl. dazu Delumeau: Angst 372. 133 Zur Harmonie- und Einheitsphraseologie der Romantik vgl. Groh: Gesellschaftskritik 21–37. 134 Vgl. dazu Uertz: Gottesrecht 123 f.

Freundschaft  117

Bewegung arbeiten und wenn sie das Höchste ihrer Thätigkeit erreicht, den Streit der aufgeregten Kräfte endlich zur Entscheidung treiben. Es deutet aber jeder Grundtrieb eben durch seine Allgemeinheit auf ein Bleibendes und Festes, um dessen Mitte das Wandelbare seine Bahnen und Wellenlinien schließt; sie also, diese Grundtriebe eben, sind das Stehende in der sittlichen Natur und bezeichnen die Himmelsgegenden, nach denen sie selbst mitten im Sturme kämpfender Leidenschaften sich orientiren mag.135

Schließlich löst sich dieser agonale Gegensatz in Harmonie auf: Dieser Umschwung irdischer Dinge in der Mäßigung wechselseitiger Gegensätze wird für die äußere Anschauung in der überall sich selbst gleichartigen Kreislinie erfolgen, wenn jene Gegensätze dort für die Anschauung in einer Richtung sich aufgeschlossen und verschieden mitten in der Vereinigung auseinander treten, indem sie sich zu beyden Seiten der nun blos idealen Mitte in zwey Brennpunkte setzen; dann wird die Kreislinie in eine Oblonge ausgezogen, die überall mitten in der Gleichartigkeit ungleichartig ist. Es wird sich alsdann eine lange Achse bilden, an deren beyden Enden selbst wieder in der Temperatur einer der Gegensätze um den andern vorherrschend erscheint, während über die umschreibende Linie hinaus der Tummelplatz der gelös­ ten Kräfte fällt.136

3. Freundschaft Die Bedeutung der Liebe für die katholische Sozialethik zeigte sich nicht zuletzt darin, dass die katholische Erneuerung im Vormärz, sowohl in Frankreich wie auch im deutschen Sprachraum, nicht von der Amtskirche ausging, sondern von privaten Zirkeln, die aus Klerikern und Laien gleichermaßen bestanden. Diese Zirkel Gleichgesinnter agierten in einem Raum der Halböffentlichkeit, entsprechend der noch nicht gänzlich entfalteten bürgerlichen Gesellschaft. Sie gründeten auf persönlicher Bekanntschaft. Sie besaßen keine Struktur, die über persönliche Kontakte hinausgegangen wäre. Ihre Tätigkeit war deshalb unkoordiniert, ihr Zusammenhalt locker, ihr Bestehen kurzlebig. Sie besaßen keine festgefügte Struktur, sondern bildeten sich um Kristallisationskerne.137 Es kam allenfalls zu persönlichen Kontakten zwischen den Zirkeln.138 Nach Aussage des

135 Görres, Joseph: Europa und die Revolution. Stuttgart 1821. In: Ders.: Politische Schriften 145–285, hier 151 f. 136 Ebd. 163. 137 Zu diesen Zirkeln vgl. Dantine / Hultsch: Lehre 297; Hahn / Berding: Reformen 398 f.; Herres: Gesellschaft 122–127; Hürten: Geschichte 51 f.; Kapfinger: Eoskreis 1. 138 So zwischen dem Mainzer Kreis und der Gruppe um Görres. Vgl. Kapfinger: Eoskreis 94–97.

118  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Kirchenhistorikers Klaus Schatz handelte es sich dabei insgesamt um nie mehr als 100 Personen.139 In Münster hatte sich bereits am Ende des 18. Jahrhunderts ein Kreis katholischer Protagonisten um die 1786 konvertierte Fürstin Amalie von Gallitzin (1748–1806) geschart.140 In Wien bildete sich 1788 eine Gruppe um den Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer (1751–1820). Diese umfasste Schlegel, Adam Müller, den konvertierten Maler Friedrich von Klinkowström (1779–1835), den Historiker Franz Bernhard von Bucholtz (1790–1838), die Schriftsteller Clemens Brentano und Zacharias Werner (1768–1823), schließlich Joseph Anton von Pilat (1782–1865), den Privatsekretär des österreichischen Staatskanzlers Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859).141 Im Vormärz entstand dann in Bonn ein Kreis um den Arzt Karl Joseph Windischmann, Guido Görres (1805–1852), den Sohn von Joseph Görres, den konvertierten Juristen Jarcke, den Historiker Johannes Möller (1806–1862), Bernhard (1803–1859) und Joseph (1804–1859), beides Söhne des Konvertiten Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, sowie Johann Theodor Laurent (1804–1884), nachmaliger Apostolischer Vikar von Luxemburg.142 Im wiedererrichteten Benediktinerkloster Neuburg bei Heidelberg trafen sich der konvertierte Privatgelehrte Johann Friedrich Heinrich Schlosser (1780–1851), Friedrich Schlegel, die Ärzte Karl Passavant (1790–1857) und Windischmann, die Kirchenmänner Andreas Räß (später Bischof von Straßburg, 1794–1887) und Nikolaus Weis (später Bischof von Speyer, 1796–1869) sowie mit Moritz Lieber (1790–1860) ein Protagonist des politischen Katholizismus.143 In Koblenz sammelten sich um den Fabrikanten Hermann Joseph Dietz (1782–1862) der Arzt Joseph Maria Settegast (1780–1855) sowie die Brüder Clemens und Christian Brentano (1784–1851). Ihre Aufgabe sahen sie in persönlich ausgeübter Krankenpflege.144 Karitativ tätig waren auch die von dem katholischen Kirchenhistoriker Erwin Gatz als »Freundeskreise« bezeichneten Zirkel in Aachen und Paderborn. In ihnen waren insbesondere auch Frauen tätig, Pauline von Mallinckrodt (1817–1881) in Paderborn und Aachen, die Konvertitin Luise Hensel (1798–1876), Clara Fey (1815–1894) und Franziska Schervier (1819–1876) nur in Aachen.145 Ein Mainzer Kreis um die Kleriker Räß, Weis und Bruno Franz

139 Vgl. Schatz: Säkularisation 58 f. Nach Konrad Repgen handelte es sich dabei um höchsten 200 Personen. Vgl. Repgen: Entwicklungslinien 20 f. 140 Zum Münsteraner Kreis vgl. Aubert / Lill: Erwachen 263 f.; Gatz: Kirche 302–304; Schatz: Säkularisation 60; Sudhof: Aufklärung. 141 Zum Wiener Kreis um Hofbauer und Schlegel vgl. Aubert / Lill: Erwachen 264–266; Kraus: Romantik 51; Schatz: Säkularisation 64 f.; Weiß: Hofbauer 211–237. 142 Zum Bonner Kreis vgl. Bär: Beziehungen 229–232; Dyroff: Windischmann 66. 143 Zum Kreis um Schlosser vgl. Fink-Lang: Görres 271–274. 144 Zum Koblenzer Kreis vgl. Gatz: Kirche 354–359; Weber: Aufklärung. 145 Vgl. dazu den Überblick bei Gatz: Kirche 351–371.

Freundschaft  119

Leopold Liebermann (1759–1844) wurde zur Keimzelle des Ultramontanismus im deutschen Sprachraum.146 An der Universität Landshut sammelte Sailer einen Kreis vor allem von Schülern um sich. Zu ihm gehörten die Ärzte Ringseis, Andreas Röschlaub (1768–1835) und Joseph Löw (1785–1809), der Physiker Karl Amann, die späteren Bischöfe Franz Xaver Schwäbl (Regensburg, 1778–1841), Georg Öttl (Eichstätt, 1794–1866) und Melchior Diepenbrock (Breslau, 1798–1853), die hohen bayerischen Beamten Karl Rottmanner (1783–1824), Karl Graf von Seinsheim (1784–1864) und Eduard Schenk (1788–1841) sowie der von allem Katholischen beeindruckte protestantische Jurist Friedrich Carl von Savigny (1779–1861). Zu den Ritualen des Sailerkreises gehörten gemeinsame Spaziergänge sowie gemeinsame Abendessen mit anschließenden Lesestunden in Sailers Wohnung, um die Anwesenden persönlich bekannt zu machen.147 Mit seinem Landshuter Schülerkreis setzte Sailer eine Gewohnheit aus seiner Dillinger Zeit fort. Bereits dort hatten in seiner Wohnung fast täglich private Gesprächskreise zu festgelegter Stunde stattgefunden.148 In München existierte ein Kreis um Baader, der die Beeinflussung von universitären Berufungen beabsichtigte. Die Berufungen von Ignaz Döllinger (1799–1890) und Görres nach München fanden unter seiner Einwirkung statt.149 Nach der Verlegung der Universität von Landshut nach München im Jahr 1826 fand dieser Kreis in Görres seinen Mittelpunkt. Der nach ihm dann so benannte Görreskreis bestand aus Wissenschaftlern, Staatsbeamten, Schriftstellern und bildenden Künstlern. Zu ihnen gehörten der Arzt Ringseis, der Theologe Döllinger, der nazarenische Maler Peter von Cornelius (1783–1867), die hohen bayerischen Beamten Karl Maria von Aretin (1796–1868), Carl von Kleinschrod (1797–1866), Joseph Ernst von Koch-Sternfeld (1778–1866), Carl August von Oberkamp (1788–1850) und Seinsheim sowie der Militär Anton Seyfried. Der Görreskreis gelangte zu publizistischer Wirksamkeit, als die Redaktion der Zeitschrift »Eos« am 1. Juli 1828 unter seinen Einfluss geriet150 und ab 1837 dann die »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland«.151 Eine über persönliche Bekanntschaft hinausreichende Wirksamkeit wurde dadurch allerdings nicht etabliert. Denn die Auflage der »Eos« betrug nur 150 Exemplare.

146 Zum Mainzer Kreis vgl. Aubert / Lill: Erwachen 268–270; Holzem: Christentum 977 f.; Lenhart: Theologenschule; Schatz: Säkularisation 65 f. 147 Zum Sailerkreis in Landshut vgl. Aubert / Lill: Erwachen 266–268; Funk: Aufklärung 164–192. 148 Scheuchenpflug: Bibelbewegung 24. 149 Vgl. Kapfinger: Eoskreis 7–16. 150 Zum Görreskreis vgl. Bär: Beziehungen 205–229; Fink-Lang: Görres 271–274; Kapfinger: Eoskreis 21–26; Lempfrid: Anfänge 24 f.; Schatz: Säkularisation 67–69. 151 Kapfinger: Eoskreis 119 f.

120  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Damit war es möglich, die führenden katholischen Persönlichkeiten zu vernetzen, nicht jedoch, eine Massenwirkung zu erzielen.152 Diese Zirkel stellen eine Form kommunitärer Organisation dar. Sie erreichen Verbindlichkeit aus der Freiwilligkeit des Beitritts und nicht aus dem Recht. Den Verbindlichkeiten entsprechen keine einklagbaren Rechte. Denn kommunitäre Organisationen »verweigern sich der strengen Geometrie von Rechten und Pflichten« (Cornelia Vismann). Die Regeln der Gemeinschaft ergaben sich aus der gemeinsamen Praxis. Ihre Durchsetzung oblag der Gemeinschaft.153 Diese gemeinsame Praxis wurde als Geselligkeit bezeichnet. Für Bernhard Fuchs war die Geselligkeit 1851 die »gesteigertste und umfassendste Form, worin die christliche Liebe sich in irdisch-socialer Hinsicht offenbart«. Sie bestehe in dem heitern, anspruchslosen, brüderlichen Umgange mit dem Mitmenschen und bewährt sich in nachsichtsvoller Milde und ungeheuchelter Freundlichkeit, wodurch es allein möglich ist, die sich vielfach berührenden und durchkreuzenden Interessen und Verhältnisse des menschlichen Zusammenlebens in sich zu versöhnen und zu vereinbaren.

Deshalb war die Geselligkeit für ihn die Grundlage für »ein sittliches Gesammtleben«. Über die Barmherzigkeit hinaus wolle sie »innigere und festere Verbindungen unter den Menschen stiften und anknüpfen«.154 Häglsperger beschrieb den Binabiburger Pfarrer Simon Zollbrucker (1753–1823) in einer Biographie 1823 als liebenden, da geselligen Menschen. Er sprach von »seiner ganzen jovialen Lebendigkeit« und seiner »unbefangenen, liebenswürdigen Weise«.155 Seine »vorzüglichsten Freunde« – darunter Sailer, Schwäbl, der Regensburger Weihbischof Georg Michael Wittmann (1760–1833) und der klerikale Jugendbuchautor Christoph Schmid (1768–1854) – besuchten ihn regelmäßig, um »freudige Geselligkeit« mit ihm zu teilen.156 An dem Priester Heggelin, über den Sailer ein Lebensbild verfasste, lobte er, dass er ein guter »Gesellschafter« gewesen sei: »Im Kreise seiner Freunde, noch mehr im Umgange mit Einem Freunde, that sich seine große schöne Seele weit auf.«157 Geselligkeit war also die Praxis der Freundschaft, die als Konkretion der Liebe verstanden wurde. Der Freundschaftszirkel stellte somit die soziale Konkretion des Gnadendispositivs dar. Für den Dogmatiker Klee war die Freundschaft 1843 »die zwischen mehreren bestehende nähere Vereinigung des Willens und Gemüthes, behufs der gegenseitigen besonderen Vervollkommnung und Förderung im Gebiete des Wahren, Schönen und Guten«. Ihr »Fundament« sei die Liebe 152 Darauf wies bereits Ebd. 92 hin. 153 Vismann: Benedict 371. 154 Fuchs: System 511 f. 155 Häglsperger: Zollbrucker 56. 156 Ebd. 55–64. 157 Sailer, Johann Michael: Heggelin, der Gesellschafter. In: Ders.: Früchte 105–109.

Freundschaft  121

Gottes, weshalb es zwischen Bösen keine Freundschaft geben könne.158 Freundschaft war für Sailer die vollkommenste Form der Liebe.159 Denn sie bedeute die »vollkommene Harmonie der Herzen«, wie sie nur zwischen Gleichgesinnten vorkommen könne: Wenn die Denkarten in zweien Menschen auseinander laufen, und in allem, was dem Menschen wichtig seyn kann, divergiren: dann werden die Herzen nie so konvergiren, nie einander so nahe kommen, nie so fest aneinander halten, daß Freundschaft entstehen kann. Lieben kann ich als Bruder, als Menschen jeden Andersdenkenden. Aber diese Liebe kann nicht Freundschaft werden, wenn unsere Denkarten nicht wenigstens in einigen Punkten zusammentreffen.160

Der Wiener Kreis um Hofbauer nannte sich »Bund christlicher Freundschaft«.161 Sailer selbst urteilte über seinen Kreis: Gerade die besten Talente und die reinsten Gemüter sind durch das Band der Freundschaft am kräftigsten angezogen worden. Und was die Wahrheit einmal gebunden hatte, konnte keine Lüge mehr scheiden. Und so oft die Freunde, die nach vollendeten Studien der Eintritt in mancherlei geschlossene Laufbahnen leiblich voneinander trennen mußte, nach viel oder wenig Jahren sich einander wiedersahen, einander wiederfanden, da tat sich jedesmal, wie an einem hohen Festtage, ein neuer Himmel von Freude auf.162

Tatsächlich hielt das Netzwerk der Schüler Sailers über dessen Weggang von Landshut hinaus.163 In der Kommunikation zwischen Sailer und dem reformierten Pfarrer und Pädagogen Johann Kaspar Lavater (1741–1801) spielte das gegenseitige Versichern der Freundschaft eine zentrale Rolle.164 Die Beziehun 158 Klee: Grundriß 142 f. – Friedhoff: Moraltheologie 84 f.: »Jeder Freund wünscht zuerst, daß sein Freund Dasein und Leben habe; zweitens er will ihm Gutes; drittens er wirkt Gutes in Beziehung auf ihn; viertens er erfreut sich über seinen Umgang; fünftens er stimmt mit ihm überein, Freude und Leid mit ihm theilend. Alle diese Momente finden sich auch in der Liebe Gottes, welche nichts anderes ist, als die Freundschaft mit Gott.« 159 Sailer: Glückseligkeitslehre 225: »Wahre Freundschaft ist vollkommene Harmonie der Herzen, wenigstens eine so vollkommene, daß Jeder seiner selbst vergessen kann, um an das Wohlseyn seines Freundes zu denken. Denn, wenn die Eigenliebe noch so unbändig in uns herrscht, daß wir nur uns in Andern lieben, so lieben wir uns, und nicht Andere. Wie nun das Reich der Eigenliebe in uns unterdrückt wird, so kann die Liebe gegen Andere empor kommen. Und wie diese Liebe gegen Einen oder Mehrere reiner und fester wird, so kann sie Freundschaft werden.« 160 Ebd. 224 f. 161 Hersche: Muße 1039. 162 Sailer zit. nach Creutz: Schmid 176.  – Magnus Jocham beschrieb den Sailerkreis in Landshut ebenfalls mit Hilfe der Liebessemantik, und zwar als »Familie«. Jocham zit. nach Ebd.: 176. 163 Vgl. Funk: Aufklärung 164–192. 164 Vgl. dazu Friemel: Sailer 206 f.

122  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv gen zwischen Sailer und der protestantischen Familie der Grafen zu StolbergWernigerode fanden auf der Grundlage persönlicher Freundschaft statt. Der Briefwechsel ist bestimmt von Herzlichkeit und persönlicher Anteilnahme. Es herrschte eine Atmosphäre des Vertrauens und der Intimität.165 Bezeichnend sind die Benennungen, mit denen Sailer seine Beziehung zu Eleonore Auguste zu Stolberg-Wernigerode (1748–1821) beschrieb. Diese sei eine »himmlische Geselligkeit«, eine »vom Himmel ratifizierte Freundschaft«, eine »Harmonie in der Liebe des Allerheiligsten«, eine »Verschwisterung der Herzen«. Die Gräfin war für Sailer eine »Freundin in und vor dem, der Herzen sieht und bindet.«166 Deshalb liegt es nahe, Sailer mit dem evangelischen Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Kantzenbach als »Genie der Freundschaft« zu bezeichnen.167 Diese Art der freundschaftlichen Kommunikation zeigte sich auch unter den Schülern Sailers. Öttl schrieb am 26. Juli 1827 an Schenk: Je weiter von Ihnen entfernt, desto glühender meine Sehnsucht nach Ihnen. Wie vieles hat sich im geheimsten Grunde meines Herzens gesammelt, was ich ausser dem ewigen Zeugen meiner Gedanken nur Ihnen mitteilen möchte! – Und was ich eben darum auch nicht dem Papier anvertrauen mag. Sonderbar, dass Freunde, die in demselben Lichte wandeln, von derselben Liebe zum Wahren, Guten, Schönen erglühen, mit gleicher Willenskraft, obgleich auf verschiedenen Wegen, dasselbe Ziel erstrebten, dennoch wie Fremdlinge nebeneinander wohnen, – gerade jetzt tut es not, dass die Freunde des Besseren sich fest aneinanderschliessen und um den Fürsten [König Ludwig I. von Bayern] eine Mauer bilden – undurchdringlich den Pfeilen der Tücke, Bosheit und Gottlosigkeit, gerade jetzt, da sich so viele bemühen, den blühenden Baum seiner Äste zu berauben; sapienti sat.168

Am 27.  September 1827 brachte Öttl in einem Brief an Schenk die Hoffnung zum Ausdruck, »dass die Freunde des Königs – und eben darum die Freunde des Wahren und Guten sich inniger verbinden, um sich gegenseitig zu ermutigen und zu schirmen gegen die geheimen Machinationen falscher Freunde und Königsfeinde«.169 Diese Phraseologie der Liebe ging Hofbauer nun aber entschieden zu weit: »Die Briefe der Schüler Sailers enthalten nichts als Liebe und Liebe. Aber diese Liebe erschien mir als etwas Kaltes, daß es mich ekelte, als ich einige dieser Briefe gelesen hatte.«170

165 Vgl. dazu Baumgartner: Sailer (2009). 166 Zit. nach Friemel: Sailer 255. 167 Zit. nach Ebd. 206 f. Schindler: Prozess 242 bezeichnete Sailer als »Vertreter der bürgerlich-romantischen Freundschaftsidee«. 168 Zit. nach Kapfinger: Eoskreis 18 f. 169 Zit. nach Ebd. 19. 170 Gutachten Klemens Maria Hofbauers über Johann Michael Sailer von 1817, zit. nach Creutz: Schmid 222.

Freundschaft  123

Freundschaften erfüllen Aufgaben sozialer Integration.171 In der stratifikatorischen Gesellschaft herrschen nach Durkheim direkte soziale Beziehungen auf der Grundlage emotionaler Bindungen, woraus Solidarität entsteht.172 Nach dem Soziologen Ferdinand Tönnies (1855–1936) sind derartige emotionale Bindungen (Familie, Nachbarschaft, Freundschaft) charakteristisch für Gemeinschaften, während Gesellschaften auf rationaler Kalkulation und Arbeitsteilung basieren, weshalb Gemeinschaften mit zunehmender sozialer und ökonomischer Rationalisierung an Bedeutung verlieren.173 Der Soziologe Anthony Giddens sieht in den freundschaftlichen Zirkeln dagegen keine vormodernen Relikte und siedelt sie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft an. Für ihn stellen institutionalisierte Freundschaften die für soziales Handeln nötige Vertrautheit her, wenn die vormodernen Gemeinschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen nicht mehr ausreichten, während es die für das soziale Handeln der Moderne charakteristische nichtfeindliche Interaktion mit anonymen Anderen noch nicht gebe.174 Die soziale Bedeutung von Freundschaften stellt demnach ein Kennzeichen von beginnender Moderne dar. Damit stimmt die systemtheoretische Analyse der sozialen Bedeutung von Freundschaft von dem Sexualwissenschaftler Igor S. Kon überein. Mit fortschreitender funktionaler Differenzierung der Gesellschaft gewannen Freundschaftsbeziehungen an Intimität und verloren an Formalität. Ständische Beziehungen verloren zugunsten von intimen Beziehungen an Bedeutung. Deshalb boten sie die von der Individualisierung geforderte Möglichkeit einer absolut freien, totalen und intimen Kommunikation. Dabei besitzen Freundschaften nur nach innen egalitären, nach außen aber elitären Charakter, da sie für Außenstehende unzugänglich sind.175 Dadurch entstand eine emotionale Kommunikationsstruktur, die so genannte Empfindsamkeit. Gefühle wurden aufgrund ihrer Natürlichkeit zur Basis sozialer Beziehungen erhoben und der Unnatürlichkeit der ständischen Beziehungen gegenübergestellt. Sie konnten in Salons und Logen als Rückzugsräumen vor dem absolutistischen Staat gepflegt werden. Das semantische Feld, mit dem diese Beziehungen bezeichnet wurden, oszillierte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen den Begriffen Liebe und Freundschaft.176 Mit der Bedeutung der auf Freundschaft gründenden Kommunikationsformen korrespondiert die Ablehnung der Vereine. Hirscher war ein Gegner

171 Vgl. dazu Kon: Freundschaft 50–73. 172 Vgl. dazu Baurmann: Theorie 87. 173 Vgl. dazu Kon: Freundschaft 15 f.; Merz-Benz: Tiefsinn. 174 Giddens: Konsequenzen 148 f. 175 Vgl. dazu Kon: Freundschaft 50–73. 176 Vgl. dazu Kuhn: Liebe 183–192; Vincent-Buffault: Exercice; Wegmann: Diskurse; Hoffmann: Freundschaft 194–204; Kon: Freundschaft 60–73; Schmidt: Handlanger 104–108; Aschmann: Zeitalter 90–97.

124  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv katholischer Vereine.177 Romantiker wie Müller, Schlegel, Görres und Baader waren vereinsfeindlich eingestellt.178 Die geringe Zahl katholischer Vereine im Vormärz lag deshalb nicht nur an den rechtlichen Restriktionen gegen die Vereine,179 sondern auch am Widerwillen gegen die transpersonale juridische Kommunikationsform Verein.

4. Barmherzigkeit In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traf eine wachsende Bevölkerung auf stagnierende natürliche Ressourcen. Die Nahrungsmittelpreise stiegen, während die Löhne nominell oder auch real sanken. Die Industrialisierung war noch schwach. Deshalb blieben die Erwerbsmöglichkeiten hinter dem Bevölkerungswachstum zurück. Dies und wirtschaftsrechtliche Liberalisierungen (Gewerbefreiheit, Bodenreform) setzten eine ökonomische Dynamik frei, die die sozialen Probleme noch verschärfte, nicht zuletzt dadurch, dass soziale Sicherungen durch die Abschaffung der Zünfte entfielen. Der Pauperismus als neues soziales Phänomen entstand. Einer wachsenden Anzahl von Menschen war es nicht möglich, sich den Lebensunterhalt durch die eigene Arbeit zu verdienen.180 In diesem Prozess wurde Armut vom Begriff rechtlicher Ungleichheit in der ständischen Gesellschaft zum Begriff materieller Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft.181 Die rein reaktiv wirksame Armenfürsorge, die aus einem grobmaschigen Netz kommunaler Armenfürsorge und ergänzenden privaten sowie betrieblichen Initiativen bestand, war bald überlastet. Seit den 1840er Jahren wurde das Problem als »soziale Frage« bezeichnet und intensiv diskutiert.182 Die tradierte Beteiligung der Kirchen an der kommunalen Armenfürsorge machte die soziale Frage zu einem theologischen Problem. Dabei betont der Kirchenhistoriker Bernhard Schneider die Bedeutung des theologischen Armutsdiskurses im Vormärz für die Konstruktion katholischer Identität. Er sieht in ihm ein Mittel der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, da seine wesentliche

177 Hirscher befürchtete, Vereine könnten sich in kirchliche Angelegenheiten mischen. Vgl. Heinen: Katholizismus 116–119; Buchheim: Verbandskatholizismus 43 f. 178 Vgl. dazu Müller: Korporation 86–146. 179 Im Jahr 1832 wurden alle politischen Vereine im Deutschen Bund verboten. Vgl. Herres: Gesellschaft 24–32. 180 Zur Entwicklung des Pauperismus vgl. Schulz: Armut 389–393. 181 Arm war nach Ansicht des »Homiletischen Real-Lexicons« allein derjenige, der seinen Lebensunterhalt nicht ohne Hilfe bestreiten konnte. Vgl. Krönes: Real-Lexicon I 360–365. Zur Konstruktion des Armutsbegriffs im Vormärz vgl. Schneider: Armut 23. 182 Zur kommunalen Armenfürsorge im Vormärz vgl. Sachße / Tennstedt: Geschichte 195–214; zu den privaten Initiativen vgl. Ebd. 214–244.

Barmherzigkeit  125

Funktion darin bestanden habe, die Nützlichkeit der Kirche zu erweisen.183 Die Bedeutung, die der sozialen Frage in der katholischen Sozialethik beigemessen wurde, zeigt sich etwa darin, dass sie von den Historisch-politischen Blättern 1865 als die »wichtigste aller Fragen« bezeichnet wurde.184 Dabei wurde der neuartige strukturelle Charakter der sozialen Frage, weshalb Armut nicht mehr individuelle Not, sondern gesellschaftliches Problem war, zunächst nicht erkannt. Es wurden personalistische Lösungen vorgeschlagen, die der zeitgenössischen Dominanz der Liebe im sozialethischen Diskurs entsprachen. Davon machte auch der Liberalismus keine Ausnahme. Wohltätigkeit wurde genauso als Angelegenheit der individuellen Moral betrachtet wie Armut, die auf individuelles, auch moralisches, Fehlverhalten zurückgeführt wurde. Armut galt in der liberalen Sozialethik zudem als Garant für Fleiß und wurde nur als Gefahr für den sozialen Frieden und aus Angst vor gesellschaftlichen Funktionsstörungen bekämpft.185 Ihre betriebliche Konkretion fand diese Sozialethik im patriarchalischen Arbeitsverhältnis. Dieses patriarchalische Arbeitsverhältnis basierte auf der Liebe und wollte sich deshalb nicht juristisch binden lassen. Denn eine »Beziehung der Wohltätigkeit zu legalisieren läuft letztlich auf ihre Zerstörung als Machtbeziehung hinaus«, so der Sozialversicherungshistoriker Ewald.186 Liebe basiert im Unterschied zu Gerechtigkeit also auf der Erfahrung von Ungleichheit. Denn in der Liebe wird eine Differenz erfahren, die in Identität nicht aufhebbar ist, da Menschen einzigartig sind.187 Dessen war sich bereits Baader bewusst: Wenn man das Wesen der Liebe mit Recht in das Vereint- und Ausgeglichensein, in die Vollendung und wechselseitige Ergänzung der Einzelnen durch ihren Eingang und Subjektion unter ein gemeinschaftlich Höheres, den Eros, setzt  – denn jede Union kommt nur in einer Subjektion zustande –, so muß man bedenken: a) daß nur Ungleiches einer Ausgleichung fähig ist und ihrer bedarf, wie denn nicht gleichlautende (unisone), sondern nur unterschiedene Töne einen Akkord geben.188

183 Vgl. Schneider: Armut 25–31; ders.: Armutsdiskurse; ders.: Konfessionen; Schroeder: Kooperation. 184 Zur Kritik von Lösungen der socialen Frage. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 117–131, 196–208 und 274–293, hier 117 f. 185 Zur liberalen Sozialethik vgl. Metz: Geschichte 30; Rüb: Risiko 305; Evers / Nowotny: Umgang 96–110. 186 Ewald: Vorsorgestaat 169. 187 Zaborowski: Liebe 69–71. 188 Baader: Liebe 94. Ähnlich Ders.: Revolution 9: Als gesellschaftlich organisierendes Prinzip setze Liebe »Ungleichheit zwischen den sich Verbindenden voraus, weil zwischen Gleichen nur Anhäufung (Aggregation) statt findet und die Verbindung als Aktus (Wirksamkeit, Handlung) begriffen nur ein beständiges inneres Ausgleichen (Nähern, Zusammenbringen) eines äusserlich Ungleichen (Entfernten, Verschiednen) ist.« Vgl. dazu Baumgardt: Baader 368–396; Betanzos: Philosophie 53.

126  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Die bedingungslose Liebe war zur Tugend geworden, d. h. zur Verpflichtung ohne Zwang. Reziprozität, mit der in ständisch gegliederten Gesellschaften Gefahren begegnet wurde, war nicht Resultat von Entscheidungen, sondern sozial institutionalisierter Zwang. Soziale Asymmetrien wurden durch Dankbarkeitsverpflichtungen als Gegenleistung für Pflicht zur Hilfe kompensiert. Dadurch wird die Gleichheit zwischen dem unverschuldet in Not Geratenen und dem zur Hilfe Verpflichteten wiederhergestellt. Dadurch wirkt die Gegenseitigkeit stabilisierend auf die sozialen Unterschiede.189 Nach dem Wegfall der ständisch verankerten Verpflichtungen zur Hilfeleistung wurde aus dem Verpflichtung eine freiwillige Tugend. Der Gebende ist dem Empfangenden dadurch überlegen. Nächstenliebe wirkt nicht durch den symbolischen Ausgleich sozialer Ungleichheiten stabilisierend auf diese, sondern »als eine symbolische Bestätigung des hierarchisch Unterlegenseins der Bedürftigen, während sich die Dankbarkeitsverpflichtung in eine Anerkennung der Rangunterschiede verwandelt«. Es handelt sich nicht mehr um Reziprozität.190 Die »Ökonomie der Fürsorge« brach, so der britische Sozialhistoriker Edward P. Thompson, durch den Sieg der »Ökonomie des Marktes« zusammen. Übrig blieb die »Karitativität«.191 Diese Entwicklung war bereits von Adam Müller beschrieben worden. In der ständisch gegliederten Gesellschaft war der Einzelne einer Familie, einer Korporation, einer Gemeinde, einem Stande für immer verpflichtet (adscriptus), er war auf Tod und Leben einem gewissen Zustande (état, status, condition, oder nach dem höchst treffenden Sprachgebrauch des großen Edmund Burke [konservativer Staatsphilosoph, 1729–1797], einer gewissen description) ergeben und dieser Zustand oder Stand hatte seinesteils wieder die Verpflichtung, für ihn zu sorgen. Eine solche Vorsorge war kein Almosen, welches den Empfänger erniedrigt, sondern eine strenge Verpflichtung, deren Erfüllung das edlere Selbstgefühl der Menschen niemals verletzen konnte […].192

Dementsprechend bedeutete die Ausgleichung der Ungleichheit für Baader das Ende der Liebe: Das Leben der Liebe stünde aus Mangel eines Objekts stille, falls nichts Ungleiches und Entferntes innerlich zu einen und zu nähern wäre, und der äussere Trennungs- oder Differenzierungsprozess muß sohin eben so ununterbrochen fortgehen als jener ihm entgegensetzte und nur durch ihn sich offenbaren könnende innere Einigungsprozeß […].193

189 Cevolini: Einrichtung 68–70. 190 Ebd. 70 f. 191 Thompson: Ökonomie 129 f. 192 Adam Müller zit. nach Stegmann / Langhorst: Geschichte 616–619. 193 Baader: Revolution 14.

Barmherzigkeit  127

Deswegen propagierte die katholische Sozialethik der Nächstenliebe genauso wie die liberale Sozialethik in der Bewältigung der Armut Freiwilligkeit aufgrund von persönlichen, ungleichen Beziehungen statt Rechtsanspruch. Während aber die liberale Sozialethik zwischen transpersonalem Recht und individueller Moral differenzierte, war dies in der katholischen Sozialethik nicht möglich. Das Recht blieb Gegenstand der Moral. Aber die caritative Sozialethik differenzierte innerhalb der Moral zwischen transpersonalem Recht und personaler Liebe, um zum selben Ergebnis zu kommen. Diese Differenzierungen zeigen, dass beide Sozialethiken Ausdruck von eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten und eines auch noch geringen, wenn auch wachsenden Handlungsdrucks angesichts einsetzender Industrialisierung sind. Die Unterschiede lagen in der Begründung von Armut, welche in der caritativen Sozialethik eine spezifische entindividualisierende Dynamik freisetzte, ohne freilich die soziale Frage als strukturelles Problem doch erkennen zu können. Während Armut in der liberalen Sozialethik allein auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt wurde, konkurrierten in der caritativen Sozialethik verschiedene Begründungen. Armut konnte auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt werden, was zur Differenzierung von würdigen und unwürdigen Armen führte.194 Dies bedeutete aber eine Betonung der individuellen Verantwortlichkeit, die im Gnadendispositiv in Spannung zur Reich-Gottes-Lehre stand. Armut wurde deshalb der individuellen Verantwortlichkeit entrückt und als gottgegeben wahrgenommen, was sie zum Ausdruck eines besonderen Gnadenstandes machte. Dies zeigt sich am Bild der Heiligen Familie im Vormärz. In ihr herrschten Fleiß und Armut gleichermaßen, wodurch die Vorstellung vermittelt wurde, dass Arbeitsamkeit nicht zu materiellem Erfolg führte. Armut ging dann nicht auf mangelnden Fleiß zurück, sondern war gottgegeben.195 Armut, so Rietter 1865/1866, sei weder Strafe noch Schande, »sondern vielmehr durch das Beispiel Christi, seiner Apostel und treuesten Anhänger geheiligt und daher nicht bloß einfach gut, sondern als ein vorzüglicheres Gutes sogar Gegenstand des Rathes und des Gelübdes«.196 Es war die Heilsrelevanz der Armut, welche die Frage nach der individuellen Verantwortlichkeit für Armut schließlich obsolet machte. Westermayer forderte 1848 dazu auf, die Armen zu unterstützen, »um Gott ähnlich zu werden«, deshalb hielt er die Frage der Würdigkeit der Armen für nachrangig.197 Armut besaß Heilsrelevanz, aber nicht nur für die Armen, sondern auch für die Reichen. Während die Armen durch ihre Armut Christus ohnehin ähnlich waren, ermöglichte sie den Reichen, Christus auch ähnlich zu werden. Das Almosen als Opfer aus 194 Vgl. Maurer: Vater; Lehner: Caritas 65–138. 195 Vgl. Erlemann: Familie 89. 196 Rietter: Breviarium 728 f. 197 Westermayer: Bauernpredigten II/II 20–22.

128  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Liebe war heilsrelevantes Werk in der Nachfolge der Erlösungstat Christi.198 Die Armut war eine »Notwendigkeit der christlichen Heilsökonomie« (Martin Friedrich).199 Für das »Geistliche Conversations-Lexicon« waren Almosen 1839 »in den Händen der Reichen beinahe das einzige Mittel« das Heil zu erwerben.200 Im Jahr 1840 beschrieb Taparelli die heilsrelevante Funktionsweise des Almosens: Die Reichthümer begünstigen den Müßiggang, und machen auf diese Weise den Reichen verbindlich gegen den an Arbeit und Mühsal gewohnten Armen. Kurz die ganze Socialordnung besteht in einer beständigen Auswechslung von Bedürfnissen und Hülfsleistungen, welche von der unendlichen Weisheit nach richtigem Maaße ausge­ theilt sind, um dadurch die gesellschaftliche Verbindung der Menschen zu erreichen.201

Droste zu Vischering brachte diese heilsrelevante Funktionsweise der Armut 1843 zum Ausdruck: Überhaupt sind wohl die Kranken und die Armen nicht bloß ihrer selbst wegen arm und krank, sondern eben so sehr, auf daß den Vermögenden und Gesunden Gelegenheit gegeben werde, vermittels der Übung der christlichen Barmherzigkeit gegen Menschen Erbarmung bei Gott zu erlangen.202

Sollte der Zweck der Vinzenzvereine, so fragte sich der Katholik 1850, darin liegen, »große materielle Wirkungen zur Beseitigung der Armuth zu erzielen; oder gar um den Anforderungen, welche die Nothleidenden an die öffentliche Wohlthätigkeit haben, in officieller Weise zu genügen«? Und die verneinende Antwort folgte prompt: Nein, dieser Zweck schwebt keineswegs der Seele der Mitglieder des Vincenzvereins unmittelbar vor; sie wollen vielmehr nichts anderes zunächst, als zur Ehre Gottes für ihr eigenes Seelenheil und ihre Vervollkommnung sorgen dadurch, daß sie Werke der christlichen Barmherzigkeit üben. Was dieses für äußere Erfolge habe, darauf kommt es ihnen weniger an, wenn nur der Zweck erreicht wird, daß sie Christo in den Armen dienen und dadurch Gnade erwerben.203 198 Stöckl: Opfer 51–55. 199 Friedrich: Armenpflege 41. Vgl. ferner Maurer: Vater; Lehner: Caritas 65–138. 200 Silbert: Conversations-Lexicon II 429 f. 201 Taparelli: Versuch 128. – In seiner eigentlich juridischen Volkswirtschaftslehre machte Matteo Liberatore (Liberatore: Grundsätze 232) 1891 das immanente Funktionsprinzip der caritativen Sozialethik deutlich: »Ohne die Arbeit des Armen könnte der Reiche sein Vermögen nicht erhalten, und ohne das Vermögen des Reichen würde der Arme in seiner Noth keine Zuflucht finden. Ferner bleiben beide durch liebevolle Beziehungen miteinander verbunden; der eine als wohlwollender Geber, der andere als dankbarer Empfänger, und alle beide erscheinen gleichgestellt nach dem Plane Gottes, welcher einerseits vom Armen fordert, daß er das Eigenthum der Reichen achte, anderseits vom Reichen die Wohlthätigkeit zur Unterstützung der Armen verlangt.« 202 Droste zu Vischering: Genossenschaften 4. 203 Die kirchliche Wohlthätigkeit. In: Der Katholik 2 (1850) 531–548, hier 540–542. Zu den Vinzenzvereinen vgl. Franz: Vinzenzverein; Frie: Armenfürsorge.

Barmherzigkeit  129

Angesichts der Heilsrelevanz von Armut verboten sich proaktive Maßnahmen zur Behebung der Armut. Das Gnadendispositiv fordert das Dual von Armut und Reichtum, wie es die Historisch-politischen Blätter 1847 zum Ausdruck brachten. Bei den sozialen Auseinandersetzungen handle es sich um den Kampf eines neuen vierten Standes gegen den alten dritten Stand, »der heute bis auf wenige Reste den ersten und zweiten verschlungen hat«. Deshalb gebe es nur mehr zwei Kontrahenten, den »Mittelstand« und das »Proletariat«: »Eigenthum und Armuth sind es, die um die Herrschaft der Welt ringen.«204 Wegen ihrer Heilsrelevanz durfte Not nur reaktiv gelindert, Armut aber nicht proaktiv behoben werden. Ketteler sprach sich 1864 gegen Einrichtungen aus, mit deren Hilfe der Arbeiter sich »mit eigenen Kräften« helfen sollte – etwa Produktionsassoziationen, Sozialversicherungen und Sparkassen – denn: Im Grunde und in Wahrheit ist das ganze Menschengeschlecht eine große Association, wo sich Alle gegenseitig helfen und Jeder täglich bekennen muß, daß er mit dem stolzen Gedanken der Selbsthilfe von dem ersten bis zum letzten Augenblick seines Lebens nicht ausreicht. Selbst das Almosen, das der Reiche dem Armen darreicht, gehört in richtigem Verständniß ebenso gut zur socialen Selbsthilfe als jede andere That der die Verschiedenheit der Menschen ausgleichenden gegenseitigen Hilfe und Liebe.205

Deshalb war er sich sicher, dass »die Welt mit allen ihren Unternehmungen, dem Arbeiterstande zu helfen, Bankerott macht«.206 Stöckl wies 1869 darauf hin, dass Armut nichts »Abnormes« sei, sondern notwendig für das Funktionieren der Gesellschaft. Gäbe es niemand, »welcher vermöge seiner Armuth auf den Dienst Anderer angewiesen ist, so würden die besitzenden Stände ohne den ihnen nothwendigen Dienst bleiben und so in die Unmöglichkeit gesetzt sein, ihrer Aufgabe im Interesse der Societät zu genügen.« Weil den »Stand des Arbeiters« aber »Selbstverläugnung« kennzeichne, dürfen sich die Arbeitgeber nicht auf die Erfüllung der Rechtspflichten beschränken, sondern: Die Liebe muß zwischen den Arbeitgeber und Arbeiter treten, um das an sich harte Verhältniß auch von Seite des Arbeitgebers zu mildern, und es für den Arbeiter erträglich zu machen. Nicht auf dasjenige also soll sich der Herr beschränken, was er dem Arbeiter rechtlich schuldet; er soll sich vielmehr in Liebe seiner annehmen auch in solchen Dingen, wo keine Rechtspflicht mitunterläuft; im Unglück soll er ihm helfend zur Seite stehen; bei Krankheit und Arbeitsunfähigkeit soll er ihn nicht hart von sich stoßen, sondern liebevoll und nach Kräften ihn unterstützen u. s. w.207

204 Historisch-politische Blätter 19 (1847) 529 f. 205 Ketteler: Arbeiterfrage 400 f. 206 Ebd. 453. 207 Stöckl: Lehrbuch II 501–505.

130  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Wegen der unaufhebbaren Komplementarität von Armut und Reichtum wirkte das Gnadendispositiv fatalistisch, wie sich am Beispiel Sailers zeigen lässt. Aufgabe des Reichen war es für Sailer, »den Überfluß mitleidig mit den Dürftigen zu theilen, und überhaupt die zeitlichen Gaben Gottes als ein Kapital, das Zinse in der Ewigkeit einträgt, bei Gott anzulegen«. Dadurch könne er die »Gefahren, die dem trügerischen Reichthume eingeboren sind« – nämlich Stolz, Unmäßigkeit, Wollust, Luxus und Geiz – ausgleichen. Der Reiche habe sie als »Hindernisse des Ewigen« zu bekämpfen. Die Armut dagegen – sei sie selbstverschuldet, »als ein Erbgut durch den Stand unserer Familie mit-gegeben« oder »durch Schicksal des Lebens entstanden« – müsse ertragen werden. Es sei »bei allem Drucke der Dürftigkeit Gottes Willen zu respektiren; alle Sorge für Lebensunterhalt in den Schooß dessen zu legen, der die Lilie kleidet und des Menschen nicht vergessen kann«. Sailer riet den Armen, sich mit den »Brodsamen zu begnügen, die von dem Tische fallen, den der große Hausvater täglich für alle seine Geschöpfe decket, und mit nothdürftiger Nahrung und nothdürftiger Decke zufrieden zu seyn, indem wir ja in diese Welt nichts hereingebracht haben, und wohl nichts mit fortnehmen werden«. Er warnte vor »Ungeduld bei den täglichen Plagen der Armuth, vor Neid gegen die Wohlhabenden, vor jeder sündhaften Selbsthülfe, vor Arbeitsscheue und unnöthiger Bettelei«. Die Armut solle solange ertragen werden »bis sie die Allmacht, welche sie aufgeladen hat, auch abnimmt«. Die Armen sollten deshalb kein Geld ansparen, sondern einen »Fond des ewigen Gutes« in der »Zuversicht auf den, der Alles in Allem wirkt und giebt«, anlegen.208 Für Sailer gründete soziale Ungleichheit in der natürlichen Ungleichheit und war daher strukturell nicht zu ändern.209 Sailer gehörte einem Kreis an, der sich in Seeg im Allgäu um den Priester Johann Michael Feneberg (1751–1812) gebildet hatte. Dazu zählten auch der Kinderbuchautor Christoph Schmid, der am Rande der Orthodoxie stehende katholische Priester Martin Boos (1762–1825) und der schließlich evangelisch gewordene katholische Priester Johannes Goßner (1773–1858).210 Bei einem Besuch bei Feneberg in Seeg fiel dem Priester Jakob Salat (1766–1851), einem Vertreter der katholischen Aufklärung, der dort herrschende Fatalismus auf. Die »Selbsttätigkeit« sei abgewiesen worden, »nur nicht widerstehen sei der Menschen Sache, nur dies könne er bei einer guten Handlung oder einem guten Werke; von der Selbst- oder Freitätigkeit (Willensstärke) hiebey wollte er schlechterdings nichts wissen oder annehmen«.211 Am 15.  Oktober 1848 rief der Bischof von

208 Sailer: Handbuch III 162–167; vgl. auch: Ders.: Früchte 59–64. 209 Ders.: Handbuch II 189: »Da nun die Natur selbst Ungleichheit gesetzt hat, so folgt, daß die formale Gleichheit nothwendig eine materiale, reale Ungleichheit fordere […].« 210 Vgl. Creutz: Schmid 108. 211 Salat zit. nach Ebd. 112.

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Regensburg, Valentin von Riedel (1802–1857), zum Gebet zu Gott auf, um den Gefahren der Revolution zu trotzen, auf dass er nach seiner grossen Barmherzigkeit die Zeit der Trübsal abkürzen, die drohenden Übel von uns abwenden, die Feinde unserer ewigen und zeitlichen Wohlfahrt, sowie der Kirche und des Vaterlandes, demüthigen und seiner Kirche ebenso wie den Völkern ›seinen Frieden, den die Welt nicht geben kann,‹ verleihen wolle.

Einen Handlungsspielraum des Menschen gab es nicht: Menschliche Klugheit und Berechnung reichet nicht mehr hin, den heftigen Sturm, der im deutschen Vaterlande wüthet, zu stillen und die brausenden Wogen, von denen die Völker herumgeschleudert werden, zu besänftigen; und es wird immer mehr offenbar, dass nur der Allmächtige es ist, welcher dieses zu bewirken und den zerstörten Frieden wieder herzustellen vermag.212

Der katholische Kirchenhistoriker Klaus Schatz spricht bei der caritativen Sozialethik zu Recht von einem Denken, »das sich vorzugsweise in den Kategorien von Liebe, freier Gnade etc., und nicht von Recht, Anspruch, Forderung bewegt, das also ›patriarchalisch‹ und nicht ›emanzipatorisch‹ ausgerichtet ist«.213 Als Teil des Reiches Gottes war die soziale Ungleichheit nicht zu verändern. LouisGabriel-Ambroise de Bonald (1754–1840), einflussreicher katholischer Staatstheoretiker, für den die Liebe als Neigung zur Selbsterhaltung die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens darstellte,214 lehnte alle menschlichen Bemühungen um eine proaktive Veränderung sozialer und politischer Strukturen als einen die göttliche Vorsehung störenden Eingriff ab. Derartige Eingriffe galten ihm als Anzeichen dafür, dass der legitime Zustand aufgehört habe. Die vollkommene Gesellschaft war für ihn diejenige, in der die Natur wirkt, in der sich Änderungen nahezu unmerklich aus den geschichtlichen Notwendigkeiten ergaben. Denn die Immanenz hatte Anteil an der Transzendenz.215 Für DeMaistre war der Mensch nur ein Werkzeug der göttlichen Vorsehung: »Das Wunderbarste an der ganzen Weltordnung ist das freie Tun der Menschen unter Gottes Hand. Als Freie und zugleich als Knechte handeln sie sowohl aus freiem Willen wie im Zwang der Notwendigkeit. Sie tun tatsächlich, was sie wollen, können aber den Weltplan nicht ändern.«216 Der Mensch war deshalb unfähig zur Schaffung einer politischen oder sozialen Ordnung.217 Die historisch gewachsene politische und soziale Ordnung war daher göttlich, Veränderungen daran konsequenterweise dämonisch. Die Französische Revolution erschien DeMaistre deshalb als »etwas 212 Oberhirtliche Verordnungen 518–522. 213 Schatz: Säkularisation 160 f. 214 Vgl. Spaemann: Ursprung 131–133. 215 Vgl. Ebd. 142–144. 216 DeMaistre zit. nach Uertz: Gottesrecht 72. 217 Vgl. Ebd. 74; Wassilowsky: Geburt 57 f.

132  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Teuflisches«, indem sie sich »von allem unterscheidet, was man bisher erlebt hat und erleben wird«.218 Der Katholik führte die Industrialisierung deshalb 1854 auf die göttliche Vorsehung zurück. Ein Handlungsspielraum blieb der Kirche ihr gegenüber daher nicht: Aber die Kirche kann sich nicht hineinmischen, sondern nur die Irrthümer bezeichnen und die Wahrheiten, worauf es hierbei ankommt, einschärfen, die neuen Verhältnisse im Einzelnen zu Gunsten des Seelenheils und zur Ehre Gottes nach Kräften ausbeuten und benutzen, Schaden daran möglichst abwenden und verhüten.219

Hirscher hielt die Schaffung von Wohlstand durch Veränderungen an der Gesellschaftsstruktur 1849 für unmöglich: Wiederum ist es ein Grundirrthum, daß man zu Wohlstand und Wohlseyn gelangen zu können glaubt durch Umgestaltung der Gesetze, durch Verbesserung der bürger­ lichen Einrichtungen, durch Abschaffung oder Einführung von dem und diesem; daß man sonach für und für tadelt, umgestaltet, und, von dem Neugestalteten abermal unbefriedigt, wieder tadelt und so allmälig [!] einem Alles meisternden, Alles negierenden Geiste verfällt.220

Proaktive Eingriffe in die sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen lehnte Hirscher also als dämonisch ab. Denn die vorhandenen Übel besaßen ja Heilsrelevanz, wie Hirscher 1845 verdeutlichte: Was insbesondere Armuth und Reichthum, Gesundheit und Krankheit, Glück und Unglück, Ehre und Schande, und so tausend Anderes, so dem Menschen von Außen­ her begegnet, betrifft, so haben diese Zustände zwar an sich zwo Seiten – die eine, wodurch sie wohlthätig, die andere wodurch sie gefährdend auf den Menschen einwirken mögen. Aber, wie sie in Folge der göttlichen Fügungen oder Zulassungen je dem Einzelnen zustoßen, sind sie bestimmt auf seine Individualität berechnet und für diese von wohlthätigem Einflusse.221

Armut wurde im Gnadendispositiv als Gefahr wahrgenommen. Sie war nicht – wie im Liberalismus – direkte Folge von individuellem moralischem Fehlverhalten, das hätte sie zum Risiko gemacht, sondern Begnadung oder Strafe durch Gott. Die Begründung der Armut mit individuellen Fehlleistungen hielt der Laientheologe Pilgram 1855 für eine »Ungerechtigkeit, die ihren Grund meist in dem Bestreben hat, die innern Anmuthungen und äußern Veranlassungen zu einer wirksam thätigen Hülfe unter einem schicklichen Vorwande von sich 218 Zit. nach Uertz: Gottesrecht 73 f. 219 Die Industrie und die Seelsorge in den Fabriken. In: Der Katholik 10 (1854) 368–376, hier 371 f. 220 Hirscher: Zustände 19. 221 Ders.: Moral I 278.

Barmherzigkeit  133

abzuhalten«.222 Die Beachtung der göttlichen Vorsehung erlaubte deshalb zwar keine proaktive strukturelle Behebung der Not, aber die heilsrelevante Möglichkeit ihrer Linderung – entweder durch den anderen, reichen Pol der Gesellschaft oder ein fatalistisches Fügen in die göttliche Vorsehung durch die Armen selbst. Kurzum: Nicht Behebung von Armut, sondern Linderung von Not war im Gnadenpositiv das Ziel und das Mittel konnte nur in christlicher Gesinnung gefunden werden.223 Die soziale Frage war im Gnadendispositiv eine Frage der Gesinnungsänderung, nicht der strukturellen Eingriffe in die staatlichen Gegebenheiten. Der Staat war für Sailer »Nachbild der ewigen Ordnung der Dinge«, weshalb der Regent »das eigentliche Bild Gottes selbst« sein sollte. Strukturelle Eingriffe sind dann nicht nötig: Wenn Gerechtigkeit und Güte den Regenten (die Regierung) wirklich zum Bilde Gottes machen: so wird die Finanzspekulation sich nie von der Gerechtigkeit, die Finanzoperation sich nie von der Güte trennen, indem nie die Ausgaben die Einnahmen, sondern die Einnahmen die Ausgaben reguliren […].224

Dementsprechend lehnte der Katholik 1850 die Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ab: Denn die Gefahren und Übel der Zeit liegen in letzter Instanz keineswegs in äußeren Verhältnissen, die überall nur als secundäre Ursachen wirken, sondern in falschen Lehren, in verkehrten und verderbten Sitten, in verheerenden Leidenschaften, in sittlich-religiöser Erschlaffung und Verstockung, lauter Übel, über welche nur die Kirche Gewalt hat, die jedes anderen Heilverfahrens, als des katholischen, spotten.225

Für die Historisch-politischen Blätter lag der »Grund des socialen Leidens« 1865 demgemäß »in der Oberherrschaft der maßlosesten Selbstsucht, im Mangel an christlicher Nächstenliebe, welcher keineswegs bloß die Bourgeoisie, sondern alle Schichten der Bevölkerung gleichmäßig ergriffen und durchdrungen hat«. Fabrikarbeiter und Fabrikherr, Knecht und Bauer, Geselle und Meister betrögen sich gegenseitig: »Alle befolgen damit offenbar nicht die Lehre Christi, wohl aber die Lehren der modernen Nationalökonomie.« Nur die (Re)Christianisierung der Gesinnung der einzelnen Menschen werde Abhilfe schaffen: Ehe ein Theil der Menschen aus Liebe zu Gott, aus freier Entschließung, mit opferwilliger Hingabe nicht die Frevel sühnt, welche die moderne Nationalökonomie und 222 Pilgram: Fragen 43 f. 223 Katholische Sozialethiker des Vormärz konnten  – so Lönne: Katholizismus 61 f.  – »menschliche Bemühungen um Verbesserung der geistigen, politischen, sozialen und materiellen Lebensverhältnisse allzu leicht für überflüssig halten und sich mit einem Verdikt über die Hybris der menschlichen Vernunft und mit Werken christlicher Karitas begnügen«. 224 Sailer: Handbuch III 21–23. 225 Zur Orientierung in der Gegenwart. In: Der Katholik 1 (1850) 5–21, hier 10 f.

134  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv die durch sie großgezogene Industrie an der christlichen Liebe verübt hat, ist eine Besserung unserer socialen Zustände nicht zu hoffen.226

Deshalb seien Vorschläge zur materiellen Besserstellung der Arbeiter ungenü­ gend. Die von dem liberalen Sozialreformer Hermann Schulze-Delitzsch (1808– 1883) vorgeschlagenen Kredit- und Konsumvereine würden nur zur »Erhebung einer Handvoll Halber- und Dreiviertelbourgeois zu ganzen« führen.227 Und die von dem Sozialisten Ferdinand Lassalle (1825–1864) vorgeschlagenen Produktivassoziationen würden nur dann »blühen und fortdauern«, wenn mit ihrer Einführung »wie auf einen Zauberschlag aller Hochmuth, alle Eitelkeit, aller Ehrgeiz höherer Intelligenz, alle Selbstsucht und Habsucht ein Ende nähmen.« Diese Laster aber »grassiren unter den arbeitenden Classen gerade so wie unter der Bourgeoisie«. Unterdrücker und Bedrückte würden in den Produktivassoziationen nur die Rollen tauschen.228 Schließlich vernichteten die strukturell wirksamen Entwürfe von Schulze-Delitzsch und Lassalle »alle individuelle Freiheit«.229 Ratzinger formulierte damit übereinstimmend 1869: Nie hat das Christenthum an die politischen Gewalten sich gewandt, nie hat es gewaltsame Maaßregeln gefordert, nie zu äußern Mitteln gegriffen. Christliche Grundsätze eroberten ruhig und allmählig die Geister, christliche Ideen bahnten einen allgemeinen Umschwung an, indem sie andere Anschauungen pflanzten. Erst als dieser geistige Prozeß vollendet war, da fielen die eingerotteten Schäden und erneuete sich das soziale Leben.230

Es handelte sich beim caritativ-sozialethischen Diskurs im Gnadendispositiv nicht um einen Entwurf zur Behebung von materieller Not, sondern zum Erwerb des Heils. Dabei ging es nicht so sehr um das Heil der Armen selbst, die durch ihre Not dem Heil ohnehin nahe standen, sondern um das Heil der Reichen. Der Armutsdiskurs richtete sich also nicht an die Armen. Die Armen erfüllten eine heilsrelevante Funktion, was proaktive Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut ausschloss und nur reaktives Lindern der Not erlaubte. Denn das Gnadendispositiv erlaubte individuelles Handeln, verbot aber Strukturveränderungen, da im Reich Gottes eine Veränderung der Struktur ein Kampf gegen Gott war. Deshalb war Armut nicht nur durch materielle Not explizit definiert, sondern auch durch Unfreiwilligkeit, d. h. durch Gefahr, Reichtum durch Freiwilligkeit, d. h. durch Risiko. Die menschliche Willensfreiheit, ein anthropologisches 226 Zur Kritik von Lösungen der socialen Frage. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 117–131, 196–208 und 274–293, hier 286–291. 227 Ebd. 202–208. 228 Ebd. 283–285. 229 Ebd. 286. 230 Ratzinger: Frage 391.

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Postulat der katholischen Gnadenlehre, war auf diejenigen beschränkt, die in der Lage waren zu entscheiden, ob sie geben wollten oder nicht. Deshalb lehnte die caritative Sozialethik nicht nur proaktive Entwürfe zur Behebung der Armut ab, sondern auch reaktive Maßnahmen, wenn sie – wie die Armensteuern – transpersonal funktionierten, da sie der Freiwilligkeit der Gabe widersprachen.231 Für Probst, dessen Moraltheologie von 1848 zwischen Neuscholastik und Tübinger Schule anzusiedeln ist,232 waren nur die von der Liebe geknüpften zwischenmenschlichen Bande im Gegensatz zum Recht in der Lage, die soziale Not zu beheben.233 Das Gesetz habe bisher noch kein Mittel gefunden, »dem Bande zwischen dem Fabrikherrn und seinen Arbeitern, wie es ehedem im Zunftwesen der Fall war, einen höheren, sittlicheren Charakter zu geben als den des bloßen materiellen augenblicklichen Erwerbes«. Stattdessen schüre das Recht den Egoismus: »Die Selbstsucht läßt sich durch äußere Gebote und Zwang nur erbittern aber nicht überwinden, da sie im Willen wurzelt, der sich nicht vergewaltigen läßt. Die Waffe der Liebe, der hl. Gottesliebe, findet der Staat aber in seiner Rüstkammer nicht.«234 Die »unkirchliche Armenpflege« habe, so der Katholik 1850, »den Haß der Armen gegen die Besitzenden und den communistischen Wahn zur Folge gehabt«.235 Deshalb lobte der Katholik 1852 die moralisierende Wirkung der freiwilligen Wohltätigkeit für Geber und Nehmer: Einmal erscheint jede, auch die geringste ihrer Gabe, als reiner Ausfluß freier christlicher Liebe, die aus Mitleid sich über den Armen erbarmt, nährt sonach in der Brust des Hülfsbedürftigen die sanften Gefühle der Dankbarkeit, während die ›Beiträge‹, welche der Arme aus den öffentlichen Kassen regelmäßig empfängt, in ihm einen scheinbaren Rechtsanspruch begründen, darum nicht selten nur seine Unzufriedenheit mehren und statt des Dankgefühls finsteren Trotz und empörende Undankbarkeit zur Folge haben.

Die Nächstenliebe zeichne sich vor jeder officiellen Armensorge dadurch [aus], daß sie dem Spender selbst ein ebenso großes Almosen wie dem Empfänger bietet. Sie öffnet sein Herz den edlen Gefühlen heiliger Liebe, sie zeigt ihm edle heilige Seelen unter der rauhen Hülle der Armuth, die ihn mit Rührung und Staunen erfüllen, sie heiligt ihn selbst, indem er arbeitet an der Heiligung seiner Brüder, beschenkt und bereichert ihn mit jenem Lohne, der den Barmherzigen verheißen ist […].236 231 Vgl. Franz: Publizistik 90. Die Forderung Baaders nach einem Rechtsanspruch auf Unterstützung stellte eine Ausnahme im Vormärz dar. Vgl. Müller: Korporation 125. 232 Vgl. Klose: Gott 86 f.; Reiter: Moraltheologe 86. 233 Probst: Moraltheologie I 580–595. Zur Bedeutung der Liebe in Probsts Moraltheologie vgl. Reiter: Moraltheologe 128–133. 234 Probst: Moraltheologie II 400–405. 235 Die kirchliche Wohlthätigkeit. In: Der Katholik 2 (1850) 531–548, hier 532. 236 Briefe eines Deutschen aus Paris. In: Der Katholik 5 (1852) 49–63, 96–108, 145–162, 193–212, 241–267, 309–319, 352–360, 385–407, 433–451 und 481–503, hier 312 f.

136  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Stöckl stellte noch 1886 einen Zusammenhang von Nächstenliebe, Wohltätigkeit, Opfer und Christusnachfolge her. Barmherzigkeit bewirke »Gottes Segen für Zeit und Ewigkeit« und die »Versöhnung des Armen mit seinem Geschicke«. Den »Hochmuth der Selbsthilfe« lehnte er ab, da er zu Revolution führe. Staatshilfe lehnte er ab, da sie nicht aus Liebe, sondern aus Zwang geschehe und nicht persönlich sei. Staatshilfe wird nie die Armen mit ihrem Geschicke versöhnen; denn da ihnen in der Armenunterstützung, die ihnen zu Theil wird, nicht die Liebe, sondern nur die kalte Hand des Armenpflege-Beamten entgegentritt, so kann ihr Herz auch nicht daran sich erwärmen; sie nehmen die Gaben ebenfalls kalt hin als etwas ihnen Geschuldetes, bleiben aber nach wie vor unzufrieden mit ihrem Geschicke, das ihnen nicht auch wie andern die Güter der Erde in den Schoß geschüttet, sie vielmehr auf eine Unterstützung angewiesen hat, die von Andern nur ungern und nur gezwungen und nur durch Mittelpersonen an sie verabreicht wird.237

Eine auf Liebe basierende Armenpflege musste »individuell-persönlich« sein, so Ratzinger noch 1895. Dabei gehe es nicht um materielle Hilfe, sondern um »persönliche Theilnahme«: Der Arme braucht Geld und Brod, aber er braucht noch mehr, er braucht eine menschliche Stimme, die mit ihm spricht; ein wohlthätiges Herz, das ihn liebt; ein Auge, das für seine Leiden empfindlich ist; er bedarf jemanden, der zu ihm kommt und ihm zeigt, daß er auf der Welt nicht verlassen ist.

Bei den Reichen werde der Besuch bei den Armen alle edlern Gefühle im Herzen wachrufen, wird die Thatkraft auf ein hohes Ziel lenken, wird den eigenen Schmerz im Herzen stillen, wird die Langeweile und den Lebensüberdruß verscheuchen, wird Gemeinsinn und Opferthätigkeit erwecken und das Mittel zu eigener sittlicher Erhebung bilden.238

Es war also der Begriff des Opfers, der die Spannung zwischen gefährlicher Unfreiheit der Armen und riskanter Freiheit der Reichen in Heilsrelevanz aufheben sollte. Im Gnadendispositiv konnte die empirisch wahrnehmbare Immanenz durch ihren Anteil an der Transzendenz als eine durch den Menschen nicht zu verbessernde Struktur erscheinen. Sie wurde in der Wahrnehmung zum Ideal. Baader erhob die arbeitsteilige, frühkapitalistische Gesellschaft seiner Gegenwart zum statischen Ideal einer christlichen Gesellschaft:

237 Stöckl: Irrthümer 435–460. 238 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 474–476.

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Im gesunden, einträchtigen, einmütigen Organismus leben alle einzelnen Glieder von allen und für alle und alle wieder für jedes und von allen übrigen, thuend und wirkend, leidend und genießend: als Bürger eines und desselben Staates, deren jeder, nach dem Princip der Teilung der Produktion und Gemeinsamung der Konsumtion, sein eigen und besonder Amt treibt, für alle seine Mitbürger producierend und von allen hinwieder konsumierend.239

Im Anschluss an Thompson kann diese Idealisierung auf die personalistische Struktur der caritativen Sozialethik zurückgeführt werden. Der vormundschaftliche Paternalismus, so Thompson, »impliziert Wärme und unmittelbare Beziehungen, mit denen Wertvorstellungen verbunden werden, und verwechselt schließlich Wirklichkeit und Ideal«.240 So gesehen bestand ein Zusammenhang mit dem herrschenden Personalismus im Gnadendispositiv und der Idealisierung der Immanenz, wie sie sich in der Reich-Gottes-Lehre verdichtete. Neben der sozialethischen Forderung nach einer Änderung der Gesinnung gab es im Gnadendispositiv aber sehr wohl strukturverändernde Vorschläge. Diese waren aber nicht proaktiv, sondern reaktiv-restaurierend. Da in einer als ideal wahrgenommenen Immanenz proaktive Strukturveränderungen – wie sie sich vor allem während und als Folge der Französischen Revolution zeigten – als dämonische Eingriffe in die göttliche Vorsehung wahrgenommen wurden, waren Strukturveränderungen nur als restaurative Akte, als Rückkehr zu vorrevolutionären, idealen Verhältnissen denkbar. Dieses Ideal wurde im Mittelalter gesucht. Denn der Ausbruch der Französischen Revolution wurde auf den zunehmenden neuzeitlichen Abfall vom rechten Glauben, beginnend mit der Reformation und gipfelnd in der atheistischen Aufklärung, zurückgeführt.241 Im Görreskreis wurden Gewerbefreiheit und Grundentlastung als revolutionäre Errungenschaften abgelehnt und die Beibehaltung der bzw. Rückkehr zur ständischen Gesellschaftsstruktur mittelalterlicher Provenienz gefordert. Dabei wurde die überkommene Dreigliederung der Gesellschaft in Klerus, Adel und Bürger propagiert.242 Diese ständische Dreigliederung wollte Adam Müller lediglich um einen vierten Stand der Kaufleute als »Verkehr-Stand« und Baader um einen Stand der Proletarier erweitern.243 Im Gnadendispositiv war es also möglich, die Immanenz als göttlich oder als dämonische Abkehr von der göttlichen Vorsehung zu betrachten. Gemeinsam war beiden Perspektiven die Orientierung an einer – einmal historischen, das andere Mal mit der Gegenwart identifizierten – Idealnorm. Es handelte sich nicht um eine dynamische Perspektive mit offenem 239 Franz von Baaders Gedanken 38. 240 Thompson: Gesellschaft 252. 241 Vgl. Raedts: Entdeckung 93 f.; Burgdorf: Weltbild 338. 242 Vgl. dazu Lempfrid: Anfänge 76–97. 243 Müller: Korporation 119 f.

138  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv Entwicklungshorizont. Einmal musste das Ideal hergestellt werden, wobei es keine Entwicklung darüber hinaus geben konnte, das andere Mal war es bereits hergestellt.244 Und beide Perspektiven waren an der menschlichen Gesinnung orientiert. Den Zusammenhang von Fatalismus, caritativer Gesinnung und Orientierung an einer Idealnorm, die im Mittelalter gesucht wurde, machte etwa Pilgram 1855 deutlich. Er wollte ausdrücklich »keine practischen Vorschläge, keine Projekte, keinen Plan der Weltverbesserung« vorlegen.245 Es gehe nicht darum, »die objectiven Verhältnisse« zur Lösung des Elends anzugeben.246 Es sei der »fast allgemeine Irrthum unserer Zeit, daß auf die rechtliche Form der Dinge die überwiegende Betonung zu legen sei, der Irrthum, daß es zuerst und zumeist auf die Gesetze ankomme und daß sich in und durch dieselben die wirklichen Verhältnisse beliebig machen ließen«.247 Deshalb setzte Pilgram seine ganze Hoffnung auf eine Veränderung der Gesinnung. Es »müssen auch die gewöhnlichen Werke des bürgerlichen Lebens und Verkehrs den Charakter der Liebe und Gemeinschaft an sich tragen, ohne den kein menschliches Verhältniß wahrhaft sein und bestehen kann«. Diese »Wiederherstellung der Liebe« sei dann die »Grundvoraussetzung socialer Regeneration«.248 Den konkreten Ausdruck habe diese Liebe aber in den auf Solidarität und Religiosität gründenden Zünften des Mittelalters gefunden. Die Zunft als »Berufsgemeinschaft« besitze die »Natur der persönlichen Gemeinschaft im Unterschied von bloßen Verbindungen oder Vereinen mechanischer Art«.249 In den mittelalterlichen Zünften habe »wechselseitige Fürsorge«, »freundliche Beziehungen auch über den Bereich des Berufs hinaus« und eine »wirkliche Communication« geherrscht. Aus den persönlichen Beziehungen, die in Zünften nach mittelalterlichem Vorbild »zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer« herrschten, würde dann »die Beseitigung der Mißstände folgen, die im heutigen Fabrik- und Gewerbewesen so tief zu beklagen sind und beklagt werden«.250 Es sei »natürlich« gewesen, dass das mittelalterliche Standes- und Corporationswesen in dem Augenblicke anfing hinzuwelken, wo das sociale Bewußtsein sich von dem kirchlichen trennte und z. B. der Meister irgend eines Gewerks in der Übung seines Berufs nicht mehr einen der Christenheit geleisteten Dienst, in seinem Beruf selbst nicht mehr eine nothwendige 244 Es entsteht deshalb ein unvollständiges Bild, wenn Hölscher: Weltgericht 39 f. in den sozialethischen Entwürfen von Drey und Hirscher »dynamische eschatologische Konzepte einer zielgerichteten geschichtlichen Entwicklung« zum Reich Gottes im Diesseits erblickt. Denn die Immanenz hatte ja bereits Anteil daran. 245 Pilgram: Fragen III. 246 Ebd. 57. 247 Ebd. 63. 248 Ebd. 1 f. 249 Ebd. 17 f. 250 Ebd. 20.

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Funktion am Gesammtkörper der ecclesia erkannte, sondern denselben als eine beliebige Zuthat zu seinem Individuum und seine Übung als ein willkürliches Werk zu eigenem Nutz und Frommen zu fassen anfing.251

Pilgram wollte also die Rückkehr zu mittelalterlichen sozioökonomischen Strukturen nicht durch proaktive gesetzliche Maßnahmen erreichen, sondern durch eine Rechristianisierung der Gesinnung jedes Einzelnen. Die am mittelalter­ lichen Ideal orientierten strukturverändernden Vorschläge des Gnadendispositivs gründeten also genauso wie diejenigen am rezenten Reich-Gottes-Ideal orientierten in der Gesinnung jedes Einzelnen. Dieser personalistische Charakter des Gnadendispositivs zeigte sich dann auch in der Propagierung einer spezifischen, die Gesinnung des Einzelnen bzw. die darin gründenden zwischenmenschlichen Beziehungen betonenden Form von sozialer Sicherheit durch den caritativ-sozialethischen Diskurs. Die Historisch-politischen Blätter propagierten 1840 das zünftische Ideal des Mittelalters, da der »Einzelne« nicht »wie ein isolirtes Atom, inmitten des Ozeans des modernen Staats« stand, er hatte das moderne Gefühl der Verlassenheit, des Alleinseyns nicht, welches auf der heutigen Menschheit lastet; er wußte und begriff sich als Theil, als lebendiges Glied eines engern Ganzen, das er liebte und worauf er stolz war. Die Zunft, das Handwerk, war für den, der ihr angehörte, in die Stelle der Familie getreten, sie war ihm noch mehr, sie war seine Welt und flößte ihm ein Gefühl der Sicherheit, des behaglichen Wohlseyns ein […].252

Joerg beklagte 1865, dass aus dem »genossenschaftlichen Gehülfen« durch die Abschaffung der Zünfte der »isolirte Arbeiter« geworden und in eine »mitleidlose Abhängigkeit« gefallen sei.253 Eigenschaft der Zünfte war für Ratzinger 1869 die Schaffung persönlicher Beziehungen: »Die gemeinsame Arbeit war ein Mittel zu gegenseitiger Annäherung, zu inniger Verbindung.« Dies stiftete Solidarität in Not und schuf »Anhänglichkeit an die Innung«. Es herrschte das »königliche Gesetz der Liebe«.254 Alban Stolz beklagte, dass der Arbeiter unter den Bedingungen der Gewerbefreiheit nicht mehr als Familienmitglied betrachtet wurde: So war auch ein früher nicht gekanntes Übel über den jungen Arbeiterstand, über den Handwerksgesellen gekommen, daß er nämlich bei dem Meister keine Heimat mehr fand, daß dessen Stube ihm verschlossen ward und er nur noch in der Werkstätte kalt 251 Ebd. 15 f. 252 Über die Gefahr einer socialen Revolution durch die untern Volksklassen und über deren Stellung in älterer und neuester Zeit. In: Historisch-politische Blätter 5 (1840) 577–586, 666–685 und 739–760, hier 585 f. 253 Joerg: System 51–67. 254 Ratzinger: Frage 378–380.

140  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv wie eine Arbeitsmaschine benutzt wurde, am Feierabend und an Sonntagen fremd war und fast keinen Aufenthalt zu finden wußte als das Wirtshaus.255

Für Eberl konnten als Familienersatz gedachte Arbeitervereine Abhilfe schaffen, wie er 1866 ausführte: Das Princip der Selbstliebe hat in seiner wahnsinnigen Übertreibung die Sicherheit des Einzelnen bedroht, es hat die Menschen getheilt und sie zu Feinden gemacht, der Arbeiter setzt ihm in der Genossenschaft das ordnende Princip der Nächstenliebe entgegen und vereinigt sich mit den Andern. Jenes Princip hat in seiner Verkehrung Unsicherheit und Unruhe geschaffen, er sorgt in der Genossenschaft für eine Sicherheit, die ebenso weit entfernt ist, Antrieb zur Faulheit zu geben, als sie von einer wilden Jagd nach den Gütern des Lebens abhält.256

Soziale Sicherheit wurde im Gnadendispositiv also in der Geborgenheit gesucht. Denn Geborgenheit basiert auf persönlichen Beziehungen und Liebe. Geborgenheit wird mit Begriffen der Liebe beschrieben.257 Sie zeigt sich in Familie und Freundschaft.258 Dabei passt die Geborgenheit zum Gnadendispositiv schon aufgrund ihres utopischen, an der Idealnorm orientierten Charakters. Der Soziologe Hans Mogel bezeichnet sie als »nichts anderes als die Suche nach der Sicherheit des Lebens und dem Paradies auf Erden«,259 weshalb sich die Sehnsucht nach Geborgenheit als »Kampf gegen die Zeit« äußere.260 Schließlich besitzt sie wie das Gnadendispositiv einen reaktiven Charakter, weshalb sie Kaufmann im Unterschied zur herzustellenden systemischen Sicherheit als verlorene Sicherheit bezeichnet. Kaufmann definiert Geborgenheit als »Zustand umfassender statischer Ordnung«. Es handle sich dabei um einen »Zustand der Unmündigkeit, in dem einem die Verantwortung für das eigene Handeln abgenommen ist.«261 Von der geschichtswissenschaftlichen Forschung wurde dieses sozialethische Streben nach Geborgenheit bisher mehr geahnt als erkannt. Ohne theoretische Reflexion auf Geborgenheit als Sicherheitsform kommt Lönne deshalb zu dem Schluss, dass die sozialen Ordnungsvorstellungen der katholischen Romantiker durch eine »idealisierte Vergangenheit wirtschaftlicher und sozialer Harmonie und Geborgenheit« geprägt waren.262

255 Bilder zur christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre 90 f. 256 Eberl: Kirche 7. 257 Vgl. dazu Mogel: Geborgenheit 32–34. 258 Vgl. dazu Ebd. 24. 259 Ebd. 47. 260 Ebd. 143–146. 261 Kaufmann: Sicherheit (1973) 341–344; Evers / Nowotny: Umgang 27–29. 262 Lönne: Katholizismus 60 f.

Negation von Verantwortlichkeit  141

5. Negation von Verantwortlichkeit Wie die Liebe als kommunikative Generalisierung hob die Geborgenheit als spezifische Form sozialer Sicherheit die bipolare Ungleichheit, auf deren Grundlage das Gnadendispositiv funktionierte, nicht auf, sondern stabilisierte sie noch. Zusammenfassend kann deshalb das Gnadendispositiv als kontingente Konkretion des Gabentausches betrachtet werden. Bei diesem handelt es sich nicht um äquivalenten ökonomischen Tauschhandel, wie er auf kapitalistischen Märkten stattfindet. Denn der Gabentausch basiert aufgrund seines moralischen Charakters nicht auf der Gleichwertigkeit von Gabe und Gegengabe. Es kann zu gravierenden materiellen Ungleichgewichten kommen. Im Mittelpunkt steht die soziale Beziehung. Es wird ein Netz wechselseitiger Verpflichtungen geknüpft, weshalb der Gabentausch solidarisch wirkt und nur unter Anwesenden vorkommt.263 Der Gabentausch wird deshalb von der soziologischen, ethnologischen und historischen Forschung als Merkmal archaischer Kulturen wahrgenommen, zumindest vorkapitalistischer wirtschaftlicher Systeme.264 So kam der Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi (1886–1964) zu dem Ergebnis, dass die vorkapitalistische Einbettung der wirtschaftlichen Tätigkeit in soziale Beziehungen nicht zu äquivalenten, sondern zu reziproken Beziehungen führte, weshalb nicht Tauschhandel, sondern Gabentausch vorherrschte.265 Für den Soziologen Georg Simmel (1858–1918) waren es dann Recht und Geld, die den Menschen aus personalisierten Verpflichtungen lösten und den sozialen Gabentausch durch ökonomischen Tauschhandel ersetzten.266 Wie der Gabentausch funktioniert, lässt sich vor allem mit Bourdieus wegweisenden Studien zur Soziologie der Gabe aufzeigen. Unter vorkapitalistischen Verhältnissen, so Bourdieu, wird Macht gebend ausgeübt. Man besitzt um zu geben, aber man besitzt auch, indem man gibt. Die Gabe schafft Verpflichtungen, die Gegengabe ist nicht freiwillig. Die Gabe stellt einen Eingriff in die Freiheit des Empfangenden dar. Denn sie verpflichtet zur Gegengabe, auch in Form von Dankbarkeit, Gehorsam und Unterwerfung.267 Herrschaft wird dann nur von Person zu Person ausgeübt. Um anerkannt zu werden, muss sie aber verkannt werden. Deshalb wird sie nicht offen vollzogen, sondern »mit dem Schleier verzauberter Beziehungen verhüllt«.268 Konstitutiv für die Gabe ist deshalb die Ablehnung der Logik des Preises, die sich in Verschleierung äußert, d. h. durch 263 Vgl. Adloff / Mau: Theorie 12–16. 264 Vgl. Ebd. 9–57. 265 Polanyi: Transformation. 266 Simmel: Exkurs. 267 Vgl. Bourdieu: Ökonomie 139 f.; ders.: Sinn 229 f. und 244 f. Zur gesellschaftlich stabilisierenden Funktion von Dankbarkeitsverpflichtungen vgl. auch Cevolini: Einrichtung 68–70. 268 Bourdieu: Sinn 229 f. und 244 f.

142  Sozialethik der Liebe – Das Gnadendispositiv ein zeitliches Intervall zwischen Gabe und Gegengabe. Dies bedeutet, dass die Mechanismen des Tausches implizit sein müssen und nicht explizit formuliert werden können. Andernfalls würde der symbolische zum rein ökonomischen Tausch werden.269 Die vorkapitalistische Ökonomie beruhte aber wesentlich auf der Verneinung der Ökonomie durch die Verklärung ökonomischer zu symbolischen Akten.270 Die heilsökonomische Interpretation des von der beginnenden Industrialisierung geschaffenen strukturellen Duals von Armut und Reichtum lässt sich als eine derartige verklärende Verschleierung, aber eben nicht Negierung, des kapitalistischen Prinzips von Leistung und Gegenleistung verstehen. Dies zeigt sich schon an der Bezeichnung des Almosens durch Westermayer als »Kapital, das reichliche Zinsen tragen wird«.271 Die caritative Sozialethik verlieh dem kapitalistischen Verhältnis von Leistung und Gegenleistung heilsökonomischen Sinn. Dies konnte sie, weil in der Reziprozität von Gabe und Gegengabe in der Tat kein vorkapitalistisches Relikt zu sehen ist, worauf die Soziologen Frank Adloff und Steffen Mau hinweisen. Denn die scharfe Entgegensetzung zwischen sozial eingebetteten Märkten und entbetteten kapitalistischen Märkten durch Polanyi, Simmel und Bourdieu ist mittlerweile als empirisch unzutreffend nachgewiesen worden.272 Deshalb lässt sich auch eine Liebe, die ihren Charakter als Verpflichtung verloren hat und sich durch die Freiwilligkeit zur Tugend entwickelt hat, in ein System von Gabe und Gegengabe integrieren. Die caritative Sozialethik funktionierte als Gabentausch, da sie eine bipolare Ungleichheit auf der Grundlage von persönlichen Beziehungen verschleierte bzw. heilsökonomisch verklärte  – und das nicht als Relikt vorkapitalistischer Verhältnisse, sondern als adäquate Antwort auf die beginnende Dominanz des Kapitalismus. Dabei entspringt die Funktionsweise der caritativen Sozialethik als Gabentausch nicht nur einem kontingenten ökonomischen Entwicklungsstand, sondern es besteht auch eine Wechselwirkung mit der Liebe als Generalisierung im Gnadendispositiv, wie es sich in der Barmherzigkeit als Opfer äußert. Der Gabentausch funktioniert mit seiner Vermeidung direkter Reziprozität wie ein Opfer, wie im Anschluss an den Religionswissenschaftler René Girard festgestellt werden kann. Das Opfer dient nach Girard genauso der Zähmung von Gewalt wie die Justiz. Im Unterschied zur Justiz, die rationalisierte Rache ist, funktioniert das Opfer nicht über die rächende Bestrafung des Täters, sondern will als Versöhnung wirken. Das Problem, welches das Opfer lösen will, besteht darin, dass vom nicht gerächten Geschädigten eine Gefahr ausgeht, anderer 269 Ders.: Ökonomie 141 f. 270 Ebd. 149. 271 Westermayer: Bauernpredigten II/II 15 f. 272 Vgl. Adloff / Mau: Theorie 9–57. Zur Kritik an der scharfen Entgegensetzung zwischen Gabentausch und Tauschhandel vgl. besonders Ebd. 17–20.

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seits aber der Kreislauf der Gewalt unterbrochen werden soll. Deshalb muss dem Geschädigten Genugtuung geschehen, aber nicht vom Täter. Richtet sich aber die Gegengewalt gegen den Täter, dann nimmt sie an der Gewalt Anteil und unterscheidet sich nicht mehr von ihr. Deshalb müsse das Opfer einer »perfekten Reziprozität, von der man nichts wissen will, weil sie zu offenkundig dem Rachegedanken entspringt«, widersprechen. Und deshalb geht es beim Opfer nicht um Gerechtigkeit, sondern um Sicherheit durch Unterbinden der Rache.273 Der Gabentausch funktioniert also wie die opfernde Barmherzigkeit über die Verschleierung von Verantwortlichkeiten. Die caritative Sozialethik des Gnadendispositivs verweigert sich deshalb der Suche nach Verantwortlichen. Es geht gerade darum, direkte Reziprozitäten zu vermeiden. Die Verantwortlichen werden gerade nicht zur Verantwortung gezogen. Die caritative Sozialethik fragt nicht, wer verantwortlich für Not hat, letztlich ist es ja ohnehin Gott, sondern wer sie lindern kann. Im Gnadendispositiv – so kann zusammenfassend festgehalten werden – kommuniziert Religion über die Liebe als Generalisierung, es ist deshalb personalistisch, will unmittelbar zwischenmenschlich wirken, vermeidet die juridische Suche nach Verantwortlichen und deshalb auch direkte Reziprozitäten, daher auch die Bedeutung von Freiwilligkeit und Voraussetzungslosigkeit, ohnehin ist Gott für alles verantwortlich, weshalb es an einer statischen, göttlichen Idealnorm orientiert ist. Dabei ist die sozialethische Wirksamkeit des Gnadendispositivs eine adäquate Antwort auf den ökonomischen Entwicklungsstand der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt abhängig von der Entwicklung des Liebesbegriffs.

273 Girard: Heilige 36–43.

IV. Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv 1. Eine lieblose Zeit Seit den 1840er Jahren nahmen im katholisch-sozialethischen Diskurs die Klagen über das Schwinden der Liebe zu. Schwäbl schrieb am 14. Februar 1840 an Schenk: Ach! es ist in unsrer Zeit so wenig Edelsinn und soviel Selbstsucht, daß die heilige Liebe des Christentums eine Seltenheit geworden. Die Ursache dieser betrübten Zeiterscheinung liegt nicht ferne; denn sie ist in den Worten der ewigen Wahrheit beschrieben: ›Weil die Ungerechtigkeit überhandgenommen hat, ist die Liebe bei vielen erkaltet.‹ (Matth).1

Gaume stellte 1845 ein Schwinden von Glaube und Liebe fest.2 Der »Katholik« beobachtete 1851 zwar, dass »Glauben und Liebe wieder zunehmen«.3 Und 1852 war er sich sicher: »Die heilige Liebe, das ist unser Kreuzzug im neunzehnten Jahrhundert!«4 Aber Friedhoff beklagte in seiner thomistischen Moraltheologie 1865, dass »gegenseitige Förderung und Nächstenliebe« nur noch in Klöstern verbreitet sei, »in der Welt findet man beinahe wenig mehr als Lieblosigkeiten, Unterdrückungen, Anfeindungen, Verkennung«.5 Eberl konstatierte 1866 eine »Abschließung der Herzen von einander« durch den vom Kapitalismus geforderten ökonomischen Kampf.6 Conrad Martin sah sich 1870 in einer Zeit ohne Liebe lebend. Es herrsche »fortwährend Krieg«, und zwar zwischen Armen und Reichen, zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Brüdern und Schwestern, zwischen Herrschaften und Dienstboten, zwischen Verwandten, zwischen den Staaten, allerorten »Zwietracht, Feindseligkeit, Mißtrauen, Argwohn, kalte Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit«.7 Denifle urteilte 1872:

1 Zit. nach Hahn: Romantik 264 f. 2 Gaume: Blick 32. 3 Beten und Betteln. In: Der Katholik 4 (1851) 358–369, hier 363. 4 Briefe eines Deutschen aus Paris. In: Der Katholik 5 (1852) 49–63, 96–108, 145–162, 193–212, 241–267, 309–319, 352–360, 385–407, 433–451 und 481–503, hier 315. 5 Friedhoff: Moraltheologie XII. 6 Eberl: Kirche 5 f. 7 Martin: Festreden 110 f.

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Die heutige Gesellschaft, wer möchte es leugnen, ist im Grunde nicht freudig, sie ist ernst gestimmt; es ruht auf ihr nicht jener Friede, der die Herzen der einzelnen beseligt und sie untereinander vereint – die heutige Gesellschaft ist entzweit! Bürger erhebt sich gegen Bürger, Familie gegen Familie, Staat gegen Staat, und im Schoße der Familie selbst, im Innern der Staaten herrscht Unfriede und Zwietracht.8

1890 beklagte sich Senestrey in einem Hirtenbrief zur Josephsverehrung, dass »die Liebe erkaltet« sei.9 Ratzinger behauptete 1881, dass sich in der »Neuzeit« der »leitende Theil der Gesellschaft in bewußten Gegensatz zur Forderung christlicher Liebe« gestellt habe. Philosophie, Rechtslehre, Volks- und Naturwissenschaft »construirten das Recht des Starken, welcher im Kampfe um das Dasein auf Kosten der Schwachen sich entwickelt und auf ihren Leichnamen fortschreitet«.10 Und 1895 war es der Liberalismus, der nach Ansicht von Ratzinger die Nächstenliebe durch den Egoismus ersetzt habe. Dieser »hinwiederum ertödtete in den weitesten Schichten der Bevölkerung die Liebe«.11 Wahrgenommen wurde aber nicht nur ein Schwund an Liebe außerhalb der Theologie. Gleichzeitig wuchs auch in der katholischen Theologie bzw. Sozialethik das Misstrauen gegen die Liebe. Buß gab bereits 1844 zu bedenken, dass die Wohltätigkeit entgegen der herrschenden Meinung rechtlichen Regelungen unterworfen werden sollte: Vergebens wendet man ein: die Wohlthätigkeit bedürfe keiner Regeln, sie habe einen eigenen Schutzgeist, die Liebe des Armen. Liebe und handle darnach, das sey das große Gesetz. Schöne Regungen des Mitleids, der Großmuth! Allein die Erfahrung spricht anders! Alle Irrthümer, Mißgriffe flüchten sich bei den löblichsten Ansichten hinter diese Regellosigkeit.

Wohltätigkeit ohne Regeln aber sei »blinde, zufällige Routine, sie kennt nicht ihren Ausgang, nicht ihren Hingang, kennt keine Ordnung, nur Verstocktheit«.12 Die Armen benötigten »Disciplin«, man müsse sie »zu ihrem Heile zwingen«.13 Die Armut müsse deshalb dauerhaft erforscht, klassifiziert und überwacht werden.14 Während ihm die Privatarmenpflege also »zu individuell, zu zerrissen, zu 8 Denifle: Kirche 1 f. 9 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1890 (24.2.1890). 10 Ratzinger: Volkswirthschaft (1881) 124. 11 Ders.: Volkswirtschaft (1895) 151 f. 12 Buß: Orden 185. 13 Ebd. 186. 14 Ebd. 185: »Nicht vom ersten Eindruck, nein, von einer ruhigen Information über den Stand des Armen und seiner Bedürfnisse, genau und vollständig, lebt eine besonnene Armenpflege: Bedarf, Ursache, Hülfsquelle kommen zur Erforschung. Darauf stützt sich erst eine verläßige Classification der Armen und, dieser angepaßt, eine Eintheilung der Armenanstalten. Dazu gesellt sich eine treue Überwachung, die Verhütung der Fortpflanzung der Übel und die Beharrlichkeit, welche ein System zu seinen Folgen treibt.«

146  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv launenhaft« war, war ihm die staatliche Armenpflege aber »zu legal, zu äußerlich, zu zwanghaft«. Er schlug deshalb eine Armenpflege im Rahmen festgefügter Organisationen, also Vereinen und geistlichen Genossenschaften, vor, »welche die Vorzüge beider vereint, ohne deren Nachtheile zu tragen«.15 Zunehmend wurde der Affektcharakter der Liebe als Problem wahrgenommen und ihr der Vorwurf von Regellosigkeit, Unstetigkeit und Unkontrollierbarkeit gemacht. Häglsperger machte 1843 Bemerkungen über die Unkontrollierbarkeit der Liebe: Kein Gefühl der Seele, keine Neigung des Menschenherzens ist so stark in ihren Trieben als die Liebe. In dem Naturzustande des Menschen ist sie fast bloße niedere Empfindung (ihre seelisch-geistigen Schwungkräfte sind ja durch die Sünde gebunden); diese Empfindung ruht in diesem Falle auf der Erregbarkeit der Nerven und auf den Wallungen des Blutes, als ihren beiden Trägern; unklar in ihrer Anschauung, unbewußt einer höhern edlern Bestimmung, ohne Grundsätze, die ihr zur Norm dienen, bleibt sie somit in dem Naturzustande des Menschen blos sinnlich; sie wird nur von ihren Trieben fortgestoßen.16

Diese Bindung an die menschliche Natur, die sinnliche Dimension der Liebe, ist jedoch Ursache, daß sie in das Leben der Menschen anstatt erquickende Harmonienklänge, bloß zerreißende Mißtöne zu werfen vermag; ja Gott selber, Seinen Berufungen, Seiner Leitung unserer Lebensgänge etc. tritt sie murrend entgegen, macht den Menschen halsstarrig wider Gott, wenn Seine Forderungen den Wünschen des Fleisches nicht entsprechen, und wird demnach ein Hinderniß des Heiles, da sie doch in anderer Gestaltung sich sogar zu einem Mittel zum Heile hätte emporschwingen können.17

Die »moderne Civilisation« führe nun aber zu einer Verstärkung der Sinnlichkeit der Liebe. So komme es, dass »die geistige Kraft der Seele, statt zu erstarken, immer mehr schwindet, daß das ganze Leben einer solchen Seele in lauter Empfindungen verschwimmt und sich in lauter Gefühle zersetzt«.18 Die »Sentimentalität« wurde im Katholik 1850 für eine falsche konfessionelle Toleranz verantwortlich gemacht und zu den Defekten des »Beamtenstandes« gezählt.19 Conrad Martin predigte 1886: »Es ist nicht nothwendig, daß ich Gott gerade mit dem höchsten fühlbaren Affekte, mit der höchsten fühlbaren Empfindung liebe, weil ich diese sinnlichen Empfindungen und Affekte nicht immer in meiner Gewalt habe […].«20 15 Ebd. 189. 16 Häglsperger: Seelenleiden 107 f. 17 Ebd. 108 f. 18 Ebd.124 f. 19 Unsere Zustände. In: Der Katholik 2 (1850) 35–41, hier 37. 20 Martin: Fastenpredigten 358.

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Zunehmend wurde die Liebe auch als unmäßig diffamiert.21 Conrad Martin behauptete 1883, dass auch diejenigen das Purgatorium erwartete, die »mich zu sehr liebten und in ihrer großen Liebe gegen meine Fehler zu nachsichtig waren«.22 Das rechte Maß zu übersteigen war für Rietter 1865/1866 die Eigenschaft der Liebe schlechthin, eine Eigenschaft, die durch das Recht gezähmt werden musste. Die Gerechtigkeit sei die »Voraussetzung eines geordneten, kräftigen und glücklichen Zusammenlebens der Menschen in jeder Art von Communität«. Wenn der Christ vom Buchstaben des Gesetzes abweicht, um Liebe zu üben – »wenn es nöthig oder gerathen erscheint, das starre, oft wehethuende Recht in Billigkeit umzusetzen« –, dann aber »der eigentlichen Absicht des Gesetzgebers« entsprechend.23 Schließlich wurde auch der Vollkommenheitsanspruch der Liebe zum Problem. Deshalb verortete sie eine Mustergrabrede aus dem Jahr 1881 im Jenseits: »Die Liebe ist ja jene zarte Pflanze, die aus dem Himmel auf die Erde versetzt ist; sie grünt und knospet zwar hienieden, aber zur vollen Blüte und Reife gedeiht sie in dem heimatlichen Boden der Ewigkeit.«24 Und Pruner erschien der caritative Fatalismus 1883 als »Abgrund der Unsittlichkeit unter der Maske vollkommener Liebe«.25 Linsenmann schließlich kritisierte das Postulat der Selbstlosigkeit der Liebe 1878 als Chimäre. Die selbstlose Liebe ist keine Liebe, »sondern pure Empfindungslosigkeit, ein innerer Widerspruch«.26 Liebe könne nie selbstlos sein: Darin nun, daß die Freundesliebe aller sinnlichen Gluth und aller Berechnung natürlicher Vortheile ledig ist, erscheint sie als selbstlos, uneigennützig, und hienach bildet man sich ein Ideal von Liebe, welches in der absoluten Selbstlosigkeit, im absoluten Selbstvergessen bestände. Allein die Freundesliebe ist durchaus nicht selbstlos; wenn sie wahrhaft geistiger Natur ist, so setzt sie ja gerade den Geist in Thätigkeit, gibt ihm Leben, Anregung, Befriedigung, Glück. Es gibt ja keine Freundschaft, die nicht ein Glück zur Folge hätte; und das Glück ist ja nur Glück, weil es empfunden wird.27

Vor dem Hintergrund zunehmenden theologischen Misstrauens gegenüber der Liebe mutet es geradezu verzweifelt an, wenn Döllinger auf der Münchner Gelehrtenversammlung von 1863, die dazu dienen sollte, die durch die um sich greifende Neuscholastik entstandenen theologischen Differenzen auszugleichen, dazu aufrief, diese »auf freundschaftlichem Wege« auszugleichen, dem wissenschaftlichen Disput »einen versöhnlichen und dem Geiste der christlichen Liebe

21 Zur Maßlosigkeit und Exzessivität von Liebe vgl. Luhmann: Liebe 83. 22 Martin: Fest- und Gelegenheitsreden 497. 23 Rietter: Breviarium 191 f. 24 Grabreden 101. 25 Pruner: Moraltheologie 17. 26 Linsenmann: Lehrbuch 304. 27 Ebd. 303.

148  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv entsprechenden Charakter« zu verleihen.28 Dabei forderte er, »daß man sich von den spezifisch kirchlichen Tugenden der Demuth und der Bruderliebe leiten lasse und sich kein Richteramt über Andre, die ihrem Herrn stehn und fallen, anmaße«.29 Der Appell scheiterte gründlich, die Zeichen standen auch innerhalb der katholischen Theologie nicht auf Liebe, sondern auf Kampf.30 Im zunehmenden Misstrauen innerhalb der katholischen Theologie gegenüber der Liebe spiegelt sich letztlich eine Weiterentwicklung des Liebesbegriffs wider. Zunehmend wurde der Begriff der Liebe auf Grundlage seiner vorangehenden Verinnerlichung erotisiert bzw. sexualisiert. Der Affektcharakter der Liebe wurde zunehmend vom Geschlechtlichen bestimmt.31 Das ist darauf zurückzuführen, dass die affektive Liebe zunehmend zur Grundlage der Familie stilisiert wurde, wegen der Bedeutung der Familie für die geschlechtliche Reproduktion aber nun ein enger Konnex zwischen Liebe und Sexualität entstand. Da aber die Reproduktion in der Familie nach der Trennung von Arbeit und Familie im Laufe des ökonomischen Differenzierungsprozesses Aufgabe der Frau wurde, wurde die Liebe – in der Frühen Neuzeit noch eine männliche Eigenschaft32 – nicht nur sexualisiert, sondern auch feminisiert. In dem Maße, in dem die Liebe alles Männliche verlor, wurde sie von den die öffentliche Diskurse bestimmenden Männern als unstet, regellos und unkontrollierbar wahrgenommen bzw. diese Eigenschaften zunehmend als Problem wahrgenommen.33 Und da Liebe weiblich wurde, musste sich zunehmend aus der Öffentlichkeit, dem Reich des Mannes, verbannt werden und fand in der Familie, das neu geschaffene Reich der Frau, ihren Ort.34 Deshalb musste sie an sozialethischer Bedeutung verlieren. Affektivität wurde als handlungsleitendes Agens im Bürgertum im Laufe des Vormärz deshalb immer mehr von berechnender Rationalität verdrängt und aus der Sicht der die Öffentlichkeit dominierenden männlichen Bürger zur Charakteristik von ungebildeten Randgruppen – Frauen, Unterschichten, Katholiken – gemacht, wodurch deren Ausschluss von der Macht legitimiert wurde.35 Dabei wurde die Liebe auch in der katholischen Sozialethik feminisiert. Buß machte die Liebe 1844 zu einer weiblichen Eigenschaft: Männer entbehren endlich jener an fremder Bedürftigkeit unreflectirt auf- und sich hingebender Liebe, welche in der einartigsten Bereitwilligkeit für gleichförmige ein 28 Verhandlungen der Versammlung katholischer Gelehrten 7. 29 Ebd. 132. 30 Vgl. Bischof: Theologie. 31 Vgl. dazu Hoffmann: Freundschaft 203–205; Jarzebowski: Liebe 901 f.; Luhmann: Liebe 147 f.; Trepp: Emotion 51 f. 32 Jarzebowski: Liebe 898 f. 33 Ven: Recht 17 f. Vgl. dazu auch Fromm: Kunst 47 f.; Troeltsch: Soziallehren 227 f.; Zaborowski: Liebe. 34 Vgl. dazu Trepp: Emotion 31; Kapl-Blume: Liebe 29–35. 35 Aschmann: Zeitalter 90–97.

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zelne kleine Bedürfnisse eine so unermeßliche Opferkraft ohne Ausblick auf grosse Erfolge in der Aussenwelt einsetzt.

Die Frau bezeichnete er als »Vestalin der Liebe«.36 Angesichts der Feminisierung der Liebe eignete sich die Familie für Périn 1876 nicht mehr als Vorbild für den Staat.37 Martin sah sich 1886 genötigt, die Gottesliebe mit männlichen Adjektiven der Stärke und des Willens zu umschreiben und sie von affektiver Liebe abzugrenzen, die er mit weiblich definierten Begriffen von Passivität und Schwäche umschrieb.38 Die Gottesliebe, so Martin, bestehe nicht in sinnlichen Gefühlen und Affekten, nicht in diesen fühlbaren religiösen Tröstungen und Süßigkeiten der Andacht, die uns Thränen und Seufzer auspressen oder uns selbst eine gewisse angenehme Befriedigung, einen gewissen sinnlich-geistigen Geschmack an den heiligen und göttlichen Dingen gewähren.

Die Gottesliebe sei vielmehr Wille, sie bestehe nicht im passiven Fühlen, sondern im aktiven Willen, im entschlossenen standhaften und kräftigen Willen, Dasjenige zu thun und zu vollbringen, wovon sie weiß, daß es Gott angenehm ist. Was man also oft fälschlich Liebe nennt, das freilich kann nicht Gegenstand eines göttlichen Gebotes sein; aber die wahre Liebe, welche wesentlich im guten und heiligen Willen besteht, konnte uns allerdings geboten werden.39

Diese Abspaltung einer unkontrollierbaren weiblichen von einer rationalen männlichen Liebe ist als Versuch zur Domestizierung der Liebe zu werten. Einen solchen Versuch unternahm auch der frühe Neuscholastiker Plaßmann. Er unterwarf die Liebe 1859 rationaler Erkenntnis, wenn er formulierte, »daß man nicht lieben kann, was man nicht kennt; daß man nur in dem Maaße lieben kann, als man den zu liebenden Gegenstand kennt«.40 Damit schloss er sich seinem Vorbild, Thomas von Aquin, an.41 Schneider domestizierte dann die Liebe 1909, indem er triebhaftes Mitgefühl von reflektierter Nächstenliebe differenzierte und diese dem Recht unterwarf. Als »rein natürlicher und unwillkürlicher 36 Buß: Orden 366. 37 Périn: Politik 239: »In der Familie besteht unter der Leitung des Vaters eine Gemeinschaft, welche man unmöglich auf den Staat übertragen könnte, ohne die Gesellschaft in Widerspruch zu allen natürlichen Bedingungen des Lebens und der Vervollkommnung zu setzen. Einer der beiden Gesellschaften die juridischen Beziehungen der anderen auferlegen, hieße beide in eine gleich verkehrte Lage zu versetzen.« 38 Zur Polarisierung der Geschlechtscharaktere seit dem späten 18.  Jahrhundert vgl. Hausen: Polarisierung. 39 Martin: Fastenpredigten 356 f. 40 Plaßmann: Schule 39. 41 Thomas hatte die Liebe von der Erkenntnis abhängig gemacht. Vgl. Grupp: Jenseitsreligion 90 f.

150  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Vorgang« sei Mitgefühl »ebenso sittlichkeitslos wie die rein sinnliche, blinde Liebe, Begierde und Lust«. Deshalb sei Mitgefühl kein zuverlässiger »Maßstab oder Ratgeber im Bereiche der Gerechtigkeit«. Denn es empfinde die »Grenzlinie zwischen Recht und Unrecht« nicht, verhalte sich gegenüber der Frage von Recht und Unrecht »gleichgültig« und könne Rechtsverletzungen deshalb weder anzeigen noch verhindern. Die »echte« Liebe müsse sich deshalb vor dem Mitgefühl hüten: »Der Stimmungsmensch handelt aus Gefühl oder Laune heute gut und morgen schlecht. Nicht von Empfindungen des Augenblickes, sondern von den ewigen Grundsätzen der Sittlichkeit und des Rechtes muß man sich beraten und leiten lassen.«42 Hier kündigt sich bereits an, dass der sozialethische Wert der Liebe im katholischen Diskurs auch durch Domestizierungen nicht mehr zu retten war. Zunehmend wurde die Liebe als kommunikative Generalisierung in der katholischen Sozialethik von der Gerechtigkeit verdrängt.43 Ein frühes Beispiel für diese Verschiebung zugunsten des Rechts stellen Baaders sozialethische Ausführungen dar. Auch der selbsternannte Liebesphilosoph Baader beklagte 1829/1830 in der »Eos« die zunehmende Lieblosigkeit der Gesellschaft: Dem mechanischen, unpersönlichen, unfühlenden Gott der Philosophen entspricht der mechanische, unpersönliche, unfühlende Staat, und wie man jenen nicht lieben und ihm nicht glauben kann, so kann man diesen, den mechanischen Staat, nicht lieben, ihm nicht glauben und ihm nicht con amore dienen.44

Durch die Auflösung des »Hörigkeitsverbandes« seien die »Proletairs« nur »relativ ärmer und hilfs- wie schutzbedürftiger« geworden und »ohne sich geborgen zu finden« verhielten sie sich »im Grunde hassend gegen die Verfassung«, behauptete er 1835.45 Aufgrund ihrer Rechtlosigkeit sei ihnen aber durch eine »bloße Wohlthätigkeitsanstalt« nicht zu helfen. Deshalb postulierte er ein »Recht der Proletairs auf Erleichterung ihres Lebens«.46 Dieses sollte in Form einer »Association des Proletairs«, in der er eine »Assecuranzanstalt« sah, verwirklicht werden.47 Für den Moraltheologen Pruner stellte die Verrechtlichung der Sozialethik 1857 eine notwendige Reaktion auf die zunehmende soziale Lieblosigkeit dar. Er stellte fest: »Je weniger unsere Generation vom inneren Geiste der Liebe belebt ist, desto mehr ist sie beherrscht vom starren Rechte, vom äußeren Ge 42 Schneider: Weltordnung 351–355. 43 Vgl. dazu Schäfers: Kraft 361–365; Ven: Recht 14 f. 44 Baader, Franz von: Identität des Despotismus und des Revolutionismus. In: Ders.: Schriften I 290–292, hier 291 f. 45 Ders.: Ueber das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Classen der Societät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als in intellectueller Hinsicht, aus dem Standpuncte des Rechts betrachtet. München 1835. In: Ders.: Schriften II 125–144, hier 135. 46 Ebd. 130. 47 Ebd. 139 f.

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setze.« Deshalb müsse auch der Beichtvater das Recht kennen, um entscheiden zu können, ob man auch im Gewissen berechtigt sei, auf ein in foro externo bestehendes Gesetz hin etwas als Recht zu behaupten, zu erwerben, zu behalten, auf einen Rechtsstreit wegen desselben sich einzulassen; oder daß er durch seinen Rath beizutragen hat, die Rechte so viel als möglich unanstreitbar zu machen und Rechtshändel zu beseitigen.48

Damit übereinstimmend stellte Senestrey in einem Pastoralerlass 1869 fest, dass »heutzutage aus der Armenpflege und aus dem sozialen Abhängigkeitsverhältnisse der Geist der christlichen Liebe verbannt und durch Gesetze oder natürlichen Humanismus ersetzt werden will«.49 Als »die Liebe in den Herzen erkaltete«, so Ratzinger 1881 in seiner Volkswirtschaftslehre, wurde die »officielle Zwangsarmenpflege« nötig.50 Im gleichen Jahr bezeugte eine Mustergrabrede den sozialethischen Bedeutungsverlust der Liebe zugunsten der Gerechtigkeit: Ja gerade in unsern Tagen hat man die Bewahrung vor vollem Umsturz, die Erhaltung von Recht und Besitz, von Ordnung und Sitte nicht unseren Philanthropen, Gesetzgebern und Philosophen, sondern der Lehre des Christentums, besonders von der künftigen Vergeltung zu verdanken; und in Zukunft wird, da die Liebe immer mehr zu schwinden scheint, gerade das Gesetz der zukünftigen, strengvergeltenden Gerechtigkeit Gottes unsere Enkel vor dem völligen sittlichen Ruine bewahren müssen.51

Bei Liebe und Recht handelte es sich um zwei verschiedene religiöse Generalisierungen,52 insbesondere im Christentum. Deshalb konnte der Religionsphilosoph Ludwig Feuerbach (1804–1872) das Wesen des Christentums in der interesselosen Liebe suchen, während der Rechtsphilosoph Friedrich Julius Stahl (1802–1861) das Christentum auf das Recht gründete.53 Für den protestantischen Religionswissenschaftler Rudolf Otto waren Liebe und Recht im Religiösen zwar zwei verschiedene, stets konkurrierende, aber nicht zu trennende Elemente. Er suchte das Religiöse im Numinosen und betrachtete dieses als spezifische, im Letzten unerklärliche Verbindung aus tremendum und fascinans.54 Dabei behauptete er, das das tremendum am Numinosen durch theologische Rationalisierung zur Gerechtigkeit Gottes werde, das fascinans zur göttlichen Liebe.55 Auch der protestantische Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch 48 Pruner: Lehre I VII. 49 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 11. 50 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 478. 51 Grabreden 426. 52 Auch Recht stellt eine gesellschaftliche Konstruktion dar. Für Geertz ist Recht eine »spezifische Weise«, sich »die Wirklichkeit vorzustellen«. Vgl. Geertz: Knowledge 184. 53 Vgl. Jähnichen: Verteilungsgerechtigkeit 95 f. 54 Otto: Heilige 13–37 (tremendum) und 42–52 (fascinans). 55 Ebd. 169.

152  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv (1865–1923) behandelte den in Religion unaufhebbaren Gegensatz zwischen Liebe und Recht. Anders als Otto war die Trennlinie zwischen Recht und Liebe identisch mit derjenigen zwischen Diesseits und Jenseits. Liebe war für ihn göttlich: »Es ist die Selbstliebe in Gott, die nicht das natürliche, sondern das gottgeeinigte Selbst liebt, und die Bruderliebe in Gott, die nicht den natürlichen Mitmenschen, sondern den Bruder in Gott liebt.« Diese Liebe »betätigt sich in der höheren Moral der Askese und Carität und verleiht einen ihr eigentümlichen himmlischen Lohn, die visio beatifica Dei«. Diese göttliche Liebe bildete für Troeltsch nun einen »unverkennbaren scharfen Gegensatz gegen die innerweltliche Ethik des Naturgesetzes, des Aristoteles, des Dekalogs und der geordneten allgemeinen Wohlfahrt«.56 Eine konfessionsgeschichtliche Dimension bekam das Dual von (verinnerlichter) Liebe und Recht durch den protestantischen Rechtshistoriker Rudolph Sohm (1841–1917). 1892 äußerte er, dass das Wesen des Rechts mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch stehe. Das Evangelium sei vom Geist der Liebe durchdrungen und benötige deshalb kein Recht. Er verband die Entstehung des Kirchenrechts mit der Entwicklung der katholischen Kirche und wertete sie als Abkehr vom Evangelium. Seither herrschten Furcht und Misstrauen, ob die Kraft der Liebe größer sei als der Reiz der Sünde, weshalb formale Schranken und Garantien errichtet wurden.57 Dabei wurde der konfessionsunterscheidende Charakter der Liebe mittlerweile auch auf der katholischen Seite akzeptiert und postuliert. Bereits 1859 hatte der Katholik Gefühle wie die Liebe zur Angelegenheit des »protestantischen Pietismus« gemacht. Dieser sei »ja zuletzt doch gar nichts Anderes als die selbstgefällige und selbstschmeichelnde Verehrung der eigenen Empfindungen und Herzensgefühle, die man sich so fromm und süß als möglich aus der Seele schauert«.58 Da es sich bei Liebe und Recht um zwei religiöse Generalisierungen handelt, ist es plausibel, wenn der dezidiert katholische Rechtswissenschaftler Josephus Johannes Maria van der Ven in der Sozialethik eine verschiebbare Grenze zwischen Liebe und Recht erkennt.59 Bei Périn verschob sich die Grenze zwischen Liebe und Gerechtigkeit 1878 innerhalb weniger Seiten seiner »Gesellschaftslehre«. Zunächst ging er von einer sozialethischen Gleichgewichtigkeit von Liebe und Gerechtigkeit aus: »Gerechtigkeit und Liebe sind die bewegenden Grundkräfte der ganzen socialen Ordnung. Nicht minder als die Gerechtigkeit ist die Liebe das Gesetz der ganzen Welt. Die Gerechtigkeit erhält den Menschen; die Liebe flößt ihm das Feuer und die Fruchtbarkeit des Lebens ein.« Deshalb war es für ihn die Liebe, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft eigentlich sorge, 56 Troeltsch: Soziallehren 264 f. 57 Sohm: Kirchenrecht 162. Vgl. dazu Link: Rechtsgeschichte 1 f. 58 Beobachtungen über religiöse Zustände in Tyrol. In: Der Katholik 1 (1859) 490–502, hier 493. 59 Vgl. Ven: Recht 14 f.

Neuscholastischer Rationalismus  153

da sie die Grenzen des Rechts übersteige: Wer liebt »wird mehr thun als der strengen, für Alle gleichen Forderung der Gerechtigkeit einfach genügen. Der Geist des Opfers wird ihn bewegen, das Interesse des Nächsten über das seinige zu stellen und so ihn zu jenem Heldenmuthe der Selbstverläugnung befähigen, aus dem die großen socialen Tugenden erblühen.«60 Schließlich überwog aber das Misstrauen gegenüber der Liebe angesichts der in ihrer Freiwilligkeit liegenden sozialethischen Defizienz, die nach Ansicht von Périn nur durch die Erzwingbarkeit des Rechts ausgeglichen werden konnte. Die Liebe vollende zwar die »Gerechtigkeit, d. h. alles das, was das Gesetz befiehlt«, aber der Mensch ist hinfällig, sein Wille schwach und nur zu oft unfähig, dem Zuge der Liebe zu edlen Erhebungen und großen Opfern zu folgen. Deßhalb müssen, wo die Liebe fehlt, zur Aufrechthaltung der unerläßlichen Ordnung innerhalb der Gesellschaft die menschlichen Gewalten eingreifen und durch die Macht des Schwertes das Reich der Gerechtigkeit sichern.61

Bei Stöckl war die Liebe 1880 dann schon ganz vom Recht absorbiert. Die Liebe fordere, daß wir, wenn Jemand in Gefahr steht, von einem Übel betroffen zu werden, oder von solchem bereits betroffen ist, ihm helfend zur Seite zu stehen, um das gedachte Übel von ihm abzuwenden oder es, falls es bereits über ihn hereingebrochen ist, wieder zu beseitigen. Aber es wäre solches nicht blos eine Pflicht der Liebe, sondern die gedachte ›Intervention‹ wäre auch geboten im Interesse der Rechtsordnung selbst, sie wäre auch eine rechtliche Pflicht.62

Liebe hatte seinen sozialethischen Zweck zugunsten des Rechts verloren.

2. Neuscholastischer Rationalismus Der Übergang von der caritativen zur juridischen Sozialethik wurde getragen von der Neuscholastik – einer theologischen Strömung, die sich an der mittelalterlichen Scholastik orientierte. Dies zeigte sich schon an deren Habitus, der nach Ansicht von Holzem von »konkreter Härte und menschlicher Lieblosigkeit« geprägt gewesen sei.63 Im Jahr 1891 sprach Linsenmann die Schwierigkeiten, die die Neuscholastik mit der Liebe hatte, an und führte sie zutreffend auf den Begriffswandel, dem die Liebe seit dem 18. Jahrhundert unterworfen war, zurück: 60 Périn: Politik 27–31. 61 Ebd. 21. 62 Stöckl, Albert: Die internationale Rechtsgarantie und das Princip der Nichtintervention. In: Ders.: Fragen III 22–59, hier 24. 63 Holzem: Weltversuchung 170.

154  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Es ist der alten Theologie [der Scholastik] aber noch besonders schwer, das Wesen der Liebe zu bestimmen, weil sie unter die höhern Seelenvermögen, in denen man die Liebe unterzubringen hat, das Gefühl oder Gemüth, wo doch der Sitz der Liebe ist, nicht aufnimmt; darnach muß sie der Liebe, welche nicht in der Intelligenz ruhen kann, ihren Sitz im Willen anweisen und entfernt sich damit von der Erkenntniß des Wesens der Liebe. Mein eigener Wille ist nicht Meister über meine Liebe, er kann mir nicht befehlen zu lieben; er kann mir nur befehlen, solche Handlungen zu vollbringen, welche als Erweise der Liebe gelten können und sollen.64

Hatte die Scholastik noch keine Probleme mit dem mittelalterlichen formalen Liebesbegriff, dann die Neuscholastik mit dem verinnerlichten, sensualisierten sehr wohl. Es gelang der Neuscholastik deshalb trotz aller Versuche nicht, die Liebe zu domestizieren. Die neue Liebe blieb der Neuscholastik aufgrund ihrer Triebhaftigkeit und Unkontrollierbarkeit suspekt. Der Neuscholastik ging es nicht um fühlendes, sondern um rationales Erkennen, wie Plaßmann 1860 deutlich machte: Friede muß nicht verwechselt werden mit Liebe. So sicher wir jedem Nächsten, auch dem Feinde, die christliche Liebe schulden, so wenig ist es möglich, unbedingt mit Jedermann in Frieden zu verkehren. Die Liebe zur Wahrheit führt nothwendig mit sich eine gleich große Feindschaft gegen den Irrthum, wie die Liebe zur Tugend nothwendig einen gleich großen Haß gegen die Sünde bedingt. Wer nicht hassen kann, der kann auch nicht lieben; wer keine Feindschaft will, der will auch keine Freund­schaft.65

Mathias Schneid urteilte in seiner Verteidigung der Scholastik 1881: Ebensowenig hat es die Wissenschaft und am allerwenigsten die Philosophie mit dem Herzen zu thun; in ihr handelt es sich allein um die Wahrheit und nicht um die Rührung und Bewegung des Herzens. Phrasen, Schlagwörter, Bilder, Gleichnisse und rhetorischer Schwung können dort nur schaden, wo es sich lediglich um Vernunfteinsicht und sichere Erkenntniß der Wahrheit handelt.66

Für Tilman Pesch ging es bei Religion darum, wie er 1907 ausführte, Gott durch den Verstand zu erkennen: »Indem nämlich der Mensch Gott, den Urgrund aller Dinge, erkennt, erkennt er sofort auch seine Abhängigkeit von demselben. Auch diese erkennt er als etwas objektiv Gegebenes, es ist also ein wirkliches Erkennen, nicht ein subjektives Fühlen.«67 Diese rationale Erkenntnis sei aber »die Erfüllung einer Pflicht der Gerechtigkeit Gott gegenüber«.68 Rationalität 64 Linsenmann: Lehrbuch 302 f. 65 Plaßmann: Vorhallen 270. 66 Schneid: Philosophie 79. 67 Pesch: Welträtsel II 545. 68 Ebd. 533 f.

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und Rechtlichkeit sind also zwei untrennbar miteinander verbundene Elemente jeglicher neuscholastischer Theologie. Bei dem Begriff der Neuscholastik handelte es sich zunächst um einen abwertenden kirchenpolitischen Kampfbegriff, durch den indizierten Infallibilitätsgegner Jakob Frohschammer (1821–1893) und den vor-neuscholastischen Ultramontanen Aloys von Schmid 1862 gleichzeitig eingeführt.69 Die Durchsetzung der Neuscholastik, vor allem in ihrer an Thomas von Aquin (gest. 1274) orientierten Form, bedeutete einen tiefen theologischen Bruch. Ihren Anfang nahm sie mit Luigi Taparelli in Rom seit den 1830er Jahren. Anschließend breitete sie sich über das ganze katholische Europa aus, bis sie durch die Enzyklika »Aeterni patris« (1879) von Papst Leo XIII. zur Leittheologie erhoben wurde. Träger der Neuscholastik im deutschen Sprachraum waren nicht zuletzt die Jesuiten mit ihrer Zeitschrift »Stimmen aus Maria Laach«. Weitere neuscholastisch beeinflusste Organe waren die »Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland« und »Der Katholik« aus Mainz. Die wichtigsten Vertreter der deutschen Neuscholastik waren die Jesuiten Viktor Cathrein, Joseph Kleutgen, Theodor Meyer, die Brüder Heinrich und Tilman Pesch sowie Hermann Ernst Plaßmann. In der philosophischen Sektion der Görres-Gesellschaft wurde die Neuscholastik von den Weltgeistlichen Constantin Gutberlet, Paul Leopold Haffner, Mathias Schneid und Ludwig Schütz (1838–1901) propagiert. Ein weiteres Zentrum befand sich am Eichstätter Lyzeum. Dort lehrten die Weltgeistlichen Michael Gloßner (1837–1909), Franz von Paula Morgott (1829–1900) und Albert Stöckl. Daneben waren der laikale Philosoph Franz Jakob Clemens (1815–1862) aus Münster, die Priester Johann Baptist Heinrich (1816–1891) und Christoph Moufang aus Mainz, der Konvertit Konstantin von Schaezler (1827–1880) und der in Österreich wirkende Dominikaner Albert Maria Weiß von Bedeutung.70 In dessen Erinnerung hatte sich die Neuscholastik in den 1890er Jahren gegenüber konkurrierenden theologischen Strömungen endgültig durchgesetzt.71 Die Orientierung der Neuscholastiker an mittelalterlichen Theologen hatte mit der Mittelalterbegeisterung der Romantik nichts zu tun. Tatsächlich gab es keine direkten Verbindungen zwischen Romantik und Neuscholastik.72 Die Neuscholastik war nicht so sehr von romantischer Mittelaltersehnsucht geprägt, sondern von einer von spätaufklärerischen Entwürfen angeregten und sich von diesen gleichzeitig abgrenzenden Suche nach einer Verbindung von Theologie und Rationalität. Für den Kirchenhistoriker Otto Weiß ist die Durchsetzung der 69 Zur Geschichte des Begriffs der Neuscholastik vgl. Schmidinger: Scholastik. 70 Zur Neuscholastik vgl. Beumer: Neuscholastik; Coreth: Schulrichtungen; Gilen: Kleutgen; Höfer: Aufbruch; Lakner: Kleutgen; Lenhart: Theologenschule 179–191; Raab: Wiederentdeckung; Walter: Philosophie; Welte: Strukturwandel. Zu »Aeterni patris« vgl. Gangl: Ehrle. 71 Weiß: Lebensweg 363. 72 Gilen: Kleutgen 34; vgl. auch Casper: Gesichtspunkte 88–91; Fischer: Sarg 137; Walter: Philosophie 132 f.

156  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv »nahezu rationalistischen Neuscholastiker« nur der katholische Ausdruck eines »allgemeinen Paradigmenwechsels« weg vom romantischen Universalismus und hin zu fachlicher Spezialisierung und Positivismus.73 Der Kirchenhistoriker Bernhard Casper gibt zu bedenken, dass man die Neuscholastik unter den »Gesichtspunkt der Begegnung der Theologie mit der Vernunft stellen kann und stellen muß«.74 Auch der Mediävist Peter Raedts kommt zu dem Ergebnis, dass die neuscholastische Sozialethik keine Rückkehr zum Mittelalter beabsichtigte, sondern dass es vielmehr darum ging, Forderungen aus legitimatorischen Gründen in mittelalterliches Gewand zu hüllen.75 Damit übereinstimmend weist der Historiker Georges Minois darauf hin, dass die Kirche »mit mittelalterlichen Termini immer neue Realitäten« ausdrückt.76 Lepsius bemerkt, dass Traditionsbrüche »immer am besten im Namen traditionell akzeptierter Wertvorstellungen« gelingen, »auch wenn die Neuerung die tradierte Wertvorstellung auflöst«.77 Die Neuscholastik ist dadurch ein hervorragendes Beispiel für die Erfindung von Traditionen. Menschliche Gesellschaften reproduzieren sich nicht nur materiell, sondern auch symbolisch. Zur Weitergabe kultureller Praktiken und Normen dienen Traditionen, die erfunden werden müssen. Es handelt sich bei ihnen um kulturelle Konstruktionen.78 Daher greift es zu kurz, im neuscholastischen Rückgriff auf das Mittelalter nur die Suche nach dem vorrevolutionären und sogar vorreformatorischen Ideal zu sehen. Der Politologe Hans Maier stellt deshalb fest, dass »die katholische Soziallehre in ihrer modernen, neuscholastischen Gestalt ein Kind des 19. Jahrhunderts gewesen ist«. Insbesondere betont er ihre »Bedeutung für die moderne Gesellschaft«. Denn sie sei »in ihrer Entstehung und Entwicklung von ihrem Widerpart, der liberalen Staats- und Gesellschaftslehre, keineswegs so unabhängig gewesen, wie dies gemeinhin angenommen wird«.79 Für den Soziologen Karl Gabriel ist die Durchsetzung der juridischen und formalistischen Neuscholastik notwendige Konsequenz von Modernisierung. Sie begleitete den »Umbau der katholischen Tradition im Kontext der bürgerlich-modernen Industriegesellschaft« durch die Legitimierung und Sakralisierung rationalisierter, zentralisierter und bürokratisierter Kirchenstrukturen.80 Mit Luhmann lässt sich die Neuscholastik als Folge funktionaler Differenzierung betrachten. Denn im Unterschied zur personalistischen Sozialethik der Nächstenliebe stellt die Neuscholastik eine formalistische Betonung dogmatischer Regelhaftigkeit dar. 73 Weiß: Ultramontanismus (2005) 64 f. 74 Casper: Gesichtspunkte 88 f. 75 Raedts: Entdeckung 292 f. 76 Minois: Hölle 318. 77 Lepsius: Interessen 26. 78 Vgl. Auerochs: Tradition 24. 79 Maier: Sozial- und Staatslehre 2. 80 Gabriel: Christentum 82–87.

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Die dominierende Stellung der Dogmatik rührt aber für Luhmann vom Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft her. Die diskontinuierliche ritualistische Praxis wird durch die Dogmatik als generalisiertes Integrationsmittel ersetzt, da nur sie kontinuierliche Beziehungen zur Systemumwelt ermöglicht.81 Tatsächlich ging es der Neuscholastik bei der Repristinisierung der mittelalterlichen Scholastik gar nicht um Geschichte. Für den Kirchenhistoriker Victor Conzemius stellte die Neuscholastik die Überwindung des »theologischen Historizismus« der Romantik dar.82 Die Neuscholastik verstand sich ausdrücklich als ahistorisch, was sich daran zeigt, dass die Kirchengeschichte zunehmend in Konflikt zur neuscholastischen Dogmatik geriet.83 Der Katholik erklärte 1853: »Die eigenthümliche Funktion der Philosophie [der Neuscholastik] ist unabhängig von der Zeit, in der wir leben, von unserer Umgebung und unseren Verhältnissen und von dem Gebrauch, den wir davon zu machen gedenken.« Denn die Philosophie sei Wissenschaft und die Wissenschaft ist ewig; ihr Ziel ist universell und konstant dasselbe. Man kann also nicht von zufälligen Elementen ausgehen, will man ihren Zweck und ihre Aufgabe bestimmen, sondern man muß die nothwendigen Elemente zum Ausgangspunkte machen wie das erkennende Subjekt und das erkannte Objekt.84

Die Neuscholastik wurde als fester Fels ahistorischer Stabilität in einem bodenlosen Meer des chaotischen Wandels inszeniert, wenn Plaßmann in einer der frühesten neuscholastischen Schriften im deutschen Sprachraum 1860 auf das vergangene Vierteljahrhundert zurückblickte: »Auf außerkirchlichem Gebiete erhoben sich in raschem Durch- und Nacheinander Jacobi, Fichte, Hegel, Schelling; auf dem kirchlichen erstanden die Schulen de la Mennais, Baader, Günther und die des praktischen Hirscher.«85 Dabei identifizierte er den rationalistischen Philosophen René Descartes (1596–1650) als den eigentlichen »Revolutionär, mit dessen Auftreten in der Philosophie der continuirliche Kreislauf der Revolutionen in der Philosophie bis auf den heutigen Tag begonnen hat«.86 Die seither gebräuchliche dialektische Methode führe zu »Unsicherheit, Wanken und Wechsel«, während die logische Methode der Scholastiker »Sicherheit, Festigkeit, Beständigkeit« bedeute.87 Als Albert Maria Weiß auf das 19. Jahrhundert zurück-

81 Vgl. Luhmann: Funktion 108 f. 82 Conzemius: Katholizismus 21. 83 Vgl. Welte: Strukturwandel 402 f.; Holzem: Weltversuchung 170–180. 84 Die katholische Philosophie im Mittelalter und in der Neuzeit. In: Der Katholik 7 (1853) 241–251 und 337–360, hier 338 f. 85 Plaßmann: Vorhallen 105 f. 86 Ebd. 179. 87 Ebd. 193.

158  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv blickte, erkannte er im Zeitraum zwischen 1820 und 1860 den Höhepunkt einer »traurigen Lage« für das kirchliche Leben: Es war, als hätte man nie eine Wahrheit gekannt, nie Sicherheit darüber gehabt, wo und wie sie zu finden sei, als müßte man alles neu erfinden. Und dazu glaubte sich dieses rastlose Geschlecht einzig auf sich angewiesen. Die Vergangenheit war dermaßen abgebrochen und vergessen, daß man an Geschichte und Überlieferung und an Autorität in diesen Dingen kaum noch dachte.88

Sicherheit suchte die Neuscholastik nicht in Geborgenheit, sondern in Gewissheit, also Sicherheit der Erkenntnis.89 Deshalb zeichneten die Neuscholastik Präzision, klare Begrifflichkeit und scharfe Distinktionen aus.90 An der Tübinger Schule um Drey und Hirscher kritisierten die Neuscholastiker dementsprechend ihre Ungenauigkeit.91 Plaßmann wollte 1859 »Festigkeit, unerschütterliche Festigkeit, allem Anstürmen Trotz bietende Festigkeit, wenn Einmal eine Sache hinreichend klar, der Zweifel unvernünftig ist«.92 Er schätzte an der thomistischen Philosophie, dass sie »keinen Schritt voran wagt, ohne auf unerschütterlichem Boden zu stehen, ohne die Principien dergestalt in’s Reine gebracht zu haben, daß man entweder zugestehen oder auf’s Wissen Verzicht leisten muß«.93 Sie sei »klar, präcis, bis zum höchsten Grade vollkommen«.94 Leo XIII. sprach sich in »Aeterni patris« 1879 für die thomistischen Lehren aus, da »in ihnen sowohl eine Fülle von Stoff als passende Anordnung der Theile, die zweckmäßigste Methode, Sicherheit der Grundsätze und Kraft der Beweise, Klarheit und Genauigkeit im Ausdrucke wie nicht minder eine Leichtigkeit sich findet auch das Dunkelste aufzuhellen«.95 Für die Beschäftigung mit der Volkswirtschaft riet Costa-Rossetti 1888 eine »tüchtige Schulung in der scholastischen Logik und Metaphysik« an, da sie »eine feste und sichere Grundlage für ein System der katholischen Nationalökonomie« böten.96 Der österreichische Sozialreformer Franz Graf von Kuefstein (1841–1918) lobte in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Liberatores »Grundsätzen der Volkswirtschaft« 1891 die thomistische Ausrichtung des Werks. Auf den Lehren von Thomas könne »ein festes Gebäude« aufgerichtet werden, »welches Schutz gegen den Angriff des Irrthumes gewährt, der von dieser festen Burg aus leicht und sicher abgewehrt werden kann«.97 88 Weiß: Lebensweg 68 f. 89 Beispiele dafür sind etwa: Die katholische Philosophie im Mittelalter und in der Neuzeit. In: Der Katholik 7 (1853) 241–251 und 337–360, hier 245; Schmid: Untersuchungen. 90 Knoll: Thomismus 13–17. 91 Müller-Goldkuhle: Eschatologie 116. 92 Plaßmann: Schule 6. 93 Ders.: Vorhallen 5. 94 Ebd. 75. 95 Rundschreiben I s. v. Aeterni patris 32. Vgl. dazu zeitgenössisch Fuchs: Reflexionen. 96 Costa-Rossetti: Grundlagen 2 f. 97 Liberatore: Grundsätze IV.

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Es handelte sich – um mit dem katholischen Theologen Peter Müller-Goldkuhle zu sprechen  – bei der Neuscholastik um »Begriffstheologie«.98 In der »scharfen Fassung und Fixirung der Terminen« habe Thomas eine »bis jetzt unübertroffene Meisterschaft« bewiesen, so Plaßmann 1860.99 Mathias Schneid bevorzugte 1881 »eine Methode mit präcisen Begriffen und streng definirten Terminen, welche unbarmherzig alles Überflüssige, Dunkle und Vage abschneidet und unser Denken wieder an eine unveränderliche Ordnung bindet«. Diese hatte er in der scholastischen Methode gefunden, eine »Methode, die von der Sache alles Fremdartige und Unzugehörige scheidet und den Gegenstand auf einfache, ich möchte sagen, auf mathematische Formen zurückführt und dadurch einen sicheren Gang für die Wahrheit garantirt«.100 Die scholastische Methode war ihm von mathematischer Präzision geprägt: »Was für den Arithmetiker die Zahlen, das sind für den Mann der Wissenschaft Begriffe. Von ihrem Werthe hängt jeder wissenschaftliche Calcul ab.«101 Plaßmann sah in der scholastischen Methode ein »Rechenexempel«: Die mathematische Begriffsfassung ist eine vollkommene, absolute. Der Mathematiker bezeichnet mit seinen Definitionen gerade das, was er damit bezeichnen will, das, was er in die Definitionen hineinlegt, nichts mehr und nichts weniger. Die Axiomata sind durch sich selbst evidente Sätze. Die Postulata sind gewisse leicht einzusehende Sätze, die Niemand zu leugnen wagt, ohne sich zu blamiren. Aus diesen genau, ohne irgend welche zurückgebliebene Unbestimmtheit, ganz scharf gefaßten Definitionen, Axiomen und Postulaten folgt dann der demonstrative Beweis […].102

Die syllogistische Methode der Scholastik war tatsächlich mathematisch. Sie folgte der analytisch-synthetischen Beweiskultur der griechischen Geometrie. Schlüsse werden auf der Grundlage einer vorher festgelegenen Ordnung gezogen. Im Unterschied dazu basiert die experimentelle Wissenskultur der Neuzeit auf der Abgrenzung zwischen experimentellen Fakten und hypothetischen kausalen Verknüpfungen zwischen diesen Fakten. Für die analytisch-synthetische Methode ist die dafür nötige Sinneswahrnehmung zu unsicher, weshalb sie eine metaphysische Sprache von präziser Begrifflichkeit benötigt.103 So war die mittelalterliche Scholastik zur Wurzel des neuzeitlichen mos geometricus, der Grundlage des philosophischen Rationalismus, geworden.104

98 Müller-Goldkuhle: Eschatologie 182. 99 Plaßmann: Logik 138. 100 Schneid: Philosophie 78 f. 101 Ebd. 87. 102 Plaßmann: Vorhallen 284. 103 Detel: Wissenskulturen 120; Müller-Goldkuhle: Eschatologie 181; Otte: Probabilismus 302; Röd: Geist. 104 Vgl. Otte: Wirkungen 71 f.

160  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Dabei drückt sich in dieser mathematischen Methodologie die Suche der Neuscholastiker nach Gewissheit in Universalität und Ahistorizität aus. Die Sprache der Mathematik mit ihren eindeutigen Ordnungsverhältnissen ist abstrakt und universell.105 Norbert Elias führt das »Ansehen mathematischer Formulierungen« auf die »Wertschätzung des Unveränderlichen« zurück. Diese gründe nicht in der Empirie, sondern im »Ewigkeitsverlangen der Forschenden«, in dem Wunsch, alles Veränderliche auf Unveränderliches zurückzuführen.106 Der empiristische Philosoph John Dewey (1859–1952) wertete die Mathematik als Ausdruck reinen Denkens, »ein selbständiges Reich idealer und ewiger Gegenstände, welche die Gegenstände der höchsten – das heißt der sichersten – Erkenntnis sind«.107 Dementsprechend wollte Lorinser mit seinem Versuch zur Verbindung von Theologie und Physik 1880 auf »eine ewige unveränderliche Wahrheit hinweisen, in welcher Zahl und Weisheit eine ewige, unveränderliche Realität sind«.108 Wegen ihrer Universalität galt Mathematik in den abrahamitischen Religionen als göttlich.109 Albert Maria Weiß, der in seinen Erinnerungen angab, dass er zunächst Mathematiker werden wollte, bevor er sich für das Ordensleben entschied, behauptete: »Gott ist ein guter Mathematiker und führt seine Rechnungsbücher genau.«110 Als Pohle 1903 das Sonnensystem beschrieb, beobachtete er, dass die »Zweckmäßigkeit der Einrichtung des ganzen Systems nach Abständen, Stellungen und Bahnformen« eine für den »gesicherten Bestand des Ganzen so wohlberechnete und jede gefahrdrohende Annäherung so siegreich ausschließende« sei, dass »wir uns einen vollkommeneren Mechanismus als den unseres Planetensystems nicht leicht vorstellen können«. Es sei, als ob ein unsichtbarer Geometer von ungeheurer Gelehrsamkeit das unfaßbar große Gebiet des Sonnensystems, vom Merkur angefangen bis hinaus zum Neptun, dem letzten Insassen, mit riesigen Maßstäben zum voraus zielbewußt auf das genaueste abgesteckt und jedem einzelnen Gliede seine die Sicherheit des Ganzen gewährleistende Masse, Stellung, Bahnform u. s. w. angewiesen hätte.111

Die mathematischen Gesetze in Chemie, Physik und Musik ließen Lorinser 1880 »die tiefe Wahrheit des allgemeinen Ausspruches der heiligen Schrift: ›Omnia in numero et mensura et pondere disposuisti‹ (Sap. 11,21) deutlich erkennen«.112 105 Mau: Quantifizierung 27. 106 Elias: Prozeß 481. 107 Dewey: Suche 142. 108 Lorinser: Physik 181. 109 Die Annahme von der Göttlichkeit der Zahl ist den abrahamitischen Religionen gemein. Zahlenmystik gibt es in Christentum, Judentum und Islam. Vgl. Grossfeld: Zeichen 71. 110 Weiß: Lebensweg 49. 111 Pohle: Lehre 305. 112 Lorinser: Physik 176.

Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht  161

Die »Zahlenverhältnisse, welche auf allen Gebieten der Natur eine so wichtige Rolle spielen«, dienten Lorinser auf dieser biblischen Grundlage als Gottesbeweis. Denn die »geordneten Zahlenverhältnisse« beruhen auf »mathematischer Berechnung«, setzen also eine »geistige Thätigkeit« voraus, »deren die Materie als solche unfähig ist«. Deshalb sah er in der »Existenz dieser geordneten Zahlenverhältnisse« den »evidentesten Beweis für das Vorhandensein einer Weisheit«, die »nur dem unendlichen Geiste des Schöpfers entstammen kann«.113 Daher behauptete er: Wo wir also auch immer in der Natur geordnete Zahlenverhältnisse finden, z. B. Bewegungen, Schwingungen, welche auf Zahlengesetze gegründet sind, müssen wir schließen, daß dieselben ursprünglich auf die erste Quelle der Zahl und der Ordnung zurückzuführen sind, daß in ihnen die Pläne des Geistes, das Gesetz Gottes sich verwirklicht, dem Alles, auch das Kleinste und Geringste, in der Welt unterliegt.114

Scheeben, ein besonders eigensinniger Neuscholastiker, beschäftigte sich am Ende seines Lebens derart intensiv mit Zahlenmystik, dass sein letztes Manuskript als unpublizierbar galt.115 Er wollte mit der »Zahlentheorie des Gregorianischen Gesangs« den »Schlüssel zur Himmelsharmonie« finden. Er äußerte gegenüber seinem Verleger 1884 die Ansicht, sein Buch mit dem Titel »Die Harmonie der Töne, der Farben und der Sphären, zurückgeführt auf Zahlenproportionen« gebe die »schönste einheitliche theologische Naturauffassung und soll die Weissagung von Leibniz über eine höhere heilige Verwendung der mathematischen Wissenschaften zum Lobe Gottes erfüllen helfen«.116

3. Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht Die Neuscholastik bedeutete daneben auch eine Juridifizierung der Theologie. Nipperdey bemerkt, dass durch sie »kanonische Sätze und juristische Regelungen zunehmend über Leben und Geist gesetzt wurden«.117 Es ist deshalb bezeichnend, dass Pruners 1857 erschienene »Lehre vom Rechte und von der Gerechtig 113 Ebd. 178. 114 Ebd. 181. 115 Vgl. Weber: Ultramontanismus 32. 116 Scheeben an Benjamin Herder (29.2.1884), zit. nach Dorneich: Scheeben 59–63.  – Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Hauptvertreter der deutschen Frühaufklärung, war Religionsphilosoph und Mathematiker. Vgl. Antognazza: Leibniz.  – Einen Teil seiner musiktheoretischen Forschungen hatte Scheeben allerdings 1878 bereits veröffentlicht. Vgl. Scheeben: Harmonielehre. 117 Nipperdey: Religion 14 f. Die Kirchenhistorikerin Monika Nickel identifiziert einen durch die Neuscholastik geformten »juridisch-individualistischen Priestertypus«. Vgl. Nickel: Monatsschrift 206.

162  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv keit« als Meilenstein auf dem Weg zur Durchsetzung der Neuscholastik gilt.118 Parallel mit der Durchsetzung der Neuscholastik begann die Wiedergeburt der Kirchenrechtswissenschaft nach dem Niedergang der kanonistischen Ausbildung aufgrund der Säkularisation katholischer Bildungseinrichtungen.119 Hatte es in den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts keine katholische Rechtsphilosophie gegeben,120 änderte sich dies mit dem Siegeszug der Neuscholastik. In dieser theologischen Aufwertung des Rechts zeigt sich neben dem Streben nach mathematischer Präzision der ahistorische Rationalitätsanspruch der Neuscholastik am deutlichsten. Für das profane Recht war das kirchliche Recht nach Max Weber der »Führer auf dem Wege zur Rationalität«.121 Es besteht eine methodische Entsprechung zwischen dem syllogistischen Vorgehen der Scholastik und dem Syllogismus der richterlichen Rechtsprechung.122 Biographisch zeigte sich die Affinität von Neuscholastik und Jurisprudenz etwa an Konstantin von Schaezler, der als einer der wichtigsten Vertreter der Neuscholastik im deutschen Sprachraum vor seiner Priesterweihe in Jura promoviert worden war.123 Während sich die romantische Theologie kaum für eschatologische Fragen interessiert hatte,124 führte die Juridifizierung der Theologie durch die Neuscholastik zu einem verstärkten Interesse daran. Ging es bei der Eschatologie doch wie beim Recht um Fragen von Schuld und Strafe. Einerseits bedeutete dies eine größere dogmatische und kerygmatische Betonung der Hölle, die sich auf Thomas von Aquin stützen konnte, der das katholische Höllenbild spekulativ vervollkommnet hatte und in dessen Werk die Hölle einen großen Raum einnimmt.125 Bautz stützte sich bei seinen Ausführungen zur Hölle vor allem auf die Scholastik.126 Andererseits bedeutete die Juridifizierung der Theologie, dass die Gerechtigkeit zur wesentlichen Eigenschaft Gottes gemacht wurde, während die Liebe als Gottesprädikat in den Hintergrund trat.127 Für den »Höllen-Bautz« war Gott in erster Linie ein strafender Gott: Gott ist gerecht. Es gebührt ihm, dem höchsten Herrn und höchsten Gute, von seinen Geschöpfen Ehre. Aus Gerechtigkeit gegen sich selbst, um seinetwillen verlangt er Ehre und muß er Ehre fordern. Das Geschöpf aber, indem es sündigt, verachtet Gott und 118 Vgl. dazu Raab: Wiederentdeckung 210; Petrig: Hölscher 44. 119 Vgl. Erdö: Geschichte 141–144. 120 Es gab allenfalls einzelne Beiträge katholischer Rechtsphilosophen wie Clemens August Droste von Hülshoff (1793–1832), Ernst von Moy de Sons (1799–1867), Ferdinand Walter (1794–1879) und Leopold August Warnkönig (1794–1866). Vgl. Hollerbach: Naturrecht 246; Hammerstein: Entwicklung 37. 121 Weber: Wirtschaft 546 f. Vgl. dazu Link: Rechtsgeschichte 43. 122 Vgl. Borchert: Anwendung 57–65. 123 Zu Schaezler vgl. Weiß: Redemptoristen 909–921. 124 Müller-Goldkuhle: Eschatologie 143 f. 125 Minois: Hölle 243–250. 126 Bautz: Hölle IV. 127 Zum juridischen Gottesbild der Neuscholastik vgl. Ebertz: Erosionen 115–123.

Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht  163

seine Gabe, erweist ihm statt der Ehre Schmach und Schande. Und doch muß Gott verlangen, was ihm gebührt; er kann auf die Erreichung seines höchsten Endzweckes nicht verzichten. Er muß den Sünder also, der ihn nicht ehren will, zwingen, seine Pflicht zu thun.128

Die Erzwingbarkeit ist also eine Eigenschaft, die das Recht auch gegenüber der Quelle des Rechts besitzt. Durch Recht zwingt Gott nicht nur, er wird durch Recht auch gezwungen. Bautz betonte, dass Gott aus Barmherzigkeit auf die Strafe gar nicht verzichten könne. Außerdem wies er die Behauptung des katholischen Theologen Georg Hermes (1775–1831), eines Vertreters der katholischen Aufklärung, zurück, dass Gott nur aus Barmherzigkeit strafe. Gott strafe zwar auch aus Barmherzigkeit, vor allem aber und zwar wesentlich, aus Gerechtigkeit. Die Sünde ist, so behaupten wir zugleich gegen Vasquez, eine Rechtsverletzung und ein Unrecht im strengsten Sinne des Wortes. Ebendeßwegen hat Gott ein strenges Recht auf Sühne, auf daß der verletzten sittlichen Ordnung und seiner eigenen Ehre wiedergegeben werde, was ihr frevelhaft entzogen.129

Deshalb wirkte sich die Juridifizierung der Theologie auch auf die Beichtpraxis aus, die sich zum zentralen pastoralen Instrument der Neuscholastik entwickelte.130 Pruner sah im Beichtvater 1900 in erster Linie einen Richter.131 Nach der 1883 geäußerten Ansicht Lorinsers sollte der Beichtvater in erster Linie »seine richterliche Gewalt« ausüben: Wie der weltliche Richter zu seiner Information ein inquisitorisches Verhör vornehmen muß und sich, ehe er das Urtheil fällt, dem Ankläger, den Zeugen und dem Delinquenten verschiedene Fragen vorzulegen genöthigt sieht, so muß auch der Beichtvater dem Pönitenten, welcher hier Ankläger, Zeuge und Schuldiger in einer Person ist, allerlei Fragen vorlegen, je nachdem solche für die richtige Erkenntniß der Sachlage nothwendig erscheinen.132

Dabei verstand Conrad Martin das Bußsakrament 1882 in juristisch korrekter Fachsprache nur als erste Instanz, »von welchem appelirt [!] werden kann an ein höheres, an den Gerichtshof Gottes«.133 Angesichts einer juridifizierten Theologie konnte das 19. Jahrhundert dann als »goldenes Zeitalter des Bußsakraments« 128 Bautz: Hölle 5 f. 129 Ebd. 6. – Gabriel Vásquez (1549–1604) war ein spanischer Spätscholastiker. Vgl. Schwedt: Vásquez. 130 Ein zentrales Mittel der »Ultramontanisierung« der Kirche sei die Beichte deshalb gewesen, da sie eine Stärkung der Bindung zwischen Priester und Beichtkind gebracht habe, so Anderson: Grenzen 206–210. 131 Pruner: Pastoraltheologie I 237. 132 Lorinser: Lehre 43 f. 133 Martin: Pfingstzeit 81 f.

164  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv (Norbert Busch) wahrgenommen werden.134 Die Moraltheologien von Sailer und Hirscher hatten keine konkreten Vorschriften dafür gemacht. Die Beichte war bei ihnen keine juristische, sondern eine psychologische Methode, kein der Kirche bedürfendes Rechtsinstrument, sondern Ausdruck einer direkten Beziehung zwischen Mensch und Gott gewesen. Es war ihnen nicht um Strafe, sondern um Besserung gegangen, die im Rahmen der Reich-Gottes-Lehre möglich gewesen war.135 Die Juridifizierung der Theologie führte dann in Hinblick auf die Beichtpraxis zu einer zunehmenden Rezeption des 1839 heiliggesprochenen Alfons von Liguori (1696–1787).136 Liguoris kasuistische Moraltheologie besitzt juridischen Charakter.137 Der italienische Historiker Paolo Prodi erklärt die Juridifizierung der Moraltheologie mit der Zurückdrängung der Kirche und damit des kirchlichen Rechts von staatlichen Funktionen in der aufgeklärten Staatskirchenherrschaft seit dem Josephinismus. Um das Verhalten der Gläubigen weiterhin kontrollieren zu können, übertrug die Kirche die Rechtsprechung auf das innere Forum, das Gewissen wurde verrechtlicht. Eine juridifizierte Moraltheologie verließ sich nicht auf ein verinnerlichtes Gewissen, das keiner äußeren Stimuli und deshalb auch keines strafenden Gottes bedurfte. Fremdkontrolle wurde nicht durch Selbstkontrolle ersetzt. Die Bedeutung der Eschatologie blieb erhalten.138 So gesehen ist die Juridifizierung der Theologie genauso wie die caritative Sozialethik eine Antwort auf kirchlichen Machtverlust. Während sich diese aber damit begnügt, versucht jene Macht durch eine juridische Kirchenstruktur wiederzuerlangen. Somit läuft die Juridifizierung der Theologie parallel mit der Reorganisation der Kirchenstrukturen nach deren Verfall durch die Säkularisation. Das Recht wurde vom bloßen Gegenstand zum zentralen Prinzip der Moraltheologie.139 Der Thomist Albert Maria Weiß beklagte 1892 die bisherige Vernachlässigung des Rechts durch die Moraltheologie. Dies gelte vor allem für das öffentliche Recht, »von dem uns doch manche Theile, wie das Strafrecht und zum Theil der Strafproceß, so nahe berühren«. Deshalb müsse sich die Moraltheologie unbedingt wieder nach dem Vorbilde unserer alten großen Theologen richten, namentlich dem des hl. Thomas, dessen staatsmännischen Blick, dessen Gewandtheit, jeder Frage der Privatmoral ihre Beziehung auf das öffentliche Wohl abzugewinnen, man mit jedem Tage mehr bewundern lernt, je mehr man sich mit ihm beschäftigt.140 134 Busch: Frömmigkeit 206 f. Vgl. dazu auch Corbin: Kulissen 515–523; Hahn: Soziologie 407–421; Saurer: Frauen 141–170. 135 Vgl. Schlögl: Glaube (1995) 216–220. 136 Weiß: Moral 52 f. und 63–89. 137 Vgl. Otte: Probabilismus 294 f. 138 Prodi: Geschichte 196–240. Vgl. auch Bergfeld: Stellungnahme 257. Nach Kittsteiner: Entstehung 208–213, hielt die Kasuistik an der Verbindung von Moral und Recht fest und damit an der Möglichkeit, das innere Gewissen mit äußeren Mitteln zu binden. 139 Z. B. bei Bernhard Fuchs. Vgl. Fuchs: Moral 284. 140 Weiß: Frage 6.

Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht  165

Auf das Recht legte er bei der Formulierung seiner Gesellschaftslehre deshalb »fast das meiste Gewicht«. Er konnte es nicht verstehen, wie Sozialpolitiker ihren Aufgaben gerecht werden wollen, wenn sie von den Bestimmungen des Rechtes, von den ererbten Anschauungen und Ordnungen absehen oder wenn sie vollends vermeinen, um so sicherer zum Ziele zu gelangen, je mehr sie sich gegen das Recht, gegen Herkommen und die geschichtlich begründeten Volkswünsche aussprechen.141

Der Historiker Rudolf Schlögl sieht in der Juridifizierung der katholischen Moraltheologie eine Folge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, die zu einer Trennung von Glaube und Moral geführt hatte. In dieser Situation war es die Moral, die für die Kirche »den verhaltenssteuernden Zugriff auch auf gesellschaftliche Handlungssphären, die sich im Zuge der laufenden Differenzierungsprozesse gegenüber Religion längst verselbständigt hatten und nach einer jeweils eigenen Handlungsrationalität organisiert waren«, erlaubte.142 Diese spezifische katholische Bedeutung der Moral führte zu ihrer Juridifizierung und damit zur Identifizierung von Recht und Moral. Dies ist in dieser systemtheoretischen Perspektive die Folge davon, dass die reorganisierte Kirche trotz funktionaler Differenzierung an ihrem ganzheitlichen Deutungsanspruch festhielt. Für den Soziologen Kaufmann ist diese Identifizierung von Recht und Moral ein wesent­ licher milieustabilisierenden Faktor.143 Im Anschluss daran betont Gabriel, dass die neuscholastische Rechtsphilosophie vor allem in Ländern mit »ausgeprägten sondergesellschaftlichen Sozialformen« rezipiert worden sei. Denn dort sei sie in der Lage gewesen, Überlegenheit zu symbolisieren.144 Die neuscholastische Rechtsphilosophie identifizierte also Recht und Moral, differenzierte aber zwischen einem ahistorischen natürlichen und einem kontingenten positiven Recht.145 Dabei wurde das säkularisierte Naturrecht der aufgeklärten Rechtsphilosophie wegen der fehlenden Anbindung an eine übernatürliche Instanz als zu unsicher abgelehnt. Nur diese übernatürliche, göttliche Instanz war nach Albert Maria Weiß in der Lage, »natürliches Recht« als »objectives Recht« zu begründen, d. h. als »etwas, was überall dieselbe Kraft hat, gleichviel, ob es dem Menschen gut dünkt oder nicht, folglich als ein vom Menschen unabhängiges und ihm überlegenes Gesetz«.146 Dabei nahm die neuscholastische Rechtsphilosophie genauso wie die aufgeklärte Rechtsphilosophie 141 Ebd. 11 f. 142 Schlögl: Glaube (1995) 141 f. und 288–290; ferner: Ders.: Rationalisierung 52 f. 143 Kaufmann: Theologie 78–92. 144 Gabriel: Gesellschaftsentwicklung 218–221. 145 Petrig: Hölscher 56 f. Dabei stellten Theodor Meyers »Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts« von 1868 den ersten Versuch eines deutschsprachigen Naturrechts im neuscholastischen Sinne dar. Vgl. dazu Ebd. 35 f. 146 Weiß: Frage 152–163.

166  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv ein Naturrecht an, das unveränderlich, universell gültig und menschlicher Verfügbarkeit entzogen war, nur eben – im Unterschied zur aufgeklärten Rechtsphilosophie – wegen seines Ursprungs in der göttlichen Schöpfung. Da der Mensch von Gott mit Vernunft ausgestattet wurde, und diese durch die Erbsünde nach katholischer Auffassung nur korrumpiert war, galt das Naturrecht als erkennbar und nicht an den Glauben an eine spezielle Offenbarung gebunden. Im Unterschied zum Naturrecht, das nicht gemacht, sondern vorgefunden wurde, war das positive Recht vom Menschen gemacht, wenn es dem Naturrecht auch nicht widersprechen durfte. Innerhalb der Grenzen des Naturrechts durfte der Mensch also positives Recht setzen.147 Die neuscholastische Rechtsphilosophie begründete deshalb, so der Politologe Rudolf Uertz, eine »relative Autonomie des Weltlich-Naturhaften«.148 Die sozial- und wirtschaftspolitischen Artikel des vom Naturrecht geprägten Staatslexikons der Görres-Gesellschaft zeichnen sich deshalb nach Hans Maier durch eine »vibrierende Spannung von Tagesbezogenheit und Ringen um das Grundsätzliche« aus.149 Diese Differenzierung zwischen unveränderlichem Naturrecht und veränderbarem positivem Recht verweist bereits drauf, dass das herrschende Bild einer Dichotomie von romantischer Theologie, die sich auf dem immanenten Weg zum Reich Gottes befand und deshalb dynamisch war, und einer an universeller ahistorischer Gewissheit orientierten und daher statischen neuscholastischen Theologie revidiert werden muss.150 Vielmehr war Fortschritt in der romantischen Theologie nicht vorstellbar, da die Immanenz bereits Anteil am Reich Gottes hatte. Veränderungen und Verbesserungen waren da nicht vorgesehen.151 Dagegen betonte auf der neuscholastischen Seite Plaßmann 1859 die Möglichkeit und auch Notwendigkeit einer Weiterbildung der thomistischen Lehren auf der Grundlage des Unterschiedes zwischen natürlichem und positivem Recht.152 Und auch Rietter führte 1865/1866 aus, es sei »Keinem der Scholastiker eingefallen, eine für alle Zeiten giltige und maßgebende Art der Behandlung der

147 Zur neuscholastischen Naturrechtslehre vgl. Böckenförde: Naturrecht; Hammerstein: Entwicklung 90–117; Hollerbach: Naturrecht; Horner: Naturrechtslehre; Kaufmann: Theologie; ders.: Überlegungen; Otte: Wirkungen. 148 Uertz: Gottesrecht 34 f. 149 Maier: Sozial- und Staatslehre 18 f. 150 Beispiele für diese Dichotomisierung sind Müller-Goldkuhle: Eschatologie 181 f. und Hölscher: Weltgericht 39 f. 151 Vgl. Kapitel III. 152 Vor dieser »Correctur« müsse aber zur reinen thomistischen Lehre zurückgekehrt werden, um sie dann erst fortbilden zu können. Die »Principienfragen« seien von Thomas bereits gelöst worden und auch »die Application dieser Principien ist von Thomas (und seinen treuen Schülern) schon bis zu einem so hohen Grade vollzogen worden, und zwar richtig vollzogen worden, daß ich vorerst ungleich mehr Gewicht auf die Verbreitung der schon gefundenen Wahrheit als auf die Auffindung neuer Wahrheiten lege«. Vgl. Plaßmann: Schule 13.

Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht  167

christlichen Ethik als unverrückbare Norm festzustellen«.153 Überhaupt fällt auf, dass sich die so an universeller, ahistorischer Gewissheit interessierte Neuscholastik selbst mit Begriffen der Dynamik beschrieb. Die Wiederentdeckung der Scholastik von Frankreich aus wurde von Taparelli 1840 als eine der »vielen und auffallenden Umwälzungen unserer Zeit auf dem Gebiete der Wissenschaften« wahrgenommen.154 Albert Maria Weiß meinte in seinen Erinnerungen erwähnen zu müssen, dass die Rückkehr zur Scholastik »rasche Fortschritte« gemacht habe.155 Weiß, der sich selbst als »kalter Verstandesmensch« bezeichnete,156 geriet beim Studium der Scholastik geradezu in Verzückung: »Eine neue Welt voll Tiefe und voll Licht ging da vor meiner Seele auf. Ich war oft wie halbtrunken vor Entzücken über die Ausbeute, die das Studium der Scholastiker, und zumal des hl. Thomas, täglich lieferte.«157 Die Rückwendung zur Scholastik wurde mit einer Energie betrieben, die selbst auf ihre rezente Wahrnehmung noch wirkte. Dem Staatsrechtslehrer Alexander Hollerbach erschien sie 2004 als »erregender geistesgeschichtlicher Vorgang«.158 Dabei begründete die Differenzierung zwischen natürlichem und positivem Recht in sozialethischer Hinsicht nicht nur eine Überwindung der romantischen Statik, sondern auch des romantischen Fatalismus im Gnadendispositiv. D. h. diese juridische Differenzierung war im Unterschied zum Biblizismus der romantischen Theologie in der Lage, einen immanenten kirchlichen Gestaltungsspielraum zu begründen, da sie sich nicht mehr an die begrenzten sozialethischen Aussagen der Bibel halten musste und den Offenbarungsbegriff in scholastischer Manier ausweitete auf das göttliche Naturrecht. Für Pruner war die Vernachlässigung des Rechts in der Moraltheologie gleichbedeutend mit der Vernachlässigung der Anwendbarkeit der Moraltheologie.159 Leo XIII. behauptete in »Aeterni patris«, auch die »bürgerliche Gesellschaft« würde »viel mehr Ruhe und Sicherheit gewinnen, wenn auf den Akademien und in den Schulen eine gesündere und dem kirchlichen Glauben mehr entsprechende Lehre vorgetragen würde, wie sie die Werke des heiligen Thomas von Aquin enthalten«.160 Der neuscholastische Moraltheologe Franz Walter rief seine Kollegen 1905 dazu auf, sich »mit Fragen vertraut zu machen, die sehr profaner Natur sind und auf den ersten Blick dem Gebiete der Theologie so ferne liegen als nur möglich«.161

153 Rietter: Breviarium 30 f. 154 Taparelli: Versuch XI. 155 Weiß: Lebensweg 189. 156 Ebd. 18. 157 Ebd. 129. 158 Hollerbach: Naturrecht 246. 159 Pruner: Lehre I VI. 160 Rundschreiben I s. v. Aeterni patris 44. 161 Walter: Theorie 2 f.

168  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Der katholische Moraltheologe Klaus Demmer kontrastiert das soziale Veränderungspotential der die Grenzen der Bibel überschreitenden neuscholastischen Naturrechtslehre mit der biblizistischen Sozialethik der Nächstenliebe, die ein »inhaltliches wie methodologisches Ungenügen« aufweise, da es im Evangelium nicht um eine Veränderung der Gesellschaft, sondern der Gesinnung ging.162 Damit übereinstimmend betont der lutherische Kirchenhistoriker Leif Grane das Potential der neuscholastischen Naturrechtslehre zur proaktiven Bearbeitung sozialer Probleme.163 Die Naturrechtslehre erlaube, so Welte, dass von ihr aus »so gut wie alle Problemstellungen anvisiert werden können«.164 Der Soziologe Kaufmann führt aus, dass die neuscholastische Rechtsphilosophie nicht nur Distanzierung von der sozialen Umwelt bewirke, sondern zu politischer Partizipation aufrief. Denn sie war in der Lage, Unbehagen am gesellschaftlichen Wandel zu artikulieren und eine bessere soziale Struktur zu postulieren.165 Bereits dem Historiker Bernhard Groethuysen war aufgefallen, dass die juridische, mit der Bulle »Unigenitus Dei Filius« von 1713 bestätigte spätscholastische Theologie der Jesuiten, wonach eine rechtliche Beziehung zwischen Mensch und Gott bestehe, der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft entsprechender gewesen sei als die biblizistische Theologie der Jansenisten, die dem Menschen freien Willen zugunsten der göttlichen Gnade absprach. Die Allmacht Gottes wurde bei den Jesuiten zugunsten eines eigenständigen menschlichen Handlungsspielraums eingeschränkt.166 Auch Loth macht die strikte neuscholastische Trennung zwischen allgemeinen Normen und kontingenten Konkretionen für den »bürgerlichen Aufbruch« im Katholizismus des späten 19.  Jahrhunderts verantwortlich. Dabei habe es sich um eine in der Prosperitätserfahrung der Hochindustrialisierung gründende »Adaption der Moderne« gehandelt, eine »nachholende Aneignung der Werte einer bürgerlich dominierten Industriekultur«.167 Der Religionssoziologe Ebertz entdeckt bei der Analyse der kirchlichen Wirksamkeit im späten 19. Jahrhundert äußerst elastische Aktionen und Reaktionen im Hinblick auf die jeweiligen kulturellen, sozialen, ökonomischen und v. a. politischen Strukturen und Prozesse, innerhalb deren mehr oder weniger latentem Spannungsfeld sie sich wegen ihres universalistischen Anspruchs permanent befindet.168

162 Demmer: Moraltheologie 299; vgl. dazu Hollerbach: Naturrecht 238; Kaufmann: Überlegungen 139–141; Knoll: Kirche 76–78 und 94–97. 163 Grane: Kirche 208; vgl. dazu auch Raedts: Entdeckung 292 f. 164 Welte: Strukturwandel 399 f. 165 Kaufmann: Überlegungen 160 f. 166 Groethuysen: Entstehung I 154–175. 167 Vgl. Loth: Sozialkatholiken 128–130. 168 Ebertz: Herrschaft 93.

Juridifizierung der Theologie – Natürliches und positives Recht  169

Dagegen schätzt der Soziologe Ernst Karl Winter das Potential der neuscholas­ tischen Rechtsphilosophie zur Lösung konkreter sozialer Probleme gering ein. Er kritisiert, dass das neuscholastische Postulat der Übereinstimmung des posi­ tiven mit der Allgemeingültigkeit des natürlichen Rechts die Weiterbildung des Rechts verhindert habe, weshalb es für die Lösung sozialpolitischer Probleme nicht ausreichend gewesen sei.169 Der katholische Sozialethiker August Maria Knoll behauptet, dem neuscholastischen Naturrecht sei »die politische Ohnmacht, eine soziale Resignation, eingestiftet«.170 Es habe kein »Sozialmodell« entworfen, sondern die vorhandenen sozialen Strukturen legitimiert. Deshalb habe es den Kapitalismus gegen den Sozialismus verteidigt und allenfalls punktuelle Veränderungen angestrebt. Die unter dem Einfluss der Neuscholastik stehende Kirche sei nicht »revolutionär«, sondern »opportunistisch« gewesen. Es sei der neuscholastischen Rechtphilosophie nicht um politische oder wirtschaftliche Freiheit gegangen. Wenn sich die Kirche mit Sozialpolitik beschäftigt habe, habe sie es im ausschließlichen Interesse des Seelenheils getan.171 Der Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde schließt sich Knoll an. Für ihn ist der Handlungsspielraum der neuscholastischen Naturrechtslehre nur ein scheinbarer. Nach Böckenförde leidet das Naturrecht unter der Unmöglichkeit der Konkretisierung. Die Umsetzbarkeit naturrechtlicher Lehrsätze ende dort, »wo jenseits des Bereiches elementarer Katastrophenabwehr politisches Handeln und Entscheiden allererst beginnt«. Aufgrund seines universellen Anspruches entziehe es sich konkretem Handeln. Sein Anspruch, universell zu gelten und doch konkretisierbare Handlungsnormen aufzustellen, sei nicht einlösbar. Der Anspruch auf Eindeutigkeit stehe im Widerspruch zur Uneindeutigkeit des politischen Diskurses. Deshalb müsse sich das Naturrecht nur auf »Grenzfragen« beschränken, da nur ein unaufhebbares Minimum allgemeingültig sein könne. Deshalb sei die neuscholastische Rechtsphilosophie von begrenzter politischer Wirksamkeit, aber großer Anpassungsfähigkeit an verschiedene politische Systeme.172 Auch der Politologe Rudolf Uertz erkennt die »Beweglichkeit« und »Adaptionsfähigkeit« der neuscholastischen Rechtsphilosophie,173 die »hinsichtlich der konkreten Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu unbestimmt und allgemein« sei, um konkrete Probleme lösen zu können.174 Diese Anpassungsfähigkeit lag dann letztlich am juridischen Charakter der neuscholastischen Rechtsphilosophie. Denn, um mit dem Rechtsphilosophen Gerhart Husserl zu sprechen, folgt Recht stets der sozialen Wirklichkeit.175 – Die Forschung ist sich 169 Vgl. Horner: Naturrechtslehre 296–299. 170 Knoll: Kirche 57. 171 Ebd. 25–45. 172 Böckenförde: Naturrecht 99–107. So auch Hollerbach: Katholizismus 81. 173 Uertz: Gottesrecht 19. 174 Ebd. 215. 175 Husserl: Recht 27.

170  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv also letztlich uneins darüber, ob die neuscholastische Rechtsphilosophie nur reaktives Anpassen oder auch proaktives soziales Handeln ermöglichte. Die Frage ist also, ob die Juridifizierung der Moraltheologie durch die Neuscholastik einen immanenten Handlungsspielraum schuf, der proaktive strukturelle Eingriffe in Gesellschaft und Politik ermöglichte, ohne diesen wie die Aufklärung durch Säkularisierung und die Postulierung einer autonomen menschlichen Vernunft zu schaffen.

4. Gewissheit: Mathematik, Recht und Theologie Die Faszination, welche die Präzision der Mathematik für die Neuscholastik ausübte, zeigte sich letztlich in ihrer Juridifizierung.176 Für Pruner bot das Recht 1857 einen »objektiven Maßstab«, welcher »mit mathematischer Genauigkeit« zu bestimmen war.177 Oswald behauptete 1868 die »absolute Genauigkeit« des Jüngsten Gerichts,178 dessen »haarscharfe Genauigkeit«.179 Aus der Mathematik entlehnte Begrifflichkeit und Methodologie durchzog die Sprache der neuscholastischen Rechtsphilosophen. Nach Pruner standen Recht und Gerechtigkeit beim Privatrecht im arithmetischen Verhältnis zueinander, denn »es kann genau berechnet werden, wie viel die bereits erworbenen Vortheile eines jeden Individuums betragen, wie viel ihm daher von jedem Andern anerkannt werden muß und nicht verletzt werden darf«.180 Im öffentlichen Recht herrsche im Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit dagegen ein geometrisches Verhältnis: Je größer das Bedürfniß der Gesellschaft, desto größer die Pflicht, zu ihrem Beßten etwas zu leisten. Je größer die Fähigkeit zu leisten, desto mehr muß geleistet werden. Je mehr geleistet wird, desto mehr Anspruch auf gesellschaftliche Vortheile und Belohnungen; je mehr Jemand des öffentlichen Schutzes bedürftig ist, desto mehr muß er ihm erwiesen werden.181

In der Mathematik gebe es »unumstößliche, ewige Wahrheiten«, so Cathrein 1901. Sie habe »eine große Zahl allgemeiner Begriffe und Grundsätze zur Vor 176 Bereits die nachtridentinische Verrechtlichung der Moraltheologie hatte einen Grund in der Faszination, die die mathematische Präzision, die das Recht ermöglichte, ausübte. Vgl. Kleber: Historia 71–86. Der spanische Theologe Juan Caramuel y Lobkowitz (1606–1682) etwa analysierte moralische Gesetze mit den Mitteln des Probabilismus entsprechend der mathematischen Wahrscheinlichkeit, um Unsicherheit zu vermeiden. Vgl. Prodi: Geschichte 271. – Borchert: Anwendung 1 behauptet ein allgemeines juristisches Interesse an der Mathematik, das im Bemühen um Genauigkeit gründet. 177 Pruner: Lehre I 4. 178 Oswald: Eschatologie 351. 179 Ebd. 358. 180 Pruner: Lehre I 7. 181 Ebd. 7 f.

Gewissheit: Mathematik, Recht und Theologie  171

aussetzung und Grundlage«. Wer dies leugne, mache »jede Mathematik, ja überhaupt jede sichere Erkenntnis unmöglich«. Ohne unwandelbare Begriffe sei es »mit den absoluten Wahrheiten« vorbei. Seien die Begriffe aber »allgemeingültig und unumstößlich für alle Zeiten, dann haben wir ein unwandelbares Fundament für alle Wissenschaften. Denn diese Begriffe und Grundsätze bilden den Grundstock menschlichen Wissens, auf ihnen ruht der ganze Bau der Wissenschaften.«182 Das Recht selbst sei ein derartiger universaler Begriff mathematischer Art. Dies zeige sich daran, dass Kinder rechtlich denken, bevor es ihnen durch Erziehung vermittelt worden sei.183 Die Identifizierung von Theologie, Mathematik und Recht wurde geradezu zum Bestandteil katholischer Identität, weshalb der Katholik 1854 behauptete, dass sich Katholiken für das Studium von Mathematik und Recht besonders eigneten: Es wird uns nicht einfallen, zu läugnen [!], daß es treffliche Juristen, Mathematiker, Naturkundige gibt, die der protestantischen Confession angehören, oder zu behaupten, daß deren Leistungen auf diesem Gebiete nicht als wahr und wissenschaftlich anzuerkennen seien; wie umkehrt gewiß ist, daß in all’ diesen Wissenschaften die Katholiken das Ausgezeichnetste geleistet haben und noch leisten.184

Dabei ist der mathematische Charakter der neuscholastische Rechtsphilosophie doch nur die katholische Ausprägung einer allgemeinen, auch das profane Recht erfassenden Tendenz. Der Rechtshistoriker Hans Hattenhauer bezeichnet das 19. Jahrhundert als »Jahrhundert der mathematisierten Rechtswissenschaft«.185 Schon Leibniz hatte an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert versucht, durch Mathematik zu einer universalen Rechtssprache zu kommen. Er behauptete, dass die Mathematiker mit Zahlen rechneten, die Juristen mit Begriffen.186 Schließlich formulierte der Aufklärungsphilosoph Christian Wolff (1679–1754) eine mathematisierte Rechtsphilosophie. Aus Obersätzen leitete er in fortschreitenden Untergliederungen das gesamte Recht syllogistisch bis in die Einzelheiten ab.187 Selbst für Savigny, den Begründer der historischen Rechtsschule, war Rechtswissenschaft identisch mit Rechtsmathematik. Savigny lehrte, dass die Rechtsbegriffe wie die Zahlen in der Mathematik der menschlichen Verfügbarkeit entzogen, da aller menschlichen Existenz vorangehend seien.188 Auch er

182 Cathrein: Recht 13 f. 183 Ebd. 23–25. 184 Vorurtheile und Thatsachen. In: Der Katholik 10 (1854) 1–16, hier 2 f. 185 Vgl. Hattenhauer: Grundlagen 369. Freilich war die Konkurrenz der Historischen Rechtsschule zur Rechtsmathematik nicht gering. Vgl. dazu Stephanitz: Wissenschaft 100. 186 Vgl. Toulmin: Kosmopolis 167. 187 Vgl. Stephanitz: Wissenschaft 102 f.; Hattenhauer: Grundlagen 24 f. 188 Vgl. Ebd. 369 f.

172  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv postulierte das »Rechnen mit Begriffen«.189 Mit dieser Rechtsmathematik wollte insbesondere die positivistische Begriffsjurisprudenz, deren herausragender Vertreter Georg Friedrich Puchta (1798–1846) war, zu Objektivität des Rechts gelangen.190 Noch als Anhänger der Begriffsjurisprudenz forderte der Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering (1818–1892) Abstraction von jedem concreten Beiwerk, Erhebung des concreten Falles auf die Höhe der durch das Gesetz abstract entschiedenen Situation, Behandlung desselben nach Art eines Rechenexempels, bei dem es gleichgültig ist, was bei der Zahl steht, ob Loth oder Pfund, ob Thaler oder Groschen.191

Der positivistischen Begriffsjurisprudenz ging es bei der Mathematisierung des Rechts also um eine »wertfreie Formelhaftigkeit« (Dieter von Stephanitz).192 Denn während Inhalte wegen der Möglichkeit verschiedenartiger Bedeutungszuschreibungen nicht exakt überprüfbar sind, geht es bei der Form um korrekte Zeichenfolgen, was exakt überprüfbar ist, insofern Regeln über den Gebrauch der Zeichen vereinbart wurden.193 Dabei trieb der positivistische Rechtsformalismus die liberale Trennung von Recht und Moral im 19. Jahrhundert auf die Spitze. Die neuscholastische Rechtsphilosophie konnte die positivistische Autonomie des Rechts von der Moral, der Form vom Inhalt nicht mitvollziehen. Deshalb wurde sie auch von einer Mehrheit selbst der katholischen Juristen abgelehnt.194 Und deshalb hatte sie auch keinen Anteil an den juristischen Auseinandersetzungen der Zeit und keinen Einfluss auf das praktische Rechtsleben.195 Aber die Juridifizierung der Moraltheologie bedeutete – wie im profanen Recht – auch ihre Formalisierung. Der moralische Inhalt wurde aus dem Recht nicht ausdifferenziert, sondern formalisiert.196 Hofbauer hatte bereits 1817 an Sailer kritisiert, dass dieser ein rein innerliches Verständnis des Glaubens habe und 189 Zit. nach Ebd. 194–198. Daran zeigt sich der romanistische Rechtshistoriker. Savigny wollte das Recht von Politik reinigen und die Theorie über die Praxis stellen, weshalb ihn ein ausgeprägter Sinn für die Form auszeichnete. Die Rechtsfortbildung war seiner Meinung nach die Aufgabe der Juristen, was ihn gegen die germanistischen Rechtshistoriker einnahm, die die Volksrechte erkunden wollten. Vgl. Ebd. 116–122. 190 Zur positivistischen Begriffsjurisprudenz vgl. Ebd. 194–198; Rosenbaum: Naturrecht 47–63; Stephanitz: Wissenschaft 106–112; Stolleis: Geschichte (1992) 330 f. 191 Jhering: Zweck 390. 192 Vgl. Stephanitz: Wissenschaft 112; Borchert: Anwendung 2. 193 Borchert: Anwendung 10. 194 Steffen: Rechtseinheit 275 f.; Hammerstein: Entwicklung 111. 195 Vgl. Hollerbach: Naturrecht 248; Maier: Sozial- und Staatslehre 15; Petrig: Hölscher 49. 196 Die Positivierung des Rechts als Vorgang der Säkularisierung und die Juridifizierung der katholischen Moraltheologie sind für Prodi: Geschichte 300–302 deshalb komplementäre Vorgänge. – Der Volkskundler Martin Scharfe bezeichnet Religiosität, bei der Form, Verhalten und Werk, richtige Gebärden und richtige Handlung über den Inhalt gestellt werden, bei der das Äußere das Objektive ist, als »legales Christentum«. Vgl. Scharfe: Religion 87–120.

Gewissheit: Mathematik, Recht und Theologie  173

äußere Formen gering schätze.197 Plaßmann führte 1859 aus, dass es ihm bei der Neuscholastik »nicht direct um die substanziale Wahrheit der Ideen zu thun« sei, sondern »um das Formale«.198 So wie es Characteristicon des gothischen Baustyles ist, daß die principielle Figur sich in zahlreicher Application stets wiederholt, bis zur Knospe und Blühte, dem Schlusse des Ganzen, bis zur kleinsten Darstellung des Ganzen in niedlichter Verzierung: also ist es das Characteristicon dieser Philosophie, Alles auf die höchsten und letzten Principien, resp. auf Ein höchstes und letztes Princip zurückzuführen und durch fortwährende Application der höchsten Principien das Particuläre in seiner auf das Ganze hinweisenden Fülle zu entziffern.199

Schuech führte den liturgischen Formalismus in seinem »Handbuch der Pastoral-­ Theologie« darauf zurück, dass die Messe nicht Belehrung, sondern juridisch qualifiziertes Opfer sei. Die liturgischen Handlungen haben die Bestimmung, daß alles in Ordnung, anständig und zur Erbauung geschehe, damit Gott auch durch äußerliche Acte verehrt, die Ideen des Christenthums symbolisch dargestellt, und theilweise auch, damit durch sie (z. B. durch das heilige Kreuzzeichen) übernatürliche Wirkungen hervorgerufen werden. Sie können alle auf die Stellung und auf die Haltung und Bewegung des Leibes und einzelner Glieder desselben zurückgeführt werden.200

Wurde die bürokratische Vernachlässigung des Inhalts zugunsten der Form in der »Theologischen Quartalschrift« der Tübinger 1831 noch als unkirchlich abgelehnt,201 sang der Katholik 1851 ein Loblied auf die Bedeutung der juridischen Form. Diese bilde sich wie die Schale um den Kern als »Schutz und als Lebensbedingung für die Frucht«. Deshalb sei »die äußere Form nicht minder wichtig als der Inhalt des Rechts und die Heilighaltung jener nicht minder wie bei diesem von Einfluß auf die moralische Ordnung«. Denn es sei die äußere Form, die dem Menschen wahrnehmbar sei, weil es einleuchtet, daß das Objekt des Rechtes, in der Regel der sinnlichen Natur den Leidenschaften und Begierden unlieb und zuwider, nicht blos durch die geistige Auffassung im Leben festgehalten wird, sondern auch insbesondere für den sinnlichen 197 Vgl. dazu Weiß: Hofbauer 233–237. 198 Plaßmann: Schule 71. 199 Ders.: Vorhallen 74 f. 200 Schuech: Handbuch 456. 201 Über die Anwendung weltlicher Regierungsweisen auf die Regierung der Kirche. Eine theologisch-historische Betrachtung. In: Theologische Quartalschrift 1831, 1–43, hier 15: »Das Innere, um welches der Staat sich nichts bekümmert, ist der Kirche die Hauptsache, das Äußere, welches allein der Staat fordert, hat der Kirche nur dann Werth, wenn es der wahre Ausdruck des Innern und geeignet ist, dieses auf wirksame und zweckmäßige Weise anzuregen; […].«

174  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Menschen je nach den verschiedenen Um- und Zuständen in äußeren Formen und Regeln seinen Ausdruck finden muß.202

Dabei galt ihm der französische Klerus bei der Beachtung der Form als Vorbild: Während der Deutsche ein reiches inneres Leben in sich trägt und Mühe hat, nach Außen es zu offenbaren, sucht der Franzose Alles, was er innerlich denkt und erlebt, in eine bestimmte Form zu fassen. Darum hat er entweder gar keine Religion oder er hat sie zugleich mit der adäquaten Form und übt so den katholischen Glauben mit Beobachtung all’ seiner Gebote und Bestimmungen für das äußere Leben.

Verantwortlich für diesen deutschen Rückstand machte er den Kontakt mit dem Protestantismus, der die »Möglichkeit eines religiösen Lebens ohne alle oder doch wenigstens ohne bestimmte Kultakte« behaupte.203 Dagegen werde die Liturgie in Frankreich »mit genauer Pünktlichkeit und fast militärischer Präcision« durchgeführt.204 Dabei war sich der preußische Altkonservative Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877) bewusst, dass die Neuscholastik in diesem Formalismus Sicherheit suchte, als er am 25. Juli 1871 die päpstliche Unfehlbarkeit kritisierte: Mir will scheinen, als suche man das hohe Gut der Autorität in einer handgreiflichen Äußerlichkeit, die dem geistlichen Wesen des Reiches Gottes widerspricht, ähnlich wie von extremen reformirten Protestanten Gewißheit, assurance, des eigenen Gnadenstandes gesucht wird.205

Er sprach von »unchristlicher abstrakter römischer Sicherheit«.206 Die Attraktivität dieses mathematisch-juridischen Formalismus für die Neuscholastik lag darin, dass Formen Sicherheit produzieren. Sie schließen Deutung aus, da es sich um konditionale Verknüpfungen handelt. Ein Spielraum zur Interpretation bleibt nicht. Präzision erhalten sie dadurch, »dass sie zum Zählen und Berechnen statt zum Deuten und Abwägen anhalten« (Cornelia Vismann).207 Der Politologe Wolfgang Bergem führt aus, dass die »deutsche Tradition des Formalismus, die starke Beachtung formaler Aspekte in möglichst allen Lebensbereichen« mit der »Neigung zur Reduktion komplexer Sachverhalte auf ein geordnetes und überschaubares Maß« zusammenhängt. Vor allem aber das juristische Denken »neigt zur Bevorzugung formaler Gesichtspunkte vor inhalt 202 Über canonische Verfahren im Allgemeinen. In: Der Katholik 3 (1851) 128–140, hier 129 f. 203 Briefe eines Deutschen aus Paris. In: Der Katholik 4 (1851) 241–251, 289–297, 337–345, 385–395, 433–449 und 481–492, hier 393 f. 204 Ebd. 385. 205 Gerlach: Aufzeichnungen 345. 206 Ebd. 399. 207 Vismann: Versäumnisurteile 256–258.

Gewissheit: Mathematik, Recht und Theologie  175

lichen«.208 Diese Behauptungen finden einen Nachweis in den Ausführungen des Jesuiten Lehmkuhl zum Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900. Dieser schätzte daran vor allem dessen Formalismus. Er war sich bewusst, dass »die juristische Form, in welcher die Einzelbestimmungen sich bewegen, zur sachlichen Genauigkeit nicht wenig« beitrage und »einer verschiedenartigen Auffassung oder Entscheidung seitens der Richter der Boden entzogen ist«.209 Juridische Neuscholastik und juristischer Positivismus können deshalb aufgrund ihres gemeinsamen formalistischen Charakters beide als Versuch zur Einlösung der aufgeklärten Forderung nach Gewissheit in Eindeutigkeit und Ablehnung von Ambiguität210 gelten – die positivistische Rechtslehre durch die Trennung von Inhalt und Form, die neuscholastische Rechtslehre durch Formalisierung des Inhalts. Deshalb konnte die Neuscholastik von Plaßmann, einem ihrer frühesten Vertreter, in Analogie zur positivistischen Begriffsjurisprudenz als »Begriffsphilosophie« bezeichnet werden.211 Die neuscholastische Theologie suchte also Gewissheit, die von ihr geforderte Sicherheitsform, im Recht. Recht war für Hertling 1906 »die Norm, welche den Freiheitsgebrauch des einzelnen einschränkt«, insofern es durch die »Erfüllung der allgemeinen Menschheitszwecke« erforderlich ist.212 Da diese unveränderlich seien, könne Recht mit »Sicherheit« festgestellt werden. Allerdings könne dies nicht durch das Naturrecht allein geschehen, denn »jene allgemeinen und gleichmäßig wiederkehrenden Zwecke entfalten sich in einer bunten und wechselnden Vielheit von Einzelzwecken, und dazu können jene wie diese durch eine ebenso wechselnde Mannigfaltigkeit von Mitteln ihre Erfüllung finden.« Die »Vernunftaussprüche« reichen deshalb nicht für eine »sichere Norm«. Das natürliche Recht »bedarf der Ergänzung und näheren Bestimmung durch das positive Recht«.213 Das Naturrecht beanspruchte also aufgrund seines göttlichen Charakters größte Gewissheit, geringere Gewissheit aufgrund seines davon abgeleiteten menschlichen Charakters das positive Recht.214 Um gesetzlose Willkür oder bedingungslose Unterordnung unter den Nutzen zu verhindern, war es allerdings nötig, dass sich das positive Recht am Naturecht 208 Bergem: Tradition 90 f. 209 Lehmkuhl: Gesetzbuch V. 210 Ambiguität ist eine Möglichkeit zur Erfassung komplexer Phänomene über Konfrontationsvermeidung, weshalb bei Ambiguität Toleranz gegenüber Widersprüchlichkeiten herrscht. Die Aufklärung lehnte Ambiguität ab und rang nach einer Sprache von mathematischer Präzision und Gewissheit, weshalb der Kampf gegen Ambiguität Kennzeichen der westlichen Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert war. Vgl. Bauer: Kultur 392–394; grundlegend dazu auch Toulmin: Kosmopolis; Blumenberg: Säkularisierung 19. 211 Plaßmann: Logik 160. 212 Hertling: Recht 48 f. 213 Ebd. 83–85. 214 Cathrein: Recht 127–129.

176  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv orientierte, so Pruner 1857.215 Für Albert Maria Weiß war der Staat deshalb 1892 »nicht Schöpfer und nicht Herr des Rechtes. Er ist selbst Erzeugniß des Rechtes und dem Rechte unterworfen als Vollzieher und als Diener.«216 Die Verbindung von Macht und Recht führe zur »Unsicherheit des Rechtes«, die sich in Veränderlichkeit konkretisierte: Wenn das Recht nicht auf einem höhern, unwandelbaren Grunde ruht, also auf dem ewigen Willen Gottes und auf der Natur, so wie sie Gott geschaffen und wie er ihr seine Gesetze für immer vorgezeichnet hat, sondern wenn die angebliche Natur, so wie sie der Mensch nach seinem jedesmaligen Belieben auszulegen für gut findet, die Quelle für die gesetzlichen Bestimmungen des Augenblicks abgeben soll, so müssen sich diese auch mit jedem Augenblicke ändern.217

Als Rechtsquelle eignete sich für Cathrein 1901 nur »eine von Natur aus bestehende Rechtsordnung«, nicht Vertrag oder Volkssouveränität.218 Recht war für Cathrein nicht Ausfluss sozialer Strukturen, sondern deren Voraussetzung.219 Dies brachte er auf die griffige Formel: »Nicht die Könige haben das Recht, sondern das Recht hat die Könige hervorgebracht.«220 Nur ein solches, der Verfügbarkeit des Menschen entzogenes unveränderliches Naturrecht konnte für Cathrein Rechtssicherheit bieten.221 Der Rechtsstaat basierte nach Schneider (1909) auf einer »unabhängig vom Menschenwillen bestehenden, über ihm stehenden und ihn unbedingt bindenden unwandelbaren sittlichen Weltordnung«.222 Die dem Menschen unverfügbare, d. h. sichere bzw. gewisse Allgemeingültigkeit naturrechtlicher Normen begründete in der Neuscholastik die Sicherheit durch Recht, also die Rechtssicherheit. Der dominikanische Soziologe Heiner Katz sieht in der Forderung nach Rechtssicherheit den wichtigsten Ertrag des politischen Katholizismus. Dies führte er darauf zurück, dass die Katholiken nur eine Minderheit im Deutschen Reich darstellten,223 was die Forderung nach dem Rechtsstaat allerdings von einem integralen Bestandteil juridischen Theologisierens zum Gegenstand politischen Taktierens macht. Dabei konkretisierte sich in der katholischen Forderung nach Rechtssicherheit das zunehmende Misstrauen gegenüber der Liebe. Denn Rechtssicherheit bedeutet die Eliminierung 215 Pruner: Lehre I 250. 216 Weiß: Frage 172–174. 217 Ebd. 42–55. 218 Cathrein: Recht 101. 219 Ebd. 8–11. 220 Ebd. 145. 221 Ebd. 159 f. So auch etwa Martin: Fest- und Gelegenheitsreden 332–340. 222 Schneider: Weltordnung 14. 223 Vgl. Katz: Katholizismus 125. Die Katholizismusforscher Rudolf Morsey und Heinz Hürten folgen ihm bei dieser Einschätzung. Vgl. Hürten: Geschichte 84–91; Morsey: Katholizismus 38.

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der Gnade.224 Dementsprechend kritisierte Rietter 1865/1866 eine auf Liebe basierende Sozialethik, da sie zu Ungleichbehandlung führe, also ungerecht sei.225 Der Richter, so Rietter 1858, verhandle »über Besonderes und Gegenwärtiges und ist somit in Bezug auf sein Urtheil all’ den Trübungen ausgesetzt, welche die Gegenwart durch Haß oder Liebe und Lust zu bereiten im Stande ist«.226 Deshalb musste die Liebe, so wie etwa bei Pruner 1858, durch das Recht eingehegt werden. Gott mache »es zum ersten Kennzeichen, ob der Mensch ihn liebe und zur ersten Bedingung der göttlichen Liebe werth zu sein, daß man nicht durch Übertretung der Gebote der Gerechtigkeit die wahre Selbstliebe und Nächstenliebe untergrabe, sondern daß man die Gebote halte.«227 Extreme Ausflüsse des katholischen Strebens nach Rechtssicherheit stellten die Unfehlbarkeit und der Jurisdiktionsprimat des Papstes dar, für Leif Grane der Höhepunkt der Verquickung des Rechts mit dem Glauben.228 Der Katholik äußerte 1851 die Ansicht, »in der strengen Anlehnung an die unveräußerlichen Rechte und Freiheiten der Kirche« sei »der mächtigste Schutz gegen weltliche Anmaßungen und Übergriffe enthalten«.229 Die päpstliche Unfehlbarkeit ist bereits in Mauro Cappellaris (als Papst Gregor XVI., 1765–1846) »Il trionfo della Santa Sede« von 1799 mit der Forderung nach einer Juridifizierung der Theologie verbunden. Dabei ging es Cappellari um juridische Gewissheit, was ihm nur die monarchische Struktur zu ermöglichen schien. Der Konsens der Bischöfe war ihm gleichbedeutend mit Unsicherheit. Für die Erzielung von Gewissheit verlangte er absolut sichere und von der privaten Meinung unabhängige Regeln, um jeden Zweifel hinsichtlich der Verbindlichkeit von Regeln auszuschließen.230 Der katholische Theologiehistoriker Ulrich Horst behauptet, dass die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 der Höhepunkt einer seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu beobachtenden Neigung sei, »möglichst kein Risiko einzugehen«. Dabei sei die Frage nach der »dogmatischen Sicherheit« zentral gewesen. Grundlage der Entscheidung sei ein »Sekuritätsdenken« gewesen, welches die gesamte neuzeitliche Theologiegeschichte durchzogen habe.231 Der Begriff der Rechtssicherheit entstand am Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft, die zu 224 Vgl. dazu Härter: Sicherheit 670 f. 225 Rietter: Moral 340: »Aber wir können nicht Allen Wohlthaten erweisen, sondern nur Einigen. In Bezug auf die äußere Wirkung also werden wohl Einige geliebt werden, Andere aber nicht, wodurch eben eine Ungleichheit in die Liebe kömmt.« 226 Ebd. 252. 227 Pruner: Lehre II 325 f. 228 Grane: Kirche 142 f. 229 Über canonische Verfahren im Allgemeinen. In: Der Katholik 3 (1851) 128–140, hier 134. 230 Horst: Unfehlbarkeit 78–120. 231 Ebd. 255.

178  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv nehmend ihre Autonomie gegenüber dem monarchischen Staat behauptete und dafür Garantien verlangte. Das Recht wurde deshalb immer mehr nach Gewissheit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit beurteilt. Die Verrechtlichung des sozialen Lebens ist deshalb als Prozess einer zunehmenden Sicherheitsproduktion zu betrachten.232 Dabei sollte der Staat die Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft durch formale Regeln absichern und diese nicht inhaltlich bestimmen. Die Legitimation des Rechts stützte sich nicht mehr auf den wohlfahrtsstaatlichen Inhalt, wie noch im aufgeklärten Absolutismus, sondern die juridische Form. Die Autonomie des Rechts vom Inhalt wurde begründet.233 Deshalb geht die Forschung von einem Zusammenhang von Rechtssicherheit und Rechtspositivismus aus. Ein von allen inhaltlichen Forderungen gereinigter formaler Rechtsstaatsbegriff sollte das Recht vor dem Zugriff des Staates sichern. Rechtstaatlichkeit bedeutete dann die Bindung des Staates an das formale Gesetz zur Sicherung privatrechtlicher Ansprüche.234 Dabei stellt der Begriff der formalen, positivistischen Rechtssicherheit für den Rechtshistoriker Karl Härter den »Schlussstein der Säkularisierung des Strafrechts« dar, da sie die göttliche Fundierung von rechtlicher Gewissheit und Sicherheit zugunsten von formalen Regeln ablöste.235 Auch der Historiker Lutz Raphael betont die säkularisierende Wirkung der Rechtssicherheit. Denn die Betonung von Rationalität, Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz habe die Herauslösung der Individuen aus bestehenden sozialen Bindungen, auch kirchlichen, bedeutet.236 Der katholische Publizist Joerg konnte den Rechtsstaat 1865 in Übereinstimmung damit noch als Errungenschaft des Liberalismus bezeichnen und ablehnen.237 Während der Rechtspositivismus Rechtssicherheit in der Autonomie des formalistischen Rechts gegenüber moralischen Inhalten suchte, betont Hollerbach dagegen, dass die Ablehnung dieser Autonomie der wichtigste Beitrag der neuscholastischen Rechtsphilosophie zum Rechtsstaatsdiskurs gewesen sei.238 Für 232 Zur Entstehung des bürgerlichen Konzepts von Rechtssicherheit vgl. Westphal / Härter: Rechtssicherheit 615–617; Stolleis: Geschichte (1992) 51–53. 233 Conze: Sicherheit (1984) 849–855; Luhmann: Legitimation 27–37; Kaufmann: Leitbild 74–87; Stolleis: Geschichte (1992) 246–258. – Der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) postulierte im kategorischen Imperativ das autonome Subjekt, das sich seine Zwecke selbst setzt. Deshalb diene die Glückseligkeit nicht als gemeinschaftliches Prinzip und könne der Staat auf keinen Zweck Rücksicht nehmen. Der von Kant postulierte Rechtsstaat ist der Gegenentwurf zum Wohlfahrtsstaat. Die Förderung der Wohlfahrt ist dem Kant’schen Staat von Rechts wegen untersagt. Vgl. Hennis: Problem 131–159. 234 Stolleis: Geschichte (1992) 275–278; Kaufmann: Sicherheit (1973) 75–81; ders.: Leitbild 74–87. 235 Härter: Sicherheit 672. 236 Vgl. Raphael: Recht 212. 237 Joerg: System 66. 238 Hollerbach: Verhältnis 277. – Für Norbert Elias beruht die Rechtssicherheit dagegen auf der »schweren Beweglichkeit des Rechts«, welche von einer verselbständigten Rechtsapparatur garantiert wird. Vgl. Elias: Prozeß 476 f.

Gewissheit: Mathematik, Recht und Theologie  179

Langner stellt das katholische Insistieren auf den »materialen Rechtsstaat« im Unterschied zum »formalen Rechtsstaat« des Rechtspositivismus einen wesentlichen »Beitrag der naturrechtlichen Gesellschaftslehre christlichen Charakters zum modernen Staat« dar. Da Langner den emanzipatorischen Charakter der katholischen Forderung nach dem Rechtsstaat betont, sieht er in ihr gar den wesentlichen »Beitrag des deutschen Katholizismus zur modernen Demokratie«.239 Durch die katholische Identifizierung von Recht und Moral eignete sich jenes im Gegensatz zum liberalen positivistischen Rechtsbegriff als »Technik der Sozialgestaltungsfunktion« (Michael Stolleis),240 was erklärt, warum die Juridifizierung der katholischen Theologie durch die Neuscholastik im Unterschied zur caritativen Sozialethik sehr wohl proaktive Handlungsmöglichkeiten schuf. Das Gottvertrauen des Gnadendispositivs wurde nun als Hilflosigkeit wahrgenommen. In der Rückschau aus dem Jahr 1853 bezeichneten die oberrheinischen Bischöfe den Vormärz als Periode »wenn auch nicht vollkommener Rechts-, so doch vollkommener Hilfslosigkeit«.241 Dabei musste sich aber auch in der Neuscholastik erst die Erkenntnis durchsetzen, dass das Recht proaktive Eingriffe in gesellschaftliche und staatliche Strukturen ermöglichte, was in Weberscher Manier bedeutet, dass der Inhalt dem Zweck voranging. Nach Meyer könne Recht nicht geschöpft werden, sondern nur durch Deduktion enthüllt.242 »Das Recht wird nicht gemacht, sondern gefunden«, so Meyer 1891.243 Diese deutliche Anlehnung an den juristischen Historismus findet sich auch bei Albert Maria Weiß. Dieser suchte die Gewissheit des Rechts noch 1892 nicht in mathematischer Universalität von Begriffen, sondern in der Geschichte. Das Recht sei, wie er im ausdrücklichen Anschluss an Savigny anführte, nicht »ein Erzeugniß bloß gesetzgeberischer Weisheit und willkürlicher Gestaltung, sondern ein organisches Product der Geschichte und des gesunden Volksgeistes«. Es stehe »im engsten Zusammenhange mit der ganzen Sitte und Cultur des Volkes – also vor allem mit der Religion«.244 Diese neuscholastisch-historistische Argumentation erwies sich aber als Sackgasse. Der Hauptstrom der Neuscholastik zeigte, so Uertz, »Ansätze willentlichschöpferischer Rechts- und Ordnungsbegründung«.245 Dabei war es die Mathematisierung des Rechts, die es zu einer proaktive Handlungen ermöglichenden Technik machte. Berechenbarkeit macht nicht nur sicher, sondern eröffnet auch

239 Langner: Diskussionsbericht 108. Zum Unterschied zwischen materialem und formalem Rechtsstaat vgl. auch Böckenförde: Entstehung 66–76; Härter: Sicherheit 672. 240 Stolleis: Geschichte (1992) 396. 241 Denkschrift des Episcopates 15. 242 Uertz: Gottesrecht 219–224. 243 Meyer: Arbeiterfrage 51. 244 Weiß: Frage 12–14. 245 Uertz: Gottesrecht 235.

180  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Handlungsspielraum.246 Dieser konstruierende Charakter eines mathematischen Verständnisses von Recht verband die neuscholastische Begriffstheologie mit der liberalen Begriffsjurisprudenz. Der Patristiker Franz Xaver Funk sprach diese methodische Übereinstimmung in einer Abhandlung über die Berechtigung des Zinsnehmens von 1868 ausdrücklich an: Die Aufgabe, die der Moralwissenschaft also noch vor Allem obliegt, betrifft die Erklärung des hier zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart bestehenden Gegensatzes. In dieser Beziehung dürfte ihr die Rechtswissenschaft, für die es analoge Differenzen gibt, nicht unbedeutende Dienste leisten; die Wege, welche die letztere in neuerer Zeit und besonders seit Puchta, auf den Zusammenhang ihrer Begriffe mit denen der Nationalökonomie hingewiesen, eingeschlagen hat, dürften auch sie zum Ziele führen. Da bezüglich unserer Frage die Moral zu dem Wirthschaftsleben in dem wesentlich gleichen Verhältnisse steht wie das Recht, so dürfte mit der Erkenntniß, daß jenes in seiner Veränderlichkeit es ist, von dem hier beide Wissenschaften ihren Stoff empfangen, der erste und entscheidende Schritt zur Lösung der noch schwebenden Aufgabe gethan sein.247

Costa-Rossetti, der 1890 ein »System der Nationalökonomie im Geiste der Scholastik« schuf, behauptete, dass es die mathematische Universalität des Rechts sei, die »sowohl theoretische als auch praktische Zeitfragen« zu behandeln ermögliche.248 Damit übereinstimmend gründete Cathrein die Funktion des Rechts als gestaltende Sozialtechnik 1901 auf der Universalität der Mathematik. Deshalb forderte er dazu auf, auf rechtliche Traditionen keine Rücksicht zu nehmen, »wo die zahlreichen Erfindungen und Entdeckungen ganz neue Verhältnisse hervorgebracht, für welche die Vergangenheit gar keine oder nur schwache Analogien aufzuweisen hat«.249 Tatsächlich war es Thomas selbst, der den positivistischen Begriff des »leges ponere« eingeführt hatte. Denn damit gemeint war nicht die aristotelische Auslegung des veränderlichen Gewohnheitsrechts, sondern die planmäßige, an Traditionen nicht gebundene und auf die Zukunft orientierte Rechtsschöpfung. Gewohnheit ist dann nicht mehr Voraussetzung, sondern Folge der Gesetzgebung.250 Handlungsspielraum ergab sich in der neuscholastischen Rechtsphilosophie also nicht nur aus der Trennung zwischen unverfügbarem Naturrecht und verfügbarem positivem Recht, sondern auch aus der Mathematisierung des gesamten Rechts. Dabei war es die juridische Sprache an sich, die Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete. Aufgabe der juristischen Sprache ist es nämlich, Eindeutigkeit und dadurch Stabilität und Verlässlichkeit nur zu suggerieren, 246 Mathematik ist für Foucault: Ordnung 109 die Wissenschaft der kalkulierbaren Ord­nung. 247 Funk: Zins 10 f. 248 Costa-Rossetti: Staatslehre 2 f. 249 Cathrein: Recht 98 f. 250 Vgl. Otte: Wirkungen 65–67.

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während sie denjenigen, die sie gebrauchen, Flexibilität verschafft, da sie tatsächlich ausdeutbar, d. h. uneindeutig ist, da die Form mit dem Inhalt gleichgewichtig ist.251 Der neuscholastische Moraltheologe Lehmkuhl, der die präzise formalisierte Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuches lobte, war sich immerhin bewusst, dass die Genauigkeit des Rechts eine Fiktion darstellte: Doch auch die Forderungen der Gerechtigkeit bis auf ihre äußersten Grenzlinien zu verfolgen, ist schon deshalb nicht möglich, weil, abgesehen von freier Übereinkunft oder von gesetzlicher Preisbestimmung, ein ziemlich breiter Rahmen bleibt, innerhalb dessen das Recht sich bewegen kann. Allgemeine Weisungen lassen sich geben, deren Verpflichtung in Einzelfällen jedoch ihre Schärfe verlieren kann, wenn der Einzelne nicht Herr und Meister darüber ist, sie zur durchgängigen Geltung zu bringen.252

Dass die Präzision des Rechts eine Fiktion ist und darin eine gestaltende Komponente des Rechts liegt, zeigt sich auch daran, dass Recht Macht ausübt, indem es diese verschleiert. Dies behauptet die Rechtshistorikerin Cornelia Vismann, wenn sie betont, dass sich die Sprache der Macht »im Umfeld von ›Gerechtigkeit‹« formuliere: »Diese Übersetzung von Gewalt in der Sphäre des Rechts, in Formen von Gerechtigkeit, macht die performative, sich selbst-ermächtigende und -bestätigende Kraft des Rechts aus.«253 Nichts anderes meint Pruner, wenn er die Gerechtigkeit 1857 thomistisch als Übereinstimmung des Rechts mit dem Willen definierte.254 Und Stöckl sprach dieses Problem an, als er 1880 behauptete, dass der Begriff der Gerechtigkeit »correlativ zu dem Begriffe des Rechtes« sei. Dabei bestehe die Gerechtigkeit darin, »daß Jedem dasjenige [auch tatsächlich] zugetheilt wird, was ihm rechtlich gebührt«.255 Kurzum: Sozialethische Handlungsspielräume, zu welchem Zweck auch immer, schaffte die Gerechtigkeit, in der sich die katholische Identifizierung von Recht und Moral konkretisierte. Deshalb war es nicht das Recht an sich, das die Liebe im sozialethischen Diskurs ersetzte, sondern die Gerechtigkeit.256 Schon alleine diese sozialethische Betonung der Gerechtigkeit zeigt, dass es nicht mehr um reaktive Linderung von Not, sondern um proaktive Umverteilung ging. Für den Philosophen Hans Blumenberg kann Gerechtigkeit aber erst dann als Verteilungsproblem erkannt werden, wenn der Mensch die Natur nicht mehr als fundamentalen Mangel erkennt.257 Deshalb 251 Vgl. Edelman: Politik 173–176; Podlech: Mathematik 257; Stephanitz: Wissenschaft 9. 252 Lehmkuhl: Noth 14 f. 253 Vismann: Gesetz 322. 254 Pruner: Lehre II 5. 255 Stöckl, Albert: Die strafende Gerechtigkeit nach christlicher und nach atheistisch-materialistischer Weltanschauung. In: Ders.: Fragen II 101–129, hier 101. So auch Martin: Fest- und Gelegenheitsreden 333 f. 256 Für Cathrein war die Gerechtigkeit 1901 die »feste Grundlage des Gesellschaftslebens«. Vgl. Cathrein: Recht 33. 257 Vgl. Blumenberg: Säkularisierung 159.

182  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv wirkt die neuscholastische Rechtsphilosophie letztlich nicht isolierend von der Welt, sondern nutzt den durch die zunehmende Rationalisierung erweiterten menschlichen Handlungsspielraum proaktiv in der Welt. Dabei fügt sich Gerechtigkeit als sozialethisches Postulat in die Bevorzugung der Mathematik durch die Neuscholastik. Denn in sozialethischer Hinsicht äußert sich Gerechtigkeit als Verteilungsproblem, das mit mathematischen Mitteln zu behandeln ist,258 zumal in aristotelisch-neuscholastischer Perspektive.259 Demnach gibt es zwei Arten von Gerechtigkeit. Die ausgleichende, kommutative oder Tauschgerechtigkeit führt zu arithmetischer, die austeilende, distributive oder Verteilungsgerechtigkeit zu geometrischer Gleichheit. Rietter fasste das Verhältnis der beiden Gerechtigkeitsarten 1858 in ein Rechenbeispiel: Haben von Vorne herein von zwei Personen Jede 5, hat aber in der Folge die Eine 1 von dem, was dem Andern gehört, genommen und ist somit das 5 auf Einer Seite auf 6 gestiegen, auf der andern aber auf 4 herabgesunken, so stellt die commutative Gerechtigkeit das arithmetische Mittel her, wenn sie dem, der 6 hat, 1 nimmt und es dem, der 4 hat, zulegt, wodurch Beide wieder 5 erhalten. Die austheilende Gerechtigkeit dagegen sucht gleichsam das geometrische Mittel, wobei das Verhältniß ein ganz anderes wird. Während z. B. 6 um 2 größer ist als 4, und 3 nur um 1 größer als 2, verhält sich doch 6:4 = 3:2, da die Differenz, nach geometrischem Verhältnisse, da wie dort 1 ½ ist. In ähnlicher Weise stehen daher z. B. der Fürst und der Unterthan der austheilenden Gerechtigkeit gegenüber nicht auf Einer Linie, was dagegen bei der commutativen Gerechtigkeit, die nur auf die Quantität der Sache, nicht auf die Person sieht, allerdings der Fall ist.260

Daraus wird deutlich, wie sehr das Verständnis der neuscholastischen Rechtsphilosophie vom menschlichen Zusammenleben auf einer mathematisierten Grundlage stand. Mathematisierte und daher berechenbare Gerechtigkeit hatte die unberechenbare Liebe ersetzt. Dabei stellte diese katholische Identifizierung von inhaltlich moralisiertem und mathematisch formalisiertem Recht – jenseits der historisch kontingenten und im 20.  Jahrhundert endenden Dominanz positivistischen Rechts  – keine isolierte rechtsgeschichtlich irrelevante Arabeske dar, sondern ein der gesellschaftlichen Entwicklung adäquates Phänomen, wenn man sich dem Soziologen Richard Münch anschließt. Für Münch sind es Formalisierung und »Ethisierung« gleichermaßen, die Politik und Wirtschaft regulierbar machen, was »die modernen Gemeinschaften grundsätzlich von den partikularistischen, auf Pietät und Brüderlichkeitsethik verpflichteten Gemeinschaften unterscheidet«.261 258 Vgl. dazu Grossfeld: Zeichen 59; Podlech: Mathematik 261. 259 Vgl. Römpp: Geist 76 f. 260 Rietter: Moral 370 f. Zum Verhältnis zwischen distributiver und kommutativer Gerechtigkeit vgl. Cathrein: Recht 32–34; Costa-Rossetti: Staatslehre 13. 261 Münch: Soziologie 17. Vgl. dazu auch Kersting: Gerechtigkeit 106.

Objektivierung der sozialen Beziehungen  183

5. Objektivierung der sozialen Beziehungen Aber auch die Verrechtlichung der katholischen Theologie an sich war Teil eines allgemeinen Prozesses zunehmender Verrechtlichung politischer, sozialer und ökonomischer Wirkungszusammenhänge, weshalb das 19.  Jahrhundert von dem Historiker Franz Schnabel als »juristisches« bezeichnet wurde.262 Die Verrechtlichung der Theologie begann in den 1850er/1860er Jahren und damit in einem Zeitraum, der für den Rechtshistoriker Michael Stolleis staatlicherseits durch eine »auffällige Häufung juristischer Kreativität« gekennzeichnet gewesen ist, provoziert von der zu erwartenden bzw. verwirklichten Reichseinigung mit ihren juristischen Aufgaben.263 Dabei äußerte sich die Bedeutungssteigerung des Rechts nicht nur in der Juridifizierung der Theologie, sondern auch in der Nachahmung weltlichen Rechts durch das Kirchenrecht.264 Für den Kirchenrechtshistoriker Carlo Fantappiè ist dies nur die kontingente Konkretion einer allgemeinen katholischen Neigung zur imitatio imperii, beschrieben auch von den Historikern Percy Ernst Schramm (1894–1970) und Ernst Kantorowicz (1895–1963).265 Darauf aufbauend behauptet der Philosoph Luigi Lombardi Vallauri eine »historische und zum Teil auch wesensmäßige Solidarität zwischen Christentum und moderner westlicher juristischer Zivilisation«.266 Dabei kann die Juridifizierung sozialer Beziehungen als eine nicht auf das Religiöse beschränkte Bewältigung der räumlichen Ausdehnung sozialer Transaktionen beschrieben werden, d. h. mit Giddens als Entbettung von Zeit und Raum. Die Verbindung der Zeitrechnung mit einer Ortsbestimmung oder mit regelmäßig wiederkehrenden Naturereignissen wurde durch die Einheitlichkeit der Zeitmessung seit der Erfindung und Verbreitung der mechanischen Uhr sowie die Einführung des einheitlichen Kalenders aufgehoben. Zeit und Raum wurden getrennt und dadurch inhaltslos. Der Raum wurde vom Ort und der Zeit des Betrachters unabhängig, was eine »raumzeitlichen Abstandsvergrößerung« bedeutete, die durch entbettete Institutionen bewältigt werden muss. Worauf man sich gegenüber Bekannten verlassen konnte, wurde gegenüber Fremden fraglich. Sicherheit konnte nicht mehr im lokalen Kontext erbracht werden. Deshalb basieren entbettete Institutionen auf Raum und Zeit übergreifender Koordinierung, weshalb sie von den Zwängen ortsgebundener Praktiken losgelöst sind. Lokale Kleingruppen werden immer mehr durch Großgruppen – Staat statt

262 Vgl. dazu Hippel / Stier: Europa 362–364. 263 Stolleis: Geschichte (1992) 323. 264 Unterburger: Nachahmung 643–647. 265 Vgl. dazu Ebd. 655. 266 Lombardi Vallauri: Prolog 14.

184  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Herrschaft, Nation statt Gemeinde, Kirche statt Pfarrei – überlagert.267 Dabei unterscheidet Giddens zwei Arten von Entbettungsmechanismen, und zwar Schaffung symbolischer Zeichen (z. B. Geld als unpersönlicher Maßstab, der keine Rücksicht auf Ort und Zeit nimmt oder ein einheitliches formales Recht, das persönliche Bindungen ersetzt) und die Errichtung von Expertensystemen, die ebenfalls dazu dienen, soziale Beziehungen von ihrem unmittelbaren Kontext zu lösen. Beide Mechanismen sorgen dafür, dass Erwartungen über vergrößerte Raum-Zeit-Abstände hinweg erfüllt werden.268 Die verstärkte Betonung der kirchlichen Strukturen, juridisch begründet und bürokratisch verwaltet von klerikalen Glaubensvirtuosen bzw. -experten lässt sich als derartige Entbettung betrachten. Dabei lässt sich die Juridifizierung sozialer Beziehungen auch als Folge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft betrachten. Nach Gabriel bedeutet die funktionale Differenzierung die Umstellung vom »Primat kultureller Symbolstrukturen« als primäre Integrationsform der Gesellschaft auf den »Vorrang formaler, rechtlich-organisatorischer Integrationsmittel«. Denn eine einheitliche Symbolsinnwelt wird durch eine Mehrzahl konkurrierender und zu integrierender »Sinnwelten letzter Relevanz« ersetzt. Die traditionelle Symbolsinnwelt verliert dadurch den Charakter objektiver Selbstverständlichkeit. Für das religiöse System bedeutet dies Verkirchlichung, so wie das politische System verstaatlicht, die Wirtschaft kapitalisiert und die Familie intimisiert wird. Es entsteht ein neuer, »formal organisierter Typus von Sozialsystemen«, der als Ersatz für die einheitliche Symbolsinnwelt als neuer Integrations- und Stabilisierungsmechanismus den »Auf- und Ausbau formal geregelter und zentral gesteuerter Handlungszusammenhänge« initiiert. Dadurch kann der »moderne Gesellschaftstyp auf eine Integration über weltbildartige, kulturelle Symbolstrukturen verzichten«.269 Deshalb ist die verkirchlichte Struktur des religiösen Systems geprägt durch »Bürokratisierung des Ämtersegments«, »Sakralisierung der Organisationsstruktur« und »sondergesellschaftliche Formierung der katholischen Bevölkerungsteile«, d. h. die Bildung von Milieus.270 Darauf aufbauend betont Schlögl die kommunikationsgeschichtlichen Aspekte des systemtheoretischen Ansatzes. Da die Sozialformen von Religion in einer bestimmbaren Beziehung zur Struktur der Gesellschaft stehen, besteht ein Zusammenhang zwischen medialer und sozialer Form von Religion. Da sich die funktional differenzierte Gesellschaft nicht mehr über Interaktion, sondern 267 Vgl. Giddens: Konsequenzen 28–33. Zur Entbettung als Kennzeichen der Moderne vgl. auch Münch: Strukturen 174–176; Huf: Sozialstaat 79–87; Kaufmann: Leitbild 94; Reinhard: Lebensformen 41 f. 268 Vgl. Giddens: Konsequenzen 33–43. 269 Vgl. Gabriel: Gesellschaftsentwicklung 203–206. Vgl. dazu auch Kersting: Gerechtigkeit 106. 270 Vgl. Gabriel: Gesellschaftsentwicklung 211 f.

Objektivierung der sozialen Beziehungen  185

über Medien integrierte, musste das auch Auswirkungen auf die religiöse Kommunikation haben.271 Im Unterschied zur Liebe, die sich in persönlicher Kommunikation vollzieht, kann das Recht aufgrund seiner formalen Universalität, die es in der neuscholastischen Rechtsphilosophie trotz der Identifizierung von Inhalt und Form besitzt, diese Funktion systemübergreifender Kommunikation leisten.272 Diese Funktion des Rechts wurde von den neuscholastischen Rechtsphilosophen erkannt. Ferdinand Probst sah in der weitreichenderen kommunikativen Leistungsfähigkeit des Rechts 1850 den Grund für den beklagten sozialen Bedeutungsverlust der auf persönlicher Kommunikation gründenden Liebe: Darin offenbart sich das Walten der Vorsehung, daß mit der schwindenden Liebe das Recht an ihre Stelle trat, um das durch äußere Bande zu verknüpfen und mit physischem Zwange durchzusetzen, was im paradiesischen oder erlösten Zustande durch die Liebe bewirkt wurde.273

Für Lorinser war die 1883 erschienene Auflage seines Lehrbuches über das Bußsakrament umso nötiger, je mannigfaltiger in der fortgeschrittenen historischen Entwickelung der Kirche die Beziehungen geworden sind, in welche das göttliche Gesetz mit den menschlichen Handlungen und Verhältnissen treten kann, je mehr die kirchlichen Gesetze, Vorschriften und Verordnungen angewachsen sind, welche in die moralischen und geist­ lich-administrativen Verhältnisse eingreifen.274

Auch für Franz Walter eignete sich die Liebe 1905 nur zur Kommunikation zwischen Personen, das Recht zur Kommunikation zwischen transpersonalen Entitäten. Er warnte davor, »daß Gerechtigkeit und Liebe nicht beliebig miteinander vertauscht werden dürfen, daß Wohltun zwar von Person zu Person am Platz ist, daß aber die Beziehungen der Klassen zueinander durch das Recht geregelt und beherrscht werden«.275 Das Recht ermöglicht die Wahrnehmung transpersonaler Strukturen. Die Vorstellung einer vom Staat verschiedenen und vom Willen der Menschen unabhängigen Gesellschaft als transpersonaler Struktur konnte entstehen.276 Wenn 271 Vgl. Schlögl: Rationalisierung 53 und 64. 272 Zaborowski: Liebe 72 f. 273 Probst: Moraltheologie II 330. 274 Lorinser: Lehre 3. 275 Walter: Theorie 27. 276 Versuche, die Wahrnehmung einer transpersonalen, vom Staat verschiedenen bürgerlichen Gesellschaft auf die Liebe zu gründen, blieben singulär. Eine Ausnahme stellte Bernhard Fuchs dar, der dem Umkreis der Tübinger Schule zuzuordnen ist und die Wahrnehmung einer transpersonalen, vom Staat verschiedenen »bürgerlichen Gesellschaft« 1851 auf die zwischenmenschliche Liebe gründete. Während der Staat vom Recht strukturiert werde, werde es die Gesellschaft von der »wohlwollenden Menschenliebe«, der »freien, von Naturverhältnissen unabhängigen Zuneigung«. Vgl. Fuchs: System 537–539. Als eigenständige transpersonale

186  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Stöckl 1880 behauptete, dass das Recht die »Existenzbedingung der menschlichen Gesellschaft« sei, dann meinte er das wörtlich: Die Gesellschaft kann nämlich nur existiren als geordnete Gesellschaft. Ohne Ordnung hätten wir ein wüstes Chaos von menschlichen Individualitäten, worauf der Begriff der Gesellschaft gar keine Anwendung finden könnte. In dieser Ordnung sind aber wesentlich gewisse gesetzliche Normen involvirt, an welche Alle sich zu halten haben, weil nur unter dieser Bedingung die Ordnung in lebendiger Wirklichkeit bestehen und aufrecht erhalten bleiben kann.

Deshalb seien Recht und Gesellschaft »correlative Begriffe«.277 Aristotelisch formulierte Weiß 1892: »Ein organisches Ganzes ist immer etwas viel Höheres als die Summe aller seiner Theile und nicht bloß eine mechanische Aneinanderreihung von Einzelheiten, sondern etwas Neues, Selbständiges, Lebendiges.« Deshalb sei es falsch anzunehmen, dass die bürgerliche Gesellschaft und ihr Recht aus dem »freien Belieben des Einzelnen und durch Übertragung ihrer Rechte an das Ganze« entstehe.278 Hertling machte sich zum Kronzeugen dieser kognitiven Entwicklung zu einer transpersonalen Wahrnehmung von Gesellschaft, als er sie 1893 geschichtlich in der wirtschaftlichen Entwicklung seiner Gegenwart verortete. Es sei die Verschärfung der wirtschaftlichen Gegensätze durch die Industrialisierung, die zum Entstehen einer vom Staat verschiedenen bürgerlichen Gesellschaft geführt habe. Sowohl Polizeistaat als auch Nachtwächterstaat versagten angesichts dieser Entwicklung. Deshalb machte es sich der Staat zur Aufgabe, die »Leitung, Förderung und Ausgleichung der verschiedenen Gesellschaftskreise« im »Interesse der staatlichen Gemeinschaft« zu übernehmen.279 Dabei bezog sich der von der neuscholastischen Rechtsphilosophie verwendete Begriff der Gesellschaft eigentlich auf jeglichen Zusammenschluss von Menschen – Kirche, Staat, bürgerliche Gesellschaft, Vereine, Unternehmen. In einer derartigen Gesellschaft sah Périn 1876 ein »sittliches Wesen, welches unabhängig von den Individuen, die sie bilden, ein eigenes Leben lebt und nach der providenziellen Ordnung der Dinge im Hinblick auf ein Ziel geschaffen wurde, welches von dem der Individuen verschieden ist.« Deshalb seien die Individuen nicht »allein für die Gesellschaft da« und die Gesellschaft nicht ausschließlich

Struktur war die bürgerliche Gesellschaft auch bereits von Adam Müller betrachtet worden. Müller hatte 1809 dazu aufgerufen, »die Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft, ihr Fortschreiten, ihr Umsichgreifen, den rastlosen Umlauf ihrer Kräfte und Reichtümer« wahrzunehmen (Müller: Idee 1 f.). Er fand damit aber zunächst keine Nachfolge. Vgl. dazu MüllerSchmid: Müller 136–138. 277 Stöckl, Albert: Das moderne atheistische und das christliche Rechtsprincip. In: Ders.: Fragen II 70–100, hier 70. 278 Weiß: Frage 261–263. 279 Hertling: Naturrecht 1–5.

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für die Individuen.280 Im Unterschied zur ersten, von der caritativen Sozialethik geprägten Auflage seiner Volkswirtschaftslehre postuliert Ratzinger in der zweiten, juridischen Auflage von 1895 den transpersonalen und objektiven Charakter von Gesellschaften. Eine Gesellschaft, so Ratzinger, »ergibt sich nicht aus der Addirung der Glieder, sondern sie ist ein von den Gliedern verschiedenes Wesen, welches als Ganzes, als Organismus vorhanden ist und handelt«. Sie sei »keine bloße Abstraction, sondern etwas Reales, welches nicht bloß in seinen Gliedern, sondern selbständig handelt, von einem Kreise von Rechten und Pflichten bestimmt wird und verantwortlich ist«.281 Die Gesellschaft sei Rechtssubjekt »und ihre Handlungen unterliegen der sittlichen Qualification, der Belohnung und Bestrafung. Es besteht nicht bloß für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft die Verpflichtung, dem Willen Gottes sich unterzuordnen […].«282 Deshalb war Ratzinger der Ansicht, dass nur die Menschen im Jenseits qualifiziert wurden, die Gesellschaften, für die es kein jenseitiges Leben gibt, im Diesseits belohnt und bestraft werden müssen.283 Bei der Konstruktion von Gesellschaften als von den Menschen unabhängige transpersonale Strukturen ging es also letztlich um die Zuordnung von Verantwortlichkeit und die Möglichkeit des Strafens. Bereits für Buß stand 1850 fest, dass die Gesellschaften im Diesseits qualifiziert werden, da sie die Schwelle zum Jenseits nicht überschritten: »Fordert nicht gerade die Gerechtigkeit, weil die Gesellschaften auf Erden und nicht, wie der Einzelne in der Ewigkeit, Lohn und Strafe empfangen müssen, daß die gegenwärtige Gesellschaft ihre Buße hienieden bestehe in langen Leiden, weil für lange Sünden?«284 Der Katholik war 1850 der Ansicht, dass »eben jetzt der Staat und die menschliche Gesellschaft den Lohn dafür« erhalten, »daß sie der Kirche die Schule und die Armenpflege entzogen – einen schnellen Lohn, welcher der Sünde auf dem Fuße folgt«.285 Die Wahrnehmung der Weltgeschichte als Weltgericht stellt also nicht zwingend eine Säkularisierung des Jüngsten Gerichts dar, wie von Koselleck behauptet,286 zumal das Jüngste Gericht in der katholischen Eschatologie zugunsten des speziellen Gerichts ohnehin an Bedeutung verloren hatte. Ketteler und Vogelsang konnten deshalb die Ansicht äußern, dass Christus nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Staaten gestorben sei.287 Als objektiv wahrnehmbare 280 Périn: Politik 7. 281 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 30 f. So auch Pruner: Lehre I 44 f. 282 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 35. 283 Ebd. zitiert hier das päpstliche Sendschreiben »De vita christiana« Leos XIII. von 1888/1889: »Die Völker und Nationen haben nur ein Leben in dieser Zeitlichkeit, darum wird ihnen nothwendig schon hier die Vergeltung werden.« 284 Cortés / Buß: Politik IV f. 285 Die kirchliche Wohlthätigkeit. In: Der Katholik 2 (1850) 531–548, hier 532. 286 Koselleck: Begriffsgeschichten 264. 287 Vgl. Knoll: Thomismus 7, der diese Ansicht allerdings als »sozialromantische These« bezeichnet.

188  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv transpersonale Entität konnten die Gesellschaften dann auch erkranken. Für die Historisch-politischen Blätter war die soziale Frage 1865 eine Krankheit. Es bestehe ein »schweres inneres Leiden« und »bekanntlich absorbiert der kranke Theil mehr und mehr die besten Kräfte des Organismus, bis die Amputation glückt oder der Tod erscheint«.288 Es stelle sich deshalb die Frage nach dem »Sitz der socialen Krankheit«.289 Streiks wurden in den Historisch-politischen Blättern 1865 als »plötzlich einreißende Epidemie« bezeichnet.290 Revolutionen waren für Heinrich Pesch in den 1890er Jahren krankhafte Erscheinungen.291 Für den Sozialethiker Heinrich Koch bestand 1904 die Gefahr, dass die Großstädte »parasitenartig die ganze Kraft des sozialen Körpers allmählich vernichten«.292 Hatte die politische Romantik nur den Staat als ein unverfügbar über den Individuen existierendes organisches und lebendiges Wesen wahrgenommen,293 war der neuscholastische Formalismus in der Lage, diese Vorstellung auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen. Dabei stellte der mathematische Formalismus keinen zwingenden Widerspruch zur organologischen Phraseologie dar. Auf naturrechtlicher bzw. naturgesetzlicher Grundlage ließen sich Mathematik und Leben vereinbaren. Diese organologische Phraseologie stellt ohnehin kein vormodernes Relikt dar, sondern bereits eine Reaktion auf die beginnende Entbettung unter Bedingungen einer noch vorherrschenden personalistischen Staatslehre. Dies zeigt sich daran, dass auch im Liberalismus die personalistische vertragstheoretische Strömung im Vormärz immer mehr zugunsten der historisch-organologischen Perspektive schwand.294 Eine ältere privatrechtliche Auffassung vom Staat, wonach die Beziehung zwischen Fürst und Volk direkt und personalisiert war, wurde innerhalb des Liberalismus von einer öffentlichrechtlichen Auffassung ersetzt, die den Staat als eigenständige juristische Person betrachtete und den Monarchen zum Organ desselben machte.295 Der in diesem Zusammenhang entscheidende Scharnier-Begriff der juristischen Person entstand in der ersten 288 Zur Kritik von Lösungen der socialen Frage. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 117–131, 196–208 und 274–293, hier 119. 289 Ebd. 131. 290 Aphorismen über die social-politische Bewegung. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 1000–1018, hier 1001. 291 Pesch: Liberalismus 13. 292 Koch: Bevölkerung 299. 293 Kraus: Denken 42–49; Uertz: Gottesrecht 155–161; Stolleis: Geschichte (1992) 123– 126. – Dementsprechend wurde die Julirevolution von 1830 in ultramontanen Zeitschriften als Krankheit bezeichnet. Vgl. Schneider: Katholiken 218–233. 294 Stolleis: Geschichte (1992) 156–186.  – Uertz qualifiziert die organologische Gesellschaftskonzeption allerdings als vormodern, da sie nicht pluralistisch war und die fehlende Unterscheidung zwischen Recht und Moral die Anerkennung der Menschenrechte nicht ermöglicht habe. Vgl. Uertz: Gottesrecht 20–22. 295 Stolleis: Geschichte (1992) 91.

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Hälfte des 19. Jahrhunderts im Privatrecht. Bald erstreckte er sich aber auch auf das öffentliche Recht, da er sich eignete, patrimoniale Elemente zu ersetzen.296 Die Entstehung der juristischen Person gründet also in einer Entwicklung zur Entbettung, die auch für die Verkirchlichung des religiösen Systems mit ihrer Betonung von formalen Strukturen sorgte. Für die katholischen Sozialethiker Franz Josef Stegmann und Peter Langhorst bietet die Neuscholastik eine »Strukturenethik«, der es um die »systemhaften sozialen Zusammenhänge« geht, die »die Handlungs- und Entscheidungsmacht des einzelnen übersteigen: z. B. soziale Gefüge und politische Organisationen der Gesellschaft, Institutionen und Verbände«.297 Der Moraltheologe Martin Klose behauptet die »generelle Tendenz der Neuscholastik zum Objektiv-Insti­ tutionellen«.298 Die neuscholastische Rechtsphilosophie kennzeichne ein »transpersonalistischer Objektivismus«, so Hollerbach.299 Er spricht deshalb von einer Entmenschlichung der neuscholastischen Rechtsphilosophie durch das Naturrecht.300 Die neuscholastische Sozialethik leistete dadurch ihren Beitrag zur zeitgenössischen Tendenz zur Objektivierung sozialer Strukturen  – von Durkheim 1887 als Kennzeichen deutschen Philosophierens identifiziert.301 Die Neuscholastik postulierte die Fähigkeit des Menschen, objektive Wahrheiten mit Gewissheit erkennen zu können.302 Leonhard Schmöller brachte den neuscholastischen Standpunkt in der »Theologisch-Praktischen Monats-Schrift« 1916 auf den Punkt: Es gibt eine von unserer Vorstellung unabhängige Außenwelt; unsere Erkenntnisausstattung vermag uns, richtig gebraucht, eine wahre Erkenntnis (wenn auch nicht eine allumfassende und erschöpfende) der Außenwelt zu verschaffen; den Dingen kommt als Grundlage ihrer gegenseitigen Beziehungen ein in ihnen gegründetes, selbständiges, relativ dauerndes Sein zu […].303

296 Ebd. 107–109. 297 Stegmann / Langhorst: Geschichte 606. – Langner spricht von einer neuscholastischen »Ordnungsethik«, die die äußere Erfüllung der Norm propagierte, und grenzt sie von der »Gesinnungsethik« der Nächstenliebe ab. Vgl. Langner: Sozialethik 211; vgl. dazu Heller: Hölle 33 f. 298 Klose: Gott 79. 299 Hollerbach: Naturrecht 253. 300 Ebd. 248. 301 Durkheim: science. Er kontrastierte die deutsche Objektivierung sozialer Strukturen, wodurch diese ein Eigenleben unabhängig von ihren Mitgliedern bekamen, mit der angelsächsischen Wahrnehmung, wonach soziale Entitäten erst und nur durch die Gruppierung von Individuen entstünden. 302 Demmer: Moraltheologie 297; Petrig: Hölscher 54; Walter: Philosophie 161; Welte: Strukturwandel 401. 303 Schmöller zit. nach Nickel: Monatsschrift 512.

190  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Deshalb betonte die Neuscholastik auch die empirischen Kirchenstrukturen und verlieh ihnen sakralen und dadurch ahistorischen Charakter.304 Dies meint der Begriff der Verkirchlichung, mit dem die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts beschrieben wird. War Kirche für Sailer im direkten zwischenmenschlichen Kontakt und im konkreten Vollzug der Sakramente entstanden,305 führte Waller 1884 aus, daß die Kirche mit ihrem Haupte einen großen Organismus bildet, welcher nicht etwa erst am Pfingstfeste plötzlich und unvorbereitet in die Welt eingetreten ist, sondern, in seinen ersten Anfängen so alt als das Menschengeschlecht, sein Leben bereits auf früheren niederern Stufen bethätigt hat.306

Die abrahamitische Identifikation von Institution und Glaube ist durch diese Objektivierung in der katholischen Kirche am weitesten fortgeschritten.307 Im Jahr 1850 behauptete der Katholik dementsprechend die Wertlosigkeit persönlicher Vorbilder. Vorbildlich könne nur »das Leben von Gesammtheiten, die da immer fortbestehen und Aller Augen auf sich ziehen«, sein. Dies sei hauptsächlich die Aufgabe der Orden und Klöster. Deshalb seien sie »eben so nothwendig, als die natürlichen Anstalten zur Erhaltung des Menschengeschlechtes, als Ehen, Familien, Staaten u. s. w.« So hatten die Einsiedler des Alterthums mit ihrer Strenge und Entbehrung den Sturz der ursprünglich heidnischen, dann christlich gewordenen Völker nicht aufhalten können, weil ihr Beispiel und Leben vereinzelt blieb und nicht allenthalben dergleichen Genossenschaften entstanden, um die [!] bösen Neigungen und Lockungen des Satans zu widerstehen.308

Der Zusammenschluss der Menschen zu transpersonalen Gesellschaften wurde zur historischen Leistung des Christentums stilisiert. Deshalb konnte der eidgenössische Kapuziner Theodosius Florentini (1808–1865) auf dem Frankfurter Katholikentag 1863 den genossenschaftlichen Zusammenschluss der Arbeiter zur religiösen Notwendigkeit erheben: Diese Association geht aus dem Christenthum hervor, und liegt in unserm eigensten Bedürfniß; der Einzelne verschwindet, er hat weder Macht noch Einfluß und genügt nirgends. Wenn ich da bin, so bin ich nicht dort, und wenn ich mich dahin wende, wenn ich den Gegenstand von der Seite anschaue, so sehe ich nicht, was auf der entgegengesetzten Seite liegt. Der Einzelne ist stets fort der Gefahr ausgesetzt, zu Grunde zu gehen; also Association.309 304 Vgl. Gabriel: Christentum 82–87. 305 Zu Sailers Ekklesiologie vgl. Geiselmann: Religiosität. 306 Waller: Offenbarung 94. 307 Hellemans: Zeitalter 118 f. 308 Über Ehe und Ehehindernisse. In: Der Katholik 2 (1850) 406–418, hier 410 f. 309 Verhandlungen der fünfzehnten Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands 254–269.

Objektivierung der sozialen Beziehungen  191

Dabei unterschied die neuscholastische Rechtsphilosophie zwischen freiwilligen und vollkommenen Gesellschaften, den so genannten »societates perfectae«. Vollkommene Gesellschaften entstehen nicht durch den Beitritt der Mitglieder, sondern durch göttliche Anordnung. Die Autorität, die in diesen die Erfüllung des Zwecks sicherstellt, beruht wie die Gesellschaft selbst auf göttlicher Anordnung, weshalb der Gehorsam gegenüber der Autorität dem menschlichen Belieben entzogen ist. Deshalb steht der Autorität die Zwangsgewalt zu. Darüber hinaus kennzeichnen die vollkommenen Gesellschaften, dass ihr Zweck keinem anderen menschlichen Zweck untergeordnet ist und dass sie mit den zur Erreichung des Zwecks nötigen Mitteln ausgestattet sind. Üblicherweise werden nur Kirche und Staat als »societates perfectae« betrachtet.310 Ratzinger, der in der ersten, von der caritativen Sozialethik geprägten Auflage seiner Volkswirtschaftslehre keine vollkommenen Gesellschaften kennt, nimmt sie in der zweiten, von der juridischen Sozialethik geprägten Auflage 1895 auf. Dabei ist bemerkenswert, dass er nicht nur Staat und Kirche, sondern auch Familie und wirtschaftliche Gesellschaft als vollkommene Gesellschaften betrachtet.311 Während der Zweck der Kirche im jenseitigen Heil liege, liege die Aufgabe des Staates in der Sicherstellung von öffentlicher Ordnung und Wohlfahrt im Diesseits. Vom Staat trennt Ratzinger aber die wirtschaftliche Gesellschaft, da ihre Aufgabe die staatlichen Grenzen übersteige: Die Menschen haben das Recht, nach Erwerbsgruppen sich zusammenzuschließen und die höchste Ertragsfähigkeit der Arbeit zu sichern, beste und billigste Aneignung zu ermöglichen, die gerechteste Vertheilung der Arbeitserträgnisse zu erstreben. Diese Ziele reichen über die Grenzen einzelner Staaten hinaus, sie sind Aufgaben der wirtschaftlichen Gesellschaft, Aufgaben, welche allerdings der Gesetzgebung und Beeinflussung der Einzelstaaten unterliegen, aber darin nicht aufgehen.312

Die wirtschaftliche Gesellschaft sei »verschieden, aber nicht getrennt vom Staate, welcher auf der Gesellschaft ruht«.313 Privateigentum und Recht des Zusammen­ schlusses sind in der wirtschaftlichen Gesellschaft Mittel zum Zweck, sind naturrechtlich begründet, unterliegen göttlicher Anordnung und können vom Staat nicht beseitiget werden.314 Dabei verstand Ratzinger die wirtschaftliche Gesellschaft nicht als Vereinigung von Menschen, sondern als Gesellschaft von 310 Zur »societas perfecta« vgl. Wiedenhofer: Societas. 311 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 30 f. 312 Ebd. 28. 313 Ebd. 37 f. 314 Ebd. 28: »Wie das Privateigentum so ist auch das Recht der Association in Corporationen von Natur aus gegeben. Der Staat kann den Gebrauch des Eigenthums regeln und dasselbe mit den öffentlichen Interessen in Einklang bringen. Ebenso kann er das Corporationswesen den jeweiligen Bedürfnissen anpassen, aber er hat keine Befugniß, das Privateigentum oder das Corporationswesen gewaltsam zu beseitigen.«

192  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Gesellschaften: »Sie ist der Inbegriff aller Einrichtungen, Anstalten und Vereinigungen zur Förderung und Erreichung der höchsten menschlichen Zwecke im Cultur- und Wirtschaftsleben.«315 Die zweite Auflage von Ratzingers Volkswirtschaftslehre steht zwischen caritativer und juridischer Sozialethik. Die juridische Komponente äußert sich in der Betrachtung der wirtschaftlichen Gesellschaft als transpersonale Entität, die caritative Komponente in der Annahme, dass es sich bei diesem immanenten Phänomen um eine ideale, vollkommene Struktur handle. Der Versuch, die wirtschaftliche oder bürgerliche als vollkommene Gesellschaft zu konstruieren blieb deshalb vereinzelt. Immerhin hatte Ratzinger in Taparelli einen Vorläufer. Dieser hatte in seiner 1845 erschienenen thomistischen Naturrechtslehre, eine der frühesten ihrer Art und deshalb ebenfalls noch beeinflusst vom Vollkommenheitsstreben des Gnadendispositivs, das menschliche Zusammenleben außerhalb von Staat und Kirche zur vollkommenen Gesellschaft gemacht: Das Entstehen der natürlichen Gesellschaft ist eine von dem Willen der vereinigten Individuen unabhängige Thatsache. Ohne sich einander zu kennen, werden sie von der unwiderstehlichen Kraft physischer Ursachen zu einer beständigen Vereinigung gebracht und finden sich daher gegenseitig durch die allgemeine Geselligkeitspflicht verbunden nach dem Gut zu streben, ohne weder dem von jenem allgemeinen Gesetze der Geselligkeit erstrebten Zwecke noch den hiezu nöthigen Mitteln Grenzen setzen zu können. Wir finden sie also in einer vollkommenen Gesellschaft, in der Verpflichtung nämlich, gemeinschaftlich nach dem Zwecke eines glücklichen Lebens zu streben.316

Ob nun vollkommen oder nicht, die Wahrnehmung menschlicher Zusammenschlüsse als Gesellschaften ist letztlich nichts anderes als der Versuch, die funktionale Differenzierung der Gesellschaft mit religiösem Sinn zu versehen und sie dadurch für die Theologie beobacht- und handhabbar zu machen.317 Dass die katholische Sozialethik die funktionale Differenzierung der Gesellschaft tatsächlich zu verarbeiten suchte, zeigt sich an der Kritik, die Albert Maria Weiß 1892 an der im Vormärz üblichen caritativen Identifizierung von Staat und Familie bei Haller übte. Er kritisierte, dass der Staat für Haller ein »Gemengsel von einzelnen Privatverbänden, die sich zuletzt alle auf die Familie zurückführen«, sei. Der Staat erscheine als »groß gewordene Familie«, womit Haller die Bedeutung der Familie überschätze. Im Unterschied zu Haller postulierte Weiß einen qua-

315 Ebd. 37 f. – Auch für das Staatslexikon bestand die bürgerliche Gesellschaft 1892 nicht aus Menschen, sondern aus partikularen Gesellschaften, zu denen sich Menschen zusammenschlossen. Vgl. Bruder: Gesellschaft 1200 f. 316 Taparelli: Versuch 284. 317 Vgl. dagegen Schlögl: Glaube (1995) 317 f., der behauptet, dass sich der katholisch-sozialethische Diskurs schwer damit getan habe, funktionale Differenzierung wahrzunehmen und semantisch wiederzugeben.

Objektivierung der sozialen Beziehungen  193

litativen Unterschied zwischen Staat und Familie. Während der Staat auf einer »allgemeinen Pflicht aller Menschen« beruhe, sei die Familie dem »Belieben des Einzelnen« anheimgestellt.318 Deshalb warnte er: »Möge also niemand die Bedeutung des Satzes übertreiben, daß die Familie eine der Hauptgrundlagen der menschlichen Gesellschaft ist. Er ist bereits in der gefährlichsten Weise entstellt, wenn man die Familie ohne weiteres die Grundlage der Menschheit nennt.« Den Zweck der Familie sah er allein in der Reproduktion, die für »das Ganze« nur ein Mittel zur Erreichung des Heils darstelle.319 Der Zweck der Ehe bestand für die juridische neuscholastische Moraltheologie deshalb nicht mehr in der Liebe, sondern in der Reproduktion. Auch in der Ehe begründete die Juridifizierung der sozialen Beziehungen also eine transpersonale Auffassung. Hatte die caritative Moraltheologie allein die sittliche Qualität der Liebe der Ehepartner als Motiv für die Ehe erkannt, so bestand der Zweck der Ehe nach der juridischen Sozialethik in der Zeugung von Nachkommen, für die ein sicherer, d. h. rechtlicher Rahmen in der Ehe zu schaffen war.320 Der Katholik mokierte sich 1850 über die »an der Menschheit sich versündigende, leider ins Civilrecht übergegangene Sentimentalität« im Hinblick auf die Ehe, gegen die sich schon Thomas gewandt habe. Wegen des Zwecks der Reproduktion sei die Ehe nach Thomas Gegenstand des Naturrechts.321 Auch für Hertling bestand der Zweck der Ehe 1906 nicht mehr in der Liebe, sondern nur mehr in der Fortpflanzung. Statt flüchtiger »Geschlechtsliebe« sei »ernste sittliche Gesinnung« zur Fortpflanzung nötig.322 Dabei ist es der neuscholastische Objektivismus, der sich vor allem mit dem Begriff des Ultramontanismus verbunden hat.323 Otto Weiß betont, dass die ultramontane Frömmigkeit nicht eine persönliche Gottesbegegnung beabsichtigte, sondern die Orientierung an Dogmen, Gesetzen und Riten.324 Für Christoph Weber meint der Begriff des Ultramontanismus einen autoritativen und objektivistischen katholischen Fundamentalismus, der sich nicht auf eine kontingente historische Situation eingrenzen lasse.325 Bereits der reformkatholische Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus (1840–1901), der für eine Kirche der Liebe und der personalen Beziehungen eintrat,326 hatte den Begriff des Ultramontanismus mit einer umfassenden Objektivierungstendenz identifiziert: 318 Weiß: Frage 352 f. 319 Ebd. 356 f. 320 Vgl. Angenendt: Ehe 197 f.; Hammerstein: Entwicklung 100 f.; Prodi: Geschichte 269 f. 321 Über Ehe und Ehehindernisse. In: Der Katholik 2 (1850) 406–418, hier 407 f. 322 Hertling: Recht 108–111. 323 Vgl. dazu Fleckenstein / Schmiedl: Ultramontanismus; Weber: Ultramontanismus; Weiß: Ultramontanismus (1978); ders.: Ultramontanismus (2005). 324 Zur ultramontanen Frömmigkeit vgl. ders.: Ultramontanismus (1978) 858. 325 Weber: Ultramontanismus 22. 326 Vgl. Nipperdey: Religion 32 f.

194  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv 1. Ultramontan ist, wer den Begriff der Kirche über den der Religion setzt; 2. ultramontan ist, wer den Papst mit der Kirche verwechselt; 3. ultramontan ist, wer da glaubt, das Reich Gottes sei von dieser Welt und es sei, wie das der mittelalterliche Kurialismus behauptet hat, in der Schlüsselgewalt Petri auch die weltliche Jurisdiktion über Fürsten und Völker eingeschlossen; 4. ultramontan ist, wer da meint, religiöse Überzeugung könne durch materielle Gewalt erzwungen oder dürfte durch solche gebrochen werden; 5. ultramontan ist, wer immer sich bereit findet, ein klares Gebot des eigenen Gewissens dem Anspruche einer fremden Autorität zu opfern.327

6. Das Ende der Freundschaft Die Objektivierungstendenz der Neuscholastik beeinflusste auch die Frömmigkeit. So wurde die mystische Innerlichkeit Sailers von den klerikalen Anhängern der schillernden Seherin Louise Beck (1822–1879) abgelehnt. Mystisches Gotteserleben wurde in außergewöhnlichen, sinnlich wahrnehmbaren, also außerhalb des Einzelnen liegenden Erscheinungen gesucht.328 Schlögl indes sieht in den zahlreichen Visionen und Erscheinungen des 19. Jahrhunderts keine Konkretion neuscholastischer Objektivierung, sondern eine Abwehrreaktion dagegen. Da die Kirchen sich nicht als Resultat individueller psychischer Erlebnisse betrachten wollten, sondern als objektivierte Realität, sollte sich die Beziehung der Gläubigen zur Transzendenz auf Adoration beschränken, d. h. mehr auf Beobachtung, denn auf Kommunikation. Dies habe als Gegenreaktion Formen der Religiosität provoziert, mit denen die Gläubigen direkt in Kontakt zum Göttlichen treten konnten, und zwar auf der Grundlage einer Kombination aus Volksglaube, theologischem Diskurs und wissenschaftlich betriebener Suche nach dem Jenseitigen im Spiritismus.329 Auch Ebertz interessiert der Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und theologischer Objektivierungstendenz, kommt aber zu einem positiven Ergebnis, da er den Verein in den Mittelpunkt seiner Beobachtung stellt. Ebertz weist auf den Zusammenhang zwischen formalisierter Frömmigkeit, bürokratischer Kirchenstruktur und der Sozialtechnik des Vereins hin. Grundlegend dafür ist seine Bewertung der Juridifizierung als Versuch, Theologie und Kirchenstruktur angesichts der »Entpersönlichung der Sozialbeziehungen« zu stabilisieren. Sie konkretisiere sich einerseits als »›unpersönliche‹ Solidarisierung von außen« (Bürokratisierung, Zentralisierung und Systematisierung des kanonischen Rechts), andererseits aber auch als »innere« Solidarisierung mit Hilfe von Sozialtechnik (Vereine, Presse, konfessionell homogene Sozialisationsinstitutionen) und religiös-kalkulativen Bindungs 327 Zit. nach Fleckenstein / Schmiedl: Ultramontanismus 13. 328 Weiß: Weisungen 132. 329 Vgl. Schlögl: Glaube (2013) 301–306.

Das Ende der Freundschaft  195

mustern (Massenreligiosität).330 Als Beispiel für diesen Zusammenhang kann die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier im Jahr 1844 betrachtet werden, die für Holzem bereits für eine neue, entindividualisierte und ritualisierte Form der Frömmigkeit stand, die gerade deshalb aber in der Lage gewesen sei, unterschiedliche soziale Schichten, allerdings unter weitgehendem Ausschluss des Bürgertums, zu integrieren.331 Die auf Eliten beschränkte personale Kommunikation der vormärzlichen Freundschaftszirkel wurde jedenfalls zunehmend durch medienbasierte, transpersonale Massenkommunikation ersetzt. Bereits die Kölner Wirren von 1837, die sich an der Mischehenfrage entzündeten und in der Internierung von Erzbischof Clemens August Droste zu Vischering gipfelten, hatten die katholischen Massen mobilisiert. Insgesamt zählte das preußische Innenministerium 282  katholische Druckschriften, die sich damit befassten. Der »Athanasius«, die prokirchliche Streitschrift von Görres, allein erreichte in vier Auflagen eine Stückzahl von 10 000. Die Zeitungen befassten sich mit den Vorgängen in Köln und es wurden Wallfahrten aus diesem Anlass veranstaltet. Auch die Petition wurde als politisches Mittel entdeckt. Obwohl der Kölner Kirchenstreit mit dem Erfolg der Kirche endete, wirkte dieser Erfolg über den konkreten Anlass hinaus kaum.332 Es gab noch keine Strukturen, die den Erfolg verstetigen hätten können. Die Pfarreien waren aufgrund ihrer lokalen Begrenztheit nicht in der Lage, diese Integrationsleistung angesichts von Bevölkerungswachstum, Migration und Urbanisierung auf staatlicher Ebene zu leisten.333 Diesen Zweck erfüllten dann Massenmedien und Massenvereine.334 Das engmaschige Netz an Vereinen war ein Spezifikum katholischer Soziabilität im deutschen Sprachraum.335 Das katholische Vereinswesen sei, so Schatz, eine »oft beneidete Eigentümlichkeit der deutschen Kirche« gewesen.336 Es gab rein religiöse Vereine, die aus dem Konflikt zwischen Staat und Kirche entstanden, es gab karitative Vereine als Antwort auf wirtschaftliche Krisen, es gab Standes- und Berufsvereine als Folge funktionaler Differenzierung in der industriekapitalistischen Klassengesellschaft und es gab nicht auf bestimmte Gruppen, sondern auf Massen orientierte Bildungsvereine.337 Der Volksverein für das katholische Deutschland erreichte 1914 mit 800 000 Mitgliedern seinen größten 330 Vgl. Ebertz: Organisierung 40–51. 331 Vgl. Holzem: Kirchenreform 434. Zur Trierer Wallfahrt vgl. auch Lönne: Katholizismus 82 f. 332 Vgl. Hürten: Geschichte 67–75; Lönne: Katholizismus 77–81. 333 Vgl. Schlögl: Glaube (2013) 229 f. 334 Mooser: Milieu 71–78 sieht dieses dichte Netz katholischer Vereine als »Produkt des sich intensivierenden politischen Massenmarktes im Wilhelminischen Reich«. 335 Vgl. dazu Ebd. 63; ferner Maier: Standort. 336 Vgl. Schatz: Säkularisation 170. 337 Zu dieser Typologisierung vgl. Mooser: Milieu 66–70; zum katholischen Vereinswesen vgl. auch Repgen: Entwicklungslinien 21–25.

196  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Umfang. Er sprach die Massen an und fand wenig Resonanz in Akademikerkreisen. Als Bildungsverein trug er zur Emanzipation der Katholiken bei.338 Daneben gab es die Borromäusvereine (seit 1844), die sich die Verbreitung katholischer Schriften zur Aufgabe gemacht hatten.339 Die missionarischen Bonifatiusvereine existierten seit 1849340. Caritativ tätig waren die Vinzenzvereine (seit 1845)341 und die Kolpingvereine (seit 1846).342 In der Integration der Organisationsform des Vereins in die katholische Sozialethik sieht Kaufmann überhaupt die spezifische Eigenart des deutschen Katholizismus. Das katholische Vereinswesen sei der »eigentliche gesellschaftliche Träger der katholischen Soziallehre« gewesen.343 Schlögls systemtheoretischer Ansatz führt die Integrationsleistung des Vereinswesens auf seine Eignung zur Bewältigung der verschiedenen Rollenzuschrei­ bungen infolge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zurück.344 Die Sozialgeschichte behauptet, dass die Funktion der Vereine in der Abgrenzung nach außen und der Stabilisierung nach innen bestand, weshalb sie »wichtige Basiselemente des Milieus« (Josef Mooser) darstellten.345 Für Ebertz gehört das demokratische Organisationsmodell des Vereins zu den Maßnahmen, die die Kirche neben dem hierarchischen Organisationsmodell der bürokratischen Verwaltung gegen die zunehmende Säkularisierung ergriff und die er als »spezifisch ›modern‹« bezeichnet.346 Denn Vereine waren Ausdruck des bürgerlichen Leistungsprinzips als Gegenmodell zur ständischen Gesellschaftsstruktur.347 Das katholische Vereinswesen brachte jedenfalls große Teile der katholischen Bevölkerung mit der spezifisch bürgerlichen Sozialform des Vereins in Berührung, weshalb es Große Kracht im Anschluss an Nipperdey als Bestandteil des ultramontanen »modernen Antimodernismus« betrachtet. Er spricht dabei von »indirekter Verstaatsbürgerlichung«, weil im katholischen Vereinswesen die »weiterhin durchaus ›unbürgerliche‹ Identität als Katholik mit einer politischen Identität als Staatsbürger« verbunden worden sei.348 Im Vormärz war die Gründung von Vereinen einerseits staatlichen Restriktionen unterworfen gewesen. Andererseits hatten Vereine aufgrund ihres bür-

338 Vgl. Schatz: Säkularisation 173–180. 339 Zu den Borromäusvereinen vgl. Buchheim: Verbandskatholizismus 41 f.; Scheidgen: Katholizismus 405–411. 340 Zu den Bonifatiusvereinen vgl. Buchheim: Verbandskatholizismus 36–41. 341 Zu den Vinzenzvereinen vgl. Ebd. 42 f.; Scheidgen: Katholizismus 421–430. 342 Zu den Kolpingvereinen vgl. Ebd. 411–421. 343 Kaufmann: Überlegungen 157 f. 344 Vgl. Schlögl: Rationalisierung 63 f. 345 Mooser: Milieu 62 f. 346 Ebertz: Bürokratisierung 139–142. So auch Halder: Vereine 398 f. 347 Vgl. Schulz: Lebenswelt 10–14. Zum ursprünglich bürgerlichen Charakter des Vereinswesens vgl. Dann: Anfänge; Hoffmann: Geselligkeit. 348 Vgl. Große Kracht: Fremdlinge 101–106; ferner Mooser: Milieu 63 f.; Yonke: Emergence.

Das Ende der Freundschaft  197

gerlichen Charakters Anklang bei liberalkatholischen Laien und Klerikern, die sich als Teil der bürgerlichen Elite verstanden, gefunden. Kleriker, die sich selbst als ultramontan verstanden hatten, hatten sich vom Vereinswesen distanziert. Zur sozialen Integration hatten sie die religiösen Bruderschaften in der tridentinischen Tradition bevorzugt.349 Und zur politischen Integration hatten sich die als ultramontan bezeichneten Katholiken in Freundschaftszirkeln zusammengeschlossen. Da der Zweck der Bruderschaften ausschließlich in der Selbstheiligung lag, eigneten sie sich jedoch nicht zur Artikulation kirchlicher Interessen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Und der Wirkungskreis der Freundschaftszirkel war dafür zu begrenzt. Erstmals entwickelten sich dann während der Märzrevolution Vereine, vor allem die Piusvereine, als von Klerikern und Laien gemeinsam getragene Massenstrukturen. Es handelte sich dabei um ein städtisches Phänomen. Sie setzten sich überwiegend aus kleinbürger­lichen und proletarischen Mitgliedern, also aus den Verlierern der ökonomischen Modernisierung, zusammen. Staatliche Repressionen gegen Vereine, fehlende Aufgaben nach dem Scheitern der Märzrevolution und innerkatholische Vereinskritik führten dann wieder zum fast völligen Verschwinden der katholischen Vereine.350 Einen neuen Aufschwung erlebte das katholische Vereinswesen erst wieder in der zweiten Hälfte der 1860er Jahre, vor allem nach dem Wegfall der rechtlichen Restriktionen nach dem Kulturkampf. Dabei ging es nicht mehr um die Artikulation kirchenpolitischer Interessen, sondern um die soziale Integration. Vor allem durch so genannte Standesvereine (Kolpingvereine, Arbeitervereine) sollten die einzelnen sozialen Gruppen an die Kirche gebunden werden. Deshalb verfolgten sie stets soziale und religiöse Zwecke gleichermaßen. Unter klerikaler Führung entwickelten sich diese Vereine zum Massenphänomen. Sie waren gekennzeichnet durch eine dauerhafte, zentralisierte und lückenlose Erfassung unter professioneller Führung.351 Während die liberalkatholischen Vereine des Vormärz genauso elitär gewesen waren wie die frühultramontanen Freundschaftszirkel, besaßen die spätultramontanen Vereine Massencharakter. Die Geschichte des katholischen Vereinswesens zeigt, dass es zu seiner Expansion zweierlei bedurfte. Einerseits musste der Staat die rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen, um Vereine gründen zu können, andererseits brauchte es die soziokulturellen Rahmenbedingungen, um sich in Vereinen zusammen-

349 Zum katholischen Vereinswesen im Vormärz vgl. Burkard: Geburtsstunde 61–87; ­Halder: Vereine 27–179; Herres: Gesellschaft 127–130. 350 Zum katholischen Vereinswesen während der Märzrevolution vgl. Große Kracht: Fremdlinge 101; Halder: Vereine 27–179; Hardtwig: Kirchen; Heinen: Katholizismus; Herres: Gesellschaft 235–293; Krey: Traditionsbildung 86–92; Scheidgen: Katholizismus 432–439. 351 Zum katholischen Vereinswesen in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts vgl. ­Burkard: Geburtsstunde 98; Halder: Vereine 181–311; Jedin: Freiheit 15–17; Mooser: Milieu 71–78; Herres: Gesellschaft 385; Krey: Traditionsbildung 92–96.

198  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv schließen zu wollen.352 Die soziokulturellen Rahmenbedingungen schuf die formalistische Neuscholastik mit ihrer Betonung der juridischen Objektivität von Strukturen gegenüber der caritativen Personalität. Während der personalistische und elitäre Hirscher vor der Organisation der Massen in Vereinen warnte,353 ging sowohl die Initiative zur ersten deutschen Bischofskonferenz in Würzburg als auch zum ersten deutschen Katholikentag und zu den Piusvereinen auf den Mainzer Domkapitular Franz Adam Lennig (1803–1866), einen der wichtigsten Repräsentanten der Mainzer Neuscholastik, zurück.354 Auf seine Initiative hin wurde am 23.  März 1848 der Mainzer »Piusverein für religiöse Freiheit« gegründet, der bewusst die Massen ansprechen sollte und sich über das nördliche katholische Deutschland ausbreitete.355 Mit der Institutionalisierung sozialer Beziehungen in objektivierten Strukturen, wie sie die Vereine darstellten, verschwanden die auf persönlichen Beziehungen basierenden Freundschaftszirkel.356 Die Sexualisierung der Liebe führte auch dazu, dass intime Männerfreundschaften suspekt wurden.357 Die Kolpingvereine stellten ein Übergangsphänomen dar. Denn sie versuchten, unstrukturierte Liebe und strukturiertes Vereinswesen miteinander zu kombinieren. Sie waren ausdrücklich als Familienersatz gedacht. Sie sollten den Gesellen Geborgenheit vermitteln, bis sie eine Familie gründeten und ausschieden.358 Diessel erklärte aber 1891 das Scheitern dieses Vorhabens. Die »Liebe, die ehedem Arbeitgeber und Arbeitnehmer umschlang und zu einem innigst zusammenhängenden Ganzen verband«, womit er die Zugehörigkeit der Gesellen zur Familie des Meisters meinte, sei zerstört und lasse sich durch Vereine und Kassen nicht wiederherstellen.359 Das Recht ersetzte die Liebe als Faktor sozialer Beziehungen nicht nur im Verein. Die Aufgaben der Freundschaftszirkel konnten auf Vereine übergehen, aber auch auf geistliche Gemeinschaften. Sowohl die Vinzenzvereine als auch karitativ tätige geistliche Gemeinschaften lassen sich auf Freundschaftszirkel

352 Es handelt sich dabei um den von dem Historiker Etienne François postulierten Zusammenhang von Soziabilität und Bewusstsein, dessen Erforschung auf dem Schnittpunkt zwischen Sozial- und Mentalitätsgeschichte angesiedelt ist. Vgl. François: Bewußtseinswandel. 353 Hirscher war zwar ein Verfechter synodaler Entscheidungsfindungsprozesse. Die Synoden sollten aber nur den gehobenen Schichten vorbehalten sein. Er misstraute den Massen und warnte deshalb vor den Vereinen. Vgl. Hürten: Geschichte 107 f. 354 Vgl. Scheidgen: Katholizismus 518. 355 Vgl. dazu Buchheim: Verbandskatholizismus 30–53; Hürten: Geschichte 82–90. 356 Ein Grund dafür dürfte auch darin bestanden haben, dass der Verein als männliche Vergesellschaftungsform galt (Hoffmann: Geselligkeit 45 f.), während die Liebe als Grundlage der Freundschaft immer mehr feminisiert wurde. 357 Vgl. Bauer: Kultur 275 f. 358 Vgl. Krey: Traditionsbildung 92–96. 359 Diessel: Arbeit 240–248.

Willensfreiheit: Verantwortlichkeit, Unvollkommenheit und Risiko  199

zurückführen.360 Die »Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria« wurden durch Clemens August Droste zu Vischering, der dem Kreis um die Fürstin Gallitzin angehörte, gegründet. Aus dem Koblenzer Kreis entstand ein karitativer Frauenverein, der sich schließlich den Borromäerinnen anschloss. Aus dem Aachener Frauenkreis um Luise Hensel entwickelten sich die 1851 von Franziska Schervier gegründeten »Armen Schwestern vom heiligen Franziskus«, die von Clara Fey 1844 gegründeten »Schwestern vom armen Kinde Jesus« und die 1849 von Pauline von Mallinckrodt errichtete Kongregation der »Schwestern von der Christlichen Liebe«.361 So wurden aus den zwischenmenschlichen Kontakten in Freundschaftszirkeln transpersonale Strukturen, die die Lebenszeit eines Menschen überdauern konnten.

7. Willensfreiheit: Verantwortlichkeit, Unvollkommenheit und Risiko Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde dem Verhältnis zwischen göttlicher Vor­ sehung und menschlicher Willensfreiheit breiter Raum im theologischen Diskurs eingeräumt.362 Der Zusammenhang dieser Konjunktur mit der Juridifizierung der Theologie ist evident. Recht begründete für die neuscholastische Rechtsphilosophie Handlungsfreiheit. Die Weigerung transzendenter Rechtsbegründung bedeutete für Stöckl 1880 die Vernichtung aller Freiheit im Schooße der menschlichen Gesellschaft. Die Freiheit ist nämlich wesentlich bedingt durch das Recht. Nur dadurch, daß der Mensch innerhalb eines sichern und von allen Seiten unantastbaren Rechtskreises steht, ist er in den Stand gesetzt, sich innerhalb dieses seines Rechtskreises frei zu bewegen und die Aufgaben zu erfüllen, die ihm entweder gesetzt sind oder die er sich selbst setzt.363

Dabei betonte eine juridifizierte Moraltheologie die Willensfreiheit deshalb, weil es ihr um Fragen der Verantwortlichkeit und Schuld ging. Papst Leo XIII. machte den Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und Recht in seiner Enzyklika »Libertas praestantissimum« vom 20.  Juni 1888 deutlich. Die Willensfreiheit wird darin definiert als »Vermögen, das Zweckdienliche zu wählen; denn wer unter mehreren eines zu wählen die Macht hat, der ist Herr seiner Handlungen«. Die Willensfreiheit bedeute aber die Möglichkeit des Irrtums.364 Deshalb sei ihr ein »Schutz« beizugeben, und zwar durch das Gesetz: »In solcher Weise leitet 360 Vgl. dazu den Überblick bei Gatz: Kirche 351–371. 361 Vgl. dazu Schmiedl: Gründungsmodelle 213–220. 362 Vgl. dazu Schindler: Kairos 512–554. 363 Stöckl, Albert: Das moderne atheistische und das christliche Rechtsprincip. In: Ders.: Fragen II 70–100, hier 73–79. 364 Rundschreiben III s. v. Libertas praestantissimum 12.

200  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv das Gesetz den Menschen in seinen Handlungen, wird es ihm durch Verheißung von Lohn, durch Androhung von Strafen ein Antrieb zum Guten und hält vom Bösen ihn zurück.«365 In der »menschlichen Gesellschaft« bestehe die Freiheit deshalb nicht darin, »daß jeder thut, was ihm beliebt, was dem Staatswesen die größte Unordnung bringen, es verwirren und zu Grunde richten würde, sondern darin, daß die Staatsgesetze uns fördern in Beobachtung der Gebote des ewigen Gesetzes«.366 Denn um sich frei für das Gute zu entscheiden, musste sich der Mensch für das Böse entscheiden können, ohne es zu dürfen.367 Deshalb besitze der Mensch durch die Willensfreiheit »eine gewisse Autonomie, aber nur in abgeleiteter, secundärer Weise«, so Rietter 1865/1866.368 Für Göpfert gehörte 1897 die »Möglichkeit zu sündigen nicht zum Wesen der Freiheit«, da nur das Gute Objekt des Willens sein könne. Die Möglichkeit zu sündigen, sei nur ein »Zeichen der Freiheit«.369 Deshalb war es die Willensfreiheit, mit der Eberl 1866 den juridischen Zwang legitimierte: Es ist wahr, die Gesetze der Ordnung, welche für die Natur gelten, gelten auch für den Menschen. Aber die Beschränkungen, welche die Natur erträgt zu ihrer Ordnung, diese kann der Mensch von sich werfen, denn er ist frei. Das hätte man bei Ordnung der Gesellschaft nicht vergessen sollen, daß moralische Hebel, nicht bloß physische, in die sociale Ordnung eingreifen und daß volle Sicherheit dieser Ordnung mit Sittlichkeit Ein und Dasselbe ist.370

Eine ethisch positiv zu qualifizierende Freiheit gab es nur im bedingungslosen Eingehen auf den umfassend vorgezeichneten göttlichen Weltplan, weshalb die Spannung zwischen göttlicher Vorsehung und menschlicher Willensfreiheit in der Neuscholastik besonders konfliktreich war, wie Holzem feststellt.371 Zu begründen ist diese Spannung mit der Betonung von Verantwortlichkeit und Schuld durch die neuscholastische Rechtsphilosophie, welche die Betonung der göttlichen Vorsehung im Gnadendispositiv verdrängte, aber nicht ersetzen konnte. Dabei kann die Betonung der Willensfreiheit mit der Identifizierung von Recht und Moral begründet werden. Denn die Frage nach der Verantwortlichkeit 365 Ebd. 14–16. 366 Ebd. 20. 367 Für Rietter: Breviarium 46 war das »Naturgesetz« der »Inbegriff aller jener natürlichen, aus dem ewigen Gesetze stammenden Principien, vermöge welcher der Mensch im Allgemeinen aus sich selbst erkennt, was gut und bös ist und sich verpflichtet fühlt, Jenes zu thun und Dieses zu meiden, es ist die natürliche Theilnahme der praktischen Vernunft an dem ewigen Gesetze«. 368 Ebd. 47. 369 Göpfert: Moraltheologie 102 f. 370 Eberl: Kirche VII. 371 Vgl. dazu Holzem: Weltversuchung 172 f.

Willensfreiheit: Verantwortlichkeit, Unvollkommenheit und Risiko  201

ist moralisch, während die Frage nach der Tat juristisch ist.372 Das kanonische Recht knüpfte die Rechtsfolgen deshalb nicht allein an die Tat, sondern fragte nach Vorsatz und Schuld.373 Nach Aristoteles gibt es aber Schuld nur bei Freiwilligkeit, weshalb der Wille entscheidend ist.374 Deshalb lehnte die neuscho­ lastische Rechtsphilosophie letztlich die Trennung von Moral und Recht ab.375 Da die Willensfreiheit die Erkenntnis der Folgen der eigenen Handlungen voraussetze, machte Strafe für die neuscholastische Rechtsphilosophie überhaupt nur unter den Bedingungen von Willensfreiheit Sinn.376 Dies brachte Huber 1904 auf die Formel: »Überlegung, Schuldbewusstsein, Reue, Verantwortlichkeit, Lob und Tadel, Belohnung und Strafe setzen die Freiheit des Willens voraus, wären ohne letztere widersinnig.«377 Dabei bezeichnete er die Einsicht als den »Massstab der Zurechenbarkeit einer Handlung«.378 Als Hindernisse der Einsicht identifizierte Simar 1893 im ausdrücklichen Anschluss an Thomas von Aquin Gewalt und Zwang, Furcht, Unwissenheit, Trieb (»Begierlichkeit«, »Affecte«, »Leidenschaften«), Bewusstlosigkeit (Schlaf, Wahnsinn) und Gewohnheit.379 Es ging bei der neuscholastischen Konzeption von Willensfreiheit also nicht um Freiheit wovon, sondern um Freiheit wozu.380 Die Freiheit des Willens war bis weit ins 19. Jahrhundert unbestritten auch Grundlage des profanen Strafrechts.381 Daraus entwickelte sich die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Dabei war es der Konvertit Jarcke, der das Problem der Zurechnungsfähigkeit im »Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts« erstmals juristisch reflektierte.382 Dabei stellte eine Straftat für das so genannte klassische Strafrecht nicht Rechtsgutsverletzung, sondern Normverstoß dar. Der Täter verletzte in erster Linie nicht das Rechtsgut eines Anderen, sondern die Ordnung. Die Strafe stellte deshalb in erster Linie Sühne dar, utilitaristische Zwecke wie Abschreckung, Unschädlichmachung und Besserung waren nachranging.383 Dies galt auch für die neuscholastische Rechtsphilosophie. Für Pruner bestand der Zweck der Strafe 372 Müller: Ethik 11. 373 Vgl. Link: Rechtsgeschichte 43. 374 Müller: Ethik 14. Vgl. dazu auch Prodi: Geschichte 248. 375 Cathrein: Recht 169–182. 376 Stöckl, Albert: Die strafende Gerechtigkeit nach christlicher und nach atheistisch-materialistischer Weltanschauung. In: Ders.: Fragen II 101–129, hier 102; vgl. auch Pesch: Welträtsel I 30. 377 Huber: Hemmnisse 5. 378 Ebd. 83. 379 Simar: Lehrbuch 93–101. Unklarheit herrschte in der Scholastik nur darüber, ob Straftaten unzurechenbar waren, wenn der fehlende Vernunftgebrauch, etwa nach Alkoholkonsum, selbstverschuldet war. Vgl. Müller: Ethik 155. 380 Vgl. Hanisch: Denken 111–113. 381 Prodi: Geschichte 323; Becker: Verderbnis 43 f. 382 Vgl. Schott / Tölle: Geschichte 324–326 und 569; ferner Depenheuer: Suche. 383 Zur Verbrechenskonzeption des klassischen Strafrechts vgl. Lüderssen: Recht 427 f.; ferner Galassi: Kriminologie 39–49.

202  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv 1858 in der »Wiederherstellung der durch sündhafte Rechtsverletzung gestörten Ordnung«.384 Hauptzweck der Strafe sei, »daß durch die zum Schutze der rechtlichen Ordnung nach Gottes Willen bestehende Gewalt die Herrlichkeit des ewigen göttlichen Willens über den verkehrten Willen offenbar werde«. Dieser Zweck werde durch Wiedergutmachung und Auferlegung einer Buße erfüllt, utilitaristische Strafzwecke waren untergeordnet.385 Damit begründete Périn 1876 die Forderung nach Verhältnismäßigkeit von Schuld und Strafe: Die Strafe stellt die gestörte Ordnung dadurch wieder her, daß sie auf dem Wege der Gewalt den empörten Willen unter das Joch der Gerechtigkeit stellt, welche durch ihn verletzt ist. […] Alles das, was gegen die Ordnung geschieht, verdient Strafe und zwar in dem Maße, als die Ordnung eine mehr oder weniger verletzte ist. Die Strafe hat darum einen wesentlich sühnenden Charakter; sie ist nur dann und in dem Maße gerecht, als die in ihr beruhende Sühne der Schwere der Übertretung entspricht.386

Sühne war deshalb auch für Périn der Hauptzweck der Strafe, Nützlichkeitserwägungen nachrangig.387 Zweck der Strafe war, so der »Höllen-Bautz« 1882, »wesentlich Rache, d. h. gerechte Sühne für das Gott zugefügte Unrecht, was durch die Strafe erreicht werden soll«.388 Dies ließ sich für Bautz am besten an der Höllenstrafe aufzeigen, deren Ewigkeit ja den Zweck der Besserung ausschließt und nur der Rache dient.389 Strafe war für Göpfert 1897 »Wiederherstellung, Ausgleich der gestörten Ordnung«, Nützlichkeitserwägungen ebenfalls untergeordnet.390 Auch für Hertling diente die Strafe 1906 allein der Sühne.391 Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Verbrechenskonzeption mit ihrer individuellen Verantwortlichkeit und der tatvergeltenden Gerechtigkeit aufgrund der kantischen Trennung von Moral und Recht zunehmend zugunsten der Frage nach natürlichen und sozialen Gesetzmäßigkeiten infrage gestellt. Grund dafür war die Besorgnis über die Zunahme der Rückfälle. Es entstand Unsicherheit, die in Sicherheit umgewandelt werden sollte. Die Ursache des Verbrechens wurde nicht mehr im freien Willen, sondern in der somatischen Veranlagung gesehen, weshalb der italienische Gerichtsmediziner Cesare Lombroso (1835–1909) 384 Pruner: Lehre II 15 f. 385 Ebd. 137–139. 386 Périn: Politik 126. 387 Ebd. 127 f.: »Alles, was über den Begriff der Sühne und der Vergeltung der verletzten Gerechtigkeit hinausgeht, ist strafrechtlich unerlaubt. Der (öffentliche) Nutzen kommt erst in zweiter Linie in Betracht, ist wie überall, so auch hier, nur als eine Folge der gesühnten und hergestellten Ordnung zu betrachten.« 388 Bautz: Hölle 14. 389 Ebd. 64 f. 390 Göpfert: Moraltheologie 67. 391 Hertling: Recht 153 f.: »Weil moralische Würdigkeit und Glückseligkeit in einem innerlichen und notwendigen Verhältnisse zueinander stehen, so ist Leiden die notwendige Folge der Schuld.«

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nach körperlichen Merkmalen von Verbrechern suchte. Es entstand die Vorstellung vom geborenen Verbrecher, die sich in Lombrosos deterministischer Degenerationstheorie konkretisierte. Lombroso beschrieb die Neigung zum Verbrechen als Atavismus. Der Verbrecher wurde zum Entarteten.392 Bereits vorher hatte die Pathologisierung des Strafrechts durch die Psychologen den Verbrecher zum Kranken gemacht und so zum Determinismus geführt.393 Und wenn einem Verbrecher nicht pathologischer Wahnsinn unterstellt werden konnte, dann immer noch der Trieb, dessen sich die Psychologie exzessiv bediente. Unter Bezugnahme auf den Trieb konnte jedes Verhalten medikalisiert werden, ohne sich auf Wahnsinn zu beziehen.394 Medikalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die hirnorganische, somatische Erklärung von psychischen Auffälligkeiten, um Gewissheit zu erzielen.395 Daraus entwickelte sich die Phrenologie, die von der Schädelform auf den Charakter schloss und auf der dann Lombroso aufbauen sollte.396 Als physischer Defekt war Verbrechen nicht unmoralisch, sondern amoralisch. Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit stellte sich den so genannten Somatikern nicht. Der Verbrecher war unzurechnungsfähig, weil er Verbrecher war. Die romantischen Psychiker, die eine moralische Erklärung für Geisteskrankheiten bevorzugten und diese als Folge von willentlicher Entscheidung zur Sünde interpretierten, wurden von den Somatikern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts marginalisiert.397 Dazu trugen auch die Kriminalsoziologen bei. Diese lehnten zwar das Konzept vom geborenen Verbrecher ab, argumentier 392 Vgl. dazu Galassi: Kriminologie 139–184; Becker: Verderbnis 257–259 und 294–311. – Wurden im Vormärz die Ursachen von Alkoholismus in der Biographie gesucht, so am Ende des 19. Jahrhunderts in der Genealogie. Vgl. Ebd. 91. 393 Zur Pathologisierung des Strafrechts vgl. Fleiter: Kalkulation 178–183; Germann: Ruf; Müller: Verbrechensbekämpfung 24–34; Schwerhoff: Kriminalitätsforschung 190. 394 Foucault: Anormalen 173 f.: »Auf der Grundlage des Triebs wird die gesamte Psychiatrie des 19. Jahrhunderts alle Störungen, alle Unregelmäßigkeiten, alle großen Störungen und alle kleinen Unregelmäßigkeiten des Verhaltens, die nicht direkt aus dem Wahnsinn selbst resultieren, in die Gewässer der Geisteskrankheit und der entsprechenden Medizin einmünden lassen.« Vgl. dazu auch Ebd. 207–209; Brink: Grenzen 72–75. 395 Allerdings ließen sich nicht für alle Geisteserkrankungen organische Ursachen finden, was zu einer Krise der naturwissenschaftlichen Psychiatrie führte. Vgl. Ebd. 123; Dörner: Bürger 164–170; Schmitt: Modell 89–94; Schott / Tölle: Geschichte 53–56. 396 Zur Phrenologie vgl. Schott / Tölle: Geschichte 79 f. – In der Vormoderne waren Dinge nach dem Soziologen Richard Sennet verstehbar, wenn sich ihnen ein Platz in der Ordnung der Natur zuweisen ließ. Und die Ordnung verwies auf das Transzendente. Im 19. Jahrhundert wurden die Dinge aus sich verstehbar. Das Immanente bildete aus sich heraus eine Realität. Die Unterscheidungen zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt brachen zusammen. Dies provozierte die Überzeugung, dass sich die psychische Verfassung des Menschen auch physisch, also unwillkürlich, ausdrücke und sich einer absichtsvollen Formung entzog, worauf die Phrenologie gründet. Vgl. Sennett: Verfall 38–45 und 192–195. 397 Zum Streit zwischen Somatikern und Psychikern vgl. Dörner: Bürger 273 f.; Galassi: Kriminologie 72–79; Greve: Verbrechen 85–92; Schmidt-Recla: Theorien 99–101.

204  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv ten aber auch deterministisch, da sie den Verbrecher zum Produkt von sozialen Umweltfaktoren machten.398 Während sich deterministische Verbrechenskonzepte in der Psychologie durch­­ setzten und sie auch von vielen Rechtswissenschaftlern vertreten wurden, blieben im Strafecht – in der Gesetzgebung und in der Rechtsprechung – Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit die Grundlage der Strafe.399 Der Sexualwissenschaftler und Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840–1902) beklagte sich deshalb, dass die Rechtsprechung die psychologischen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit von Sexualdelikten ignorierte.400 Die neuscholastische Rechtsphilosophie beobachtete den rechtspsychologischen Diskurs genau. Cathrein bemerkte 1896 sehr wohl, dass sich das Strafrecht deterministischen Verbrechenskonzepten entzog.401 Damit übereinstimmend beklagte sich der Apologet Seitz 1902, dass außer den »positiven Theologen« der christlichen Bekenntnisse fast nur noch Juristen, die im praktischen Leben stehen, entschieden für die Willens­ freiheit eintreten, während die überwiegende Mehrzahl der Philosophen und überhaupt der Theoretiker sowie der einseitig mit der Materie und mechanischen Erscheinungen beschäftigten Forscher den Mechanismus aus dem Gebiete der Natur auf das Reich des Geistes überträgt.402

Die Ablehnung der Willensfreiheit war für ihn eine Angelegenheit der Theorie: Für den Theologen und Pädagogen, für den Gesetzgeber und Richter, überhaupt für den praktischen Berufsmenschen ist von der weittragendsten Bedeutung die Ent­ scheidung der Frage: Kommt wirklich durch den Determinismus Religion, Sittlichkeit und Rechtsordnung in Gefahr und bietet der Indeterminismus hierfür die einzige sichere Stütze?403

Der badische Gefängnispfarrer Krauß ging 1912 noch einen Schritt weiter und sah sich bei der Ablehnung des Determinismus nicht nur in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung, sondern mit dem »Volksgewissen«. Das

398 Vgl. dazu Galassi: Kriminologie 184–190. 399 Vgl. dazu Ebd. 65–72; Lüderssen: Vergeltung 222 f.; Schmidt-Recla: Theorien 22–33 und 57–61. 400 Vgl. Kannamüller: Laster 686 f. 401 Cathrein: Strafrecht 361: »Am wenigsten schien sich natürlich das Gebiet der Sittlichkeit und des Rechts dieser mechanischen Auffassung fügen zu wollen und ganz besonders schien sich das Strafrecht als Bollwerk der Verallgemeinerung der Mechanik zu widersetzen. Wie kann noch von Schuld und Verbrechen, von Verdienst und Strafe die Rede sein, wenn der Mensch nur ein Rädchen im ungeheuren Weltmechanismus ist, in dem sich alles nach unabänderlichen, mathematischen Gesetzen abwickelt?« 402 Seitz: Willensfreiheit 1. Diese Kongruenz zwischen katholischer Moraltheologie und klassischem Strafrecht stellte auch Krafft-Ebing fest. Vgl. Kannamüller: Laster 685. 403 Seitz: Willensfreiheit 12.

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gesunde Volksempfinden protestiert auch heute noch gegen den Versuch, den Menschen seiner Verantwortlichkeit für seine Taten zu entkleiden, alles unsittliche, gemeinschädliche, verbrecherische Handeln lediglich als naturgemäßen unfreiwilligen Ausfluß einer besonderen Veranlagung oder besonderer Verhältnisse zu erklären und damit den Begriff der Verantwortlichkeit und der Strafe zu vernichten.404

Dieser dezidierte katholische Antiintellektualismus ist nochmals in der Lage, die große Nähe zwischen katholischer und klassischer Strafrechtsauffassung zu veranschaulichen. Denn ihm entsprach auf Seiten der Jurisprudenz die Geringschätzung des Strafrechts. Das Strafrecht war innerhalb der Jurisprudenz wenig geachtet, da es intellektuell als wenig herausfordernd galt, die Juristen in Kontakt zum Volk brachte und insgesamt als irrelevant im Hinblick auf die großen juristischen Zeitfragen wahrgenommen wurde.405 Das Streben der Somatiker nach Gewissheit musste den Neuscholastikern trotz allen eigenen Strebens nach Gewissheit als eitel erscheinen. Gewissheit konnte es nach Thomas nur im Glauben geben. Außerhalb des Glaubens konnte es nur Wahrscheinlichkeit geben – in neuscholastischer Begrifflichkeit die so genannte moralische Gewissheit.406 Während der Determinismus notwendig wirkende Ursachen annahm, folgte aus dem katholischen Konzept der Willensfreiheit eine nicht notwendig wirkende Ursache.407 Deshalb nahm die neuscholastische Rechtsphilosophie die Immanenz als unsicher und unvollkommen wahr. Dies stellte wiederum eine Gemeinsamkeit zwischen der Neuscholastik und dem klassischen Strafrecht dar. Der Rechtssoziologe Klaus Lüderssen weist darauf hin, dass die deterministischen Konzepte der Strafrechtsreformer in der cartesianischen Annahme einer vollständig begriffenen immanenten Struktur bestehen, während die Bewertung des individuellen Verantwortlichkeit durch das klassische Strafrecht im »Erlebnis des Nichtverstehbaren« wurzelt. Das klassische Strafrecht sei deshalb die »Organisationsform der in dieser Weise unvollkommenen Gesellschaften«.408 Dewey beschreibt den Determinismus indes als »Idee einer universalen Herrschaft der Gesetze, die auf Eigenschaften, beruhen, die den Dingen unveränderlich innewohnen«. Diese Idee ersetzte eine »Welt, in der das Unerklärliche und das Mysteriöse das erste und das letzte Wort haben und sich unaufhörlich in dieser Welt einmischen«.409 Aufgabe der sozialen

404 Krauß: Lebensbilder 328. 405 Vgl. Habermas: Diebe 142 f. 406 Nelson: Ursprung 167; vgl. dazu Bonß: Risiko 265–275. 407 Cathrein: Strafrecht 366 f.: »Nun aber läugnen [!] die Anhänger der Willensfreiheit keineswegs, daß der freie Willensact nothwendig eine Ursache haben müsse, sondern bloß, daß er eine nothwendig wirkende Ursache haben müsse.« 408 Lüderssen: Recht 431–433. 409 Dewey: Suche 209.

206  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Wissenschaften war seither die Entdeckung natürlicher Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens.410 Deterministische Konzepte wollten Sicherheit als Gewissheit auf cartesianischer Grundlage erlangen. Für Descartes war Gewissheit als eindeutiges Wissen auf der Grundlage von Berechenbarkeit nur außerhalb des Glaubens zu erlangen, wofür er den Begriff des Naturgesetzes verwandte. Der Wahrscheinlichkeit stand er deshalb skeptisch gegenüber. Deshalb kamen die entscheidenden Beiträge zur modernen Wahrscheinlichkeit von Autoren, für die Gewissheit im Unterschied zu Descartes nur im Glauben bestand und die im Unterschied zu Descartes nicht an Sicherheit, sondern wie etwa Blaise Pascal (1623–1662) an Unsicherheit interessiert waren. Für ihn war nicht Gewissheit mathematisch zu berechnen, sondern Unsicherheit.411 Über die Beobachtung statistischer Regelmäßigkeiten wurde Wahrscheinlichkeit aber schließlich doch mit Determinismus vereinbar, wurde sie als gewiss und eindeutig wahrgenommen.412 Eine Konstruktion, die dies ermöglichte, war der Durchschnittsmensch des belgischen Statistikers Adolphe Quételet (1796–1874). Dieser ging davon aus, dass menschliche Handlungen eine regelmäßige, gesetzmäßige Struktur besitzen. Damit behauptete er die Determiniertheit kollektiven Verhaltens, demgegenüber das individuelle Verhalten als Abweichung erschien.413 Politisch äußerte sich der Determinismus im sozialistischen und liberalen Fortschrittsoptimismus. Dieser strebte nach der Transformierung von Unsicherheit in Sicherheit durch die Orientierung an den Entwicklungsgesetzen der Welt. Als solches erschien dem Liberalismus der Wirkungszusammenhang von Leistung und Erfolg. Leistung und Erfolg wurden zum Garanten von materiellem Fortschritt. Deshalb wurde das Recht positivistisch von den Tatsachen abgeleitet.414 Den Zusammenhang von Determinismus und Liberalismus verdeutlichte der Jesuit Braun 1889: Wenn es keinen freien Willen gibt, dann kann auch von einer Pflicht oder von einem Recht gar keine Rede sein, sondern Alles kommt auf physische Gewalt hinaus; das einzige Recht ist dann das der stärkeren Faust oder des stärkeren Gebisses. Es gibt dann gar nichts sittlich Gutes oder Böses mehr, weil ja der Mensch absolut nicht 410 Ebd. 212 f.: »Waren sie erst einmal entdeckt, blieb dem Menschen nichts weiter, als sich ihnen gemäß zu verhalten; sie sollten sein Verhalten lenken, wie physikalische Gesetze physikalische Phänomene lenken. Sie waren der einzige Maßstab des Verhaltens in ökonomischen Fragen; die Gesetze der Ökonomie sind die ›Natur‹gesetze alles politischen Handelns; andere sogenannte Gesetze sind künstlich, menschengemachte Hilfsmittel im Gegensatz zu den normativen Regulierungen der Natur selbst.« Der Determinismus ist deshalb nach Dewey der »Sprößling jener von der Newtonschen Philosophie überkommenen Auffassung von universalen Gesetzen«. 411 Bonß: Risiko 265–275. Vgl. auch Dewey: Suche. 412 Vgl. Krüger: Probabilism 59–89; vgl. dazu auch Bonß: Risiko 285–287; Link: Versuch 154–158. 413 Vgl. Hölscher: Entdeckung 107–110. 414 Vgl. dazu Gerber: Pragmatismus 51–54.

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anders handeln kann, als er wirklich handelt; jedes Lob wird dann Ironie und jede Strafe Grausamkeit.415

Nach Auffassung der neuscholastischen Rechtsphilosophie war das Recht aufgrund seines göttlichen Ursprungs gewiss, es sollte der Unsicherheit der Welt sichere Schranken setzen, aber die gottgewollte Unsicherheit der Welt nicht überwinden. Das Recht sollte die nötige Gewissheit zur Verfügung stellen, um die Immanenz nicht zu einer Gefahr werden zu lassen, sondern zu einem Risiko zu gestalten. Dies machte Simar 1877 deutlich, als er behauptete, dass die göttliche Allmacht durch die menschliche Willensfreiheit beschränkt sei,416 aber eben nicht aufgehoben werde. Der romantische Dogmatiker Klee hatte bereits 1843 darauf hingewiesen, dass die »Schuldbarkeit« mit zunehmender Gefahr abnehme.417 Während es den psychologischen Somatikern darum ging, Unsicherheit in Sicherheit zu transformieren und sie damit Willensfreiheit und Verantwortlichkeit ausschlossen, führte die Frage nach der Verantwortlichkeit nicht zur Transformation von Unsicherheit in Sicherheit, sondern von Gefahren in Risiken. Die »theistisch-teleologische Weltanschauung« verlangt, so Hertling 1906, Ursachen, die den »Mechanismus«, bei dem »ein Zustand auf den andern in begreiflicher Notwendigkeit gefolgt ist«, in Gang zu setzen. Allerding gehe der Mensch im Unterschied zum Tier »nicht restlos auf in Kausalketten, die von außen kommend durch ihn hindurchlaufen«. Hertling bestritt deshalb die empirische Grundlage deterministischer Gesellschaftskonzeptionen. Die Annahme »eines durchgängigen gesetzlichen Zusammenhanges der Ereignisse, welche hierfür die Voraussetzung bildet, stammt nicht aus der Erfahrung, da sie jede mögliche Erfahrung übersteigt«. Frei handeln heiße nicht ohne Ursache handeln, sondern aufgrund einer Entscheidung handeln: »Die freie Entscheidung beginnt eine Kausalreihe, sie ist nicht ein Glied in einer nach rückwärts ins Unendliche verlaufenden.« Es sei deshalb ein methodischer Fehler, die Annahme naturgesetzlicher Kausalität auch auf die Psyche anzuwenden.418 Für Mathias Schneid bedeutete die Negierung der menschlichen Willensfreiheit 1892 die Negierung jeglichen menschlichen Handlungsspielraums. »Wenn der Mensch nicht anders handeln kann als er handelt, dann fällt der Unterschied zwischen tugendhaften und lasterhaften Handlungen ebenso sehr hinweg wie beim Tiere.« Das Gute existiere nicht mehr, sondern nur mehr der Trieb: »Eine Freundschaft, die nicht aus freier Zuneigung hervorgeht, ist keine Freundschaft; 415 Braun: Kosmogonie 206–209. 416 Simar: Aberglaube 13: »Indem Gott also dem Willen des Menschen das Freiheitsvermögen als eine wesentliche und unverlierbare Vollkommenheit anerschuf, hat Er darin der Wirksamkeit Seines eigenen Willens eine unverletzliche Beschränkung auferlegt.« 417 Klee: Grundriß 4–10. 418 Hertling: Recht 26–29.

208  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv sie ist reiner Naturtrieb, wie die Zuneigung des Hundes zu seinem Herrn.«419 Die Unbestimmtheit der Willensfreiheit bedeutet nicht nur Unsicherheit, sondern auch Handlungsmöglichkeit.420 Während sich menschliche Handlungsoptionen für Koselleck nur aus dem Verzicht auf eine außergeschichtliche Instanz ergeben,421 zeigt einerseits der psychologische Determinismus, dass dieser Verzicht nicht nur zu Handlungsoptionen führt, sondern sie auch negieren kann. Andererseits ergaben sich Handlungsoptionen durch die Betonung der Willensfreiheit in bewusster Anbindung an eine außergeschichtliche Instanz sehr wohl. Für den Jesuiten Cathrein war die Willensfreiheit deshalb 1905 Voraussetzung jeder Sozialpolitik: Wir fragen: Hat es die Gesellschaft in ihrer Macht, den Lauf der sozialen Entwicklung nach ihrem Willen zu ändern, ihr eine neue, bessere Richtung nach ihrem Belieben zu geben? Ja oder nein. Wenn ja, dann sind die Menschen frei. Denn die Gesellschaft besteht aus Individuen, und nur insofern kann man ihr Freiheit zuschreiben, als die einzelnen Individuen frei sind. Kann aber die Gesellschaft ihre Entwicklungsrichtung nicht ändern, so verlieren alle sozialpolitischen Bemühungen ihren Sinn.422

Selbst für den Dominikaner Albert Maria Weiß, dem Knoll nicht zu Unrecht eine Betonung der göttlichen Vorsehung zulasten der Willensfreiheit attestiert,423 war es 1892 die Willensfreiheit, die politische Gestaltbarkeit überhaupt erst möglich macht. Die Gesellschaft ruhte für Weiß auf dem »ewigen Gesetze Gottes« und auf der »freien menschlichen Persönlichkeit« gleichermaßen.424 Deshalb übe der Mensch »vermöge seiner Freiheit einen sehr wichtigen Einfluß auf den Gang der Dinge«, ohne dass er sie »nach seinem Belieben meistere«. Davon aber, dass »ihn die Ereignisse selber nach gewissen in ihnen liegenden, unabänderlichen Gesetzen wie eine unfreie Maschine in Bewegung setzten«, könne keine Rede sein. Die Postulierung ökonomischer und sozialer Gesetze bedeute politischen Fatalismus, den er ablehnte: Der Einzelne kommt überhaupt nicht mehr in Rechnung, und selbst den Staat hat diese Theorie eingeschläfert, so daß er jedenfalls in Bezug auf das wirtschaftliche Gebiet die Hände gegenüber der angeblich unabänderlichen Naturordnung in den Schoß gelegt und sich auf die Rolle des stummen Zuschauers beschränkt hat.425

Im Widerspruch dazu nahm Weiß im gleichen Werk einige Seiten vorher eine fatalistische Haltung ein. Er behauptete im ausdrücklichen Anschluss an Augus 419 Schneid: Metaphysik 302. 420 Zu diesem Zusammenhang vgl. Kaufmann: Sicherheit (1973) 164. 421 Vgl. Koselleck: Verfügbarkeit 265. 422 Cathrein: Grundbegriffe 43 f. 423 Vgl. Knoll: Zins 25–48. 424 Weiß: Frage 356 f. 425 Ebd. 263 f.

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tinus: »Die Privatsitten waren immer böse und werden es immer blieben, denn des Menschen Herz ist auf das Böse gerichtet von den Tagen seiner Kindheit an.«426 Die Tatsache, dass sich die Welt »ungeachtet aller Unmöglichkeit wenigstens mühsam fortschleppt« war für Weiß deshalb ein Beweis für die »göttliche Weltregierung«. Obwohl die Steuern, zur Deckung der Ausgaben für Militär und für Schuldentilgung, für die Völker »ganz unerträglich« seien, halte Gott »die Dinge am Laufen«, damit »die Menschen den Unterschied zwischen seinem Dienste und dem der Weltreiche erfahren«.427 Die Entchristlichung habe zum Kampf aller gegen alle geführt: Jede Gemeinschaft ist zum Leviathan geworden, zum feuerspeienden Drachen, der alles verschlingen will, der alles zu zerstören droht. Wir betrachten nicht mehr den Frieden, sondern den Krieg, den Vernichtungskrieg, für den natürlichen Zustand unseres Geschlechtes. Nur Selbstsucht und Furcht hält die Einzelnen wie die Staaten noch nothdürftig im Zaume.

Man ertrage »den äußersten Absolutismus, wenn er nur Sicherheit verspricht«.428 Auch durch eine Rechristianisierung gebe es »wenig Aussicht, daß der Ge­ sellschaft die Katastrophe erspart bleibe«. Er meinte, »daß wir die Hoffnung auf Besserung höchstens mit dem Herzen, aber nicht mit dem Kopfe rechtfertigen können«.429 Der Dominikaner Weiß und der Jesuit Cathrein stehen für zwei unterschied­ liche neuscholastische Lehrmeinungen im Hinblick auf die Bedeutung der menschlichen Willensfreiheit im Verhältnis zur göttlichen Vorsehung. Das kirchliche Lehramt bestimmte nur, dass es bei der Erlangung des Heils zu einem Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlicher Willensfreiheit komme. Der Anteil der Freiheit wurde nicht geregelt. Die thomistische Lehre der Dominikaner betonte entsprechend der mittelalterlichen Lebensumwelt ihres Ordensheiligen Thomas die Gebundenheit des Menschen. Die Jesuiten bezogen sich stattdessen auf die eigene Ordenstradition und dabei auf den spanischen Spätscholastiker Luis de Molina (1535–1600), der in der Reaktion auf die reformatorische Sicherheitsorientierung die Freiheit betont hatte.430 Norbert Busch kommt deshalb in seiner Untersuchung der Herz-Jesu-Frömmigkeit im Anschluss an Groethuysen zu dem Ergebnis, dass die in der Willensfreiheit gründende jesuitische Werkfrömmigkeit im Vergleich zur jansenistischen Gnadenlehre einen innerweltlichen Handlungsspielraum bedeutete, der mit den »Ansprüchen des 426 Ebd. 205. 427 Ebd. 111–113. 428 Ebd. 115 f. 429 Ebd. 145 f. 430 Vgl. Knoll: Zins 25–48, der den Dominikaner Albert Maria Weiß neben dem Jesuiten Lehmkuhl als Protagonisten dieses Streits im 19. Jahrhundert ausmacht.

210  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv modernen Menschen nach Individualität und Autonomie kompatibel« sei.431 Insgesamt betrachtet wurde die pessimistische Anthropologie der Tübinger Theologie, die in der Willensfreiheit den Grund des Bösen sah,432 ersetzt durch eine agonale Perspektive, die in der Willensfreiheit den Kampfplatz gegen das Böse erblickte.433 Der Kirchenhistoriker Joseph Hergenröther (1824–1890) beschrieb die »ethisch-sociale Weltordnung« als permanenten Kampf zwischen »der objectiven Idee des Ganzen und der subjectiven des Individuums, zwischen dem Plane Gottes und dem Willen des Menschen«.434 So wurde die Willensfreiheit wieder stärker als konfessionsunterscheidendes Merkmal betont. Gutberlet behauptete 1893 die Kongruenz von Lombrosos Theorie des geborenen Verbrechers mit der reformierten Gnadenlehre. Er behauptete, dass durch sie »die Gewohnheitsverbrecher zur Sünde vorherbestimmt« seien.435 Auch Simar setzte im gleichen Jahr Determinismus und reformierte Prädestinationslehre gleich, als er eine »innere Nöthigung« als unkatholisch ablehnte: »Weder die Sünde oder die böse Begierlichkeit noch auch die Gnade Gottes übt einen innerlich nöthigenden Einfluß auf den Willen des Menschen aus.«436 Für Stöckl ging es bei allen Häresien letztlich immer um die Ablehnung der Willensfreiheit, womit er diese zum Merkmal des Katholischen schlechthin machte. Stöckl fiel 1879 auf, daß, »wenn immer eine Partei von der Kirche sich trennte und eine eigene häretische Lehre aufstellte, der Kampf sich gewöhnlich, sei es unmittelbar oder doch wenigstens mittelbar, um die Willensfreiheit drehte, indem die häretische Partei zum Angriff gegen dieselbe vorging«. Dies sei bei den Manichäern so gewesen, in der Reformation und durch die Naturwissenschaften. Denn dies sei »das einzige Mittel, um das Bewußtsein der Schuld los zu werden, und der Sünde freien Lauf lassen zu können. Denn wenn der Wille nicht frei ist, dann hebt sich der Unterschied zwischen Gut und Bös auf […].«437 Dabei bekam die konfessionsunterscheidende Funktion der Willensfreiheit im Eherecht praktische politische Bedeutung. Im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 setzte sich zwar die protestantische Anschauung von der Trennbarkeit der Ehe durch. Dabei wirkte allerdings die Forderung nach der Klärung der Schuldfrage als Einladung an das Zentrum zur Zustimmung, die tatsächlich erfolgte. Der Rechtshistoriker Gerhard Dilcher sieht in der Schuldfrage deshalb eine Resakra 431 Busch: Frömmigkeit 54. 432 Vgl. dazu Tillmann: Lehre 125 und 189 f. Für Bernhard Fuchs lag die »Wurzel des Bösen« 1851 in der »absoluten Kausalität des Willens«. Vgl. Fuchs: System 204 f. 433 Denn den freien Willen des Menschen könne der Teufel nicht bezwingen, sondern nur betören, so der katholische Theologe Friedrich Hense 1890. Vgl. Hense: Versuchungen 27 f. 434 Hergenröther zit. nach Holzem: Weltversuchung 172 f. 435 Gutberlet: Willensfreiheit 101–159. Zur Kongruenz von Determinismus und Prädestinationslehre vgl. Galassi: Kriminologie 139–184; Becker: Verderbnis 257–259 und 294–311. 436 Simar: Lehrbuch 85. 437 Stöckl, Albert: Das Christenthum und die Freiheit. In: Ders.: Fragen I 112–168, hier 125–129.

Willensfreiheit: Verantwortlichkeit, Unvollkommenheit und Risiko  211

lisierung des Eherechts.438 Die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit war und ist eben religiös konditioniert. Da es unter deterministischen Vorzeichen keine Schuld geben konnte, durfte die Strafe bei den Strafrechtsreformern nicht mehr wie im klassischen Strafrecht der Sühne dienen, sondern musste einen Zweck haben. Der Rechtswissenschaftler Franz von Liszt (1851–1919) delegitimierte deshalb den Schuldbegriff und plädierte für ein Schutz- statt eines Vergeltungsstrafrechts.439 Zunehmend trat bei den Strafrechtsreformern die Gefährlichkeit des Verbrechers an die Stelle der Schuld. Nicht die Tat, sondern die Wirkung der Strafe wurde für ihr Maß entscheidend. Der Kriminalpsychologe Emil Kraepelin (1856–1926) forderte deshalb die »Abschaffung des Strafmaßes«, so der Titel eines seiner Bücher. Die Vorschläge der Strafrechtsreformer bedeuteten eine »weitgehende Entrechtlichung des delinquenten Individuums und Entgrenzung des Strafrechtssystems« (Silviana Galassi).440 Die »Disziplin« wurde, um mit Foucault zu sprechen, von einer Strafe zunehmend zu einer Technik der Macht zur Produktion nutzbringender Individuen. Sie rückte von den Rändern der Gesellschaft, wo sie ausschließlich strafte und einsperrte, in das Zentrum der Gesellschaft. Sie strafte nicht mehr nur, sie wurde konstruktiv.441 Strafe wurde durch Kontrolle ersetzt, Recht durch Technik, Tod durch Leben. Diese Macht rechnete und maß, statt sich in einem gewaltsamen Ausbruch der Strafe zu manifestieren.442 Die neuscholastische Rechtsphilosophie konnte diese Entrechtlichung nicht akzeptieren. Cathrein kritisierte diese Entwicklung 1904 in den Stimmen aus Maria Laach scharf. Die Strafe verliere ihren sühnenden Charakter und werde »zu einer bloßen Sicherungsmaßregel herabgedrückt, wie man sie auch gegen gefährliche Tiere und wahnsinnige Menschen in Anwendung bringt«.443 Der badische Gefängnispfarrer Krauß kritisierte 1912 »die Beurteilung aller Verbrechen als Krankheiten und demgemäß die Ausmerzung der Begriffe von Schuld und Sühne sowie die Abschaffung der Strafgesetzbücher«, worin er das Ziel der »modernen« Strafrechtstheorie sah. Sozialpolitik als Mittel der Verbrechensverhütung lehnte er ab: »Durch soziale Fürsorge allein verhütet man keine Verbrechen. Die Verhältnisse bessern, heißt noch lange nicht, den Menschen bessern.«444 Dabei kritisierte Krauß an den deterministischen Verbrechenskonzeptionen die 438 Vgl. Dilcher: Ehescheidung 340 f. 439 Vgl. dazu Galassi: Kriminologie 123–130. Bereits das aufgeklärte Strafrecht des 18. Jahrhunderts hatte Besserung und Prävention als Strafzweck neben der Vergeltung propagiert. Vgl. Greve: Verbrechen 23. Neu bei Liszt war, dass Vergeltung als Strafzweck wegfiel. 440 Galassi: Kriminologie 377. Vgl. dazu Fleiter: Kalkulation 178–183; Galassi: Kriminologie 239–244 und 367–372. 441 Foucault: Überwachen 271. 442 Ders.: Wille 171 f. 443 Cathrein: Einteilung: 172. 444 Krauß: Lebensbilder 354 f.

212  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Ersetzung von objektivem Recht durch relative Nützlichkeit. Liszt gehe es nicht um Schuld, sondern um die »soziale Brauchbarkeit«, d. h. die »Fähigkeit, sich den bestehenden Normen zu unterwerfen«. Für Liszt sei »zurechnungsfähig« nur »der ›normale Durchschnittsmensch‹, d. i. der ›geistig reife und gesunde Mensch‹, der in seinem sozialen Verhalten sich ›bestimmen‹ (determinieren) lasse durch die Forderungen der Religion, des Rechts, der guten Sitte und der Klugheit«. Wer »in ›anormaler‹ Weise, d. i. anders als der normale Durchschnittsmensch reagiert«, sei bereits unzurechnungsfähig und könne deshalb nicht gestraft werden.445 Dies mache das Verbrechen bei Liszt zu einer Geisteskrankheit.446 Das Gefängnis sei dann keine Strafe, sondern eine Schutzmaßnahme auf unbestimmte Dauer: »Mit dieser rigorosen Forderung wird die persönliche Freiheit auf das schwerste bedroht, ganz abgesehen von der darin liegenden Verleugnung aller Gerechtigkeit, welche einem jeden nur nach dem Maß und Grad der objektiven und subjektiven Verschuldung vergelten soll.«447 So sehr die katholische Moraltheologie die Besserung als Strafzweck ablehnte, so sehr pochte sie gegen deterministische Konzepte auf die Besserungsfähigkeit des Menschen. Cathrein wies 1896 darauf hin, dass es nach christlicher Auffassung keine unverbesserlichen Verbrecher gebe, die in Bewahranstalten unschädlich gemacht werden müssen.448 Pruner lehnte das Konzept des Verbrechens im Zustand des »moralischen Irreseins« 1901 ab. Der Priester dürfe nie von der Unverbesserlichkeit eines Menschen ausgehen.449 Anlässlich der Revision des deutschen Strafrechts fasste Cathrein 1905 den »theistischen Standpunkt« im Strafrecht zusammen. Dieser bestehe aus »Verantwortlichkeit, Willensfreiheit, Zurechnungsfähigkeit, Schuld, Strafe«.450 Denn nur wenn »die Handlungen aus unserem freien Willen hervorgehen, können sie uns zur Schuld oder zum Verdienst, zum Lob oder zum Tadel angerechnet werden«.451 Dagegen suche der Determinismus das Verbrechen »in seiner Gesetzmäßigkeit« zu erkennen und »Heilmittel« dagegen zu finden, was eine »völlige ›Umwertung‹ der Grundbegriffe des Strafrechts: der Schuld, Verantwortlichkeit und Strafe, ergeben muß«.452 Die Juristen würden zugunsten von Psychologen, Biologen und Soziologen »abdanken« müssen.453 Das »Strafrecht der Zukunft«

445 Ebd. 363 f. 446 Ebd. 369 und 373: Denn die Psychiatrie »führt uns so zahlreiche Arten von Affekt- und Zwangszuständen, so viele Nuancen der Störung des Seelenlebens, so viele Abstufungen von allen möglichen Minderwertigkeiten vor, daß der Unterschied zwischen sittlichem Fehler (Sünde oder Verbrechen) und krankhafter Störung oder Schwäche ganz verschwinden muß«. 447 Ebd. 421 f. 448 Cathrein: Strafrecht 497. 449 Pruner: Pastoraltheologie II 278. 450 Cathrein: Grundbegriffe 5 f. 451 Ebd. 62. 452 Ebd. 12. 453 Ebd. 57.

Willensfreiheit: Verantwortlichkeit, Unvollkommenheit und Risiko  213

werde zu einer »ärztlichen Kunst«, so Cathrein bereits 1896.454 Ohne freien Willen gebe es deshalb überhaupt kein Recht, wie er 1901 deutlich machte: Wie dem Steine und dem Pferde, so kann man auch dem Menschen keine bindenden Vorschriften geben, wenn sich in ihm alles nach notwendigen unabänderlichen Gesetzen abwickelt. Man kann den Mörder nicht anklagen und strafen, denn er konnte nicht anders handeln, und deshalb hat er auch kein Unrecht begangen, so wenig wie der Stein, der aus der Hand des Knaben in die Fensterscheiben oder den Spiegel fliegt.455

Angesichts der Bedeutung der Willensfreiheit für die neuscholastisches Rechtsphilosophie ist es bezeichnend, dass mit dem Haller Anstaltsgeistlichen Sebastian Ruf ein Geistlicher, der als »liberaler Katholik« galt und Distanz zur Amtskirche wahrte,456 die Sühne als Strafzweck durch die Unschädlichmachung ersetzen wollte. Ruf kritisierte in einer Schrift von 1870 zunächst in Übereinstimmung mit der neuscholastischen Rechtsphilosophie die Pathologisierung des Verbrechens. Diese habe zur Abhängigkeit der Richter von den Gutachten der Ärzte geführt, diese sich immer mehr richterliche Aufgaben angemaßt. Das »Prinzip der Nichtzurechnungsfähigkeit« sei zur Regel geworden: »Jede gesetzwidrige That konnte nun als eine unvernünftige und somit als eine unfreie bezeichnet werden.« Das gesamte Strafrecht sei dadurch in Frage gestellt worden. Den Richtern sei ihre Tätigkeit »von Seite der Ärzte und Psychologen von Tag zu Tag schwerer gemacht« worden.457 Dann leitete er aber die Abkehr von der neuscholastischen Rechtsphilosophie ein. Für diese Entwicklung verantwortlich machte er nämlich die Frage nach der Schuld. Dabei könne die Frage nach der Schuld gar nicht beantwortet werden: »Jedes Verbrechen ist etwas Abnormes und als solches etwas Geheimnißvolles, das sich dem Acte des vollkommenen Begriffenwerdens zu entziehen sucht.«458 Da die Rechtsprechung »weder die Bosheit, noch die Selbstverschuldung mit ganzer Sicherheit und Gewißheit« nachweisen könne, solle sie sich mit der »Gefährlichkeit der Handlung« bescheiden. Ruf plädierte deshalb dafür, statt der Schuld- die Tatfrage zu stellen und die »Gefährlichkeit der Täter« zu ermitteln. Denn sowohl Tat als auch Gefährlichkeit hätten »ein bestimmbares Substrat« und seien deshalb beweisbar. Der Unterschied zwischen der neuscholastischen Rechtsphilosophie und Ruf lag also darin, dass dieser an Sicherheit interessiert, jene an Unsicherheit orientiert war. Die »Gefährlichkeitstheorie« bringe der Gesellschaft mehr Sicherheit als die »Schuldzurechnung«, so Ruf. Dagegen führe die Schuldfrage zur Gefährdung der Sicherheit, da

454 Ders.: Strafrecht 492–494. 455 Ders.: Recht 58. 456 Vgl. Lentner: Ruf 13–15. 457 Ruf: Criminaljustiz 5–35. 458 Ebd. 56.

214  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv die Zahl der Zustände, für welche die Ärzte die Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit verlangen, von Jahr zu Jahr größer wird, daß, wenn es so fortgeht, am Ende Niemand mehr zurechnungsfähig ist, und daß man somit bereits auf dem Punkte angelangt ist, wo es sich praktisch zeigt, daß die Theorie der juridischen Schuldzurechnung aus dem Grunde nicht mehr haltbar ist, weil, wenn es nach den Anforderungen der Ärzte ginge, künftig gerade die gefährlichsten Gesetzübertreter wegen Unzurechnungsfähigkeit von jeder Verantwortung und von jeder Strafe ausgeschlossen werden müßten.459

Werde in einem Gerichtsprozess aber nicht die Schuld, sondern die Gefährlichkeit verhandelt, könne der Zweck der Strafe nicht in Vergeltung liegen: Gibt man zu, daß der Strafgesetzübertreter ein der Gesellschaft Gefährlicher sei, so wird man doch nicht glauben, daß dieser seiner Gefährlichkeit dadurch Abbruch gethan wird, daß man ihn, vermöge der Vergeltungstheorie ›Gleiches mit Gleichem‹ vergilt, ihm ein gleiches Übel zufügt und ihn dann, nachdem er dieses Übel überstanden hat, wieder der Gesellschaft zurückstellt.

Deshalb forderte Ruf eine »wachsame Sicherheitsbehörde«, was ihm bereits den Vorwurf eingebracht hatte, aus dem Rechts- einen Polizeistaat machen zu wollen.460 Während Ruf beklagte, dass das Strafrecht an der Vergeltung als Strafzweck unbedingt festhalten wollte,461 plädierte er für Besserung als Strafzweck462 und befürwortete sozialpolitische Maßnahmen zur Verbrechensprävention: Wer die Gesellschaft vor Gesetzübertretern sicher stellen will, muß nicht nur die großgewordenen, sondern auch die werdenden Verbrecher ins Auge fassen; er muß nicht nur die wirklichen Verbrecher durch die Strafe zu bessern oder wenigstens unschädlich zu machen, sondern auch den Nachwuchs möglichst zu verhindern suchen.463

Deshalb forderte er, die Ursachen des Verbrechens zu erforschen. Da Ruf die Vorstellung eines geborenen Verbrechers ablehnte,464 ging es ihm hierbei um die Erforschung sozialer und ökonomischer Ursachen des Verbrechens, weshalb er sich als Anhänger der Kriminalsoziologie erwies. Es gehe nicht um die Frage, ob »Jemand ein Böser« sei, sondern darum, »durch welche Verhältnisse ein Mensch ein Böser geworden« sei. Die Einsicht in die Beeinflussung der Moralität durch wirtschaftliche Not und mangelnde Bildung habe »das alte, hartnäckige, eben so schädliche, als lieblose Vorurtheil« der Willensfreiheit zum Wanken gebracht und die »Wege gebahnt, um die Quellen künftiger Verbrechen zum Versiegen zu 459 Ebd. 105–109. 460 Ebd. 109–111. 461 Ebd. 43–54: »Alle Vergeltungstheorien seit Kant und Hegel sind im Grunde nichts Anderes als das verfeinerte Echo der Talionstheorie und drücken eigentlich nur – Rache aus. Böses mit Bösem vergelten bleibt immer Rache.« 462 Ebd. 115 f. 463 Ebd. 111. 464 Vgl. Lentner: Ruf 32.

Handeln statt Dulden  215

bringen und so die allgemeine Rechtssicherheit zu befördern«.465 Deshalb wollte er auch mildernde Umstände gemäß der Schwere der Schuld nicht gelten lassen. Er sah darin eine »Zuflucht« der Richter: Aus dem einfachen Grunde, weil eure Theorie mit eurer Praxis und eure Praxis mit eurer Theorie in Widerspruch ist. – Eure Theorie stammt aus der alten Zeit des Glaubens; eure Praxis dagegen ist das Resultat der modernen Wissenschaft. In der Theorie glaubt ihr an die Freiheit und an die Selbstverschuldung des Angeklagten; in der Praxis aber wisset ihr selbe, wenn auch nicht ganz, so doch theilweise in Zweifel zu ziehen. In der Theorie beschuldiget ihr; in der Praxis entschuldiget ihr.466

Das »charakteristische Zeichen der modernen Criminaljustiz« sei deshalb die Inkonsequenz.467

8. Handeln statt Dulden Die katholische Betonung der Willensfreiheit stellt die Grundlage des richtigen Verständnisses katholischer sozialpolitischer Positionen dar. Die soziale Frage nahm im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts in den pastoraltheologischen Veröffentlichungen neuscholastischer Autoren immer breiteren Raum ein.468 In den 1890er Jahren zeigte der jüngere Klerus vermehrtes Interesse an volkswirtschaftlichen Studien und sozialpolitischem Engagement.469 Der Soziologe Ludwig Heyde (1888–1961) bezeichnete die katholische Zentrumspartei gar als die »fruchtbarste sozialpolitische Partei« vor dem Ersten Weltkrieg.470 Nach Ansicht des Katholizismusforschers Hermann-Josef Große Kracht geht das deutsche Wohlfahrtsstaatsmodell, das im Unterschied zum marktorientierten anglo-amerikanischen Typ und zum etatistischen der skandinavischen Länder auf eine Kombination aus staatlicher Intervention und Marktorientierung besteht, in erheblichem Maße auf den katholischen Einfluss zurück.471 Er sieht in der katholischen Sozialethik das Ergebnis einer spezifischen Konflikt- und Konkurrenzsituation, die den Katholizismus unter den »Stress eines elementaren Veränderungsdrucks« setzte. Diese führt er darauf zurück, dass die Katholiken im Deutschen Reich nicht in einer Mehrheitsposition waren, aber auch keine Minderheit darstellten. Es habe sich deshalb fundamentale Opposition genauso verboten wie die völlige politische Integration. Dies habe dazu geführt, dass der 465 Ruf: Criminaljustiz 36–42. 466 Ebd. 77–79. 467 Ebd. 99. 468 Vgl. Lehner: Caritas 49 f. 469 Vgl. Ebd. 194–199. 470 Heyde: Abriß 45. 471 Große Kracht: Kirche 132.

216  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Katholizismus als »gleichermaßen nichtliberaler, nichtrevolutionärer und nichtobrigkeitlicher Akteur« agierte. Deshalb habe der Katholizismus nur im Deutschen Reich Wohlfahrtsstaatlichkeit produziert.472 Dies sei aber unbeabsichtigt geschehen, und zwar aus drei »Abwehrreflexen« gegen die Moderne, und zwar Antiindividualismus, Antisozialismus und Antistaatspaternalismus.473 Wenn die Produktion von Wohlfahrtsstaatlichkeit katholischerseits tatsächlich unbeabsichtigt war, dann stellt sich allerdings die Frage, was die eigentliche Absicht war, da sich der Katholizismus nach Große Krachts Prämissen in der Abwehr der Moderne nicht erschöpfen durfte. Die päpstlichen Verlautbarungen waren noch bis in die 1880er Jahre von Fatalismus geprägt. Der Papst argumentierte damals noch im Rahmen des Gnadendispositivs. In der Enzyklika »Quod apostolici muneris« vom 28. Dezember 1878 rechtfertige Leo XIII. die sozialen Unterschiede als gottgewollt, »damit so der Staat wie die Kirche ein Leib sei, der viele Glieder in sich schließt, von denen eines edler ist als das andere, die aber alle einander nothwendig und für das gemeinsame Wohl besorgt sind«. Deshalb seien Veränderungen an dieser sozialen Struktur verboten. Den Wunsch nach sozialer Egalität führte er auf die zunehmende Diesseitsorientierung und damit auf den Abfall von Gott zurück. Als einziges Mittel zur Behebung sozialer Probleme erschien ihm die mit jenseitiger Sanktion bewehrte Barmherzigkeit.474 Während das Christentum »unerschütterliche Fundamente der Dauer und Ordnung im Staatswesen« gelegt habe, »gefährdet« der Abfall vom Christentum, so Leo XIII. in »Diuturnum illud« vom 29.  Juni 1881, durch den Willen zum sozialen und politischen Umsturz »sowohl die Sicherheit der Fürsten wie die Ruhe der Reiche und zugleich das Wohl des Volkes«, und dies »fast stündlich«.475 Gesetze hätten nicht die Kraft, »für sich allein den Staat schützen« zu können. Es sei die Religion, die die Menschen »geneigt macht, daß sie ihren Vorgesetzten nicht bloß unterthänig sind, sondern auch in Wohlwollen und Liebe anhängen; denn durch diese wird jede menschliche Gesellschaft am besten unverletzt bewahrt«.476 Noch 1903 forderte ein päpstliches Rundschreiben, dass »die Vornehmen und Reichen mit Billigkeit und Liebe den Armen beistehen, diese hingegen ihre drückende Lage mit Ruhe und Geduld ertragen«.477 In Frankfurt am Main beschäftigte sich 1863 ein Katholikentag erstmals mit der sozialen Frage. Dabei dominierte noch trotz aller Einsichten in den mittlerweile erreichten komplexen Entwicklungsstand der Industrie, der den Persona 472 Ebd. 133–135. Zur sozialethischen Sonderstellung der deutschen neuscholastischen Theologie innerhalb der europäischen Moraltheologie vgl. Langner: Sozialethik 204 f. 473 Große Kracht: Kirche 138. 474 Rundschreiben I s. v. Quod apostolici muneris 6–18. 475 Rundschreiben II s. v. Diuturnum illud 4. 476 Ebd. 26. 477 Päpstliches Rundschrieben vom 4.10.1903. In: Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1903.

Handeln statt Dulden  217

lismus des Gnadendispositivs problematisch machte, die gesinnungsreformerische Argumentation. Ein Beispiel dafür ist Domkapitular Heinrich aus Mainz. Er wollte mit der Gesinnungsreform bei den Büros beginnen. Er schlug vor, dass man in den Fabriken »darin Novicen erzieht. Und welches sind diese? Sie sind im Bureau«. Denn, so Heinrich, »wird es erst besser im Bureau, dann wird’s besser in der Welt!«478 Bis zum Katholikentag von 1869, auf dem erstmals eine eigene Abteilung zur Behandlung der sozialen Frage gebildet wurde,479 hatte sich aber dann der reaktive Fatalismus der katholischen Sozialethik in einen proaktiven Gestaltungswillen gewandelt.480 Der Katholikentag des Jahres 1884 in Amberg machte dann offenbar, dass die Zeit der Nächstenliebe auch in der Sozialethik zu Ende gegangen war. Der Vorsitzende des Caritasausschusses entschuldigte sich dafür, »daß ich als Vorsitzender des Ausschusses für christliche Charitas vor Ihnen nahezu mit leeren Händen erscheine«. Es war kein schriftlicher Antrag zur Behandlung eingereicht worden.481 Die neuscholastische Rechtsphilosophie hatte eine juridische Sozialethik zulasten der Caritas initiiert. Für Ketteler, einen der einflussreichsten katholischen Sozialethiker, war Sozialethik Rechtsethik.482 Er war Jurist und bediente sich einer juridischen Ausdrucksweise.483 Dabei schwankte er aber unentschieden zwischen neuscholastischer und historistisch-germanistischer Rechtsphiloso­ phie.484 Bei der Analyse der sozialethischen Entwürfe des naturrechtlich-thomistisch argumentierenden Vogelsang und seiner Epigonen kommt der Caritaswissenschaftler Markus Lehner zu dem Ergebnis, dass ihnen die »Lösungskapazität der individualisierenden Caritaspraxis« defizitär erschienen sei, weshalb sie Nächstenliebe durch Gerechtigkeit ersetzten.485 Dippel sah im Staat 1873 eine »Rechts- und Wohlfahrtsanstalt zur Sicherung und Beglückung seiner irdischen Existenz«.486 Für Albert Maria Weiß stellte das Recht 1883 »das Heil der Völker« dar. Es sei deshalb »so viel Unheil in der Menschheit, weil das Recht so gebeugt und zerrissen ist«.487 Und 1892 behauptete er, es gebe nur »eine sichere 478 Verhandlungen der fünfzehnten Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands 271–275. 479 Verhandlungen der zwanzigsten General-Versammlung der katholischen Vereine Deutschlands 52. 480 Ebd. 156–164. 481 Verhandlungen der XXXI. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands 136 f. 482 Vgl. dazu Langner: Grundlagen 61; Langner: Sozialethik 154–201; Schäfers: Kraft 371–408; Uertz: Gottesrecht 161–192. 483 Vgl. O’Malley: Ketteler 76–83. 484 Kettelers Ausführungen zum Naturrecht wurden deshalb von dem Neuscholastiker Theodor Meyer als synkretistisch abgelehnt. Vgl. Uertz: Gottesrecht 161–192; ferner Petersen: Ruf 56–82. 485 Vgl. Lehner: Caritas 237; ferner Bader: Sozialreform 153–159. 486 Dippel: Gesellschafts-Lehre 282. 487 Weiß: Gesetze 76 f.

218  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Grundlage« der Gesellschaft, und zwar die »maßvolle, besonnene, rechtliche Wahrheit«.488 Hertling ging es in der Sozialethik 1893 nicht um die Frage des »Wohlwollens« gegenüber den Arbeitern, sondern um die »scharfe Orientirung an den unveränderlichen Grundsätzen der Sittlichkeit und des Rechts«.489 In der »Geltung eines natürlichen Rechts« sah er die »erste Voraussetzung einer sichern und zielbewußten Socialpolitik«.490 Denn die Aufrechterhaltung der »sittlichen Ordnung« erfordere nicht nur eine »sichere Norm«, sondern auch deren Erzwingbarkeit.491 Dabei sah er die Aufgabe des Staates darin, das natürliche Recht auf Existenz zur Geltung zu bringen.492 Der Staat sei unter den gegenwärtigen Bedingungen allein in der Lage, die Arbeiter vor »Gefahren« zu schützen, denen sie selbst nicht begegnen können, da sie nicht in der Lage seien, »in genügender Weise selbst für sich einzutreten«.493 Für Biederlack (1898) verdankten »die socialen Mißstände ihr Entstehen falschen Theorien über den Ursprung und das Wesen des Rechtes, und so schließt die sociale Frage auch eine Frage des Rechts und der Rechtsphilosophie in sich.« Die Lösung der sozialen Frage sei »abhängig von der Umgestaltung des thatsächlichen oder praktischen Rechtslebens der Völker«.494 Gerechtigkeit musste für Franz Walter 1899 der »oberste Leitstern aller Socialpolitik« sein.495 In der Sozialpolitik gehe es nicht um die »eifrige Bethätigung des Wohlthätigkeitssinnes«, vielmehr sei sie »ein Kampf um und gegen die Gerechtigkeit«, so Walter 1906.496 Wenn Ewald die Entstehung des Sozialstaates als Rationalisierung betrachtet und diese als Ersetzung religiöser und moralischer durch rechtliche Bindungen definiert,497 so suchte die neuscholastische Sozialethik die religiösen gerade in den rechtlichen Bindungen und konnte keinen Gegensatz erkennen. Sie nahm damit eine Entwicklung, wie sie auch die liberale Sozialethik kennzeichnete. Denn die »Aufteilung zwischen Recht und Wohltätigkeit, zwischen Gerechtigkeit und Nächstenliebe« bezeichnet Ewald als »Hauptachse der liberalen Sicher­heitspolitik«.498 Tatsächlich bedeutete die Juridifizierung der katholischen Sozialethik nicht das Ende der Nächstenliebe. Sie verlor aber an Bedeutung.499

488 Ders.: Frage 353. 489 Hertling: Naturrecht 7. 490 Ebd. 11. 491 Ebd. 19. 492 Ebd. 52 f. 493 Ebd. 44 f. 494 Biederlack: Frage 6. 495 Walter: Socialpolitik 287. 496 Ders.: Kapitalismus 193. So auch: Ders.: Socialpolitik 294. 497 Ewald: Vorsorgestaat 486–490. 498 Ebd. 331. 499 Dies zeigt sich etwa am Bedeutungsverlust des Almosenbegriffs in den pastoraltheologischen Lehrbüchern neuscholastischer Autoren. Vgl. Lehner: Caritas 200–207.

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Ihr wurde sozialethische Bedeutung entzogen, indem sie idealisiert wurde. Sie wurde von der Pflicht zur Kür, so bei Heinrich Pesch 1897: Was dem Arbeiter von Rechts wegen gebührt, das soll ihm nicht unter dem Titel freiwilliger patronaler Liebesthätigkeit zugetheilt werden. Erst wenn der Gerechtigkeit vollkommen Genüge geleistet ist, kommt die Liebe zur richtigen Geltung. Sie ist nicht […] gleich der Gerechtigkeit das Fundament der socialen Verhältnisse, wohl aber die überall ergänzende, vollendende Kraft, die Krone aller gesellschaftlichen Beziehungen.500

Auch für Ratzinger war die Nächstenliebe in der zweiten Auflage seiner Volkswirtschaftslehre, die im Unterschied zur caritativ geprägten ersten juridischen Charakter besaß, 1895 ein unerreichbares sozialethisches Ideal: Es genügt, daß die Menschheit nach diesem Ideal ringt, um ihm immer näher und näher zu kommen. Im vorliegenden Falle liegt das Ideal in der gleichen Theilnahme aller an den Gaben Gottes; diese Ziel ist bei allen Anstrengungen unerreichbar und der Communismus oder die Theilnahme aller an allen Gütern des Lebens wird immer eine Utopie bleiben.501

Auch für Lehmkuhl, der am Primat der Gesinnungsreform am Ende des 19. Jahrhunderts festhalten wollte, war die Liebe im gleichen Jahr ein in der Welt nie zu erreichendes Ideal.502 Dabei schwankte sein Werk zwischen dem Primat der Nächstenliebe503 und demjenigen der Gerechtigkeit.504 Er löste diese Spannung, indem er die Liebe zum sozialethisch gebotenen Mittel in außerordentlicher Not machte, die Gerechtigkeit zum sozialethisch gebotenen Mittel für den Alltag.505 Die Juridifizierung der katholischen Sozialethik bedeutete gegenüber der an der Idealnorm orientierten caritativen Sozialethik also eine Veralltäglichung, eine Hinwendung zu konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Problemen. 500 Pesch: Lohnfrage 229 f. 501 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 69–71. 502 Lehmkuhl: Arbeitsvertrag 12. 503 Lehmkuhl forderte 1884 staatliche Gesetzgebung zur Behebung sozialer Probleme. »Production, Betrieb, Verkauf« könne der Staat, »wenn das öffentliche Wohl es erheischt, nicht bloß zu Gunsten der Einen erleichtern, sondern auch erschweren; er kann gewisse Seiten des Betriebes gesetzlich regeln, Rechts- und Gerechtigkeitsnormen schaffen oder aber  – wenn auch schwieriger – bestehende aufheben«. Vgl. ders.: Handwerkerfrage 122. 504 So äußerte Lehmkuhl 1892 Skepsis gegenüber der Problemlösungsfähigkeit juridischer Mittel und betonte den Primat einer Gesinnungsreform (Ders.: Noth 19 f., 22 und 44). In der Liebe sah er das »belebende Element«, »ohne welches auch in unseren Tagen alle Anstrengungen zum Rechtsschutz der nothleidenden Klassen ihren vollen und abschließenden Erfolg nicht erzielen werden« (Ebd. 63). Nicht »das starre Recht«, sondern Opfer und »persönliche Hingabe« seien zur Lösung der sozialen Frage gefordert (Ebd. 77). 505 Ebd. 18 f.: »Das Maß dieser Liebesthätigkeit bleibt zwar meist dem guten Willen anheimgestellt; die Liebe steht zu hoch, als daß sie sich in den eisernen Zwang einer unter Todsünde bindenden Pflicht einengen ließe.«

220  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Voraussetzung für den sozialethischen Gestaltungswillen der Neuscholastik war deshalb die Fähigkeit objektive soziale Strukturen zu erkennen bzw. der Wille, solche herzustellen. Die Sozialethik konnte sich deshalb von den persönlichen Beziehungen und der persönlichen Gesinnung abwenden und den sozialen Strukturen zuwenden. Liberatore forderte 1891 rechtlichen »Zwang« in der Sozialpolitik, da »die Liebe zu Gott und dem Nächsten nicht mehr die Herzen durchglüht«.506 Dabei sei den »Armen« bei »Schwäche«, d. h. in der Kindheit, bei Krankheit und Alter, durch die Errichtung von Anstalten zu helfen.507 Als Albert Maria Weiß 1883 für die Einführung der Zwangsmitgliedschaft bei den Sozialversicherungen eintrat, um die abgeschafften ständischen Korporationen zu ersetzen, sah er darin die Konkretion allgemeingültiger rechtlicher Regeln in objektivierten Strukturen: Ohne einen gesetzlichen und zwar allgemeinen Zwang in Durchführung dieser wichtigsten aller Vorkehrungsmaßregeln ist überhaupt eine Ordnung der gesellschaftlichen Zustände nicht möglich. Dieselbe aber ist so lange unmöglich, bis nicht wieder festgeschlossene gesellschaftliche Verbände hergestellt sind, an die der einzelne wirklich und ernstlich gebunden ist, und zwar nicht bloß zufällig da und dort, sondern allgemein und überall nach denselben Grundsätzen.508

Pruner, einer der ersten neuscholastischen Rechtsphilosophen, fasste die »sociale Frage« 1901 in erster Linie nicht als ein auf das Individuum bezogenes Gesinnungsproblem auf, sondern als Problem sozialer Strukturen: »Die sociale Frage ist die Frage, wie die verschiedenen Kreise der menschlichen Gesellschaft untereinander in Beziehung auf die irdischen Güter zu ordnen sind, auf daß alle in Frieden und Zufriedenheit hienieden leben und ihrem ewigen Endzwecke zustreben können.«509 Dabei identifizierte Pruner zwar die Entchristlichung und den damit einhergehenden Mangel an Liebe als eigentliche Ursache der sozialen Frage,510 auf eine Gesinnungsreform allein wollte er sich aber nicht mehr verlassen. Er forderte rechtliche Maßnahmen zur Änderung sozialer Strukturen. Er plädierte für eine Arbeiterschutzgesetzgebung, die Begrenzung der Arbeitszeiten, die Beschränkung von Frauen- und Kinderarbeit, verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten, Versicherungen für Arbeitslosigkeit, Krankheit und Unfälle, Errichtung von Arbeitsvermittlungsstellen und Vermittlung von Rechtsschutz bei Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber.511 506 Liberatore: Grundsätze 247. 507 Ebd. 248 f. 508 Weiß: Gesetze 62 f. 509 Pruner: Pastoraltheologie II 287. 510 Ebd. 288: »Ohne ein Gefühl für die christliche Liebe, nur von Selbstsucht und Eigennutz geleitet, beutet jeder die ihm sich darbietenden Mittel und Gelegenheiten, Schätze zu sammeln, aus, unbekümmert, wenn noch soviele Existenzen darüber verkommen.« 511 Ebd. 287–291.

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Die Entwürfe der juridischen Sozialethik wirkten nicht emotional stabilisierend, auf personaler Grundlage durch gemeinsame Mitgliedschaft in sozialen Verbänden (Familie, Zunft, Gemeinde). Sie wirkten funktional stabilisierend. Vertrauen wurde von lokalen Solidargemeinschaften auf transpersonale Strukturen verlagert. Dies brachte der Moraltheologe Wilhelm Karl Reischl zum Ausdruck, als er eine »Almosen-Pflicht der Begüterten« zur Behebung der sozialen Frage 1892 für »unzureichend« und »unpassend« hielt. Denn die Arbeiter seien »keine Unglücklichen, welche über ein unabwendbares Unglück getröstet, sie sind keine Bettler, welche mit Almosen abgefertigt werden können«. Es handle sich um Männer »mit der Kraft und mit dem Willen der Arbeit«. Sie verlangten keine Almosen, »sondern Lohn, nicht Erbarmen und Mitleid, sondern Recht und Gerechtigkeit«.512 Über die Nachfolge des »armen Lebens Christi« zu predigen, sei deshalb nicht ausreichend.513 Dabei hielt es Reischl geradezu für eine »Unbilligkeit der schlimmsten, weil gefährlichsten Art«, die Not der Arbeiter der »Herzlosigkeit« der einzelnen Arbeitgeber zuzuschreiben. Die soziale Frage könne »durch keine vereinzelte Kraft, und wäre sie auch die wohlwollendste«, gelöst werden. Es sei »nur allzu viel Wahres an der liberalen Rede von unerbittlichen, gleichsam natürlichen Gesetzen des industriellen Gebahrens [!]«,514 worunter er die Folgen der Mechanisierung verstand.515 Wie weit die Umorientierung von persönlichen Beziehungen auf objektivierte Strukturen gehen konnte, zeigt das Beispiel des Moraltheologen Wilhelm Hohoff. Die thomistische Lehre vom gerechten Preis war die Grundlage, auf der er zur Rezeption von Marx kam, wobei er die (abgelehnten) geschichtsphilosophischen von den (akzeptierten) volkswirtschaftlichen Aspekten trennte.516 Die juridische Sozialethik war in der Lage, Armut nicht moralisch oder religiös zu begründen, sondern strukturell. Armut verlor dadurch an Heilsrelevanz und war als Ausfluss einer menschengemachten Struktur grundsätzlich zu beheben. Der Moraltheologe Scheicher nahm 1884 die »Zeit des Kreißens einer neuen unbekannten Wirtschaftsordnung« wahr.517 Er war sich bewusst, dass »die Dinge nicht bleiben wie sie waren«, vor allem auf »sozialem Gebiete«: »Die auf- und absteigende Klassenbewegung bringt Schichten empor, taucht andere hinab, zerstört da Hoffnungen, erweckt dort solche.«518 Deshalb sei es falsch 512 Reischl: Arbeiterfrage 8. 513 Ebd. 11. 514 Ebd. 47. 515 Ebd. 57 f.: »Und daß die ›arbeitenden Classen‹ mit Allem, was sie sind und haben, trotz des niedrigen Standes, welchem sie angehören, an die für sie unbestimmbaren Wege der hohen Politik und fast an jede noch so leise Schwankung des Weltmarktes sich gekettet sehen, ist wesentlich das Ergebniß der Maschinenindustrie.« 516 Vgl. Dietz: Hohoff 10; Kreppel: Entscheidung 134–152. 517 Scheicher: Klerus 4. 518 Ebd. 1 f.

222  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv zu fordern, »daß das Volk, die Masse desselben, einzig nur den Kreuzweg zu gehen habe, auch dann, wenn es nicht sein müßte, wenn sich durch legitime Abhilfe Erleichterungen schaffen ließen«. Not sei nicht der Zweck des menschlichen Lebens. Not schade der »Sittlichkeit nicht wenig«.519 Almosenspenden sei »im Ganzen ungenügend, eine blutige Ironie«.520 Die Absicht der »Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker« bestand 1887 in der »principiellen Reorganisation der socialen Verhältnisse auf Grund der im Naturrecht gegebenen rechtlich-sittlichen Ordnung«.521 Dabei zeugte Bruder 1892 im Staatslexikon von der Erwartung einer Handlungsoptionen schaffenden Wirkung des Rechts, als er behauptete, dass es die Gerechtigkeit sei, die die »gesellschaftlichen Verhältnisse« zu ordnen habe und deshalb die »Voraussetzung anhaltender Reform der gesellschaftlichen Zustände« sei.522 Nicht mehr reaktives Erdulden, sondern proaktives Handeln war gefordert. Dies zeigte sich auch an der Frömmigkeitspraxis. Um die Jahrhundertwende handelte es sich bei den Herz-Jesu-Liedern nicht mehr um Liebeslieder zu Jesus, sondern um Texte, die zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung bezogen und zu proaktivem Eingreifen ermutigten.523 Dabei war es für Ratzinger dieses Streben nach Veränderung der sozialen Strukturen, die den Unterschied zwischen der katholischen Sozialethik und der Nationalökonomie ausmachten. Diese betrachte die »schlimmsten Auswüchse« des Wirtschaftslebens als »Resultate von Naturgesetzen«, weshalb sie »Folge nothwendiger Entwicklung« seien und wer sie »geändert wissen will, versündigt sich gegen die Natur«.524 Die richtige christliche Gesinnung war nicht mehr Bedingung für die Linderung der Not, strukturelle Eingriffe in die sozialen Strukturen sollten vielmehr die Voraussetzungen für eine Rechristianisierung der Gesellschaft darstellen. Ketteler, der zunächst Anhänger einer Gesinnungsreform gewesen war, etwa in seinen Adventspredigten von 1848 im Mainzer Dom,525 konnte sich auf der Fuldaer Bischofskonferenz 1869526 keine Besserung der sozialen Missstände mehr von einer Rechristianisierung erhoffen, da er in ihnen die Ursache für die Entchristlichung erblickte. Das Elend führe zu »unmäßigem Genuß geistiger Getränke, zur Untergrabung der Gesundheit, zu ungeregeltem Geschlechtsverkehr, zur Auflösung des Familienlebens, zur Versunkenheit des weiblichen Geschlechts, zur Vernachlässigung jeder Kindererziehung«. Eine Besserung 519 Ebd. 6. 520 Ebd. 7 f. 521 Beschlüsse, vorgelegt auf dem Amberger Katholikentag 1884. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 7–19. 522 Bruder: Gesellschaft 1232. 523 Vgl. Haag: Herzen 382–385. 524 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 121. 525 Vgl. Hanisch: Denken 318–320. 526 Zu dieser Rede vgl. Nothelle-Wildfeuer: Ketteler 642–647.

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der sozialen Zustände auf eine Gesinnungsreform zu gründen, hielt er deshalb für aussichtslos: »Es müssen zuerst Einrichtungen zur Humanisirung dieser verwilderten Massen geschafft werden, bevor man an deren Christianisirung denken kann.«527 Troeltsch wertete den Strukturalismus der neuscholastischen Sozialethik als Anpassung an die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung. Denn das Naturrecht diene dazu, die bestehenden gesellschaftlichen Zustände als natürlich wahrzunehmen und den Kapitalismus so zu rechtfertigen. Deshalb erscheine die »moderne katholische Sozialpolitik« als »ein kapitalistisch regeneriertes Programm mittelalterlich ständischen Denkens«. Allerdings wirke sie im Unterschied zur mittelalterlichen Sozialethik »bewußt reformerisch, weil die zerstörte Harmonie von Natur und Gnade nicht mehr von selbst den Ausgleich besorgt, sondern vielmehr selbst erst wieder hergestellt werden muß unter sehr viel komplizierteren und schwierigeren allgemeinen Bedingungen«. Darauf gründete Troeltsch seine Zweifel, ob die neuscholastische Sozialethik »dem Zuge der modernen Entwickelung so unbedingt entgegensteht, wie der liberale Fortschrittsglaube meint«.528 Damit übereinstimmend sieht der Wirtschaftshistoriker Clemens Bauer im scholastischen Naturrecht »eine wirksame Waffe zur Überwindung des sozialreaktionären Mediaevalismus, der eine unbefangene Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Dauer nur stören konnte«.529 Die neuscholas­tische Sozialethik habe deshalb trotz ihrer Orientierung am Mittelalter die »völlige Entromantisierung« der Sozialpolitik bewirkt.530 Daraus wird bei Stegmann und Langhorst eine bloße Anpassung an das Mögliche. Sie gliedern den katholisch-sozialethischen Diskurs des 19.  Jahrhunderts in drei Phasen. Auf eine Phase der Forderung nach bloßer Gesinnungsreform im ersten Jahrhundertdrittel folgte im zweiten die Forderung nach totaler Zuständereform antikapitalistischer Art. Da sich diese angesichts der Stärke des Kapitalismus als undurchführbar erwies, habe sich die katholische Sozialethik im letzten Jahrhundertdrittel schließlich mit partieller Zuständereform innerhalb des Rahmens der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung begnügt.531 In Übereinstimmung damit sieht Uertz den Grund für diese Entwicklung in der Entscheidung, etwa Kettelers, nicht der »idealethischen Rekonstruktion« der Neuscholastik zu folgen, sondern die Sozialpolitik als »praktisch-ethische Konstruktion« 527 Ketteler: Fürsorge 432. 528 Vgl. Troeltsch: Soziallehren 326–336. 529 Bauer: Ideenwelt 20 f. Für Schäfers: Kraft 209 indes führt die Übertragung des historisch kontingenten mittelalterlichen thomistischen Denkens in einen anderen zeitgeschichtlichen Kontext durch die Neuscholastik zu einem »erheblichen ›Plausibilitäts- und Effektivitätsverlust‹«, ohne dass er diesen allerdings konkret benennt. 530 Bauer: Ideenwelt 32. 531 Stegmann / Langhorst: Geschichte 631–665; so auch Knoll: Gedanke 70–77; Langner: Sozialethik 211; Stegmann: Katholizismus 188.

224  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv von traditionalistischen Rechtsauffassungen befreien zu wollen.532 Während für Stegmann, Langhorst und Uertz die Orientierung am Möglichen eine Abkehr von der Neuscholastik darstellt, gründet sie Felix Dirsch, katholischer Theologe und Politikwissenschaftler, gerade darin. Seiner Ansicht nach besaß die »jesuitische Sozialscholastik« eine dominierend »pragmatische Dimension«.533 Jedenfalls, so die einhellige Annahme dieser Autoren, wurde praktisches Handeln über theoretische Vernunft gestellt. Tatsächlich erlaubt die Entwicklung von Kettelers sozialethischer Argumentation eine derartige Interpretation. Ketteler plädierte 1867 noch für eine Rückkehr zur ständischen Gliederung der Gesellschaft. Er forderte Stände, »in denen das ganze politisch-sociale Leben sich bewegt, nicht in dem bloßen Geldverbande, den der Census und die Vermögenstaxation begründet«. Stände waren für ihn »naturnothwendige Verbände«, sie stellten für ihn »Natur statt Kunst, Gotteswerk statt Menschenwerk« dar.534 Zwei Jahre später, auf der Fuldaer Bischofskonferenz von 1869, hielt er eine Rückkehr zu den Ständen dann jedoch für undurchführbar. Wenn auch die »socialen Übelstände« in Deutschland noch nicht die englischen Ausmaße angenommen hätten, sei die Entwicklung dahin doch unaufhaltsam: Vielmehr muß auch in Deutschland die Centralisation des Capitals, der fabrik­mäßige Großbetrieb auf allen Gebieten mehr und mehr voranschreiten und in gleichem Maße die Auflösung des Handwerkerstandes, des Kleingewerbes befördern und die Zahl der unselbstständigen Arbeiter und der besitzlosen Masse vermehren. Wir dürfen und können nichts anderes erwarten und keine irdische Macht ist im Stande, dieser Entwickelung der Dinge Einhalt zu thun. Dieselben Ursachen müssen auch in Deutschland nothwendig dieselben Wirkungen hervorbringen.535

Deshalb sei das bestehende Wirtschaftssystem nicht »umzustoßen«, vielmehr »kommt es darauf an, es zu mildern« und die Arbeiter »an dem, was an dem System gut ist, an dessen Segnungen Antheil nehmen zu lassen«.536 Als solche mildernden Maßnahmen betrachtete er die Förderung von Selbsthilfeeinrichtungen auf genossenschaftlicher Grundlage (Konsum- und Kreditvereine) sowie von Bildungseinrichtungen, die Einführung von Sozialversicherungen und gesetzlichem Arbeiterschutz sowie die Beteiligung der Arbeiter am Unternehmensgewinn.537 Die Behauptung von der katholisch-sozialethischen Orientierung am Machbaren gründet letztlich in der Beobachtung, dass der Druck zum sozialpolitischen Handeln mit zunehmender Industrialisierung tatsächlich stieg. Zwischen 532 Uertz: Gottesrecht 161–192. 533 Dirsch: Solidarismus 281. 534 Ketteler: Deutschland 62 f. 535 Ders.: Fürsorge 433. 536 Ebd. 438. 537 Ebd. 441–448.

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1840 und 1873 erreichte die Industrialisierung ihre Durchbruchsphase. Vor allem war es der investitionsintensive Eisenbahnbau, der die Märkte in Dynamik versetzte. Das rasante Wirtschaftswachstum führte zu einem nicht weniger rasanten Anstieg der sozialen Probleme.538 Die individuelle Wohltätigkeit erwies sich mit zunehmender Industrialisierung als unfähig zur Lösung der sozialen Probleme. Und moralische Erklärungen von Not verloren angesichts ihrer ubiquitären Ausbreitung an Überzeugungskraft. Im Mittelpunkt der sozialethischen Entwürfe verschiedener Provenienz stand nicht mehr der einzelne Mensch als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, sondern die Struktur, die menschengemacht und deshalb auch veränderbar war. Die fatalistische Hinnahme elementarer Ereignisse wurde ersetzt durch die proaktive Veränderung sozialer Strukturen. Das Mitgefühl wurde anonymisiert, an Institutionen delegiert und verrechtlicht.539 Es setzte sich ein sozialethischer Wirkungszusammenhang von Juridifizierung, Objektivierung von Strukturen und Konstituierung eines proaktiven Handlungsraumes durch, dessen katholische Konkretion auf der neuscholastischen Rechtsphilosophie gründete.540 Dabei handelte es sich nicht um bloße Anpassung, sondern auch wieder  – wie in der caritativen Sozialethik  – darum, ein (soziales) Problem mit religiösem Sinn zu versehen, einem religiösen Sinn, der eben proaktive Handlungen ermöglichte, was wiederum auf die Wahrnehmung des Problems zurückwirkte. Die Entstehung des Sozialstaates machte laut Evers und Nowotny deutlich, dass sich ursprünglich ein Konflikt vollzog, bei dem auf der einen Seite die göttliche Vor­ sehung und der Schicksalsgedanke standen, in den nicht willkürlich eingegriffen werden durfte, und auf der anderen Seite die sich zunehmend säkularisierende Bereitschaft zum eigenen Handeln und der Ausdehnung des Handlungsspielraumes, der menschlicher Intervention zugänglich war.541

Die katholische Sozialethik aber musste gerade diese Ausdehnung des mensch­ lichen Handlungsspielraums bewältigen, ohne säkularisierend zu wirken. Anders hätte sie sich in eine religiöse Nische zurückziehen und auf das Reich Gottes warten müssen. Das ging aber aufgrund des gesamtgesellschaftlichen kirch­ lichen Deutungsanspruchs nicht. Deshalb musste das Reich Gottes noch warten. 538 Eine Phase der Frühindustrialisierung hatte bis etwa 1840 gedauert. Die Wirtschaft war in dieser Phase vor allem handwerklich und heimgebewerblich geblieben. Sie war geprägt gewesen von einem langsamen Wirtschaftswachstum. Vgl. Kocka: Jahrhundert 50–53. 539 Vgl. dazu Metz: Geschichte 46; ferner Evers / Nowotny: Umgang 66 und 75 f. 540 Dieser Zusammenhang zeigt sich auch bei dem konservativen protestantischen Rechtsphilosophen Friedrich Julius Stahl. Die juridische Sozialethik Stahls forderte gesetzgeberische Eingriffe. Vermögensbildung sollte durch Maßnahmen der verteilenden Gerechtigkeit ermöglicht werden. Denn sein Ziel bestand in einer möglichst breiten Vermögensverteilung. Damit stieß er bei der protestantischen Theologie allerdings kaum auf Resonanz. Vgl. Jähnichen: Verteilungsgerechtigkeit 98–100. 541 Evers / Nowotny: Umgang 36.

226  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Die religiöse Bewältigung des erweiterten menschlichen Handlungsspielraums geschah eben durch die Juridifizierung der Sozialethik. Die Frage nach Schuld bzw. Verantwortlichkeit rückte deshalb ins Zentrum des katholisch-sozialethischen Diskurses. Dies bedeutete, dass die Frage nach der Verantwortlichkeit nicht mehr auf diejenigen beschränkt war, die in der Lage zu geben waren, sondern auf die Nehmenden ausgedehnt und damit generalisiert wurde. Für den Jesuiten Costa-Rossetti war die Nationalökonomie 1888 die Wissenschaft der »Vertheilung der Güter zum Besten aller«.542 Darin bestehe die öffentliche Wohlfahrt, die mit Hilfe des Rechts herzustellen war: Die »öffentliche Wohlfahrt sei mit Unterordnung unter Gottes Gesetz und unter dem Schutze einer natürlichen und positiven Rechtsordnung anzustreben«. Dabei sollte die »staatliche Gesellschaft« derart »geordnet sein, daß es niemanden ohne seine Schuld und von unvermeidlichen Unglücksfällen abgesehen, unmöglich gemacht werde, an der öffentlichen Wohlfahrt theilzunehmen«.543 Die Generalisierung der Verantwortlichkeit bzw. letztlich Willensfreiheit durch die neuscholastische Rechtsphilosophie war von zentraler sozialethischer und damit sozialpolitischer Bedeutung. Um die soziale Frage zu beantworten, forderte der Domkapitular Heinrich aus Mainz auf dem Katholikentag des Jahres 1863 »Klarheit über die Begriffe von Glück und Freiheit und über das Verhältniß der Freiheits-Rechte zu den Pflichten«.544 Ratzinger wollte die Wirtschaftsordnung 1895 derart »umgestalten«, dass »der Einzelne aus freier Überzeugung und aus innerem Antriebe nicht bloß die Pflichten der Gerechtigkeit, sondern auch jene gesellschaftlichen Pflichten erfülle, welche Recht und Gesetz nicht erzwingen können und sollen«.545 Auch für Biederlack war die »Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung« 1898 dem freien Willen überlassen.546 Da der freie Wille aber Regeln unterworfen war, bedeutete dies nicht ein regelloses laissez-faire. Der Staat, so Biederlack, müsse Regeln auf naturrechtlicher Grundlage »determinieren und mit Rücksicht auf die Zeitumstände und die sämmtlichen Verhältnisse festsetzen«.547 Seine Aufgabe sei es, die Wirtschaft »so zu beeinflussen und zu regeln, daß das wahre öffentliche Wohl aus derselben hervorsprießt«.548 Am Beispiel von Heinrich Peschs Auseinandersetzung mit Liberalismus und Sozialismus aus den Jahren 1893 bis 1896 lässt sich der Zusammenhang von Juridifizierung, Generalisierung menschlicher Willensfreiheit durch recht-

542 Costa-Rossetti: Grundlagen 9. 543 Ebd. 18. 544 Verhandlungen der fünfzehnten Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands 271 f. 545 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 151. 546 Biederlack: Frage 96. 547 Ebd. 135. 548 Ebd. 137.

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lichen Zwang, Wahrnehmung objektiver Strukturen und Konstituierung eines proaktiven Handlungsraumes zusammenfassen. Aufgabe des Rechts sei es, »in die Entwicklung der individuellen und socialen Lebensbeziehungen Ordnung zu bringen«. Aufgabe des Staates sei es, dieses Recht zu schützen.549 Dabei dürfe sich der Staat nicht darauf beschränken, das formale Recht zu schützen. Vielmehr müsse die moralische Komponente des Rechts, die Gerechtigkeit, in den Rechtsschutz einbezogen werden. Zum Schutz des formalen Rechts müsse also die »positive Förderung des Socialwohles« treten, wobei er sich ausdrücklich Thomas anschloss.550 Der Staat dürfe sich nicht drauf beschränken, eine »auf freiem Vertrag beruhende Assecuranzgesellschaft für die Sicherheit unabhängiger Individuen« zu sein.551 Die »praktische Wohlstandssorge« gehörte als Gerechtigkeit für Pesch also zum Recht und war deshalb mit rechtlichen Mitteln durchzuführen.552 Er hielt es für eine »merkwürdige Verkennung der menschlichen Natur und zugleich der ganzen, furchtbaren Tiefe der heutigen socialen Fragen«, wenn ausschließlich »von der stärkeren Betonung der Liebe« und deshalb von der privaten Initiative eine Lösung der sozialen Frage erwartet werde. Die Liebe könne »bei dem hartnäckigen Kampfe zwischen gut und bös im gefallenen Menschen, bei der elementaren Macht der Eigensucht keineswegs als Grundlage des Gesellschaftsbaues ausreichen«. Da es wegen der zunehmenden Entchristlichung an Liebe und damit an rechter Gesinnung fehle, müsse der Staat mit seiner Gesetzgebung die Gerechtigkeit erzwingen. Die äußern Pflichten der Gerechtigkeit sind ja unabhängig von der Gesinnung dessen, welcher sie zu erfüllen hat. Sie werden normirt durch ihr Object, und dieses Object ist das Recht der andern als Individuen und als Gesamtheit.

Ohne die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung »wird auch durch die Liebe edler Unternehmer für das Wohl der ganzen Gesellschaft keineswegs in ausreichender Weise gesorgt werden können«.553 Deshalb wollte Pesch keine Opfer,554 sondern machte Vorschläge zur Zollpolitik, zur Steuerpolitik, zum Erbrecht, zum Arbeiterschutz und zur Wirtschaftsförderung.555 Der Staat dürfe aber nur subsidiär eingreifen, wo die Privatinitiative zur Erreichung des Zieles nicht ausreichte, so »daß innerhalb der für das Gemeinwohl nothwendigen Schranken volle Freiheit besteht«.556 Ziel müsse die Herstellung 549 Pesch: Liberalismus 101 f. 550 Ebd. 110–118. 551 Ebd. 458. 552 Ebd. 128. 553 Ebd. 136–139. 554 Ebd. 134: »Die christliche Auffassung ist weit davon entfernt, die Idee des Opfers zum alleinigen Princip der ökonomischen Welt zu machen.« 555 Ebd. 217–219. 556 Ebd. 449–480. Vgl. auch: Ders.: Ziele 182.

228  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv der »ökonomischen Selbständigkeit und Initiative« sein.557 Unter der Herstellung der »öffentlichen Wohlfahrt« verstand er letztlich die Herstellung »jener Bedingungen, Anstalten und Einrichtungen, durch welche allen Gliedern des Staates die Möglichkeit geboten wird, frei und selbständig ihr wahres irdisches Glück zu erreichen«.558 Wenn sich in Deutschland eine organisationslegitimierende politische Kultur durchsetzte,559 dann trägt daran die juridische Sozialethik der Neuscholastik also ihren gewichtigen Anteil. Karl Rohe unterscheidet zwischen handlungsorientierender und organisationslegitimierender Politischer Kultur. Dabei handelt es sich um eine Unterscheidung, die quer zu den politischen Ideologien von Sozialismus, Konservatismus und Liberalismus steht. Handlungsorientierende Kulturen regulieren den Verkehr zwischen individuellen und kollektiven Akteuren durch die Ausbildung von Denk- und Handlungskonventionen unmittelbar. Es wird vor allem politisches Verhalten normiert, während organisationslegitimierende Kulturen in erster Linie auf die Herstellung wünschenswerter Verhältnisse abzielen, die stärker auf stützende Weltanschauungen angewiesen sind.560

9. Der agonale Charakter der Willensfreiheit Der Zwang war einer der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden religiösen Generalisierungen Liebe und Recht. War die Liebe gerade aufgrund der fehlenden Möglichkeit des Zwangs in der caritativen Sozialethik des Vormärz noch höher bewertet worden als das Recht, so änderte sich das in der neuscholastischen Rechtsphilosophie. Das Recht wurde aufgrund seiner Erzwingbarkeit als besonders brauchbar zur Lösung sozioökonomischer Probleme betrachtet. Die Sozialethiker Joerg, Hitze und Dippel haben den letzten Schritt zur Juridifizierung noch nicht getan, wenn sie die Liebe paradoxerweise mit der Möglichkeit der Erzwingbarkeit ausstatteten.561 Für Renninger war das Recht aufgrund seiner Erzwingbarkeit 1869 aber dann die Grundlage der Gesellschaft.562 Für Meyer war die Erzwingbarkeit 1868 eine Eigenschaft des Rechts unabhängig vom Vorhandensein einer sie durchführenden Macht.563 Deshalb war für Weiß 1892 auch ein tyrannisches Gesetz bindend: 557 Ders.: Liberalismus 110–118. 558 Ders.: Ziele 5. 559 Vgl. Rohe: Politik 171 f. 560 Vgl. ders.: Kultur (1994) 12 f.; ferner: Ders.: Kultur (1990) 342 f. 561 Vgl. dazu Knoll: Kirche 126. 562 Renninger: Grundlage 12–14. 563 Meyer: Grundsätze 170: »So lange also die Erzwingbarkeit des Rechtes, wie sie es wirklich ist, als eine im innersten Wesen begründete moralische Eigenschaft und nicht als eine bloß physische Zufälligkeit aufgefasst wird, hat sie allerdings eine Beziehung zur zwingenden

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Da es aber kaum möglich ist, daß jemals ein Gesetz gegeben werden sollte, in dem nicht doch irgend eine Idee des Rechtes ausgesprochen wäre, so ist selbst gegen ein tyrannisches Gesetz nie vollständige Widersetzlichkeit erlaubt. Jedenfalls ist an ihm wenigstens das Rechtens, daß Gehorsam verlangt wird, wenn auch der Inhalt und die Art dieser Forderung ungerecht ist. Deshalb erlaubt das Gesetz Gottes nie gänzliche Aufkündigung alles Gehorsams, nie Gesetzlosigkeit.564

Für Costa-Rossetti war die Liebe in einer Schrift von 1890 zur Regelung des menschlichen Zusammenlebens aufgrund ihrer fehlenden Erzwingbarkeit anders als im caritativ-sozialethischen Diskurs ungeeignet.565 Der Staat lasse sich deshalb nicht auf Liebe gründen: Auf eine Liebespflicht, die des juridischen Charakters entbehrt und den Wunsch, dieselbe auszuüben, kann sich das vollkommene Recht zu befehlen und durch Zwang zu leiten, die Auctorität, unmöglich gründen. Niemand ist verpflichtet, sich die Liebeserweise und Wohlthaten eines Andern aufdrängen zu lassen und sie gehorsamst anzunehmen.566

Hertling stimmte ihm 1906 zu. Die Nächstenliebe diene dazu, Gegensätze, etwa zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu mildern, »ein politisches Prinzip ist sie freilich nicht« und den »staatlichen Einrichtungen kann sie nicht zugrunde gelegt werden«. Denn sie widerstrebe »dem Zwange und der Schablone«. Dort, »wo sie allein Prinzip des Gemeinschaftslebens sein sollte, stünde sie den Übergriffen des bösen Willens schutzlos gegenüber«.567 Wie zentral der Zwang in der juridischen Sozialethik war, zeigt sich daran, dass dabei sogar über Thomas von Aquin hinausgegangen wurde. Im Unterschied zur thomistischen Rechtsdefinition sah Hertling im Zwang nämlich ein Wesenselement des Rechts.568 August Maria Knoll erklärt die sozialethische Bedeutung der Erzwingbarkeit mit der äußeren Macht als einer gedachten und in der Idee geforderten, keineswegs aber als einer nothwendig thatsächlich vorhandenen. Es bedeutet sonach nichts Anderes als eine dem Rechte innewohnende moralische Befugniß, die rechtlichen Ansprüche nöthigenfalls mit Anwendung von Gewalt (selbstverständlich der zu Gebote stehenden) zu erzwingen. Stände aber zufällig gar keine Macht oder keine genügende zu Gebote, so würde dieser Umstand gleichwohl den Bestand des Rechtes selbst nicht im geringsten beeinträchtigen, ebensowenig als eine Wahrheit aufhört Wahrheit zu sein, weil zufällig die Mittel fehlen, damit in der öffentlichen Meinung durchzudringen.« 564 Weiß: Frage 184. 565 Costa-Rossetti: Staatslehre 13. 566 Ebd. 83. 567 Hertling: Recht 169. 568 Hammerstein: Entwicklung 116 f. Zur thomistischen Rechtslehre, wonach Zwang nicht Wesen, sondern Attribut des Rechts ist, vgl. Haring: Gesetzesbegriff 12 f. Trotzdem, so Ebd. 16, »ist im Rechtsgebiete der Zwang gerechtfertigt, einerseits weil er in vielen Fällen das einzige Mittel zur Erhaltung der socialen Ordnung, anderseits weil dazu, wenn auch nur in unvollkommener Weise, das äußere Factum hinreicht.«

230  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv neuscholastischen Ekklesiologie, die postulierte, dass nur im Klerus die Fülle des christlichen Lebens möglich sei und das Leben der Laien eine Kümmerform darstelle. Die neuscholastische Sozialethik sei wegen ihrer Bindung an den Klerus »in ihrer Tiefenschicht Kirchenrechtslehre«, weshalb »der Gehorsam über die Liebe gestellt« werde.569 In der Überbetonung des Zwangs durch die Neuscholastik äußert sich aber letztlich auch die Zunahme von Misstrauen. Der Sicherheitssoziologe Kaufmann weist darauf hin, dass die Verrechtlichung von Konflikten die Folge des Zusammenbruchs personaler und auf Vertrauen basierender Kommunikation darstellt. Vertrauen und Kooperationsorientierung werden durch »kalkuliertes Mißtrauen« ersetzt.570 Im Unterschied zur caritativen Sozialethik setzte die juridische Sozialethik den anthropologischen Akzent nicht auf den bereits im Diesseits am Reich Gottes teilhabenden Menschen, sondern den in der Immanenz zur Vervollkommnung unfähigen Menschen. Buß führte die soziale Bedeutung des Rechts 1850 auf die Erbsünde zurück. Ohne Sündenfall hätte es »kein Recht, weil kein Unrecht, sondern nur eine göttliche Gerechtigkeit als ewige Norm für den freien Willen der Menschen« gegeben: »Recht und Staat sind Werke der Sünde.«571 Für Pruner war es 1857 das Recht, das den durch die Erbsünde zum Bösen geneigten Menschen durch seine Erzwingbarkeit zu Gott führen konnte. Für Gott sei das Recht deshalb »das erste Band, an welchem er den Menschen wieder an sich zog«. Das Recht sei »der Anfang der Erlösung, welche dann am Ende dahin führt, daß der Mensch den höchsten Gebrauch jenes Rechtes machen lernt, nämlich in vollendeter Liebe aller Ausübung desselben zu entsagen«.572 Aber erst am Ende! Foucault führt aus, dass juristisches Denken stets negatives Denken und eine negative Technik sei, da es dabei um Verbote geht.573 Die der Juridifizierung inhärente Betonung der Sündhaftigkeit habe nach Altermatt zu einer im Jahrhundert zwischen 1850 und 1950 dominierenden »Theologie der Angst und Schuld« geführt.574 Die neuscholastische Verkündigungslogik sei »heilspessimistisch« gewesen, so der katholische Theologe und Sozialwissenschaftler Andreas Heller.575 Auch der Jurist Gerhard Hammerstein betrachtet die Betonung der Erbsünde in der Verkündigung seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts als Ausdruck einer pessimistischen Perspektive auf die Welt.576 Bei der Analyse der Antrittshirtenbriefe der ersten Generation der Germanikerbischöfe (darunter der Bischof 569 Knoll: Kirche 35 f. 570 Kaufmann: Rechtsgefühl 189 f. 571 Cortés / Buß: Politik 79 f. 572 Pruner: Lehre I 13. 573 Foucault: Geschichte 75. 574 Altermatt: Katholizismus (1991) 176. 575 Heller: Hölle 45. 576 Hammerstein: Entwicklung 74 f.

Der agonale Charakter der Willensfreiheit  231

von Eichstätt und Erzbischof von München und Freising Karl August Graf von Reisach, 1800–1869, der Bischof von Regensburg Senestrey und der Bischof von Eichstätt Franz Leopold von Leonrod, 1827–1905) stellt der Pastoraltheologe Martin Leitgöb eine pessimistische und angstbesetzte Grundstimmung fest.577 Den frühen Neuscholastiker Kleutgen kennzeichnete nach Aussage seines Biographen Konrad Deufel ein »grenzenloser Pessimismus«.578 Der Kulturhistoriker Thomas Mergel führt diesen Pessimismus sozialgeschichtlich darauf zurück, dass sich der Ultramontanismus auf die kleinbürgerlichen, bäuerlichen und proletarischen Verlierer im ökonomischen Modernisierungsprozess stützte.579 Der Historiker Matthias Klug erklärt den katholischen Pessimismus als »Reflex der Empfindung, gegen den übermächtigen Strom der Zeit schwimmen zu müssen«. Deshalb entspringe der Pessimismus einer Frustration aufgrund von überzogenen Hoffnungen und Ansprüchen.580 Lönne führt die pessimistische Anthropologie des Ultramontanismus auf eine Krise des ganzheitlichen kirchlichen Deutungsanspruches aufgrund der funktionalen Differenzierung zurück.581 Pessimismus war für Norbert Busch neben Ablehnung der Moderne und Defensivität eine der drei Verhaltensdispositionen der Katholiken im 19. Jahrhundert als Antwort auf die politischen und sozialen Krisenerfahrungen und die Infragestellung des kirchlichen Sinnstiftungsmonopols.582 Der Arzt Stöhr hatte diese Diagnose bereits 1887 in seinem Handbuch der Pastoralmedizin getroffen: Jenes schöne otium cum dignitate, das so ganz dazu angethan war, um alt zu werden und jung zu bleiben, jener Comfort des Hauses und der äußeren Lebensbedingungen, wie Sicherheit und Reichlichkeit des Besitzes ihn ermöglichen, jener Friede und jene Heiterkeit des Gemüthes, diese nothwendigsten Erfordernisse der Makrobiotik – sie drohen allmählich ganz verloren zu gehen. Die Aufregung der Polemik, die Unsicherheit der von Tag zu Tag mehr gefährdeten Existenz, das Niederdrückende der sich in rascher Progression häufenden Kränkung, die erschütternde Beobachtung des Abfalls und der Ekel vor der überhandnehmenden sittlichen Verkommenheit, das sind schlimme Nager an dem Lebensmarke unserer Priester.583

Der Pessimismus galt also schon den Zeitgenossen als Kennzeichen der Ultramontanen, so auch dem reformkatholischen Theologen Hermann Schell (1850– 1906).584 Die Wahrnehmung des Ultramontanismus als pessimistisch gründet 577 Leitgöb: Seelenhirten 66–108. 578 Deufel: Kirche 92. 579 Mergel: Klasse 315. 580 Klug: Rückwendung 396. 581 Lönne: Katholizismus 31–40. 582 Busch: Frömmigkeit 303–309. 583 Stöhr: Handbuch 24 f. 584 Vgl. Busch: Frömmigkeit 303–309.

232  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv in Texten, wie sie etwa der Moraltheologe Wilhelm Schneider verfasste. Für ihn war es 1882 »nicht Zufall, dass die hl. Schrift mehr Androhungen der Hölle, als Verheissungen des Himmels enthält«. Angesichts der moralisch »hinfälligen und gebrechlichen« Menschen war er überzeugt, »dass die Angst vor der Hölle mehr Menschen vor der Hölle bewahrt hat, als die Aussicht auf den Himmel. Die Furcht ist zwar nicht der schönste Beweggrund der Tugend, der allgemeinste aber ist er dennoch und für viele auch in kritischen Augenblicken der mächtigste.«585 Aber nicht nur die Menschen, die gesamte immanente Natur war von Gott abgefallen, wie es Schneider 1896 zum Ausdruck brachte: Die Natur ist ein Buch Gottes, dasselbe aber hat zu viele dunkle Blätter; sie ist ein Bild Gottes, aber nicht der würdige Abdruck seines liebreichen Antlitzes; sie ist ein Spiegel Gottes, dieser aber ist nicht fleckenlos und klar, sondern mit einem Hauche überzogen; sie zeigt uns Gott, wie durch einen Schleier oder Vorhang verhüllt.

In der Natur herrsche deshalb »Mißklang und Störung«, sie verbreite »Angst und Entsetzen« sowie »Jammer und Not«. Sie trage »das Gepräge des Schmerzes, des Todes und der Verwesung«. Das »Toben und Tosen ihrer Elemente scheint anzuzeigen, daß sie krank ist und leidet«. Der »Leibnizsche Optimismus« werde dadurch »alle Tage Lügen gestraft«.586 Nach Norbert Elias stellt aber dieser Pessimismus kein katholisches Spezifikum dar. Die funktionale Differenzierung sei von zunehmender Rationalisierung und daher von einer Abnahme der Furcht der Menschen voreinander begleitet. Gleichzeitig führe die Steigerung gesellschaftlicher Zwänge aber zu einer Zunahme der verinnerlichten Ängste.587 Auch der Kirchenhistoriker Christoph Weber weist darauf hin, dass der Pessimismus nicht spezifisch katholisch war. Er erscheine überall, wo die Gegenwart als defizitär wahrgenommen wurde, weshalb eine ferne Epoche als Vorbild gewählt wurde, was sich in ideologischen Legitimationen und historistischen Konkretionen in der Kunst zeige.588 Dabei ist es in dogmatischer Hinsicht nicht gerechtfertigt, im Zusammenhang mit der katholischen Erbsündenlehre von pessimistischer Anthropologie zu sprechen. Im Unterschied zum protestantischen Verständnis wurde die Gottesebenbildlichkeit des Menschen durch den Sündenfall nicht zerstört, sondern nur beschädigt. Es war gerade dieser Defekt, diese Unvollkommenheit, aus dem menschlicher Handlungsraum entstand. Denn dadurch bestand Willensfreiheit. Dies wird bereits an der Kritik von Buß an Donoso Cortés aus dem Jahr 1850 deutlich. Dieser hatte in der spanischen Deputiertenkammer pessimistisch über den menschlichen Handlungsspielraum geurteilt: 585 Schneider: Geisterglaube 219 f. 586 Ders.: Leben 337. 587 Elias: Prozeß 455–459. 588 Weber: Ultramontanismus 34.

Der agonale Charakter der Willensfreiheit  233

Meine Herren, wo ein einziger Mensch genügen würde, um die Gesellschaft zu retten, da besteht dieser Mensch nicht, oder auch, wenn er besteht, zerläßt Gott für ihn ein wenig Gift in die Lüfte. Dagegen, wenn ein Mensch allein die Gesellschaft verderben kann, so stellt dieser Mensch sich ein, dieser Mensch wird von den Nationen auf den Händen getragen, dieser Mensch findet alle Wege geebnet.589

In seiner Antwort wies Buß auf die katholische Erbsündenlehre hin und warf ­Cortés protestantischen Fatalismus vor. Stattdessen rief Buß zur sozialen Aktivität auf: Denn wenn die Partei des Bösen auch nicht die Mehrheit der Menschen, wohl aber die Mehrheit der in politischen Dingen thätigen und sonach entscheidenden Menschen ist, so muß man den Muth der kleinen Minderheit nicht noch schwächen, sondern aus allen Kräften stärken.590

Dabei war Buß aber auch kein Optimist. In der Auseinandersetzung mit dem katholischen Philosophen und Sozialethiker Joseph Marie Gérando (1772–1842) behauptete Buß nämlich, »nicht so glücklich« zu sein, »den schönen Quietismus und die tröstende Heiterkeit des edeln Hrn. Verfassers über die Gefahr des Pauperismus zu theilen«.591 Die Betonung der Erbsündenlehre in ihrer katholischen Form durch die juridifizierte Theologie der Neuscholastik überwand den im Gnadendispositiv herrschenden Heilsoptimismus, war aber nicht pessimistisch, sondern agonal. Nur in dieser Agonalität lässt sich der Widerspruch zwischen der Vorliebe für juristischen Zwang und der Betonung der Willensfreiheit in der neuscholastischen Sozialethik auflösen. Dies lässt sich an der Bewertung der Arbeit durch die neuscholastische Moraltheologie aufzeigen. Arbeit war nach katholischem Verständnis als Folge der Sünde einerseits Strafe, andererseits Mittel zum Heil.592 Westermayer forderte 1847 dazu auf, die Arbeit nicht zum Gelderwerb zu erledigen, sondern als Opfer anzunehmen und als Pflicht zu erfüllen: Wenn ihr nun dieses euer Kreuz gerne tragt, es dem Herrn nachtragt, nicht deßhalb schanzt und euch abmühet, um brav Geld zu erwerben, sondern vor Allem, um eure Schuldigkeit zu thun, um die Pflichten eures Standes, die euch Gott auferlegt, in den er euch gesetzt hat, zu erfüllen: dann, liebe Landleute, habt ihr euer Kreuz getragen, recht getragen […].593

Linsenmann ging 1878 auf den Doppelcharakter der Arbeit ein: »Für den gefallenen Menschen ist die Arbeit Buße mit dem Charakter der Pein; für den erlösten 589 Cortés / Buß: Politik 53–74, hier 61. 590 Ebd. 77 f. 591 Buß: System I XXXIX . 592 Zur katholischen Arbeitsethik vgl. Mooser: Beruf 124–142. 593 Westermayer: Bauernpredigten I/I 7.

234  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv ist sie Buße mit dem Charakter der Sühne und Erlösung. Es ist ein Theil des Opferlebens des Erlösers, daß er als des Zimmermanns Sohn auf Erden erschien.«594 Die Arbeit sei eine Folge der Sünde, so Stöckl 1879. Deshalb hasse der »natürliche Mensch« die Arbeit und könne nur durch Zwang und Not dazu bewogen werden. Deshalb sei die Arbeit in der Antike verachtet worden. Erst durch Christus, den Sohn eines Zimmermanns, habe die Arbeit eine »natürliche Weihe« bekommen. Das Christentum habe »den Fluch von der Arbeit genommen«, den Charakter der Strafe in den Charakter des Opfers umgewandelt. Denn das Opfer sei der »Mittelpunkt nicht blos des christlichen Cultus, sondern auch des gesammten christlichen Lebens«. Der Arbeiter müsse wissen, »daß er mit seiner Arbeit, möge sie vor den Augen der Welt noch so verächtlich und niedrig erscheinen, Gott dem Allerhöchsten ein Opfer bringt, und zwar ein um so größeres, je schwerer, je anstrengender, je weniger zusagend seiner sinnlichen Natur die Arbeit ist.« Arbeit sei deshalb ein »Akt der Gottesverehrung« und besitze durch den Opfercharakter Heilsrelevanz.595 Anlässlich der Veröffentlichung der Sozialenzyklika »Rerum novarum« betonte Senestrey am 25. Dezember 1891, »daß Arbeit allerdings eine Last ist, aber als Folge und Strafe der Sünde; daß auch den Christen Leiden auf Erden nicht erlassen, sondern nach dem Beispiele des Heilandes zu tragen sind«.596 Die juridische Moraltheologie war von Pessimismus gleich weit entfernt wie von Optimismus. Dabei lehnte sie das Streben nach Sicherheit, die sich nicht nur aus einer optimistischen, sondern auch einer pessimistischen Perspektive ergeben konnte, als fatalistisch ab. Im Jahr 1847 kritisierten die Historisch-politischen Blätter den trügerischen Fortschrittsoptimismus der Liberalen. Diese »falsche Sicherheit« sei »die Erbsünde Aller, die sich im ungestörten Besitze wissen oder wähnen«.597 Tatsächlich produzierten im Gnadendispositiv sowohl Optimismus als auch Pessimismus Sicherheit und wirkten deshalb fatalistisch. DeMaistre und Cortés gründeten ihr pessimistisches Weltbild auf die Negierung der Willensfreiheit.598 Bei Lamennais war diese Negierung der Grund für ein optimistisches Weltbild.599 Auch der Katholik gab sich 1852 noch optimistisch der göttlichen Vorsehung anheim: Darum dürfen wir wohl getrost in die Zukunft sehen und sicher erwarten, daß die sich erhebenden Anfeindungen und Drangsale, weit entfernt die Entwickelung der kirchlichen Freiheit nach Außen und des kirchlichen Lebens im Innern zu hemmen, beide vielmehr mächtig fördern werden.600 594 Linsenmann: Lehrbuch 285 f. 595 Stöckl, Albert: Das Christenthum und die Arbeit. In: Ders.: Fragen I 169–201. 596 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1891 (25.12.1891). 597 Historisch-politische Blätter 19 (1847) 755 f. 598 Vgl. Uertz: Gottesrecht 88. 599 Vgl. Ebd. 92; Valerius: Katholizismus 359. 600 Die Zeitlage. In: Der Katholik 6 (1852) 231–237, hier 237.

Der agonale Charakter der Willensfreiheit  235

Und 1854 wollte er mit Zuversicht von Gott hoffen, der nach seiner Weisheit und Güte auf die Zeit der Dürre fruchtbaren Regen folgen läßt, daß die katholische Wissenschaft, durch alle Gefahren und Verirrungen der Erstlingsversuche sicher hindurch, unaufhaltsam wieder zu jener Kraft und Universalität fortschreiten werde.601

Der noch mehr caritativ als juridisch argumentierende Kolping wandte sich 1851 gegen pessimistischen Fatalismus,602 um sich einem optimistischen zuzuwenden. Er plädierte für optimistische Sorglosigkeit angesichts der göttlichen Vorsehung.603 Als sein Antrag auf die Korporationsrechte für die Gesellenvereine von der preußischen Regierung abgelehnt wurde, tröstete er sich 1855: Aber auch so nicht ohne besondere Anordnung Gottes; deßhalb trösten wir uns mit dem Gedanken, daß unser Herrgott, sind wir’s anders werth, selbst für die Zukunft des Gesellen-Vereins und Hospitiums sorgen wird, vielleicht besser, als wir Menschen mit aller unserer Vorsorge es verstehen. Daß der katholische Gesellen-Verein sich in Leid, Mühsal und Anfechtung mancherlei Art durchbringen muß, ist auch ein katholisches Zeichen, das nur unsern Muth und unsere freudige Thätigkeit erhöhen und anspornen soll.604

Als später Vertreter der caritativen Sozialethik vertrat der Historiker Johann Nepomuk Sepp (1816–1909) auf dem Katholikentag von 1869 einen optimistischen Fatalismus. In der Erwartung einer »socialen Revolution, welche die gesammten gesellschaftlichen Zustände umzuwälzen droht, welche allem festen Besitz den Krieg erklärt hat«, sah er »viel Gespenster-Seherei«. Nur der Untüchtige, »sinkt zum Proletariat herunter, das wir ja in allen Ständen haben«. Die christliche Caritas mit Kinderbewahranstalten, Krankenhäusern und karitativen Vereinen 601 Vorurtheile und Thatsachen. In: Der Katholik 10 (1854) 1–16, hier 10. 602 Kolping, Adolph: Am Neujahrstage. In: Adolph-Kolping-Schriften III 127–130, hier 128: »Mit dem faulen Motto: Die Welt ist verdorben und schlecht, also muß man sie im Stich lassen, also ist jede Mühe vergeblich, legt man nicht allein seine elende Faulheit, die sich damit decken will, sondern nicht minder seine Unwissenheit von der nächsten Umgebung an den Tag. Wenn die Welt so schlecht wäre, wie manche glauben, würdet ihr Gemächlichen nicht so gemächlich sitzengelassen wie heute noch. Die Menschen sind überhaupt nicht so schlecht, als man sie sich gern vormacht.« 603 Ders.: Die »kleinen Schwestern der Armen« zu Bordeaux. In: Adolph-Kolping-Schriften III 130–132, hier 132: »Wenn Mietzins bezahlt werden muß, sorgt die Vorsehung durch ihre Helfer in Bordeaux schon für die Armen. Auch hat man bisweilen Geduld, wenn die ›kleinen Schwestern‹ nach Ablauf des Vierteljahres nicht gleich mit dem Gelde bei der Hand sind. ›Was sollen wir uns große Kümmernis machen‹, bemerkte vor einigen Tagen einem Besucher des Hauses die vortreffliche Leiterin desselben, ›unsere Armen gehören der Vorsehung, sie ist ihre Mutter, sie lenkt die Anstalt. Muß sie nicht ihren Kindern zu Hilfe kommen?‹« 604 Zit. nach Kolping’s periodische Schriften. In: Historisch-politische Blätter 36 (1855) 1030–1034, hier 1031.

236  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv sei ausreichend. Eine Änderung der gesellschaftlichen Strukturen lehnte er ab.605 Der Katholikentag folgte Sepp nicht. Erstmals wurde eine eigene Abteilung zur Diskussion der sozialen Frage gebildet.606 Ihre Aufgabe bestand im Entwurf von Maßnahmen zur Reform der Zustände, zur materiellen Besserstellung der Arbeiter.607 Die Initiative von Sepp wurde abgelehnt, eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen sollte proaktiv herbeigeführt werden. Es sollte für sie gekämpft werden. Unmittelbar vor der Errichtung der Abteilung sprach der Kölner Weihbischof Johann Anton Friedrich Baudri (1804–1893) über die »Kämpfe und Gefahren«, die der Kirche drohen und die »uns dringend zu einem festen Zusammengehen« auffordern.608 Das fatalistische, caritative und reaktive Gnadendispositiv wurde durch ein agonales, juridisches und proaktives Exorzismusdispositiv ersetzt. Es forderte den Kampf gegen das Böse und qualifizierte diesen entsprechend seines juridischen Charakters im Dual von Strafe und Belohnung. Aufgabe der Sozialethik war es im Exorzismusdispositiv, günstige Bedingungen für diesen Kampf der Willensfreiheit durch proaktive, auf rechtlichem Zwang basierende Eingriffe in die sozialen und ökonomischen Strukturen herzustellen. Biederlack bezeichnete die Rechristianisierung der Gesellschaft deshalb 1898 als völlig unzureichend für die Lösung der sozialen Frage. Diese Annahme – von Biederlack als »katholischer Liberalismus« bezeichnet – gebe »sich einem verhängnisvollen Optimismus hin bezüglich dessen, was durch die freie Thätigkeit der Menschen sich erreichen läßt«.609 Dazu bestehe kein Grund. Denn seit der Erbsünde seien die Menschen »eher zum Bösen als zum Guten geneigt«. Diese Tatsache werde »durch die tägliche Erfahrung anerkannt und namentlich wurde sie durch die Entwickelung, welche die socialen Verhältnisse seit der Einführung des Liberalismus genommen haben, nachdrücklichst bestätigt«.610 Während sich der Liberalismus einer »optimistischen, unchristlichen, unwahren Anschauung über die thatsächliche sittliche Anlage des Menschen« hingegeben habe, müsse der Staat nicht nur kriminelles Handeln verfolgen, sondern über den bloßen Rechtsschutz hinaus aktiv in das Wirtschaftsleben eingreifen: »Wenn der Staat sich mit den nothdürftigsten Gesetzen zur Verhütung von Diebstahl und Betrügereien begnügt und sich weiter um die Erwerbsthätigkeit seiner Unterthanen nicht kümmert, so gibt er damit die etwas mehr verborgenen Arten unredlichen Vorgehens ganz frei.«611

605 Verhandlungen der zwanzigsten General-Versammlung der katholischen Vereine Deutschlands 63–74. 606 Ebd. 52. 607 Ebd. 156–164. 608 Ebd. 24 f. 609 Biederlack: Frage 27. 610 Ebd. 42. 611 Ebd. 44 f.

Der agonale Charakter der Willensfreiheit  237

Im Interesse der Selbsterhaltung müsse der Staat »innere Krisen und Störungen« durch eine »Förderung des allgemeinen Wohles vermittelst besonderer Anstalten und Einrichtungen« steuern.612 Die soziale Frage rühre aus der Vernachlässigung jener »Factoren, welche ordnend und regelnd in die Volkswirthschaft einzugreifen haben«, und zwar zugunsten der »Willkür der Einzelnen«.613 Statt sich auf »Volksbelehrung« zu beschränken, müsse der Staat mit Gesetzen die »Widerspänstigen« dazu bringen, das wahre öffentliche Wohl nicht nur nicht zu schädigen, sondern es auch zu fördern. Auch aus dem Grunde genügt die Verbreitung gesunder Rechts-, Sittlichkeits- und Wirtschaftsgrundsätze allein nicht, da diese nothwendig mehr allgemeiner Natur sind und nicht Jedermann die Fähigkeit besitzt, sie richtig und zweckmäßig anzuwenden. Die staatlichen Vorschriften müssen deshalb, von allgemeinen Grundsätzen ausgehend, so abgefaßt sein, daß ihre Anwendung leicht und sicher geschehen kann.614

Damit halte die katholische Sozialethik »die goldene Mitte ein zwischen dem Optimismus Rousseau’s [1712–1778], dem die liberale Schule folgte, und dem Pessimismus Luthers«.615 Damit übereinstimmend warnte Grupp 1891 vor dem liberalen und vor dem sozialistischen Optimismus gleichermaßen: Die modernen Freiheitsbestrebungen beruhen vielfach auf falschen Voraussetzungen und müssen daher üble Folgen haben. Sie legen die liberal humane Ansicht zu Grunde, daß der Mensch von Natur gut sei und das Wahre, Gute und Schöne von selbst finde. Man verschließt die Augen vor dem Irrthum und dem Laster und gibt sich optimistischen Täuschungen über die Menschen hin.

Der »Edelsinn des armen gedrückten Volkes«, die »Schönheit und Größe unverfälschter Natur« seien Erfindungen. Es sei ein Irrtum, dass das Elend nur »durch Verkümmerung, Unterdrückung und Ausnützung der edlen Kräfte« entstehe. Vielmehr müsse die Freiheit »mit Schranken der Ordnung umgeben sein und muß selbst dem Zwange und der Zucht entsteigen«.616 Gerade dann sei »Aussicht auf eine bessere Zukunft« in materieller Hinsicht möglich. Aber dieser Fortschritt habe »nur für die betreffende Person oder Generation, die sich von diesem Streben beseelt fühlt, subjektiven Wert. Der Fortschritt bezieht sich für die Geschichte nur auf diejenigen Kulturgüter, welche der äußern Vermehrung und Vervollkommnung fähig sind und eine Vermehrung des Wohles ist nur für

612 Ebd. 111. 613 Ebd. 117. 614 Ebd.184 f. 615 Ebd. 42. 616 Grupp: Ideen 100.

238  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv den einzelnen oder höchstens für sein Geschlecht in gewissem Umfange möglich.« Der Fortschritt berühre nur die Form, nicht das Wesen des Lebens.617 Aus dem Kampf gegen das Böse ergab sich im Exorzismusdispositiv also nicht nur die Hoffnung auf eine sittliche, sondern auch materielle Besserung. Soziale Ungerechtigkeit war Folge der Sünde. Aus der Sünde, so das »Homiletische Real-Lexicon« 1862, »floßen und fließen wie aus einer unversiegbaren Quelle alle anderen Übel, die den Menschen auf Erden beschweren, alle Mühseligkeiten, Noth und Tod«.618 Für Ketteler, der ausdrücklich nicht als Pessimist bezeichnet werden wollte, war materieller Fortschritt 1867 aus dem Kampf gegen das Böse möglich. Die menschlichen Handlungen, die mit dem göttlichen Willen übereinstimmen, rege Gott an und leite sie. Diejenigen Handlungen, die dem göttlichen Willen widersprechen, lasse er zu oder verhindere sie: Er läßt sie zu, insoweit es nöthig ist, damit die Freiheit des Menschen eine Wahrheit sei oder insoweit das Böse zur Vollstreckung seiner Gerichte und zur Förderung seiner Menschen- und Weltleitung dienen kann; er verhindert sie, wenn sie seiner letzten und höchsten Absicht in der göttlichen Weltleitung im Wege stehen würden.

Deshalb gebe es keine Tat, »die absolut und in jeder Beziehung verderblich« sei. Dies sei das Wirken der göttlichen Liebe, »die das, was sie nicht hindern kann, ohne im Menschen sein höchstes Gut, seine Gottebenbildlichkeit, seine Freiheit zu vernichten, zu Werkzeugen ihrer Erbarmung umgestaltet«. Er warnte davor, »mürrisch, wehklagend und träge den Zeitereignissen« gegenüberzustehen. Deshalb rief er dazu auf: Mit dieser freudigen Zuversicht sollen wir Christen allen Neugestaltungen in der Welt muthig entgegengehen; dadurch werden wir vor jenem Pessimismus bewahrt, vor jener traurigen und jede gute Thatkraft lähmenden Weltanschauung, die immer glaubt, es sei mit der Welt zu Ende, wenn Gott sie nicht nach unsern kurzsichtigen, menschlichen Ansichten leitet.619

Und 1872 sprachen sich die Historisch-politischen Blätter gegen Pessimismus aus: »Der endlose Jammer über die traurigen Zeiten, welchem man vielfach in katholischen Reden, Preßorganen und Vereinen begegnet, ist ein entschuldbarer Fehler, bleibt aber nichtsdestoweniger ein Fehler.« Denn »unsere gerade so wie jede Zeit« werde von der göttlichen Vorsehung zur »Erziehung« der Menschen benützt. Man solle deshalb »nicht die Zeit, in welcher man zu leben und zu wirken hat und deren Kind man selber gleichfalls ist, unbedingt verurtheilen, sondern in allen Dingen mit Maß und Besonnenheit unterscheiden.« Pessimistisch seien nur »einzelne schwächliche Seelen«, die »den Untergang der Welt für 617 Ebd. 160 f. 618 Krönes: Real-Lexicon XII 85–94. 619 Ketteler: Deutschland 8 f.

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nothwendig und unvermeidlich halten, wenn ihre noch so berechtigten Wünsche nicht innerhalb bestimmter Frist in Erfüllung gehen«. Es wurde deshalb geraten: Zeit und Zeitgenossen ohne alle Verdammungssucht und ohne alle Heulmaierei betrachten und beurtheilen, das in der Gegenwart vorhandene Gute anerkennen, die Vorzüge früherer Zeiten nicht übertreiben und sich vor Allem stets der wahren und eigentlichen Sünde der Teufel enthalten, welche nach dem Ausspruche des Cervantes [Miguel de, spanischer Schriftsteller, 1547–1616] die Verzweiflung ist.620

Die Sozialenzyklika »Rerum novarum« war für Senestrey »entfernt von Pessimismus«, vielmehr biete sie einen »tröstlichen Ausblick in die Zukunft«, da sie die sozialpolitischen Maßnahmen lobe und an die »vollständige Besserung und Umwandlung der socialen Verhältnisse in den ersten christlichen Jahrhunderten« erinnere.621 Das agonale Exorzismusdispositiv eröffnete Handlungsmöglichkeiten und führte zur Ablehnung des Pessimismus, ohne freilich optimistisch sein zu wollen. Das ist es, was Leitgöb eigentlich feststellt, wenn er behauptet, dass eine pessimistische Grundstimmung in der zweiten Generation der Germanikerbischöfe zwischen der Endphase des Kulturkampfes und dem Ersten Weltkrieg zwar immer noch vorherrschte, allerdings abgeschwächt.622 Es war also nicht nur spezifisch für den antiultramontanen Reformkatholizismus, was Ehrhard 1902 deutlich machte: So ernst aber die heutige Lage des Katholizismus auch sei, verzagen ist nicht christlich noch katholisch! Zu froher Hoffnung auf eine bessere Zukunft berechtigen uns sowohl die Erfolge der Vergangenheit als die Arbeiten der Gegenwart. Frohe Hoffnung und unwandelbare Zuversicht gießt aber vor allem Derjenige in unser Herz, der jedem unter uns das Wort wiederholt, das er am Vorabend seines Leidensganges zu seinen Aposteln sprach: ›In der Welt werdet ihr Bedrängnis haben; aber vertrauet, ich habe die Welt besiegt‹ (Joh. 16, 33)!623

Es war nicht nur Gottvertrauen, was Ehrhard zu einer optimistischen Zukunftssicht veranlasste, sondern auch die menschlichen Erfolge im vergangenen Kampf.

620 Historisch-politische Blätter 1872/2 47 f. 621 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1891 (25.12.1891). 622 Leitgöb: Seelenhirten 114–156. 623 Ehrhard: Katholizismus 435.

240  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv

10. Gefahr als soziales Problem Für Luhmann drückt die Betonung der Willensfreiheit die Wahrnehmung der Welt als unsicheren Ort aus. Nach Luhmann ist der freie Wille eine der Chiffren, die an der »Transformationsstelle vom Unbestimmbaren zum Bestimmbaren« eingesetzt werden. Wenn Religion an dieser Stelle von (reaktivem) Gedächtnis auf (proaktiven) Willen umstellt, tritt Unsicherheit an die Stelle von Sicherheit bei der Kommunikation des religiösen Systems mit seiner Umwelt.624 Die Generalisierung der Willensfreiheit stand deshalb in Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Welt als unsicherer Ort, was letztlich auch eine Verdrängung Gottes bedeutete. Denn die Generalisierung der Willensfreiheit bedeutete, dass die Welt nicht mehr als Ort der göttlichen Identität von größter Unsicherheit und größter Sicherheit wahrgenommen wurde, wie im Gnadendispositiv, sondern als Ort menschlich verursachter Gefahr und ihrer menschlichen Bewältigung durch die Transformation von Gefahren in Risiken. Zunächst aber zur Wahrnehmung der sozialen Frage als Gefahr. Die Betrachtung der sozialen Frage als eine menschlich verursachte Gefahr zeigte sich bereits, als Buß 1837 die erste sozialpolitische Rede in einem deutschen Parlament überhaupt hielt.625 Buß stellte einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der sozialen Frage als Problem existentieller Sicherheit und der Forderung nach strukturellen Eingriffen mit juristischen Mitteln als Zukunftsprojektion her. Für die wachsende Unsicherheit in wirtschaftlicher, politischer und sittlicher Hinsicht machte er die Industrialisierung verantwortlich. Er erkannte zwar die gesteigerte Warenmenge, die Verbilligung der Waren und die Beschäftigungsmöglichkeiten als Vorzüge des industrialisierten Produktionsprozesses an.626 Aber er gab zu bedenken, dass die Mechanisierung zur »Gefahr einer relativen Arbeitslosigkeit« führe und daher »im allgemeinen eine ökonomische Unsicherheit für den Fabrikarbeiter« bedeute. Verstärkt werde diese Gefahr durch die »Verkettung mit dem Schicksale des Herrn« – d. h. des Fabrikherrn und nicht mehr des göttlichen Herrn – und den beschleunigten technologischen Fortschritt, weshalb er klagend anfügte: »Eine Sicherheit läßt sich hier aber gar nicht geben.« Das Versicherungswesen habe sich »dieses Gebietes der Ungewiß 624 Luhmann: Religion 127 f. 625 Zur so genannten Fabrikrede von Buß vgl. Dorneich: Buß 70–83; Schäfers: Kraft 3­ 44–356; Stegmann / Langhorst: Geschichte 625 f. – Die juridische Sozialethik der Neuscholastik stellte allerdings einen Neubeginn dar. Buß und Baader, die bereits im Vormärz auf rechtliche Regelungen gedrängt hatten, waren bereits vergessen. Es gab keine Traditionslinie zwischen ihnen und der juridischen Sozialethik des späten 19. Jahrhunderts. Vgl. Schatz: Säkularisation 144 und 147 f. 626 Wortlaut der Rede des Abgeordneten Buß vom 25. April 1837 über das soziale Problem. In: Retzbach: Buß 48–85, hier 53 f.

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heit« noch nicht bemächtigt. Es hänge »alles von der geistigen und sittlichen Individualität« der Unternehmer ab sowie von politischen und ökonomischen Bedingungen, »die außer der Berechnung und Verfügung liegen«. Die vom industrialisierten Produktionsprozess bewirkte Labilität der Wirtschaft setze Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen konjunkturellen Schwankungen aus.627 Verschärft werde diese Situation durch die im industriellen Produktionsprozess liegenden gesundheitlichen »Gefahren«. Damit meinte er die von der Mechanisierung erzwungene Pausenlosigkeit und Gleichförmigkeit der Arbeit, ungesunde Arbeitsverhältnisse in den Fabrikhallen sowie die in der existentiellen Unsicherheit liegende Tendenz zu Arbeitsüberlastung und Kinderarbeit. Dabei sprach er auch die dadurch hervorgerufene psychische Belastung der Arbeiter an, die »mittelbare Gefährdung der Gesundheit derselben durch den ewigen Kummer über ihre unsichere Zukunft«, diese »folternde Angst der Seele wirkt sicher auf den leiblichen Organismus zurück«.628 Schließlich betrachtete er auch die politische und rechtliche Situation der Arbeiter als Problem der Sicherheit. Die Arbeiter besäßen keine »rechtliche und politische Sicherstellung« im liberalen Verfassungsstaat. Die ökonomische Unsicherheit der Arbeiter führe zu einer »Hörigkeit neuer Art«, die ihm »gar keine Sicherheit gewährt, ihn zur Beute der Laune und des Geschickes seines Herrn und der Wechselfälle macht«. Die ökonomische Abhängigkeit bewirke dann die politische Rechtlosigkeit: »Nach der gesamten Stellung des Arbeiters kann der Staat ihm nicht einmal den Schutz gewähren, den das materielle Recht ihm schuldet: nur als Armer fühlt der Arbeiter die Wohltaten des Staatsverbandes.« Die umfassende ökonomische, rechtliche und politische Unsicherheit des Arbeitnehmers steigere die ökonomische Unsicherheit des Arbeitgebers. Der »Zustand der allseitigen Verwahrlosung der Fabrikbevölkerung« gebe diesem »keine Garantie für Geschicklichkeit, Fleiß und Redlichkeit der Arbeiter«. Er zog als Fazit: »Auf so schwankenden Grundlagen kann aber der Fabrikherr nicht einmal eine sichere Berechnung seiner Unternehmungen gründen; der ganze Betrieb empfängt das Gepräge einer unverkennbaren Waglichkeit.«629 Schließlich machte die strukturelle ökonomische Unsicherheit die Arbeiter nach Ansicht von Buß zur strukturellen politischen Gefahr.630 Buß konstituierte die industrialisierte Wirtschaft als Gefahr, als unsichere Situation ohne Einflussmöglichkeiten, als Gefahr, die wieder Gefahr gebiert, als Teil einer insgesamt gefährlichen Welt, wobei die Gefahr nicht von Gott herrührte.631 627 Ebd. 54–57. 628 Ebd. 57–59. 629 Ebd. 61 f. 630 Ebd. 66. 631 Ebd. 68: »Der Gang unserer Zeit ist ernst, nicht ohne Gefahren, nicht ohne Ursachen manchfacher Beunruhigung. Selbst die deutschen Staaten teilen sich mit größern die Politik leitenden Reichen in, wenn auch viel kleinerm, doch hinlänglich hohem Maße, in die Gefahren

242  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Auch für den von Buß übersetzten Gérando war die Abhängigkeit der Arbeiter, also eine Gefahrensituation, der Kern der sozialen Frage: Auf dieser Erde, der Stätte der Erziehung und Prüfung, hat der Mensch einen beständigen Kampf gegen alle Arten von Hindernissen und Gefahren zu kämpfen, wo Viele als Opfer erliegen. Die Gesittung wechselt die Stätte, erweitert sie aber durch die Freiheiten sogar, welchen sie Schwung gibt. Je mehr man zur Armuth herabsteigt, desto häufiger mehren sich diese Hindernisse und Gefahren. Der Arme lebt von der Arbeit jedes Tages; aber die Tage wechseln, die Arbeit wird unterbrochen, der Lebensunterhalt wir theurer, die Jahreszeit strenger; die Verschuldung, die Zerrüttung beginnt; Krankheit und Alter treten hinzu; der verhängnißvolle Abgrund gähnt.632

Selbst der fatalistische Pilgram forderte 1855 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen statt Almosen. Es könne »im Geiste christlicher Liebe kaum ein größeres Interesse geben, als das ist, dem Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen und ihn an der Gesammtproduction der Menschheit Theil nehmen zu lassen«.633 Die Arbeit verleihe dem »Proletarier« allein die Sicherheit, die er für eine »dauernde Existenz und bürgerliche Stellung« benötige. Wenn der Lohn allein die »sichere Bürgschaft für die Möglichkeit der Existenz« sei, würde das Eigentum an sozialer Bedeutung verlieren und damit auch der Neid. Dies würde den schroffen Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mildern.634 Das war nur noch ein caritatives Mäntelchen über einer juridischen Problemlösung. Auch für den Juristen Peter Reichensperger war die auf Abhängigkeit gründende Unsicherheit der Arbeiter um die Jahrhundertmitte der Kern der sozialen Frage. Verantwortlich dafür machte auch er die Mechanisierung. Denn diese sei der Handarbeit im Hinblick auf Produktionskosten, Effizienz und Gleichmäßigkeit überlegen.635 Sie führe zu einem Überangebot an Arbeit. Geschicklichkeit biete keinen Schutz vor Entlassungen mehr. Sie habe auch eine »unglaubliche Konkurrenz« bewirkt, die Arbeitgeber »in ihrer Existenz geradezu gefährdet« und sie gezwungen, »das Elend und die Widerstandslosigkeit der Arbeiter auszubeuten, um nicht selbst unterzugehen«.636 Deshalb befänden sich die Arbeiter in einem »Zustande absoluter Hoffnungslosigkeit«, durch Fleiß zu einer »under Zeit, einer Zeit mit großer sittlicher Zersetzung der gesellschaftlichen Elemente, einer Zeit, gefährlich durch ihre rohe Selbstsucht, ihre Verhöhnung alles Höhern, der Religion wie der wahren Wissenschaft, ihre Scheulosigkeit gegen die Staatsgewalt, ihren durch die materielle Not gereizten Widerspruch gegen jede Schranke, einer Zeit, jedenfalls zu unsicher, um es wagen zu dürfen, durch Hinzufügung einer trostlosen Fabrikbevölkerung, welche unter Umständen für sich allein die gesellschaftliche Ordnung in Frage zu stellen vermag, das heiligste Gebot der politischen Selbsterhaltung auf eine unverantwortliche Weise zu verletzen.« 632 Buß: System I 50. 633 Pilgram: Fragen 10. 634 Ebd. 23 f. 635 Reichensperger: Agrarfrage 261 f. 636 Ebd. 208 f.

Gefahr als soziales Problem  243

abhängigen und gesicherten Stellung« zu gelangen,637 was durch die »legale Schutzlosigkeit« der Fabrikarbeiter noch verschlimmert werde.638 Während die Wirtschaftsfreiheit für Reichensperger eine Gefahr sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber darstellte, stellte sie für Joerg nur eine Gefahr für die Arbeitnehmer dar. Die Wirtschaftsgesetzgebung habe die Unternehmer von Fesseln befreit, so Joerg 1867, die Arbeitnehmer aber durch das Verbot von Streik und Koalitionsrecht gefesselt, »was nichts Anderes hieß, als die Arbeit nicht nur als solche der Übermacht des Capitals unterwerfen, sondern auch noch mit gebundenen Händen«. Freizügigkeit und unbeschränktes Verehelichungsrecht hätten in England bereits die »systematische Züchtung« einer »Sklavenbevölkerung« bewirkt, »die ihren Ahnen in nichts gleichsieht und nothwendig mit jeder Generation mehr den Stempel der Verthierung an sich ausprägt«.639 Damit übereinstimmend beklagte Ketteler auf der Fuldaer Bischofskonferenz 1869 das durch Gewerbefreiheit, Freihandel und Maschinenarbeit verursachte Verschwinden des selbstständigen Mittelstandes zugunsten der Lohnabhängigkeit der Arbeiter. Das Arbeitsverhältnis sei deshalb nicht mehr durch die »Theilnahme christlicher Nächstenliebe« geregelt, sondern »nach den Gesetzen kaufmännischer Berechnung«. Dies mache die Existenz des Arbeiters unsicher. Bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter sei er ein »verlorener Mann«. Deshalb habe der Arbeiter »keine Hoffnung, sich jemals aus seiner elenden Lage erheben zu können wie der selbstständige Handwerker«. Der Arbeiter »quält sich, aber nicht für sich, sondern für den Capitalisten«. Die »Hoffnungslosigkeit, seine Lage zu bessern, die Unsicherheit der Zukunft, die Hilflosigkeit in seiner isolirten Stellung« prägten seine Existenz.640 Für Dippel bestand die soziale Frage 1873 in der völligen Abhängigkeit der Arbeitnehmer von den Arbeitgebern: »Als bloße Werkzeuge in den Händen der Capitalisten sind sie aber verurtheilt, im Schweiße des Angesichtes das Gegentheil der sinnlichen Genüsse, die mühevolle Arbeit zu betreiben, um einer kleinen Minderzahl der Menschen den Überfluß zu bereiten, den sie entbehren müssen.« Deshalb, so Dippel im ausdrücklichen Anschluss an Ketteler, müsse dem Arbeiter »das ganze Leben als ein Räthsel, eine Unbegreiflichkeit, ja als eine Ungerechtigkeit seiner Mitmenschen erscheinen, die ihn mit Haß und Abneigung gegen alle erfüllen muß, die Antheil an jenen Gütern haben«.641 Im Jahr 1879 beklagte Stöckl, dass der Mensch durch die Fabrikarbeit »Freiheit und Selbstständigkeit verloren« habe, er waltet nicht mehr als freier und selbstständiger Eigenthümer über einen ihm zugehörigen Besitz; er ist durch die eiserne Kette der Lebensnothdurft an den Fabrikherrn 637 Ebd. 211. 638 Ebd. 209. 639 Joerg: Geschichte 38–40. 640 Ketteler: Fürsorge 430–432. 641 Dippel: Gesellschafts-Lehre 351.

244  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv angeschmiedet; und um sich und seine Familie zu ernähren, muß er Alles hinnehmen, was der Arbeitgeber über ihn zu verfügen für gut findet. Die Bestimmung der Lohnquote liegt einzig in der Hand des letzteren und dieser richtet sich dabei nicht nach dem Gesetze der christlichen Gerechtigkeit und der christlichen Liebe, sondern nur nach dem Verhältnisse von Angebot und Nachfrage.642

Scheicher problematisierte 1884 die Unfreiheit der Arbeiter. Der Arbeitgeber spiele »Hazard, Lotterie, wenigstens mit der Möglichkeit, daß ein Gewinn resultiere«, aber für den Arbeiter »gibt es nur Nieten«. Es gebe keine Freiheit, »wo auf der einen Seite der Hunger, auf der anderen das Kapital als Bundesgenosse steht.«643 Für Liberatore führte der industrielle Produktionsprozess durch Mechanisierung und Arbeitsteilung 1891 zu einer Verkümmerung der geistigen Fähigkeiten, was den Arbeiter »zum Sclaven des Unternehmers« mache. Ein Arbeiter, der nicht imstande ist, irgend ein ganzes Product herzustellen, das auf dem Markte vertauschbar ist, hat eine sehr unsichere Existenz. Er hängt vollständig von demjenigen ab, der Eigenthümer der Fabrik ist, in welcher sein Arbeitszweig im Großen betrieben wird, so daß das einzige von ihm erlernte Theilchen einer Arbeitsverrichtung dortselbst seinen Platz findet. Wenn er nicht Hungers sterben will, so muß er die elenden Bedingungen annehmen, die ihm ein hartherziger Herr zu dictieren belieben wird […].644

Ratzinger beklagte 1895 die mangelnde Möglichkeit zum Gebrauch der Willensfreiheit in den »untern Klassen« im Gegensatz zu den »höher gebildeten Schichten«.645 Der Kern der sozialen Frage bestand für Biederlack 1898 in der existentiellen Unsicherheit der Arbeiter, deren Grund er in Mechanisierung und Arbeitsteilung erblickte und die sie erst auf Almosen angewiesen machte.646 Auch für Cathrein bestand 1899 nicht in der Not, sondern in der Unsicherheit der Kern der sozialen Frage: Vielleicht mehr als durch alles Andere wird die Unzufriedenheit in den Kreisen der Lohnarbeiter genährt und geschürt durch das Gefühl der Unsicherheit der eigenen Existenz. Mag auch die Lage des Arbeiters in Bezug auf Nahrung und Kleidung früher 642 Stöckl, Albert: Das Christenthum und die Arbeit. In: Ders.: Fragen I 169–201, hier 195. 643 Scheicher: Klerus 57. 644 Liberatore: Grundsätze 82–86. 645 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 108. 646 Biederlack: Frage 174: »Krankheiten, Unfälle, Altersschwäche, industrielle Krisen, welche nothwendig Arbeiterentlassungen zur Folge haben, sowie aus andern Ursachen zu befürchtende Arbeitslosigkeit bewirken, daß nicht nur einzelne Arbeiter, sondern selbst bedeutende Menschenmassen mit allzugroßer, den Menschen unerträglicher Unruhe in die Zukunft sehen müssen, in der sie aller zeitlichen Hilfsmittel beraubt und auf die Hilfe und Mildthätigkeit Anderer angewiesen sein können.«

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nicht besser oder sogar schlechter gewesen sein als heute, so hatte er doch meistens eine gesicherte Stellung und infolge davon das Gefühl seines sichern Daseins […].647

Als angeführte Kennzeichen von Armut dominierten immer mehr Abhängigkeit und Unsicherheit über materielle Not. Für Eberl war die existentielle Unsicherheit aufgrund von Unselbstständigkeit 1866 das Kennzeichen des Arbeiters schlechthin, weshalb er auch das »Kleingewerbe« zu den Arbeitern zählen wollte.648 Verantwortlich dafür machte er die industrielle Produktionssteigerung.649 Auch für Ketteler war es allein die Unsicherheit, die den Proletarier definierte. Er bezeichnete als Proletarier alle diejenigen, deren Existenz unsicher war, neben den Arbeitern auch kleine Handwerker, Gewerbetreibende, Haus- und Grundbesitzer.650 Die Wahrnehmung der sozialen Frage als Problem der Unsicherheit statt der materiellen Not kann – sozialgeschichtlich betrachtet – auf die gesteigerte soziale Unsicherheit durch die Aufhebung der Zünfte mit ihren sozialen Netzen und die Einführung der Gewerbefreiheit – ein Prozess der von 1811 in Preußen bis 1868 in Bayern andauerte – zurückgeführt werden. Dann müsste die Wahrnehmungsänderung als reaktiv qualifiziert werden. Genauso kann sie aber auch – kulturgeschichtlich betrachtet – auf die Juridifizierung der Sozialethik zurückgeführt werden. Wenn die Idee des Regelns im Wachsen ist, steigt auch die Wahrnehmung des Regelungsdefizits. Deshalb sind diskursive Verrechtlichung und der Eindruck der Rechtlosigkeit komplementär. Aus dem unüberwindbaren Schicksal wurde eine zu überwindende Rechtlosigkeit.651

11. Von der Vollkommenheit als Ideal … Der Fatalismus der caritativen Sozialethik gründete zunächst in der Reich-­ Gottes-Lehre, wonach das Diesseits bereits Anteil an der jenseitigen Vollkommenheit hatte. Die frühen Entwürfe zur Reform der Zustände gingen auch noch von der Möglichkeit einer diesseitigen Vollkommenheit aus.652 Der Abfall von Gott hatte zur Errichtung gottloser Strukturen geführt, weshalb zur vorrevolu 647 Cathrein: Frage 433–436. 648 Eberl: Kirche 3: »Arbeiter heißt uns, wer für Taglohn arbeitet, gleichsam von der Hand in den Mund lebt, zu den Arbeitern zählen wir aber auch Jene, welche bei ihrem geringen Betriebsvermögen in ähnlicher Weise wie die Arbeiter von den Schwankungen des Marktes in ihrem täglichen Unterhalt bedroht sind – das Kleingewerbe.« So auch bei Buß 1837 (Wortlaut der Rede des Abgeordneten Buß vom 25. April 1837 über das soziale Problem. In: Retzbach: Buß 48–85, hier 66) und Stöckl 1869 (Lehrbuch II 501–505). 649 Eberl: Kirche 5. 650 Vgl. Hanisch: Denken 318–320. 651 Lüderssen: Recht 437. 652 Dies meint Herres: Gesellschaft 19, wenn er die Ansicht äußert, dass sich die Caritas durch ein utopisches Moment der Weltveränderung auszeichne.

246  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv tionären Ständeordnung zurückzukehren war, und zwar durch eine Änderung der Gesinnung, die dann von selbst zu einer Änderung der Strukturen führen sollte.653 Darüber ging Buß in seiner Fabrikrede von 1837 hinaus. Buß forderte die proaktive Herstellung eines idealen und d. h. jetzt natürlichen Zustandes als Voraussetzung für die Rechristianisierung der Gesellschaft. Die einzelnen Sektoren der Wirtschaft mussten für Buß in einem durch Klima, Geologie, Topographie und politische Verfassung bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Die Veränderung dieses Verhältnisses durch die Industrialisierung bedeute eine »gefährliche Künstlichkeit«, eine »Verletzung der Natur, welche sich nach einer ewigen Regel früher oder später an ihren Verächtern rächt«.654 Deshalb forderte er dazu auf, diesen natürlichen Zustand durch staatliche Gesetzgebung wiederherzustellen.655 Ausdrücklich wollte Buß seine Beobachtungen dabei als Dystopie verstanden wissen, als das »düstere Bild eines Fabrikstaates«, das nur bei weiterer Tatenlosigkeit Wirklichkeit werden musste.656 Er plädierte deshalb für proaktive gesetzliche Eingriffe in das Wirtschaftsleben, um »dafür zu sorgen, die Segnungen des Fabrikbetriebes in den Wohlstand unseres Staates einzuführen, dagegen den Eintritt der Übelstände, welche eine große Fabrikation zu begleiten pflegen, soweit es möglich ist, zu verhüten«.657 Und diese Eingriffe sollten der Herstellung einer ständischen Gesellschaftsordnung dienen. Das Volk aber fühle sich, so Buß 1844, »am seltensten als unterschiedloses, sondern fast immer als nach Ständen gegliedertes Volk; es will auch die Freiheit nach Ständen«. Die Rechtsgleichheit habe »jenen Reichthum der Formen zerstört, in deren jeder die Eigenthümlichkeit des Einzelnen sich früher heimisch fand. Euere mechanischen, abstracten Staatsgebäude umgeben wie eine politische Armuth den Menschen, reich an Phantasie, die ihn darben läßt.« Durch die ständischen »Verbrüderungen und Verschwesterungen« erhoffte er sich eine Minderung von Unsicherheit: »Die Kraft der Bevölkerung würde vertheilt, gefahrloser und nützlich thätiger. Das Gefühl der Unsicherheit würde beschwichtigt und es käme Abfolge und Haltung in das gesellschaftliche Leben.«658 Dabei vermeinte Buß den Naturzustand deshalb rekonstruieren zu können, da die Erbsünde nach katholischer Auffassung nur einen moralischen Defekt verursacht habe. Deshalb läßt sich aus den Resten der Urbildlichkeit in der menschlichen Seele und aus der Auffrischung der Offenbarung durch die heilige Schrift und die Erblehre das Reich Gottes divinatorisch wieder ergänzen, ähnlich wie ein Künstler aus einem Torso in 653 Vgl. Kapitel III.4. 654 Wortlaut der Rede des Abgeordneten Buß vom 25. April 1837 über das soziale Problem. In: Retzbach: Buß 48–85, hier 51. 655 Ebd. 53. 656 Ebd. 68 f. 657 Ebd. 71. Vgl. dazu Lange: Buß 62–64. 658 Buß: Orden 525 f.

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schöpferischer Ahnung die ganze Statue wieder zu ergänzen oder ein Zoolog aus dem versteinerten Gerippe eines Thieres das Thier nachzuconstruiren vermag.659

Buß wollte also das Reich Gottes proaktiv mit juridischen Mitteln herstellen und dadurch Sicherheit als Geborgenheit gewinnen. Er wollte mit rechtlichen Mitteln einen emotional definierten Zustand der Nächstenliebe und Vollkommenheit herstellen und nicht die Freiheit der Reichen durch einen Rechtsanspruch der Armen beeinträchtigen. Dies war auch die Absicht von Joergs ständischem Entwurf von 1867. Er beklagte, dass sich die familiäre Verbindung von Gesellen und Meister durch die Einführung der Gewerbefreiheit aufgelöst hätte. Aus dem »genossenschaftlichen Gehülfen« sei der »isolirte Arbeiter« geworden, der in eine »mitleidlose Abhängigkeit« gefallen sei.660 Dabei lehnte er den von ihm als liberal qualifizierten »Glauben an die Imperfektibilität« der Gesellschaft ab, die »auf ewigen Naturgesetzen« ruhe, die »schlechthin normal« seien und »jede Änderung von Übel«.661 Die proaktive Veränderung sozialer Strukturen stand (noch) im Dienste immanenter Vervollkommnung. Dabei generalisierten die Entwürfe zur ständischen Totalrevision der Gesellschaft nicht die unsichere Willensfreiheit, sondern differenzierten zwischen sicherer Geborgenheit für die Armen und unsicherer Willensfreiheit für die Reichen – im Rahmen der göttlichen Vorsehung mit unterschiedlichen Funktionen von Armut und Reichtum. Deshalb standen sie unentschieden und widersprüchlich zwischen reaktiver caritativer und proaktiver juridischer Sozialethik. Und deshalb war ihr Verhältnis zum rechtlichen Zwang ambivalent. Wegen der Effizienz der Arbeitsteilung hielt Stöckl die ständische Gliederung 1880 für die »natürliche organische Bildung des gesellschaftlichen Körpers«. Dabei argumentierte er ganz in dem vom Gnadendispositiv abgesteckten Rahmen, als er behauptete, dass die mittelalterlichen Zünfte nicht durch staatliche Anordnung hergestellt worden, sondern »ganz von selbst« entstanden seien, als natürliches »Resultat des Corporationstriebes«. In einer »übercivilisirten, alternden Gesellschaft wirken die socialen Kräfte nicht mehr mit jener Leichtigkeit und Energie wie im Stadium ihres jugendlichen Alters«. Deshalb benötige die Abkehr von der Gewerbefreiheit und die Rückkehr »zum corporativen Gewerbewesen« gesetzliche Unterstützung. Da aber die »lebendigen Kräfte« durch ein »todtes Gesetz« andererseits auch nicht ersetzt werden könnten, müsse sich das Gesetz darauf beschränken, die Rahmenbedingungen für die selbstständige Entstehung der ständischen Ordnung zu schaffen. Zwang lehnte er einerseits zwar ab, andererseits aber müssten, »durch die Gesetzgebung jenen Verbänden wenigstens solche Rechte nach Außen gegeben und derartige Vortheile gewährt werden, daß der Eintritt in dieselben für 659 Cortés / Buß: Politik 80. 660 Joerg: Geschichte 81. 661 Ebd. 203.

248  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv die Gewerbetreibenden in hohem Grade vortheilhaft und damit zu einer Art moralischer Nothwendigkeit wird«.662 Damit war er immerhin weiter gegangen als noch 1869, als er die Rückkehr zur »natürlichen Ordnung« von der Rückkehr zum Christentum abhängig gemacht und gefordert hatte: »Sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeiter müssen von dem Geiste des Christenthums sich wieder durchdringen lassen, die ersteren vom Geiste der christlichen Liebe, die letzteren von dem Geiste der Selbstverläugnung und des Opfers.«663 Der Unterschied besteht darin, dass er 1869 an der Liebe als Tugend orientiert war und 1880 die mit der Auflösung der ständischen Gesellschaftsordnung einhergehende soziokulturelle Entwicklung der Liebe von einer Verpflichtung zu einer Tugend664 rückgängig machen wollte. Die Vorschläge zur ständischen Totalrevision konnten in ihrem Streben nach Liebe und Geborgenheit mit rechtlichen Mitteln in einer Zeit zunehmender Verrechtlichung des sozialen Lebens nur inkonsequent erscheinen. Unentschieden im Hinblick auf die menschlichen Handlungsmöglichkeiten waren auch die frühen, ständischen Entwürfe von Hitze. Die Geschichte der Menschheit, so Hitze 1877, sei eine »Geschichte ihrer Leiden; überall rohe Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung des Schwächeren durch den Stärkeren«. Die soziale Frage sei deshalb die Frucht »einer langen schmerzlichen Entwickelung, die die Menschheit im Verlaufe der Geschichte, geführt durch die Hand der Vorsehung, durchgemacht hat«.665 Die soziale Frage galt ihm als Strafe für die Abschaffung der Zünfte durch Gewerbefreiheit und Mechanisierung. Denn die Zünfte, die »schützende Schranken« gegen drückende Konkurrenz boten, gingen seiner Meinung nach auf die göttliche Vorsehung zurück. Die Gesellen seien in den »Familienverband« des Meisters integriert gewesen und hätten auf Wanderschaft mit »Freundschaft und Liebe« rechnen können.666 Nun sei die »menschliche Beziehung« durch die »kalte unpersönliche Beziehung« ersetzt worden. Dies sei die »specifische, durchaus entmenschte Physiognomie der bürgerlichen Periode«.667 Dabei identifizierte er aber die existentielle Unsicherheit als eigentliches soziales Problem. Er beobachtete, »daß ›individuelle Freiheit und Gleichheit‹ nur individuelle Schutzlosigkeit bedeutet, nur die Macht des Stärkeren freistellt«.668 Deshalb wollte er Sicherheit herstellen. Die Lösung der sozialen Frage bestehe darin, die »Unsicherheit und Unstetigkeit der Existenz, die Gebundenheit des Menschen an die Zufälligkeiten des Glückes und des Schicksals, oder roh herrschender Naturgesetze 662 Stöckl, Albert: Gewerbefreiheit und corporatives Gewerbewesen. In: Ders.: Fragen III 258–281. 663 Ders.: Lehrbuch II 513. 664 Vgl. Kapitel III.4. 665 Hitze: Frage 11 f. 666 Ebd. 26–30. 667 Ebd. 46 f. 668 Ebd. 203.

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zu heben«.669 Dabei lehnte Hitze Almosen als unzureichend ab.670 Auch Hilfe zur Selbsthilfe sei nicht ausreichend.671 Er forderte vielmehr eine »Reorganisation der Gesellschaft« auf ständischer Grundlage.672 Er wollte Berufsgenossenschaften als Ersatz für die Zünfte auf der Basis der Selbstverwaltung durch staatliche Gesetzgebung errichten.673 Rechtliche Regelungen innerhalb der Berufsgenossenschaften brauche es dagegen nicht, »Religion und Sitte machten ›Statuten‹ überflüssig«, »Entsagung, Opfer, Liebe« herrschten in ihnen.674 Dabei war er – noch ganz im Gnadendispositiv – zuversichtlich. Er glaubte nicht, dass der »Kälte des Winters kein Frühling des Glaubens- und des Gemüthslebens mehr folgen« werde, er glaubte nicht, dass »die menschliche Verschuldung Siegerin über die Führung der göttlichen Vorsehung« bleiben und »Gott die Menschheit unbarmherzig ihrem Schicksale anheimgeben« werde.675 Gesinnungs- und Strukturreform standen bei Hitze 1877 nebeneinander und im unaufgelösten Widerspruch. Dies war auch noch 1880 der Fall, als sich Hitze »eine Periode religiöser Einheit, religiösen Friedens und damit auch des politischen und socialen Friedens« erhoffte.676 Trotzdem hatte sich der menschliche Handlungsspielraum bei ihm 1880 gegenüber 1877 schon deutlich erweitert. Ganz konkret machte er jetzt den mechanisierten Produktionsprozess der Industrie für die sozialen Probleme verantwortlich. Dieser führe zu Massenproduktion, was Massenabsatz auf unbeschränkten Märkten und die Freizügigkeit der Arbeiter erforderlich mache, »um sie gefügig zu erhalten, sich dem Mechanismus der Maschine ebenso mechanisch einzufügen« und er führe zur Trennung von Arbeit und Kapital, schließlich zur Kapitalkonzentration. Durch Mechanisierung steige die Produktion, während das Angebot an Arbeitsplätzen sinke. Dies führe zu Überproduktion und Absatzkrisen, zu »Anarchie der Production«, zu fallenden Preisen. Handwerker und Bauern würden verdrängt und die Abhängigkeit der Lohnarbeiter steige.677 Die Mechanisierung führe also dazu, dass sowohl Arbeiter als auch Unternehmer und Kapitalgeber von den Krisen betroffen seien: »Der Zufall, das Glück spielt 669 Ebd. 45 f. 670 Ebd. 314 f. 671 Ebd. 90–100. 672 Ebd. 203. 673 Ebd. 188–191. 674 Ebd. 203 f. 675 Ebd. 298. Seine Zuversicht führte Hitze darauf zurück, dass die »Begeisterung für das ›finstere‹ Mittelalter« in Kunst, Theologie und Sozialpolitik täglich größer werde. Vgl. Ebd. 309. 676 Ebd. 307. 677 Ders.: Quintessenz 9–17. – Ders.: Kapital 49 f.: »Jede neue Erfindung ersetzt Arbeitskraft, erhöht die Productivität, das Arbeitsproduct, wirft so einerseits Arbeiter aus ihrem Arbeitsgebiet und Verdienst heraus, überfüllt anderseits den Markt mit Arbeitsproducten, hat also gleichzeitig Verengung des Kreises der beschäftigten kaufskräftigen Arbeiter und, anderseits, Vermehrung der Absatz suchenden Producte zur Folge, d. h. Überproduction aus doppeltem Grunde.«

250  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv mit den Menschen Ball. Das Größengesetz des Kapitals herrscht unbeschränkt. Es ist die Expropriation in Permanenz, vollzogen durch das Spiel des Schicksals und das Recht des Stärkeren.« Herausgerissen aus den »alten, festen Verhältnissen« sei der Mensch »in den Strom des großen Verkehrs« hineingezogen, wobei Glück und Zufall mehr den Ausschlag geben als die freie That«.678 Die Mechanisierung führe deshalb mit »naturgesetzlicher Nothwendigkeit« zu einer Umbildung der Gesellschaft. Sie habe »die ganze Gesellschaft in Auflösung gebracht, die alten Bande gesprengt«. Dabei ging es Hitze mittlerweile nicht mehr um eine bloße Rückkehr zur ständischen Gesellschaftsordnung, sondern um eine »Gesellschaftsordnung, die den modernen Productionsverhältnissen« entsprechen sollte. Denn auf Produktivität, Arbeitsersparnis, Arbeitserleichterung, Unermüdlichkeit und Präzision der Maschinen wolle niemand mehr verzichten. Deshalb sah er in einer Reform der Gesinnung zwar die Grundvoraussetzung für die Lösung der sozialen Frage. Gleichzeitig hielt er eine Rechristianisierung aber nicht für ausreichend, da er die soziale Frage für ein ökonomisches Problem hielt.679 Deshalb plädierte er zwar für die »Reorganisation der Berufsstände«.680 Die »Neuordnung der Zukunft« sollte aber auf »erweiterter Stufenleiter« erfolgen. Es gebe keine »absolute« Gesellschaftsordnung, da diese stets Ausdruck der »materiellen Productionsbedingungen« sei, wie er in unverkennbarer Anlehnung an Marx formulierte. Die »Verbindungen der Zukunft« müssen einen »mehr mechanischen Charakter« annehmen, da sie »mehr gemacht werden müssen, als daß sie sich selbst machen«. Dies sollte auf rechtlicher Grundlage geschehen, denn »Ordnung erfordert Zwang«. Aufgabe der Berufsstände sollte die Ordnung der Produktion in Selbstverwaltung sein. Dementsprechend sollte der Arbeiterschutz von den Arbeitern in die eigenen Hände genommen werden.681 In seinem frühen Hauptwerk »Kapital und Arbeit« von 1880 machte Hitze dann die Willensfreiheit zur Grundlage der geforderten »Reorganisation der Berufs-Stände«. Es ging ihm um die »persönliche Freiheit«, »nicht blos die politische Freiheit des Liberalismus und Demokratismus, auch nicht blos die materielle des Socialismus, sondern die politische, sociale und materielle«.682 Durch eine »umfassende Gesetzgebung« sollte der Arbeiter »geschützt« und »selbstständig organisirt« werden und das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf »Gegenseitigkeit« gegründet werden.683 Dabei war er sich immer noch nicht im Klaren darüber, ob dies das Ergebnis von proaktivem Handeln oder von passivem Fügen sein werde. Einerseits behauptete er, die Gesellschaft habe sich »nicht erst zu ordnen, vielmehr besteht die Ordnung schon, sie hat 678 Ders.: Quintessenz 17–19. 679 Ebd. 7–9. 680 Ebd. 3. 681 Ebd. 22–31. 682 Ders.: Kapital III–VII. 683 Ebd. VI.

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sich derselben einzufügen«.684 Die von dem Nationalökonomen Karl Rodbertus (1805–1875) gemachte sozialistische Prognose des vollkommenen Eigentums des Arbeiters am Arbeitsverdienst nannte er eine »geschichtsphilosophische Construction gewaltiger Art, die uns imponiren und auch begeistern kann, geeignet, den Glauben an die Bestimmung, ›Erlösung‹, der Menschheit wieder anzufachen und über das Elend des Tages uns zu erheben«. Er selbst wollte sich aber lieber an die »Gesetze ›des Lebens‹ und der Moral« halten und sich davor hüten, »Geschichte ›machen‹ zu wollen – die ›Geschichte‹ wird sich schon selbst helfen«.685 Andererseits verschaffte sich Hitze sozialpolitischen Handlungsspielraum, indem er nur der Familie naturrechtlichen Offenbarungscharakter zugestehen wollte: Das sociale Verhältniß von Mann und Weib erweitert sich zu dem von Eltern und Kind – das zweitinnigste Verhältniß, von dem alle anderen nur schwache Nachbildungen sind. Die Familie – Weib, Mann, Kind, – ist die natürliche Gesellschaft katexochen, mit Über-, Unter- und Nebenordnung, geschaffen durch Natur und Ursprung.

Erst als »die Idee der Familien- und Blutsverwandtschaft erblaßte, die patriarchale Verbindung« sich lockerte, entwickelten sich Gemeinde und Staat. Diese Entwicklung sei nicht mehr natürlich, sondern »ein Product des Abfalles von der ursprünglichen natürlichen und religiösen Einheit«, d. h. die Familie gründet im Naturrecht, Gemeinde und Staat im Sündenfall.686 Während die Familie also unverfügbar blieb, wurden Staat und Gemeinde zur Folge teuflischer Einflüsterung und dadurch menschlicher Veränderung verfügbar. Die Menschen haben deshalb nicht das Recht »abzuwarten, bis Gott die Wunder seiner Gnade zeigt«, vielmehr rief er dazu auf: »[…] wir bestellen das Feld und beten, daß Gott seinen befruchtenden Thau sende und die Saat aufgehe«.687 Eine Besserung der materiellen Lage als Folge einer Gesinnungsreform zu erwarten, hielt er nun endgültig für aussichtslos: Man hört oft sagen: ›Macht die Welt christlich und die sociale Frage ist gelöst‹, allein man vergißt zu sagen, wie das geschehen soll, und ist der Ausspruch eine Vermessenheit oder eine Phrase. Die Welt wird nie so christlich werden, daß sie die heutige allein auf die Freiheit und den Egoismus gebaute Gesellschaftsordnung ertrage könnte – immer werden die Meisten die ›breite Straße‹ wandeln.688

Umgekehrt erwartete er sich nun aus der Besserung der materiellen Existenz eine Rechristianisierung.689 684 Ebd. 227. 685 Ebd. 219 f. 686 Ebd. 208–210. 687 Ebd. 570. 688 Ebd. 571. 689 Ebd. 447.

252  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Die Betonung der sozialen Funktion der Nächstenliebe ersetzte Hitze nun durch die Betonung der sozialen Funktion der Gerechtigkeit. In der Gerechtigkeit sah er ein stabiles, in der Liebe ein dynamisches Moment. Während die Gerechtigkeit verhindere, schaffe die Liebe. Die Gerechtigkeit gliedere die Gesellschaft, die Liebe integriere sie. Die Gerechtigkeit stelle deshalb das negative Element der Gesellschaft dar, die Liebe »das positive und eigentliche constitutive Element der Gesellschaft«. Gerechtigkeit sei das »Fundament«, Liebe die »Vollendung«. Die Liebe könne aber nicht mit Zwang ausgestattet werden, sei »etwas ganz Individuelles«. Sie könne »nie in das Gebiet der Gesetzgebung gezogen, nie mit in die rechtliche Ordnung der Gesellschaft aufgenommen werden – sie ist rein privat«. Er bezeichnete es deshalb als sozialistischen Fehler, die Liebe mit Zwang versehen zu wollen, da »Sittlichkeit sich nicht erzwingen läßt«. Die Liebe »ist und bleibt nun einmal ein ›Ideal‹, das sich nie und nimmer plötzlich und allgemein, am wenigsten auf dem Wege der Gewalt, des ›Rechts‹ realisiren läßt«. Da die »Kraft der individuellen Sittlichkeit« nachlasse und mit dem »Wachsthum der Gesellschaft« Konflikte und »Verletzungen der Liebe« zunehmen, habe die soziale Bedeutung von Liebe und Freiwilligkeit zugunsten von Recht und Zwang abgenommen. Die zunehmende soziale Bedeutung des Rechts war ihm also eine Folge von Entchristlichung und gleichzeitig ein Mittel zu Verchristlichung. Denn er behauptete, »daß das verfeinerte christliche öffentliche Bewußtsein mehr neue Schranken fordert, als das vermehrte christliche Thun alte, bestehende überflüssig machen wird. Je christlicher das Volk, desto empfindlicher, desto ausgestalteter also das ›Recht‹.« Recht könne »Zeichen der Degenerirung« sein, aber auch »Beweis der Gesundheit und sittlichen Kraft«. Deshalb hielt er die Nächstenliebe aufgrund ihrer Freiwilligkeit nicht für ausreichend zur Lösung der sozialen Frage: Die ›Freiwilligkeit‹ reicht nicht aus, die ›Liebe‹ reicht nicht weit und kann nicht weit reichen in einer Gesellschaftsordnung, die auf dem ungezügelten Kampf ums Dasein, auf der Concurrenz, dem ›Kriege‹ aufgebaut ist und wo die ›Liebe‹ nur zu leicht mit Bankerott sich lohnt und nur eine Prämiirung der Hartherzigkeit bedeutet – sicher reicht sie nicht weit genug. Ein gutes Arbeitsgesetz leistet mehr als zehn und zwanzig sog. Wohlfahrtseinrichtungen.690

Schließlich zog er als Fazit: »Wer aus der ›Freiheit‹ die ›Ordnung‹ ›erblühen‹ lassen will, der kennt die Menschen schlecht. Eine ›Ordnung‹ ohne ›Zwang‹ ist und bliebt ein Messer ohne Klinge.«691 Insgesamt war Hitzes frühes Hauptwerk noch widersprüchlich. So wollte er zwar durch rechtlichen Zwang eine der Willensfreiheit gemäße Struktur schaffen und misstraute der Nächstenliebe zunehmend, andererseits hielt er 690 Ebd. 228–238. 691 Ebd. 451.

Von der Vollkommenheit als Ideal …  253

am caritativen Sicherheitsideal der Geborgenheit auf Grundlage personaler Beziehungen fest. Hitze schätzte am »Kleinbetrieb« die persönlichen Beziehungen zwischen Arbeiter und Unternehmer, die durch »vollinhaltlich selbstinteressirte« Aufmerksamkeit zu einer »gesteigerten Intensität der Arbeit führe«. Ebenso herrschten im Kleinbetrieb »unmittelbare Beziehungen« zwischen Produzenten und Kunden. Dies führe zu einer Vermeidung von Überproduktionskrisen, zu »Stetigkeit und Mäßigkeit der Productions-Entwickelung«.692 Die Anonymität des Großbetriebs indes »löst alle innerlich ergreifende und durchgreifende familienhafte Verbindungen auf«.693 Die »kapitalistische ›Gesellschaftsordnung‹« leide erstens unter dem Fehler, unpersönlich und deshalb ungerecht in der Verteilung zu sein. Außerdem fehle ihr zweitens ein einheitlicher »Plan«. Deshalb wollte er Über- und Unterproduktion durch eine Regelung von Produktion und Verteilung verhindern.694 Die Unsicherheit sollte »auf Null« reduziert werden.695 Wie planwirtschaftlich sicherheitsorientiert Hitze tatsächlich dachte, zeigt sich an seinem Entwurf zur Errichtung landwirtschaftlicher Genossenschaften. Sie sollten der Beschaffung von Kredit für die Intensivierung der Produktion, zum gemeinsamen Bezug von Produktionsmitteln und Maschinen, zur gemeinsamen Vermarktung der Erzeugnisse und zur gemeinsamen Errichtung von Infrastruktur, bis hin zu Flurbereinigung und gemeinsamer Bewirtschaftung der Äcker, dienen.696 Hitze hatte sich der unsicheren Willensfreiheit geöffnet, aber noch nicht von der Sicherheit gelassen, deshalb wollte er an Geborgenheit aufgrund von persönlichen Beziehungen festhalten, während er schon Vorschläge zur Veränderung sozialer Strukturen mit rechtlichen Mitteln machte. Die Menschen traten zunehmend als Handelnde auf, während ihnen Gott damit noch Konkurrenz machte. Insgesamt steht der frühe Hitze – genauso wie der späte Ratzinger697 – auf der 692 Ebd. 330 f. 693 Ebd. 334. 694 Ebd. 392 f. Vgl. auch Ebd. 473–493. 695 Ebd. 567 f. 696 Ders.: Frage 220–223 f.: »Alle Vortheile des Großbetriebes könnten sie sich aneignen: gemeinsam Maschinen (Dresch-, Mähe-, Säemaschine, Dampfpflug) anlegen, Fruchtmagazine und Vorrathshäuser bauen, […] Saatgut, Viehracen, Kunstdünger etc., alle Consumtionsartikel en gros einkaufen, Versuchsstationen errichten, zur Prüfung, ob eine Einrichtung sich bewährt, gebildete Fachmänner, Chemiker etc. zur Untersuchung und Berathung heranziehen, Bau von Feldwegen, Regulirung der Bewässerung, Austausch ungelegener Grundstücke, gemeinsamen Absatz ihrer Producte, was ihnen auch ferne Märkte zugänglich macht, Betrieb irgend eines Industriezweiges, so daß sie auch Winters für ihre Arbeiter Beschäftigung finden, den Abfall ihrer Rohproducte ihrem Acker wieder zuführen, die gewonnenen Fabrikate aber mit Erfolg auf den Markt bringen können (wegen den niedrigeren Transportkosten) – alles das können sie ins Werk setzen bis zu vollständiger Güterzusammenlegung (Arrondirung, Consolidation).« 697 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 247 betrachtete die Änderung der sozialen Strukturen im ständischen Sinne noch 1895 als automatische Folge einer Gesinnungsreform: »So wird

254  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Scheidelinie zwischen Liebe und Recht, Dulden und Handeln, personalistischen und strukturellen Hoffnungen und – wie sich zeigen wird – Ideal und Durchschnitt, Sicherheit und Risiko. Derartige Widersprüche drängen zu ihrer Auflösung, zur Entscheidung.

12. … zur Akzeptanz von Unvollkommenheit Der jesuitische Sozialethiker Cathrein lehnte die Rückkehr zur ständischen Gesellschaftsordnung 1889 ab. Er lehnte es ab, »daß man auf die unläugbaren Vortheile des modernen Maschinenbetriebes verzichtet und die patriarcha­lischen Zustände längst vergangener Zeiten wieder herbeizuführen sucht«.698 Und obwohl das Christentum die Armut preise, forderte der ebenfalls jesuitische Lehmkuhl 1884 die wirtschaftspolitische Förderung eines »mäßigen Mittelstandes«, da sich »die Durchschnittszahl der Menschen« zum »Heroismus der christlichen Armuth« nicht »erschwingen« werde.699 Die Orientierung an der Vollkommenheit war bei ihm bereits durch die Orientierung am Unvollkommenen ersetzt. Der juridischen Sozialethik ging es nicht um Vollkommenheit, aber auch nicht um Machbarkeit, sondern um eine Unvollkommenheit, die einerseits unvermeidlich war, andererseits gegen Vervollkommnungsversuche abzusichern war. Ein unvollkommener immanenter Dauerzustand, wie er von der neuscholastischen Eschatologie vorgegeben wurde, war ihr Handlungsraum. Denn »auf Erden giebt es kein gelobtes Land«, so eine Sammlung von Grabreden aus dem Jahr 1881.700 Die Sozialenzyklika »Rerum novarum« von 1893 lehnte die Vorstellung irdischer Vollkommenheit ab.701 Schneider wies 1896 darauf hin, dass »Mühe und Schmerz« auch im »denkbar vollkommensten Wirtschafts- und Gesellschaftszustande« mit der Arbeit verbunden sein werden. Nur wenigen sei das »Glück geistigen Schaffens« beschieden, die meisten »müssen sich abmühen mit der geistlosen Arbeit ihrer Hände«. Das sei »immer so gewesen und wird nie anders sein«.702 Das Gute gelange »hienieden nirgend zum vollen Siege«. auch der christliche Geist, wenn es ihm gelingt, die herrschenden Klassen zu erfüllen und über den maßlosen Egoismus der Gegenwart zu triumphiren, in Zukunft auf Grundlage der gewonnenen wirtschaftlichen Entwicklung eine angemessene Organisation aus sich heraus gebären. Wie diese Gestaltung beschaffen sein wird, darüber läßt sich höchstens im großen und ganzen ein vorahnendes Bild gewinnen und dürfte mit einer Art von Sicherheit behauptet werden, daß bei Aufrechterhaltung des Privateigenthums und der stufenweisen Gliederung in der Vereinigung der Arbeit und der Arbeitsmittel, in der Ausgestaltung der Genossenschaftsidee das Bild der Production der Zukunft zu erblicken sein wird.« 698 Cathrein: Frage 448. 699 Lehmkuhl: Handwerkerfrage 117 f. und 121 f. 700 Grabreden 205. 701 Vgl. dazu Knoll: Gedanke 225–237. 702 Schneider: Leben 32 f.

… zur Akzeptanz von Unvollkommenheit  255

Ein endlos gedachter diesseitiger Fortschritt werde vom »Endziele immer gleich weit, nämlich unendlich weit entfernt« sein. Ohne Glauben an einen jenseitigen Lohn sei das »Gefühl, an der ewig werdenden, also nie wirklichen Weltharmonie mitarbeiten zu dürfen« der einzige Lohn »für eine lebenslängliche Arbeit, die einzige Entschädigung für die anhaltenden Mühen und Entbehrungen«. Aber »dann lohnt es sich kaum, noch einen Finger zu rühren«.703 In der unabänderlichen Unvollkommenheit der Welt liege »die menschheitliche Bestimmung, die auf Entwickelung lautet«, weshalb Schneider eine »Rückkehr zur mittelalter­ lichen Wirtschaftsordnung« ablehnte.704 Es war also die unvermeidliche Unvollkommenheit der Welt, mit der er die Abkehr von allen, auch den ständischen Utopien begründete. Tilman Persch betrachtete das »Diesseits« 1907 als »etwas Unfertiges«, das in einem wirklichen Jenseits eine Ergänzung fordert, wofern es überhaupt eine Bedeutung haben soll. Das Diesseits ist seinem Wesen nach die Vorstufe, die Einleitung, welche nur durch ein darauffolgendes Jenseits verstanden werden kann. Es ist ein Wartezimmer auf einen kommenden Zustand.

Unfertig sei auch die gesamte immanente Rechtsordnung, was sich mit dem Vorkommen von Fehlurteilen beweisen lasse.705 Das Diesseits habe seinen Zweck nicht »in dem Endzustande der Erde«, das Diesseits habe seinen Zweck im Jenseits, deshalb gebe es vor dem Weltuntergang keinen »abschließenden Zustand«.706 Alles Streben nach Vollkommenheit sei deshalb vergebens: Was ist nicht alles geschehen, um das Diesseits zu einem Paradies zu machen! Je mehr man das tat unter Vernachlässigung des Jenseits, desto widerwärtiger hat man das Leben gestaltet. Dies ist die Erfahrung aller Länder. Mag also der voranrasende Fortschritt der Gegenwart sich vermillionenfachen: das diesseitige Leben wird stets bleiben, was es seinem Wesen nach ist.707

Die Annahme von der Möglichkeit diesseitiger Vollkommenheit bzw. von der immanenten Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen ist das Kennzeichen der Utopie. Utopien definieren einen immanenten Idealzustand ohne Übel. Sie gründen in der Annahme von der Vervollkommnungsfähigkeit der Geschichte, was die Antizipation des Zukünftigen erlaubt. Sie stellen deshalb eine Negation der Gegenwart dar. Die Vorstellung eschatologischer Erfüllung wird immanent, die Erlösung vom Übel wird ins Diesseits verlagert.708 Deshalb bezeichnet der 703 Ebd. 109 f. 704 Ebd. 29. 705 Pesch: Welträtsel II 455 f. 706 Ebd. 458. 707 Ebd. 438. 708 Vgl. dazu Gebhardt: Politik 46–53; Mähl: Chiliasmus 150; Rüsen: Utopie 357 f.; Voßkamp: Einleitung 1–10. – Das betrifft insbesondere die seit dem 17. Jahrhundert entstandenen

256  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Aufklärungs- und Esoterikforscher Markus Meumann die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als »innerweltliche Eschatologie, als Chiliasmus im säkularisierten Gewand«.709 Die radikale chiliastische Hoffnung auf einen immanenten Gottesstaat vor dem Ende der Welt wurde von der katholischen Kirche stets verurteilt.710 Die christliche Annahme von der Unvollkommenheit der Welt steht der Konzeption von Utopien entgegen.711 Im Neuen Testament gibt es keine Aussagen zur konkreten Gestalt der gesellschaftlichen und politischen Immanenz. Weder das Liebesgebot noch die Verheißungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sind mit einem konkreten gesellschaftlichen Zustand identifizierbar. Das verhindert die utopische Verabsolutierung politischer Zielvorstellungen.712 Rietter gab 1865/1866 zu bedenken, dass selbst das neutestamentlich offenbarte Gesetz im Hinblick auf das Jenseits von »Unvollkommenheit« geprägt sei. Es sei deshalb »hienieden weder von einer neuen (in alter und neuerer Zeit erwarteten) Ausgießung des heil. Geistes noch von dem angeblich fortschreitenden Zeit- und Weltgeiste etwas Besseres und Vollkommeneres zu hoffen«.713 Selbst die Reich-Gottes-Lehre verwischte nur die Grenzen zwischen transzendenter Vollkommenheit und irdischer Unvollkommenheit, überwand sie aber nicht. Die Immanenz hatte Anteil an der transzendenten Vollkommenheit, war aber an sich nicht vollkommen. Der Unterschied zwischen caritativer und juridischer Sozialethik bestand darin, dass jene an der – wenn auch nicht zu erreichenden – Vollkommenheit orientiert war, diese aber von unüberwindlicher immanenter Unvollkommenheit ausging.714 Die neuscholastische Rechtsphilosophie unterschied sehr strikt zwischen einem vollkommenen Zustand vor dem Sündenfall und einem unvollkommenen danach.715 Die juridische Sozialethik der Neuscholastik beabsichtigte deshalb eine Veränderung, sogar eine Verbesserung, Zeitutopien, während die Raumutopien der statischen Gesellschaftsauffassung des Mittelalters entsprachen. Vgl. Kilminster: Utopiediskussion 75; Koselleck: Verzeitlichung. 709 Meumann: Endzeit 419 f.; ferner Minois: Geschichte (1998) 232; Hölscher: Weltgericht 15–21. 710 Vgl. Minois: Geschichte (1998) 433. 711 Vgl. dazu Ebd. 233; Jørgensen: Potential 377; Seibt: Aspekte 103 f.  – Périn: Politik 326–356 lehnte 1878 alle Versuche zur Errichtung einer »neuen Gesellschaft« als unchristlich ab: »Das Christenthum verlangt das Opfer und die Abtödtung; der Socialismus rehabilitirt das Fleisch und proklamirt das Recht auf Genuß. Das Christenthum macht zum höchsten Gesetz des socialen Lebens die Liebe, von welcher die Gerechtigkeit niemals getrennt werden darf. Der Socialismus erkennt im Gegentheile kein anderes Gesetz für die socialen Beziehungen an als die stricte Gerechtigkeit, deren Princip er nicht in Gott, sondern in dem menschlichen Bewußtsein sucht […].« 712 Vgl. Knoll: Gedanke 5–19; Stegmann / Langhorst: Geschichte 607 f. 713 Rietter: Breviarium 52. 714 Höffe: Gerechtigkeit 29: »Als geschuldete Sozialmoral hat die Gerechtigkeit den Rang des elementar-höchsten Kriteriums allen Zusammenlebens, während die Wohltätigkeit das optimal-höchste Kriterium bildet und die Solidarität eine Zwischenstellung einnimmt.« 715 Vgl. dazu Knoll: Kirche 132.

… zur Akzeptanz von Unvollkommenheit  257

aber keine Vervollkommnung der sozialen und ökonomischen Zustände. Wenn es nach dem Historiker Heinz-Dieter Kittsteiner das Verdienst der »evolutiven Moderne« war, aus der »Diskrepanz zwischen Sein und Sollen die Verbesserung der Welt in Angriff genommen« zu haben und dadurch der »vergleichsweise statischen Welt der Bußpredigt, aber auch der Kasuistik« entkommen zu sein,716 dann beabsichtigte die neuscholastische Sozialethik die Verbesserung der Welt ohne die Überwindung dieser Diskrepanz. Der Jesuit Costa-Rossetti erinnerte 1888 daran, dass der Zweck des Staates nach Thomas in erster Linie im Rechtsschutz bestand, dann aber auch in der »zeitlichen Wohlfahrt« der Menschen.717 Darunter verstand er einen Zustand »irdischer Vollkommenheit des Menschen, der mit Annehmlichkeit verbunden ist und aus einer entsprechenden Menge äußerer Güter entsteht, welche regelmäßig und beständig zufließen«. Dieser Zustand »irdischer Vollkommenheit« war im Vergleich zur »Glückseligkeit«, worunter er den »Besitz des unendlichen Gutes, Gottes selbst, durch Erkenntniß und Liebe« verstand und die erst im Jenseits zu erlangen sei, allerdings gar nicht vollkommen: »Die wahre Glückseligkeit hier auf Erden ist ein unvollkommener Besitz Gottes, der die Leiden dieses Lebens zwar mildert, aber nicht ausschließt.«718 Als Ersatz für die vollkommene Glückseligkeit strebten die Menschen nach Wohlfahrt, die aufgrund ihres immanenten Charakters nur unvollkommen sein konnte: Der Mensch besitze ein unersättliches Verlangen nach Glückseligkeit, welches zwar in Gott allein vollständige Ruhe und Befriedigung findet, aber doch den Menschen hier auf Erden unwiderstehlich antreibt, die Übel zu fliehen, sich Güter zu erwerben und alle Mittel zu ergreifen, welche sich ihm darbieten, um zeitliche Wohlfahrt zu erlangen.719

In der Enzyklika »Sapientiae christianae« vom 10.  Januar 1890 propagierte Leo  XIII. die Unvollkommenheit von Gesellschaft: »Denn die Gesellschaft hat von Natur aus nicht den Zweck, des Menschen Endziel zu sein, vielmehr soll sie ihm nur geeignete Hilfsmittel bieten, zur Vollkommenheit zu gelangen.« Ein Staat solle deshalb nicht »nur auf irdisches Wohlsein und Beschaffung eines behaglichen und ungestörten Lebensgenusses« abzielen und »bei Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten Gott außer Acht lassen und um die Sittengesetze sich nicht kümmern«.720 Cathrein wollte 1899 zwar die sozialen Strukturen ändern, ging aber davon aus, keinen idealen Zustand herstellen zu können. Er wollte zwar die Gesellschaft umgestalten, aber nur »soweit dieß die Unvollkommenheit menschlicher Verhältnisse zuläßt«.721 Denn die Erde sei »kein 716 Kittsteiner: Entstehung 411 f. 717 Costa-Rossetti: Grundlagen 23. 718 Ebd. 10 f. 719 Ebd. 27 f. 720 Rundschreiben III s. v. Sapientiae christianae 8. 721 Cathrein: Frage 431.

258  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv beliebender Aufenthalt, sondern ein Ort der Prüfung und Pilgerschaft, wo es immer Leiden und Thränen geben und unser Herz nie vollkommenes Glück finden wird«. Dies beruhe auf göttlicher Anordnung und lasse sich deshalb nicht ändern.722 Da ein idealer Zustand der Gesellschaft aufgrund des göttlichen Weltplans nicht möglich war, ging es bei der Sozialpolitik für Cathrein um Hilfe zur Selbsthilfe. Es bleibe »doch immer das erste Erforderniß, daß die Arbeiter und kleinen Gewerbsleute sich durch eigene energische Thätigkeit selbst zu helfen suchen«.723 Selbst Lehmkuhl, ein später Vertreter der caritativen Sozialethik, behauptete 1895, »eine weltverändernde Umgestaltung der socialen Lage auf eine allgemeine Ausübung der christlichen Vollkommenheit bauen, wäre ein leeres Spiel der Phantasie«.724

13. Die Kirche als Heterotopie I: Gewissheit Die Behauptung des Kirchenhistorikers Otto Weiß, dass »übernatürliche Sicherungen«, eine »zentrale Bedeutung« für die ultramontane Religiosität besessen hätten und als Zeichen des »Rückzugs von den Gegenwartsaufgaben« zu werten seien,725 ist angesichts der Gefährlichkeit Gottes und eines riskanten Teufels zu revidieren. In der Transzendenz war zwar Sicherheit, die jedoch in der Immanenz nicht zu erkennen war. In Gott trafen sich Sicherheit und Unsicherheit, aus Sicht der Immanenz war er indes Gefahr. Sicherheit war für den Menschen nur nach dem Übertritt der Grenze zur Transzendenz zu erhalten. In der neuscholastischen Ekklesiologie hatte nicht mehr die ganze Immanenz Anteil am Reich Gottes. Nur mehr die katholische Kirche, die ihre Sichtbarkeit betonte und sich dadurch objektivierte, hatte Anteil an der Transzendenz. Und noch mehr: Nur innerhalb der Klerikalität der Amtskirche, an der die Laien nicht vollen Anteil hatten, wandelte sich die immanente Unsicherheit in transzendente Sicherheit. Im Gegensatz zum gefährlichen Gott und zum riskanten Teufel wurde die Kirche von der neuscholastischen Ekklesiologie bezeichnenderweise mit Begriffen der Sicherheit beschrieben.726 Nur die Kirche bot Sicherheit, wie Senestrey 1870 anlässlich der Okkupation Roms durch die italienischen Truppen deutlich machte. Die Verheißung Christi, wonach die Kirche durch die Pforten der Hölle nicht überwunden wird, sei »die Prophezeiung der Kämpfe der Kirche, aber noch deutlicher die Prophezeiungen der Siege der Kirche. Als göttliche Prophezeiung 722 Ebd. 445. 723 Ebd. 447. 724 Lehmkuhl: Arbeitsvertrag 26. 725 Weiß: Weisungen 11. 726 Dies zeigt sich etwa im Herz-Jesu-Kult, in dem Begriffe von Schutz und Sicherheit dominieren. Vgl. Busch: Frömmigkeit 303–309.

Die Kirche als Heterotopie I: Gewissheit  259

sind sie aber auch eine göttliche Garantie für diese Siege.«727 Conrad Martin fragte sich 1882: Wie kann aber der Papst der Wächter des Glaubens sein, wenn er nicht ganz genau, wenn er nicht, da es beim christlichen Glauben auf die höchste Gewißheit ankommt, mit unfehlbarer Genauigkeit die Spreu vom Weizen zu scheiden, wenn er nicht ganz genau zu sagen vermag, was dem christlichen Glauben gemäß und was ihm nicht gemäß sei, was zu ihm gehört und was nicht zu ihm gehört.728

In der Kirche herrschte gemäß neuscholastischer Ekklesiologie Sicherheit als Gewissheit.729 Zeichen dieser Gewissheit war die Unveränderlichkeit der christlichen Lehre. Martin führte aus: »Von dem widrigen Anblicke, den die Veränderlichkeit und das unstäte Wesen der Irrlehre gewährt, wendet man das Auge mit um so größerer Lust dahin, wo durch die Jahrhunderte immer Einheit und Unveränderlichkeit besteht.«730 Allein der Kirche war es möglich, so Leo XIII. in »Sapientiae christianae« vom 10. Januar 1890, »Gottes Wort mit Gewißheit auszulegen« und »die Menschen mit Sicherheit auf dem Pfad des Lebens zu führen«.731 Die Differenzierung von sicherer Kirche und unsicherer Umwelt, sei sie nun immanent oder transzendent, machte die Kirche zu einer Organisation im Sinne Luhmanns, nämlich zu einem System zur »Reproduktion selbsterzeugter Ungewißheit, die durch immer neue Entscheidungen (die aber denselben Effekt haben) bearbeitet werden muß«.732 Die Kirche transformierte tatsächlich nicht Unsicherheit in Sicherheit. Die Unsicherheit der kirchlichen Umwelt blieb erhalten. Sie behauptete aber, diese Unsicherheiten gewiss interpretieren zu können. So schützte die katholische Kirche die Menschen vor der unmittelbaren Erfahrung Gottes – nach Aussage des Psychiaters Carl Gustav Jung (1875–1961) eine der wesentlichen Eigenschaften des Christentums. Dessen Zweck bestehe darin, »unmittelbare Erfahrung zu ersetzen durch eine Auswahl passender Symbole, die in ein fest organisiertes Dogma und Ritual eingekleidet sind«.733 727 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1870 (14.10.1870). 728 Martin: Pfingstzeit 200. 729 Vgl. dazu auch Pottmeyer: Ultramontanismus 460. 730 Martin: Osterzeit 371. 731 Rundschreiben III s. v. Sapientiae christianae 32. So auch »Immortale Dei« vom 1.11.1885: »Da weiß denn ein Jeder, daß er auf der gefahr- und mühevollen Lebensbahn Führer findet, die ihm den sicheren Pfad zeigen, Helfer, die ihm bis zum Ende beistehen. Auch weiß er, daß andere ihm seine Sicherheit verbürgen und ihn in seiner Habe und in den übrigen Vortheilen, welche das Leben in der Gesellschaft mit sich bringt, schützen.« Vgl. Rundschreiben II s. v. Immortale Dei 22. 732 Dies erklärt für Luhmann nicht zuletzt die hierarchische Struktur von Organisationen, »denn vertikale Integration ist das wichtigste Mittel der Umformung von Unsicherheit in Sicherheit«. Vgl. Luhmann: Religion 248. 733 Jung: Psychologie 56.

260  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Die neuscholastische Ekklesiologie griff mit der Unterscheidung zwischen innerkirchlicher Gewissheit und außerkirchlicher Unsicherheit, die nicht deckungsgleich war mit Immanenz und Transzendenz, mit Gott und Welt, auf eine vor die cartesianische Wende zurückreichende philosophische Tradition zurück, die ein unsicheres wandelbares Reich des praktischen Handelns und ein sicheres unwandelbares Reich der Theorie unterschied.734 Ein Beispiel für die Art und Weise, wie außerkirchliche Unsicherheit innerkirchlich in Gewissheit transformiert wurde, stellen die aus dem Jahr 1906 stammenden Überlegungen des Breslauer Dogmatikers Josef Pohle über die Möglichkeit außerirdischen Lebens dar. Dabei unterschied er drei Grade der Notwendigkeit. Eine metaphysische Notwendigkeit für außerirdisches Leben liege nicht vor, da im Fehlen solchen Lebens kein Widerspruch liege. Auch von physischer Notwendigkeit könne keine Rede sein, da es nicht vorhanden sein müsse, um den Naturgesetzen nicht zu widersprechen. Außerirdisches Leben könne allein aus moralischer Notwendigkeit gefolgert werden. Eine »freie Intelligenz« könne unter dem »Drucke eines moralischen Sollens« Organismen ins Leben rufen. Damit wollte er das Wirken Gottes weder »unter ein unerbittliches Fatum stellen, noch die göttliche Aktionsfreiheit nach aussen im mindesten beeinträchtigen«. Denn er gehe selbstverständlich davon aus, »dass Gott tatsächlich nur solche Werke nach aussen vollbringt, welche seiner Majestät würdig sind und im schönsten ideellen Einklang mit all’ seinen Attributen stehen«, obgleich er zugebe, »dass ihm die Freiheit zu einer anderen Handlungsweise durchaus nicht mangelt«. Es handle sich hierbei zwar um »Kongruenzgründe«, die nur Wahrscheinlichkeit zu erzeugen in der Lage sind, aber ihr innerer Wert ist in der Regel doch so gross, dass bei der harmonisch abgeglichenen Uneigennützigkeit, Ungezwungenheit und Freigebigkeit, welche das göttliche Wirken und Schaffen auszeichnen, der Eintritt eines durch solche Kongruenzgründe gestützten Ereignisses mit Sicherheit erwartet werden kann.735

Eine lediglich materielle außerirdische Schöpfung widerspreche dem Weltzweck der Verherrlichung Gottes, »so dass wir nachdrücklich auf erkennende Geschöpfe, als die Hauptfaktoren zur Verwirklichung des höchsten Weltzweckes, hingewiesen werden«.736 Die Möglichkeit von außerirdischem Leben war durch die Kirche also theologisch gewiss bewiesen. Die Differenzierung zwischen einer kirchlichen Sphäre der Gewissheit und einer außerkirchlichen Sphäre der Unsicherheit wurde auch sozialethisch wirksam.737 Im Jahr 1872 führte Senestrey aus: 734 Dewey: Suche 23–86. 735 Pohle: Sternenwelten 442 f. 736 Ebd. 444–461. 737 Bereits in der spanischen Spätscholastik war das innerkirchlich wirkende Kirchenrecht an Gewissheit orientiert, d. h. tutioristisch, während sich die außerkirchlich wirkende Moral-

Risiko als sozialpolitische Lösung  261

Aber wenn wir durchaus sicher sind für die Kirche, sicher ihrer Befreiung, sicher ihres endlichen Sieges, so müssen doch wir selbst unter Furcht und Zittern unser Heil wirken, wie der Apostel sagt. Die Kirche Gottes unterliegt nie, aber die Einzelnen, ganze Familien, ganze Geschlechter, ganze Gemeinden, Länder und Völker können den wahren Glauben, können jedes Licht des Christenthums verlieren.738

Die Kirche wurde als epistemische Heterotopie wahrgenommen, als Andersort, an dem die Gesetze des Alltags nicht galten.739 Die Kirche beanspruchte, mit Gewissheit beurteilen zu können, was ungewiss war und wie es ungewiss war, ohne selbst ungewiss zu werden oder die Welt sicher zu machen. Der Thomist Plaßmann suchte in der Moraltheologie 1861 die »unerschütterliche Sicherheit, womit sie das Sichere, das Wahrscheinliche, das Zweifelhafte, jedes als solches bezeichnet, ohne selbst der zerstörenden Macht der beiden Letzteren anheimzufallen«.740 Dabei verlor alles, was sich außerhalb der Kirche befand, notwendigerweise an Gewissheit. Den höchsten Grad an Gewissheit besaß die in der Offenbarung liegende theologische Gewissheit. Es folgte die mathematische Gewissheit der intellektuellen Evidenz, dann die physische Gewissheit der mit den Sinnen wahrnehmbaren Naturgesetze, die Kontingenz und Abweichung zuließen. Schließlich folgte die das menschliche Zusammenleben prägende moralische Gewissheit, »welche von der größeren oder geringeren Gabe der Intelligenz, der Festigkeit und Beständigkeit der Grundsätze, von der Festigkeit und Beständigkeit des mehr oder weniger habituell gewordenen moralischen Lebens eines freien Wesen abhängt«.741 Auf der Grundlage dieser Abstufungen konnte die theologische Sozialethik gewisse (sichere) Prinzipien für die Herstellung eines riskanten (unsicheren) Lebens aufstellen.

14. Risiko als sozialpolitische Lösung Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) bezeichnete das 19. Jahrhundert als »goldenes Zeitalter der Sicherheit«.742 Karl Marx äußerte die Ansicht, dass die Sicherheit der wichtigste Begriff der bürgerlichen Gesellschaft sei, da sie dadurch ihren Egoismus absichere.743 Damit meinte er die Rechtssicher­

theologie an der Wahrscheinlichkeit von Handlungen orientierte, d. h. probabilistisch war. Vgl. Otte: Probabilismus 292. 738 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1872 (9.5.1872). 739 Zum Begriff der Heterotopie vgl. unten Kapitel IV.17. 740 Plaßmann: Moral 9. 741 Ders.: Vorhallen 344–346. So auch Rietter: Moral 245 f. und 255. 742 Zit. nach Makropoulos: Sicherheit 748. 743 Vgl. dazu Kaufmann: Sicherheit (1973) VII.

262  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv heit. Der Rechtssicherheit folgte chronologisch die soziale Sicherheit.744 Grundlegend für diese Entwicklung war, dass die Sicherheit in der Episteme der Aufklärung diskursiv von der Ausnahme zum Normalfall geworden war und die Unsicherheit vom Normalfall zur Ausnahme.745 Dabei weisen Evers und Nowotny darauf hin, dass die Sozialpolitik nicht Sicherheit herstellt, sondern eine Art von Unsicherheit in eine andere, Gefahren in Risiken transformiert.746 Für den Versicherungsforscher Friedbert W. Rüb ist es nicht die soziale Sicherheit, sondern die »Semantik des ›Risikos‹ und der ›Versicherung‹«, die für den Sozialstaat kennzeichnend sei und den Übergang von der liberalen zur wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitik markiert.747 Damit übereinstimmend weist der Soziologe Hartmut Rosa darauf hin, dass der Sozialstaat sozialen Wandel und Kontingenz nicht aufhebt, sondern garantiert, dass der soziale Wandel nach berechenbaren Regeln verläuft.748 Von der juridischen Sozialethik der Neuscholastiker war dies so beabsichtigt. Nicht die Herstellung von Sicherheit, sondern die Ermöglichung von Risiko war die Absicht. Périn erinnerte 1876 daran, dass der Zweck des diesseitigen Lebens im jenseitigen lag. Deshalb sei ganz besondere Sorgfalt darauf zu richten, daß auch die niederen Klassen in Stand gesetzt werden, mit Leichtigkeit und Sicherheit aus eigener freier Anstrengung, jene zeitliche und geistliche Aufgabe erfüllen zu können, zu deren Erfüllung Alle ohne Ausnahme in gleicher Weise berufen sind.749

Nicht Herstellung von Sicherheit, sondern Schaffung von Möglichkeiten war das zentrale Anliegen der juridischen Sozialethik, wie es Costa-Rossetti 1888 zum Ausdruck brachte, indem er die Frage stellte: »Sind die öffentlichen Zustände so, daß es jeder Klasse, jeder Familie und jedem einzelnen Bürger für gewöhnlich möglich ist, bleibendem Elende zu entgehen?«750 Wenn der Soziologe 744 Der Begriff der »sozialen Sicherheit« wurde freilich erst vom US -amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (1882–1945) im Zusammenhang mit dem New Deal geprägt. Vgl. Conze: Sicherheit (1984) 856 f. 745 Zwierlein: Konstruktion 15. 746 Evers / Nowotny: Umgang 144. In seiner bisweilen noch etwas unausgegorenen Pionierstudie zur sozialen Dimension des Risikos behauptet der Soziologe Ulrich Beck, dass die Risikogesellschaft von einer defensiven »Utopie der Sicherheit« bestimmt sei. Vgl. Beck: Risikogesellschaft 65. 747 Vgl. Rüb: Risiko 303–309. 748 Vgl. Rosa: Beschleunigung 156. 749 Périn: Politik 12–21. – Schlögl: Glaube (1995) 293–296 stellt fest, dass die Wirtschaft in der katholischen Literatur seit den 1830er Jahren immer häufiger, wenn auch noch nicht dominierend, nicht unter dem Leidensaspekt betrachtet wurde, sondern als Voraussetzung für die Erzielung wirtschaftlicher Unabhängigkeit, um die religiösen Pflichten erfüllen zu können. 750 Costa-Rossetti: Grundlagen 33.

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Georg Vobruba behauptet, dass der Zusammenhang von Freiheit und sozialer Sicherheit, der individuelle Autonomiegewinn durch gesetzliche Maßnahmen, in den sozialpolitischen Diskursen des 19. Jahrhunderts nur eine marginale Rolle spielte,751 dann gilt dies zumindest nicht für die juridische Sozialethik. Hier spielte er die Hauptrolle. Als ein Mittel zur sozialpolitischen Ermöglichung von Freiheit erschienen die Produktivassoziationen. In der juridischen Sozialethik wurden die von dem Liberalen Schulze-Delitzsch und dem Sozialdemokraten Lassalle entwickelten und von der caritativen Sozialethik abgelehnten Produktivassoziationen erstmals von den Historisch-politischen Blättern 1857 zustimmend aufgegriffen. Produktivassoziationen erschienen nun als geeignetes Mittel, um die Trennung von Arbeit und Kapital aufzuheben und den Arbeiter zu entproletarisieren.752 Einen – letztlich gescheiterten – Versuch zur tatsächlichen Umsetzung dieser Produktivassoziationen stellte das Konzept der »christlichen Fabrik« des eidgenössischen Kapuziners Florentini dar. Er referierte darüber auf dem Frankfurter Katholikentag von 1863. Die Arbeiter »sollten angeleitet werden Sparkassen anzulegen, um allmählig sich Kapitalien zu verschaffen, um sich in den Stand zu setzen, daß sie selbständige Fabriken errichten und bauen können«.753 Auf dem Würzburger Katholikentag im Jahr darauf zielte der Jurist und bayerische Landtagsabgeordnete Johann Joseph Roßbach (1813–1869) ebenfalls auf die Entproletarisierung der Arbeiter ab. Er forderte, »den vierten Stand emporzuheben«, und zwar »zur Mittelklasse«. Dies sollte erreicht werden durch die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Kapital, also durch die Beteiligung der Arbeiter an den Unternehmen.754 Ketteler forderte die Umwandlung von Arbeitnehmern in Kapitalbesitzer durch die Errichtung von Produktivassoziationen in seiner Schrift »Die Arbeiterfrage und das Christentum« von 1864.755 Als Eberl 1866 die Errichtung von Produktivassoziationen forderte, um die Arbeiter zu Unternehmern zu machen und dadurch zu entproletarisieren,756 machte er deutlich, dass es ihm dabei nicht um Sicherheit, sondern um Agonie und Unsicherheit ging: Ohne Kampf Versumpfung und Tod. Die Sicherheit der Arbeit und des Lebensunterhaltes hat schon für Manche zum Ruhekissen gedient und auch an diesen Gebrechen haben die Zünfte manchen Antheil genommen. Die freie Concurrenz treibt zum Fortschritt und als solche liegt etwas Leben Gebendes, etwas Gutes, allein des Menschen 751 Vgl. dazu Vobruba: Freiheit 137 f. 752 Zu den Produktivassoziationen in der katholischen Sozialethik vgl. Stegmann: Katholizismus 42–56. 753 Verhandlungen der fünfzehnten Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands 254–269; zur christlichen Fabrik des Theodosius Florentini vgl. Conzemius: Fabriken; Stegmann: Katholizismus 56–58; ders. / Langhorst: Geschichte 642–644. 754 Zit. nach Ebd. 704. 755 Vgl. Bauer: Ideenwelt 24. 756 Eberl: Kirche 39.

264  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Würdiges in ihr. Stillstand in der Cultur ist Rückschritt und dieser ist wie auf dem sittlichen ebenso auf materiellem Gebiete zu verdammen.757

Die Lösung der sozialen Frage bestand für Ratzinger 1895 in »Vereinigung von Arbeit und Kapital und möglichste Theilnahme aller an den Productionsmitteln«.758 Jeder solle »nach seiner Stellung und Arbeitsleistung Theilhaber sein«.759 Dabei betonte er, dass es ihm dabei nicht nur um die materielle Besserstellung der Arbeiter ging, sondern darum, sie durch Eigenverantwortlichkeit »moralisch« zu fördern und die Produktivität zu steigern. Die Stellung als »Miteigenthümer« werde das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit, den Geist der Sparsamkeit und Sorgfalt in ihm [dem Arbeiter] hervorrufen und das gemeinsame solidarische Interesse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zum Bewußtsein bringen. Wenn der Arbeiter nicht bloß mehr, aus bitterer Noth gezwungen, für fremden Profit arbeitet, sondern sein eigenes Interesse sieht, wird er viel intensiver thätig sein, wird er Maschinen und Werkzeuge viel sorgsamer behandeln, mit dem Materiale viel sparsamer umgehen.760

Dippel forderte 1873, dass »der Arbeiter sein eigener Unternehmer wird, somit nicht einen Arbeitslohn bezieht, sondern den Arbeitsertrag, den Unternehmergewinn selbst«. Er schlug deshalb die Errichtung von »Productiv-Associationen«, wie sie von Lassalle konzipiert worden waren, vor.761 Dabei lehnte er den von Schulze-Delitzsch vorgeschlagenen Weg, die Arbeiter in Selbsthilfevereinen auf freiwilliger Grundlage zu organisieren, ab. Sie könnten nur »als eine Ironie und als ein Spott auf die Arbeiter« bezeichnet werden: »Eine den ganzen Arbeiterstand umfassende Hilfeleistung wird aber einzelnen Wohlhabenden und auch einzelnen Vereinen nicht möglich sein, so daß nichts übrig zu bleiben scheint als eben die Staatshilfe.«762 Deshalb setzte er auf rechtlichen Zwang: Es kann und darf darum nicht dem Belieben des Einzelnen überlassen bleiben, ob und was sie etwa dem Staate zur Verfügung stellen wollen, sondern es muß dem Staate das Recht gewahrt bleiben zu fordern, daß die Unterthanen je nach Maßgabe ihrer Kräfte und ihres Vermögens für den vom Staate ihnen gewährleisteten Schutz und die übrigen aus dem Staatsverbande ihnen erwachsenden Güter Vergütung gewähren und Entgelt leisten.763

757 Ebd. 24. 758 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 455 f. 759 Ebd. 463. 760 Ders.: Volkswirthschaft (1881) 399. 761 Dippel: Gesellschafts-Lehre 352. 762 Ebd. 354. 763 Ebd. 357.

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Nächstenliebe und Entsagung hielt er zu diesem Zweck für unzureichend, da »diese Principien für sich allein jetzt das Antlitz der Gesellschaft nicht umzugestalten vermögen, da die Arbeiter bei ihrem jetzigen Lohnbezug sich nichts ersparen können und die Liebe der Andern nicht so große Opfer bringen kann, daß die ungeheure Kluft eingeebnet werden könnte«. Er postulierte also eine Erhöhung des Anteils der Arbeiter am Arbeitsertrag durch die Beteiligung am Unternehmergewinn auf der Grundlage eines Rechtsanspruchs.764 Die Willensfreiheit konnte sich für Dippel also nicht im liberalen laissez-faire von SchulzeDelitzsch entfalten, sondern durch eine rechtliche erzwungene Restrukturierung der Gesellschaft, die das Leben für den Arbeiter von einer Gefahr zu einem Risiko machen sollte. Der Staat sollte durch rechtlichen Zwang eine riskante Gesellschaft ermöglichen, aber keine sichere herstellen. Dadurch grenzte sich die juridische Sozialethik der Neuscholastik sowohl vom laissez-faire des Liberalismus ab als auch von sozialistischem Sicherheitsstreben. Biederlack gab 1898 zu bedenken, dass eine »gute, die Menschen zufriedenstellende Gesellschaftsordnung« die Moralität der Menschen weder übernoch unterschätzen sollte. Der Liberalismus habe die Moralität der Menschen überschätzt, der Sozialismus unterschätze sie.765 Franz Walter kritisierte am Sozialismus 1906 die fehlende Willensfreiheit. Es gebe keine freie Berufswahl und ohne Klassenunterschiede fehle die Möglichkeit des Aufstiegs: Der Socialismus hat die geistigen Potenzen des Menschen, Vernunft und freien Willen, und den Reiz, den die freie, nach eigener Ansicht geregelte Thätigkeit immer äußert, ganz außer acht gelassen. Er hat aber damit nicht bloß der Freiheit und dem Fortschritt ein Grab bereitet, sondern den Menschen auch seiner Würde entkleidet. Den Genuß und die Befriedigung, welche eine wenn auch noch so kleine Eigenthumssphäre bietet, den veredelnden Einfluß auf die Charakterbildung, der mit einer gewissen wirtschaftlichen Selbständigkeit verbunden ist, hat er verkannt und an deren Stelle den bloß materiellen Genuß gesetzt.766

Nachdem sich die Produktivassoziationen als nicht durchführbar erwiesen hatten, suchten die katholischen Sozialethiker nach Alternativen. Als eine Möglichkeit, den gefährlichen Charakter des Arbeitslebens für die Arbeiter in Risiko zu transformieren, erwies sich die betriebliche Mitbestimmung.767 Wenn die Arbeiter schon nicht Unternehmer sein konnten, dann sollten sie das Geschick 764 Ebd. 359. 765 Biederlack: Frage 8. 766 Walter: Kapitalismus 210–213. 767 Zur Geschichte der betrieblichen Mitbestimmung vgl. Stegmann: Katholizismus 68– 131. Für Stegmann hat die Forderung nach betrieblicher Mitbestimmung mit den Produktivgenossenschaften »nichts zu tun«, da die Unternehmensverfassung durch die Mitbestimmung keinen genossenschaftlichen Charakter bekommen sollte, sondern die herrschaftliche Struktur erhalten blieb und sich die Tätigkeit der Arbeiterausschüsse nicht auf die Führung

266  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv der Unternehmen mitbestimmen können. Deshalb waren katholische Sozialethiker federführend an der gesetzlichen Ausgestaltung der betrieblichen Mitbestimmung beteiligt, so Hitze an der so genannten Lex Berlepsch von 1891. Seither waren die Arbeiter wenigstens vor dem Erlass einer Arbeitsordnung zu hören. Das war allerdings nur der zaghafte Beginn der betrieblichen Mitbestimmung, für die sich der Staat zu interessieren begann, nachdem die Erfahrungen mit den Arbeitervertretern in den Krankenversicherungen Befürchtungen über sozialistische Umtriebe nicht bestätigten und sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass die Mitbestimmung ein Mittel zur Streikverhinderung darstellte.768 Auf Initiative der katholischen Zentrumspartei wurde dann am 24. Juni 1892 eine Novelle zum preußischen Berggesetz von 1865 erlassen. Es schuf erstmals die Möglichkeit zur Einrichtung von Arbeiterausschüssen, wenn auch nur auf den Bergbau begrenzt und nicht obligatorisch. Dabei erstreckten sich ihre Funktionen auf personelle und soziale Angelegenheiten der Arbeiter, nicht jedoch auf die Unternehmensführung. Nachdem Bayern als erster deutscher Bundesstaat im Jahr 1900 obligatorische Bergarbeiterausschüsse eingeführt hatte, brachte die Berggesetznovelle vom 14. Juni 1905 dann reichsweit die obligatorische Arbeitervertretung im Bergbau ab einer Unternehmensgröße von 100 Arbeitern.769 Die betriebliche Mitbestimmung blieb ein zentrales Thema der juridischen katholischen Sozialethik. Als Heinrich Koch 1904 die soziale Frage durch die »Gleichstellung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Großindustrie« lösen wollte,770 erblickte er in der betrieblichen Mitbestimmung ein geeignetes Mittel dazu. Er hatte erkannt, dass das patriarchalische Arbeitsverhältnis in Handwerk, Landwirtschaft und Kleinhandel, das auf der Grundlage persönlicher Bekanntschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Fürsorge beinhaltete, auf die Großindustrie nicht zu übertragen war. Denn es fehle das »persönliche Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber«. Dem Arbeitgeber werde nicht »Hochschätzung und Verehrung« von Seiten des Arbeiters entgegengebracht, weshalb ihm auch nicht »Fürsorge für das leibliche und geistige Wohl« zur Pflicht gemacht werden könne. Deshalb forderte er als Ersatz die betriebliche Mitbestimmung in Arbeiterausschüssen, damit »das Selbstverantwortungsgefühl der Arbeiter mehr berücksichtigt und ihnen ein größeres Mitbestimmungs- und Mitverwaltungsrecht« eingeräumt werde. Ihre Aufgaben sollten in der Verwaltung der Wohlfahrtseinrichtungen, in der Mitsprache bei der des Unternehmens erstreckte. Vgl. Ebd. 191 f. Er übersieht, dass es trotz der Unterschiede in beiden Entwürfen um die Willensfreiheit ging, weshalb beide Entwürfe entproletarisierend wirken sollten. 768 Zur Novelle zur Gewerbeordnung, der so genannten Lex Berlepsch, benannt nach dem preußischen Sozialreformer Hans Hermann von Berlepsch (1843–1926), vgl. Frerich / Frey: Handbuch 130–132; Stegmann: Katholizismus 98–108. 769 Zur Einführung von Arbeitervertretungen im Bergbau vgl. Ebd. 114–119. 770 Koch: Gleichstellung 235.

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Arbeitsordnung und in schiedsgerichtlichen Funktionen liegen. Dadurch hoffte er die Großbetriebe zu »Gemeinschaften« umzugestalten, die »etwas vom Geiste der Familien mit ihren Herrschafts- und Dienstverhältnissen behalten, aber auch infolge der fortschreitenden Demokratisierung der Gesellschaft etwas vom Geiste der Gemeinde und Genossenschaft, etwas Selbstverwaltung in sich aufnehmen müssen«.771 Eine schwache Erinnerung an die personalistischen Wurzeln der katholischen Sozialethik war noch vorhanden. Sie wurden aber strukturell eingehegt. Eine weitere Möglichkeit zur Entproletarisierung sah die juridische Sozialethik in der Gewinnbeteiligung der Arbeiter an den Unternehmen. Buß hatte eine Beteiligung der Arbeiter am Gewinn des Unternehmens 1837 abgelehnt, da er diesen als »Ersatz für erlittene Verluste, überhaupt für das Wagnis«, woran der Arbeiter keinen Anteil habe, betrachtet hatte. Stattdessen solle dem Arbeiter durch die Förderung seiner Ausbildung und von Kreditanstalten ermöglicht werden, sich selbstständig zu machen. Außerdem sollten ihn Versicherungen vor Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit schützen und ihm die Verheiratung ermöglichen.772 Reischl hielt eine Gewinnbeteiligung 1892 nur für gerechtfertigt, wenn der Lohn nicht hoch genug war, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Denn das (unternehmerische) Risiko konnte durch Gewinnbeteiligung wieder zur Gefahr werden: Auch vom christlichen Standpunkt aus dürfen wir kein unbedingtes Recht auf den Reingewinn vertheidigen. Denn es würde, folgerichtig durchgeführt, ein solches unbedingtes Recht die persönliche Freiheit überhaupt und das persönliche Eigenthum aufheben. Wo der Arbeitslohn im rechten Verhältnisse zur Arbeitsmühe und den Kosten menschenwürdiger Lebenshaltung steht, bleibt eine Forderung auf Antheil am Gewinne unstatthaft.773

Reichensperger dagegen trat 1847 bereits bedingungslos für eine Gewinnbeteiligung ein, als er Produktivgenossenschaften ablehnte. Er wollte dem Arbeiter die Möglichkeit bieten »aus dem Zustande der Abhängigkeit in den eines selbständigen Meisters oder eines Manufaktureigenthümers überzugehen«.774 Deshalb forderte er die Einführung einer Gewinnbeteiligung, die dem Arbeiter »das Bewußtseyn einflößt, nicht lediglich für einen Dritten, sondern auch für sich selber gut oder schlecht zu arbeiten«. Dadurch könne sich der Arbeiter »ein mäßiges Kapital verschaffen«, um »seine Aussichten für die Zukunft zu mehren«.775 771 Ebd. 381–386. 772 Wortlaut der Rede des Abgeordneten Buß vom 25. April 1837 über das soziale Problem. In: Retzbach: Buß 48–85, hier 76–78. 773 Reischl: Arbeiterfrage 190 f. 774 Reichensperger: Agrarfrage 219 f. 775 Ebd. 252–254.

268  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Dabei ging es ihm nicht um Behebung von Not, sondern um Ermöglichung von Willensfreiheit. Denn das Wesen des Menschen sei die Freiheit. Sie soll keineswegs den Mißbrauch ausschließen, sie besteht grade in der Möglichkeit desselben; – wird diese Möglichkeit durch äußere Gewalt aufgehoben, so besteht jene Freiheit nicht mehr und der Mensch ist um das Recht seiner Persönlichkeit betrogen, also zur Sache herabgewürdigt.776

Dabei zeigt die Forderung nach Gewinnbeteiligung, dass sich auch in der neuscholastischen Sozialethik die sich entwickelnde Vorstellung des Unternehmens als einer von der Gesamtheit der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern abgeschlossenen Arbeitsverträge unabhängigen juristischen Person, äußerte.777 Die Lösung sozialer Probleme wurde vom zwischenmenschlichen Arbeitsvertrag auf das verobjektivierte transpersonale Unternehmen als juristischer Person übertragen. Schließlich wurde auch in der gesetzlichen Regulierung der Lohnhöhe eine geeignete sozialpolitische Maßnahme gesehen. Im Jahr 1882 beschloss der Frankfurter Katholikentag die Bildung einer Expertenkommission zur Beratung sozialer Themen. Erstmals trat sie im Juni 1883 auf dem im Besitz von Fürst Löwenstein befindlichen Schloss Haid in Böhmen zusammen. Daraus entstand die Freie Vereinigung katholischer Socialpolitiker. Die Beschlüsse, die so genannten »Haider Thesen«, wurden auf dem Katholikentag in Amberg 1884 vorgestellt.778 Der Arbeitsvertrag sollte derart gestaltet werden, »daß der Willkür der Contrahenten durch Aufstellung allgemeiner, den Verhältnissen der Arbeiter zur christlichen Gesellschaft entsprechender Grundsätze engere Grenzen gezogen werden«. Im Hinblick auf den Arbeitslohn wurde die Forderung erhoben, »daß in dem Lohne das Äquivalent alles dessen enthalten sei, was der Arbeiter dafür bietet, sondern es wäre das Gegentheil eine Verletzung der Gerechtigkeit, auf deren Gesetzen die christliche Gesellschaft beruht«. Die Leistung des Arbeiters bestehe in Zeit, Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz, Ausbildung, Verantwortung und der Gefahr für Gesundheit und Leben, der er sich in der Fabrik aussetzt. Deshalb müsse der Lohn »für einen Arbeiter bei normaler Arbeitskraft ohne übermäßigen Aufwand von Zeit und Kraft alle erforderlichen Existenzmittel (eventuell auch für eine Familie) und einen mehr oder minder großen Sparpfennig für die Zeit der Arbeitslosigkeit gewähren«.779 Da der Arbeitnehmer mit der Arbeit auch die mit dieser »verbundene Gefahr« übernimmt, müsse der Lohn 776 Ebd. 661 f. 777 Vgl. dazu Ewald: Vorsorgestaat 317. 778 Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 3–5. 779 Beschlüsse, vorgelegt auf dem Amberger Katholikentag 1884. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 7–19. Vgl. dazu Knoll: Gedanke 132–143; Stegmann / Langhorst: Geschichte 647–650. Auch der an den Haider Thesen beteiligte Ratzinger forderte einen gerechten Lohn. Vgl. Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 23 f.

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auch die »in ihr liegende Gefahr« berücksichtigen, so Lehmkuhl 1893. Dies sei die »naturgemäße und normale Regelung des gegenseitigen Verhältnisses zwischen Arbeiter und Arbeitgeber«.780 Übereinstimmend mit Hertling781 schlug Biederlack 1898 die gesetzliche Regulierung der Lohnhöhe vor, da das naturrechtliche Gebot der Existenzerhaltung durch die Bestimmung der Lohnhöhe durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nicht garantiert werden könne. Die Lohnhöhe sollte sich entsprechend der distributiven Gerechtigkeit nach den Aufwendungen des Arbeiters für die Ausführung der Arbeit orientieren. Zu diesen Aufwendungen gehörten Zeit, Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz, Vor- und Ausbildung, Verantwortlichkeit und ein Ausgleich für die gesundheitliche Gefahr, der sich der Arbeiter für die Arbeit aussetze. Der Arbeiter habe »ein Recht auf den Ersatz seiner Lebenskräfte, die ja sein Capital ausmachen, wenn er im Alter die Arbeit verlassen muß«. Dabei müsse im Arbeitslohn auch die Gefahr der Arbeits­losigkeit berücksichtigt werden: »Es entspricht dem Naturrechte also, wenn der Arbeitslohn auch um jenen Betrag gesteigert wird, der dieser Gefahr entspricht. Auch sie bildet einen Theil des Selbstkostenwertes der Arbeit.«782 Deshalb betrachtete Biederlack aber die Sozialversicherungen skeptisch. Sie waren für ihn nur ein Beweis dafür, dass die Höhe der Löhne unzureichend sei. Deshalb sollten die Versicherungsbeiträge als Teil des Lohns betrachtet und gänzlich durch die Arbeitgeber geleistet werden.783 Dieser Ansicht war auch Franz Walter, der 1899 eine Lohnhöhe nach Maßgabe der Gerechtigkeit forderte: Der Arbeitsherr muß nach der stricten Gerechtigkeit jenen Lohn zahlen, welchen der Arbeiter braucht, um die im Dienste des Arbeitgebers aufgewendeten und verausgabten Kräfte wiederherzustellen. Dieser Lohn stellt nicht mehr als den Selbstkostenpreis der Arbeit her. Ebenso müssen die Ausgaben für Aneignung der nöthigen Kenntnisse und Fertigkeiten, das besondere Risico, das mit der Arbeit verknüpft ist, sowie die Sorge für das Alter auf die Lohnhöhe bestimmend einwirken.784

Als weitere Maßnahme zur Bewältigung von sozialer Unsicherheit galt der juridischen Sozialethik die Einführung eines Kündigungsschutzes.785 Auch Scheim­ pflug sah in Unsicherheit und Unselbstständigkeit 1889 das eigentliche Problem der sozialen Frage. Für ihn war dabei vor allem das »kurzfristig kündbare Salariat« ein Problem. Denn es ermögliche dem Arbeiter nicht, »selbstständig zu werden, das heißt aus dem auf Lebensdauer unleidlichen Zustande kurzfristig kündbarer Verdingung zu einer sicheren Lebensstellung zu gelangen«. Deshalb 780 Lehmkuhl: Frage 33. 781 Hertling: Naturrecht 59–61. 782 Biederlack: Frage 124–131. 783 Ebd. 198–200. 784 Walter: Socialpolitik 296 f. 785 Wirksame Maßnahmen zum Kündigungsschutz wurden im Deutschen Reich erst nach dem Ersten Weltkrieg umgesetzt. Vgl. Frerich / Frey: Handbuch 192 f.

270  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv verlangte er die Ersetzung des Arbeitsvertrages durch obrigkeitliche Satzung.786 Koch forderte 1905 die Einführung eines Kündigungsschutzes, »um die willkürliche Kündigung seitens des Unternehmers, die den Arbeiter plötzlich vor eine unsichere Zukunft stellt, einzuschränken«. Jede Kündigung sollte durch ein Gewerbegericht überprüft werden. Unverschuldete Kündigungen sollten entschädigt werden. Darin sah er ein »Werk ausgleichender Gerechtigkeit«, um »die Nachteile, unter denen der Arbeiter bei gleicher Behandlung seitens des Rechts leidet, nach Möglichkeit auszugleichen«.787 Zu den frühesten sozialpolitischen Vorschlägen katholischer Autoren gehörte der Schutz vor gesundheitlichen Schädigungen der Arbeiter durch den industrialisierten Produktionsprozess. Buß forderte in seiner Fabrikrede von 1837 den Schutz der Arbeiter vor gesundheitlichen Gefahren durch eine Beschränkung der Arbeitszeit, insbesondere der Kinderarbeit, ärztliche Untersuchungen in den Fabriken und regelmäßige staatliche Fabrikkontrollen.788 Der vom Zentrum 1877 eingereichte so genannte Antrag Galen, benannt nach dem Zentrumspolitiker Ferdinand Heribert von Galen (1831–1906), war der erste Gesetzentwurf zum präventiven Arbeiterschutz im Deutschen Reichstag. An der Ausarbeitung waren neben Joerg und Hertling vor allem der Agrarpolitiker Burghard von Schorlemer-Alst (1825–1895) und der Priester Adolph Franz (1842–1916) beteiligt.789 Liberatore befürwortete die Arbeiterschutzgesetzgebung 1891. Denn es handle sich um Gesundheit und Leben so Vieler unserer Brüder, welche unter so vielen Gefahren für den Wohlstand Anderer arbeiten. Man schaudert, wenn man von den schrecklichen und so häufigen Unglücksfällen hört, die nur zu oft der Nachlässigkeit oder dem Geize jener zuzuschreiben sind, welche den Arbeiten vorstehen.790

Für Franz Walter war es 1906 Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass »der Kapitalismus seine Übermacht dem Arbeiter gegenüber nicht mißbrauche«. Deshalb müsse er für Arbeiterschutz sorgen: »Weil der Staat, wie Thomas sagt, der Hüter des Rechtes ist, darf er nicht mit verschränkten Armen zusehen, wenn dem Arbeiter das Recht auf Existenz, das Recht auf Leben und Gesundheit verkümmert wird.«791 786 Scheimpflug: Thesen 43–50. 787 Koch: Gleichstellung 389–391. Seit 1890 bestand im Deutschen Reich die Möglichkeit zur Errichtung von Gewerbegerichten, diese wurden dann 1901 immerhin in Gemeinden über 20 000 Einwohnern obligatorisch. Zu den Gewerbegerichten vgl. Frerich / Frey: Handbuch 139 f. 788 Wortlaut der Rede des Abgeordneten Buß vom 25. April 1837 über das soziale Problem. In: Retzbach: Buß 48–85, hier 79. 789 Vgl. Sellier: Arbeiterschutzgesetzgebung 68–77. Zur Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung im Deutschen Reich vgl. Frerich / Frey: Handbuch 128–139; Stolleis: Geschichte (2003) 89–95. 790 Liberatore: Grundsätze 293 f. 791 Walter: Kapitalismus 194 f.

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Grundlage dieser Forderungen war die Wahrnehmung des ökonomischen Lebens im Dual von Sicherheit und Unsicherheit. Dabei sollte die Unsicherheit nicht behoben werden, sondern eine Art von Unsicherheit in eine andere Art von Unsicherheit, nämlich Gefahren in Risiken, transformiert werden, um Willensfreiheit zu ermöglichen. Da die juridische Sozialethik unsichere Willensfreiheit generalisierte, konnte sie sich nicht auf die Arbeiter beschränken, sondern musste sich auch auf die Unternehmer bzw. die Unternehmen erstrecken. Ein Pladoyer für den moralischen Wert des Risikos im Wirtschaftsleben hielt Franz Walter wenige Jahre nach der Jahrhundertwende. Dabei widmete er sich Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen. Er führte die Unsicherheit, unter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen litten, auf die vom Kapitalismus initiierte wirtschaftliche und technologische Beschleunigung zurück.792 Der Unternehmer, »der unter dem Zwang des Marktes, der Konkurrenz und der Konjunktur steht«, handle gar nicht als »freier Herr«. Der Unternehmer könne deshalb für eine mangelnde Entlohnung des Arbeiters nicht verantwortlich gemacht werden. Walter fragte, »ob die Anklage sich nicht gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem, das solche Zustände zeitigt, zu richten hat« und ob dieses Wirtschaftssystem, »in welchem infolge der Verkettung der unberechenbaren Machtverhältnisse der ganzen Welt den Unternehmern die Zügel aus der Hand gleiten und die freie Verfügung über ihr Handeln verloren geht, nicht auch im Namen der Sittlichkeit beseitigt werden« müsse.793 Gegen derartige Überlegungen gab Walter aber zu bedenken, dass der Kapitalismus nicht zu einer Verelendung, sondern zu einer Verbesserung der »Lebenshaltung« der Arbeiter geführt habe. Der Arbeiter sei »für den Verlust der wirtschaftlichen Selbständigkeit einigermaßen entschädigt«. Er könne »ebenso gut sein Auskommen finden wie der ehemalige Handwerker, auch in Lagen der Krankheit, des Alters ist für ihn gesorgt«. Das vorkapitalistische Wirtschaftssystem sei dazu nicht in der Lage gewesen. Von einem moraltheologischen Standpunkt aus könne es nur begrüßt werden, wenn durch Verbesserungen der Arbeitsmethoden, der Technik, des Absatzes und Verkehrs die materiellen Bedürfnisse rascher und besser befriedigt werden können, als es dem für einen engen Kreis von Kunden liefernden Handwerk möglich war, wenn durch die Maschinen dem Menschen ein Teil der Arbeitslast abgenommen wird und so Zeit und Kräfte für die Pflege höherer geistiger und sittlicher Interessen frei werden.

792 Ebd. 22: »Es ist eine Hast und Nervosität in das Leben hineingekommen, als sollte nicht bloß die Welt der Technik, sondern unser ganzes Sein von Dampf und Elektrizität bewegt werden. Damit sind die Menschen selbst nervös geworden. Das Kraftvolle, Zielsichere, Originale ist von uns gewichen. Der Wechsel hat besonders die Unsicherheit der Existenz geschaffen für den Arbeiter, aber nicht bloß für ihn.« 793 Ders.: Theorie 22 f.

272  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Allerdings habe die »Existenzunsicherheit« des Arbeiters »bedeutend zugenommen«.794 Trotzdem lehnte er die Herstellung von Sicherheit im Wirtschaftssystem ab: Und sollte der Socialismus wirklich einmal einen Zustand herbeiführen, wo Wagen und Riskiren beseitigt sein würde, so gilt von diesem der Satz: Wo nichts zu wagen, da ist nichts zu gewinnen. Nicht eine wilde Speculationswuth soll die Gesellschaft beherrschen; aber es muß doch ein gewisser Grad von Kühnheit in den Unternehmun­ gen vorhanden sein, damit nicht ein Stagniren der Erwerbsthätigkeit und der Cultur eintritt.795

Schließlich ermöglichte die Unsicherheit für den Arbeiter den sozialen Aufstieg: Der Arbeiter steht heutzutage dem Unternehmer als Untergebener gegenüber. Genügt dem Arbeitgeber die Leistung nicht, so wird der Arbeiter entlassen. Will er also sein Brod nicht verlieren, so ist er im eigenen Interesse gehalten, sich zu rühren. Ferner ist heutzutage die Aussicht vorhanden, durch Arbeitsamkeit und Sparsamkeit zu einer höhern gesellschaftlichen Stellung emporzusteigen oder wenigstens den Nachkommen dazu durch eine höhere Ausbildung zu verhelfen.796

15. Der andere sozialethische Sinn der Sozialversicherung Ein weiteres sozialpolitisches Instrument stellen Versicherungen dar. Lehmkuhl lehnte diese noch am Ende des 19. Jahrhunderts ab. Er war sich zwar bewusst, dass die Versicherungen durch die Fortschritte in der statistischen Datenerhebung »dem reinen Glücksspiel bedeutend entrückt« seien, »weil mit hoher Wahrscheinlichkeit der vermuthliche Gewinn und Verlust berechnet werden kann«.797 Trotzdem warnte er vor ihnen, da sich in Versicherungen »ein krankhaftes Suchen und Sichvertiefen ins Irdische zu erkennen gäbe, welches Umgang nimmt von der göttlichen Vorsehung und dem Vertrauen auf dieselbe«. Denn die göttliche Vorsehung verwirkliche sich in Ereignissen, welche für die Menschen den Charakter von »Zufälligkeiten« an sich tragen. Die Umwandlung von Gefahren in Risiken erschien ihm also noch als ungehöriger Eingriff in das göttliche Recht, für die Menschen Gefahr zu sein.798 Damit nahm er eine Außenseiterposition ein. Die Erweiterung des immanenten Handlungsspielraums durch die Transformierung von Gefahren in Risiken wirkte sich auch auf die katholische Ein 794 Ders.: Kapitalismus 101 f. 795 Ebd. 189. 796 Ebd. 211. 797 Lehmkuhl: Frage 2. Vgl. auch: Ders.: Versicherung 465. 798 Ebd. 472–474.

Der andere sozialethische Sinn der Sozialversicherung  273

stellung zu den Versicherungen aus. Linsenmann konnte in Versicherungen 1878 keinen Versuch mehr sehen, »sich der heimsuchenden oder strafenden Hand Gottes zu entziehen«. Er lobte den Abschluss von Versicherungen als Vorsicht und tadelte »das Gegentheil als Nachlässigkeit«. Wer sich Versicherungen verweigere, nähre »die rohesten Vorstellungen von der göttlichen Vorsehung« und huldige »einer fatalistischen und quietistischen Weltanschauung«. Er dürfe dann »weder einen Damm gegen Überschwemmungen aufrichten noch einen Blitzableiter auf sein Haus machen, noch sich mit Feuerlöschgeräthen versehen«.799 Anschließend an die Sozialenzyklika »Rerum novarum« hieß es in der Theologisch-praktischen Monats-Schrift 1898 »daß es nicht Sache des gutgesinnten Christen ist, die Hände in den Schoß zu legen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, sondern, daß der Familienvater die Verpflichtung hat, nach Kräften zu arbeiten, zu sparen und für die Zukunft der Seinen zu sorgen«. Dies könne »auf keinem Wege besser« als durch eine Lebensversicherung geschehen. Dabei wurde die Ignoranz gegenüber der Lebensversicherung sogar als Sünde betrachtet: Möge so recht bald die Zeit kommen, die jeder Menschenfreund herbeisehnt, daß ganz allgemein nicht etwa die Eingehung einer Lebensversicherung, sondern die unter­ lassene Benützung dieser wahrhaft christlichen Einrichtung als Versündigung gegen die Vorsehung angesehen wird.800

Die Akzeptanz der privaten Versicherungen durch die katholische Sozialethik in ihrer juridischen Form zeigt, wie zentral die Frage nach der Verantwortlichkeit geworden war. Diese Frage stand auch im Zentrum der katholisch-sozialethischen Betrachtung der Sozialversicherungen. Hertling war sich des Pro­ blems bewusst, dass die Unfallversicherung Schuld und Entschädigung trennen musste, da die Frage nach der Schuld im industriellen Produktionsprozess scheitern musste. Er äußerte die Ansicht, dass der Unternehmer eine Haftpflicht gegenüber dem Arbeitnehmer übernehmen müsse, da er den Arbeiter »in eine gefährliche Situation bringt, eine Situation, der sich der Arbeiter nicht entziehen kann, ohne auf seinen Verdienst, auf seinen Lebensunterhalt zu verzichten«.801 Dabei erkannte Hertling, dass sich die »jährlich wiederholenden Unfälle« in der Industrie nicht auf persönliches Verschulden zurückführen ließen. Die Verantwortlichkeit dafür sah er im industriellen Produktionsprozess selbst, bedingt durch die Entwickelung, welche die moderne Industrie genommen hat, durch die Anwendung der Maschinen, durch das Zusammendrängen der Arbeiter auf einen 799 Linsenmann: Lehrbuch 580 f. 800 Ist die Beteiligung an einer Lebensversicherung anzuraten? In: Theologisch-praktische Monats-Schrift 8 (1898) 127–130. 801 Hertling, Georg von: Begründung der Interpellation zur Änderung des Haftpflichtgesetzes im Reichstag (26.2.1879). In: Deutscher Katholizismus 135–141, hier 137. Vgl. auch: Ders.: Naturrecht 44 f.

274  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Raum und endlich auch durch die durchgeführte Theilung der Arbeit, durch den mechanischen Charakter der Beschäftigung und die Abstumpfung des Geistes, die damit nothwendig verbunden ist.

Dieses Zusammentreffen verschiedener Faktoren bezeichnete er als »Zufall«. Deshalb müsse die Entschädigungspflicht auf den Zufall ausgedehnt und eine Solidarhaftung der gesamten Industrie durch rechtlichen Zwang eingeführt werden. Die Industrie in ihrer Gesamtheit müsse »für die Unfälle aufkommen, sie sich als schwer vermeidliche Consequenzen ihres Betriebes« ergeben.802 Da die Suche nach persönlicher Schuld im industrialisierten Produktionsprozess scheitern musste, ersetzte er sie durch strukturelle Verantwortlichkeit. Mit seiner versicherungstheoretischen Argumentation stand Hertling auf der Höhe der Zeit. Die liberale Sozialethik forderte die Notwendigkeit individueller Vorsorge. Denn darin ist es Aufgabe jedes Einzelnen, die sozialen und natürlichen Kausalitäten zu erkennen. Das Individuum wird stets als Subjekt, nie als Objekt konstituiert. Unglücksfälle können deshalb nicht auf jemand abgewälzt werden, außer dieser ist dafür verantwortlich. Gesetzlich wurde dies in die individuell wirksame Haftpflicht gegossen, die strafrechtliche Sanktionierung mit zivilrechtlicher Entschädigung verknüpft.803 Diese liberale Sozialethik versagte angesichts des industrialisierten Produktionsprozesses, weshalb die privaten von den Sozialversicherungen ergänzt wurden. Bei der Sozialversicherung geht es im Unterschied zur privaten Versicherung nicht um die Transformation von Gefahren in Risiken, sondern um Umlegung von Unsicherheit. Deshalb sind die Beiträge der Sozialversicherungen anders als bei privaten Versicherungen nicht abhängig vom Risiko, sondern von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherten. Und deshalb basieren Sozialversicherungen auf Zwang.804 Sie funktionieren deshalb anders als private Versicherungen. Private Versicherungen machen aus unzurechenbaren Gefahren zurechenbare Risiken, Sozialversicherungen aus Unsicherheit Sicherheit. Deshalb sieht Ewald in den Sozialversicherungen einen Widerspruch zum Konzept der Verantwortlichkeit. Denn sie wälzen diese ab.805 Dies zeigt sich schon bei der Altersversicherung, da Alter stets unverschuldet ist.806 Es zeigt sich aber auch bei der Unfallversicherung. So ist der Unfall in der Industriegesellschaft nicht mehr auf das Verschulden des Einzelnen

802 Ders.: Rede zur ersten Berathung des ersten von den verbündeten Regierungen vorgelegten Gesetzentwurfs, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter (1.4.1881). In: Ders.: Aufsätze 182–208. 803 Ewald: Vorsorgestaat 78–85. 804 Vgl. dazu Bonß: Risiko 212; Metz: Geschichte 94; Rüb: Risiko 315–319. 805 Vgl. Ewald: Vorsorgestaat 232. 806 Zur Altersversicherung vgl. Conrad: Entstehung 417–447; Göckenjan / Taeger / Haupt: Altersbilder 236–246.

Der andere sozialethische Sinn der Sozialversicherung  275

zurückzuführen. Unfälle resultieren im industrialisierten Produktionsprozess aus dem regelmäßigen Funktionieren und nicht aus einer momentanen Funktionsstörung. Der Unfall ist deshalb weder menschlich noch natürlich, sondern strukturell.807 Verantwortung und Schuld wurden getrennt. Die Frage nach der Schuld wurde dem Strafrecht zugewiesen, die Frage der Entschädigung den Versicherungen.808 Die Entschädigung sollte nicht der Schuld entsprechen, sondern dem Schaden.809 Denn der Unfall konnte im Schema juristischer Verantwortung, die ihn als Ausnahmefall konstituiert, da er auf individuelles Fehlverhalten zurückgeführt wird, nicht gefasst werden.810 Als katholischem Sozialethiker ging es Hertling bei den Sozialversicherungen aber nicht nur um die Regelung eines Schadens, sondern auch um die Herstellung von Verantwortlichkeit. Er wusste zwar, dass die Suche nach persönlicher Verantwortung angesichts des industrialisierten Produktionsprozesses unmöglich war, aber die Sozialversicherungen sollten sehr wohl der Herstellung von Verantwortlichkeit dienen. Deshalb sollte der Beitrag der Arbeitnehmer zu den Sozialversicherungen weder Schuld abgelten noch ein Risiko darstellen. Der Versicherungsbeitrag der Arbeitnehmer diente für Hertling lediglich dazu, dass sie »das Gefühl eines erworbenen Rechtes auf die Entschädigung« gewinnen, dass dadurch »der Charakter einer Armenunterstützung noch weiter beseitigt wird, als es bereits geschieht«. Nicht nur die Arbeitgeber besitzen das Interesse zusammenzutreten, um das Risico gemeinsam zu tragen und dadurch die Gefahr schwerer Schädigung für die Einzelnen zu verringern, sondern die Arbeiter haben ja dasselbe Interesse, Arbeitgeber und Arbeiter vereinigen sich um das gemeinsame Interesse der Unfallverhütung beziehungsweise der Entschädigung für eingetretene Unfälle.811

Denn es handle sich bei der Unfallversicherung wie bei den anderen Sozialversicherungen nicht um »charitative Zwecke«, sondern um die »Durchführung eines bestimmten Rechts«, das durch die Leistung von Beiträgen selbst erworben wurde, was auch das Recht begründe, bei der Verwaltung mitzuwirken.812 Obwohl Hertling bewusst war, dass die Suche nach persönlicher Verantwortung unmöglich war, wollte er aber an der direkten sektoralen Zuordenbarkeit von

807 Ewald: Vorsorgestaat 108–110. Vgl. dazu auch Hattenhauer: Grundlagen 266 f. 808 Ewald: Vorsorgestaat 455–460. 809 Ebd. 370 f. 810 Ebd. 215–220. 811 Hertling, Georg von: Rede zur ersten Berathung des ersten von den verbündeten Regierungen vorgelegten Gesetzentwurfs, betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter (1.4.1881). In: Ders.: Aufsätze 182–208. 812 Ders.: Über Altersversorgung und Invaliditätskassen für Fabrikarbeiter im Reichstag (27.2.1880). In: Deutscher Katholizismus 159–164, hier 163 f.

276  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Zahlungen und Leistungen festhalten, womit sich immerhin eine Verantwortlichkeit des industriellen Sektors ergab. Deshalb lehnte Hertling einen Staatszuschuss ab, da es ihm darum ging, die Unterstützungspflicht dahin zu legen, wo sie getragen werden muß, die Unterstützungspflicht nicht denjenigen aufzuladen, die an der Industrie und ihren Erträgnissen direkt nicht betheiligt sind, sondern sie auf die produzirenden Kreise zunächst selbst hinzuwälzen.813

Denn er wollte nicht, dass die Sozialversicherung die Grenze zur Armenpflege überschritt, was sie seiner Meinung nach durch den von Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) in der Invalidenversicherung durchgesetzten Staatszuschuss tat. Hertling kritisierte, dass es Bismarck bei den Sozialversicherungen nicht um die Durchsetzung verletzter Rechte gegangen sei, sondern um »Wohltaten« zur Bindung der Arbeiter an den monarchischen Staat.814 Er bezeichnete dies 1889 als »anderweitige Regulierung der Armenpflege«.815 Begründet wurden die Staatszuschüsse damit, dass die gesamte Bevölkerung von dem durch die Industrie entstandenen Reichtum profitierte.816 Tatsächlich aber betrachtete Bismarck die Sozialversicherungen als Mittel, um den Arbeitern die Fürsorge des monarchischen Staates zu demonstrieren. Er forderte deshalb eine staatlich finanzierte Sozialversicherung, an deren Verwaltung die Arbeiter nicht beteiligt werden sollten.817 Nach dem bisher Gesagten ist nicht mehr verwunderlich, dass sich gerade am Fürsorgecharakter der Bismarck’schen Sozialversicherungskonzeption der Widerstand des katholischen Zentrums entzündete. Entsprechend der von Hertling formulierten Prämissen trat es für die Leistungsbeteiligung der Arbeitsvertragspartner und die Beteiligung der Arbeiter an der Verwaltung der Sozialversicherungen ein. Bei der Unfallversicherung (1884) und der Krankenversicherung (1886) konnte sich das Zentrum im Hinblick auf die Finanzierung durchsetzen. Das Invaliden- und Altersversicherungsgesetz (1889) brachte dann jedoch staatliche Zuschüsse, da es mehrheitlich als Entlastung für die staatliche Armenpflege betrachtet wurde. Es fand aber immerhin die Zustimmung einer Minderheit des Zentrums, die Bismarck zum Erfolg verhalf. Schließlich ließ sich die vom Zentrum geforderte Selbstverwaltung in keiner der Sozialversicherungen durchsetzen. Die Sozialversicherungen wurden

813 Ders.: Über den Gesetzentwurf zur Krankenversicherung, Rede im Reichstag (23.5.1883). In: Deutscher Katholizismus 113–118, hier 116. 814 Ders.: Recht 3–6. 815 Ders.: Eine ernste Entscheidung. In: Der politische Katholizismus II 161–165, hier 163–165. 816 Ewald: Vorsorgestaat 15 f. 817 Zu Bismarcks Intentionen in der Sozialgesetzgebung vgl. Metz: Geschichte 90; Stolleis: Geschichte (2003) 52–75.

Der andere sozialethische Sinn der Sozialversicherung  277

öffentlich-rechtliche Zwangsverbände mit stark eingeschränkter Autonomie und engen gesetzlichen Vorgaben.818 Lehmkuhl fasste die katholische Position zu den Sozialversicherungen 1893 zusammen. Aufgrund der »Gefährlichkeit« der Fabriken müsse der Staat neben dem Arbeiterschutz auch eine vom persönlichen Verschulden unabhängige, sektorale Haftpflicht der Arbeitgeber umsetzen.819 Dabei dienten die Arbeitnehmerbeiträge zu den Sozialversicherungen nicht der Abtragung einer Schuld, sondern der Herstellung von Verantwortlichkeit. Die Beiträge der Arbeitnehmer dienten dazu, die Versicherung »als sein Eigenthum« zu betrachten, »er selber hat es sich erworben und durch Arbeit hinterlegt«. Außerdem dürfe dem Arbeiter dann die Teilhabe an der Verwaltung der Versicherung nicht verweigert werden, wenn er Beiträge dazu leiste.820 Allein die Beiträge der Arbeitgeber zu den Sozialversicherungen entsprangen einer Schuld. Grund für die »Unterlassung einer Zukunftsvorsorge« sei nicht schuldhafte Unterlassung der Arbeitnehmer, sondern die Zahlung eines zu geringem Lohnes durch die Arbeitgeber. Deshalb hielt er deren Belastung mit den Versicherungsbeiträgen für die Arbeitnehmer für erlaubt. Die Versicherungsbeiträge sollten vom Arbeitgeber geleistet werden, um die Arbeitnehmer »gegen Gefahren und Schäden zu schützen, welche in der Arbeit und Betriebsweise begründet sind«. Dies sei die »Abtragung einer Schuld an den Arbeiter, welcher im Dienste und zu Gunsten des Herrn seine Kräfte aufreibt und gefährdet«.821 Sozialversicherungen konnten aufgrund ihres Zwangscharakters nicht Gefahren in Risiken transformieren, sondern Unsicherheit in Sicherheit. Damit widersprachen sie aber den Prämissen der juridischen Sozialethik mit ihrer Betonung der Willensfreiheit keineswegs. Denn sie waren gedacht als Mittel, die Grundlage für ein riskantes Leben herzustellen. Im katholischen Verständnis ging es bei den Versicherungen um das, worin der Soziologe Stefan Huf den Kern des Sozialstaats sieht. Der Sozialstaat sollte nicht Risiko sein, sondern Risiko ermöglichen. Der Sozialstaat, so Huf, »befähigt die Bürger, Wagnisse einzugehen und ihre eigene Biographie selbst zu gestalten«.822 Dadurch wird Zukunft offen und gestaltbar. Die Zukunft wird von einer Bedrohung zu einem Möglichkeitsraum.823 Sozialversicherungen mit Zwangscharakter stellten ein Mittel dar, um 818 Zu den Positionen des politischen Katholizismus zur Sozialgesetzgebung Bismarcks vgl. Sellier: Arbeiterschutzgesetzgebung 104–117; Stegmann / Langhorst: Geschichte 677–679. Zur konkreten Ausgestaltung der Sozialversicherungen vgl. Frerich / Frey: Handbuch 85–170; Stolleis: Geschichte (2003) 76–87. 819 Lehmkuhl: Frage 29 f. 820 Ebd. 17. Vgl. auch: Ders.: Versicherung 476. 821 Ders.: Frage 13–16. Vgl. auch: Ders.: Versicherung 474 f. 822 Huf: Sozialstaat 75 f. 823 Ebd. 78–87. Evers / Nowotny: Umgang 286 kommen dagegen zu dem Ergebnis, dass Sozialversicherungen die individuelle Eigenverantwortlichkeit sogar minimieren. Denn sie decken

278  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv die materielle Basis dafür herzustellen, ein Leben in voller Verantwortung überhaupt erst führen zu können. Deshalb wollte Hertling den Sozialversicherungszwang 1883 keinesfalls auf diejenigen ausdehnen, die bereits in der Lage waren, ein Leben in voller Verantwortung zu führen. Er lehnte Versicherungszwang für Selbstständige ab. Für diese stelle der Versicherungszwang einen unberechtigten Eingriff in die Freiheit dar, »wenn ihnen aufoctroyirt werden soll, daß sie sich in bestimmter Weise gegen Gefahren sichern, obwohl sie die gleiche Sicherung auf einem andern Wege erreichen können.«824 Ewald weist in Übereinstimmung damit darauf hin, dass Sozialversicherungen aus der negativen Freiheit der liberalen Sozialethik eine positive machten: »Sie zeigten, wie man aus der Freiheit eine positive, die Freiheit erhaltende Verpflichtung zum Tun ableiten kann. Ja mehr noch, daß diese Verpflichtung sich nicht nur mit der Freiheit verträgt, sondern auch ihre Bedingung ist.«825 Der Zwangscharakter der Sozialversicherungen war dafür notwendige Voraussetzung. Die staatsskeptische Freie Vereinigung katholischer Socialpolitiker forderte deshalb 1885 die Einführung von Versicherungszwang durch staatliche Gesetzgebung. Dieser müsse sich auf Menschen erstrecken, »bei welchen die Gefahr einer erwerbslosen Zukunft« besteht, und zwar »in dem Maße vorliegt, daß daraus eine ernste Bedrohung für Bestand und Gedeihen der Gesellschaft erwächst«. In dem Maße, in dem die ökonomische Struktur für den Arbeiter eine Gefahr darstellte, stellte dieser eine Gefahr für die ökonomische Struktur dar. Dieser sich steigernde Kreislauf der Gefahr war zu durchbrechen. Deshalb sollte die Zwangsversicherung ausgleichend wirken, wenn die Höhe des Lohnes die aus der Arbeit selbst »entspringende Gefahr ganz oder theilweise erwerbsloser Zukunft« nicht berücksichtigte. Dabei sollte sich der Staat aus Verwaltung und Finanzierung der Sozialversicherungen heraushalten und diese durch die Arbeiter selbst verwaltet werden. So »enthält die zwangsweise, auf dem Wege des Versicherungszwanges von der Staatsgewalt durchgeführte Zukunftsvorsorge fruchtbare Keime für die Neugestaltung einer in sich organisirten Gesellschaft«.826 Die Überwindung der Freiwilligkeit des Almosens durch den Rechtsanspruch beinhaltete den Zwang, wie Hitze 1913 deutlich machte. Für Hitze waren die Sozialversicherungen wegen der Überwindung der Freiwilligkeit des Almosens zugunsten eines Rechtsanspruchs »ein gewaltiger Fortschritt im Sinne

den Schaden bei weitgehender Zurückdrängung von Schuldfragen. Daraus folgen mehr Wahlmöglichkeiten für den Einzelnen bei abnehmenden Verantwortungszwängen. 824 Hertling, Georg von: Rede, gehalten bei der dritten Berathung des Gesetzentwurfs, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (23.5.1883). In: Ders.: Aufsätze 208–220. Vgl. auch: Ders.: Recht 3–6. 825 Ewald: Vorsorgestaat 464. 826 Beschlüsse der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker 1885. In: Jahrbuch der Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 19–25.

Der andere sozialethische Sinn der Sozialversicherung  279

der Humanität und sozialen Gerechtigkeit«. Sie haben »Selbst- und Ehrgefühl der Arbeiter geweckt und gestärkt«. Der Arbeiter »ist nicht mehr gezwungen, das entehrende Brot der Armenpflege zu essen. Er freut sich der neu gewonnenen Stellung. Er will sein Recht, nicht Almosen.«827 Dabei machte der Zwangscharakter aus dem Versicherungsbeitrag einen Bestandteil des Lohnes, und zwar eines gerechten Lohnes. Die Sozialversicherungen, die Hitze 1913 als »Zwangssparkasse« bezeichnete,828 waren für ihn ein »Gebot der Gerechtigkeit« zur »Sicherung des gerechten Arbeitslohnes.«829 So wie die Produktpreise die Produktionskosten decken mussten, musste die Höhe des Arbeitslohns zur Deckung der Lebensbedürfnisse für die Zeit der Arbeitstätigkeit, zur Amortisation des Kapitals, das für Erziehung und Pflege während der Kinder- und Jugendzeit aufgebracht worden war, für die Auslagen im Krankheitsfall, für den Lebensunterhalt im Alter und für das »Risiko der Gesundheits- und Lebensgefährdung« ausreichend sein. Deshalb seien die Versicherungsbeiträge Teil des Lohns, »der die Lebenskosten der inaktiven Tage und Jahre decken soll, wobei die Witwen- und Waisenversicherungsbeiträge als Vergütung des Jugendkapitals gelten können«.830 Hitze hatte der gefühligen Liebesethik mittlerweile gänzlich entsagt. Er erkannte nun, dass die Sozialversicherungen viel »zweckmäßiger« und »gerechter« seien als die Fürsorge in der Großfamilie: So ideal das alte ›patriarchalische‹ Verhältnis von den Herrschaften und Dienstboten oft sein mochte, die dauernde Gebundenheit konnte doch auch zu einer sehr drückenden Last werden. Alles das wird bei der Kritik heute allzuoft vergessen, abgesehen davon, daß die Erfüllung der Pflichten immer auf Freiwilligkeit aufgebaut war und so recht oft versagte.

Deshalb lehnte auch er den Reichszuschuss zur Invalidenversicherung als Element der »alten Armenpflege«, das dem Prinzip des selbst erworbenen »Rechtsanspruchs« widerspreche, ab.831 Ein Blick auf die Wahrnehmung der Sozialversicherungen durch Hitze im Jahr 1892 zeigt, wie radikal der Wandel vom caritativen zum juridischen Sozialethiker war. Die Sozialversicherungen waren für ihn 1892 noch Ausdruck einer persönlichen und patriarchalischen Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gewesen: »Die Fabrik-Krankenkasse schlingt ein ethisches Band um Arbeiter und Fabrikherrn; sie bildet die Grundlage und die feste Form einer wirthschaftlich-ethischen Organisation der Fabrik.« Durch die Sozialversiche 827 Hitze: Würdigung 267 f. 828 Ebd. 100. 829 Ebd. 98. 830 Ebd. 831 Ebd. 101 f.

280  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv rungen hatte die Fabrik familiären Charakter bekommen sollen, so wie im alten Handwerk: Wie zu der häuslichen Familie auch das Gesinde gehört, so soll auch die Fabrik gleichsam eine erweiterte Familie bilden. Diese Familie tritt in der Form der Krankenversicherung solidarisch für das kranke Mitglied ein, zahlt nicht bloß für dasselbe, sondern nimmt warmen Antheil an dessen Geschick, sorgt für dasselbe nach jeder Richtung.

Der kranke Arbeiter erfahre dadurch, »daß die Fabrik (und vor allem auch der Fabrikherr, der sich ebenfalls berichten läßt) sich um ihn bekümmert und auch dann Antheil an seinem Befinden nimmt«. Der Krankenkassenvorstand sei der »Familienrath«, der Fabrikherr »das Haupt der Familie«, das »getragen ist von dem Vertrauen und der Liebe seiner Arbeiter«.832 Mit Hitze aber hatte nun der letzte maßgebliche katholische Sozialethiker von Liebe auf Recht umgestellt.

16. Sozialversicherungen: Konsens im Zweck, Dissens in der Form Eine zentrale Forderung der neuscholastischen Sozialethik war die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen. Das bedeutet, dass sich das juridisch-­ sozialethische Postulat der Verantwortlichkeit nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form der Sozialversicherungen erstreckte. Diese sollten nach der 1884 geäußerten Ansicht der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker öffentlich-­rechtlichen Körperschaften übertragen werden, für die sich der Name Berufsgenossenschaften durchsetzte. Diese sollte es für alle Berufe geben. Mit und in ihnen sollten sich die einzelnen Berufe selbst verwalten. Ihre Aufgaben sollten aber nicht nur in der Versicherung gegen Krankheit, Unfall, Alter und Arbeitslosigkeit bestehen, sondern auch in der Regelung der Löhne und in der Überwachung des Arbeiterschutzes.833 Blome propagierte 1888 vier Berufsgenossenschaften, und zwar für die Rohproduktion, für die Veredelungsproduktion, für den Handel und die »Freien Künste«. Denn die »in ihre einfachsten Bestandtheile aufgelöste Gesellschaft« biete kein moralisches und materielles »Schutzmittel« mehr.834 Heinrich Pesch forderte in den 1890er Jahren die Anerkennung des »Associationsrechts« als natürliches Recht. Die Berufsgenossenschaften sollten als juristische Personen anerkannt werden, Eigentum erwerben dürfen, Verträge schließen und Rechtsansprüche gerichtlich geltend machen 832 Ders.: Normal-Arbeitsordnung 71–73. Vgl. dazu auch: Ders.: Invalidenversicherung. 833 Beschlüsse, vorgelegt auf dem Amberger Katholikentag 1884. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 7–19. Vgl. dazu Bader: Sozialreform 153–159; Knoll: Gedanke 132–143; Stegmann: Katholizismus 59–62; ders. / Langhorst: Geschichte 647–650. 834 Blome: Reorganisation 69–86.

Sozialversicherungen: Konsens im Zweck, Dissens in der Form   281

können, um die Durchführung von sozialpolitischen Maßnahmen gewährleisten zu können.835 Deshalb sah er in diesen Berufsgenossenschaften ein Mittel zur Transformation von sozialen Gefahren in soziale Risiken: Verschafft man dem Arbeiterstande das Recht und die Fähigkeit, als ein wirklich machtvoller Factor dem andern Contrahenten gegenüber zu treten und sich von demselben nicht einfach die Arbeitsbedingungen dictiren lassen zu müssen, dann werden die Arbeiter sehr bald inne werden, welch hohes Gut die ihnen auf diese Weise gewährleistete Freiheit und Selbständigkeit ist, und sie dürften ganz gewiß die Lust verlieren, jenes Gut wieder zu opfern, um sich einem absoluten Alleinherrn – der socialistischen Zukunftsgesellschaft – in die Arme zu werfen.836

Diese Berufsgenossenschaften wurden ausdrücklich als Ersatz für die abgeschafften Zünfte vorgeschlagen, wie Hitze auf dem Amberger Katholikentag 1884837 und die Freie Vereinigung katholischer Socialpolitiker 1886 deutlich machten.838 Die Errichtung von Berufsgenossenschaften bezeichnete Heinrich Pesch als »Neubildung der Stände«.839 Der Unterschied zwischen den Entwürfen zur ständischen Totalrevision im Gnadendispositiv und den Berufsgenossenschaften der juridischen Sozialethik lag darin, dass jene Sicherheit als Geborgenheit herstellen wollten, diese in Unsicherheit gründende Willensfreiheit bändigen. Dies war es, was Stegmann und Langhorst unzulänglich als Übergang vom geburtsständischen zum berufsständisch-genossenschaftlichen Modell ständischer Ordnung begrifflich zu fassen versuchten.840 Während innerhalb der katholischen Sozialethiker weitgehende Einigkeit über die durchzuführenden Maßnahmen bestand, war die Form der Durchführung aber umstritten. Hertling lehnte derartige berufsgenossenschaftliche Entwürfe, wie etwa Hitzes Innungszwang, als Widerspruch gegen die Willensfreiheit 1884 ab.841 Der Zwang, den Hitze gegen die »Bösen« errichten wolle, würde wörtlich verstanden und allgemein aufgefaßt nichts mehr und nichts weniger fordern als eine Correctur der göttlichen Weltregierung, welche das Böse nicht in allewege verhindert, sondern das Geschehene zum Guten ausschlagen läßt, und welche die frei, ungezwungene Hinwendung zum Guten als die höchste Vollendung geschöpflichen Lebens pflegt und hütet.842 835 Pesch: Liberalismus 532 und 662. 836 Ders.: Lohnfrage 235. 837 Verhandlungen der XXXI . General-Versammlung der Katholiken Deutschlands 145–150. 838 Beschlüsse der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker 1886. In: Jahrbuch der Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 187–190. 839 Pesch: Religion 257. 840 Vgl. Stegmann / Langhorst: Geschichte 631–640. 841 Hertling, Georg von: Einige Bemerkungen zu Fr. Hitze’s »Kapital und Arbeit«. In: Ders.: Aufsätze 27–74, hier 57–59. 842 Ebd. 52.

282  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Deshalb lehnte er mit Hitzes berufsgenossenschaftlichen Vorschlägen zugleich den Sozialismus als gegen die Willensfreiheit gerichtet ab: Im socialistischen Zukunftsstaat, wo die gesammte productive Thätigkeit autoritativ geregelt wird, ist dafür kein Raum. Wer wollte sich außergewöhnlichen Anstrengungen und Opfern unterziehen, wer unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen leben und thätig sein, wenn es kein Wagen und kein Gewinnen mehr gibt, wenn ein zugleich allwissender und allmächtiger Staat jeden Schritt vorschreibt, regelementirt, controlirt? Freiheit ist die Lebensluft für alle wirkliche Cultur, die materielle wie die geistige […].843

Hertling wollte sich deshalb auf den »Arbeiterschutz«, worin er die Sozialversicherungen mit einschloss, als Ausfluss des natürlichen Rechts auf Existenz beschränken.844 Diejenigen Sozialethiker, die nicht gleich die Selbstverwaltung der Sozialpolitik beabsichtigten, forderten immerhin den Zusammenschluss der Arbeiter zu einer objektivierten transpersonalen Struktur, der allein die Fähigkeit zugestanden wurde, den transpersonalen sozialen Problemen zu begegnen, und zwar auch hier wieder, um Gefahren in Risiken zu verwandeln. Moufang erblickte in freiwilligen Zusammenschlüssen der Arbeiter 1877 ein Mittel der Selbsthilfe: Sodann muß einer dem andern helfen und zunächst wieder muß das geschehen von denjenigen, die auf einander angewiesen sind, die in den gleichen Verhältnissen stehen. Gleich und gleich muß sich gesellen, und was der Eine nicht kann, kann die Einigung von Vielen bewirken; daher ist die Einrichtung von Verbänden der Arbeiter zu einer wahrhaft gerechten und christlichen Organisation des Arbeiterstandes nothwendig.845

Auch Foerstl erblickte in ihnen 1909 ein Mittel der »Hilfe zur Selbsthilfe«: Der einzelne Arbeiter ist ohnmächtig, etwas zur Besserstellung seiner Lage zu erringen oder gegebenenfalls zu erzwingen; allein ist er hilflos, ist er ein verwehtes Blatt. Aber vereint mit allen denen, die in der gleich traurigen Lage schmachten, vereint mit seinen Berufsgenossen ist er stark genug, um mit eigener Kraft die Verbesserung seiner Verhältnisse herbeizuführen.846

Sozialethiker, die wie die Vertreter der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker als konservativ galten, hielten eine umfassende, nicht auf die Sozialpolitik beschränkte Selbstverwaltung der Berufe für nötig. Sozialethiker, die wie Hertling als liberal galten, hielten eine auf bestimmte sozialpolitische Funktionen beschränkte Selbstverwaltung für nötig. Das war kein grundsätzlicher 843 Ders.: Naturrecht 24. 844 Vgl. dazu Sellier: Arbeiterschutzgesetzgebung 87–90. 845 Moufang: Irrthümer 6 f. 846 Foerstl: Almosen 108 f.

Die Kirche als Heterotopie II: Opfer  283

Gegensatz, sondern ein gradueller und formaler. Es gab keinen Vertreter der juridischen Sozialethik, der Eingriffe in die ökonomischen Strukturen abgelehnt hätte. Sämtliche Entwürfe juridischer Sozialethiker gingen nicht von der individuellen Moral aus, sondern davon, wie diese durch proaktive Eingriffe in die ökono­mische Struktur zur Entfaltung zu bringen war. Alle konnten sich dabei auf Thomas von Aquin berufen. Dieser erlaubte sowohl eine gebrauchswertorientierte und daher kapitalfreundliche, aber auch eine arbeitswertorientierte und daher arbeiterfreundliche Interpretation.847 Stets aber war es der selbe juridische Thomas.

17. Die Kirche als Heterotopie II: Opfer Das Opfer, d. h. das stellvertretende Leiden, ist ein zentrales christliches, wegen der Erbsündenlehre vor allem aber katholisches Theologoumenon, ausgehend von der Erlösungstat Christi.848 Dabei war das Opfer eine Konkretion der Liebe und nicht juridifizierbar, aber notwendigerweise sozial wirksam. Périn wies 1876 darauf hin, dass es keine Liebe ohne Opfer geben könne.849 Die durch die Erbsünde »gestörte Ordnung«, lasse sich »nur durch die Entsagung wiederherstellen; regellose Gelüste der Leidenschaften sind nur durch das Opfer zu überwinden«. Nur durch das Opfer werde der Mensch deshalb seiner natürlichen Bestimmung gerecht, »wenn er sich mittelst des Opfers dem unterwirft, der allein der wahre Mittelpunkt und das letzte Ziel alles Erschaffenen ist«.850 Bereits die Theologie des Opfers von DeMaistre forderte, so Schmidt-Biggemann im Anschluss an Girard, in der »Spannung zwischen Liebestheologie und Schrecken« das Leiden der Unschuldigen für die Schuldigen. Sühne könne nur durch unschuldige Opfer erfolgen. Der Schuldige bringe kein Opfer, er bekommt Strafe.851 Für DeMaistre war es deshalb das Opfer, das die Glieder der Gesellschaft aneinanderband: »Die ganze Erde ist auf ewig mit Blut getränkt, sie ist nichts anderes als ein 847 Vgl. Kreppel: Entscheidung 134–152. 848 Vgl. Heller: Hölle 34. – Troeltsch: Soziallehren 232: »Im Organismus strömen die Leistungen der einzelnen Teile zusammen und werden so vom Ganzen her wieder den Einzelnen in ihrem Effekt zugewendet. Die Idee der stellvertretenden Büßung und Leistung ist wirklich eine lebendige Kategorie des frommen Denkens; die Stellvertretung Christi in Strafe und Verdienst ist nur ein Spezialfall dieses allgemeinen Gedankens; der Schatz der Kirche, in den jene Überschüsse zur Verteilung im Ablaß zusammenfließen, ist seine lebendige Gegenwart und Anschaulichkeit.« Vgl. dazu auch Girard Heilige. 849 Périn: Politik 46. 850 Ebd. 40–42. 851 Vgl. Schmidt-Biggemann: Theologie 74–79. – Für Häglsperger: Seelenleiden 83 f. gab es deshalb 1843 überhaupt keine Opfer, sondern nur Buße: »Wir leiden niemals ohne Schuld. Ist auch die Schmähung oder Verfolgung in den einzelnen Fällen, in welchen wir leiden, unverdient, so haben wir dennoch viele andere Vergehungen zu büßen, die vor den Augen der Welt verborgen sind.«

284  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv riesiger Altar, auf dem ständig Opfer dargebracht werden, ohne Ende, ohne Maß, pausenlos, bis zur Vollendung der Dinge, der Ausrottung des Bösen und dem Tod des Todes.«852 Nach Brentano und Görres brachten die Stigmatisierten durch ihre Leiden Opfer.853 Die von Brentano begleitete stigmatisierte Nonne Anna Katharina Emmerick (1774–1824) war geprägt vom Gedanken der stellvertretenden Sühne, gründend in der Nächstenliebe.854 Dabei beklagte sich der Erbauungsschriftsteller Buchfelner in einer Schrift über Stigmatisationen 1839, dass niemand mehr daran glaube, dass der Unschuldige für den Schuldigen leiden müsse, was er als teuflisch bezeichnete.855 Im Jahr 1847 wurde in Langres eine »Erzbruderschaft zur Sühnung der Gotteslästerung und Entheiligung der Sonntage« gegründet. Bei der Beobachtung einer Gotteslästerung sollten die Mitglieder Sühne in Form eines Stoßgebetes leisten.856 Westermayer verlieh der Enthauptung des französischen Königs Ludwig XVI. (1754–1793) im selben Jahr heilsgeschichtliche Relevanz, als er behauptete, dieser sei gestorben, »um für die Sünden seines Volkes zu büßen«.857 Die Heilsrelevanz des Opfers brachte auch der Katholik 1850 zum Ausdruck. Es fehle nicht an edlen, hochherzigen Seelen, welche, die ganze Armseligkeit und Vergänglichkeit alles Irdischen erkennend, gerne um des Himmelreiches willen leiden und arbeiten und stündlich sich abtödten wollen. Diese folgen dem Berufe von Oben, welcher der Zug und die Richtung ihres Herzens geworden ist, und dienen Jesus Christo in den Armen und besonders in den armen Kindern, die das liebste Erbtheil Jesu sind.858

Dabei betonte der Katholik 1855 »die geheimnißvolle Verbindung der göttlichen Allmacht mit den menschlichen Leiden«. Das Leiden war Teil des göttlichen Heilsplans. Ohne Leiden keine Erlösung: Ja das Leiden, gegen das die Welt sich auflehnt, bei dessen bloser Vorstellung schon die Dämonen heulten und die Schöngeister lästerten, das Leiden ist der einzige Weg des wahren Fortschrittes und der Civilisation, das Mittel, wodurch der Mensch doch ein wenig sittliche Größe und Kraft des Willens erwerben, besser werden und in Stand kommen kann, auch etwas für das Wohl und Heil seiner Mitmenschen zu thun.859 852 DeMaistre, Joseph: Les Soirées de Saint Pétersbourg ou Entretiens sur le Gouvernement temporel de la Providence. Brüssel 1838, zit. nach Raedts: Entdeckung 120. 853 Vgl. dazu Weiß: Seherinnen 71 f. 854 Vgl. Adam: Leidensmystik; Salmann: Topoi; Schumacher: Geisel 45 f. Zur literarischen Verarbeitung von Emmericks Visionen durch Brentano vgl. Frühwald: Emmerick-Schriften. 855 Buchfelner: Wundenmale III f. 856 Schumacher: Geisel 47. 857 Westermayer: Bauernpredigten I/I 203. 858 Zur socialen Frage. In: Der Katholik 2 (1850) 337–353, hier 339. 859 Der ehrwürdige Pater Libermann. In: Der Katholik 12 (1855) 504–512 und 539–556, hier 510 f. – Der Artikel bezog sich auf François Libermann (1802–1852), einen zur katholischen Konfession konvertierten und zum Priester geweihten jüdischen Elsässer, der einen missionarischen Orden gründete. Vgl. Brasseur: Libermann.

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Dem Opfer wurde also individuelle und soziale Wirkung zugeschrieben.860 Der belgische Kirchenhistoriker Vincent Viaene weist darauf hin, dass die katholische Sozialethik nach der Französischen Revolution immer weniger das individuelle Heil anstrebte, sondern durch das Opfer die »Heilung der ganzen Gesellschaft«.861 Mooser kam bei der Untersuchung von Wallfahrten als Massenphänomen, wozu sie sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts entwickelten, zu dem Ergebnis, »daß die Psychologie der Sühne und Umkehr, der Selbstdemütigung und -erhöhung nicht nur auf den sündhaften Einzelmenschen zielte, sondern durch und mit den vielen einzelnen auf die Gesamtgesellschaft.« Diese opferbetonte Frömmigkeit »richtete sich auf eine Erneuerung der Gesellschaft, auf deren Rechristianisierung, welche die apokalyptisch gedeutete liberale Revolution mit ihren Angriffen auf die Kirche überwinden sollte«. Darin sah er »eine religiöse Variante des Glaubens an die Veränderung bzw. Veränderbarkeit der Welt, wie er in anderer Gestalt in den politischen Revolutionsideologien ausgebildet war«.862 Damit übereinstimmend kam Busch in seiner Untersuchung über die soziokulturellen Aspekte der Herz-Jesu-Frömmigkeit zu dem Ergebnis, dass die Gläubigen durch die Verpflichtung zum Gebet für die Bekehrung der Ungläubigen zu »geschichtsmächtigen Subjekten« wurden, von deren Handeln das Heil der Gesamtgesellschaft abhing.863 Damit übereinstimmend interpretiert Rudolf Schlögl die katholische Opfersucht im Vormärz als zwar unzeitgemäßen, aber trotzdem nachgeholten Modernisierungsschritt, und zwar als Sakralisierung innerweltlichen, eigentlich nichtreligiösen Tuns, als innerweltliche Askese.864 Evers und Nowotny sehen im Mitleid, nur ein anderer Begriff für Opfer ohne Schuld, ein Kennzeichen für entwickeltes soziales Wissen, da es aus jedem indi 860 Die Interpretation des schuldlosen Leidens als Opfer war nicht spezifisch katholisch. Der Kindbetttod der englischen Prinzessin Charlotte (geb. 1796) 1817 wurde ebenso als Opfer für die Sünden der Nation wahrgenommen wie derjenige der preußischen Königin Luise (1776–1810). Vgl. Schlögl: Glaube (2013) 204–208. Das Opfer der protestantischen Konzeption erwartete aber keine Erwiderung. Dies zeigt sich in Adam Müllers noch ganz protestantischer Opferkonzeption in seinen »Elementen der Staatskunst« ([Bd. 2] 208 f.). Durch das Opfer könne der Einzelne »frei von aller unwürdigen Berechnung seines Verdienstes und seines Lohns und von allem Feilschen um das kümmerliche persönliche Glück – für das Ganze, den Staat und die Menschheit leben: denn er fühlt und erkennt, er ahndet [!] nicht mehr bloß, ihre Bestimmung; er sieht, daß er für sich nichts, aber, wie vergänglich er auch sey, alles in dem großen Ganzen ist, von dem er ein Glied ausmacht, und das er jetzt ohne Unterlaß in’s Auge fassen, dem er alle seine Gedanken und Thaten hingeben, an dessen Unsterblichkeit er sich demnach anschließen kann.« 861 Viaene: Reveil 125. – So machte Faulhaber noch 1915 in einem Fastenhirtenbrief deutlich, dass die Gläubigen eine »Schuldgemeinschaft« darstellten. Der Einzelne bitte nicht nur für sich, sondern für das ganze Volk um Vergebung. Vgl. Schindler: Kairos 545. 862 Mooser: Volksreligion 149. 863 Busch: Frömmigkeit 250. 864 Schlögl: Glaube (2013) 330 f.

286  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv viduellen Leid ein »sozial geronnenes und miterlittenes« Leid macht. Im Mitleid werde die Gemeinsamkeit von Lebenslagen bewusst.865 Vor diesem Hintergrund erscheint das Opfer als ein Mittel zur Bewältigung der von Giddens beschriebenen Entbettung, aber noch kein hinreichendes. Denn nach Fromm könne nur derjenige, der sich »noch nicht über das Stadium der rezeptiven, ausbeuterischen oder hortenden Orientierung hinausentwickelt« habe, das Geben als Opfer empfinden.866 Das Opfer ist in der Lage, die soziale Frage als transpersonales Problem zu erkennen, kann sie aber nur auf personaler Grundlage lösen. Dieses Opfer war eine Gabe und wartete auf Erwiderung. Es war ein Instrument der caritativen Sozialethik im Gnadendispositiv. Dies meint Erlemann, wenn er betont, dass das Opfer ohne Schuld trotz seiner sozialen Wirksamkeit das »Negieren der sozialen Frage« bedeute.867 Denn das Opfer linderte reaktiv die Not, was zudem nur Mittel (zur Selbstheiligung) und nicht Zweck war. Deshalb sieht Holzem in der katholischen Leidenstheologie zu Recht den Grund für die Passivität als kennzeichnendes Merkmal katholischer Mentalität. Denn das Hinnehmen von Leiden erfordere Hingebung und Gehorsam.868 Die Bewältigung sozialer Probleme sollte nicht durch proaktives, planvolles Eingreifen in die sozialen Strukturen, sondern durch situatives und reaktives Leiden erreicht werden. Die vormärzliche katholische Opfersucht wollte also den zunehmenden Handlungsdruck, der durch die wachsende Einsicht in die Transpersonalität sozialer Probleme entstand, innerhalb der Mechanismen des Gnadendispositivs lösen, was letztlich zu einer Aporie führen musste. Sie stellt deshalb einen wichtigen Schritt auf dem Weg vom reaktiven, personalistischen Gnaden- zum proaktiven, strukturalistischen Exorzismusdispositiv dar, wobei es sich nicht um einen kontinuierlichen Übergang, sondern um einen Bruch handelte. Denn das Opfer bewegte sich ja im begrifflichen Umfeld der Liebe. Die innerweltliche Wirksamkeit des Opfers wurde durch die zunehmende, oben beschriebene Erotisierung der Liebe beeinträchtigt. Das Opfer wurde zunehmend mit Lust und Leidenschaft verbunden und wieder individualisiert. Der Arzt und Zentrumsabgeordnete Stöhr sprach den Zusammenhang von Leid und Lust in seiner populären Pastoraltheologie an: »Die Ascese ist die praktische Lösung des psychologischen Paradoxons, daß das reinste, das idealste Lustgefühl – der Schmerz ist.«869 Wenn das Kreuz am Himmel als Zeichen des Jüngsten Gerichts erscheine, so Westermayer 1847, da wird jubeln in heiliger Freude jener seraphische Vater Franziskus [von Assisi, Ordensgründer, 1181/1182–1226], der Krankheiten und Schmerzen seine Brüder nannte, 865 Evers / Nowotny: Umgang 46. 866 Fromm: Kunst 41 f. 867 Erlemann: Familie 193 f. 868 Holzem: Kriminalisierung 173–175. 869 Stöhr: Handbuch 419 f.

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jene heilige Theresia [von Ávila, Mystikerin, 1515–1582], die da sagte, daß sie ihre Leiden mit allen Schätzen der Welt nicht vertauschen möchte, jene heilige Thekla [von Iconium, Protomärtyrerin], die Gott nur um die einzige Gnade bat, recht Vieles und immerwährend zur Ehre Gottes zu leiden, jener heilige Ignatius Loyola [1491–1556], der für die von ihm gestiftete Gesellschaft Jesu um nichts dringender zu Gott flehte als um Leiden und Verfolgungen; jener heilige Franziskus Xaverius [jesuitischer Missionar, 1506–1552], der in Angst geriet, als er eine Zeit lang keine Verfolgung mehr zu dulden hatte, weil er glaubte, er sei kein rechter Streiter Christi mehr.870

Conrad Martin bestätigt dies in einer Predigt: »Die Gerechten aber schaffen sich zu ihrem Leiden noch neue Leiden, weil sie die Leiden lieben.«871 Der klerikale Volksschriftsteller Hansjakob, der sich wegen Depressionen selbst in Behandlung begeben hatte, erinnerte sich an seinen Aufenthalt in der badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau 1894: »Aber in diesem Weinen lag eine wehmutsvolle Lust. In jenen Tagen lernte ich erst die Tränen schätzen, die höchste Gemütsgabe des Menschen, die ihn weit mehr über das Tier erhebt als das Lachen.« Damit glaubte er Jesus nachzufolgen, der selbst nicht gelacht habe: »›Wehe denen, die lachen‹, hat der Heiland der Welt gesagt, von dem die Väter der Kirche behaupten, daß er nie gelacht habe; wenigstens erzählt das Evangelium uns nichts davon.«872 Auch der Moraltheologe Magnus Jocham verband Leid mit Freude, als er sich in den 1890er Jahren an seine Kindheit erinnerte: Am meisten freuten wir uns immer auf die Charwoche. In den letzten Tagen dieser Woche nahm uns der Vater mit, wenn er den Ölberg und den Kalvarienberg besuchte. Auf dem ganzen Wege erzählte er uns vom Leiden Christi. Er wußte alle einzelnen Momente aus dem Leiden des Herrn ganz genau und wußte Alles so anschaulich und so freundlich darzustellen, daß wir meinten, wir sehen Dieß alles mit eigenen Augen.873

Das Leben des 1888 heiliggesprochenen Jesuiten Petrus Claver (1580–1654) war nach seiner maßgeblichen Biographie geprägt von der Lust am Leiden: »Immer und überall dachte er auf neue Mittel, sich wehe zu thun. Saß er, so hielt er den einen Fuß schwebend, bis er aus Mattigkeit niedersank. Knieete [!] er, so suchte er die Kleider zu entfernen, um die Härte des Bodens desto mehr zu fühlen.« Und nichts freute ihn mehr, als wenn er einem recht ungeschickten Barbier in die Hände fiel, der ihm das ganze Gesicht zerschnitt. Unbeweglich blieb er dann sitzen, schloß die Augen, sprach kein Wort und war innigst vergnügt, hiemit eine neue Gelegenheit gefunden zu haben, etwas zu leiden.874

870 Westermayer: Bauernpredigten I/I 4 f. 871 Martin: Osterzeit 392 f. 872 Hansjakob: Tagen 23. 873 Jocham: Memoiren 6. 874 Fleuriau: Lebensgeschichte 246 f.

288  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv Bei der stigmatisierten Maria Schumann (1823–1887) aus dem niederbayerischen Pfarrkirchen stellte ihr Biograph 1915 schließlich einen Zusammenhang zwischen Nächstenliebe und Leiden her.875 Mit der Erotisierung der Liebe hatte das Opfer den Anspruch auf innerweltliche soziale Wirksamkeit verloren und hatte moralischen Sinn nur mehr für das individuelle Heil. Und dies umso mehr, je nachdrücklicher die juridische Sozialethik die proaktive Veränderung sozialer und ökonomischer Strukturen zur Überwindung des Leides forderte und dadurch die innerweltliche Wirksamkeit des Opfers – im Unterschied zur Interpretation von Schlögl – moralisch sinnlos machte. In diesem individuellen Sinne ist die von Holzem festgestellte »Leidensbereitschaft, ja Leidensverliebtheit« der Neuscholastiker876 zu verstehen. In diesem Prozess wandelte sich der diskursive Ort des Opfers, das ja nach wie vor ein zentrales katholisches Theologoumenon war. Es war nicht mehr überall in der Welt zu finden, sondern nur mehr in der sichtbaren Kirche, eine andere gab es nach katholischer Auffassung ja nicht. Im begrifflichen Umfeld der Liebe war Opfer ein Begriff der Vollkommenheit und im Exorzismusdispositiv hatte ja nicht mehr die ganze Welt Anteil am Reich Gottes, sondern nur mehr die verfasste Kirche war vollkommen. Das klerikale Verständnis der Eucharistie als Wiederholung der Opfertat Christi bot den selbstverständlichen Anknüpfungspunkt dafür. Während außerhalb der Kirche Leiden zu vermeiden war, herrschte es innerhalb. So betrachtete Stöckl die Lage der Kirche 1861 als Opfer: »Ihr ganzes Leben in der Zeit ist ein stetiges Opferleben. Und dieses Opferleben tritt gerade dann am glänzendsten hervor, wenn die Leiden und Verfolgungen, welche der Kirche nie fehlen, in gesteigertem Maße und mit scheinbar unbesieglicher Macht über sie hereinstürmen.« Dieses Opfer müsse sie »als der mystische Leib des Herrn« in der Nachfolge Christi erdulden.877 Da sich die Kirche »im eucharistischen Opfer auch selbst fortwährend Gott zum Opfer« darbringe, folge, dass das »ganze Leben der Kirche ein stetig fortlaufendes Opferleben sei«.878 Ketteler äußerte 1867, dass Christus »im neuen Bunde die Schicksale seiner Kirche vorhergesagt« habe, und zwar das Leid und die Verfolgung: Unter diesen Kennzeichen der Kirche Christi ist aber keines öfter hervorgehoben als jenes des Kreuzes, der Kämpfe und Leiden bis an’s Ende der Welt und des Sieges im Kreuze. Wir können uns eher wundern, daß es Jahrhunderte gegeben hat, in denen die Kirche auf Erden eine gewisse äußere Ruhe genoß, als darüber, daß Verfolgungen und Ungerechtigkeiten ihr zu Theil werden, wenn wir auf das Bild hinblicken, welches das Wort Gottes von dem Verlauf ihrer Geschichte entwirft. Beides erfüllt sich in gleicher Weise: der Kampf der Pforten der Hölle wider sie und die Ohnmacht aller Angriffe der 875 Ludwig: Tertiarin 467. 876 Holzem: Weltversuchung 170. 877 Stöckl: Opfer VI. 878 Ebd. 569 f.

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Hölle gegen den Felsen, auf den sie gebaut ist. Das Kreuz im Leben der Kirche ist uns daher ein göttliches Kennzeichen, daß sie von dem gestiftet ist, der durch das Kreuz die Welt überwunden hat.879

Senestrey forderte 1869: Die Kirche hat heutzutage dem Priester nichts sinnlich oder zeitlich Anziehendes zu bieten. Entsagung, Entbehrung, harte Beschwerde, unablässige Arbeit und dafür Undank, Schmähung, Verleumdung seines Standes, seiner Person und seiner Thätigkeit, nicht selten Verfolgung und Beraubung – das ist des Priesters Anteil in der Welt – nach des Heilandes eigener Erklärung.880

Dabei wurden die Verfolgungen, denen sich die Kirche ausgesetzt sah, als Wiederholung des Leidens Jesu empfunden, wie aus einem Hirtenbrief Senestreys anlässlich der Okkupation Roms durch italienische Truppen vom 14. Oktober 1870 deutlich wird. Die Kirche gehe auf den Ölberg, wo sie alle Bitterkeit der Verlassenheit und des Verrathes verkostet, – nach Jerusalem geht sie, wo sie verspottet und verurtheilt wird, – auf den Calvarienberg geht sie, wo sie sich alle Tage opfert für das Heil der Welt. Das Leiden Christi wird zum Leiden der Kirche. Immer alt und immer neu hat dieses Leiden gestern begonnen, wird sich morgen erneuern und beweist gestern und morgen und beweist heute mit unbestreitbarer Klarheit, daß Jesus Christus und die Kirche denselben Ursprung haben, dieselben Prüfungen, dieselben Siege.

Die »Klagen des Herrn« klingen wider in den »Protesten, Allocutionen, Bullen, Audienzen, Gebeten seines Statthalters«. Dabei hielt Senestrey die Leiden der Kirchen sogar für größer als die Leiden Jesu: Die Stürme, welche Pius IX . [Papst, 1792–1878] durch sein offenes Bekenntniß gegen sich hervorgerufen, sind furchtbarer, als sie zu Jerusalem waren. Jetzt geht der Lärm und das Geschrei durch die ganze Welt. Man verhöhnt ihn auf allen Gassen und Plätzen; anonyme Pamphletisten schlagen ihn in’s Antlitz und rufen: ›Prophezeie, wer hat dich geschlagen?‹ Zeitungsschreiber wühlen durch eine Fluth von Lüge und Haß alle Schichten der Menschheit auf. Pius steht im Hofe des Kaiphas.

Aber in der Wiederholung des Leidens Christi durch die Kirche lag Hoffnung, denn »je weiter der Charfreitag vorgerückt, desto näher ist der Ostermorgen«.881 Die klerikale Existenz wurde zum Leidensleben stilisiert. Schuech forderte deshalb 1896 in seinem »Handbuch der Pastoral-Theologie« vom priesterlichen Leben: »Und je reiner die Absicht ist, je fester und wirksamer der Entschluß, für die Ehre Gottes und das Heil der Seelen alles zu thun und zu leiden, desto sicherer 879 Ketteler: Deutschland 90 f. 880 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 12 f. 881 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1870 (14.10.1870).

290  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv ist der Beruf und desto freudiger und gottgesegneter wird auch das Wirken im Berufe sein.«882 Das kirchliche Opfern wurde ein Mythos im Sinne des Politologen Murray D. Edelman, eine von einer Gruppe von Menschen getragene Überzeugung, die Handlungen Sinn verleiht und Identität herstellt. Denn der Mythos entlastet das Individuum von der Verantwortung für seine mangelhafte Stellung in der Gesellschaft und liefert ihm ein Programm zum Schutz seiner Identität.883 Das Leiden aber wurde in dem Maße Kennzeichen spezifisch katholisch-kirchlicher Identität, als die juridische Sozialethik der Neuscholastiker einen groß angelegten Entwurf zur Überwindung materiellen Leidens vorlegte. Gegenstand der juridischen Sozialethik war das Alltägliche, die Kirche war durch ihren Anteil an der Transzendenz außeralltäglich. Durch das proaktive Wirken der juridischen Sozialethik, die auf die Entproletarisierung der Arbeiter abzielte, wurde auch Armut außeralltäglich. Die juridische Sozialethik differenzierte nun zwischen der proaktiven Herstellung riskanter ökonomischer Strukturen durch staatliche Gesetzgebung einerseits und reaktiver Bewältigung von Not durch die kirchlichen Opferexperten andererseits. Diejenigen, die sich aufgrund von Krankheit oder Alter nicht um ihren Lebensunterhalt kümmern konnten und deshalb arm waren, wurden von Angehörigen geistlicher Gemeinschaften  – insbesondere die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierenden Frauenkongregationen884 – gepflegt. Die Kirche machte sich dadurch zur Heterotopie, in der andere Prinzipien galten als in ihrer Umwelt.885 Heterotopien sind nach Foucault Andersorte, die von Alltagsorten unterschieden sind und in denen andere Gesetze herrschen. Sie schließen ein, was Alltagsorte ausschließen. Sie bringen zur Sprache, was im Alltag verschwiegen wird. Die Menschen, die dort leben, sind sozial marginalisiert. Sie stellen eine alternative Ordnung zur alltäglichen dar, weshalb in ihnen gesellschaftliche Diskurse aufbrechen.886 So etwa die Preisung der Armut und des Opfers in der Kirche.887 Franz Walter brachte den Unterschied zwischen kirchlicher Heterotopie und Alltag in seiner Körperethik 1910 zum Ausdruck, als er darauf hinwies, dass sich die christliche »Hochschätzung des Leidens« für den »Durchschnitt der Menschen« nicht eigne: »Um aus dem Leiden, hier aus dem körperlichen Übelbefinden, seelischen Gewinn zu ziehen, bedarf es einer bedeutenden Selbstzucht und sittlichen Energie, die nicht alle ihr eigen nennen.« Die »Durchschnitts-Menschen« müssen danach streben, ihren

882 Schuech: Handbuch 16. 883 Edelman: Politik 110 f. 884 Vgl. Meiwes: Arbeiterinnen. 885 Zur Betrachtung der caritativen geistlichen Gemeinschaften als Heterotopien durch ihren Anspruch, das Reich Gottes zu verwirklichen, vgl. Keul: Reich 63–68. 886 Foucault: Heterotopien 7–22. Vgl. dazu Klass: Heterotopie. 887 Vgl. dazu Keul: Reich 55–60.

Emanzipation der Welt von Gott, aber nicht vom Teufel  291

Körper »wenigstens in leidlich guter Verfassung zu erhalten, damit er seiner Aufgabe gewachsen ist und uns den Dienst nicht kündigt«.888 Es wurde ein Gegensatz konstruiert zwischen der auf die Klerikalität reduzierten Kirche als Heterotopie und einer vom Leiden befreiten Welt, in der das Leben nicht ertragen oder erlitten werden musste, sondern gestaltet werden konnte. Die Immanenz wurde strikt unterteilt in eine leidende Klerikalität, die Anteil an der transzendenten Vollkommenheit hatte, und eine außerkirchliche Welt, deren Unvollkommenheit unüberwindlich war und die deshalb den alltäglichen agonalen Kampfplatz gegen das Böse darstellte. Innerhalb der Amtskirche durfte gelitten werden, außerhalb musste gekämpft werden. Es wurde eine scharfe Grenze zwischen dem Reich Gottes in der Kirche und der außerkirchlichen Welt gezogen, wie es Leo XIII. in »Immortale Dei« 1885 zum Ausdruck brachte. Die Kirche sei »wegen des Zieles, das ihr gesetzt ist und wegen der Mittel, durch welche sie dieses zu erreichen sucht, eine übernatürliche und geistliche und eben darum von der bürgerlichen Gesellschaft durchaus verschieden.«889

18. Emanzipation der Welt von Gott, aber nicht vom Teufel Tatsächlich ging es aber auch in der katholischen Sozialethik juridischen Charakters nicht um die materielle Existenz der Arbeiter an sich. Die irdischen Güter besaßen keinen Eigenwert, sondern wurden nach ihrem Dienstwert für das ewige Heil bewertet.890 Rietter machte 1865/1866 deutlich, dass es der Sozialethik nicht um das Nützliche, sondern um das Gute gehe. Er erinnerte daran, dass die epikureische Verbindung des Guten mit dem Nützlichen nicht christlich sei.891 Die juridische Sozialethik beabsichtige nicht materielle Besserung, sondern die Herstellung eines riskanten Zustandes, um das soziale Leben auf die Grundlage der Willensfreiheit zu stellen, so die Übernahme von Verantwortung bzw. die Erlangung des Heils zu ermöglichen. Die juridische Sozialethik ging nicht nur von der unvermeidlichen Unvollkommenheit des Diesseits (außerhalb der auf ihre klerikale, verfasste Dimension reduzierten Kirche) aus, ihre Entwürfe zielten darauf ab, ein Gleichgewicht der Unvollkommenheit proaktiv herzustellen. Es ging ihr um mehr als das Mögliche und Machbare – umgangssprachlich als ›Pragmatismus‹ bezeichnet  –, es ging ihr um die proaktive Herstellung eines nicht-idealen sozialen und ökonomischen Zustandes. Tatsächlich wurde der Mensch dadurch vom Objekt göttlicher Gnade zum Subjekt der Geschichte. Für Rüb stellt die neuscholastische Forderung nach individueller Verantwortlichkeit 888 Walter: Leib 52. 889 Rundschreiben II s. v. Immortale Dei 14–16. 890 Vgl. Nell-Breuning: Katholizismus 36. 891 Rietter: Breviarium 13 f.

292  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv deshalb eine liberale Übernahme dar.892 Auch Uertz betrachtete es als liberalistische Wende, wenn der Mensch in »Rerum novarum« unter ausdrücklicher Berufung auf Ketteler zum wirtschaftlichen Subjekt gemacht wurde, obwohl die Mitgestaltung der politischen Ordnung für Leo XIII. noch außerhalb menschlicher Reichweite lag, da der Staat als »societas perfecta« menschlicher Verfügung entzogen war. Für Uertz liegt darin der »bedeutendste Reformgedanke« der Sozialenzyklika, den er auf die Herausforderung der katholischen Sozialethik durch den Sozialismus zurückführt.893 Eine derart schlichte Dialektik kann nur für denjenigen überzeugend sein, der das Katholische nicht als religiöses Phänomen wahrnimmt, sondern für den sich katholisch-kirchliches Handeln im Streben nach Macht und in der Herrschaft über Menschen erschöpft. Die katholische Kirche strebte nach Macht und Herrschaft, aber nicht obwohl, sondern weil sie ein religiöses Phänomen war. Nur weil es nicht mehr um die Reform der Gesinnung, sondern der sozialen Strukturen ging, bedeutet dies nicht, dass die Entwürfe der juridischen Sozialethik nicht religiös determiniert waren. Die religiöse Determiniertheit der sozialpolitischen Vorschläge zeigt sich schon daran, dass sich eine katholische Sozialethik entwickelte, eine protestantische dagegen nicht. Lepsius führt aus, dass es deshalb keine protestantische Sozialethik geben konnte, weil nach protestantischer Gnadenlehre keine Rechtfertigung für die Folgen des wirtschaftlichen Handelns nötig war. Die Frage der Verantwortlichkeit spielte keine Rolle.894 Während die katholische Sozialethik unter dem Einfluss der Neuscholastik Entwürfe zur proaktiven Veränderung von sozialen und ökonomischen Strukturen machte, blieben protestantische Entwürfe reaktiv, personalistisch und karitativ.895 Der protestantische »Armenvater« Johann Hinrich Wichern (1808–1881) äußerte große Vorbehalte gegenüber transpersonalen Strukturen, wie sie sich etwa in den von Ketteler vorgeschlagenen Genossenschaften konkretisierten, womit dieser den Schritt von der Caritas zur Sozialpolitik getan habe, so der protestantische Kirchenhistoriker Peter Meinhold als Ergebnis seines Vergleiches von Wichern

892 Rüb: Risiko 305–307. 893 Uertz: Gottesrecht 279–282. Während Uertz die Kongruenz von Ketteler und »Rerum novarum« feststellt, ist O’Malley der Ansicht, dass die Betonung der subjektiven Rechte ihn von den päpstlichen Verlautbarungen, in denen nur von den korporativen Freiheitsrechten der Kirche die Rede ist, unterscheide. Vgl. O’Malley: Ketteler 13–18. Dagegen handelt es sich nach Petersen: Ruf 369–371 sowohl bei »Rerum novarum« wie auch bei Ketteler um vormoderne, da korporative und nicht individualistische Entwürfe. – Diese unterschiedlichen Wertungen resultieren aus dem Bemühen, in einem Gedankengebäude, das nicht liberal sein will, unbedingt liberales Gedankengut finden zu wollen, indem Modernität mit Liberalität identifiziert wird. Es handelt sich deshalb um einen Streit um des Kaisers Bart. 894 Vgl. Lepsius: Interessen 28 f. 895 Zur protestantischen Sozialethik im 19. Jahrhundert vgl. Friedrich: Armenpflege 21–42; Kaiser: Vorüberlegungen 11–19.

Emanzipation der Welt von Gott, aber nicht vom Teufel  293

und Ketteler.896 Die protestantische Konzentration auf die Nächstenliebe bedeutete im Urteil des ebenfalls protestantischen Kirchenhistorikers Martin Friedrich den Verzicht auf die Analyse gesellschaftlicher Ursachen. Deshalb schließt er: »Die evangelische Kirche versagte im 19. Jahrhundert vor der sozialen Frage, weil sie keine Sozialethik hatte, sondern nur eine Individualethik […].«897 Während der Mensch nach protestantischer Auffassung völlig von der göttlichen Gnade abhing, war diese Abhängigkeit nach katholischer Auffassung gelockert. Der Mensch konnte an seinem Heil mitwirken und für seine Verdamnis verantwortlich gemacht werden. Der Mensch war nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt. Aber diese Perspektive erlaubte einen Interpretationsspielraum, wie er sich ja im Unterschied zwischen Gnaden- und Exorzismusdispositiv zeigt. Im Gnadendispositiv wurde der Ursprung dieser Phänomene im göttlichen Willen betont, im Exorzismusdispositiv vor allem auf teuflische Versuchung und menschliche Entscheidung zurückgeführt. Der Mensch war im Exorzismus­ dispositiv mehr Subjekt und weniger Objekt göttlicher Gnade als im Gnadendispositiv. Das Diesseits wurde von Gott emanzipiert – und der Verantwortung des Teufels übertragen. So wurde der erweiterte Handlungsspielraum verarbeitet und interpretiert und selbst an seiner Erweiterung mitgewirkt. Für Ketteler war die Erbsünde auch in seinen noch ganz und gar von der caritativen Sozialethik geprägten Adventspredigten 1848 grundlegend für das Verständnis der sozialen Frage.898 Dieser Abfall von Gott sei der Grund »unserer socialen Leiden«.899 Denn aufgrund dieses Abfalls habe Gott die Eigentumsunterschiede geschaffen. Diese habe er sich einfallen lassen, um »dem freien Willen und der Selbstbestimmung des Menschen den schönsten Spielraum« zu eröffnen, um »so den Menschen zum Ausspender seiner Gaben an seine Mitbrüder zu machen«, denn: Wenn bei der Vertheilung der Güter der Erde nichts mehr von dem freien Willen der Menschen abhinge, wenn darin Alles Naturnothwendigkeit wäre oder wenn diese Fürsorge durch Polizeimaßregeln oder Staatsgesetze erzwungen werden könnte, so wäre die schönste Quelle der edelsten Gesinnung in der Menschheit verstopft.

Deshalb lehnte er Eingriffe in die Eigentumsunterschiede ab und rief dazu auf, diese anzuerkennen und »zu diesem schönen Leben der Liebe« zurückzukehren.900 Denn nicht in der »äußeren Noth liegt unser sociales Elend, sondern in

896 Meinhold: Wichern 45–52. 897 Friedrich: Armenpflege 41 f. 898 Ketteler: Fragen 37 f.: »Wer das Geheimniß von der Erbsünde verwirft, weil er es nicht verstehen kann, dem bleibt die Menschheitsgeschichte ein unverstandenes Geheimniß.« 899 Ebd. 40. 900 Ebd. 32 f.

294  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv der inneren Gesinnung«.901 Die Armen müssten »erst wieder fühlen, daß es eine Liebe gibt, die ihrer gedenkt, ehe sie der Lehre der Liebe Glauben schenken«. So wie Gott den Sünder »nicht nach der Gerechtigkeit behandelt, sondern durch das Übermaß seiner Liebe unsere Lieblosigkeit und Undankbarkeit überwindet, so müssen auch wir Gott nachahmen und unsere Nebenmenschen durch ein Übermaß der Liebe überwinden«.902 Ungleichheit sei deshalb nicht die Ursache, sondern die Lösung der sozialen Frage. Sie sei »bei vorherrschender christlicher Gesinnung, das festeste und schönste Bindemittel der Menschen unter einander, weil sie zur Bethätigung der christlichen Liebe, der wahrhaft brüderlichen Gesinnung Gelegenheit gibt«.903 Um dies zu ermöglichen, sei es nötig, »sein Kapital auf Zinsen zu legen, die im Himmel ausbezahlt werden«. Das Heil der Menschen im Diesseits zu suchen fördere dagegen Selbstsucht und Geiz bei den Reichen, Neid und Haß bei den Armen.904 Denn der Reiche, »der seine Endbestimmung in dem jenseitigen Leben sucht, wird also seine Reichthümer nicht als Mittel betrachten, um seine irdischen Lüste zu befriedigen, sondern als ein Mittel, um durch ihre gute Verwendung den Besitz Gottes zu erlangen«.905 Die Möglichkeit zur Nachfolge Christi war noch nicht auf die Kirche als Heterotopie beschränkt. Das Gnadendispositiv hatte nicht zwischen Diesseits und Jenseits getrennt. Gott wirkte in der Welt, was in der Reich-Gottes-Lehre seinen theologischen Ausdruck fand. Deshalb diente das Diesseits nicht nur zur Bewährung für das Jenseits, sondern hatte bereits Anteil an der Transzendenz. Dagegen trennte die Neuscholastik scharf zwischen Diesseits und Jenseits. Das Diesseits diente nur zur Bewährung für das Jenseits. Nicht mehr der innerweltlich-geschichtliche Charakter des Reiches Gottes wurde eschatologisch betont, sondern dessen überzeitliche Erhabenheit. Geschichtliche Immanenz und überzeitliche Transzendenz wurden scharf voneinander getrennt.906 Nur die Kirche verblieb auf der Seite der Transzendenz. Dabei handelt es sich bei Diesseits und Jenseits um Begriffe, die erst in der Aufklärung geschaffen wurden, um einer klaren Trennung Ausdruck zu verleihen, die vorher nicht gegeben war. Denn es war der Wirklichkeitsbegriff der Aufklärung, der forderte, dass alles, was wirklich ist, einen bestimmbaren zeitlichen und räumlichen Ort haben müsse. Der Be 901 Ebd. 40–42. – Ebd. 40: »So lange ich aber sehen werde, daß alle Weisheit, alle Wissenschaft, alle Weltbildung zusammengenommen nicht im Stande ist [!], ein einziges Fünklein christlicher Liebe auf Erden zu entzünden, nicht im Stande, ein einziges Leben der Liebe zu gestalten, einen einzigen Geizigen von seinem Geiz zu heilen, werde ich feststehen in dem Glauben, daß die Menschheit in Sünde gefallen und nur durch das Christenthum wieder hergestellt werden kann.« 902 Ebd. 45. 903 Ebd. 48. 904 Ebd. 60 f. 905 Ebd. 67. 906 Vgl. dazu Hölscher: Weltgericht 39 f.; Lang: Welt 209–224; Müller-Goldkuhle: Eschatologie 9 und 185.

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griff der Zukunft, der bis dahin sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Bedeutung hatte und das Leben nach dem Tode beinhaltete, verlor seine transzendente und damit auch seine räumliche Bedeutung. Der Begriff der Zukunft diente nun zur Beschreibung einer ergebnisoffenen Zeit. Das Jenseits entstand als räumlicher Begriff neu.907 Aufklärung und Neuscholastik trafen sich also in ihrem Bestreben nach einer klaren begrifflichen Trennung zwischen Diesseits und Jenseits. Deshalb ist es bezeichnend, dass die Begriffe Diesseits und Jenseits bereits 1831 von Heinrich Klee, einem der ersten Vertreter der Neuscholastik im deutschen Sprachraum, verwendet wurden.908 Deshalb ist es zutreffend, wenn Olaf Blaschke behauptet, dass die katholische Mentalität des Kaiserreichs vom Dualismus von Diesseits und Jenseits, Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Gut und Böse, Belohnung und Bestrafung geprägt gewesen sei.909 Auch Christopher Clark bemerkt in der katholischen Presse der Kulturkampfzeit eine zunehmend dualistische Weltsicht.910 Umfassender noch als Blaschke und Clark bezeichnet Heller den neuscholastischen Katholizismus als »Lebensform in dualen Denkmustern«. Duale Kategorien bestimmten die katholische Wahrnehmung der Wirklichkeit. Dabei erbrachten die Duale von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, Belohnung und Bestrafung, Gott und Welt, Kirche und Gesellschaft, Wahrheit und Lüge, Priester und Laie eine Stabilisierungsleistung durch Simplifizierung.911 Dabei ist es zutreffend, wenn Knoll darauf hinweist, dass die dualistische begriffliche Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz, die er auf Thomas zurückführt, die Immanenz von der Transzendenz emanzipiert habe. Die Folge sei deshalb die Konstruktion eines immanenten Raumes gewesen, »worin Wirtschaft, Staat, Kultur, Kunst, Wissenschaft, Philosophie usf. – unabhängig von Christus – nach eigenen Gesetzen funktionieren« konnten.912 Der Theologe und Historiker Michael Fischer geht in seiner kulturgeschichtlichen Analyse der katholischen Eschatologie im 19. Jahrhundert noch weiter. Er sieht in der scharfen Trennung von Diesseits und Jenseits ebenfalls eine Rationalisierung. Die Trennung habe zur Entzauberung der Welt beigetragen. So habe die christliche Eschatologie zur kulturellen Säkularisierung beigetragen, indem ein immanenter Handlungsspielraum freigesetzt wurde.913 Für Schlögl ist dies eine konsequente Folge der christlichen Scheidung zwischen Heiligem und Profanem, wodurch das Christentum selbst an der Entzauberung der Welt

907 Vgl. Hölscher: Begriffsgeschichte 735–742; ders.: Einleitung 8 f.; Sparn: Aussichten 19; Weir: Lücke 99. 908 Vgl. Lang: Welt 210. 909 Blaschke: Kolonialisierung 96; vgl. dazu ferner Lehner: Caritas 27 und 43. 910 Clark: Catholicism 36–41. 911 Heller: Hölle 49 f. 912 Knoll: Thomismus 17 f. Vgl. dazu Welte: Strukturwandel 401. 913 Fischer: Sarg 109 f.

296  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv mitgewirkt habe.914 Die Erweiterung des menschlichen Handlungsspielraums durch die katholisch-sozialethische Konstatierung eines dualistischen Weltbildes geht aber in rationalisierender Entzauberung nicht auf. Tatsächlich wurde ein immanenter Handlungsspielraum freigesetzt, aber dieser war nicht säkularisiert. Die neuscholastische Ekklesiologie trennte scharf zwischen Kirche und Welt, erhob aber dieser gegenüber eine »potestas indirecta«. Die Kirche bestand auf gesamtgesellschaftlichem Gestaltungsanspruch und trennte das Politische nicht völlig vom Religiösen.915 Holzem verwendete deshalb zur Beschreibung des Ultramontanismus das Bild einer klar definierten, aber doch nur dünnen Membran zwischen Heiligem und Profanem, die durch Gebete und gute Werke in der einen Richtung, Heilstaten und Wunder in der anderen Richtung leicht zu überbrücken gewesen sei.916 Das Politische war zwar nun von völlig anderer Art als das Religiöse, das bedeutete aber nicht, dass dieses nicht Aussagen über jenes machen konnte. Dabei emanzipierte der neuscholastische Dualismus die Welt von Gott, aber nicht von der Religion. In dem Maß aber, in dem sich Gott aus der Welt zurückzog, stieß das Böse, näherhin das personifizierte Böse, vor. Am 9. Mai 1872 fragte sich Senestrey: Überhaupt, schaut euch nur um, Geliebteste! in diesem Europa voll der Wirren, voll der Sünde, voll des Unglaubens, voll der Pläne zu Verbrechen und Umsturz. Ist es nicht, als ob die Mächte der Finsterniß entfesselt wären, um Gewalt zu üben wider Gott, wider den Heiland und wider seine Kirche?917

Für Alban Stolz hatte der Teufel 1873 im Kampf zwischen Gut und Böse »große Vortheile auf der Erde; er hat mehr Gewalt und übt sie aus durch neuersonnene Künste und hat große Batterien von Lügenspritzen, nämlich die meisten landläufigen Zeitungen«.918 Seit dem Sündenfall sei die Menschheit in zwei Lager gespalten, so Leo XIII. 1884 in »Humanum genus«. Dem »Reich Gottes auf Erden«, das der Papst auf die Kirche beschränkte, stehe ein »Reich des Satans« gegenüber.919 914 Schlögl: Glaube (2013) 29. 915 Vgl. Altermatt: Katholizismus (1991) 109. 916 Vgl. Holzem: Geßlerhüte 281. – Schneider: Geisterglaube 373 f. erläuterte 1882, warum und wie die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zu überschreiten war: »Naturgemäss befindet sich die abgeschiedene Seele allemal dort, wohin sie ihre Intention richtet, und namentlich dort, wo sie thätig ist; und thätig sein kann sie, wo würdige, ihrer natürlichen Anlage oder göttlicher Anordnung entsprechende Objekte der Thätigkeit, zunächst des Erkennens, sich ihr darbieten. Deren aber gibt es für die abgeschiedenen Geister auch hier auf Erden: die Stätten, wo sie einst gelebt, gearbeitet, gelitten, wo sie noch fortleben in ihren Werken, wo die Früchte ihrer Thaten reifen, wo die Wohlthäter und Helfer wohnen zu ihrem Heile und ihre Schutzbefohlenen der Natur oder der Gnade nach, wo sie um ihre Fürbitte angerufen, ihr Andenken, ihre Gebeine verehrt werden etc. Ein unsichtbarer Verkehr der Geisterwelt im Diesseits widerspricht mithin weder der Natur noch dem neuen Zustande der heimgegangenen Seelen.« 917 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1872 (9.5.1872). 918 Stolz: Kohlschwarz 4. 919 Rundschreiben II s. v. Humanum genus 2.

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Der Teufel wurde so am Ende des 19. Jahrhunderts zum konfessionsunterscheidenden Merkmal. Für Conrad Martin war die Hölle der wichtigste Beweis für die Wahrheit des Christentums in seiner katholischen Form, ohne Hölle sei das Christentum nur eine Fabel.920 Der Religionshistoriker Traugott Konstantin Oesterreich (1880–1949) bemerkte in seiner 1921 erschienenen Monographie über die Besessenheit, dass Dämonen vor allem für die katholische Religiosität des späten 19. Jahrhunderts kennzeichnend waren.921 Der eidgenössische Katholizismusforscher Altermatt urteilte, dass um 1900 viele Katholiken vom Teufel »eine mehr oder weniger klare Vorstellung« besaßen, während sie »mit Gott höchstens das Bild eines alten Mannes mit Bart verbanden«.922 Niemals gab es so viele katholische Bücher über die Hölle wie im 19. Jahrhundert, in dem das Interesse an der Hölle seinen Höhepunkt erreichte.923 Für den französischen Kulturhistoriker Jean Delumeau ist diese Karriere des Teufels ein Kennzeichen der Moderne. Eine »unglaubliche Furcht vor dem Teufel begleitete die Heraufkunft der Moderne«.924 Delumeau hält diese Karriere für die spezifisch katholische Bewältigung der steigenden Unsicherheit. Das ist richtig, aber in einem anderen Sinne, als Delumeau es meint. Die Karriere des Teufels reduzierte Unsicherheit durch die Möglichkeit des antidämonischen Kampfes. Der Teufel stellte ein Risiko dar, Gott eine Gefahr. Der riskante Teufel ermöglichte Handeln, während der gefährliche Gott fatalistisch wirkte und damit dem erhöhten Handlungsdruck und den erweiterten Handlungsmöglichkeiten der funktional differenzierten Gesellschaft nicht mehr angemessen war. Deshalb warnte Linsenmann 1878 vor »der unheimlichen Furcht vor dem Zorn der Gottheit«. Diese Furcht sei »fatalistisch und stellt sich jedem Mittel zur Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände, z. B. der Arzneikunst, dem Selbstschutz, dem Versicherungswesen entgegen«.925 Linsenmann hatte nämlich beobachtet, dass Geisteskrankheiten nicht therapiert wurden, wenn sie als Strafe Gottes wahrgenommen wurden, dies hätte ein »Eingreifen in die göttliche Strafgerechtigkeit« bedeutet.926 Auch das Privateigentum als Folge des Sündenfalls wurde im Exorzismus­ dispositiv nicht mehr wie im Gnadendispositiv auf den göttlichen Willen zu 920 Martin: Osterzeit 50: »Man muß an die Ewigkeit der Höllenstrafen glauben oder den Glauben an Jesum Christum, den Glauben der Kirche, die apostolische Überlieferung und die ganze Auctorität der katholischen Kirche verwerfen. Ist die Hölle eine Fabel, ›ein von den Pfaffen erfundenes bloßes Schreckbild‹, so hat das ganze Christenthum aufgehört, Wahrheit zu sein und alle einzelnen Lehren besitzen keine göttliche Bürgschaft mehr. Entweder ist also das Christenthum durch und durch ein Lügengewebe oder die Hölle ist wahr […].« 921 Oesterreich: Besessenheit 192–196. 922 Altermatt: Kirchengeschichte 23. 923 Minois: Hölle 377. – Freytag: Aberglauben 127 f. wollte indes eine besondere ultramontane Aufgeschlossenheit für den Dämonenglauben nicht feststellen können. 924 Delumeau: Angst 358. 925 Linsenmann: Lehrbuch 342 f. 926 Ebd. 350.

298  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv rückgeführt, sondern im Exorzismusdispositiv als selbstverständliche Folge einer dämonisch verursachten menschlichen Entscheidung für die Sünde wahrgenommen. Hitze machte das Privateigentum an den Produktionsmitteln 1880 zur Folge der »gefallenen – menschlichen Natur«.927 Die Welt hatte nicht mehr Anteil an der Vollkommenheit, sondern war durch teuflische Anregung und menschliche Entscheidung unvollkommen. Rietter wies zwar 1865/1866 darauf hin, dass der Christ kein manichäischer »Feind und Hasser der Welt« sei, »aber er haßt, was der böse Geist und der entartete Menschengeist Widergöttliches in dieselbe gebracht hat [!]«.928 In der Enzyklika »Humanum genus« führte Leo XIII. am 20. April 1884 aus, dass die Menschen »durch den Neid des Teufels« von Gott abgefallen waren.929 Im Diesseits agierte Gott in der Kirche, außerhalb Teufel und Menschen. Dabei erstreckte sich die immanente Neigung zum Bösen auch auf die nichtmenschliche Natur. Pruner behauptete 1857: »Nach der Sünde läßt Gott den Menschen nicht seiner Herrschaft über die Erde verlustig bleiben, aber diese Erde verharrt in ihrem Widerstreben gegen den Menschen in so weit, als in diesem selbst ein Gott widerstrebendes Gesetz sich festgesetzt hat.«930 Lorinser machte den Sündenfall 1878 für die Möglichkeit von Naturkatastrophen verantwortlich. Der Mensch habe »durch eigene Schuld, jenen Standpunkt verloren, auf dem er unbeschädigt und ungefährdet der Natur gegenüberstand, und wo sie ihm all’ ihre Großartigkeit entfalten konnte, ohne ihm Schrecken einzuflößen und ihm Gefahr zu bringen.«931 Auch Schneider führte 1896 die Bedrängnisse durch die Natur auf den Sündenfall zurück.932 Denn »dem Ungehorsame des Geistes gegen Gott folgte die Empörung des Fleisches wider den Geist und die Unbotmäßigkeit der Natur gegen den ganzen Menschen«. Die Natur sei wegen Adams »ihres paradiesischen Segens beraubt worden«, sie wurde »verflucht und geriet zugleich mit Adam in Feindschaft mit Gott und in die Dienstbarkeit der finsteren Mächte«. Da die Natur durch die Schuld des Menschen »nicht geworden ist, was ihre ursprüngliche Bestimmung forderte«, sei ihr »Stöhnen und Stürmen« ein »Anzeichen des Schmerzes und des Unwillens, mit dem sie gegen ihr Ge 927 Hitze: Kapital 145. 928 Rietter: Breviarium 257. 929 Rundschreiben II s. v. Humanum genus 2. 930 Pruner: Lehre I 11. 931 Lorinser: Geographie 196 f. 932 Schneider: Leben 338: »Man muß aber zugeben, daß die Erde nicht mehr ist, wie sie einst gewesen, und auch nicht das geworden ist, was sie ihrer ursprünglichen Anlage und Bestimmung nach hätte werden können und sollen. Sie sollte wegen ihrer innigen Verbindung mit dem Menschen, dem Erdensohne, zu einer höheren Stufe des Seins und Lebens gelangen. Dem in den Stand der übernatürlichen Kindschaft erhobenen Adam war durch die wunderbare Erhöhung aller natürlichen Anlagen und Vermögen und durch die Vergeistigung der tierischen Seite seines Wesens und Lebens eine entsprechende Ausstattung zu teil geworden.« Diese sei ihm nach dem Sündenfall nicht mehr zur Verfügung gestanden.

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schick ankämpft«. Mit Mühe sei es der Menschheit gelungen, »in der Naturbeherrschung« voranzuschreiten. Die sündige Menschheit habe es dadurch zwar geschafft, die Erde zu »verschönern«, nicht jedoch sie zu verbessern, denn »jede neue Verbesserung der Naturausbeutung ist eine einseitige, gereicht weder der ganzen Erde zur Zierde noch der Gesamtheit ihrer Bewohner zum Vorteile oder Vergnügen«.933 Dabei glaubte Albert Maria Weiß darauf hinweisen zu müssen, dass die Immanenz nicht völlig böse sei. Er führte an, dass »die gesamte Menschheit, nicht bloß alle und jede besondern Menschen für ihre Person, sondern das Ganze, das Menschengeschlecht« gefallen sei: »Die Menschheit ist zur Welt geworden, wie sich die Schrift ausdrückt.« Deshalb sei die Welt aber nicht »das Böse geworden, wie die dualistischen Irrtümer behaupten«. Vielmehr sei sie unter die »Herrschaft des Bösen« geraten.934 Die Welt war nicht böse, sie war der Kampflatz gegen das Böse.935 Aus der Notwendigkeit und Möglichkeit des Kampfes gegen das Böse ergab sich der immanente Handlungsspielraum im agonalen Exorzismusdispositiv. Für Hirscher hatte der göttliche Kampf gegen das Böse im Rahmen seiner Reich-Gottes-Lehre einer zunehmenden immanenten Annäherung an die Vollkommenheit gedient.936 Das Exorzismusdispositiv orientierte sich nicht mehr an einem unerreichbaren immanenten Ideal. Im Exorzismusdispositiv handelte es sich um einen immerwährenden menschlichen Kampf gegen das Böse, der im Unterschied zu Hirscher keine immanente Entwicklung zuließ. Das Diesseits war – außerhalb der verfassten Kirche – eindeutig unvollkommen, das Jenseits eindeutig vollkommen. Denn das Leben, so der Thomist Plaßmann 1859, ist nur eine »Uebergangsperiode«, es sei »nicht letzter Zweck, sondern Mittel zum Zweck; da dieser Mittelzustand eine Prüfungsperiode ist, wornach sich ent 933 Ebd. 340–342. 934 Weiß: Lebensweg 313. 935 Vgl. Deufel: Kirche 101–103; Petersen: Ruf 45–49. – Gaume schrieb in einem 1874 in deutscher Übersetzung bei Manz in Regensburg erschienenen Buch (Gaume: Kirchhof 11): »Die Welt regieren zwei entgegengesetzte Einflüsse: der göttliche Einfluß und der satanische Einfluß. Dieß Dogma, das Alles erklärt und ohne das Nichts erklärt werden kann, steht an der Spitze der Theologie aller Völker geschrieben.« 936 Hirscher zit. nach Müller-Goldkuhle: Eschatologie 124: »Hienieden ist Glaube Liebe und Thätigkeit der Liebe im beständigen Kampfe mit seinen Gegensätzen, und das göttliche Reich ist darum auf Erden in seiner Herrschaft nicht vollendet, sondern in beständiger gleichzeitiger Entwicklung und Vervollkommnung begriffen.« Ein später Nachfolger Hirschers war Renninger. Dieser führte 1879 aus (Renninger: Grundlage 58 f.): »Wäre eine solche auf das Sittengesetz sich aufbauende Gesetzgebung wahrhaft durchgeführt, wäre das Gemeinwesen durch sittliche Fragen getragen, dann wäre der wahre Culturstaat vorhanden, ein Zustand erreicht, den der Apostel als Ideal hinstellt: Justus est sibi lex; der Gerechte ist sich selbst Gesetz; er will aus sich, was das Gesetz will. – Und wenn auch ein solcher Zustand jetzt, wo die Sünde herrscht, nicht vollständig verwirklicht werden kann, so bleibt er doch immer Forderung; er bleibt die Idee, zu der die Rechtsbildung sich erheben, die dem Geiste der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt präsent sein muß.«

300  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv scheidet, ob wir zur weiteren Erkenntniß, zur finalen Erkenntniß, zum endlichen Schauen der Wahrheit zugelassen oder von ihm ausgeschlossen werden«.937 Wie die Sicht auf die Welt als Kampfplatz gegen das Böse zur Tat animierte, machte Senestrey in einem Hirtenbrief am 26.  Juli 1869 deutlich. Er sah sich damals einer »Gefahr« gegenüber die ins Unermeßliche sich steigert bei der zahllosen Berührung mit den Versuchungen zum Unglauben und zur Sünde, welche heutzutage allenthalben schon im Umgange und in der Lecture sich finden. Die Gefahr ist wirklich eine sociale geworden – und gipfelt in den Versprechungen einer falschen Selbständigkeit und Freiheit und in dem immer mehr im öffentlichen Leben sich kundgebenden Abfalle von der christlichen Heilsordnung.

Deshalb reichten »Klagen über die verderblichen Bestrebungen des Zeitgeistes« nicht aus. Es müsse »auch positiv für Schule und Erziehung im christlichen Geiste mit dem regsten Eifer gewirkt werden; es müssen die Fortschritte der Pädagogik auf dem natürlichen Gebiete ergriffen, geläutert, geheiligt, dem Evangelium dienstbar gemacht« werden.938 Dabei fügt sich die Wahrnehmung der sozialen Frage als Krankheit des transpersonalen gesellschaftlichen Körpers in das agonale Exorzismusdispositiv. So wie es eine individuelle Besessenheit gab, gab es auch eine gesellschaftliche. Die Symptome ähnelten sich. Bereits Görres war 1821 der Ansicht gewesen, dass unter Krämpfen – einem der stärksten Kennzeichen von Besessenheit – nicht nur Menschen litten. Europa sei in »ein furchtbares Hin- und Herüberschwanken, ein beständiges, convulsivisches Abspringen von einem Äußersten zum Andern« gefallen. Es werde von den »Paroxismen dieses Wechselfiebers heimgesucht, bald in den Schauern des Despotismus zähneklappernd, dann wieder von fliegender Revolutionshitze heiß überlaufen«.939 Reichensperger fürchtete 1847 die von der Arbeiterbewegung hervorgerufenen »schrecklichen Konvulsionen«, die von »dämonischen Ideen« begleitet seien. Angesichts der »höchst kontagiösen Natur solcher Volkskrankheiten« muss das »Heilmittel« darin bestehen, jedem die Möglichkeit zu eröffnen, »durch eigene Kraft sich über den Druck der Gegenwart zu erheben und auch ihrerseits in den Stand der Eigenthümer überzutreten«.940 Auch Albert Maria Weiß nahm 1892 wahr, dass die Gesellschaft »in einen Zustand beständiger nervöser Krämpfe und Zuckungen versetzt« sei.941 So wie sich der Mensch dämonisch anstecken konnte, so auch die Gesellschaft. Vor der Julirevolution, so Weiß in seinen Lebenserinnerungen, sei die Luft »mit Keimen 937 Plaßmann: Schule 40. 938 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1869 (26.7.1869). 939 Görres, Joseph: Europa und die Revolution. Stuttgart 1821. In: Ders.: Politische Schriften 145–285, hier 220 f. 940 Reichensperger: Agrarfrage 328–330. 941 Weiß: Frage 3.

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der Krankheit dermaßen erfüllt« gewesen, »daß man deren mit jedem Atemzug in sich sog.« Schließlich sei die »Einimpfung des Giftes« gelungen. Es folgten die »trüben Jahre der Inkubation«, 1848 habe das Gift dann die »gehörige Bösartigkeit« entwickelt.942 Dabei war nicht nur Besessenheit dämonischen Ursprungs, sondern jegliche Krankheit als Folge der ersten Sünde und deshalb notwendige Folge der darin gründenden Unvollkommenheit der Welt, weshalb die Wahrnehmung der Welt als krank auch ohne expliziten Hinweis auf das Böse genau darauf verweist. Buß wies in einer sozialethischen Schrift von 1844 darauf hin, dass Tod und Krankheit mit der Sünde der Stammeltern in die Welt gekommen seien.943 Durch den Sündenfall sei ein dreifaches »Übel« entstanden, ein physisches, ein psychisches und ein soziales, zu deren Heilung Medizin und Religion gleichermaßen zuständig waren.944 Er stellte nicht nur eine »wunderbare weltgeschichtliche Verwandtschaft« von Revolution und Cholera fest.945 Auch der »Pauperismus« war seiner Ansicht nach die »Krankheit der gegenwärtigen Gesellschaft«. Sie sei »bald acut, bald chronisch, bald sporadisch, bald endemisch, bald epidemisch«. »Staatskunst« müsse deshalb zur »Heilkunst« werden. Denn der Staat sei ein Organismus, er habe »organischen Bau, organisch vermitteltes Leben, Gesundheit, Krankheiten, Heilung«. Die Gesundheit werde »in der Hygiäne erkannt, und ihre Erhaltung in der Diätetik gelehrt. Der Staat hat auch seine Hygiäne, seine Diätetik«.946 Für Moufang handelte es sich bei der »socialen Frage« 1877 um eine chronische Krankheit des gesellschaftlichen Körpers: Wie ein kranker Körper noch von einer besonderen acuten Krankheit erfaßt werden kann, so kam zu den vorhandenen ungesunden socialen Verhältnissen die gegenwärtige Geschäfts-Krisis hinzu. Die Krankheit, woran wir leiden, ist eine chronische und liegt in der ganzen Constitution der modernen Gesellschaft. (Bravo!) Wer einmal 942 Ders.: Lebensweg 70 f. 943 Buß: Orden 318: »Vollkommene Gesundheit verschwand mit dem Eintritt der Sünde in die Menschheit, weil der Mensch die Harmonie in seiner Constitution verloren; seither ist die Gesundheit nur noch eine relative mit verschiedener Breite für Jeden; innerhalb der Grenzen dieser Gesundheit wechselt Menge und Beschaffenheit des Bluts, des Immateriellen, selbst die Gestalt des Festen.« 944 Ebd. 320: »Aus der Störung dieser Harmonie entsteht das Übel, das sonach selbst als ein dreifaches sich darstellt: das physische, das als leibliche Krankheit erscheint; das geistige, das moralische, das als positives Böse sich in vielfache Laster einbildet und verhüllt; das seelische, das sich zu den vielen Seelenstörungen verastet. Das physische Übel, die Leibeskrankheiten, heilt der Arzt; weil jedoch die höhere Macht des Geistes die niedern Gebiete überwaltet, so reicht die Gnadenspende der Kirche bis in diese Tiefe hinab; das moralische Leiden heilt die Kirche, mit beiläufiger Mithilfe des Arztes, weil das Niedere sich hier oft in das Höhere hinaufschlingt. Das gemischte psychische Leiden fällt sachgemäß zugleich in die ärztliche und geistliche Behandlung, je nach dem Vorwiegen des einen oder des anderen Moments in der Zusammensetzung.« 945 Ebd. 13. 946 Ders.: System I V–VII.

302  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv lungensüchtig oder abzehrend ist, kann noch vom Nervenfieber ergriffen werden; aber er ist auch ohne dasselbe ein armseliger Mensch, weil er dieß Übel an sich hat; – und das chronische Übel des socialen Nothstandes existirt wirklich und es ist ein Irrthum, wenn man sich hierüber täuscht.947

Dabei bedeutete die Wahrnehmung der sozialen Frage als Krankheit im Exorzismusdispositiv einerseits ihre dämonische Begründung, andererseits aber auch ihre Heilbarkeit – und zwar nicht reaktiv, sondern vorbeugend diätetisch. Jörg stand noch zwischen Gnaden- und Exorzismusdispositiv, als er 1867 zwar einen Zusammenhang zwischen Krankheit, Sünde und sozialer Frage konstatierte, proaktive Eingriffe in die sozialen und ökonomischen Strukturen aber ablehnte. Für Joerg stellte die »sociale Frage« das zentrale gesellschaftliche Problem dar, das durch den Krieg von 1866 nur vorübergehend aus der Aufmerksamkeit verdrängt worden sei. Sie sei eine »Krankheit«, die auf »Heilung« warte.948 Dabei war das Privateigentum an den Produktionsmitteln für ihn noch göttlich legitimiert, weshalb er Eingriffe in die Eigentumsstruktur als dämonisch ablehnte und auf eine Rechristianisierung setzte: Die werkthätige Nächstenliebe war der Regulator, aber auch der allein feste Zaun der persönlichen Eigenthumsrechte, und es ist einfach eine logische Thatsache, daß mit der Religion auch das Eigenthum aus der Welt verschwinden müßte. Sobald der Staat einmal im großen Maßstabe anfangen muß, die Existenz der Einen durch Zwangsgebote gegen die gierige Exclusivität des Eigenthums der Andern sicher zu stellen, so ist hiemit eine Schraube ohne Ende angesetzt, und insoferne kann man allerdings auch nicht sagen, welche dämonischen Gewalten im Rücken der Lassalle’schen ProduktivAssociation auferstehen würden.949

Als Ketteler zur gleichen Zeit das Verhältnis von Rechristianisierung und sozialen Strukturen umkehrte, argumentierte er dann ganz im Exorzismusdispositiv. Er konstatierte einen Zusammenhang von Sünde, Krankheit und der Notwendigkeit des Kampfes gegen die Sünde als Krankheit, und zwar nicht durch eine reaktive Rechristianisierung, sondern durch proaktive, d. h. vorbeugende diätetische Eingriffe in die sozialen und ökonomischen Strukturen. Der Abfall von Gott habe den menschlichen Willen zum Bösen geneigt und Satan habe dadurch die Herrschaft über die Menschen erhalten. Durch die Erlösungstat Christi könne der Mensch aber seine ursprüngliche Bestimmung wiedererlangen.950 Dabei waren Sünde und Krankheit unauflöslich miteinander verbunden und bildeten gemeinsam die soziale Frage. Die Sünde führe zu »unmäßigem Genuß geistiger 947 Moufang: Irrthümer 4. Vgl. dazu Klose: Gott 410–434. 948 Joerg: Geschichte V f. 949 Ebd. 226. 950 Ketteler: Fragen 37 f.

Emanzipation der Welt von Gott, aber nicht vom Teufel  303

Getränke, zur Untergrabung der Gesundheit, zu ungeregeltem Geschlechtsverkehr, zur Auflösung des Familienlebens, zur Versunkenheit des weiblichen Geschlechts, zur Vernachlässigung jeder Kindererziehung«. Eine Rechristianisierung hielt er angesichts dieser krankhaften und sündigen Lebensumstände für aussichtslos: »Es müssen zuerst Einrichtungen zur Humanisirung dieser verwilderten Massen geschafft werden, bevor man an deren Christianisirung denken kann.«951 Die soziale Frage betrachtete Ketteler als »Arbeiterernährungsfrage«, weshalb sich seine Überlegungen um Nahrung, Kleidung und Wohnung drehten, also um Diätetik.952 Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die agonale, diätetische und dämonologische Perspektive auf die soziale Frage durchgesetzt. Hertling warnte gerade deshalb in seiner Entgegnung auf Hitze 1884 vor der Meinung, »daß die heutige Geld- und Creditwirthschaft lediglich vom Bösen und die Maschine eine Erfindung des Teufels sei«.953 – Für Joerg waren Eingriffe in die göttlich legitimierten sozialen und ökonomischen Strukturen dämonisch gewesen, zur Zeit Hertlings galten Eingriffe in die sozialen und ökonomischen Strukturen als Maßnahmen im menschlichen Kampf gegen das Böse. Am prominentesten verband sich der Kampf gegen die Dämonen und der Einsatz für eine Veränderung der sozialen Strukturen bei Papst Leo XIII. Die von ihm 1891 erlassene Sozialenzyklika »Rerum novarum« stellte die erste Sozialenzyklika überhaupt dar und besaß deshalb epochale Bedeutung. Erstmals wurden proaktive Eingriffe in die ökonomischen und sozialen Strukturen lehramtlich legitimiert.954 Im Jahr 1884 hatte der gleiche Papst während einer von ihm zelebrierten Messe eine dämonische Vision, weshalb er den so genannten leonischen Exorzismus formulierte, eine Art Alltagsexorzismus, der jeden Tag, und zwar nicht nur von Klerikern, sondern auch von Laien gesprochen werden sollte. Während der so genannte »Große Exorzismus« für Fälle von Besessenheit weiterhin Klerikern vorbehalten war, wurden so auch Laien in den kirchlichen Kampf gegen das Böse als Handelnde integriert und dieser dadurch generalisiert.955 Dabei äußert der Kirchenhistoriker Jörg Ernesti in seiner Biographie des Papstes Verwunderung darüber. Die exorzistischen Bestrebungen Leos XIII. würden »nicht so recht in das Bild eines aufgeklärten, der Wissenschaft und dem 951 Ders.: Fürsorge 432. 952 Ders.: Arbeiterfrage 372. Diätetisch-dämonomanisch argumentierte Ketteler 1869 auch in seiner berühmten Rede auf der Liebfrauenheide bei Offenbach. Vgl. ders.: Arbeiterbewegung. 953 Hertling, Georg von: Einige Bemerkungen zu Fr. Hitze’s »Kapital und Arbeit«. In: Ders.: Aufsätze 27–74, hier 38. 954 Zu »Rerum novarum« vgl. Schmidlin: Papsttum 365–383; Ernesti: Leo XIII. 235–246. 955 Vgl. dazu Symonds: Pope; Ernesti: Leo XIII. 281–300. – Der große feierliche Exorzismus, angewandt im Fall von Besessenheit, also dämonischer Inbesitznahme des Körpers, kann nur von einem Priester und nur mit bischöflicher Erlaubnis ausgesprochen werden. Den kleinen Exorzismus, angewandt im Fall von Umsessenheit, also dämonischer Belästigung, können auch Laien sprechen. Als solcher wird der leonische Exorzismus betrachtet. Zur Differenzierung zwischen großem und kleinem Exorzismus vgl. Rodewyk: Besessenheit 62–108.

304  Sozialethik des Rechts – Das Exorzismusdispositiv technischen Fortschritt zugetanen Mannes« passen.956 Es handelt sich dabei aber um keinen Widerspruch. Das Exorzismusdispositiv bedeutete die proaktive Zuwendung zur Welt im Kampf gegen das Böse.957 Dabei erlaubt die Generalisierung des Exorzismus durch Leo XIII. neben der dämonomanisch-diätetischen Betrachtung des Sozialen trotz zurückgehender Zahl an Exorzismen, ja sogar angesichts zunehmender kirchlicher Skepsis gegenüber individueller Besessenheit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts,958 von einem Exorzismusdispositiv zu sprechen. Auch die Wahrnehmung des Bösen wandelte sich im Übergang vom Gnaden- zum Exorzismusdispositiv. Im Gnadendispositiv war das Wirken des Bösen punktuell, auf einzelne Personen bezogen, was das Walten des Reiches Gottes nicht in Frage stellen konnte. Es konnte zu einer letzten Konjunktur der Besessenheit nach deren strikter Ablehnung durch die Theologie der katholischen Aufklärung959 kommen. Im Exorzismusdispositiv war das Böse weniger ein individuelles (akutes) als ein strukturelles (latentes) Phänomen, wie es Jeiler im Kirchenlexikon 1883 unter dem Lemma »Besessene« zum Ausdruck brachte: Es möchte kein gutes Zeichen für das letzte Jahrhundert sein, daß einerseits Unglaube und Sünde gewachsen sind und andererseits die leibliche Besessenheit, wenigstens die offenkundige, abgenommen hat. Sollte es vielleicht eine furchtbare Strafe der so weit verbreiteten Apostasie sein, daß Gott dem Teufel die Taktik erlaubt hat, inkognito sein Geschäft zu treiben und so die blinden Seelen um so sicherer in den Abgrund zu jagen?960

Das Wirken des Bösen war nicht mehr außergewöhnlich, sondern gewöhnlich. Es war nicht mehr beschränkt auf besondere Ereignisse, sondern herrschte überall. Das Böse war auf dem Weg zu seiner Normalisierung. Die Religionswissenschaftlerin Stephanie Gripentrog weist darauf hin, dass das Dämonische im Hinblick auf die göttlich legitimierte Ordnung bedrohlich 956 Ernesti: Leo XIII. 296 f. 957 Dies zeigt sich auch an dem frühen prominenten Neuscholastiker Pruner, der sich sowohl zu rechtsphilosophischen, sozialethischen und dämonologischen Fragen äußerte. Vgl. Pruner: Lehre I und II (rechtsphilosophisch); ders.: Moraltheologie (sozialethisch); ders.: Wirksamkeit (dämonologisch). 958 Das 19. Jahrhundert zeigte eine zunehmende Skepsis der Kirchenoberen gegenüber der vorschnellen volksreligiösen Interpretation einer Krankheit als Besessenheit, wie am Beispiel Frankreichs gezeigt wurde. Vgl. Devlin: Mind; Guillemain: Déments; Harris: Possession. Dabei ging es auch darum, das Phänomen Besessenheit unter Kontrolle zu halten. Die Kirche war bereits in der Frühen Neuzeit bestrebt, die Deutung von Besessenheit – etwa im Rituale Romanum von 1614 – restriktiv zu handhaben und damit in ihrer Kontrolle zu behalten, was aber letztlich auch der Aufrechterhaltung des Interpretaments an sich diente. Vgl. Midelfort: Natur 80 f. 959 Vgl. dazu Rodewyk: Beurteilung 477. 960 Jeiler: Besessene 519.

Emanzipation der Welt von Gott, aber nicht vom Teufel  305

und affirmativ, d. h. als Gottesbeweis, gleichermaßen wirke. Der Teufel verletze die göttlichen Gesetze der Moral, ohne die göttlichen Gesetze der Natur verletzen zu können. Er enttarne deshalb nur bisher Unbekanntes, was er ja im Fall von Besessenheit tue. Deshalb wirke die Besessenheit innovatorisch: Weil das Chaos nie ganz zu bändigen ist, weil immer ein Rest an Unvorhersehbarem, an Unerwartetem und Ungekanntem bleibt, muss dieses als das ›Anormale‹ eine Erscheinungsform erhalten, in der es zu bändigen ist und die der Wissensordnung zugleich den Zugriff auf es zu ihren Gunsten ermöglicht.961

Im Umgang mit Besessenheit schob sich also die Frage nach dem Normalen immer mehr in den Vordergrund. Soll die Herstellung der Willensfreiheit durch die Transformation von Gefahren in Risiken den Kampf gegen den Teufel erst möglich machen, so kehrt sich das Interesse im Kampf gegen den Teufel zunehmend vom Normativen zum Normalen. Das Exorzismusdispositiv entwickelt sich zum normalisierenden Regeldispositiv.

961 Gripentrog: Anormalität 297–300.

V. Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv Das Exorzismusdispositiv beinhaltete eine spezifische Zeit- und Beschleunigungswahrnehmung auf der Grundlage von individueller moralischer Dynamik und struktureller Statik. Die riskante bzw. unvollkommene Gesellschaft, die Gefahr und Sicherheit gleichermaßen als unmoralisch ausschloss, musste von unveränderlicher Struktur sein, da nur dieser riskante Charakter individuelle moralische Entwicklung zu ermöglichen schien. Gesellschaftliche Entwicklung war zugunsten von individueller Entwicklung nicht möglich. Während Utopien von Vollkommenheit und Statik geprägt waren, forderte das Exorzismusdispositiv einen statischen Zustand struktureller Unvollkommenheit. Es lehnte Utopien ab. In einer anti-utopischen Besprechung über Edward Bellamys (1850–1898) Roman »Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887« bezeichnete Hertling den darin gezeichneten Zukunftsstaat 1890 als »allgemeines Zuchthaus«. Es werde keine Freiheit mehr geben: »Zu fürchten und zu sorgen haben jene Menschen freilich nichts mehr, aber auch nichts zu hoffen.« Deshalb hätten sie keine Ziele. Aus »Bellamys Zukunftsstaat gähnt uns eine entsetzliche Öde und Langeweile entgegen«, dies sei nicht schuld des Verfassers, sondern Konsequenz von Utopien. Ohne Anreize herrsche »Stillstand, Geistesöde und Niedergang«.1 Ebenso sprach sich Walter 1906 gegen die sozialistische Sicherheitsutopie aus: Darf ferner nicht auch das Risico, die Gefahr, die mit einem Unternehmen verbunden ist, gerechterweise einen Anspruch auf Lohn erheben? Wenn Lassalle und der Socialismus überhaupt das Risico gar nicht berücksichtigt wissen will, weil es eine Folge der heute herrschenden Productionsanarchie sei und mit dieser zugleich verschwinden müsse, so ist es doch unbillig, das schon von der heutigen Production verlangen zu wollen, was erst eine spätere Entwicklung bringen soll. Und sollte der Socialismus wirklich einmal einen Zustand herbeiführen, wo Wagen und Riskiren beseitigt sein würde, so gilt von diesem der Satz: Wo nichts zu wagen, da ist nichts zu gewinnen. Nicht eine wilde Speculationswuth soll die Gesellschaft beherrschen; aber es muß doch ein gewisser Grad von Kühnheit in den Unternehmungen vorhanden sein, damit nicht ein Stagniren der Erwerbsthätigkeit und der Cultur eintritt.2

1 Hertling, Georg von: Über alte und neue Staatsromane. Ein populärer Vortrag. In: Ders.: Schriften 192–222, hier 215–221. 2 Walter: Kapitalismus 189.

Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv   307

Die Struktur der Gesellschaft sollte im Exorzismusdispositiv von ausgeglichener und statischer Unvollkommenheit sein, um individuelle moralische Dynamik zu ermöglichen, die sich am jenseitigen Ziel orientieren sollte. Menschliche Tugend, so Lomb 1844, sei »nicht absolute Vollkommenheit«, sei »nicht schon Erreichung des Zieles«, sondern »fortdauerndes Streben darnach in ununterbrochenem Fortschritte; sie ist das fortdauernde und thätige Streben, die Harmonie unseres Geistes und Willens mit dem göttlichen Willen, der uns in Christus kund geworden, herzustellen«.3 Damit übereinstimmend formulierte Grupp 1891: Hätte der Mensch sein Ziel erreicht und wäre er durchaus bedürfnislos, so würde auch der Geschichte alle Bewegung fehlen. Da ihm aber das volle Glück fehlt, so muß der Mensch notwendig vorwärts streben, und dieses Streben ist der Natur durchaus eigen. Mannigfache Bedürfnisse stacheln ihn an, treiben ihn vorwärts und lassen ihn nie zur Ruhe kommen, er lebt wesentlich in der Zukunft und nicht in der Gegenwart, jedes erreichte Ziel wird Ansatzpunkt zu einem neuen Streben.4

Der Zeitverlauf war für Sozialisten und Katholiken gleichermaßen sinnhaft und zielgerichtet. Der Unterschied zwischen katholischer und sozialistischer Zeitwahrnehmung lag im Ort der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen, für die Sozialisten im Diesseits, für die Katholiken im Jenseits. Es handelte sich bei der sozialistischen Zeitwahrnehmung um eine diesseitige Teleologie, bei den Katholiken um eine jenseitige.5 Dabei weist Kaufmann, in Übereinstimmung mit Hertlings Diagnose, darauf hin, dass es zwar die Öffnung der Zukunft ist, die den Menschen befreite und vom Objekt zum Subjekt machte, dass es aber das moderne Streben nach Sicherheit ist, welches die Zukunft vernichten und in eine fortdauernde Gegenwart verwandeln will, was dem vormodernen Zukunftsbegriff entspricht.6 Deshalb ist Kaufmann der Ansicht, »daß sich im Wandel des Zukunftsbegriffs und seiner Beziehung zur Sicherheitsthematik ein strategischer Punkt des modernen Bewußtseinswandels sprachlich fassen läßt«.7 Dabei weist Zwierlein darauf hin, dass das vormoderne Zeitverständnis zwischen einer sozialen Zeit, die als fortdauernde Gegenwart empfunden wurde, und einem kleinräumig wirksamen, gruppen- und funktionsbezogenen operativen Zeit- und Planungshorizont sehr wohl unterschied.8 Das katholische Dual von statischer Soziabilität und dynamischer Individualität passt sich sowohl in den von Kaufmann als auch den von Zwierlein angesprochenen Bruch in der Zeit 3 Lomb: Moral 48. 4 Grupp: Ideen 34. 5 Dabei gehört die Vorstellung eines zielgerichteten und sinnhaften Zeitverlaufs für Meumann: Endzeit 421–424 zum christlichen Erbe. 6 Kaufmann: Sicherheit (1973) 159–162. 7 Ebd. 160. 8 Zur vormodernen Zeitwahrnehmung vgl. Zwierlein: Grenzen 426; Minois: Geschichte (1998) 605–626.

308  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  wahrnehmung ein. Das katholische Zeitbewusstsein wirkte deshalb sowohl der modernen Offenheit der sozialen Zeit entgegen wie der modernen Tendenz, diese Offenheit selbst wieder zu zerstören. Soziale Sicherheit und soziale Gefahr sollten zugunsten von individuellem Risiko verhindert werden. Biederlack machte 1898 deutlich, dass das Streben nach sozialer Sicherheit für ihn geradewegs zurück zu sozialer Gefahr führe: Denn abgesehen von dem bereits früher Gesagten, daß die Production infolge von Mangel an Arbeitstrieb u. s. w. sehr ungewiß und mangelhaft wäre, würden doch auch allerlei Unglücksfälle und Naturereignisse bewirken können, daß die Bedürfnisartikel gerade zur Zeit, wo man sie braucht, nicht vorhanden sind. Auch beim Bestande gemeinschaftlichen Güterbesitzes und gemeinschaftlicher Production würde die Menschheit doch nicht weniger als jetzt von der Natur und den Naturkräften abhängig sein. Und wie will man ferner allen Einzelnen ein unbedingtes Vertrauen auf die Thätigkeit, den guten Willen und die Fürsorge der Gesammtheit und deren Vertretern, denen die Obsorge über die Production und die Vertheilung anvertraut wäre, beibringen?9

Die Vorstellung eines statischen Zustandes sozialer Unvollkommenheit, der individuelle Vervollkommnung für die Transzendenz ermöglichen sollte, stellte jedoch eine Aporie dar, weshalb neben das agonale Exorzismusdispositiv zunehmend ein normalisierendes Regeldispositiv trat, in dem das Dual von Vollkommenheit und Unvollkommenheit durch dasjenige von Normalität und Abnormität gemildert wurde. Beide gründeten auf dem Recht. Dieses eignete sich als agonale Waffe im nie endenden Kampf zwischen Gut und Böse genauso wie es normalisierend wirkte, weil es »verläßliche Erwartungen auf das zukünftige Handeln anderer« begründet, so Kaufmann.10 Das Naturrecht war die Grundlage sowohl von Gesetzen als auch von Gesetzmäßigkeiten.

1. Das Paradox der Unvollkommenheit – Vom Gesetz zur Gesetzmäßigkeit Ziel der juridischen Sozialethik im Exorzismusdispositiv war eine unvollkommene Gesellschaft von ausgeglichener Statik. Diese musste aber erst durch proaktive strukturelle Eingriffe in Gesellschaft und Wirtschaft hergestellt werden, was allerdings dynamisierend wirkte. Es handelte sich um ein Paradox. Das Exorzismusdispositiv zeigt deshalb letztlich, dass die Identität des Subjekts 9 Biederlack: Frage 118. 10 Vgl. Kaufmann: Sicherheit (1973) 79; ferner Diedrichsen: Risikobewältigung 153 f.  – Luhmann: Aufklärung 138: »Sowohl im Haftungsrecht als auch im Strafrecht wird Voraussehbarkeit möglicher Schadensfolgen verlangt als Bedingung dafür, daß ein Handeln als Unrecht bewertet werden kann.«

Das Paradox der Unvollkommenheit – Vom Gesetz zur Gesetzmäßigkeit  309

auch aus katholischer Sicht immer weniger vordefiniert war, dass der Platz des Subjekts immer weniger von der Tradition zugewiesen wurde und die Handlungsalternativen zunahmen, was als Individualisierung bezeichnet wird. Dies bedeutete, dass das Individuum Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung bekam. Traditionelle Rollenmuster verflüssigten sich, sozialer Wandel setzte ein. Identitätsstiftende Rollen mussten selbst gesucht werden. Das für sich selbst verantwortliches Individuum musste für seine Zukunft sorgen. Die Planbarkeit der Zukunft wurde zum Erfordernis. Die Sozialpolitik entstand.11 In der katholischen Theologie zeigt sich diese Entwicklung als Generalisierung der Willensfreiheit, wofür ökonomische Gefahren in Risiken transformiert werden sollten und so Sozialpolitik mitgestaltet wurde. Das sind die Elemente der unvollkommenen Gesellschaft. Kennzeichnend für Utopien ist das Streben nach gesellschaftlicher Harmonie, weshalb sie einen Zustand von Vollkommenheit und deshalb Statik beschreiben, was keinen Raum für Hoffnungen und Ängste bietet. Das Exorzismusdispositiv schürte dagegen andauernd Hoffnungen und Ängste. Ziel war die Herstellung einer statischen Zustandes der andauernden Unvollkommenheit. Cortés brachte dieses Paradox in einem von Buß ins Deutsche übersetzten und veröffentlichten Brief an den französischen katholischen Politiker und Publizisten Charles de Montalembert (1810–1870) am 4. Juni 1849 zum Ausdruck: Hätte die katholische Gesittung einen stetigen Fortschritt eingehalten, so wäre die Erde zuletzt das Paradies des Menschen gewesen, und Gott hat doch gewollt, daß die Erde ein Jammerthal der Zähren sei. Gott wäre Socialist gewesen. Und was wäre dann Proudhon gewesen? Jeder ist gut gestellt, wo er ist: Gott im Himmel, und Proudhon auf Erden; Proudhon suchend immer, ohne es je zu finden, ein Paradies in einem Jammerthal der Zähren, und Gott, setzend dieses Jammerthal der Zähren zwischen zwei Paradiese, auf daß der Mensch sich immer befinden möge zwischen einer großen Erinnerung und einer großen Hoffnung.12

Diese Annahme von immanenter Unvollkommenheit machte die Sozialpolitik zur Daueraufgabe. Denn so unvollkommen wie die Gesellschaft musste konsequenterweise auch die Sozialpolitik sein. Hitze machte sich 1913 lustig über den sozialistischen Glauben »an eine neue gesellschaftliche Ordnung voll Harmonie, Glück und Frieden – den Zukunftsstaat«, der in der Sozialdemokratie selbst nicht mehr ernst genommen werde.13 Der »Emanzipationskampf« der Arbeiter um »wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung« sei zwar »zum guten Teil« vollendet.14 Er bemerkte deshalb allenthalben »sozialpolitische 11 Zum neuzeitlichen Individualisierungsprozess vgl. Rosa: Beschleunigung 356–358. 12 Cortés / Buß: Politik 33–35. 13 Hitze: Würdigung 86. 14 Ebd. 122.

310  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Ermüdung«. Der »Elan« habe nachgelassen und »nüchterne Berechnungen und Erwägungen« seien an seine Stelle getreten. Sozialpolitischen »Stillstand« hielt er allerdings für »unmöglich«.15 Die Zeit der Verabschiedung der ersten Sozialversicherungsgesetze nannte er »eine hoffnungsfrohe Zeit«. Nun aber »gilt es, alle Mann auf die Schanzen zu rufen zur Verteidigung unserer großen sozialen Institutionen, das Vertrauen in ihren Bestand zu stärken«, und zwar »im Sinne des Fortschritts, des Glaubens an die Zukunft!«16 In dieser Annahme von der andauernden Unvollkommenheit ohne letztes immanentes Ziel lag eine soziale und zeitliche Dynamik. Denn es ging um die proaktive Herstellung von sozialen Strukturen, die es noch nicht gab. Der Zweck der Haider Thesen bestand nach Aussage der »Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker« von 1887 somit darin, »Propaganda für die Zukunft zu machen, in welcher, sei es durch den Zusammenbruch der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse oder durch Einsicht und Erkenntniß der Zeitgenossen, die ewige Wahrheit siegen wird«.17 Die agrarpolitischen Vorschläge des katholischen Juristen und Zentrumsabgeordneten Peter Reichensperger gingen bereits 1847 von der reaktiven Behebung von Not zur proaktiven Verhütung von Not durch materielle Umverteilung über, um Gefahren in Risiken zu transformieren. Um die Umverteilung zu ermöglichen, forderte er die Freiheit des Grundstücksverkehrs.18 Dabei war er sich bewusst, dass er wirtschaftliche Stabilität damit durch »Unruhe und Beweglichkeit« ersetzte.19 Aber er ging von der Überlegenheit der landwirtschaftlichen Klein- über die Großbetriebe aus: Die Wirthschaft des kleinen Grundeigenthümers wird hiernach wesentlich eine intensive, indem sie durch die Kraft und die Masse der Arbeit den fehlenden Boden zu ersetzen sucht und so in der That dahin gelangt, denselben dem Erfolge nach zu vervielfältigen – während die extensive Wirthschaft des Großgutsbesitzers nur durch Verminderung der Arbeitskräfte und folgeweise des Naturalertrages eine Kostenersparniß und hierdurch einen gewissen Gewinn erlangen kann.20

Die »Kleinkultur« werde »die Großkultur verdrängen, weil nur sie die höchste Produktion des Bodens sichert«.21 Die Überlegenheit der kleineren gegenüber den größeren landwirtschaftlichen Betrieben lag für Reichensperger aber nicht nur in der Produktivität der Arbeit bzw. der Intensität der Produktion, sondern auch in ihrer Flexibilität: »Der Kleinbetrieb ist aufgrund des höheren Arbeitskräftebesatzes besser in der Lage, bei mancherlei widrigen Ereignissen einen je 15 Ebd. 89 f. 16 Ebd. 97 f. 17 Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 5 f. 18 Reichensperger: Agrarfrage 28. 19 Ebd. 35 f. 20 Ebd. 41–46. 21 Ebd. 123–125.

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den günstigen Moment mit der größten Raschheit und Energie zu benutzen und hierdurch große Verluste abzuwenden«. Der Kleinbetrieb sei deshalb imstande, »einer Gefahr vollständig zu entgehen, gegen welche die Großwirthschaften kein Rettungsmittel« besäßen.22 Um in die sozialen Strukturen umverteilend einzugreifen, hielt es Reichens­ perger für nötig, die Gesetzmäßigkeiten der ökonomischen Entwicklung zu kennen. Er hatte beobachtet, dass die Bevölkerung stets »den Mitteln zu ihrer Unterhaltung in etwas vorauseilt«, was »relative Überbevölkerung« und Armut zur Folge habe: Eine jede Verbesserung der Gewerbs-Verhältnisse, besonders hinsichtlich der Kosten der Produktion, führt zum größern Verzehr, also rückwirkend zum größern Zudrange nach dem bestimmten Gewerbe, endlich zur Vermehrung der Bevölkerung und je nach der raschern Zunahme dieser Bevölkerung, als der Produktion selbst, wiederum zur relativen Übervölkerung […].

Überbevölkerung und Überproduktion wechselten sich ab.23 Deshalb fühle sich jede Zeit bedroht vom »Schreckbild des Hungers«, das sich »an jeden unserer Fortschritte heftet und allerdings weder durch Ignoriren noch durch Beschönigen, sondern grade so, wie in der Vergangenheit, nur durch thatkräftiges Eingreifen zu bannen ist«. Dieser Hunger sei das »Damoklesschwert, welches die bürgerliche Gesellschaft über ihrem Haupte gezückt sieht«. Die Geschichte zeige allerdings, dass es nicht unbedingt fallen müsse. Das Elend sei »nicht der Fehler der Natur«, es stamme nicht aus »mangelhafter Produktion«, sondern aus der »mangelhaften Vertheilung«. Die Aufgabe bestehe darin, das dialektisch wirkende Naturgesetz zu erkennen: Das dem natürlichen Entwicklungsgange scheinbar anklebende Böse findet seine Heilung meist wieder in sich selber und wird sodann die Quelle eines bessern, früherhin ungekannten Zustandes. Wir zagen vor demselben, während unsere Aufgabe nur die ist, jenes Naturgesetz zu erkennen und es nicht durch eigene Schuld gegen uns zu wenden.24

Die Gegenwart sei deshalb trotz aller Defizite »ungleich glücklicher und beneidenswerther« als irgend eine Vergangenheit, denn es sei jedem Einzelnen »ein weit reichlicherer Gütergenuß gesichert, als dies auf den niedern Entwicklungsstufen älterer sozialer Zustände möglich war«.25 Dies bedeute, dass es nicht zu viele, sondern zu wenig Fabriken gebe, an deren Gewinn die Arbeiter allerdings zur Umverteilung beteiligt werden sollten.26 22 Ebd. 96 f. 23 Ebd. 280 f. 24 Ebd. 283 f. 25 Ebd. 287 f. 26 Ebd. 291.

312  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Reichensperger ging von einer ziellosen, d. h. unvollkommenen, da stets dialektischen Entwicklung aus, deren Gesetzmäßigkeiten zu erkennen waren. Eine Rückkehr zu einem im Mittelalter verwirklichten Idealzustand gab es für ihn daher nicht. Er lehnte die Aufhebung der Gewerbefreiheit und die Wiedereinführung der Zünfte ab,27 was ihm das Etikett eines Liberalen einbrachte.28 Seine Entwürfe sind aber nicht liberal, sie sind exorzistisch. Denn ein konservativer Sozialethiker wie Ratzinger, der die Gewerbefreiheit aufheben und mit den Berufsgenossenschaften ein Äquivalent für die Zünfte errichten wollte, baute seine sozialpolitischen Vorschläge zur materiellen Umverteilung ebenfalls auf der Einsicht in eine dynamische Kombination aus Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung auf. Mit den von Reichensperger abgelehnten Produktivgenossenschaften wollte er 1881 zum gleichen Ziel wie dieser gelangen, nämlich Produktion und Produktivität zu steigern.29 Diese ökonomische Intensivierung war für Ratzinger 1895 immer noch eine der wichtigsten sozialethischen Aufgaben. Im ausdrücklichen Unterschied zu dem britischen Nationalökonomen Thomas Malthus (1766–1834) war er nämlich der Ansicht, dass sich die Produktion nicht in arithmetischer Progression vermehren müsse, sondern in geometrischer und deshalb mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten werde, wenn der Reichtum gleichmäßig verteilt werde. Er war überzeugt, dass bei entsprechender Verteilung der Produktionsmittel »mit der Zunahme der Bevölkerung auch die Unterhaltsmittel ins Unbestimmbare sich vermehren«. Denn mit dem Wachstum der Bevölkerung steigert sich auch die Befähigung der Einzelnen, sich miteinander zu verbinden, die gegenseitigen Anstrengungen zu combiniren und zu vereinigen, woraus beständig wachsende Macht zur Benutzung und Unterwerfung der Naturkräfte hervorgeht und wobei jeder Schritt durch Erleichterung der Production und Beschleunigung der Circulation mit rascher Kapitalbildung und höhern Arbeitserträgen bezeichnet ist.

Ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum werde einsetzen: Die Nachfrage nach geistigen und physischen Kräften wird größer, und die nothwendige Folge davon ist zunehmende Productivität dieser Kräfte, zunehmende Leichtigkeit der Kapitalbildung und Steigerung der Quote des Arbeiters. Je mehr die Bevölkerung sich verdichtet, um so mehr muß jeder nach neuen Erwerbsarten sinnen, um sein tägliches Brod [!] zu finden. Dieses Sinnen und Streben erzeugt tausendfache neue Erwerbsarten und die Quelle des Gewinnes ist mit den gesteigerten Bedürfnissen gänzlich unbestimmbar.

27 Ebd. 265 f. 28 Holtz: Liberalismus 92 bezeichnet Reichensperger als »katholischen Liberalen«. So auch Grenner: Wirtschaftsliberalismus 231–250. 29 Ratzinger: Volkswirthschaft (1881) 399.

Das Paradox der Unvollkommenheit – Vom Gesetz zur Gesetzmäßigkeit  313

Eine sinkende Bevölkerungszahl bedeute dann zurückgehende Produktion und Elend.30 Die Lösung der sozialen Frage bestand für Ratzinger deshalb in der materiellen Umverteilung, um ein beschleunigtes wirtschaftliches Wachstum zu initiieren. Ein Mittel dazu waren ihm die Sozialversicherungen. Diese bezeichnete er als »Kehrseite des Credits«. Produktion und Konsumtion würden »nur dann in ein richtiges Verhältniß treten, wenn der gesteigerten Nachfrage nach Credit auch ein gesteigertes Bedürfniß nach Versicherung gegenüberstehen wird«. Denn mit der »Steigerung des Credits in der Production wächst auch die Consumtionsfähigkeit der Massen durch die Versicherungsrenten«. Die Versicherung sei die »nothwendige Folge der auf Credit beruhenden Production«.31 Der Unterschied zwischen Ratzinger und Reichensperger lag darin, dass jener ökonomische Gesetzmäßigkeiten durch proaktive Eingriffe in das Wirtschaftsleben in Gang setzen wolle, dieser, um Behinderungen ihres Laufs zu beseitigen. Das Ziel materieller Umverteilung war beiden gemeinsam. Auch der konservative Blome beabsichtige eine materielle Umverteilung. Als Ersatzlösung für die schwierig zu verwirklichenden Produktivgenossenschaften schlug er 1888 die Gewinnbeteiligung der Arbeiter vor. Er schloss sich Vogelsang an, wenn er zu bedenken gab, der »effective Mitbesitz« werde sich »höchstens in einigen Fällen verwirklichen lassen und dann alle Nachtheile des ausgedehnten Collectiveigenthums im Gefolge haben«. Deshalb forderte er eine Gewinnbeteiligung als »ideellen Mitbesitz des Arbeiters an der Fabrik«. Ohne die »Selbstständigkeit der Leitung einerseits und die Freiheit des Arbeiters andererseits zu gefährden«, glaubte er dadurch »das Interesse eines jeden Arbeiters an der Prosperität des industriellen Unternehmens« fördern zu können. Denn für ihn beruhte das »heutige Elend« des Fabrikarbeiters nicht nur auf dem niedrigen Lohn und der unsicheren Existenz, sondern »vielleicht in eben so hohem Maße auf der Nichtbefriedigung des natürlichen Strebens nach Ansehen und Beförderung im Verhältniß zu seinen Leistungen«. Wegen fehlender Karrieremöglichkeiten gebe es für ihn »keinerlei Befriedigung seines legitimen Ehrgeizes, keine Aussicht auf eine bessere Zukunft«. Seine Stellung sei »sein Loos für alle Zeit, bis mit zunehmendem Alter die physischen Kräfte nachlassen und er – nicht etwa zu höherer Function befördert, nein – eben deßhalb degradirt wird zu leichteren Verrichtungen mit geringerem Lohne und geringerer Verantwortung«. Er fragte sich: »Wie soll bei dem täglichen Einerlei der materiellen, häufig geisttödtenden Beschäftigung ohne Hoffnung auf Verbesserung eine wahre Liebe zur Arbeit, ein Standesbewußtsein, ein Interesse an dem Aufschwunge der Fabrik in dem Arbeiter erwachen?« Diese »Trostlosigkeit der moralischen Situation«, die zum materiellen Mangel hinzutrete, sei der Grund für sittliche Ausschweifungen.32 30 Ders.: Volkswirtschaft (1895) 109–113. 31 Ebd. 466–468. 32 Blome: Reorganisation 69–86.

314  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Blome erhoffte sich also eine sittliche Dynamik als Folge der sozialen Umverteilung. Auch für Hitze hatte die Sozialpolitik im Unterschied zu Hertling nicht nur die Aufgabe, der Willensfreiheit einen riskanten Raum zu verschaffen. Vielmehr sollte sie eine dynamische moralische Entwicklung initiieren. Die Gefahr der Simulation, die im Zusammenhang mit der Einführung der Krankenversicherung viel diskutiert wurde, bezeichnete Hitze 1913 als Rest »bettelhafter Gesinnung«, die »mehr dem patriarchalischen System und jener Zeit, in dem die Arbeitgeber sich noch als die ›Brotherren‹ der Arbeiter betrachteten, als Schatten folgten«. Deshalb würden der »Fortschritt der Erkenntnis und der Einsicht und das steigende Ehr- und Pflichtgefühl«, bewirkt durch die selbstverwalteten Sozialversicherungen, dieses Fehlverhalten überwinden.33 Die Mitarbeit in der Verwaltung der Sozialversicherungen habe sich bereits auf die Moralität der Arbeiterschaft ausgewirkt: »Aus dem gedrückten, verachteten oder bemitleideten ›Proletarier‹ ist der wirtschaftlich gehobene, selbstbewußte, emporstrebende, für ideale Ziele begeisterte Vollbürger geworden.«34 Dabei war es die Gerechtigkeit, welche sozial dynamisierend wirkte, während die Nächstenliebe als stabilisierend betrachtet wurde.35 Ratzinger war sich 1895 der sozial dynamisierenden Wirkung der Gerechtigkeit bewusst. Er sah den Unterschied zwischen Nächstenliebe und Gerechtigkeit darin, dass die Gerechtigkeit sozial egalisierend wirke, die Nächstenliebe aber soziale Ungleichheit voraussetze.36 Deshalb spiegelt sich in der neuscholastischen Sympathie für Produktivgenossenschaften nicht die Suche nach statischer Harmonie zwischen Arbeit und Kapital, wie Schatz meint,37 sondern das Interesse für die Transformation von Unsicherheit durch materielle Umverteilung, was dynamisch wirkte. Scheicher betonte 1888, dass die Armut als Massenproblem mit der Nächstenliebe nicht zu lösen sei. Er hatte erkannt, dass es sich um strukturelle Armut handelte, die er auf die Ausbeutung vieler durch wenige zurückführte. Man »preist selig diejenigen, welche in diesem Kriege über die Leichen langsam verhungernder Arbeiter zu Millionen und zu Standeserhöhung emporgestiegen sind«. Als strukturelles Problem ließ sich Armut für Scheicher nur rechtlich lösen. Dabei war er sich bewusst, dass derartige rechtliche Maßnahmen nicht wie die Nächstenliebe »heilend« (d. h. reaktiv) wirkten, sondern »verhütend« (d. h. proaktiv, diätetisch): »Es muß durch Arbeiterschutzgesetze, durch Kranken- und

33 Hitze: Würdigung 103 f. 34 Ebd. 122. 35 Die Liebe sei nach Thomas – so Grupp: Jenseitsreligion 91 – »eine einigende, zusammenschmelzende Macht und setzt eine Anpassung, Angemessenheit voraus. Sie besteht in einem Geben und Nehmen. Der Hinbewegung, dem Hinstreben folgt die Ruhe, und daraus quillt Freude und Seligkeit.« 36 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 24. 37 Vgl. Schatz: Säkularisation 164 f.

Das Paradox der Unvollkommenheit – Vom Gesetz zur Gesetzmäßigkeit  315

Altersversorgungen, ferner durch Assecuranzen für periodisch wiederkehrende Geschäftskrisen der Noth vorgebeugt werden.«38 Damit übereinstimmend betonte Foerstl in seiner 1909 bei Walter erarbeiteten Dissertation den Zusammenhang zwischen den proaktiven Eingriffen in die sozialen und ökonomischen Strukturen auf rechtlicher Grundlage und der Möglichkeit zur individuellen Vorsorge. Während es der mittelalterlichen Armenpflege um Linderung vorhandener Not gegangen sei, beabsichtigte die gegenwärtige Sozialpolitik die vorbeugende Beseitigung der Armutsursachen. Dieser »Kampf gegen die Armut« erfordert einen »Kräfteaufwand«, der die »bloß freiwillige Liebestätigkeit« übersteigt und nur durch »Gesetzgebung und Verwaltung« aufgebracht werden könne.39 Eine vorbeugende Maßnahme gegen Armut erblickte er in der staatlichen Erziehung der Kinder beim Versagen der Familien.40 Darüber hinaus forderte er sozialen Wohnungsbau, weil er die Wohnungsnot als Armutsursache identifizierte: Was den Ernährer der Familie vielfach aus seinem Heim vertreibt, ihn dem Alkoholgenuß, dem Wirtshausleben in die Arme führt, ihn so seiner Familie entzieht, Anlaß zu unnützen Ausgaben, zum Vertrinken des Lohnes wird, sind nur zu oft die elenden, mit Menschen überfüllten, alle Behaglichkeit entbehrenden Wohnräume.41

Überhaupt eröffne der vorbeugende, diätetische Charakter der Sozialpolitik ein »neues umfassendes Arbeitsgebiet: die soziale Hygiene«, d. h. die Verhütung von Krankheiten durch Aufklärung der Bevölkerung.42 Darunter falle auch der Arbeiterschutz. Denn die Berufstätigkeit stelle für den Arbeiter »eine ununterbrochene Gefahr für Leben und Gesundheit« dar. Es bestehe die »ständige Gefahr« erwerbsunfähig zu werden. Dieser abzuhelfen diene der gesetzliche Arbeiterschutz, da der einzelne Arbeiter nicht in der Lage sei, sich selbst zu schützen. Unter Arbeiterschutz verstand er die Begrenzung der Arbeitszeit, vorgeschriebene Pausen, Sonntagsruhe, Einschränkung von Kinder- und Frauenarbeit.43 Schließlich betonte er auch an den Sozialversicherungen deren prophylaktischen

38 Scheicher: Weise 99–114. 39 Foerstl: Almosen 74–76; Ebd. 74: »Vor allem ist es das weit höhere Ziel, das man heute im Kampfe gegen die Armut sich steckt. Wenn das Mittelalter sich begnügt mit der Hilfe, die es den Armen und Notleidenden bietet, so führt man heute dagegen einen systematischen Feldzug nicht bloß gegen die bereits vorhandene Not und Armut, sondern während letzteres zurücktritt, wird der Schwerpunkt der Arbeit gelegt auf den Kampf gegen die ideellen und materiellen Ursachen der Verarmung durch Prophylaxe der verschiedensten Art; an Stelle der mittelalterlichen Armenpflege ist heute eine planmäßige soziale Wohlfahrtspflege getreten, die in ihrer weit entwickelten, reichen Gliederung hier zunächst zu betrachten sein wird.« 40 Ebd. 77–81. 41 Ebd. 82–84. 42 Ebd. 85–88. 43 Ebd. 88–91.

316  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Charakter.44 Eine solche vorbeugende Sozialpolitik konnte nicht personalistisch sein, nicht an der Gesinnung ansetzen, sondern wollte sich auf die Gesinnung auswirken, musste deshalb strukturell wirken, die Zustände verändern wollen: Strebt man aber einmal energisch das Ziel an, die Armut systematisch zu bekämpfen durch Verhütung der Armutsursachen, wie es in der Gegenwart geschieht, so zeigt sich, daß vorbeugende Armenfürsorge nur geübt werden kann, wenn man nicht mehr so sehr das notleidende Individuum im Auge hat, wenn man sich nicht unmittelbar an den einzelnen wendet, sondern an das Volksganze oder wenigstens an ganze Volksklassen oder Gruppen desselben und diese wirtschaftlich widerstandsfähig zu machen sich bestrebt.45

Die Generalisierung der Willensfreiheit und das Bemühen um die Transformation von strukturellen Gefahren in Risiken sollte ein moralisches und verantwortliches Leben für alle erst möglich machen. Das ist die Schnittstelle von strukturellen Eingriffen und der Möglichkeit individueller Vorsorge, die nicht mehr nur auf die Reichen beschränkt, sondern auf die Armen ausgedehnt wurde. Vorsorge und Verantwortlichkeit sind aufeinander bezogen  – ganz diätetisch und exorzistisch. Ein Risiko kalkulieren heißt vorsorgen, die Zukunft disziplinieren. Prävention bedeutet, dass Zukunft nicht mehr passiv erlitten, sondern aktiv gestaltet wird. Dabei resultierte der Übergang vom passiven Erdulden von Gottes Wirken zum aktiven Kampf gegen das Böse in einer defizienten, da teuflischen Welt in der Propagierung einer methodischen Lebensführung. Es war also nicht wie im Calvinismus die göttliche Gnade, sondern die Notwendigkeit des stetigen Kampfes gegen das Böse, welche diese initiierte. Die Freie Vereinigung katholischer Socialpolitiker betonte 1885: Die Vorsorge für die Zukunft ist innerhalb bestimmter, von der Lebensaufgabe des Menschen und der göttlichen Vorsehung gezogener Grenzen für jeden Menschen geziemend, nothwendig und pflichtgemäß. Ihre geordnete Bethätigung ist weder als irdischer Sinn noch als Gegensatz gegen das gebührende Gottvertrauen aufzufassen.46

Hertling wollte durch seine sozialpolitischen Vorschläge 1906 eine »regelmäßige und vorausschauende Fürsorge für den Lebensunterhalt« ermöglichen.47 Sozialpolitik musste sich für ihn in einem »sorgfältig abgewogenen System von Präventivmaßregeln« ausdrücken.48 Während es in der Armenpolitik des Gnadendispositivs um die Behebung von Not gegangen war, ging es in der Sozialpolitik des Exorzismusdispositivs 44 Ebd. 93–97. 45 Ebd. 101. 46 Beschlüsse der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker 1885. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 19–25. 47 Hertling: Recht 119. 48 Ebd. 3–6.

Kampf und Krise  317

um die prophylaktische Aufrechterhaltung der Arbeitsproduktivität, um nicht von einem riskanten in einen gefährlichen Zustand abzufallen.49 Der Übergang von der Armen- zur Sozialpolitik bzw. von der moralischen Wertigkeit von Armut zu derjenigen von Arbeit bedeutete den Übergang von fatalistischer Gegenwartsbewältigung zu proaktiver Zukunftsgestaltung.50 Dieser Zusammenhang zeigt, warum die juridische Sozialethik von moralischer, sozialer und zeitlicher Dynamik gleichermaßen geprägt war. Deshalb gilt für sie, was für die Sozialpolitik im Allgemeinen gilt. Die reaktive Ordnungs- und Dienstleistungsfunktion von Politik wurde zu proaktiver Gestaltungs- und Fürsorgefunktion. Politisches Handeln wurde daher zukunftsorientiert und planbar. Situationsgebundenes Handeln wurde durch wissenschaftsbasiertes Handeln ersetzt.51 In diesem Prozess der zunehmenden Vorsorge und Planbarkeit entwickelte sich das Exorzismusdispositiv zum Regeldispositiv. Das exorzistische Paradox einer dynamisch herzustellenden statischen Unvollkommenheit der Immanenz ließ sich nur durch Berechnungen und Gesetzmäßigkeiten, d. h. Normalisierung, lösen. Neben die generalisierte Willensfreiheit des Exorzismusdispositivs trat im Regeldispositiv eine Normalisierung, welche sie wieder begrenzte. Eine zentrale Rolle dabei spielte die Zeitwahrnehmung, auf die in den folgenden zwei Kapiteln eingegangen wird, und zwar in einem diachronen Überblick über das gesamte 19. Jahrhundert.

2. Kampf und Krise Der soziale Fatalismus des Gnadendispositivs wirkte sich auch auf die Zeitwahrnehmung aus. Der Görreskreis habe sich, so der Zeit-Historiker Ernst Wolfgang Becker, in eine »Blase der Zeitlosigkeit« geflüchtet.52 Doch zunehmend wurde die Zeitlosigkeit des Gnadendispositivs als trügerisch wahrgenommen. Die »Historisch-politischen Blätter« bezeichneten Europa 1839 als eine Gegend, »die vor uns in Schlummer und bürgerliche Ruhe gesunken« ist. Sie warnten aber, dass diese Ruhe »kein wahrer Friede« sei. Die Revolution sei »wie ein schlummernder wilder Riese« und die »Aufseher des öffentlichen Lebens belauschen mit Furcht und Besorglichkeit jeden Pulsschlag des Schlafenden«. Denn die Revolution wechsle zwischen »Schlaf und Wachen, Ruhen und Erregtseyn«. In der Zeit der Ruhe müsse sie deshalb bekämpft werden: »Kann man jedesmal während ihrer 49 Zum Unterschied zwischen Armen- und Sozialpolitik vgl. Huf: Sozialstaat 73; Metz: Geschichte 91. 50 Denn die Armut hatte keine Zukunft, es handelte sich um einen Zustand ewiger Fatalität. Darauf weist Metz: Geschichte 240 f. hin. 51 Vgl. dazu Jäger: Sprache 346–351. 52 Vgl. Becker: Zeit 357–359. Zur immobilen Zeitwahrnehmung kirchlicher Autoren im Vormärz vgl. Minois: Geschichte (1998) 620.

318  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Schlummerperiode eine besonnene Gesinnung und entgegengesetzte Wünsche in der Seele erstarken lassen; so wird sie immer schwächer wiederkehren.«53 Der zwischen Gnaden- und Exorzismusdispositiv stehende Buß traute der Ruhe 1843 nicht mehr. Er stellte »eine unverhältnißmäßige, nicht ruhige, sondern stoßweise und ungleiche Entwicklung der öffentlichen Zustände in neuester Zeit« fest.54 Er sah sich in einer »kritischen Zeit, in einer Übergangsperiode« lebend: »Sie ruft nach Organisation der in einer Auflösung begriffenen Zustände, und da der Übermuth der sich selbst vertrauenden menschlichen Vernunft und Willkür das Übel erzeugt hat, so muß man über sie zu einer höheren Macht hinausgehen.«55 Im Jahr 1844 sprach Buß von »einer Zeit, welche in einem jähen Übergang begriffen ist, welche mit den Traditionen der Vergangenheit gebrochen hat, und welche sich keuchend müht, einen neuen Gesellschaftsglauben sich zu erringen«.56 Die Revolutionen hätten »dem gesellschaftlichen Leben die Stetigkeit geraubt«. Es herrsche »Chaos der Ideen, der Gerechtigkeit, des öffentlichen Wohls und Fortschritts, der Ehre, des gehaltenen und gebrochenen Worts«. Die »Unsicherheit« erschüttere die wirtschaftlichen Verhältnisse: Die Armuth, die schon bestehen muß, weil der Mensch frei ist, muß wachsen, je weniger der Mensch von dieser Freiheit den rechten Gebrauch zu machen versteht, und dieser Mißbrauch steigt in dem Maaß, in welchem die Bande der öffentlichen Einrichtungen ihn weniger im Bereich des Rechten halten.57

Der »Katholik« nahm den Vormärz im Rückblick aus dem Jahr 1850 als statische Zeit wahr, seine Gegenwart als Zeit der Unruhe: In einer schweren, trüben Zeit trat vor mehr als einem Viertel Jahrhundert der Katholik ins Daseyn; in noch schwereren und trüberen Tagen geht die neue Redaction an ihr Werk. Damals war die Kirche wie ein Schiff, das in der Einöde des Meeres unter dem Drucke einer langen Windstille verlassen und versiegend trauert; – heute ist sie wie ein Schiff, um das die Stürme toben, unter dem die Abgründe sich öffnen, über dem furchtbar drohend die donnernden Wolken ziehen.

Die Zeit der Ruhe war durch eine Zeit des Kampfes abgelöst worden. Die Zeitschrift Der Katholik war »in ein ganz neues Stadium des Kampfes, den die streitende Kirche zu kämpfen hat, getreten«. Sie sah sich »auf einer neuen und höhern Stufe jener Lebensentwickelung angelangt, in welcher die Kirche ihre göttliche Sendung in der Welt verwirklicht.« Denn die Kirche sei »um einen großen Schritt 53 Betrachtungen über die Revolution. In: Historisch-politische Blätter 4 (1839) 616–629 und 733–739, hier 616 f. 54 Buß: System I VIII. 55 Ebd. XXXIV. 56 Ders.: Orden 321. 57 Ebd. 324 f.

Kampf und Krise  319

ihrer Regeneration näher gerückt«.58 Dies zeige sich darin, dass die »klägliche Schwäche und Erstorbenheit«, die die Kirche im Vormärz gekennzeichnet habe, der Kampfbereitschaft Platz gemacht habe.59 Die »beiden großen Gegner der Kirche, der omnipotente Staat und die rationalistisch-humanistische Bildung« sind in der Revolution von 1848 »von ihrer stolzen Höhe tief herabgestürzt«.60 In der gescheiterten Revolution sah die Zeitschrift Der Katholik ein »Gottesgericht«.61 Und die Proletarier waren das Werkzeug der göttlichen Vorsehung: »Wie in jener alten Zeit die Barbaren in die überfeinerte römische Welt hereinbrachen, so ist jetzt dem heimathlichen Boden selbst jenes unheimliche Proletariat entwachsen und bedrohet die in unchristlicher Frivolität entartete ›gebildete‹ Gesellschaft mit vandalischer Verwüstung.« Der Kampf sei aber noch nicht beendet, denn »vielleicht sind die Mächtigen und Klugen noch nicht zur Erkenntniß dessen gelangt, was zum Frieden dient; – dann hätten wir zu erwarten, daß der strafenden Gerechtigkeit noch ferner freier Lauf gelassen würde«.62 Falsch sei es jedenfalls, »aus Ängstlichkeit und Mangel an Energie nicht zu handeln, es fortgehen zu lassen, wie es geht, keine kräftige Arznei der schwer kranken Christenheit zu reichen; – oder zu falschen und verderblichen Mitteln zu greifen.« Gegen beide »Gefahren« gebe es einen »sicheren und unfehlbaren Schutz  – vollkommene und unbedingte Hingabe an die Kirche«.63 Dieser Artikel zeigt, wie der erweiterte menschliche Handlungsspielraum im Übergang vom fatalistischen Gnaden- zum agonalen Exorzismusdispositiv mit der Wahrnehmung einer Krise verbunden war. Der Soziologe Michael Makropoulos definiert Krise als »offene Situation der unvollständigen Determiniertheit, die es schlechterdings unmöglich macht, zukünftige Möglichkeiten zureichend aus gegenwärtigen Wirklichkeiten abzuleiten«.64 Agonalität, Krisenwahrnehmung und Öffnung der Zukunft konstituierten das Exorzismusdispositiv. Dabei wurden Krisen in den Jahren vor und nach der Märzrevolution an konkreten Ereignissen festgemacht. Görres, Schlegel, Stolberg, Windischmann und Adam Müller begriffen die politischen und religiösen Auseinandersetzungen der 1840er Jahre als Symptome der Endzeit.65 Die katholische Zeitschrift »Petrus und Paulus« konstatierte 1847 eine »Übergangsepoche, die in sich die Elemente verarbeitet, aus denen eine feste Gestaltung über kurz oder lang sich entwickeln muß«. Auf der einen Seite herrsche »unverdrossenes Untergraben ur 58 Zur Orientierung in der Gegenwart. In: Der Katholik 1 (1850) 5–21, hier 5. 59 Ebd. 6. 60 Ebd. 7. 61 Ebd. 8. Vgl. dazu auch Briefe eines Deutschen aus Paris. In: Der Katholik 4 (1851) 241–251, 289–297, 337–345; 385–395, 433–449 und 481–492, hier 289. 62 Zur Orientierung in der Gegenwart. In: Der Katholik 1 (1850) 5–21, hier 8. 63 Ebd. 19. 64 Vgl. Makropoulos: Krise 50. Zur Krisenwahrnehmung vgl. auch Oevermann: Biographie. 65 Osinski: Katholizismus 162 und 191; Urbich: Kunst.

320  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  alter Institutionen, Neuerungssucht, und in derselben Aufsuchen neuer Formen, deren Verwirklichung man als das Ende allen Elendes anpreist, dann neues Umwerfen des geglaubten Glückes und alter Leiden«, weshalb sich »unsere Zeit im Kreisen befinde«. Auf der anderen Seite herrsche die Hoffnung, »daß es endlich mit dem Suchen ein Ende haben möge. Man erkennt die Nothwendigkeit, daß nach dem Niederreißen auch wieder aufgebaut werden müsse, man fühlt die Unmöglichkeit, in der Schwüle des steten Verneinens frei aufathmen zu können.«66 Wester­mayer erwartete 1848 aufgrund der Erfahrungen mit der Märzrevolution ein »Gericht«, weil die letzte Gnade verachtet worden ist! Die Feinde beginnen schon den Wall aufzuwerfen und uns zu bedrängen; es sind größtentheils Feinde im – Innern, unsere eigenen Hausgenossen, die fürchterliche Glaubenslosigkeit, Glaubensverschiedenheit und die dadurch entstandene schreckliche Spaltung und Zwietracht. Gott weiß, wie das ausgehen wird. Rette sich, wer kann!67

Der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel (1796–1864) bezeichnete die Märzrevolution in einem Promemoria zur Würzburger Bischofskonferenz im Herbst 1848 als das bedeutendste Ereignis seit der Völkerwanderung. Selbst die Reformation »dürfte in politischer und religiöser Wichtigkeit und in äussern und inneren Folgen mit ihr nicht verglichen werden«, da diese nicht in ganz Deutschland erfolgreich gewesen sei. Die Märzrevolution aber »ruft überall«, und zwar »eine bisher nicht gekannte Aufregung hervor«. Denn sie beabsichtige eine »neue Zeit« und eine »neue Ordnung der Dinge«: »Bereits ist der Staat bis in seine tiefsten seitherigen Grundfesten erschüttert. Alte politische Einrichtungen sind schon für immer beseitigt und neue an ihre Stelle getreten.«68 Für Gaume war 1851 wieder ein Zeitpunkt der Entscheidung gekommen, denn die Gesellschaft liegt in den letzten Zügen, und dann sind die Umstände ganz andere. Auf die Sirenen-Stimmen ist das Donnergepolter gefolgt, der Rausch des Glückes ward durch die Schläge der Katastrophen zerstreut; die feierlichen Mahnungen der Vorsehung sind nicht für Alle verloren gegangen.69

Deshalb müsse nun »die Revolution bewerkstelligt werden, welche den Kranken allein dem Tode entreißen kann«.70 Er beabsichtigte eine religiöse »Erneuerung« durch »Erziehung der Jugend«.71 Auch für den Katholik stand 1851 eine Entscheidung kurz bevor: 66 Zit. nach Pesch: Presse 288–291, hier 289 f. 67 Westermayer: Bauernpredigten II/II 32. 68 Promemoria des Erzbischofs Johannes von Geissel von Köln über eine Synodale Zusammenkunft der deutschen Bischöfe. In: Vering: Verhandlungen 129–150, hier 129 f. 69 Gaume: Wurm IX . 70 Ebd. VI. 71 Ebd. 15.

Kampf und Krise  321

Schwebt nicht Alles auf einem Punkte, wo es eben so leicht und wahrscheinlich ist, daß in kurzer Zeit ein allgemeiner Ruin alles verschlingt, als daß umgekehrt die katholische Kirche einen großen Sieg über all’ ihre Feinde davon trägt und eine gewaltige religiöse Regeneration eintritt. Das Eine steht uns so nahe, als das Andere. Daher auch der ahnende Geist bald Dieses, bald Jenes in naher Zukunft erblickt, bald die Hoffnung uns bis zum Himmel heben, bald Furcht und Bangigkeit uns bis in den Abgrund niedersenken will; und für die lichte wie für die finstere Ahnung lassen sich zugleich die vernünftigsten realsten Gründe beibringen.72

Die Kirche stehe an einem Umkehrpunkt: Unermeßlich ist die Aufgabe der Kirche im zerfallenden Europa. Wie vor tausend und mehr Jahren ist sie jetzt wieder in der Lage, Alles neu schaffen, ungeheueren, früher nie gekannten Bedürfnissen genügen zu müssen. Ein unermeßliches Elende erwartet von ihr Hilfe, ein in der Pflege des Staates und einer glaubenslosen Kultur verwildertes Geschlecht erwartet von ihr Sittigung und Erziehung, die in Negation und Unwahrheit verlaufende Wissenschaft erwartet von ihr Wiederherstellung, alle Sphären des Lebens bedürfen ihres Segens, es bedarf die erniedrigte Religion, die all’ ihrer Zier beraubte Kirche, selbst Erbauung und Verherrlichung.73

Das »Rheinische Kirchenblatt« nahm die Märzrevolution 1848 zum Anlass, um auf eine »glücklichere Gestaltung der äußern Lebens-Verhältnisse« in naher Zeit zu hoffen, denn »die Gegenwart hat bereits durch die großen unerwarteten Ereignisse den verhängnißvollen Schleier in etwa gehoben«.74 Buß äußerte 1850: Unsere Zeit ist eine sturmbeflügelte, im Umsturz, freilich langsamer im Wiederaufbau, aber doch hierin im Verhältniß hurtiger als sonst. Die Tage großer Umstürze sind auch die Tage großer Bekehrungen. Und wenn man Wind gesäet hat, muß man nicht darauf gefaßt sein, den Sturm zu ernten?75

Buß hoffte auf eine stürmische Erneuerung der Kirche und der Karmelit und Statistiker Karl Dillinger gab ihm aus der Rückschau des Jahres 1860 recht: Die fünfzehn Jahre, die zwischen 1844 u. 1859 in Mitte liegen, sind Jahre, die zu den erfreulichsten gehören, deren die Geschichte Meldung thut, sie weisen ein Wachsthum der Kirche in allen Theilen der Erde nach, wie ein solches Wachsthum fast zu keiner gleichlangen Zeit, die apostolische allein nur ausgenommen, nachgewiesen zu werden vermag […].76

72 Betrachtungen über die Gegenwart. In: Der Katholik 4 (1851) 72–84 und 183–191, hier 184 f. 73 Beten und Betteln. In: Der Katholik 4 (1851) 358–369, hier 363. 74 Zit. nach Pesch: Presse 340–343, hier 342. 75 Cortés / Buß: Politik 90. 76 Dillinger: Jahrbuch I IV.

322  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Vor allem auf dem Gebiet der geistlichen Gemeinschaften sei seit vierzehn Jahren die Zeit mit Riesenschritten vorwärts gegangen. Mehrere der schon älteren Orden und Congregationen haben seit dieser Zeit die Anzahl ihrer Niederlassungen und Mitglieder fast verdoppelt, andere sind inzwischen neu begründet worden und eilen mit Riesenschritten fast täglich einer größeren Bedeutsamkeit entgegen […].77

Für Haffner waren die 1850er Jahre deshalb aus der Rückschau des Jahres 1885 betrachtet »eine schöne Zeit, aber sie war kurz«.78 Die Märzrevolution markiert den Umkehrpunkt vom fatalistischen Gnadendispositiv auf das agonale Exorzismusdispositiv. In diesem aber wurden Krisen zunehmend nicht mehr an konkreten Ereignissen festgemacht. Die Krise wurde in der Zeit gesucht und damit verstetigt. Sie wurde normalisiert. Konkrete krisenhafte Ereignisse wurden zu kontingenten Konkretionen einer verstetigten Dauerkrise. Deutinger erwartete 1850 kein Ende der Krise. Der Charakter seiner Gegenwart als Zeit des Übergangs zeigte sich für ihn durch »das immerwährende Hin- und Herschwanken zwischen entgegengesetzten Regierungsmaximen, das passive Temporisiren, das jeden Entschluß und jede Regierungsmaßregel sich abringen läßt und nie selbst zu entscheiden vermag, was an der Zeit ist«. Ein »Wendepunkt dieser Bewegung« sei nicht sichtbar. Es werde »das ganze Gebäude des gesellschaftlichen Lebens in Trümmer fallen, um auf den erst verschmähten Grundvesten neu erbaut zu werden«. Den Grund dafür erblickte er in der zunehmenden Entchristlichung, denn: Die Gesetze der Zeit haben ihre Wurzeln in der Ewigkeit und alle politische und soziale Bewegung der Zeit ist nur die Folge des in der innersten Tiefe des Menschen heimisch gewordenen Gefühles der gänzlichen Verlassenheit und Unwissenheit über die höchsten Prinzipien des Lebens.79

Deshalb sei unsere ganze Zeit eine Zeit des Übergangs, in welcher entgegengesetzte Mächte um die Herrschaft streiten. Die ausgebrannte Lampe der Vergangenheit flackert noch in trübem Scheine und kann nicht erlöschen und doch auch nicht erleuchten und erwärmen, und der neue Docht hat noch zu wenig Öl, um mit dem geistigen Lichte sich bleibend vermählen zu können […].80

Der Katholik war sich 1852 zwar sicher, »daß der Kirche in der nächsten Zukunft überaus schwere Leiden und Kämpfe drohen«. Die »revolutionäre Macht« werde 77 Ebd. 79. 78 Haffner: Bacillen 17. 79 Deutinger: Zeichen 193 f. 80 Ebd. 196.

Kampf und Krise  323

»ihren Einfluß und all ihre Mittel und Künste zunächst gegen die katholische Kirche wirken lassen und Alles benutzen, was ihr zu schaden im Stande ist.«81 Er machte die Notwendigkeit des Kampfes aber nicht von kontingenten Ereignissen, sondern vom verheißenen Charakter der Kirche abhängig: Der Heiland hat seine Jünger oft an die Leiden und Kämpfe erinnert, die ihnen bevorstanden, um sie, wie Gregor der Große sagt, durch den Schild des Vorherwissens gegen dieselben zu waffnen. So sollen auch wir uns klar zu machen suchen über die Leiden und Kämpfe, welche die Kirche in der nächsten Zukunft zu erwarten hat und die bereits begonnen haben. Wenn seit ein paar Jahren der Horizont der Kirche heiterer geworden, so ist offenbar seit einiger Zeit eine Umwandlung eingetreten und haben sich ringsumher drohendere Wetter als je zusammengezogen, zumal in Deutschland.82

Angesichts der Wahrnehmung einer Dauerkrise hielt der Katholik 1854 dauerhafte Buße für nötig: Wie Christus mit großem Geschrei und mit Thränen um Barmherzigkeit für uns rufend und sich selbst als Sühn- und Bittopfer darbringend uns Versöhnung und Gnade verdient hat, so muß auch die Kirche, um Christi Versöhnung und Gnade der sündhaften und widerspänstigen Welt zuzuwenden, mit inständigem Rufen, mit Thränen und Buße die göttliche Barmherzigkeit anflehen. Allerdings muß die ganze Kirche in all’ ihren Ordnungen und Gliedern durch Gebet und Buße fortwährend um Gnade flehen; […].83

Im Jahr 1855 stellte das bischöfliche Ordinariat von Regensburg auf die Wahrnehmung einer Dauerkrise um und kontrastierte diese mit der zeitlich begrenzten Krise der Märzrevolution. Während der Märzrevolution »wusste man wenigstens, woran man sey«. Damals kannte man »wenigstens die Zeitrichtung, mit der es zu thun galt, und kannte die gefährlichen Klippen, welche zu vermeiden waren«. Nun aber »kann keine menschliche Voraussicht berechnen, welche Wendung, namentlich die Weltereignisse nehmen werden«. Deshalb sei die sechsjährige Wahlperiode zur zweiten Kammer des Bayerischen Landtages »bei den schnellen Wechselfällen in den Geschicken der Völker ein nicht unbedeutender Zeitraum«.84 Letztlich war es also die Generalisierung der Willensfreiheit, die die Krise verstetigte. Deshalb konnte sich die Neuscholastik als Antwort auf eine verstetigte Krise wahrnehmen. Der Katholik urteilte 1859:

81 Die Zeitlage. In: Der Katholik 6 (1852) 231–237, hier 235. 82 Ebd. 231. 83 Sind strenge Orden und insbesondere Bettelorden zeitgemäß? In: Der Katholik 10 (1854) 84–92, hier 85. 84 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 (8.5.1855).

324  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Offenbar tritt nämlich der seit Jahrhunderten sich fortziehende Kampf zwischen der alten mittelalterlichen scholastischen Wissenschaft und der neuen antischolastischen endlich der Entscheidung näher. In demselben Maße, als die protestantische Wissenschaft sich zerklüftet und von ihrer geschichtlichen Vergangenheit sich loslöst, findet auf kirchlichem Gebiete die umgekehrte Tendenz statt; die Richtungen und Methoden, welche die neueren Verhältnisse hervorgerufen, suchen mit der älteren sich zu vergleichen und an die Vergangenheit wieder anzuknüpfen. Die Kämpfe selbst, die gegenwärtig so heftig sich gestalten, geben dafür Zeugniß und wir finden gerade in ihnen die sicherste Garantie, daß unsere katholische Wissenschaft die Differenzen der älteren und der neueren Periode in Bälde überwinden wird.85

Von ihren Gegnern wurde die Neuscholastik dagegen selbst als krisenhaftes Ereignis interpretiert und nicht als Antwort auf eine Dauerkrise. Als Grund für die Einberufung der Münchner Gelehrtenversammlung von 1863 – letztlich einer Krisensitzung – nannte Döllinger in der Einleitung der gedruckten Verhandlungen die Feststellung einer konkreten theologischen »Übergangsperiode«, hervorgerufen durch die zunehmend Deutungshoheit beanspruchende Neuscholastik.86 In seinem eigenen Beitrag plädierte er dafür, »das alte von der Scholastik gezimmerte Wohnhaus«, das baufällig geworden sei, durch einen Neubau zu ersetzen.87 Abt Daniel Haneberg (1816–1876) von St. Bonifaz in München brachte in seiner Begrüßung die Enttäuschung über die Entwicklung der katholischen Theologie deutlich zum Ausdruck: Wo sind denn jene Ideale hingekommen, mit denen wir uns vor dreißig Jahren getragen haben? Was ist aus jenen Erwartungen geworden, welche das katholische Deutschland in jenen Jahren wie neu belebte, als Möhler unter uns wirkte, als Görres noch lehrte, als Montalembert über den Rhein kam und der deutschen Wissenschaft seine Huldigungen brachte, als der jüngere Windischmann, fast noch ein Jüngling, schon den Ruf eines gereiften Gelehrten verdiente?88

Aber zunehmend wurde nicht mehr ein konkretes kontingentes Ereignis, sondern Gegenwart an sich als Krise wahrgenommen. So nahm Oswald seine Gegenwart in seiner Eschatologie von 1868 als »Zeit des Übergangs« wahr, denn altbewährte, fast für unanzweifelbar gehaltene Grundsätze haften nicht mehr, Institute, welche kraft unvordenklicher Dauer für unerschütterlich gegolten, wanken und stürzen, Ereignisse, so schwer und wuchtig, wie sie sonst kaum ein Jahrhundert gesehen, gelten für etwas Alltägliches, Erfindungen, geeignet die innerlichsten Lebensformen der Menschen von Grund aus umzugestalten, schlagen die eine auf die andere, mit einem Worte, Alles ist in Fluß und Gährung. 85 Die Sprache der katholischen Wissenschaft. In: Der Katholik 2 (1859) 839–854, hier 839 f. 86 Verhandlungen der Versammlung katholischer Gelehrten 6. 87 Ebd. 56. 88 Ebd. 14.

Kampf und Krise  325

Deshalb dränge eine Entscheidung: »[…] entweder eine neue Zeit, d. h. eine neue Epoche der Welt- und Menschengeschichte steht in Aussicht, oder wir neigen allgemach dem Ende zu.« Niemand könne aber »mit etwelcher Sicherheit« die Zukunft vorhersagen, auch er selbst nicht: »Da ich nun durchaus keinen Anspruch auf prophetische Begabung mache, vielmehr derartige leichtfertige Voraussagungen höchlich mißbillige und für weiter nichts als eben auch für ein Zeichen der Zeit ansehe, so kann und will auch ich mich nicht entscheiden.« Trotzdem gab er zu, dass er »anzunehmen geneigt« sei, »der Menschheit stehe noch eine neue Zukunft auf Erden bevor, ehe denn ihre Geschicke sich abschließen; doch quisque in suo sensu abundet«.89 So begründete auch die Zeitschrift »Chilianeum« ihr Erscheinen in der ersten Nummer im Jahr darauf ebenfalls damit, »Schmerzenstöne einer dahinsterbenden und das Ringen einer werdenden Epoche« zu vernehmen. Manche hätten das »Schlachtfeld« verloren gegeben: Ihnen zeigt sich das Antlitz des Kommenden in dem Bilde der Zerstörung der heiligen Stadt: sie sehen in näherer oder weiterer Ferne die bisherige Welt mit ihrer Cultur in Trümmer sinken und den Pflug darüber gehen, während die Kinder des Friedens mit den Heiligthümern unter dem Schutze der Engel in fremde Gegenden ziehen, um dort den Altar wieder aufzubauen, den man hier zerschlagen hat.90

Auch Senestrey sah sich 1871 inmitten einer »großen Zeitenwende«, denn »die alte Ordnung in Europa geht aus den Fugen und eine neue Gestaltung ringt sich mühevoll hervor aus den Trümmern der alten«.91 Es handelte sich für ihn um den Beginn des apokalyptischen Endkampfes: »Und noch stehen wir vielleicht erst am Beginne dessen, was Gott vorhat in der Welt – zu seiner Ehre, zur Vollendung seines Reiches.«92 Losgelöst vom konkreten Ereignis, konnte sich die Krisenwahrnehmung verstetigen. So wie die Zeit eine Abfolge von Gegenwarten war, war sie eine Abfolge von Krisen. Hatte Geissel die Märzrevolution als konkretes Ereignis 1848 noch ausdrücklich von der Reformation abgegrenzt, nahm sich Stöckl 1880 in einem seit nun schon drei Jahrhunderten dauernden »Zeitalter der Revolution« lebend wahr. Dieses habe mit der Reformation begonnen und sich im englischen Königsmord genauso gezeigt wie in der Französischen Revolution und in den Märztagen. Seit der Reformation sei die Revolution »permanent geworden und läßt das Land nimmer zur Ruhe kommen«.93 Dabei herrschte unter den katholischen Autoren Einigkeit bei der Bewertung der Reformation als »Urrevolution« 89 Oswald: Eschatologie 252. 90 Was wir wollen. In: Chilianeum 1 (1869) 1–11, hier 1 f. 91 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1871 (19.4.1871). 92 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1871 (5.2.1871). 93 Stöckl, Albert: Die christliche Weltordnung und die Revolution. In: Ders.: Fragen III 1–21, hier 1.

326  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  (Matthias Klug).94 Hitze wähnte sich 1877 in einer »Übergangszeit«, in einer »Zeit der Krisis«, da das Heilige angezweifelt werde: Heute wird verneint, was gestern behauptet, morgen zerstört, was heute grundgelegt ist. Täglich tauchen neue Ideen auf, und Tausende sind bereit, sie zu predigen, zu vertheidigen. Alle Ruhe, alle Stetigkeit ist verloren gegangen; der Geist der Revolution, der sich in der Reformation entfesselt hat, fährt hin durch die Welt und reißt Alles mit sich fort.

Kulturkampf herrsche auf religiösem Gebiet, Klassenkampf auf wirtschaftlichem.95 Deshalb flüchtete sich Hitze auf das »Schifflein Petri«, wo er sich »geborgen« fühlte und »mit Ruhe« die Lage überblickte.96 Für Vogelsang war der Kapitalismus nur eine kontingente Konkretion des mit der Reformation beginnenden revolutionären Dauerzustandes. Aus dessen Untergang können deshalb nur neue Revolutionen folgen, wie er 1888 vorhersagte: Ein allgemeiner Bankerott mit völligem Productionsstillstande, großer socialrevolutionärer Katastrophe zur Säcularfeier der großen französischen Revolution, die nur ein Kinderspiel war gegen das, was uns bevorsteht, falls nicht noch in letzter – jetziger – Stunde mit dem falschen System gründlich gebrochen wird.

Deshalb forderte er die »Rückkehr zu einer gemäßigten Naturalwirthschaft«. Den Kapitalismus machte er zum Übergangsstadium, das eine Entscheidung benötigte. Er sei zwar notwendig gewesen, »um neues Leben in die Productions­ entwicklung zu bringen, um es dem Menschen zu erleichtern, die ihm zustehende Herrschaft über die Erde auszudehnen«. Die Menschheit habe aber das, »was mit äußerster Vorsicht genossen eine Medizin sein konnte, zu einem verderblichen Gifte gemacht«.97 Die Wahrnehmung einer Dauerkrise war kongruent zum agonalen Charakter des Exorzismusdispositivs, wie Scheicher 1884 deutlich machte: »Große Dinge sind im Werden. Der lange schon unruhige Vulkan unter unseren Füßen regt sich Jahr für Jahr öfter in convulsivischen Zuckungen.« Es könne deshalb für den aufmerksamen Beobachter einem Zweifel nicht unterliegen, daß sich eine jener großartigen Umwälzungen vorbereitet, eigentlich bereits im Anzuge begriffen ist, welche das Antlitz der Erde umgestalten will, indem sie die sozialen Schichten anders gruppiert. Ob der Zustand nachher besser oder schlechter sein wird, vermag niemand zu sagen, ebenso wenig, in welcher Weise, ob gewaltsam mit Eisen und Blut, oder durch die Macht der Idee, im Wege menschlicher Gesetzgebung und Leitung die

94 Vgl. Klug: Rückwendung 402. 95 Hitze: Frage 5. 96 Ebd. 6. 97 Vogelsang: Capitalismus 49–61.

Kampf und Krise  327

Veränderung vor sich gehen wird, mit andern Worten ob Revolution oder Reform die Losung der nächsten Zukunft sein wird.98

Er erwartete also eine Entscheidung, die aber kein Ende der Entscheidungsnotwendigkeit und damit der Krise bedeutete. Krise folgte auf Krise, Entscheidung auf Entscheidung, Kampf auf Kampf. Eine Zeit ohne Kampf hatte im Exorzismusdispositiv keinen religiösen Sinn. Albert Maria Weiß beklagte deshalb in seinen Lebenserinnerungen das Ende des Kulturkampfes. Nach dem Kulturkampf herrschte die Ruhe des »toten Wassers«, so Weiß: Der Kulturkampf fing an sich zu erschöpfen, das geistige Leben hatte er alltenthalben gelähmt. Dem kurzen Schwindel der Gründerperiode nach dem großen Kriege hatte der Krach ein Ende gemacht. Der Taumel des Religionskrieges wich dem Gefühle der Enttäuschung und machte dem Ekel vor allem Glauben an Ideale und vor allem Streben nach höheren Dingen Platz. Nirgends zeigte sich im Augenblick eine bedeutende Erscheinung. Die politische Zerrissenheit hatte den Höhepunkt erreicht, Genuß und Erwerb nahmen die Geister in Beschlag, eine große historische Kunst gedieh so wenig wie die hohe Literatur, in der Philosophie fehlte es an einflußreichen Größen, die Wagnerei war fast das einzige, was einige wenige Geister fesselte. Überall Massenbetrieb ohne führende Kräfte, matter Materialismus, Unzufriedenheit, Weltschmerz, alles Vorbereitung für das, was kommen sollte.99

Freilich konkretisierte sich die Wahrnehmung einer Dauerkrise wieder in kontingenten Ereignissen. Im Jahr 1892 war es für Weiß dann wieder so weit. Die Außenpolitik sei »in einem solchen Zustande der Unsicherheit und der Spannung, daß wir nicht selten einen plötzlichen Ausbruch, und wenn es denn nun einmal nicht mehr anders sein kann, einen ehrenvollen Untergang dieser unerträglichen Lage vorzuziehen geneigt sind«. Er fragte sich deshalb: »Sollen wir nun auch noch im Innern gleiche Verhältnisse wünschen? Recht weit davon entfernt sind wir ohnehin nicht mehr.«100 Es stehe »die ganze Gesellschaft am Rande des Abgrundes vor der Entscheidung«. Auf dem »betretenen Wege« sei der »Sturz der Gesellschaftsordnung unvermeidlich und die Rache durch den Sieg des Socialismus gewiß«. Um dies zu verhindern, sei es nötig, »daß wir mit entschiedener Abkehr von den verkehrten modernen Ideen den alten, den ewigen, den unveränderlichen Lehren über Eigenthum, Erwerb und alles, was damit zusammenhängt, bedingungslos zustimmen«.101 Im derzeitigen Zustand könne die Kirche aber »dem kommenden Sturme als Damm« nicht dienen, denn:

98 Scheicher: Klerus 1. 99 Weiß: Lebensweg 270 f. 100 Ders.: Frage 239 f. 101 Ebd. 300.

328  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Heute haben wir die Civilehe und die Civilstandsregister, die Schule ist verweltlicht, die Kirche hat in der Erziehung nichts mehr zu sagen, der Wucher ist gesetzlich gestattet, die Kirche ist selbst in Ausübung der eigentlich kirchlichen Thätigkeit, in Predigt, in Missionen, geknebelt und gelähmt.102

Mit der Wahrnehmung einer Dauerkrise stellte der katholische Krisendiskurs im 19.  Jahrhundert keine Ausnahme dar. Das 19.  Jahrhundert durchzog ein »steter Strom von Erwartungen einer bevorstehenden sozialen Revolution«, so der Zeit-Historiker Lucian Hölscher.103 Die Krise als Dauerzustand ist für Makropoulos ein Kennzeichen der Moderne, da die Erwartungen aufgrund des sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Wandels in der Sattelzeit aus der Bindung an die Erfahrungen gelöst (entbettet) werden.104 Erfahrungen konnten nicht mehr direkt in Erwartungen übersetzt werden, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont traten auseinander, es entstand die Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, was Koselleck in zahlreichen Publikationen ausführte. Der Begriff der Zukunft verlor seine jenseitige Bedeutung. Die Zukunft wurde verzeitlicht, unsicher und offen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bekamen unterschiedliche Qualitäten. Die Gegenwart schrumpfte zum Übergang zwischen bekannter Vergangenheit und unbekannter Zukunft. Die Gegenwart wurde dadurch krisenhaft, die Zukunft zum Überschuss an Möglichkeiten. Dabei setzte der Möglichkeitsüberschuss Machbarkeitserwartungen frei. Koselleck beschreibt das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont deshalb als Vorgang der Säkularisierung. Die Welt habe ihren transzendenten Sinn verloren und sei zur Funktion pluraler Wirklichkeiten geworden. Die Vorstellung von immanenter Vervollkommnungsfähigkeit, von Fortschritt, sei möglich geworden. Das Dual von Optimismus und Pessimismus sei entstanden.105 Tatsächlich war die Wahrnehmung einer zunehmenden Kluft zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nicht an Säkularisierung gebunden, worauf Hölscher hinweist.106 Klug betont, dass sich die Wahrnehmung einer qualitativen Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart letztlich auch in der zunehmenden Mittelalterorientierung der katholischen Theologie zeige.107 Das Exorzismusdispositiv verlieh dem wahrgenommenen immanenten Mög 102 Ebd. 19. 103 Hölscher: Entdeckung 114. 104 Makropoulos: Krise 50–53. – Erfahrungen sind »vergegenwärtigte« Vergangenheit, Erwartungen »vergegenwärtigte Zukunft«. Vgl. Koselleck: Erfahrungsraum 354–358. 105 Zum modernen Begriff der Zukunft vgl. Ebd. 360–364; ders.: Neuzeit; ferner Assmann: Erinnerungsräume 50–53; Evers / Nowotny: Umgang 76; Hölscher: Weltgericht 21–26; Koselleck: Begriffsgeschichten 81–83; ders.: Zeitverkürzung 183. 106 Hölscher: Entdeckung 45 f. 107 Klug: Rückwendung 394–396.

Kampf und Krise  329

lichkeitsüberschuss, der aus dem Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont entstand, durch die Willensfreiheit transzendenten Sinn, weshalb diese generalisiert werden musste. Der zeitlichen Wahrnehmung der Gegenwart als Umkehrpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft wurde im Exorzismusdispositiv durch die Verknüpfung der Gegenwart mit der Willensfreiheit als moralischer Umkehrpunkt zwischen Gut und Böse Sinn verliehen. Das führte katholischerseits zur diskursiven Normalisierung der Krise, d. h. zu ihrer Verstetigung. Dabei leiteten sich die katholischen Machbarkeitserwartungen von der Willensfreiheit ab. Deshalb waren diese nicht pessimistisch oder optimistisch, sondern agonal, was die Wahrnehmung von Krise verstärkte. Die Betonung einer generalisierten Willensfreiheit ist deshalb die katholische Bewältigung des Möglichkeitsüberschusses, der als Kennzeichen der Moderne gilt. Der Möglichkeitsüberschuss wurde wahrgenommen und akzeptiert, aber – etwa von Rietter 1865/1866 – auf das eine transzendente Ziel des Heils orientiert: Ordnung ist ein universelles Weltgesetz. Darum stehen die vielen und mannigfaltigen Zwecke wie die Dinge, an welche sie geknüpft sind, und die darauf gerichteten menschlichen Handlungen, nicht nur in Beziehung und Zusammenhang, sondern auch im Verhältnisse der Unter- und Überordnung zu einander. Die aufsteigende Reihe der Zwecke aber kann keine unendliche sein, da dieselben nicht in den Bereich der bloßen Möglichkeiten, deren es allerdings unendlich viele gibt, sondern der Berechnung fallen, die Unbegrenztheit einen Fortschritt ins Unendliche erheischen würde, welcher ohne Ziel und eben darum ohne Sinn wäre und mit dem angebornen Streben nach abschließender, endgiltiger und zur Ruhe kommender Thätigkeit in Widerspruch stünde.108

Das Postulat der Willensfreiheit ermöglichte es, dem nicht zu negierenden Möglichkeitsüberschuss moralischen Sinn zu verleihen und ihn der transzendenten Sinnlosigkeit zu bezichtigen, sobald er immanent wurde und im sozialen Fortschrittsoptimismus zur Weltanschauung gerann. Dies tat Denifle in einem Vortrag im Grazer Dom 1872: »Was ist denn aber das Ziel des modernen Fortschrittes, wohin gehen denn alle Bewegungen der Zeit? – Nicht bloß, daß der moderne Fortschritt auf vielen Gebieten ein falsches Ziel hat, – er strebt nach keinem bestimmten Ziele, sein Ziel ist das Unbestimmte.«109 In seiner »Apologie des Schmerzes« wies Stöckl 1879 darauf hin: »Es wüthet eine immensurable Summe von Jammer, Elend und Noth im Schoße des Menschengeschlechtes und zerfleischt dessen Eingeweide.« Der Schmerz »heftet sich an seine Fersen; ein Entrinnen ist nicht möglich«. Denn der Schmerz sei eine Folge der Sünde. Gleichzeitig strebe der Mensch nach Glück: »So steht das Leben des Menschen auf Erden keineswegs im Einklang mit den Anforderungen, die seine Natur stellt; 108 Rietter: Breviarium 8 f. 109 Denifle: Kirche 145 f. So auch Deutinger: Fortschritt 38.

330  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  ja es tritt thatsächlich zwischen beiden ein schreiender Widerspruch hervor.«110 Schneider behauptete 1896, dass alle Anstrengungen zur »Umwandlung der tränenreichen Erde in ein Glückseligkeitsparadies« vergeblich seien. Obwohl es gelungen sei, »die Wohlfahrtsbedingungen oder die Genußmittel außerordentlich zu vermehren« und im Hinblick auf »Wohnung, Ernährung, Bekleidung, Verkehr und die Befriedigung vieler anderen Bedürfnisse« die breiten Schichten des Volkes heutzutage viel besser gestellt» sind, seufze die Menschheit immer noch »unter dem Hochdrucke von vielerlei Leiden, trägt schwer und schmerzlich an einer großen, blutenden, brennenden, stellenweise höchst gefährlichen Leidenswunde«.111

3. Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers Im caritativen Gnadendispositiv herrschte eine immobile, statische Zeitauffassung. Der Germanist Karl Heinz Götze spricht bei der Analyse der Zeitwahrnehmung der deutschen und französischen Romantik von einer »notorischen Indifferenz« der Liebe gegenüber der Zeit.112 Sailer formulierte 1811: »Unsere Zeit ist wahrhaft keine Kopie, sie ist ein wahres Orginal [!], ein Orginal in Hinsicht auf die Angelegenheit der Welt und ein Orginal in Hinsicht auf die Angelegenheiten der Religion.«113 Gleichzeitig begründete das beginnende Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont und die damit einhergehende Öffnung der Zukunft, wie sie gerade von der Französischen Revolution bewirkt worden war, den Wunsch nach Zukunftsvorhersage. Im Kreis um Görres, Baader und Sailer war man fasziniert von somnambulen Seherinnen, in denen gottbegnadete Wesen gesehen wurden. Auch Schlegel legte seiner zahlenmystischen Geschichtsphilosophie in den »Fragmenten zur Geschichte und Politik« Aufzeichnungen von somnambulen Seherinnen zugrunde. Dabei besaßen diese Visionen schon deshalb apokalyptischen Charakter, da das Auftreten von Weissagungen in der Apostelgeschichte als Vorzeichen des nahenden Weltendes gewertet wurde.114 Abbau von Zukunftsunsicherheit erfolgte im Gnadendispositiv durch Prophezeiungen, d. h. durch den Zugang zum göttlichen Weltplan, zur göttlichen Gewissheit. Denn Gott alleine besitzt das Wissen über die Zukunft. Bei Prophezeiungen besteht zwar Ungewissheit darüber, was passieren wird, aber es 110 Stöckl, Albert: Apologie des Schmerzes. In: Ders.: Fragen I 404–421. 111 Schneider: Weltordnung 159. 112 Götze: Ungleichzeitigkeiten 347. 113 Sailer, Johann Michael: Neue Beiträge zur Bildung der Geistlichen. Bd. 2. München 1811, 270, zit. nach Hahn: Romantik 3 f. 114 Vgl. Sawicki: Leben 149–157. Vgl. dazu Freytag: Aberglauben 307–315.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   331

steht schon fest, was passieren wird. Gott enthüllt damit eine vorherbestimmte Zukunft. Deshalb wirken Prophezeiungen fatalistisch. Der Handelnde ist stets Gott und das Ziel ist immer eschatologisch determiniert.115 Das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, das die Möglichkeit von zeitlichen Vorhersagen eröffnete, sollte durch die prophetische Art der Vorhersage wieder geschlossen werden und so Fatalismus legitimiert und Eingriffe in die sozialen Strukturen abgewehrt werden. Schlegel qualifizierte die »häufiger als je verbreiteten Prophezeiungen vom nahen Weltuntergang« 1820 zwar als »herrschende Täuschung«.116 Stattdessen prophezeite er aber »den großen Kampf einer sehr schweren Wiedergeburt«. Das Drama der Menschheitsgeschichte sei »schon bedeutend über seine Mitte vorgerückt« und deshalb dem Ende näher als dem Anfang. Da eine Berechnung der Apokalypse weder der katholischen noch der protestantischen Dogmatik gelungen sei, bleibe nur »wahrhaft christliche Resignation und Ergebung in den Willen Gottes«.117 Haller kleidete seine Zukunftserwartung 1820 ebenfalls in prophetische Phraseologie, »in prophetischem Geiste« wollte er »weissagen«. Er prophezeite zwar einen jahrzehntelangen Kampf, den aber nicht die Menschen entscheiden. Dieser Kampf werde den Frieden bringen, den Frieden der Fürsten unter einander, den Frieden zwischen den Fürsten und ihren Völkern, den Frieden zwischen allen Menschen und im Inneren der Familie selbst; einen Frieden den das Schwerdt allein nicht bewirken kann, der nicht auf Austheilung von Seelen und Quadratmeilen, nicht auf Polizey und Soldaten beruht, sondern in den Gemüthern herrscht, und auf einem gemeinsamen Glauben gegründet seyn muß.118

Die Prophetie ist an Vollkommenheit und damit an der Produktion von Sicher­ heit orientiert. Sie rechnet die Zukunft nicht aus der Vergangenheit hoch, son­dern leitet die Gegenwart vom Kommenden ab, wie sich am Beispiel von Lamennais zeigen lässt. Dieser war 1834 der Überzeugung, jedes Ereignis habe »sein Zeichen, das ihm vorhergeht«. Es gelte nur es richtig zu deuten: Die unzählichen verschiedenen Gedanken, die sich an dem Horizont der Geisterwelt kreuzen und vermischen, sind das Zeichen, das den Aufgang der Sonne der Erkenntniß verkündet und das verwirrte Murren und die innere Unruhe der bewegten Völker sind Vorboten des Sturms, der bald über die zitternden Völker daher brausen wird. 115 Zur Prophetie vgl. Hölscher: Zukunft 403; Koselleck: Zukunft (1984) 30–34; ders.: Prognose 87 f.; ders.: Verfügbarkeit 265 f.; Vobruba: Freiheit 138. – Silbert: Conversations-Lexicon II 467 f.: »Die Zukunft ist für den Menschen ein dunkles Räthsel, ein tiefes undurchdringliches Geheimniß. Kein Aberglaube, kein Zauber, keine Kaballa, kein Magnetismus, kein dämonischer Trug schließt dieselbe auf; ihr Schlüssel liegt in Gottes Hand allein […].« 116 Schlegel: Signatur 501 f. Friedrich Schlegels nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Spätwerk ist geprägt von apokalyptischer Prophetie. Vgl. dazu Osinski: Katholizismus 83–138. 117 Schlegel: Signatur 504–506. 118 Haller: Restauration LXVI f.

332  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Die Könige »werden heulen auf ihren Thronen und sie werden mit beiden Händen festhalten wollen ihre Krone, die die Winde dahinführen, und sie werden mit ihnen davon gefegt werden«. Die Reichen »werden nackend aus ihren Pallästen [!] gehen, aus Furcht, unter ihren Trümmern begraben zu werden«.119 Hansen behauptete 1850 ganz prophetisch, »daß große Ereignisse der Zukunft ihren Schatten schon in die Gegenwart werfen« und »daß die bedeutsamsten Ereignisse auf dem Gebiete der Geschichte stets mehr oder weniger deutlich vorher verkündigt oder angezeigt worden sind«.120 Ein gutes Beispiel für eine vormärzliche Prophezeiung stellen die populären Visionen des so genannten Segenspfarrers Franz Sales Handwercher aus dem niederbayerischen Oberschneiding dar. Sie stammen aus den Jahren 1828 bis 1830 und wurden 1848 publiziert. An 15 aufeinanderfolgenden Sonntagen hatte er regelmäßig zur selben Stunde nach der Messe apokalyptische Visionen,121 möglicherweise im Verdauungsschlaf nach dem Gabelfrühstück. Am zweiten Sonntag sah er einen Krankensaal, mitten unter den tausend Patienten Gott mit strengem Gesichtsausdruck auf einem Stuhl. Handwercher ergriff die Angst, er bat um Erbarmen. Gott wollte dem aber nicht entsprechen und erwiderte in Versen: »Meine Rechte hab’ Ich zürnend / auf die Länder ausgestrecket; / Ein Gericht ist angesetzet, / Das die Erdenvölker schrecket.« Denn: »Will ein neues Reich Mir stiften, / Und darein die Treuen setzen, / Die in Buße Meiner harren / Und den Glauben nicht verletzen.«122 Am dritten Sonntag sah er sich, ins Priesterkleid gewandet, mitten unter Patienten in einem Krankensaal stehen. Er hörte Klagen, dass es an Priestern fehle, um Trost zu spenden. Leichenkarren fuhren durch die Straßen.123 Am vierten Sonntag erblickte er eine Kirche mit wankendem Turm. Es wurde ihm mitgeteilt, dass die Kirche wegen eines losen Quaders nur wanke, wegen des festen Fundaments aber nicht einstürze: »Bald erkannt’ ich drauf den Quader, / Welcher damals los sich machte; / Denn es starb zur selben Stunde / Pius, so genannt der Achte. (6. Dez. 1830.)«124 Am fünften Sonntag stand er im Nil, umringt von Flußpferden und Krokodilen. Er hörte eine Stimme, die ihm zurief: »Sieh’! der Weg ist in den Bergen / Dornig, alpenvoll, uneben; / Durch die Mitte der Gefahren / Führt der eine Weg zum Leben.« Daraufhin schritt er vom Nil den Abhang eines Berges hinunter zu seiner niederbayerischen Pfarrkirche, die er aber verfallen und als Heulager zweckentfremdet vorfand.125 Am sechsten Sonntag fand er sich auf einem Markt wieder, auf dem es nur um materielle Gewinne ging. Wilde Tiere stürzten auf die Händler, die 119 Lamennais: Worte 50 f. 120 Hansen: Morgenstern 3. 121 Handwercher: Blicke 1 f. 122 Ebd. 7–9. 123 Ebd. 9 f. 124 Ebd. 10 f. – Er meinte damit Papst Pius VIII. (1761–1830). 125 Ebd. 12–15.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   333

von ihnen zerfleischt wurden. Handwercher gelang es, sie zu beruhigen, weshalb er ihnen nicht zu Opfer fiel: »Satan, stets nach Beute brüllend, / Darf nur dann dich nicht antasten, / Wenn du fleißig Leib und Seele / Waffnest mit Gebet und Fasten.«126 Am siebten Sonntag misslang ihm in seiner Vision die Zelebration einer Messe. Eine Zahl erschien an der Wand, die besagte, dass 674 Jahre kein Gottesdienst stattfinden werde.127 Am achten Sonntag war es ihm nicht möglich auf die wankende Kanzel zu steigen, weshalb ihm die Stimme die Errichtung einer neuen Kanzel ankündigte.128 Am neunten Sonntag hatte er eine – wenig juridische – Vision von fliegenden Beichtstühlen: »Und es wurden alle Stühle / Sammt den Priestern, die d’rin saßen,  / Dorthin, wo sie Niemand schaden,  / in die Wüste fortgeblasen.«129 Am zehnten Sonntag sah er, wie sich über ganz Europa schwarze Gewitterwolken zusammenbrauten. Er suchte und fand Schutz in einem Bauernhaus.130 Am elften Sonntag betete er auf dem höchsten Berg der Erde. Die Welt rings um ihn war verwüstet. In einem zerstörten Haus entdeckte er einen Wandschrank mit mönchischen Manuskripten, deren Herkunft seinen caritativen Intentionen entsprachen: »Inkunabeln von Franziskus / Sind’s, dem Freund’ der Seraphinen; Diese kann man jetzo brauchen, / Denn es ist die Zeit erschienen.«131 Am zwölften Sonntag sah er ein revolutionäres Heer sich sammeln zum Kampf gegen kirchlich gesinnte Bergbewohner. An der Spitze des Heeres stand ein Kämpfer in schwarzer Rüstung mit einem Schwert wie aus Feuer. Handwercher stellte sich ihm entgegen, der Kämpfer zerschellte und fuhr in die Hölle.132 Am dreizehnten Sonntag sah Handwercher, wie auf der Spitze eines Berges inmitten grüner Wiesen ein neuer Tempel gebaut wurde.133 Am vierzehnten Sonntag schaute er durch das Portal des noch unfertigen Tempels. Am Altar Jesus am Kreuz, mit Rosen- statt Dornenkrone. Er hatte obsiegt.134 Am fünfzehnten Sonntag erstieg Handwercher den Tempelberg erneut. Er sah nun drei Tempel, »vereint und doch geschieden«. Darin beten Engel und Heilige, Gläubige jeden Standes und Alters, jeden Geschlechts und jeder Nationalität. Handwercher sank zufrieden auf seine Knie nieder und rief: »O wie fromm ist diese Jugend! / O wie fromm die ganze Heerde! / O wie herrlich ist die Wohnung / Meines Gottes auf der Erde!«135 Handwerchers Visionen konstituierten

126 Ebd. 15–19. 127 Ebd. 19 f. 128 Ebd. 20 f. 129 Ebd. 21 f. 130 Ebd. 22 f. 131 Ebd. 24 f. 132 Ebd. 26 f. 133 Ebd. 28. 134 Ebd. 29. 135 Ebd. 30 f.

334  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  keine agonale Dauerkrise, sondern eine immanenten Idealzustand nach einem einzigen Endkampf, den letztlich Christus gewann. Als prophetisch sind auch die Versuche zu bezeichnen, durch Vorzeichen das Ende der Welt zu bestimmen. Als biblische Anzeichen der nahenden Apokalypse galten die Ausbreitung des Evangeliums über die ganze Erde, die Bekehrung der Juden, die zunehmende Entchristlichung und Christenverfolgung, das Schwinden der Nächstenliebe und das Auftreten von Weissagungen, Krieg, Seuchen und Hungersnöten, Mond- und Sonnenfinsternissen sowie die Verkürzung der Zeit.136 Gaume war sich 1845 sicher, dass die einzelnen Vorzeichen bis auf den »Todeskampf der Natur« bereits eingetreten seien.137 Es ging ihm darum, das Weltende zu bestimmen, es aber keinesfalls zu berechnen: Für nichts ist mehr gesorgt als dafür, daß man sein Herannahen erkennen, es mit Sicherheit voraussagen könne. Das allein, mit mathematischer Genauigkeit seine Zeit bestimmen zu wollen, wäre Vermessenheit. Das war nie unsere Absicht; die Sache aber ist gewiß. Das antichristliche Reich, der furchtbarste Feind der Kirche, ist im Evangelium klar angekündigt.138

Der Christ wisse, »daß die Welt ein Ende nehmen muß. Er kann und will die Zeit der Katastrophe nicht bestimmen, er weiß nur, daß eine Tradition sie in den Lauf des sechsten Jahrtausends setzt und daß Zeichen der Ankündigung vorausgehen sollen.«139 Die weltweite Verkündigung des Evangeliums sei die »Bedingung« des Weltuntergangs, der Abfall vom Christentum »seine Ursache«.140 Deshalb sah er in der Entchristlichung »keine vorübergehende Krisis«, sondern »die mehr und mehr rasch zunehmende Vorbereitung jener furchtbaren Herrschaft, des letzten Verfolgers und unmittelbaren Vorläufers vor der Ankunft des großen Richters«.141 Dabei galt ihm insbesondere die Beschleunigung der Zeit als sicheres Anzeichen des nahen Weltendes. Er bemerkte die »reißend schnelle Bildung des antichristlichen Reiches«,142 eine Häufung von Revolutionen und »Unruhe«, worunter er »das unbeschreibbare Mißbehagen, welches seit dem Protestantismus der Normal Zustand von Europa zu seyn scheint«, verstand.143 Vor allem aber die weltweite Verkündigung des Evangeliums, die mit dem Abfall vom Christentum Schritt halte,144 habe »einen unermeßlichen Schritt« im »vorausgesagten Laufe 136 Bei den einschlägigen Bibelstellen handelt es sich um Mt 24.15–28, Paulus 2. Thess 2.3, Mk 13.22, Offb. Vgl. dazu Hölscher: Weltgericht 96–104; Koselleck: Kriterien 77; ders.: Zeitverkürzung 185–188. 137 Gaume: Blick 114. 138 Ebd. 30. 139 Ebd. 98–100. 140 Ebd. 131. 141 Ebd. 115. 142 Ebd. 24. 143 Ebd. 40 f. 144 Ebd. 133 und 187.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   335

durch die Welt gemacht. Das Wort des Engels des Gerichts ist also wahr. Was es noch immer gewisser macht, ist die fortwährende Schnelligkeit dieser fortpflanzenden Bewegung.« Seit den Aposteln habe die Verkündigung »vielleicht nie so reißende Schritte gemacht«, denn: Aus allen Theilen der Christenheit erheben sich wetteifernd Legionen von Missionären, die zur Entdeckung von neuen Küsten ausgehen. Man möchte sagen, der göttliche Hirte sei nie eilfertiger gewesen, seine Schafe zu berufen und seine Voraussage völlig zu erfüllen, so sehr naht die letzte Stunde!

So schreitet die Sonne der Wahrheit reißend dem Ziele ihrer Laufbahn zu. Noch kurze Zeit, und sie wird mit ihren göttlichen Strahlen alle Orte beschienen haben, welche die irdische Sonne befruchtet. Ein göttlich vorausgesagtes Zeichen sowohl des Reiches des Antichrists als der Ankunft des Endes der Zeiten, das Gelangen des Evangeliums an die Enden der Welt, das ist das zugleich tröstende und erschreckende Schauspiel, welches gegenwärtig keinem Blicke entgeht.145

Märzrevolution und auch noch Kulturkampf führten dann zu einer Konjunktur der Prophetie.146 Je weiter sich die Kluft zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont durch die dynamische wirtschaftliche und politische Entwicklung öffnete, umso stärker konnte das Streben nach Schließung der Kluft werden. Deutinger stellte 1850 fest: Wo ist irgend eine alte weiland längst vergessene Prophezeiung, die nicht mit Eifer hervorgesucht, mit Begierde gelesen und geglaubt wird, um doch nur einigen Anhaltspunkt für die unbestimmten Aussichten in eine trübe Zukunft zu haben? Offenbar sind die Tage Sauls [israelitischer König, um 1000 v. Chr.] wiedergekehrt, in denen er an sich und seinem Glücke verzagend nach Endor gewallfahrtet, um dort aus dem Munde der unter seiner aufgeklärten Regierung verbannten Zauberin sein künftiges Schicksal zu erfragen. Eine so ungewöhnliche Erscheinung, wie die, daß eine aufgeklärte, allem Aberglauben so gründlich abhold gewordene Zeit nach solchen Erkenntnißquellen lüstern geworden ist, hat doch wohl nur darin ihren Grund, daß die allgemeine Unsicherheit über die nächste Zukunft mit einer eben so großen Ängstlichkeit sich verbrüdert.

Dabei sah Deutinger in dieser Angst vor der Zukunft den Grund für »das immerwährende Schwanken in den sogenannten Regierungssystemen, das fort 145 Gaume: Blick 127–130. 146 Dies ist vor allem für den süddeutschen Bereich sehr gut erforscht. Für den südwestdeutschen Raum vgl. Burkard: Prophetin; Götz von Olenhusen: Stimmen; Kies: Moderne; für den bayerischen Raum vgl. Ludwig: Bewegung; Gissibl: Zeichen; Turtur: Bewegungen; für den rheinpreußischen Raum Freytag: Aberglauben.

336  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  währende Probiren von unversuchten Heilmitteln, mit dem man dem Übel der Zeit zu steuern sucht«.147 Ebenfalls 1850 erschien im Katholik eine Übersetzung des 1744 in Augsburg erschienenem Traktats »De revelationibus, visionibus et apparitionibus privatis tutae ex scriptura, conciliis, ss. patribus aliisque optimis auctoribus collectae, explicatae et exemplis illustratae«, mit dem der Theologe Eusebius Amort (1692–1775) strenge Regeln für die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Prophezeiungen aufzustellen versucht hatte.148 Im gleichen Jahr machte der Trierer Geistliche Hansen auf die Prophezeiungen des Jesuiten Lorenzo Ricci (1703–1775) von 1773, eines Düsseldorfer Kapuziners von 1762, des Schäfers Jasper, der Helena von Brügge, des katholischen Priesters Bartholomäus Holzhauser (1613–1658), auf die Prophezeiung von der Birkenbaumer Schlacht und auf die »so genannte römische Elisabeth von Münster« aufmerksam.149 Dabei versuchte Hansen, gegenwärtige Ereignisse mit diesen Weissagungen in Einklang zu bringen.150 Sehr populär waren im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die angeblichen Weissagungen des Mönchs Hermann von Lehnin, der das Ende der Hohenzollern nach dem Tod Friedrich Wilhelms IV. (1795–1861) und die Vereinigung der Konfessionen unter einem Kaiser, der ein goldenes Zeitalter begründe, vorausgesagt haben soll.151 Im Jahr 1874 hatte der katholische ManzVerlag aus Regensburg zwölf Bücher mit Zukunftsvisionen im Programm,152 1877 waren es noch zehn, darunter aber fünf neue.153 147 Deutinger: Zeichen 52. 148 Die Offenbarungen, Gesichte und Erscheinungen einzelner Menschen. In: Der Katholik 2 (1850) 955–967 und 1061–1075. Zu Amorts Kritik an den Visionen der María de Jesús de Ágreda (1602–1665) vgl. Precht-Nußbaum: Augsburg 308–357. 149 Hansen: Morgenstern 15. 150 Ebd. 15 f. 151 Vgl. dazu Freytag: Aberglauben 176–189, der zahlreiche Beispiele für populäre Prophezeiungen im 19. Jahrhundert anführt. 152 Gaume: Kirchhof, dritte Umschlagseite: »Das Buch der Wahr- und Weissagungen«, »Seherblicke in die Zukunft. Eine Sammlung auserlesener Prophezeiungen mit Bezug auf unsere Zeit«, »Anfang und Ende der Irren und Wirren in unsern Tagen in Bezug auf Recht und Freiheit beleuchtet mit der Fackel der Wahrheit«, »Merkwürdige Gesichte, Prophezeiungen und göttliche Offenbarungen, über Kirche und Staat, namentlich über Deutschland, Frankreich, Italien und Rom«, »Prophetenstimmen. Die zukünftigen Schicksale der Kirche Jesu Christi im Lichte der Weissagungen des Herrn und seiner Heiligen«, »Holzhausers Lebensgeschichte und Gesichte«, »Holzhauser’s Erklärung der Offenbarung des Johannes«, »Die kommende Umgestaltung der Erde« von Georg Bandorf, »Des Hermann von Lehnin Weissagung über Preußens Schicksale«, »Die Sibylle der Zeit« und »Nachträge zu den beiden Sibyllen der Zeit und der Religion« aus der Hand des Abtes Rupert Kornmann (1757–1817) von Prüfening, schließlich »Die Revolution unserer Tage«. 153 Die Stigmatisirten des 19.  Jahrhunderts, dritte Umschlagseite: »Des Hermann von Lehnin Weissagung über Preußens Schicksale«, »Des heiligen Malachias’ Weissagung über die Römischen Päpste«, »Leben, Offenbarungen und Weissagungen gotterleuchteter Seher und Seherinnen«, »Merkwürdige Gesichte, Prophezeiungen und göttliche Offenbarungen, über Kirche und Staat, namentlich über Deutschland, Frankreich, Italien und Rom«, »Anfang und

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   337

Dieses zunehmende Interesse an Prophezeiungen verweist auf steigenden Handlungsdruck bei restringierten Handlungsmöglichkeiten, auf eine Krise des Gnadendispositivs, wie sie sich bei der sozioökonomischen Umstellung vom ständischen Knappheitsregime zum kapitalistischen Unsicherheitsregime ebenfalls einstellte.154 Dabei war es der Klerus, der sich zuerst aus diesem Dilemma befreite, was sich an der zunehmenden klerikalen Kritik an den Prophezeiungen zeigt. Im Jahr 1874 verfasste der französische Bischof Dupanloup seine bekannte Warnung vor der Konjunktur der Prophezeiungen, die für ihn bedrohliche Ausmaße angenommen hatte.155 Der Autor des deutschen Vorworts zur Übersetzung war sich bewusst, dass es soziale, ökonomische und politische Unsicherheit war, die das starke Interesse an den Prophezeiungen provozierte, und zwar in der Erwartung auf Gottes Hilfe. So sei es bereits nach der Französischen Revolution gewesen, als sich die Menschen »mit gleicher Gier über allerlei angebliche wunderbare Erscheinungen und alle Prophezeiungen herstürzten und aus denselben einen Umschwung aller Verhältnisse herausdeuteten«. Dabei sah er in der Sucht nach Prophezeiungen den Ausdruck einer fatalistischen Einstellung. Diese sei »nur ein Vorwand für die eigene Bequemlichkeit, ein frommer Traum, den man träumen zu können glaubt, um nichts thun zu dürfen […].« Das Vertrauen auf Gott müsse sich stattdessen »in erster Linie darauf gründen, daß wir nicht selbst die Hände in den Schoß legen, sondern thun, was wir vermögen; dann wird Gott thun, was wir nicht vermögen«.156 Das selbe Motiv veranlasste Albert Maria Weiß, sich in seinen Lebenserinnerungen gegen »eschatologische Phantastereien« zu wenden. Bei der Prophetie gehe es »nicht um die Verbreitung des Gedankens, daß die letzten Zeiten vor der Türe stünden, und um Ausmalung des bevorstehenden Weltunterganges. Davor möge uns Gott bewahren, wir können leicht etwas Nützlicheres tun.«157 Deshalb warnte er vor jedem Fatalismus: Sollen wir Unglauben und Ansteckung tatenlos wachsen lassen, bis das Verderben jenen höchsten Grad erreicht hat, indem wir uns darauf verlassen, daß der Herr sein Ende der Irren und Wirren in unsern Tagen in Bezug auf Recht und Freiheit beleuchtet mit der Fackel der Wahrheit«, »Prophetenstimmen. Die zukünftigen Schicksale der Kirche Christi im Lichte der Weissagungen des Herrn und seiner Heiligen«, »Prophetien über unsere Zeit. Nach der Civiltà cattolica«, »Holzhausers Lebensgeschichte und Gesichte nebst dessen Erklärung und Offenbarung des heiligen Johannes«, »Die Zukunft. Aussprüche geistvoller und gelehrter Männer über die Zukunft. Zusammengestellt und herausgegeben zur Warnung und Beherzigung in unserer ernsten Zeit«, »Warnende und mahnende Stimmen oder Nachträge zu der Schrift: Die Zukunft. Aussprüche geistvoller und gelehrter Männer über die Zukunft. Zusammengestellt und herausgegeben zur Warnung und Beherzigung in unserer ernsten Zeit«. 154 Minois: Geschichte (1998) 578 verortet die Prophetie ebenfalls am Schnittpunkt verschiedener Zeitwahrnehmungen, und zwar am Kontaktpunkt zwischen statischer Kirche und dynamischer sozialer und ökonomischer Entwicklung. 155 Dupanloup: Prophezeiungen. 156 Laicus, Philipp: [Vorwort]. In: Dupanloup: Prophezeiungen 5–8. 157 Weiß: Lebensweg 468.

338  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Wort halten und außerordentliche Boten des Heiles aus dem Paradiese senden wird, weil alle irdische Macht und Weisheit dann nicht mehr ausreicht?158

An dieser Kritik zeigt sich, dass im Klerus in sozialethischer Hinsicht bereits das proaktive Exorzismusdispositiv zu wirken begann, während sich Sehnsucht nach Zukunftsschau der Gläubigen noch im Rahmen des Gnadendispositivs bewegte. Wenn das 19. Jahrhundert nach Ansicht von Minois das »prophetischste Jahrhundert von allen« war,159 dann lag dies daran. Das Kirchenvolk verlangte aufgrund der wachsenden sozialen, ökonomischen und politischen Unsicherheit gewisse Aussagen über die Zukunft, die im riskanten Exorzismusdispositiv nicht mehr möglich waren. Von Maria bekam das Kirchenvolk die Vorhersagen, die ihr von der Kirche verweigert wurden.160 Die meisten Marienerscheinungen traten zwischen 1830 und 1871 auf. Marienerscheinungen hatten im Anschluss an die Französische Revolution sowie in den 1830er und 1840er Jahren Konjunktur, insbesondere in Frankreich und Italien. Im Anschluss an die Marienerscheinungen in Lourdes 1858 grassierten die Marienerscheinungen dann zwei Jahrzehnte lang im ganzen katholischen Europa. Alle Visionäre waren Außenseiter und befanden sich in einer unsicheren Lebenssituation. Die soziale, ökonomische und politische Unsicherheit konnte in ihnen symbolisiert werden.161 Entsprechend der Funktionsweise des Gnadendispositivs waren sie an der Umwandlung von Unsicherheit in Sicherheit orientiert und nicht wie das Exorzismusdispositiv an immerwährendem Risiko. Als sich das Exorzismusdispositiv für die Beobachtung der außerkirch­lichen Umwelt durchgesetzt hatte, wurde die Amtskirche als Heterotopie von der Welt abgetrennt. Gott war eine Gefahr, die Welt ein Risiko, Sicherheit und aufopfernde Nächstenliebe hatten ihren Ort in der Amtskirche. Das Gnadendispositiv sollte allein innerhalb der Klerikalität disponieren. Deshalb konnten Seherinnen trotz der klerikalen Kritik an der Bedeutung von Erscheinungen und Prophezeiungen im Kirchenvolk für viele kirchliche Würdenträger große Bedeutung gewinnen. Unter den Klerikern, die von Seherinnen fasziniert waren, befand sich der prominente Neuscholastiker Joseph Kleutgen.162 Der Regens 158 Ebd. 470. 159 Minois: Geschichte (1998) 580. Vgl. dazu auch Bénichou: temps. 160 Minois: Geschichte (1998) 605–614. 161 Blackbourn: Gottheit; ders.: Marienerscheinungen 188–190. Vgl. dazu auch Schlögl: Glaube (2013) 290 f. 162 Vgl. Weiß: Redemptoristen 655–671, der zahlreiche Fälle von Geistlichen aufführt, die sich Seherinnen hielten. – Magnus Jocham berichtet in seinen Lebenserinnerungen (Memoiren 212), dass sich in seiner Jugendzeit »unter vielen Geistlichen ein besonderes Verlangen nach Ausserordentlichem« gezeigt habe: »Man glaubte erst dann ein rechter Seelsorger zu sein, wenn man einige oder wenigstens eine auserlesene Seele unter seiner Leitung hätte, die, selber in einen höhern Zustand versetzt, auf die Umgebung und auf den Geistlichen selbst einen ausserordentlich heilsamen Eindruck machen sollte. Und wirklich hörte man von ver-

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   339

burger Bischof ­Senestrey, der die Marienerscheinungen im niederbayerischen Mettenbuch strikt unterband,163 war selbst einer Seherin, Louise Beck, hörig.164 Wenn Ebertz in Marienerscheinungen ein Mittel zur Durchsetzung kirchlicher Herrschaft, als »praktische Verhinderung der potentiellen prophetisch-pneumatischen Konkurrenz des Klerus« sieht,165 dann erscheint diese Analyse aber doch etwas zu funktionalistisch zu sein, um das Phänomen der Erscheinungen und Visionen hinreichend zu erklären. Immerhin übte Senestrey durch seine Kontakte mit Beck nicht nur Herrschaft aus, sondern wurde seinerseits auch Herrschaft unterworfen. Um Erwartungsraum und Erfahrungshorizont zu schließen, gründet die Zeitwahrnehmung der christlichen Prophetie auf eschatologischer Linearität. Dagegen beruht die Analogieprognose, die das selbe Ziel verfolgt, auf der Annahme zyklischer Phasen sich wiederholender Ereignisse, womit sie in der Tradition des klassischen Altertums steht. Dabei kehrt die Analogieprognose das prophetische Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft um. Sie schließt von der Vergangenheit auf die Zukunft. Die Analogieprognose erwartet das Wiedereintreten des gleichen Ereignisses bei strukturell gleichen Umständen. Zukunft bleibt Adventum, d. h. die Wiederkehr des immer Gleichen, das auf den Menschen zukommt. Zur Vorhersage werden die Ereignisse zunächst geordnet, d. h. in eine typologische Ordnung gebracht. Die Analogieprognose ist also immer noch an Vollkommenheit orientiert, diese wird aber nicht mehr chiliastisch erwartet, sondern ist schon im Werden.166 Dabei bedeutet die Identifikation von Vergangenheit und Zukunft die Aufhebung von Geschichte. Darauf ist es bezogen, wenn Klug von der »Fremdheit zwischen Katholizismus und Geschichtswissenschaft« spricht und feststellt, dass Geschichte für ihn nur apologetisches Instrument war.167 Eine Form der Analogieprognose war die Identifikation von Geschichte und menschlichem Lebensalter. Häglsperger behauptete 1839: »Jedes Menschenleben ist eine Weltgeschichte im Kleinen; und jedes Christenleben ist die individuelle Wiederholung der Geschichte des Reiches Gottes auf Erden – ist eine Kirchenschiedenen Seiten her auffallende Erscheinungen. Da war Eine, die schon jahrelang nur von Luft und Wasser lebte; dort war eine Andere, die, in einen sogenannten höhern Zustand versetzt, den Leuten gar eindringliche Mahnungen gab. An einem andern Ort sprach man von Visionen und ausserordentlichen Wirkungen.« 163 Blackbourn: Marienerscheinungen 397–403. 164 Weiß: Weisungen 215–241. 165 Vgl. Ebertz: Organisierung 62–72. Zum Phänomen von Marien- bzw. Jenseitsvisionen und Stigmatisierungen im katholischen Christentum des 19. Jahrhunderts vgl. zusammenfassend Holzem: Christentum 992–1003. 166 Zur Analogieprognose vgl. Hölscher: Zukunft 403 f.; Koselleck: Zukunft (2000) 208; ­Minois: Geschichte (1998) 573; Rainini: Geschichte 347–350; Rüsen: Typen 369. Bei der Analogieprognose handelt es sich um die von romantischen Autoren bevorzugte Form der Prognostik. Vgl. Wendorff: Zeit 357–376. 167 Klug: Rückwendung 405–409; vgl. auch Kraus: Görres 116; Muhlack: Geschichtskultur.

340  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  geschichte im Kleinen.«168 Die Historisch-politischen Blätter stimmten mit ihm 1840 überein: »Die Weltgeschichte verhält sich auf analoge, auf dieselbe Weise wie die Geschichte eines Volkes und eines Mannes.«169 Auch Deutinger identifizierte 1850 die geschichtliche mit der menschlichen Entwicklung, weshalb er die Geschichte in die drei Stadien von Reife, Blüte und Verfall einteilte.170 Darin sah er die Grundlage jeder Prognostik: Je nachdem in den menschlichen Kräften irgend eine Thätigkeit zur bestimmten Ausbildung kommt und einen bestimmten Entwicklungsgang durchlaufen hat, läßt sich aus dem bestimmt erreichten Entwicklungspunkte ermessen, welches ihre Stellung und Bedeutung in der Gegenwart und was ihr für die Zukunft als Recht ihrer Entwicklung noch übrig sei. Aus der Vergangenheit wird darum die Bedeutung und Aufgabe der Gegenwart durch die Vergleichung mit jenem allgemeinen Gesetze mit Sicherheit bestimmt werden können und in dieser liegen die Keime der Zukunft eingeschlossen.171

Deshalb gab es für Deutinger keine soziale Entwicklung. Es gebe »nichts Neues unter der Sonne; denn wenn auch jeder Tag tausende von neuen Erscheinungen erzeugt, so ist doch jeder selber wieder ein anderer Ausdruck von dem gleichen Gesetze, in dem das Leben sich offenbaren kann und muß«.172 Kleutgen äußerte 1869 die Ansicht, dass der Verfall eines Volkes nicht rückgängig gemacht werden könne: Was sich in der Geschichte aller Völker wiederholt, muß seine Ursache in der Natur der menschlichen Dinge haben. Dazu aber gehört, wo ich nicht irre, was ich oben bemerkte: wenn die glücklichste Zeit eines Volkes vorüber ist, tritt zwar nicht nothwendig ein geistiges Versinken ein; aber die goldne Zeit, die Blüthe der Jugend und die Kraft des Mannesalters kehrt nimmer wieder.173

168 Häglsperger: Seelenführung 175 f. 169 Betrachtungen über die Revolution. In: Historisch-politische Blätter 5 (1840) 686–697, hier 691. So auch Périn: Politik 235; – Biederlack: Frage 90 ging noch 1898 davon aus, dass die Geschichte jedes Volkes wie das Leben eines Menschen eine Zeit der Reifung, der Blüte und des Verfalls habe. 170 Deutinger: Zeichen 75 f.: »Alle Kräfte und Anlagen der Menschheit müssen daher im Laufe der Zeiten bis zu der höchsten Stufe ihrer möglichen Entwicklung fortgeführt werden und wenn alle Kräfte in diesen Bildungsgang eingetreten, in ihrer eigenen Gestaltung sich vollendet, in ihrer Wahrheit und Schönheit sich ausgestaltet, in ihrer Unwahrheit und Häßlichkeit sich erschöpft, dann ist der Abend des Menschengeschlechts gekommen; dann ist keine Aufgabe zur Lösung mehr übrig, die Zeit ist um, und der Baum der irdischen Entfaltung der Menschheit stirbt ab.« 171 Ebd. 104. 172 Ebd. 73 f. 173 Kleutgen: Briefe 22.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   341

Auch Görres behauptete die Möglichkeit der Analogieprognose.174 Dabei stellte er sie nicht auf eine typologische, sondern eine mathematische Grundlage. Er äußerte in einer Vorlesung 1830 die Ansicht, dass die heiligen Schriften »den Keim alles dessen, was der menschliche Geist im Verlaufe der Zeiten zu Tage fördern soll, schon in sich beschließen«. Wie »einfache mathematische Formeln« fassen »die Worte des Textes alle divergirenden Reihen in der Weltgeschichte im kürzesten Ausdrucke« zusammen.175 Wie die körperliche und die geistige Entwicklung des Menschen, so habe auch die Geschichte ihre Gesetzmäßigkeit: Auch ihre Strömung, ihre fließende Bewegung durch die Zeiten, ihre allmählige Entwickelung aus ferner Vergangenheit durch jegliche Gegenwart in die fernste Zukunft verläuft gleichfalls in innerer Gliederung und im Regelmaaße und beobachtet strenge Gesetzmäßigkeit in der Aufeinanderfolge, so daß jeder Auslauf, nach vorwärts und dann wieder in sich zurück strebend, indem er in bestimmten Wiederkehren sich rundet, diese zu Elementen eines höheren Auslaufs macht, und also die unendliche Zeit, die das Ganze in sich beschließt, sich in einer Folge großer cyklischer Perioden innerlich abgliedert, in deren Knotenpunkte dann die historischen Epochen eintreten.176

Durch binäre Strukturen entwickelte Görres eine immer detailliertere Ordnung mit starren Grenzen zwischen den Unterteilungen. Jede Periode werde durch die große Fluth in der Mitte, je nach der Zweizahl, in eine ältere und primitive und eine neue zweite Formation getheilt, so zwar, daß jene große Naturkatastrophe als das Gericht über die ältere Zeit zu ihr gehört und sie beendet und beschließt, gleichwie jenes andere Gericht am Ende der Tage der neuen Zeit Ziel und Grenze zu geben die Bestimmung hat.

Der »Charakter« der »ersten Zeit« sei schöpferisch, die nachfolgende werde als »wiederherstellende« erscheinen. Dabei müsse sich jede der beiden Unterteilungen »nach dem gleichen Gesetze, in dem sie geworden, sich wieder in zwei andere theilen«. Die »erste Zeit« teile sich in eine »Genesis des Guten wie die des ethisch Bösen« sowie den »Kampf der beiden und die Entscheidung durch den Untergang des Bösen«. Die ihr nachfolgende Zeit teile sich in die »Wiederausgestaltung des neuen Geschlechts und seine geistige Wiedergeburt« sowie den »Kampf und endlichen Sieg des Guten«. Es folgen weitere binäre Unterteilungen, »so daß in der Fortwirkung jenes Prinzips das Ganze, schon in seinem ersten Reigen in der Zweizahl getheilt, jetzt auch nach der Vierzahl und der Achtzahl sich weiter gliedert«. Dabei trete die binäre gesetzmäßig in eine ternäre Struktur über. In 174 Zur Geschichtsphilosophie von Görres vgl. Uertz: Gottesrecht 126 f.; Raab Görres (1973) 96. 175 Görres, Joseph: Über die Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte. Drei Vorträge, gehalten an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Breslau 1830. In: Ders.: Schriften der Münchner Zeit 240–295, hier 263. 176 Ebd. 271.

342  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  jeder der durch binäre Unterteilungen gewonnen Abschnitte wirkten die »schaffenden, zerstörenden und erhaltenden Kräfte, welch letztere aus dem Kampfe der beiden andern hervorgegangen« seien. In der »alten Weltzeit« manifestierten sich die schaffenden Kräfte in der Genesis und die zerstörenden im Sündenfall. Aus beiden entstünden die erhaltenden Kräfte, indem die »fortwirkenden schaffenden« im Kampf mit dem Bösen erhaltend werden und »mit Hervorrufung des Physischbösen als Strafe siegreich enden« sowie »alles noch unversehrt gebliebene rettend bergen«. Auch die »neuere Zeit«, worunter er die Heilsgeschichte seit Jesu Wirken verstand, weise eine derartige ternäre Struktur auf. Zunächst werde »eine neue Geschichte aus dem geretteten Keim hervorgetrieben«, dann werde die zerstörende Kraft »der Gottheit sich gegen das Böse wenden und die alte Sünde tilgen«, schließlich werde die dem Christentum »einwohnende Macht fortdauernd kämpfen mit dem Bösen und als erhaltende die Geschichte ihrem Ziel entgegenführen«. Zwei Ternare werden durch die »vermittelnde Einheit der Fluth« verbunden. Daraus ergibt sich eine Teilung in sieben Zeitabschnitte. Bisher habe es drei solche »Punkte des Übergangs« zwischen zwei Ternaren gegeben, und zwar den Sündenfall, die Sintflut und die Menschwerdung Gottes. Dazwischen gebe es »vier große Umläufe der Geschichte«, wobei die »um sie her paarweise angeordneten Glieder immer mit einander im Gegensatz stehen«. Diese vier »Umläufe« umfassten wiederum sechs Zeitalter, so dass es insgesamt 24 Zeitalter gebe. Aber auch die Umkehrpunkte und »das große Schauspiel am Schluss« besäßen eine ternäre Struktur, so dass »in einer Folge von sechsunddreißig großen Zeitabtheilungen der ganze Zeitverlauf der Geschichte umschrieben ist«. Dabei kehre im Verlauf der Geschichte »Ähnliches« immer wieder zurück.177 Wie nahe die Analogieprognose noch der Prophetie war, zeigte sich daran, dass sich Görres 1828 selbst als Seher betrachtete.178 Er sprach von seinem »Wahrsagerberuf«.179 Seinen katholischen Weggefährten galt Görres als Prophet.180 Auch für Gaume war die »Geschichte der Vergangenheit« 1845 die »Prophetin der Zukunft«.181 Denn zwischen Christus zu Jerusalem zur Zeit des Judas, des Pilatus und des Herodes und dem Christenthum im neunzehnten Jahrhundert ist eine Ähnlichkeit; eine so schlagende Ähnlichkeit, daß, um in jeder Hinsicht vollkommen zu seyn, nur noch der letzte Zug mehr fehlt: Titus [römischer Kaiser, 39–81] und die Römer.182

177 Ebd. 290 f. 178 Ders.: Der Spiegel der Zeit. In: Ders.: Schriften der Münchner Zeit 70–78. Vgl. dazu Raab: Völkerrepublik 63. 179 Görres an Friedrich Christoph Perthes (Sommer 1822), zit. nach Ebd. 64. 180 Ebd. 61–65; Wacker: Revolution 81–87. 181 Gaume: Blick 9. 182 Ebd. 18.

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Der Mensch sei befähigt, »in der Gegenwart die Geschichte der Zukunft vorauszulesen.«183 Schließlich machte er die Analogieprognose gänzlich zur Prophetie: »Alle großen Ereignisse sind nach der göttlichen Ordnung lange Zeit vorausgefühlt und voraus angekündigt worden; als der Messias erscheinen sollte, erwartete ihn die ganze Welt.«184 Krementz sah in einem geschichtlichen »Parallelismus« 1865 die »Fürsehung Gottes«.185 Und Senestrey erwartete in einem Rundschreiben an seinen Klerus 1875 wegen der Angriffe auf die Kirche, dass »die ersten Zeiten der Kirche mehr und mehr wiederkehren«.186 Ketteler machte dann deutlich, wie sehr die Analogieprognose noch zum Gnadendispositiv gehörte, als er das preußische Vorgehen in der schleswig-holsteinischen Frage beurteilte. Preußen habe aufgrund von innenpolitischen Zwängen nicht anders handeln können. In allen Staaten mit ähnlichen Verfassungsverhältnissen wie in Preußen werde versucht, »durch eine glänzende äußere Politik, nur durch Siege und Ruhm die innern Schäden, an denen sie leiden, die Krankheiten ihrer innern Zuständen« zuzudecken. Denn »im Wesen des modernen Constitutionalismus« liegen Widersprüche, »die mit derselben Nothwendigkeit immer wieder auf einander platzen müssen wie zwei Dampfmaschinen, die auf demselben Geleise gegeneinander getrieben werden«. Deshalb prognostizierte er immer den selben konstitutionellen »Kreislauf«. Auf eine »kurze Zeit des Friedens« folge der »Kampf zwischen Regierung und Majorität, die nicht das Volk, sondern nur eine Partei, oft nur eine kleine Partei ist«. Daran schließe sich die »Periode einer ›neuen Aera‹« an, worunter er den Moment versteht, »wo die Regierung der Majorität weicht und mit namenloser Kurzsichtigkeit meint, die Huldigungen, die sie empfängt, wären Zeichen ihrer Stärke«. Schließlich folge eine Krisis, für die es im innern Verfassungsleben, in den innern Principien des Constitutionalismus keine Lösung gibt und wo entweder ein Napoleon kömmt, um die innere Revolution niederzuhalten, oder ein Bismarck, um durch Schleswig-Holstein und Königgrätz auf kurze Zeit allen Widerspruch zu unterdrücken.

Dabei ging Ketteler  – ganz dem Gnadendispositiv entsprechend  – von einer äußerst restringierten Verantwortlichkeit aus. Es treffe »keinen einzelnen Menschen die ganze Verantwortung für diese Conflicte«.187 Ereignisse wie der preußisch-österreichische Konflikt lägen »ebenso außerhalb unserer Wünsche wie unserer Berechnung«. Er schloss deshalb: Wir sind vielmehr darauf hingewiesen, von den gegebenen Verhältnissen, die wir nicht geschaffen haben, die wir aber auch nicht ändern können, auszugehen und mit war 183 Ebd. 23. 184 Ebd. 58 f. 185 Krementz: Israel 92. 186 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1875 (14.2.1875). 187 Ketteler: Deutschland 10–20.

344  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  mer Liebe zu unserem deutschen Vaterlande alle Keime einer guten und gedeihlichen Entwickelung in ihnen aufzusuchen und zu benützen.188

Es ist nicht überraschend, dass die utopische marxistische Geschichtsphilosophie mit ihrer immanenten Eschatologie189 im Gnadendispositiv auf Interesse stieß. Dazu bedurfte es mit Hitze und Ratzinger allerdings zweier später Vertreter der caritativen Sozialethik. Hitze behauptete 1880, noch vor seiner juridischen Wende, dass die marxistische Geschichtsphilosophie »in gewissen Grenzen« geeignet sei, der historischen Forschung Impulse zu geben.190 Vor allem in der Erkenntnis vom Verhältnis zwischen der »materiellen und geistigen Cultur eines Volkes« sah er einen bedeutenden Fortschritt.191 Diese Erkenntnis setzte Ratzinger 1881 in der ersten caritativen Auflage seiner Volkswirtschaftslehre in die Prognose vom Ende des Kapitalismus um, wobei er im Ende des römischen Reiches das »Analogon« dazu sah.192 Wie in der Antike führe die Abkehr von Gott zu Ausbeutung und Verarmung, wirtschaftlicher Niedergang sei die »selbstverständliche und naturnothwendige Folge«.193 Schließlich folge der Aufstand. Es sei zwar unmöglich »irgendein Prognostikon zu stellen«, aber die »bisherigen Erfahrungen im Entwicklungsgange der christlichen Völker« lassen erwarten, daß die heute in Selbstsucht und Genußsucht versunkenen Völker die letzten Consequenzen der materialistischen Weltanschauung ertragen, den bittern Kelch schwerer socialer Kämpfe schlürfen müssen, bis die Menschheit wieder dem Kreuze, dem Zeichen der Erlösung sich zuwendet und in der Liebe zu Gott und zum Nächsten, in Entsagungen und Opfern die Kraft zu neuen idealen Schöpfungen, zu dauernden Gestaltungen und gesellschaftlichen Organisationen gewinnen wird.194

Dabei liege die »Gefahr für die christliche Civilisation« nicht im »Hasse und in der Wuth der proletarischen Massen«, sondern im »kalten Egoismus« der »herrschenden Klassen«. Denn der Hass lasse sich »unschwer in Liebe wandeln«, nicht jedoch der Egoismus. Deshalb setzte er seine Hoffnungen auf die »Energie der armen und ausgebeuteten Massen«. Diese sei »infolge falscher Richtung durch das schlimme Beispiel von oben jetzt der Zerstörung zugewandt«, werde aber »dereinst die Bausteine für die Zukunft liefern«.195 Hatte sich Gaume 1845 noch geweigert, das Ende der Welt zu berechnen und stattdessen nach sinnlich wahrnehmbaren Vorzeichen des nahen Weltendes in 188 Ebd. 41. 189 Vgl. dazu Senge: Marxismus. 190 Hitze: Kapital 297 f. 191 Ebd. 302. 192 Ratzinger: Volkswirthschaft (1881) 26 f. 193 Ebd. 20 f. 194 Ebd. 28 f. 195 Ebd. 24 f.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   345

seiner Gegenwart gesucht, so versuchte Waller den Eintritt der Apokalypse auf der Grundlage einer Analogieprognose 1882 zu berechnen. Über die Offen­ barung des Johannes urteilte er: Die Gegenwart und die nächste Zukunft wie die Vergangenheit, ist ihm nur Prototypus eines Gerichtes, welches die ganze zukünftige Weltgeschichte umfaßt, denn der zeitgeschichtliche Kern seiner Gesichte ist der urbildliche Ausgangspunkt, aus welchem das Gericht über Gottesreich und Weltreich wie aus seiner Wurzel entsprießt.196

Waller betrachtete die Heilsgeschichte als »Weltwoche« von sieben Tagen zu je tausend Tagen, und zwar gemäß dem Bibelspruch, wonach vor Gott tausend Jahre wie ein Tag sind. So vergingen zwischen der Erschaffung Adams und der Geburt Abrahams zweitausend Jahre, von Abraham bis Christi Geburt ebenfalls und auch von Christi Geburt bis zur Endzeit, auf die dann nochmals ein Jahrtausend entfalle.197 Dabei gliedere sich die Heilsgeschichte in die vier Teile Uroffenbarung, Judentum, Christentum und Endzeit.198 Die Geschichte periodisierte er analog zum Leben Jesu, weshalb er es in Kindheit, Jugend, Mannesalter und Vollendung einteilte. Waller verortete seine Gegenwart im Mannesalter, weshalb er nur noch die Endzeit zu erwarten hatte.199 Dabei sah er die vier Lebensalter Jesu in den vier Offenbarungsstufen zeitlich manifestiert. Und jede Offenbarungsstufe unterteile er wieder in vier Epochen, entsprechend den Lebensaltern Jesu. Dies bedeutete beispielsweise, dass die »Schlußjahre des verborgenen Lebens Jesu« im Alten Testament dem Turmbau zu Babel, der Zerstreuung der Völker sowie der Geburt von Nachor und dessen Sohn Therach, des Vaters Abrahams, entsprachen. Im »Judentum« entsprachen sie der syrischen Oberherrschaft, Antiochus Epiphanes (seleukidischer König, um 215–164  v. Chr.), den Makabäern und Pharisäern. Im Christentum sah er sie in der Französischen Revolution und Napoleon Bonaparte (1769–1821), der Restauration, Papst Pius IX ., Napoleon III. (1808–1873), dem vatikanischen Konzil und der Gründung des Deutschen Reiches konkretisiert. In der Endzeit entsprachen sie schließlich der »Entlassung des Satans zur Verfügung der letzten Barbarenvölker«.200 Deshalb sah er in der alttestamentlichen Geschichte die typologische Vorprägung für die neuzeitliche Kirchengeschichte. Die Zerstörung von Sichem und des Tempels von Garizim, der Zerfall des asiatisch-griechischen Königreichs, das Wachstum des römischen Reiches und dessen Eingreifen in die Geschichte der Juden bedeutete in der Kirchengeschichte das »Absterben des Protestantismus und des griechischen Schismas«, die »Abschwächung des Türkenreiches durch 196 Waller: Offenbarung 100. 197 Ebd. 42 f. 198 Ebd. 45. 199 Ebd. 54–56. 200 Ebd. 63–67.

346  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Rußland« und die »Bildung des feindseligen neu-heidnischen Staatensystems in Europa.« Darauf folge dann die Freiheit der Kirche, deren Unterjochung durch das neuheidnische Weltreich, die Entchristlichung der Gesellschaft, die Auflösung des Protestantismus im Heidentum und die Verschmelzung des Christentums in Europa mit dem Heidentum. Dann sei das Jahr 2019 erreicht und das Ende könne kommen.201 Wallers Abkehr von der sinnlichen Wahrnehmbarkeit apokalyptischer Vorzeichen bedeutete zwar eine Abkehr von der Prophetie und damit von der Erwartung eines baldigen Endes der Welt, aber hinter seinen kunstvollen Berechnungen stand nichts anderes als eine Analogieprognose. Deshalb ging er auch von der Wissbarkeit des Weltendes aus und beanspruchte eine Sicherheit der Erkenntnis darüber, die im Exorzismusdispositiv nicht mehr möglich war. Endzeitberechnungen waren überwiegend ein protestantisches Phänomen. Wegen der katholischen Betonung des individuellen Gerichts nach dem Tod besaß das Jüngste Gericht ohnehin nicht die Bedeutung, die es in der protestantischen Eschatologie hatte.202 Das Konzil von Trient (1545 bis 1563) hatte die Berechnung der Apokalypse deshalb bereits verboten und für häretisch erklärt.203 Dessen wurde man sich im agonalen Exorzismusdispositiv im Gegensatz zum utopisch-apokalyptischen Gnadendispositiv wieder bewusst.204 Waller wusste darum. Er sah sich bereits genötigt, seine Berechnungen als »gemilderten Millenarismus« zu verteidigen und darauf hinzuweisen, dass dieser von der Kirche nicht verboten sei.205 Und deshalb plädierte Oswald 1868 für agonale Wachsamkeit statt apokalyptischer Sicherheit, als er den Versuchen zur Berechnung des Weltendes eine Abfuhr erteilte: »Wachsamkeit also, welche sich stets auf das Ende bereit hält, soll die heilsame Frucht dieser Ungewißheit sein. Es besteht daher, geschweige ein Dogma, durchaus keine Gewißheit über die Zeit des Weltendes; vielmehr ist gerade das gewiß, daß diese Zeit ungewiß ist.«206 Schneider lehnte dann 1896 nicht nur die Berechnung des Weltendes ab, sondern behauptete auch die Ubiquität der biblischen Vorzeichen für das Ende der Welt. Diese Vorzeichen markierten, so Schneider, nicht nur das Weltende, sondern alle Krisen überhaupt: Die mißlungenen Versuche, den Sturm- und Drangperioden vergangener Jahrhunderte das einzigartige Gepräge der letzten Zeit aufzudrücken, sollten den Propheten des nahenden Weltendes eine Warnung sein. Alle Wendepunkte in der Weltgeschichte 201 Waller: Offenbarung 83–89. 202 Vgl. Delumeau: Angst 357; Hölscher: Weltgericht 27–32; Zwierlein: Grenzen 445–447. 203 Meumann: Endzeit 414–416; Minois: Geschichte (1998) 433. 204 Diese Ablehnung gründet nicht zuletzt auch in der antikirchlichen Dynamik, welche chiliastische Endzeiterwartungen entwickeln konnten, etwa in katholischen Landgemeinden Badens um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu Sawicki: Leben 254–267. 205 Waller: Offenbarung VIII f. 206 Oswald: Eschatologie 248–252.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   347

sind durch großartige Ereignisse markiert und der Beginn einer neuen Ära wurde jedesmal durch außergewöhnliche Begebenheiten eingeläutet. Krieg, Aufstand und Mord, Rechtlosigkeit und Gesetzesverachtung, Glaubensverleugnung und Glaubensverfolgung, der Abfall von der Ordnung und der guten Sitte stehen mit blutroten Zügen an den Schwellen neuer Zeiträume verzeichnet.

Deshalb sei die »vielfach in Büchern, Broschüren und Traktätchen« gemachte Behauptung, »daß die widerchristliche Zeitströmung bereits den leibhaftigen Antichrist an die Oberfläche gespieen [!] habe, eine mehr als leichtfertige und waghalsige«. Gott allein sei es, »der das feurige Amen schreibt und den letzten Punkt dazu, wann es ihm gefällt. Christus hat uns den Zeitpunkt seiner Wiederkunft nicht enthüllen wollen; der hl. Paulus stellt deren nahen Eintritt als möglich hin, fügt aber nur scheinbar einen bestimmten Zeitpunkt hinzu.«207 Damit übereinstimmend lehnte Zahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Berechnung des Weltendes ab. Auch für ihn war es die Erfahrung der Geschichte, mit der er die Unmöglichkeit derartiger Berechnungen erklärte: Da indes in vergangenen Jahrhunderten so manche Katastrophen von so furchtbarer Heftigkeit und so weitem Umfange eingetreten sind, daß man die zweite Ankunft Christi nahe glaubte – ohne daß dieselbe wirklich erfolgte, sollen wir daraus die Lehre und Mahnung gewinnen, uns des Urteils zu enthalten, welcherlei ›Zeichen‹, welches Maß, welcher Grad jener Katastrophen unmittelbar auf die Endzeit hinweise.208

Das Exorzismusdispositiv forderte nicht fatalistischen apokalyptischen Attentismus angesichts des nahenden Weltendes, sondern proaktiven Kampf in einer unvollkommenen und unsicheren Welt, deren Ende völlig unbekannt war. An Vollkommenheit und an der Schließung von Zukunft orientierte Prophezeiungen und Analogieprognosen wurden im Exorzismusdispositiv deshalb als fatalistisch abgelehnt. Der Katholik lehnte 1855 die »alte Meinung« ab, dass »den Zeiten der letzten großen Verfolgungen der Kirche eine Zeit des Trostes, ein tempus consolationis« vorhergehe. Die kirchenfreundlichen Entscheidungen nach 1848 hätten zwar »vielfach die Hoffnung geweckt, jenes tempus consolationis stehe nahe bevor, sei wohl schon im Beginne begriffen«. Derartige Hoffnungen seien »menschlich«, können aber auch »schädlich wirken«. Es sei »ja oft der Fall, daß überschwängliche Hoffnungen mit Kleinmuth und Niedergeschlagenheit Hand in Hand gehen«. Es sei deshalb »besser, dem Übel muthig in’s Angesicht zu sehen und mit Gottvertrauen für das Gute zu arbeiten und zu kämpfen, als nach der Zukunft zu forschen und von wunderbaren Dingen zu träumen«.209 Scheicher 207 Schneider: Leben 394–396. 208 Zahn: Jenseits 293–299. 209 Betrachtungen über Lage und Bedürfnisse der Zeit. In: Der Katholik 97 (1855) 145–152, hier 145.

348  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  falsifizierte die zyklische Analogieprognose an sich dann 1884, als er eine Rückkehr zur ständischen Gesellschaftsstruktur als unmöglich ablehnte: »Das Geschehene kehrt niemals wieder, die Zeiten, Menschen und ihre Bedürfnisse sind andere geworden. Ideen, welche eine Vergangenheit haben, haben keine Zukunft, als höchstens indirekt: daß man an ihnen lernt und sich neue, passende Ideen aus ihnen gestaltet.«210 Die ordnende Analogieprognose wurde immer mehr durch eine messende Tendenzprognose abgelöst.211 Der Katholik blickte 1852 nach Frankreich, weil es der Entwicklung in Deutschland voraus war. Vor allem gelte dies für die Hauptstadt Paris, »weil die Geschichte dieser Stadt die Prophezie unserer eigenen zukünftigen Schicksale ist, die wir dort in Allwege vorgebildet schauen«.212 Die revolutionären Ereignisse von 1848 hätten einen »Blick geöffnet« in »die drohende unheilschwangere Zukunft«, die »die Gräuel ahnen ließ, deren der Mensch ohne Gott, ohne Glaube, ohne Zucht und Sitte fähig ist: eine reißende, entfesselte Bestie, blutgieriger als der Tiger, grausamer als die Hyäne«.213 Weiß leitete 1892 die Prognostik nicht von der Analogie, sondern der Kausalität ab: Alles auf der Welt muß eine Ursache haben. Wenn es darum zu thun ist, die Geschichte und die thatsächlichen Zustände zu begreifen, wer insbesondere für ein andermal daraus lernen will, der muß sich also jede ihrer Erscheinungen aus den näheren und entfernteren Gründen klar zu machen suchen. Darum lernt man nichts aus der Geschichte, weil diese selbstverständliche Wahrheit nie beherzigt wird. Darum steht man wie verblüfft und rathlos vor den Ereignissen, gerade als wären sie gleich Meteoren plötzlich vom Himmel gefallen, gerade als hätte die Welt noch nie ähnliche Ursachen und Wirkungen erlebt.214

Zahn behauptete dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Mit der gleichen Folgerichtigkeit, mit welcher wir aus der Verkettung von näheren und ferneren Ursprüngen rückwärts schließen auf einen ersten, selbst nicht verursachten, aber in sich selbst den Grund des Seins und Wesens tragenden Urgrund alles Seins und Geschehens; mit der gleichen logischen Notwendigkeit schließen wir stufenweise vorwärts auf ein letztes Ziel aller Wandlungen, aller Entwicklungen, auf ein Ziel, welchem alles entgegenstreben und in seiner Art dienen muß und in welchem es seine Vollendung findet, ohne daß das Ziel selbst, das allen die Vollendung anbietet, seinerseits der Vollendung bedürfte, da es ja selbst aller Wesen Urgrund und Endziel ist.215

210 Scheicher: Klerus 48. 211 Zum Unterschied zwischen Ordnen und Messen vgl. Kapitel V.12. 212 Briefe eines Deutschen aus Paris. In: Der Katholik 5 (1852) 49–63, 96–108, 145–162, 193–212, 241–267, 309–319, 352–360, 385–407, 433–451 und 481–503, hier 145. 213 Ebd. 195 f. 214 Weiß: Frage 39. 215 Zahn: Jenseits 18.

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Deshalb hielt Zahn eine Periodisierung der Geschichte sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft für möglich.216 Die Geschichte manifestierte sich nicht mehr in immer wiederkehrenden, durch Analogie erkennbaren, voneinander abgegrenzten Ereignissen, sondern in Kausalitäten, d. h. in Relationen, die für berechenbar gehalten wurden. Die Analogieprognose hatte in ihrem Bemühen, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zur Deckung zu bringen und die Öffnung der Zukunft zu schließen, in eine Aporie geraten müssen. Denn Prognosen sind zwar materiell von der Erfahrung abhängig und nicht von der Erwartung, aber funktional von der Erwartung. Sie können nur dort entstehen, wo mehr erwartet wird als eingelöst, wo also Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nicht mehr zur Deckung zu bringen sind und der Möglichkeitsüberschuss nicht mehr zu vernichten ist.217 Das auf Analogie gründende zyklische wurde durch ein lineares Zeitverständnis ersetzt. Es entstand die Tendenzprognose, welche die Zukunft nach rational beurteilten Regeln aufgrund von empirischen Daten aus der Vergangenheit hochrechnet und dadurch den Möglichkeitsüberschuss nicht vernichtet, sondern reduziert. Dabei wird diese Entwicklung von Koselleck als Vorgang der Säkularisierung beschrieben. Denn berechenbar sei die Zukunft nur bei Abwesenheit transzendenten Einflusses. Der Sinn des durch die Prognose ermöglichten proaktiven Handelns liege im Diesseits.218 Hölscher weist dagegen darauf hin, dass eine berechenbare, gesetzmäßige Immanenz auch auf ein transzendentes Ziel hingeordnet sein kann.219 Hans Maier sieht sogar eine besondere katholische Affinität zur Tendenzprognose. Er bewertet die Ablösung der Prophetie durch die Prognose als eine von der Demokratisierung des politischen Lebens provozierte Rationalisierung aufgrund der Notwendigkeit politischer Kommunikation. Während das Naturrecht aber katholische Theologoumena rationalisierbar mache, sei dies im Paradigma der protestantischen Zwei-Reiche-Lehre nicht möglich.220 Den Übergang von der zyklischen Analogie- zur linearen Tendenzprognose markiert in der katholischen Sozialethik der Übergang vom reaktiven, caritativen und gewissen Gnadendispositiv zum proaktiven, juridischen und riskanten Exorzismusdispositiv, das die Welt außerhalb der gewissen kirchlichen Heterotopie zum riskanten Kampfplatz gegen das Böse erklärte und den Einfluss des gefährlichen Gottes zurückdrängte. Es war die Eindämmung Gottes, die die Welt berechenbar machte. Als Kampf 216 Ebd. 297 f. 217 Zur Aporie der Analogieprognose vgl. Koselleck: Erfahrungsraum 358 f.; ferner Minois: Geschichte (1998) 18 f. 218 Zur Tendenzprognose vgl. Hölscher: Begriffsgeschichte 735–742; ders.: Entdeckung 35 f.; Hölscher: Weltgericht 15–26; Koselleck: Prognose 87 f.; ders.: Verfügbarkeit 265 f.; Koselleck: Zukunft (1984) 30–34; Löwith: Weltgeschichte 19; Minois: Geschichte (1998) 526–528. 219 Vgl. Hölscher: Entdeckung 45 f. 220 Maier: Revolution 292–302.

350  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  platz gegen das berechenbare, dadurch riskante Böse behielt die Welt ihre Orientierung an der Transzendenz. Proaktives berechnendes Handeln wurde dadurch aber nicht nur möglich, sondern war auch moralisch geboten. Gefahren wurden zu Risiken transformiert.221 Dabei konnte die Generalisierung der Willensfreiheit im Exorzismusdispositiv dazu führen, dass jegliche Prognostizierbarkeit abgelehnt wurde. Hertling hielt Prognosen 1893 schlechterdings für unmöglich. Die Willensfreiheit galt für ihn absolut: Aus dem, was gestern und heute geschah, läßt sich nicht schließen, was morgen geschehen wird, auch wenn die Umstände anscheinend die gleichen sind. Der Umfang und die Verschiebbarkeit der Bedingungen, von denen Eintritt und Beschaffenheit der Ereignisse des Menschenlebens abhängen, ist zu groß, als daß hier eine Vorausberechnung von nur annähernder Sicherheit möglich wäre, sie ist größer als auf dem meteorologischen Gebiete, wo über die Unsicherheit der Prognosen Niemand im Zweifel ist.222

Eine derart radikale Absage an jegliche Prognostizierbarkeit widersprach aber letztlich dem Bestreben, im Exorzismusdispositiv Gefahren in Risken zu transformieren. Der agonale Dauerzustand im Exorzismusdispositiv konstatierte eine riskante Welt, die Hochrechnungen zuließ.223 Im Übergang von der Analogiezur Tendenzprognose entwickelte sich die Vorstellung eines kalkulierbaren Handlungsspielraums des Menschen aus der Berechenbarkeit des Bösen. Dies machte der prominente Neuscholastiker Kleutgen deutlich, als er sein 1846 erschienenes Werk über Wunder 1882 um ein Nachwort ergänzte. Dieses hielt er wegen der seitherigen Zunahme von Weissagungen, was »mehr als einen Oberhirten zu ernster Warnung veranlaßt hat«, für nötig. Er führte darin aus, dass diese Weissagungen meist auf »erhitzter Phantasie« und ein krankes Nervensystem, auf Fälschungen oder die Einwirkung des Teufels zurückgingen.224 Denn: Die Teufel erkennen zwar jene zukünftigen Dinge, die von göttlicher oder mensch­ licher Freiheit abhangen, keineswegs. Allein sie können aus allen den uns verborgenen, ihnen aber bekannten Dingen, die schon geschehen sind, oder – auf ihre Eingebung (in den geheimen Gesellschaften z. B.) – geplant werden, mit einer oft an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit vorhersehen.225 221 Das Konzept handhabbarer, also riskanter Unsicherheit setzt ein lineares Zeitverständnis voraus. Vgl. Bonß: Konstruktion 27. 222 Hertling: Naturrecht 73. 223 In der Untersuchung populärer katholischer Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert kommt der Katholizismusforscher Siegfried Weichlein zu dem Ergebnis, dass diese eine apologetische Funktion erfüllte. Es handelte sich um Erzählungen von Unterdrückung, Widerstand, Kampf, Heldenmut, Märtyrertum, Minderheiten- und Konflikterfahrung. Unberechenbarer Geschichtlicher Wandel wurde abgelehnt. Vgl. Weichlein: Peitsche. 224 Kleutgen: Glauben 276–286. 225 Ebd. 284.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   351

Simar machte die Identität von dämonischer und menschlicher Prognostik 1877 deutlich. Laut Simar bestand die Wahrsagerei »in dem Vorgeben oder in dem Versuche, eine Gott allein zukommende Wissenschaft des Zukünftigen oder sonstwie Verborgenen dem Geschöpfe abzufordern, sie demselben beizulegen, oder auf natürlichem Wege zu vermitteln«. Sie »unternimmt es in frevelhafter Auflehnung gegen Gottes Ordnung, die Schranken zu durchbrechen, welche die menschliche Erkenntniß von der göttlichen trennen«.226 Zwar gestand er die Möglichkeit einer dämonisch/menschlichen Prognosefähigkeit zu. Aber nur »mittelbar, soweit sie nämlich aus gegenwärtigen Ursachen mit Gewißheit zu erschließen ist, kann die Zukunft von dem endlichen Geiste erkannt oder gleichsam anticipirt werden«. Nur so »vermag der Mensch Vieles, was in der Natur und ihren Gesetzen nothwendig begründet ist, als ein Zukünftiges mit Sicherheit zu berechnen und vorauszusagen«. Dabei ging Simar wegen der Willensfreiheit aber nicht von absoluter, nur Gott zukommender Gewissheit aus, sondern von moralischer, d. h. wahrscheinlicher Gewissheit. Dadurch fehle dem Menschen »jede Grundlage, auf welcher mit Gewißheit ein Schluß bezüglich seiner zukünftigen Thätigkeit aufgebaut werden könnte«.227 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum Krankheit, die erst mit dem Sündenfall in die Welt gekommen und deshalb als dämonisch wahrgenommen wurde, zur Beschreibung berechenbarer sozialer Probleme und zur Erklärung der Möglichkeit von Tendenzprognosen diente. Nach Aussage des Mainzer Bischofs Haffner von 1885 konnten Krankheiten nicht nur den menschlichen Körper, sondern auch die »Lebenskraft des socialen Körpers« beeinträchtigen. Denn: »Sollten nicht auch die revolutionären Störungen der socialen Ordnung ihre Grundlage in gewissen organisch wirkenden Potenzen haben? Sollte nicht auch der kranke sociale Körper seine Bacillen haben?« So seien Revolutionen seit mehr als einem Jahrhundert »nicht blos epidemisch, sondern recht eigentlich endemisch geworden«. Wie sich der menschliche Krankheitsverlauf prognostizieren lasse, so auch der soziale: »Wenn jedes einzelne Menschenleben eine Zucht und Brut der Zeit in seinem Schooße trägt, aus welcher mit einiger Sicherheit der Lauf der Dinge sich prophezeien läßt, so nicht minder das Leben der Völker und der menschlichen Gesellschaft überhaupt.« Man müsse nur die Keime prüfen, welche im Schooße der Völker liegen; die Gesetze beobachten, nach denen sie in der Vergangenheit sich entwickelten; die Wirkungen feststellen, welche aus ihnen sich ergeben haben. Wer also die vergangene Zeit prüft, wird in ihrem Lichte nicht blos die Gegenwart verstehen, sondern auch der Zukunft Dunkel einigermaßen durchbrechen vermögen.

226 Simar: Aberglaube 8 f. 227 Ebd. 19 f.

352  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Die »sociale Heilkunde« könne dann »die kommenden Erscheinungen aus den Dispositionen der Gegenwart einigermaßen vorher bestimmen«.228 Während Gott die alleinige Kenntnis der Zukunft behielt,229 wurde die dämonische Kompetenz zur Prognose aber immer mehr zur menschlichen Eigenschaft. Für Rietter kannte 1858 allein Gott die Zukunft, aber der Mensch war in der Lage, die Zukunft aus der Gegenwart abzuleiten: Der menschliche Geist kann allerdings bis zu einem gewissen Grade Künftiges vorhersehen. Das aber, was nicht in irgend einer Weise in der Gegenwart schon vorhanden ist, das zufällig Künftige, kann nur Gott mit Gewißheit erkennen. Da nun dieß der eigentliche Gegenstand der Prophetie ist, so kann dieselbe nicht in der menschlichen Natur, sondern nur in der göttlichen Offenbarung ihren Grund haben […].230

Mattes beschäftigte sich 1854 im Kirchenlexikon mit den verschiedenen Möglichkeiten der zeitlichen Vorhersage durch den Menschen. Er unterschied zwischen dem »auf Combination beruhenden Vermuthen in Betreff der Zukunft«, der »Erkenntniß des Künftigen aus und nach dem Gegenwärtigen und Vergangenen« und der »Divination« oder Weissagung. Diese letztgenannte Möglichkeit sei dem Menschen dann gegeben, wenn in Folge außerordentlicher Disposition, in Folge davon nämlich, daß er sich sozusagen aus dem Körper in sich selbst zurückzieht und so nicht mehr durch die Sinnesorgane, sondern in und durch sich selbst, also ohne Vermittlung thätig ist, sowohl zeitlich als räumlich Jenseitiges zu sehen, wie wenn es gegenwärtig wäre.

Diese Möglichkeit zur Weissagung sei nicht göttlichen Ursprungs. Er erkannte darin »einen rein natürlichen, wenn auch außerordentlichen Vorgang, als uns gewiß ist, Gott sei etwas ganz anderes als die Gesammtheit und der Zusammenhang der einzelnen Dinge«. Weissagungen häufen sich deshalb vor allem dann, wenn »uns der göttliche Weltplan concentrirt und darum in voller Klarheit und Bestimmtheit vor die Augen tritt«.231 Auch der priesterliche Esoterikexperte Ludwig aus Niederbayern erblickte im Hellsehen auf der Grundlage eines Vergleiches christlicher und außerchristlicher Phänomene 1915 »außergewöhnliche seelische Kräfte und Fähigkeiten, die noch innerhalb des natürlichen Bereichs liegen«. Denn wo der Mensch sich aus der äußeren Welt in die Tiefen seines Seelenlebens zurückzieht und die sinnlichen Triebe zu unterdrücken sucht, werden sich gewisse Regeln und Mit 228 Haffner: Bacillen 1–3. 229 Die volle Wahrheit, so Grupp 1916 (Jenseitsreligion 117), sei »für uns verhüllt in Geheimnisse, Dunkel umgibt sie und das innerste Wesen der Dinge ist uns ebenso verschlossen wie das Wesen Gottes. Was wir ganz durchschauen, reizt uns nicht mehr, läßt uns kalt.« 230 Rietter: Moral 495. 231 Mattes: Weissagung 837 f.

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tel der Aszetik herausbilden, die bei den buddhistischen und altägyptischen Aszeten in gleicher oder ähnlicher Weise wahrgenommen werden, wie bei den neuplatonischen Mystikern und den christlichen Mönchen (und Heiligen).

Weissagende Ekstase sei kein Wunder, sondern gründe in Asketik und leite sich von »natürlichen Seelenkräften« her.232 Naturwissenschaftliche Erklärungen für die Gabe der Zukunftsschau waren von säkularen Autoren bereits im Vormärz gesucht worden.233 Bei dieser katholischen Suche nach naturwissenschaftlichen Erklärungen für die Möglichkeit von Zukunftsschau handelte es sich aber nicht um Säkularisierung. Die Allmacht des gefährlichen Gottes, dem allein das Wissen über die Zukunft zustand, blieb unangetastet  – wurde die Zukunftsschau nun naturwissenschaftlich oder intellektualistisch erklärt. Es handelte sich vielmehr um eine Entdämonisierung. Dass die Möglichkeit der zeitlichen Vorhersage nicht Gott, sondern dem Teufel entrissen wurde, zeigt sich etwa daran, dass Hansen seine Ausführungen zur Zukunft Deutschlands 1850 als »Morgenstern der religiösen und politischen Wiedergeburt« bezeichnete und seinem Büchlein damit einen diabolischen Titel verlieh.234 Dass ein Rest von dämonologischer Interpretation der Zukunftsvorhersage blieb, zeigte sich, als Franz Walter das somnambule Hellsehen 1911 auf schlaues Kombinieren zurückführte und es insgesamt als Betrug wertete.235 Die dämonologische Zukunftsschau stellte den Übergang von einer göttlich-­ transzendenten zu einer menschlich-immanenten Interpretation von Zukunftskenntnis dar. Schneider äußerte zwar 1882 die Erwartung, dass die Fortschritte in der Kenntnis der Natur den Teufel nicht ersetzten. Die Dämonen seien nämlich »den grössten Physikern, Physiologen und Psychologen aller Zeiten bei weitem überlegen«. Deshalb bestehe keine Aussicht, »dass es der Experimentalwissenschaft je gelingen werde, alle dämonischen Naturerscheinungen in exakter Weise zu demonstrieren«.236 Es ließ sich aber nicht aufhalten, dass der Teufel zugunsten von immanenter Regelhaftigkeit immer mehr Kompetenz verlor. Für Schön, Anstaltsgeistlicher in der niederösterreichischen Landesirrenanstalt in Wien, waren Teufelserscheinungen 1873 Halluzinationen237. August Stöhr schrieb in seinem »Handbuch der Pastoralmedicin« 1882 über den Teufel:

232 Ludwig: Tertiarin 463. 233 Vgl. dazu Sawicki: Leben 157–165. 234 Zum Titel des Morgensterns für Luzifer, etwa im zweiten Petrusbrief, vgl. Theißen: Erleben 251–342. 235 Walter: Aberglaube 367–400. 236 Schneider: Geisterglaube 408–415. 237 Schön: Briefe 63–68.

354  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  […] ist diese Geißel Gottes nur mehr äußerst selten in Tätigkeit, und hat unser Herrgott unserem materiellen Zeitalter andere drastische Zuchtmittel in ausgedehntestem Maße vorbehalten, die wie Tuberkulose und Syphilis wohl noch eine eindringlichere Sprache reden als die nun fast geschwundene Dämonopathie der Alten.238

Auch Heyne, Anstaltsgeistlicher in der westfälischen Provinzial-Irrenanstalt Marienthal, erklärte die Besessenheit 1904 mit Halluzinationen Hysterischer.239 Er behauptete, »daß der angebliche Teufel bei diesen kranken Personen nichts anderes ist als die Allegorisierung oder das Gedankenprodukt der betreffenden Kranken«. Dabei lag der Rückgang der Teufelserscheinungen für ihn im Rückgang des Teufelsglaubens: »Wenn übrigens die Wahnvorstellungen in unserer Zeit nicht mehr so häufig einen dämonomanischen Charakter haben wie in früheren Zeiten, so liegt der Grund teilweise in der Zeitrichtung. Es werden eben nicht mehr so viele Teufelsgeschichten verbreitet […].«240 Insbesondere von der Hysterie wurde der Teufel zunehmend verdrängt, wie in einer Schrift von Franz Walter zum Aberglauben aus dem Jahr 1911 deutlich wird.241 Viele Besessenheitsfälle der Vergangenheit »müssen nach dem heutigen Stande des Wissens als etwas durchaus Natürliches gelten«.242 Er wollte vom dämonischen Ursprung von Krankheiten nur noch »in den allerseltensten Ausnahmefällen« sprechen.243 Das dämonische Wirken in der Welt bezeichnete er als »Wunder«, das »äußerst selten« sei.244 Schließlich stellte bereits Oesterreich 1921 eine Abnahme des katholischen Dämonenglaubens durch die zunehmende medizinische Interpretation ehemals dämonischer Manifestationen fest,245 also als Folge von Medikalisierung.246 Lecanu war sich zwar 1863 bewusst, dass sich der dämonische Einflussbereich, insbesondere durch die wachsenden Erkenntnisse der Medizin verengte: »Zwar gab es eine Zeit, wo man dem Satan zuviel zuschrieb, wo man seine unmittelbare Einwirkung überall, in den Stürmen, den Seuchen, den unbekannten Krankheiten, den unglücklichen Ereignissen und unvorhergesehenen Zufällen 238 August Stöhr zit. nach Walter: Aberglaube 110. 239 Heyne: Besessenheitswahn 61 f. 240 Ebd. 144 f. 241 Walter: Aberglaube 262: Die Hysterie »mit ihren oft so unheimlichen Äußerungen war für die damalige Menschheit – ja bis in die neuere Zeit hinein – ein ganz unerklärtes dunkles Gebiet«. 242 Ebd. 373. 243 Ebd. 108 f. 244 Ebd. 64–66. 245 Oesterreich: Besessenheit 192–195. 246 Medikalisierung stellt einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess dar, bei dem immer mehr menschliche Lebensbereiche, die ursprünglich außerhalb medizinischer Betrachtung standen, medizinisch erklärt werden. Sie gilt als Kennzeichen der Moderne. Zum Begriff der Medikalisierung vgl. Foucault: Geburt 272–298.

Von der Prophetie zur Prognose – Die Entdämonisierung des Körpers   355

zu finden glaubte.« Er warnte aber davor, ihn zu wenig zu beachten: »Gegenwärtig verbannt man ihn überall; allein die Wahrheit liegt in der Mitte und so läßt er die menschliche Vernunft, wie das Pendel einer Uhr, sich über der Linie des Wahren hin- und herschwingen, ohne ihr jemals Ruhe zu gestatten.«247 Selbst Franz Walter, der sich gegenüber dem Dämonenglauben äußerst reserviert verhielt, führte den um die Jahrhundertwende modernen Spiritismus 1911 auf dämonische Einflüsterungen zurück: »Man mag sich der dämonistischen Erklärung gegenüber noch so skeptisch verhalten, eines ist sicher: In dem ganzen Charakter und der unheimlichen Ausbreitung des modernen Geisterwahnes wie in seinen schlimmen Folgen für Sitte und Religion hat die Hölle die Hand im Spiele.«248 Die wachsenden Kenntnisse der Naturwissenschaften bedeuteten keinen Einflussverlust des Teufels, sondern die Verlagerung seines Einflusses von der materiellen auf die psychische Sphäre, wie Franz Walter 1905 in seinen Ausführungen zur Psychologie deutlich zum Ausdruck brachte: Wenn wir vollends der geradezu dämonischen Macht gedenken, die manche Individuen auf weite Kreise auszuüben imstande sind, so verstehen wir den Grund hiervon erst, seitdem wir durch die Forschungen der modernen Psychologie einen Einblick in das Wesen der Suggestion gewonnen haben. Wir sind nicht mehr gezwungen, zur Erklärung solch geheimnisvoller Dinge auf außernatürliche Einflüsse zu rekurrieren. So lernen wir auch erst manche Massenerscheinungen verstehen, die uns in der Sittengeschichte bisweilen in so unheimlicher Gestalt begegnen; wir können es uns erklären, warum so manche Anschauungen und Leidenschaften mit der Macht geistiger Epidemien, mit geradezu kontagiöser Gewalt um sich greifen konnten  – Erscheinungen, denen die frühere Theologie ratlos gegenüberstand (was ja keinen Vorwurf bedeuten kann) und für welche die Praxis ein Universalmittel im Exorzismus gefunden zu haben glaubte.249

Der Teufel verlor seinen Einfluss auf den Körper, er behielt aber seinen Einfluss auf die Psyche. Es ist deshalb dem Psychiatriehistoriker Rhodri Hayward zuzustimmen, der die Behauptung von der Säkularisierung der Dämonologie durch Medikalisierung als Element der Professionalisierungsstrategie der neuen Disziplinen Psychiatrie und Neurologie identifizierte und zurückwies. Religiöse Therapiekonzepte seien im 19.  Jahrhundert nicht einfach durch naturwissenschaftliche Erklärungen ersetzt worden. Vielmehr habe ein komplexer Prozess stattgefunden, in dem sich naturwissenschaftliche und dämonologische Erklärungen parallel entwickelten.250 Dadurch aber, dass der Teufel den Körper freigeben musste, konnte sich das Exorzismusdispositiv zu einem Regeldispositiv 247 Lecanu: Lehre 9. 248 Walter: Aberglaube 395 f. 249 Ders.: Theorie 59. 250 Hayward: Dämonenlehre 163–165. Vgl. dazu auch Vandermeersch: Victory; Goldstein: Hysteria.

356  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  entwickeln, in dem die Willensfreiheit nicht mehr durch diabolische Angriffe bekämpft, sondern durch naturgesetzliche Regelmäßigkeiten eingeschränkt wurde, wie sie sich im Zeitbewusstsein der Tendenzprognose zeigte. Um das Verständnis der Wandlungen im katholischen Zeitbewusstsein zu schärfen, sollen diese mit den grundsätzlichen Formen des Zeitbewusstseins verglichen werden, die der Soziologe Otthein Rammstedt unterscheidet. Er erkennt im Wesentlichen drei grundsätzliche Formen des Zeitbewusstseins, das sich in dem Maße gewandelt habe, als sich das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur verändert habe. Zeitbewusstsein definiert er als »Ideologie des sozialen Geschehens«. Das primitive occasionale Zeitverständnis habe zwischen Jetzt und nicht Jetzt differenziert. Zeit werde als Folge von nicht kontinuierlichen Ereignissen, hervorgerufen durch transzendente Kräfte, wahrgenommen. Das zyklische Zeitverständnis, das für segmentär differenzierte soziale Systeme kennzeichnend sei, unterscheide zwischen Vorher und Nachher. Der Zeitablauf sei aus sich selbst gesetzmäßig, d. h. es gebe eine bedingende Beziehung zwischen Vorher und Nachher. Deshalb sei der Zeitablauf bereits hier keinen transzendenten Kräften mehr unterworfen und es würden keine alternativen Möglichkeiten akzeptiert. Es könne nichts geschehen, was nicht schon war. Beim linearen Zeitverständnis mit offener, d. h. machbarer Zukunft gebe es mehr Möglichkeiten, als verwirklicht werden können. Denn die Zukunft sei nicht mehr objektiv vorgegeben, sondern werde in der Gegenwart gewählt. Deshalb werde die Gegenwartsbezogenheit zentral. Es gebe kein Ziel mehr, sondern nur noch die Gewißheit der Veränderung. Die inhaltliche Orientierung der Zeit weiche dem Bewusstsein der bloßen Veränderung, was Unsicherheit provoziere.251 Die Periodisierung des Zeitbewusstseins durch Rammstedt ist allzu schematisch auf gesellschaftliche Entwicklungsstadien fixiert. Religiöse Einflussfaktoren, die für die Wahrnehmung der Zeit von großer Bedeutung sind, werden ignoriert. Die Veränderungen im katholischen Zeitbewusstsein lassen sich mit dem sozialen Differenzierungsprozess nicht hinreichend erklären, da sich alle drei Formen des Abbaus von Zukunftsunsicherheit – Prophetie, Analogie- und Tendenzprognose  – innerhalb des Prozesses funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung finden. Das occasionale Zeitbewusstsein entspricht der Prophetie, die sich im Gnadendispositiv auf die Suche nach apokalyptischer Vollkommenheit begab. Zeit wurde als Folge von konkreten, nicht kontinuierlichen und transzendent bewirkten Ereignissen wahrgenommen. Dem zyklischen Zeitbewusstsein, für Rammstedt Ausdruck einer segmentär differenzierten Gesellschaft, entspricht die Analogieprognose, die sich – ebenfalls im Gnadendispositiv – nicht auf die apokalyptische Suche nach Vollkommenheit begab, sondern für die das vollkommene Reich Gottes bereits in Verwirklichung begriffen war. Sie suchte nach Gesetzmäßigkeiten und akzeptierte keine Alternativen, da sie 251 Vgl. dazu Rammstedt: Alltagsbewußtsein 50–59.

Das Geschwür und die Willensfreiheit  357

an einem Ideal orientiert blieb. Dadurch verloren die transzendenten Eingriffe ihren kontingenten Charakter und wurden Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Aber diese Gesetzmäßigkeiten wurden in der Offenbarung gesucht und behielten ihre transzendente Begründung. Die Tendenzprognose, wie sie sich im Exorzismusdispositiv entwickelte und im Regeldispositiv zum Durchbruch kam, entspricht dem linearen Zeitbewusstsein Rammstedts. Die Zukunft wurde aus der Vergangenheit abgeleitet, aber nicht mehr in ordnender, an diskontinuierlichen Ereignissen orientierter Weise, sondern messend, an Kausalitäten orientiert. Es bestand weiterhin ein sinnhaftes, transzendent begründetes Ganzes. Aber aus dem die Ereignisse verursachenden Gott war nun endgültig der Begründer und Bewahrer immanenter Gesetzmäßigkeiten geworden. Die Zeitwahrnehmung war nicht mehr an einem Ideal orientiert, sondern an der gegenwärtigen Unvollkommenheit. Die daraus folgende Unsicherheit wurde nicht mehr in Sicherheit zu transformieren versucht, sondern als Unsicherheit bewältigt. Gefahren werden in Risiken transformiert. Dies provozierte die Entstehung des Regeldispositivs, das sich nicht mehr wie das Exorzismusdispositiv im Ermöglichen von Handlungsspielraum erschöpfte, sondern diesen durch Berechnung begrenzte und handhabbar machte.

4. Das Geschwür und die Willensfreiheit Während der Christ sich durch seinen Geist über die Naturgesetze erheben könne,252 war der »unbekehrte Naturmensch« für Häglsperger 1826 den Naturgesetzen unterworfen. Er war für ihn »ein bloßer Mechanismus, ein bloßes Maschinenwerk, das nur vom Geiste der Welt sich bewegen läßt«.253 Auch für den Katholik war der Mensch ohne Christentum 1852 ein Tier: Nehmet dem Armen aus dem Volke seinen Glauben, der ihn aufrecht hält in seinem lebenslangen Elend, raubt ihm die ewigen Grundsätze seines sittlichen Lebens, und ihr habt die letzten Reste der Menschlichkeit in ihm zerstört, ihr habt ihn verthiert und seine wilden Leidenschaften, all’ seine unbändigen Begierden, die in der Brust schliefen, aufgestachelt. Wer kann ermessen, wessen diese Furien der Leidenschaft fähig sind, gänzlich entfesselt, ohne anderen Zaum und Zügel als vielleicht die Schärfe des Schwertes, das sie nicht achten, nicht fürchten, das sie in einem unbewachten Augenblicke dem Sieger zu entwinden verstehen?254

Dabei wurde der Seele eine Wirkung auf den Körper zugeschrieben. Für das »Geistliche Conversations-Lexicon« war jede körperliche Krankheit 1839 noch 252 Häglsperger: Wiedererhöhung I 187 f. 253 Ebd. 233. 254 Briefe eines Deutschen aus Paris. In: Der Katholik 5 (1852) 433–451, hier 433.

358  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  eine Folge seelischer Störungen.255 Auch für Ketteler war die Seele 1864 der Sitz aller körperlichen Krankheiten.256 Stöckl war 1869 davon überzeugt, dass sich die Qualität der Psyche im Physischen zeige: In demselben Maße, als die sittliche Vollkommenheit oder die intellectuelle Bildung eines Menschen fortschreitet, veredeln sich auch seine Gesichtszüge; der Ausdruck wird gehaltvoller, der Blick vergeistigt sich. Ist dagegen das Innere eines Menschen durch wilde Leidenschaften zerrüttet, so hat diese sittliche Verwilderung auch eine Verwilderung desselben in seiner äußeren Erscheinung zur Folge; im Gesichte treten Schlaffheit, Abspannung oder Rohheit zu Tage; der Blick wird geistlos, unstet und wild […].

Denn die Seele stehe zum Leib in einer »analogen Beziehung« wie die Idee zum Stoff: »Wie daher die Idee, wenn sie in den Stoff eingeführt wird, durch denselben zur Offenbarung kommt und so zu sagen sichtbar wird, so muß auch die Seele in der Leiblichkeit und durch dieselbe zur äußeren Erscheinung hervortreten.« Dies mache den Leib zum »Spiegel der Seele«.257 Die klare cartesianische Unterscheidung zwischen den kausalen Notwendigkeiten der Natur und der moralischen Freiheit des Geistes258 existierte in der katholischen Moraltheologie nicht. Natur und Geist waren nach katholischer Auffassung im Menschen verbunden.259 Das Verhältnis zwischen Körper und Seele konnte sich deshalb aber auch umkehren. Plaßmann wies 1860 darauf hin, »welche Macht die seelischen Fähigkeiten, Tugenden, Leidenschaften, Triebe u. s. w. auf den Körper ausüben, und hinwieder, welche fürchterlich ernste, tyrannische, ja satanische Macht die entfesselte Materie des Körpers auf die unsterbliche Seele ausüben kann, wenn diese sich vergessen hat!«260 Vor allem unter dem Einfluss der neuscholastischen Objektivierungstendenz sollte sich dann die Annahme von der Beeinflussung der Seele durch den Körper, die vormoderne Art psychische Krankheiten somatisch zu erklären,261 durchsetzen. So sehr die deterministischen Entwürfe der somatischen Psychologen von der neuscholastischen Rechtsphilosophie abgelehnt wurden, stimmte sie mit ihnen in der Annahme von somatischen Ursachen für psychische Krankheiten überein.262 Während Minois die Somatisierung der Melancholie ihm Rahmen des neuzeitlichen Suiziddiskurses nicht nur als Entpönalisierung, sondern auch als Entsakralisierung wertet, da der Selbstmörder dadurch zum Kranken geworden und sowohl Justiz als auch Kir 255 Silbert: Conversations-Lexicon I 418–420. 256 Ketteler: Arbeiterfrage 460. 257 Stöckl: Lehrbuch I 191–193. 258 Vgl. Toulmin: Kosmopolis 178–190. 259 Linsenmann: Lehrbuch 134. 260 Plaßmann: Vorhallen 154. 261 Vgl. Watzka: Hospital 171 f. 262 Vgl. dazu Kovács / Roth: Ricker 114.

Das Geschwür und die Willensfreiheit  359

che entwunden worden sei,263 forderte die Moraltheologie selbst die Suche nach somatischen Ursachen für psychische Erkrankungen und förderte dadurch selbst die Entpönalisierung, aber keinesfalls handelte es sich dabei um Säkularisierung. Im Jahr 1838 verlangte der Pfarrer im niederbayerischen Martinsbuch die Obduktion einer Leiche, die der Amtsarzt verweigert hatte, da es sich für diesen eindeutig um eine Selbsttötung handelte. Der Pfarrer hoffte allerdings, durch eine Obduktion somatische Anzeichen von Melancholie zu finden. Denn diese galt als Geisteskrankheit und ermöglichte trotz der Selbsttötung eine kirchliche Beerdigung.264 An dieser war der Pfarrer interessiert, wohl um Unruhe in seiner Pfarrgemeinde zu vermeiden. Jedenfalls wurde er von der Obduktion nicht enttäuscht. Nach der Öffnung von Schädeldecke, Brusthöhle und Bauch kam der Arzt zu dem Ergebnis, aus den pathologischen Veränderungen, serösen Ansammlungen zwischen den Gehirnhäuten und in dem Herzbeutel, den hydatiösen Anhäufungen in den Seitenventrikeln des Gehirns […] sowie aus der krankhaften Beschaffenheit der Leber, Galle und Nierenkehlchen darf wohl mit ziemlicher Bestimmtheit geschlossen werden, daß dieselben die schon längere Zeit bei dem nun Abgelebten bemerkte Geisteszerrüttung, die sich nach der Aussage seiner Familie und derjenigen, welche ihn zu beobachten Gelegenheit hatten, als schwermüthiger Wahnsinn äußerte, bedingten, denselben bald mehr bald weniger der Selbstbestimmung unfähig machten, ihn daher außer Stand setzten, sich gegen den Trieb seiner krankhaften Sinnlichkeit zu Handlungen zu bestimmen.265

Wohlgemerkt war es der Priester, der dieses Ergebnis haben wollte, nicht der Arzt. Stöckl vertrat in seinem Philosophielehrbuch 1869 einen somatischen Standpunkt.266 Der Prüller Irrenhaus-Kurat Familler zeigt sich in seiner PastoralPsychiatrie 1898 ebenso als Somatiker267 wie der Anstaltsgeistliche Weber im niederbayerischen Mainkofen in einer Schrift über »Zwangsgedanken und Zwangszustände in pastoral-psychiatrischer Beurteilung« aus dem Jahr 1903.268 »Störungen im Geistesleben« hatten nach Pruners Ansicht von 1901 immer eine physische Ursache.269 Der katholische Arzt Olfers behauptete in seiner 263 Minois: Geschichte (1996) 149–155 und 208–210; vgl. ferner Lind: Selbstmord 78–81. 264 Schreiben des Bischöflichen Ordinariats Regensburg an den Pfarrer von Martinsbuch vom 27.9.1838. BZAR , OA-Gen 3389. 265 Ärztliches Gutachten vom 28.9.1838. BZAR , OA-Gen 3389. – Als sich ein wohlhabender Bauer aus der Pfarrei Matting bei Regensburg 1847 umgebracht hatte, erbrachte die Obduktion ebenfalls, dass das Gehirn »Abnormitäten« aufwies, die Druck ausübten, das dem Suizidenten das »Denkvermögen« nahm (Schreiben des Pfarramts Matting an das Bischöfliche Ordinariat Regensburg vom 23.8.1847. BZAR , OA-Gen 3389). 266 Stöckl: Lehrbuch I 207 f. 267 Familler: Pastoral-Psychiatrie 4 f. 268 Weber: Zwangsgedanken 23. 269 Pruner: Pastoraltheologie II 276.

360  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Pastoralmedizin 1911 somatische Wirkungen auf die Psyche.270 Der Wiener Anstaltsgeistliche Schön machte 1873 deutlich, dass es dabei um die Willensfreiheit ging, »denn der Geist als solcher (Vernunft und freier Wille) kann nicht krank werden, wohl aber der mit ihm verbundene Leib, der das Werkzeug des Geistes ausmacht, einem musikalischen Instrumente ähnlich, das verstimmt ist«.271 Die Seele konnte nach katholischer Auffassung nicht erkranken, wie Schuech in der zehnten 1896 erschienenen Auflage seines Pastoraltheologischen Handbuches deutlich machte. Psychische Störungen gründeten deshalb immer in einer »Disharmonie zwischen der Seele und dem Nervensystem«, in der »krankhaften Affection des sensitiven Organismus«.272 Der Moraltheologe Huber fasste die katholische Anschauung 1904 zusammen: »Der Geist als solcher kann nicht erkranken; seine Fähigkeiten sind ebenso unverletzbar wie seine immaterielle Substanz.« Jede Seelenkrankheit sei »somit ein Mitleiden der Seele mit dem erkrankten Gehirn und hat ihren Grund in irgend einer krankhaften, abnormen Texturveränderung desselben, in Atrophie der Gehirnwindungen, in Verdickung oder Entzündung der zarten Hirnhäute u. a. m.« Dabei formulierte er im ausdrücklichen Anschluss an Thomas von Aquin: Die krankhaften Zustände im Gehirne bringen den Vorstellungsablauf in Unordnung, indem sie denselben hemmen oder beschleunigen, und zwar in einer Weise, welche die Kontrolle der Vernunft und die Herrschaft des Willens über die Vorstellungen ganz oder fast ganz unmöglich macht. Da aber letztere die Grundlage sind für die höheren Geistestätigkeiten, so muss eine Störung oder Fälschung der Vorstellungen notwendig auch zu falschen, ›verrückten‹ Schlüssen oder Urteilen führen.273

Deterministische Psychologie und voluntaristische Theologie der Neuscholastik trafen sich von völlig entgegengesetzten Positionen ausgehend im selben Punkt, in der Suche nach somatischen Ursachen psychischer Störungen, was wiederum ein Einfallstor für deterministische Entwürfe in der Theologie darstellte. Der den Naturgesetzen unterliegende Körper beschränkte nach Ansicht des Zentrumsabgeordneten und Arztes Stöhr von 1887 die Willensfreiheit: Die Freiheit des Willens ist hier nach mancher Seite hin um ein bedeutendes eingeengt. Der Körper des Menschen trägt unmittelbar nach seiner Geburt schon einen individuellen Stempel, den er mehr oder weniger scharf ausgeprägt durch alle Wechselfälle seines ganzen zukünftigen Lebens trägt und der durch alle Sorge und Umsicht nicht wieder verwischt werden kann.274

270 Olfers: Pastoralmedizin 2. 271 Schön: Briefe 8 f. 272 Schuech: Handbuch 997 f. 273 Huber: Hemmnisse 22 f. 274 Stöhr: Handbuch 27.

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Der Freiheit des Willens war also auch im gesunden Zustand durch den Körper Grenzen gesetzt, wie Moritz Meschler in den »Stimmen aus Maria Laach« 1907 ausführte: »Der Leib ist es, der natürlicherweise durch die Sinne der Seele Eindrücke, Wahrnehmungen zuführt, vermittelst deren sie Vorstellungen gewinnt, sie zu Gedanken und Urteilen verarbeitet und durch sie auf den Willen und die niederen Vermögen wirkt.« Körperliche Gesundheit sei die natürliche Vorbedingung für energische geistige Betätigung. Überanstrengung, Schwächung, Krankheit und Verfall der leiblichen Organe wird die Seelentätigkeit erschweren und, wo es sich um Nerven und Gehirn handelt, dieselbe sogar ertöten können. Was den Leib stärkt und schädigt, hebt und stört auch das Seelenleben.275

Dem freien Willen waren durch die Naturgesetze Grenzen gesetzt, aber er wurde nicht aufgehoben, wie der der Jesuit Beßmer 1904 deutlich machte: »Mit der Einsicht einer physiologischen Begründung eines anormal gesteigerten oder perversen Triebes ist keineswegs gesagt, der Patient müsse sich demselben hingeben; es sei physiologisch notwendig.« Mit »energischem Willen« könne der Mensch »auch noch so tief physiologisch begründeten Trieben« wiederstehen. So könne der Mensch durch Enthaltsamkeit dem Geschlechtstrieb widerstehen.276 Auf der Grundlage der Somatisierung psychischer Störungen konnte Schön 1873 dann ihre Vererbung behaupten. Im Gehirn liege »der angeborne Keim zum Irrsinn«.277 Vererbung psychischer Defekte war nach katholischer Ansicht nur unter der Voraussetzung somatischer Ursachen möglich, wie der Jesuit Beßmer 1906 ausführte: Es ist klar, daß für denjenigen, welcher auf Grund philosophischer Analyse des Denkens und Wollens die Seele als eine geistige Substanz und als unmittelbares Werk der Schöpferhand Gottes ansehen muß, von einer direkten Vererbung geistiger Eigenschaften nicht die Rede sein kann. Die Seele wird geschaffen, nicht gezeugt. Von einer Vererbung kann man bloß insofern sprechen, als körperliche Eigenschaften von den Eltern auf das Kind sich fortpflanzen.278

Dabei betonte Beßmer, »daß Anlage noch keine Krankheit ist, daß Gefahren zwar drohen, aber daß er [der Mensch] sie bestehen kann. Wird das Betonen von Degenerationszeichen hier helfen? Das darf man mit Grund bezweifeln.«279 Huber fasste den moraltheologischen Standpunkt zur Willensfreiheit, wie er sich im Regeldispositiv entwickelt hatte, in einer Schrift, die auf seine Dissertation zurückging, 1904 zusammen. Er wandte sich gegen die »›Modernen‹, welche 275 Meschler: Erziehung 534. 276 Beßmer: Störungen 62. 277 Schön: Briefe 11. 278 Beßmer: Grundlagen 154. 279 Ebd. 160.

362  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  fast durchweg die Willensfreiheit leugnen und dieselbe als einen unphilosophischen, von der Theologie eingeschmuggelten Begriff verunglimpfen«.280 Deterministische Anschauungen lehnte er ab, weil sie die Willensfreiheit negieren und es deshalb keine Verantwortlichkeit gebe.281 Die Lehre der Kirche bestehe darin, »dass der Mensch einerseits in seinem Tun und Lassen im allgemeinen frei ist von äusserem Zwang und innerer Nötigung, dass es also in seiner Macht liegt, zu handeln oder nicht zu handeln, so oder anders zu handeln«. Dabei war er sich im Klaren darüber, dass der Mensch in seinen Entscheidungen nicht absolut frei sei, sondern von den verschiedenartigsten Verhältnissen leiblicher und geistiger Natur abhängt, dass er ferner auch in seinen freien Handlungen sich bestimmen lässt durch Motive, ja dass es ein rein willkürliches, völlig motivloses Handeln, das noch auf Vernünftigkeit Anspruch machen will, gar nicht gibt.282

Die richtige Auffassung sei deshalb diejenige, welche einerseits »festhält an der Freiheit des Willens, andererseits aber auch die Beschränktheit und Abhängigkeit desselben von den Motiven anerkennt«. Denn »wir handeln, wenn wir mit Bewusstsein handeln, immer nach Motiven; diese regen den Willen an zum Handeln und bestimmen denselben in gewisser Beziehung, nicht mit physischem, aber oft genug mit moralischem Zwang«. Deshalb sei die Willensfreiheit »graduell verschieden«, sie ist »ganz individueller Natur«, sie sei »in jedem Menschen durch dessen körperliche Beschaffenheit, durch Erziehung, Gewöhnung, Charakter usw. individuell gestaltet«. Hinzu kommen »soziale Hemmnisse, die ihren Grund haben in den religiösen und sittlichen Anschauungen der Umgebung, in wirtschaftlichen, politischen, sozialen Verhältnissen usw.«283 Die Bereitschaft zur Akzeptanz natürlicher Beschränkungen der Willensfreiheit bereitete also den Boden für die Annahme sozialer Beschränkungen. Dabei besaßen diese für Huber einen noch größeren Einfluss auf die Willensfreiheit als die natürlichen Anlagen: Noch mehr als durch die leiblich-geistige Beschaffenheit eines Menschen ist die Moralität desselben bedingt durch die sozialen Faktoren. Übrigens sind ja durch die letzteren auch die individuellen Zuständlichkeiten, das ganze physisch-psychische Gepräge eines Menschen mitbedingt und mitverursacht.284

280 Huber: Hemmnisse IV. 281 Ebd. 1. 282 Ebd. 3 f. 283 Ebd. 7 f. 284 Ebd. 200 formuliert weiter: »Mit Recht wird darum von den Kriminalpsychologen immer wieder betont, welch grossen Einfluss die sozialen Verhältnisse auf die Kriminalität ausüben.«

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Deshalb behauptete Huber, dass ein durch natürliche und soziale Umstände »gründlich verdorbener Mensch« im Gebrauch »seiner Willensfreiheit hinsichtlich eines tugendhaften Lebenswandels sehr gehemmt ist und darum auch für seine Unsittlichkeit lange nicht im vollen Umfang verantwortlich gemacht werden« könne.285 Die Schuld sei »um so grösser oder geringer, je günstiger oder ungünstiger die äusseren religiösen Verhältnisse sind, in denen der betreffende Sünder sich befindet«.286 Mangelndes Erkenntnisvermögen als »fundamentales Hemmnis der Willensfreiheit« und damit der Zurechnungsfähigkeit sei nicht auf die »Kinder, Irrsinnigen und Blödsinnigen« beschränkt, sondern erstrecke sich auch auf die Ungebildeten und schlecht Erzogenen.287 Denn Huber wusste, »dass der Durchschnitt der Gewohnheitsverbrecher unter dem mittleren geistigen Niveau der Menschheit im allgemeinen steht«.288 Neben der voluntaristischen Frage nach der Schuld entstand aus der Beobachtung des Körpers also die Frage nach dem Normalen. Als Cathrein die Willensfreiheit 1905 verteidigte, berief er sich auf die »allgemeine und althergebrachte Volksüberzeugung«, auf das »Rechtsgefühl des Volkes«, das auf »Schuld, Verantwortlichkeit, Strafe« basiere.289 Darunter verstand er aber »das allgemeine Bewußtsein aller normalen Menschen, wie es sich im täglichen Leben durch Worte und Taten kundgibt«.290 Gerade weil er sich an der Frage nach dem Normalen orientierte, gelangte er zur Akzeptanz der Abschreckung als wenigstens untergeordnetem Strafzweck. Er stellte sich die Frage: »Welche Strafe ist unter den gegenwärtig vorliegenden Verhältnissen, Anschauungen und Neigungen notwendig und ausreichend, um ein bestimmtes Verbrechen durchschnittlich wirksam zu verhindern?«291 Der Strafanstaltsgeistliche Krauß beklagte 1905 die Wirkungslosigkeit der Strafen, was sich an den steigenden Rückfallquoten zeige. Im Jahr 1882 seien 24 Prozent Rückfällige bestraft worden, 1898 dagegen bereits 41,3 Prozent.292 Deshalb setzte er auf Prophylaxe, darunter verstand er die »moralische Volks-Gesundheitspflege, die soziale Hygiene, welche an Wert und Bedeutung der Pathologie und Therapie weit voransteht«. Sie habe das Verbrechertum »ätiologisch« zu betrachten, »die Ursachen seiner Entstehung zu erforschen, seine tiefsten Wurzeln bloßzulegen, damit hier mit den nötigen Kampf-, Schutz- und Heilmitteln eingegriffen werde«.293 Dabei erschien ihm die 285 Ebd. 150. 286 Ebd. 161. 287 Ebd. 334: »Warum sind die Kinder, Irrsinnigen und Blödsinnigen unfrei? Weil ihnen die Einsicht fehlt. Warum werden viele Menschen zu Verbrechern? Weil es ihnen an genügender Erziehung, an religiös-sittlicher Belehrung, d. h. an richtiger Einsicht mangelt.« 288 Ebd. 199 f. 289 Cathrein: Grundbegriffe 15 f. 290 Ebd. 58. 291 Ebd. 131. 292 Krauß: Kampf 5 f. 293 Ebd. 8.

364  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Erziehung als wichtigste Prophylaxe,294 während er den materiellen Ursachen von Kriminalität nur eingeschränkte Bedeutung zuwies.295 Zunehmend wurde die Schuld also auch in der neuscholastischen Rechtsphilosophie durch das Normale bedrängt und damit Strafe durch Prophylaxe. Bei der Frage nach der Schuld geht es um Strafe, bei der Frage nach dem Normalen um Normalisierung, und zwar entweder durch Heilung oder durch Absonderung von den Normalen. Foucault spricht von der »Ersetzung des rechtlich verantwortlichen Individuums durch ein der Normalisierungstechnik entsprechendes Element«, und dies geschah durch das psychiatrische Gutachten.296 Das Auftreten des Normalen in der neuscholastischen Rechtsphilosophie und Moraltheologie führte dazu, dass die Statistik auf immer größere Akzeptanz stieß. Ketteler misstraute der Kriminalstatistik 1849 noch.297 Der katholische Historiker Bernhard Werneke betrachtete das Bestreben der Moralstatistik, die menschlichen Handlungen »einem allgemeinen Naturgesetze zu unterwerfen«, 1868 als Angriff auf die Freiheit des Willens und damit auf das Christentum. Denn »wenn alles nach einer unabänderlichen Nothwendigkeit geschieht, wie kann dann noch von Sünde und Gnade, von Erlösung und Heiligung die Rede sein!«298 Er hielt am Dual von Schuld und Strafe grundsätzlich fest, auch wenn er bereits vorsichtig einen Einfluss der »gesellschaftlichen, sittlichen, religiösen, wirthschaftlichen und intellectuellen Verhältnisse, unter denen der Einzelne lebt«, auf die menschlichen Handlungen zugestand.299 Dabei vermutete er, »daß die Moralstatistik hauptsächlich dadurch zu freiheitsfeindlichen Behauptungen geführt hat, daß man eben jene oft genannten Handlungen vorzugsweise ins Auge faßte, die ihrer Natur nach wesentlich dem Druck der äußern Verhältnisse unterworfen sind«.300 Er verwarf also nicht mehr die Moralstatistik an sich, sondern warf ihr nur verkehrte Methoden vor. Dies tat auch Huber, der sich 1904 bewusst war, dass die Moralstatistik die Freiheit des Willens bestritt. Denn sie behaupte, dass auch auf geistig-ethischem Gebiete, gerade so wie in der physischen Welt, strenge Gesetzmässigkeit und Naturzwang herrsche, dass also die von der Statistik registrierten, scheinbar freien Handlungen nicht frei, sondern notwendig, d. h. nichts anderes 294 Ebd. 69–73. 295 Ebd. 145–149. 296 Foucault: Anormalen 45 f. 297 Ketteler: Fragen 39: »[…]wo die genauesten statistischen Ermittlungen in Frankreich und Deutschland es herausgestellt haben, daß weder das Maaß der Geistesbildung noch das Maß des Wohlstandes irgend einen Einfluß auf die Zahl der Verbrechen üben, die in einem Lande begangen werden. Doch wozu solche Beweise, da die tägliche Erfahrung deutlicher redet wie alle statistischen Tabellen.« 298 Werneke: Statistik 4. 299 Ebd. 25. 300 Ebd. 28.

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seien als die Wirkungen äusserer Verhältnisse und physischer Weltgesetze. Dieser mit Hilfe der Induktionsmethode zustande gekommene Schluss wird dann ohne weiteres auf die noch nicht kontrollierten und nicht kontrollierbaren Tätigkeiten des Menschen ausgedehnt und allgemein behauptet, die Willensfreiheit sei nur eine Illusion.

Huber wollte zwar zugeben, dass die Menschen unter gleichen Verhältnissen gleich handeln, nicht aber, dass sie notwendigerweise gleich handeln müssen und warf der Moralstatistik methodische Fehler vor: »Es ist leicht erklärlich, dass bei Massenbeobachtungen, die einen grossen Zeitraum umspannen, eine gewisse Regelmässigkeit herauskommt; sobald man aber ins einzelne geht und die Sache genau nimmt, stellt sich eine deutliche Unregelmässigkeit heraus.«301 Dabei sah er durchaus die Verdienste der Moralstatistik: Sie lehrt, wie sehr es not tut, den Menschen nicht in seiner Vereinzelung, sondern im engen Anschluss an seine Umgebung zu beurteilen; sie lehrt, dass der einzelne nicht immer allein schuld ist an seiner Immoralität, dass er vielmehr oft durch die ungünstigen sozialen Faktoren sittlich korrumpiert und zu einzelnen verbrecherischen Handlungen getrieben wird.

Sie zeige, »dass die menschliche Willensfreiheit durchaus keine reine Willkür ist, dass der Wille vielmehr regelmässig das Leichtere, Angenehmere, Anziehendere wählt, dass er also jeweils durch das ihn am meisten beeinflussende Motiv in etwa determiniert wird«.302 Freiheit, so Schneid 1892, sei nicht »blindes, willkürliches Handeln«. Deshalb stehe die Willensfreiheit »nicht im Widerspruch mit jeder Gesetzmäßigkeit«. So habe auch die »Willenskraft ihre Gesetze«. Die Willensfreiheit »verlangt und verträgt sich mit einem gewissen gesetzmäßigen, geordneten Handeln«. Wer seine »Neigungen und Naturanlagen« nicht beherrschen könne, werde ihnen freiwillig folgen »und so jene Gesetzmässigkeit erzeugen, auf welche die Statistik pocht. Sind viele Menschen vereint, welche gleichen Neigungen, Gewohnheiten und Grundsätzen folgen, so wird sich bei der Vielheit dieses statistische Gesetz offenbaren.«303 Die katholische Behandlung von Zwang und Wille war Ausdruck des zeitgenössischen Suchens nach deren richtigem Verhältnis und unterschied sich nur mehr graduell von derjenigen Durkheims.304 Die Moralstatistik machte die Kriminalität als Massenphänomen erkennbar. Diese wurde durch die Moralstatistik quantifizierbar, trat mit anderen gesellschaftlichen Faktoren in Wechselbeziehung und konnte durch politische Entscheidungen beeinflusst werden. Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Faktoren wurden als Gesetzmäßigkeiten aufgrund von mathematischer 301 Huber: Hemmnisse 182 f. 302 Ebd. 184. 303 Schneid: Metaphysik 311. 304 Vgl. dazu Durkheim: suicide.

366  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Wahrscheinlichkeit beschrieben. Der behauptete Zusammenhang von Not und Kriminalität wurde deshalb zu einem Faktum, das außerhalb individueller Verantwortung lag. Deshalb rückten Gewohnheitsverbrecher in den Mittelpunkt des Interesses. Es ging nicht mehr um die Tat, sondern um den Täter – als Massenphänomen.305 Wenn die neuscholastische Rechtsphilosophie und Moraltheologie die Beeinflussbarkeit des Willens durch natürliche und soziale Gesetzmäßigkeiten insgesamt geringer einschätzte als die Moralstatistik, so hatte sie sich doch mittlerweile auch von den Umständen der Tat ab- und den Umständen des Täters zugewandt – wobei der Weg dorthin sogar kürzer war als derjenige des Strafrechts.306 Die neuscholastische Tendenz zur Verobjektivierung kam dieser Entwicklung entgegen. Linsenmann behauptete deshalb bereits 1878, dass die deterministische Forderung nach Ersetzung der Strafe durch die Sozialpolitik, die die Gesellschaft als Ganzes für die Sittlichkeit ihrer Glieder verantwortlich macht, mit der Erbsündenlehre übereinstimme, »wornach jeder Einzelne die Schuld des Geschlechtes als Erbsünde mit ihren Folgen trägt«.307 Dabei machte er die Moralstatistik nach Quételet 1878 zum Gottesbeweis. Da »gleiche Ursachen gleiche Wirkungen« haben, wiederholen sich »gewisse menschliche Handlungen ungefähr in gleicher Zahl und Weise«, was einen statistischen Vergleich menschlicher Handlungen möglich mache. Diese statistische Beobachtung werde zwar in den »Dienst des Materialismus« gestellt, um zu beweisen, dass die menschlichen Handlungen ethisch nicht frei sind, da die Regelmäßigkeit auf ein Naturgesetz schließen lasse. Tatsächlich aber zeige sich in der statistischen Beobachtung, »daß unter gleichen Verhältnissen die Menschen ungefähr gleich denken, berechnen, fühlen, wollen; daß in gewissen Zuständen bei weitem für die Mehrzahl die gleichen Versuchungen und sittlichen Gefahren liegen« – also ein »rationeller, nicht ein blind wirkender Naturzusammenhang«.308 War es im Exorzismusdispositiv darum gegangen, soziale Gefahren in Risiken umzuwandeln, um die Willensfreiheit zu gewährleisten, so entstand daraus eine Dynamik, die die Frage nach natürlicher und sozialer Regelhaftigkeit immer sichtbarer neben die Frage nach der Willensfreiheit treten ließ. Dabei wurde die Willensfreiheit durch die statistisch gewonnene Einsicht in natürliche und soziale Regelmäßigkeiten immer mehr bedrängt. Das Exorzismusdispositiv 305 Zum Zusammenhang zwischen Moral- bzw. Kriminalstatistik und Sozialpolitik vgl. Fleiter: Kalkulation 172–183; Habermas: Diebe 123–125; Zwierlein: Sicherheit 382 f. 306 Deshalb ist es bezeichnend, dass Familler (Frage 802) seine Ablehnung der Moralstatistik 1915 damit begründete, dass diese die Person des Täters im Gegensatz zur katholischen Moraltheologie ungenügend berücksichtige. Er forderte deshalb: »Richtiger werden wir im Gegenteil vorgehen, wenn wir jeden Einzelfall von Selbstmord für sich untersuchen nach der Persönlichkeit und deren Verhältnissen, denn eine Verallgemeinerung der Gründe für oder gegen den Selbstmord muß auf Irrwege führen.« 307 Linsenmann: Lehrbuch 50. 308 Ebd. 49.

Das Geschwür und die Willensfreiheit  367

wollte die sozialen Strukturen ändern, um das Leben riskant zu machen, das Regeldispositiv berechnete das Risiko. Dabei ging es zunehmend nicht um die Frage nach Schuld, sondern um die Frage nach dem Normalen. Es handelte sich hier um eine Entpönalisierung, die in der Juridifizierung der Theologie durch die Neuscholastik wurzelt. Darauf wiederum gründet sich die Entdeckung physischer und sozialer Gesetze. Vom Vorhandensein eines Naturrechts wurde auf das Vorhandensein natürlicher – physischer und sozialer – Gesetzmäßigkeiten geschlossen. Dies zeigt bereits Taparellis Naturrechtslehrbuch von 1845. Auch in der »freiwilligen Gesellschaft« könne der Mensch »nicht dem sanften Joche jenes abstrakten Geselligkeitsgesetzes entfliehen«. Es folge ihm »immer und überall«. Er sei aber »frei bei der Bestimmung der eigenen Beziehungen zu diesen oder jenen Individuen, zu diesem oder jenem Lande«. Obwohl er also »rechtlich frei« sei, werde er »doch immer gewissen nothwendigen psychologischen Gesetzen unterworfen sein, aus denen sich dann moralische Associationsgesetze für ihn bilden; denn die Freiheit des Rechts unterdrückt in ihm nicht das Gefühl gewisser physischer und moralischer Tendenzen«. Der Mensch habe über die materielle Welt kein absolutes Dominium; seine ganze Macht beschränkt sich darauf, daß er die materiellen Substanzen in solche Verhältnisse bringt, in denen sie nothwendig die von ihm gewünschte Wirkung hervorbringen. Viele physische Gesetze können also dazu beitragen, den menschlichen Willen in diesem zweiten Falle zur Gesellschaft zu bewegen, ja auch kraft einer Beziehung zum Zwecke ihn zu nöthigen.309

Wie sehr sich die Beschränkung der Willensfreiheit durch soziale Gesetzmäßigkeiten in der neuscholastischen Rechtsphilosophie etabliert hatte, zeigte sich daran, dass die Willensfreiheit im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft 1892 in dem von Bruder verfassten Lemma »Gesellschaft« unter dem Stichpunkt »Sociale Gesetze« behandelt wurde. Der Körper des Menschen sei den Naturgesetzen unterworfen, nicht jedoch der Geist. Sobald der Mensch »als Gesellschaftsindividuum, als ein Factor der beobachteten Erscheinung mitwirkt, sobald ein auf Sachgüter gerichteter Verkehr vorliegt, versagen die Naturgesetze«. Dann herrschten aber »Freiheitsgesetze, die sich an die innere Gesinnung durch die Vernunft wenden, die also nur mittelbar auf das Thun der freien Person einwirken«. Darüber hinaus gebe es »gesellschaftliche Gesetze«. Darunter verstand Bruder Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Berufe und Stellungen im Berufe, der Nationalitäten, die verschiedenen Staats- und Verwaltungstypen, die geschichtlich vorgekommenen Wechsel der Staatsformen, die gewöhnlichen Folgen mißbrauchter Staatsgewalt, der regelmäßige Zusammenhang von Centralisation und Großstadtbildung, die Folgen von Kolonialbesitz, die Regelmäßigkeit der Verbrechen u. dgl.

309 Taparelli: Versuch 288.

368  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Das Handeln »der in socialer Gemeinschaft lebenden Menschen« sei deshalb »Regelmäßigkeiten« unterworfen, die allerdings wegen der Willensfreiheit keine »absolute Wirkung« besäßen. Das meine, »daß gewisse (insbesondere in großer Zahl und Massenhaftigkeit auftretende) gleichartige Kräfte unter bestimmten Voraussetzungen in der Regel gleiche oder gleichartige Wirkungen hervorzubringen streben und solche in der Regel hervorbringen«. Deshalb ließen sich Formen von typischer Bedeutung erkennen und in den Veränderungen dieser Formen typische Regelmäßigkeiten, so daß man allerdings unter Anwendung einer gewissen Vorsicht zugeben kann, daß das staatliche und gesellschaftliche Leben selbst wieder einer gesetzmäßig verlaufenden ›Entwicklung‹ unterliege.310

Dafür fand Göpfert 1897 einen thomistischen bzw. naturrechtlichen Beweis. Das Streben nach Glückseligkeit sei für Thomas von Aquin nicht der Willensfreiheit unterworfen, sondern sei von Natur aus gegeben, während die Mittel zur Erreichung der Glückseligkeit dagegen der Willensfreiheit unterworfen seien.311 Die Akzeptanz einer natürlichen und sozialen Regelhaftigkeit bedeutet aber, dass sich die neuscholastische Rechtsphilosophie dem profanen Strafrecht annäherte. Dort hatte sich nämlich im Streit zwischen somatischen und soziologischen Deterministen einerseits eine Vereinigungstheorie durchgesetzt, die den Verbrecher als Produkt aus Anlage- und Umweltfaktoren betrachtete,312 andererseits entwickelte sich ein »relativer Indeterminismus«, wodurch der klassische Schuldbegriff relativiert wurde, aber grundsätzlich intakt blieb.313 Ein Beispiel für die katholische Theologie ist Linsenmann, der den Begriff der »Determination« bereits 1878 affirmativ verwandte: Die klimatischen Verhältnisse, von denen nicht nur die besondere Productivität der Länder, sondern auch körperliche Constitution und geistige Disposition der Einwohner theilweise abhängig sind, haben eben damit Einfluß auf Lebensweise, Sitte und Gesetzgebung eines Volkes, und in all’ diesem liegt für den Einzelnen eine Determination.314

Als determinierend nannte er noch weitere physische und soziale Faktoren.315 Die menschlichen Handlungen erschöpften sich aber nicht im natürlichen Trieb, sondern seien ethisch, denn: »Aus einem bloßen Geschlechtstrieb läßt sich das Wesen der monogamen Ehe und aus dem bloßen Geselligkeitstrieb die Organisation der Gesellschaft in Gesellschaftsgruppen, Corporationen, nicht be 310 Bruder: Gesellschaft 1214–1221. 311 Göpfert: Moraltheologie 102 f. 312 Vgl. dazu Galassi: Kriminologie 190–225. 313 Vgl. Mahlmann: Verwissenschaftlichung 13–17. 314 Linsenmann: Lehrbuch 40. 315 Ebd. 46–50.

Das Geschwür und die Willensfreiheit  369

greifen.«316 Deterministische Sicherheit war in der katholischen Moraltheologie außerhalb der sichtbaren Amtskirche nicht zu erreichen, nur und sehr wohl aber eine Begrenzung der Unsicherheit durch Gesetzmäßigkeiten, eine Transformation von Gefahr in Risiko. Eine zunehmende Akzeptanz biologischer Entwicklungstheorien war vor diesem Hintergrund die konsequente Folge. Während die »Theologisch-praktische Monats-Schrift« 1915 die Vorstellung von der Entwicklung der Seele als häretisch abwies, wurde die Behauptung, »der menschliche Leib sei das Produkt einer besonderen Reihe von niederen und höheren organischen und animalischen Entfaltungen in langen Zeiträumen« ausdrücklich als nicht häretisch bezeichnet, wenngleich sie »biblischen und naturwissenschaftlichen Schwierigkeiten« begegne. Denn sie »faßt das ›Bilden des Leibes aus der Erde‹ in einem weiteren Sinne auf. Eine derartige weitere Interpretation ist bei dem anthropomorphistischen Charakter des Schöpfungsberichtes nicht von vorneherein abzuweisen.«317 Die aristotelischen Postulate, wonach es keinen Übergang zwischen den Arten geben und aus Niederem nicht Höheres entstehen konnte, fielen.318 Die moraltheologisch motivierte Suche nach körperlichen Defekten führte zur Akzeptanz natürlicher und sozialer Gesetze, die die Immanenz – außerhalb der Kirche – zu einem kontinuierten, normalen und damit berechenbaren Risiko machten. So initiierten pathologische Anomalien an Leber, Galle und Gehirn die paradoxe Entwicklung von der caritativen Normativität des Gnadendispositivs in die juridische Normalität des Regeldispositivs319. Initiiert wurde dabei auch ein Wille zum Wissen, der den Willen zum Strafen im Exorzismusdispositiv zu verdrängen suchte.320 Die Entwicklung des katholischen Zeitbewusstseins von der diskontinuierlichen zyklischen Analogieprognose zur kontinuierlichen und linearen Tendenzprognose läuft damit parallel. Beide Entwicklungen drücken die Ersetzung diskontinuierlicher, d. h. voneinander bestimmt abgegrenzter, Ereignisse durch kontinuierliche mathematische Kausalitäten aus.

316 Ebd. 56. 317 Menzinger: Urgeschichte 250. – Die Evolution der Seele wurde von der katholischen Theologie im Unterschied zur Evolution des Leibes abgelehnt. Vgl. Dörpinghaus: Theorie 204. 318 Um 1900 war die Evolution von Flora und Fauna in der katholischen Theologie anerkannt, allerdings aufgrund der von Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) geprägten teleologischen Theorie der Artabwandlung und nicht in der von Charles Darwin (1809–1882) geprägten teleonomischen Deszendenztheorie. Vgl. dazu Artigas / Glick / Martínez: Darwin; Dörpinghaus: Theorie; Nickel: Monatsschrift 520–525; Unterburger: Brückenschläge. 319 Die Somatisierung von Geisteskrankheiten bringt nach Foucault die verschiedenen Formen von Norm zur Deckung, und zwar »die Norm als Verhaltensregel und als funktionale Regelhaftigkeit; die Norm, die sich der Regellosigkeit und der Unordnung widersetzt, und die Norm, die sich dem Pathologischen und Morbiden widersetzt.« Vgl. Foucault: Anormalen 212 f. 320 Für die zunehmende Ersetzung des Strafens durch den disziplinierenden »Willen zum Wissen« ist für Ders.: Wille 84–87 das Geständnis in der Beichte von zentraler Bedeutung.

370  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv 

5. Zufall und Risiko Die Mathematisierung des Rechts durch die Begriffsjurisprudenz bedeutete eine Betonung von Proportionalitäten. Im Strafrecht kam es zur so genannten »Strafarithmetik«.321 Diese wurde auch von der neuscholastischen Rechtsphilosophie angewandt. Stöckl behauptete 1869: Die Größe der Schuld bestimmt sich aber einerseits nach der höheren oder geringeren Stellung und Bedeutung des Rechtes, welches verletzt worden und andererseits nach dem Grade, in welchem es verletzt worden. Die Größe der Strafe dagegen bestimmt sich nach dem höheren oder geringeren Gute, dessen der Verbrecher beraubt wird, und nach dem Maße, in welchem er desselben beraubt wird.322

Lorinser postulierte 1880 »ein proportionelles Verhältniß zwischen Ursache und Wirkung«.323 Überhaupt bedeutete die Mathematisierung des Rechts eine starke Betonung der Kausalität. Zu den mathematischen Axiomen des Rechts zählte Cathrein 1901 den Grundsatz »des zureichenden Grundes«, d. h. »daß jede Wirkung ihre ausreichende Ursache haben muß, daß wir also aus jedem Werden auf eine Ursache zu schließen berechtigt sind«.324 Diese mathematische Kausalität gerann zum Gottesbeweis, wobei die Form über den Inhalt siegte. Der klerikale Ethnologe Wilhelm Schneider behauptete 1886, die Vernunft werde »aus eigenem Drange und mit innerer Notwendigkeit dahin getrieben, für die zahllosen Werke und Wirkungen in der sichtbaren Welt ein höheres Wesen als Ursache oder Urheber zu postulieren«. Verantwortlich sei der »spontane Trieb, das Kausalitätsbedürfnis zu befriedigen«. Die Furcht vor der erfahrenen Natur dafür verantwortlich zu machen, »heißt Bedingung mit Ursache zu verwechseln«.325 Auch Tilman Pesch machte die menschliche Vorstellung von Kausalität 1907 zum Gottesbeweis. Der Mensch sei »im Stande, an der Führung des Kausalitätsprinzips mit voller Sicherheit hinaufzusteigen zum letzten Urgrund aller Dinge, von welchem alles Sein und alle Ordnung in der Welt in letzter Instanz herrührt«. Denn wo jede passive Veränderung mit zwingender Notwendigkeit eine aktive Veränderung, wenn auch nicht der Zeitfolge nach, so doch sicher dem Wesen nach, voraussetzt, wird zweifelsohne ein Urwesen vorausgesetzt, welches ursprünglich verändert und verursacht, ohne selbst zuvor verursacht und verändert worden zu sein.326 321 Beispiele dafür finden sich bei Ders.: Überwachen 50, 57 und 120. 322 Stöckl: Lehrbuch II 447. 323 Lorinser: Physik 177. 324 Cathrein: Recht 13. 325 Schneider: Naturvölker II 393–395. 326 Pesch: Welträtsel I 18.

Zufall und Risiko  371

Dementsprechend wies der thomistische Psychologe Gutberlet 1903 die sensualistische Ansicht des schottischen Aufklärungsphilosophen David Hume zurück, wonach es keinen objektiven, sondern nur einen subjektiven Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung geben könne.327 Für die Neuscholastik konnte es nur einen objektiven und daher göttlichen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung geben. Im Kirchenlexikon schrieb Mattes 1854: »Inhalt und Form alles Geschehenden und Seienden haben stets einen bestimmten Grund und bilden geeignete, ergänzende, in allweg passende Momente eines Ganzen, wozu sie gehören.« Es »geschieht alles, was geschieht, weil und wie es bestimmt oder geordnet worden, ehe es existirte, weil und wie es als bloßer Gedanke, als Idee, Inhalt des göttlichen Bewußtseins gewesen«. Als Beweis galt ihm in erster Linie »die Regelmäßigkeit und Genauigkeit in der Bewegung der Gestirne, in dem Wechsel der Jahreszeiten«. Er stützte seine Beobachtung »auf die Gesetzlichkeit, die das Organische und Lebendige ebenso wie die anorganische Natur beherrscht, und die dabei überall zu Tage tretende Zweckmäßigkeit«. Schließlich stützte er sie auf den Gang der Geschichte, der in den zahllosen und scheinbar einander wirr durchkreuzenden Handlungen die Verwirklichung eines bestimmten einheitlichen Planes erblicken läßt, insbesondere auf die Schicksale der Guten wie der Bösen, welche immer zuletzt zeigen, daß Ein Wille das Ganze beherrsche und dieser eine Wille ewig unverletzt und unverändert bleibe.328

Während die natürlichen Gesetzmäßigkeiten zum Gottesbeweis wurden, konnte es in der Welt keinen Zufall geben. Der Zufall als sinnloses und zweckloses Ereignis, ohne die Absicht eines »über der Natur höher stehenden Geistes« war für Friedrich Wörter im selben »Kirchenlexikon« ein Skandal.329 Der Katholik erklärte die »Idee des blinden Zufalls« 1853 zum Säkularisat, indem er behauptete, dass er sich »überall da störend in das harmonische Bild einer in Allem von Gott bestimmten Welt eindrängen will, wo immer es unserer beschränkten Erkenntniß nicht gelingt, die ordnende Hand zu entdecken«.330 Albert Maria 327 Gutberlet: Kampf 51. 328 Mattes: Vorsehung 757–759. 329 Wörter: Zufall 1299. – Bei seiner Analyse des Vorsehungsdiskurses in der katholischen Theologie um 1900 kommt der Kirchenhistoriker Dominik Schindler zu dem Ergebnis, dass die göttliche Vorsehung sowohl Zufall als auch pure Naturnotwendigkeit zugunsten von »Kausalität« ausschloss. Vgl. dazu Schindler: Kairos 512–554. Dies ist insofern richtig, als Kausalität die katholische Begrifflichkeit für Sinn darstellte. Es gab weder absichtslosen Zufall noch absichtslose Naturnotwendigkeit, sondern nur die Absicht eines Schöpfers. 330 Die Behandlung der Naturwissenschaften in der Schule nach christlicher Auffassung. In: Der Katholik 8 (1853) 199–213 und 269–283, hier 206.  – Indem die Kirche, so Görres (Kirche, Staat und Cholera. Eine Betrachtung. Frankfurt am Main 1832. In: Ders.: Schriften der Münchner Zeit 406–424, hier 411 f.), »Alles [!], das Größte wie das Kleinste, der göttlichen Providenz unterordnet und nirgends einen Zufall anerkennt, erblickt sie eben deßwegen in

372  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Weiß machte 1892 deutlich, dass »das Gebiet des irdischen Lebens mit all seinen sinnlichen Gestaltungen nicht etwas Zufälliges oder Gleichgiltiges« sei.331 Gutberlet definierte Zufall 1903 als »Mangel jeder Ursache, jeden Grundes«.332 Die Annahme von Zufall erschien ihm deshalb als »Absurdität«,333 denn: »Wenn der Weltlauf ohne Intelligenz, also durch Zufall entstanden ist, kann ja von einem ›Sinn‹ desselben gar keine Rede sein.«334 Für Tilman Pesch bedeutete die göttliche Vorsehung 1907, dass Gott »alles und jedes bis ins kleinste hinein« vorausgeplant habe,335 was bedeutet, dass jedes noch so unbedeutend erscheinende Ereignis Sinn hat und einen Zweck erfüllt. Dabei war es die Absichtslosigkeit des Zufalls, den die katholischen Kritiker des Determinismus gegen diesen anführten. Mathias Schneid führte 1892 aus, dass sich »der Determinismus den Vorwurf des Zufalles und des Spielballes gefallen lassen« müsse, »weil sein Wille über die Motive keine Macht hat und der Determinist nie sagen kann, wie er handeln wird, weil er die Motive und die Umstände, die auf ihn wirken werden, nicht voraus weiss«.336 Während die Möglichkeit biologischer Evolution in der katholischen Theologie mittlerweile anerkannt war, war es die Rolle des Zufalls in der speziellen Deszendenztheorie Darwins, die für ihre Ablehnung sorgte. Der jesuitische Astronom Braun bewunderte 1889 die harmonische Ordnung der Natur, in der alles nach dem »Causalitäts-Princip verkettet« sei, während der Darwinismus die Herrschaft des Zufalls darstelle: »Der Darwinismus verlangt also mit Nothwendigkeit, daß alle abstracten Wahrheiten und Wissenschaften und die Gesetze des Denkens selbst als zufällig betrachtet werden, bedingt durch die zufälligen Lebens-Verhältnisse, in denen gegenwärtig die Menschheit sich findet.«337 Schneider behauptete 1896 die Ersetzung Gottes durch den Zufall in Darwins Deszendenztheorie: »Der Zufall, dem in Darwins Abstammungs- und Entwicklungslehre die Lösung der Haupträtsel vertrauensvoll zugewiesen wird, ist der Gott der Gedankenlosigkeit, der Denkschwäche, der Unvernunft.« Der Zufall »regelte das regellose Spiel der kreuz und quer durcheinander wirkenden Entwicklungskräfte«, er »gestaltete das Tier zur Maschine und zwang diese zur Selbstvervollkommnung«. Schließlich habe nach Darwin der Zufall den Menschen erschaffen: Ein hellsehender, machtvoller Zufall waltete über dem Menschenaffen vor, bei und nach dem Hinüberklettern über die Hürden der Tierwelt, bewahrte ihn vor Fehltritten jedem Heile und Segen, der über ihre Genossen kömmt, einen Ausfluß der liebenden Sorge dieser Vorsehung«. 331 Weiß: Frage 437. 332 Gutberlet: Kosmos 17. 333 Ders.: Kampf 195 f. 334 Ebd. 396 f. 335 Pesch: Welträtsel II 374. 336 Schneid: Metaphysik 313. 337 Braun: Kosmogonie 206–209.

Zufall und Risiko  373

und Purzelbäumen, z. B. vor verkehrten Kreuzungen, die einen Rückfall in die Tierheit würden zur Folge gehabt haben.

Der Darwinismus erschien ihm deshalb als »Anbetung des Zufalls«, als Aberglaube, der »in das rauschende Prunkgewand einer Wissenschaft gekleidet ist«.338 Wasmann kritisierte an der Deszendenztheorie 1904 die »völlig absichtslose ›Naturauslese‹«, durch die »die im Kampfe ums Dasein sich zufällig als besser existenzfähig erweisenden Varietäten erhalten bleiben und ihre Eigentümlichkeiten durch Vererbung immer mehr steigern, während die minder existenzfähigen Varietäten aussterben«.339 Evolution erschien ihm nur durch göttliche Lenkung möglich: »Wir müssen für die Existenz des ganzen Kosmos und seiner Entwicklungsgesetze einen persönlichen, allweisen und allmächtigen Schöpfer als erste außerweltliche Ursache annehmen.«340 Damit übereinstimmend bestand der Gottesbeweis für Gutberlet 1908 in der Komplexität der Schöpfung. Nur »eine sehr unvollkommene Ordnung kann wohl ohne eine besondere Ursache, also durch Zufall entstehen. Es ist um so dringender eine besondere anordnende Ursache erforderlich, je komplizierter die Ordnung ist.«341 Lorinser erkannte im Zufall 1878 ein Konzept der materialistischen Naturwissenschaft.342 Tatsächlich stellt der Zufall ein Kennzeichen der Neuzeit dar, worauf der Historiker Wolfgang Behringer hinweist. Er sieht in ihm eine »wichtige Ressource bei der Bewältigung von Unglück«, entstanden im neuzeitlichen Europa. Da er Entmoralisierung und Entpersonalisierung von Unglück ermögliche, sei er wesentlicher Bestandteil der Entzauberung der Welt.343 Dadurch wird der Zufall zum Säkularisat. Auch für Makropoulos stellt der Zufall das Ergebnis der Säkularisierung der Heilsgeschichte dar, indem er ihn im immanenten Möglichkeitsüberschuss der Moderne gründet.344 Das Fehlen des Zufalls wird damit zum Marker für die Antimodernität jeglicher Religion, in der es keinen Zufall geben kann. Das naturwissenschaftliche Dual von prognostizierbarer naturgesetzlicher Notwendigkeit und nicht prognostizierbarem Zufall entspricht aber in funktionaler Hinsicht dem katholischen Dual von göttlicher Vorsehung und freiem Willen, ohne freilich mit ihm kongruent zu sein. In diesem Dual hatte der Zufall ursprünglich sehr wohl seinen Platz. Bevor er im Regeldispositiv mit der göttlichen Vorsehung kontrastiert wurde, war er im Gnadendispositiv mit dieser identifiziert worden. 338 Schneider: Weltordnung 62 f. 339 Wasmann: Biologie 170. 340 Ebd. 186. 341 Gutberlet: Kosmos 245. 342 Nach Lorinser teilten die Materialisten alle Erscheinungen in »Zufall« oder »blinde Nothwendigkeit«. Vgl. Lorinser: Geographie 184 f. 343 Behringer: Konzept 459–461. Vgl. dazu auch Schlögl: Glaube (2013) 362 f. 344 Makropoulos: Krise 54 f.

374  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Für Bossuet hatte sich die göttliche Vorsehung im Zufall, der sich rationaler Planung entzieht, konkretisiert.345 DeMaistre hatte in seinen »Betrachtungen über Frankreich« 1796 den Zusammenhang zwischen göttlicher Vorsehung, Unberechenbarkeit und Zufall hergestellt, indem er behauptet hatte, Verfassungen seien entweder »unsichtbar gewachsen, und zwar durch Zusammentreffen einer Menge von Umständen, die wir zufällig nennen, oder sie haben manchmal einen einzigen Urheber gehabt, der wie ein Wunder erscheint und sich Gehorsam verschafft.« In beiden Fällen habe Gott »uns […] unsere Schwäche und das Recht gezeigt, dass er sich bei der Entstehung der Regierungen vorbehält«.346 Adam Müller warnte 1809 vor »übertriebenem Vertrauen in Vorkehrungs-, Erwerbs- oder Verteidigungsanstalten«, beklagte eine »zu ängstliche Sicherheitspflege«. Vielmehr müsse der Mensch den Zufall zulassen, obwohl er eine »Unregelmäßigkeit in meinen Kalkül« bringt, da er dadurch »an allgemeiner und ewiger Richtigkeit gewinnt, was er an abgesonderter, augenblicklicher Präzision verliert«.347 Görres führte 1830 aus, dass sich in der Weltgeschichte drei »Reiche« durchdrangen, und zwar »das Reich Gottes in seinem heiligen, unbedingt freien Willen, das Reich der mit Nothwendigkeit gemischten Freiheit in der Menschenbrust, das Reich der unbedingten Nothwendigkeit in der Natur«.348 Noch 1896 identifizierte Schneider den Zufall mit der göttlichen Vorsehung, als er sich Gedanken über das Ende der Welt machte. Die Wissenschaft möge »den ›Tod‹ der Erde in eine unermeßliche Zukunft hinausschieben«, trotzdem könne die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, »daß durch unvorhergesehene Zufälligkeiten, d. h. in unserm Sinne durch ein unmittelbares Eingreifen seitens des Schöpfers, der Prozeß beschleunigt werden könne«.349 Der Gott der Gefahr war ein Gott des Zufalls. Vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, den planenden Menschen mit Koselleck zum Erben der göttlichen Vorsehung machen zu können und die Geschichtsphilosophie zum Säkularisat zu erklären.350 In der katholischen Moraltheologie entwickelt sich der planende Mensch aus der Naturalisierung der Willensfreiheit, nicht aus der Säkularisierung der göttlichen Vorsehung. Für Ketteler waren die »Formen der Ideen« 1867 nicht willkürlich, sondern an die Logik gebunden, so wie das Wort »sich dem Gesetze der Sprache sich unterwirft«. Und dies gelte »gerade so für alle jene praktischen Ideen, die im politischen und

345 Vgl. Spaemann: Ursprung 140 f. 346 Zit. nach Uertz: Gottesrecht 74. 347 Müller: Streit 91 f. 348 Görres, Joseph: Über die Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte. Drei Vorträge, gehalten an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Breslau 1830. In: Ders.: Schriften der Münchner Zeit 240–295, hier 259. 349 Schneider: Leben 369. 350 Koselleck: Geschichte 141 f.

Zufall und Risiko  375

socialen Leben der Völker ihre Verwirklichung finden sollen«.351 Nach Périns Behauptung von 1876 war nichts Erschaffenes ohne Regel, d. h. ohne Gesetz. Die Wesen der physischen Welt haben ihre Gesetze, denen sie mit Nothwendigkeit gehorchen, in Folge der ihnen einmal vom Willen des Schöpfers mitgetheilten Bewegung. Auch die Wesen der sittlichen Welt haben ihre Gesetze, Gesetze in des Wortes höchster und wahrer Bedeutung, denen sie sich kraft ihres freien Willens gleichförmig machen.352

Für Costa-Rossetti war der freie Wille des Menschen 1888 von natürlichen Gesetzen beeinflusst, weshalb sich überhaupt erst ökonomische Gesetze herleiten lassen. Der Mensch sei »vermöge seiner sinnlich-vernünftigen Natur physiologischen, psychologischen und moralischen Gesetzen unterworfen und seine ökonomische Thätigkeit von den physikalischen, chemischen und physiologischen Gesetzen der Außenwelt abhängig.« Daraus ergeben sich die »ökonomischen Grundsätze und Gesetze« innerhalb von »physischen und moralischen Schranken«.353 Cathrein konstatierte 1905 deshalb den Gegensatz zwischen Zufall und freiem Willen: Ja hat den etwa die Möglichkeit, daß der Mensch unter bestimmten Voraussetzungen handeln oder auch nicht handeln, so oder anders handeln kann, im Zufall seinen Grund? Keineswegs, sondern in der hohen Vollkommenheit des Willens, der die Herrschaft über sein Wollen hat. Und ebenso hat die Tatsache, daß von den mehreren Möglichkeiten gerade die eine und nicht die andere zur Wirklichkeit wird, nicht im Zufall seinen Grund, sondern in dem freien Willensentschluss selbst.354

Denn der freie Wille ist Regeln unterworfen: »Gewiß, du kannst wollen, was du willst, aber du willst eben nur das, wofür der zureichende Grund gegeben ist.«355 Gutberlet leitete 1908 die immanente Planbarkeit von der Kontingenz der Willensfreiheit ab. Dabei bemühte er bemerkenswerterweise den Zufall. Denn durch den Zufall werde aus einem Ereignis eine Möglichkeit, die sich berechnen lasse: 351 Ketteler: Deutschland 6. 352 Périn: Politik 115–123. 353 Costa-Rossetti: Grundlagen 39. So auch Deutinger: Zeichen 74: »Nur die Kraft, die ihm angeboren ist, vermag ein jeder nach dem gesetzten Maaße zu gebrauchen, aber nicht eine andere nach Willkür an ihre Stelle zu setzen. Wie er sie aber gebrauchen will und wozu, das steht in seiner freien Wahl; das Ziel mag er sich selber setzen, nach dem er mit den angebornen Kräften ringen will; aber die Kräfte, mit denen er darnach ringt, die muß er nehmen, wie sie gegeben sind. Ob er die ihm gegebenen Kräfte nicht gebrauchen oder mißbrauchen will, das steht bei ihm, und innerhalb derselben ist er eben so sehr frei, als er unfrei ist, dieselben zu überschreiten.« 354 Cathrein: Grundbegriffe 35 f. 355 Ebd. 46.

376  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Doch gehen wir einmal auf den Gedanken ein, der Zufall bestimme jedem Atom seinen Platz. Dann wird die abstrakte Möglichkeit als Grund vorgeschoben, und wenn die abstrakte Möglichkeit als Grund angenommen wird, läßt sich die mathematische Wahrscheinlichkeit für die Wirklichkeit eines wirklichen Eintreffens berechnen.356

Gott lasse sich dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung aber nicht unterwerfen: Alle Rechnung kann uns keine größere Gewißheit darüber schaffen, im Gegenteil ist es gar nicht möglich, daß die Rechnung alle Momente der komplizierten Ordnung berücksichtige, und darum ist ihr Resultat nicht so überzeugend als die unmittelbare Evidenz der Weltschöpfung durch eine Intelligenz.357

Der freie menschliche Wille wurde zum berechenbaren Risiko. Dabei war der freie Wille wie die Gesetzmäßigkeit im materialistischen Wissenschaftsverständnis im Vorhinein berechenbar, die Kausalität des göttlichen Willens wie diejenige des Zufalls nur im Nachhinein erkennbar. Albert Maria Weiß be­hauptete in seinen Lebenserinnerungen, dass es deshalb die göttliche Vorsehung sei, die dem Menschen aufgrund seiner intellektuellen Defizienz als Zufall erscheine: O wie oft habe ich es erlebt, daß die göttliche Vorsehung, fast möchte man sagen mit dem Sekundenzeiger neben uns steht, um einzugreifen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Und wie oft hat es sich meinem blöden Sinn entzogen, daß ihr auch das Kleinste nicht zu unbedeutend ist. Da reden wir dann von Zufall, statt daß wir auf die Kniee fallen und anbetend rufen: Hier ist der Finger Gottes.358

Damit übereinstimmend behauptete Grupp 1916: Nicht der blinde Zufall, nicht wandelbare Götterlaune herrscht nach christlicher Auffassung über allem Sein und Geschehen. Alles hat vielmehr einen Sinn und die Vernunft waltet über dem All. Auch die Geschichte verläuft nach einem Plane, wenn sich dem blöden menschlichen Auge sein Geheimnis auch nicht entschleiert; mag er nun bestehen in der Erziehung des Menschengeschlechtes oder in einer inneren Entwicklung.359

Die katholische Moraltheologie löste das Problem immanenter Kontingenz in formaler Hinsicht auf die gleiche Art und Weise wie die materialistische Naturund Sozialwissenschaft. Der Unterschied liegt in der Sinnlosigkeit des Zufalls. Das Feld der immanenten Kontingenz wurde sowohl im katholischen als auch im materialistischen Weltbild in einen berechenbaren und daher prognostizierbaren sowie einen nicht berechenbaren und daher nicht prognostizierbaren 356 Gutberlet: Kosmos 18. 357 Ebd. 237. 358 Weiß: Lebensweg 134. 359 Grupp: Jenseitsreligion 171 f.

Zufall und Risiko  377

Teil aufgespalten. Den prognostizierbaren Pol besetzen im materialistischen Weltbild genauso wie im katholischen natürliche, historische und soziale Gesetze. Der nicht prognostizierbare Pol wurde im materialistischen Weltbild vom Zufall besetzt, der an sich sinnlos ist und erst durch sein Verschwinden infolge des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts Sinn bekommt. Im katholischen Weltbild handelt es sich beim nicht prognostizierbaren Pol um etwas völlig anderes. Die göttliche Vorsehung ist erstens nicht sinnlos und zweitens nicht zum Verschwinden zu bringen. Göttliche Vorsehung und Zufall übernehmen nur die gleiche praxeologische Funktion, Kontingenz zu bewältigen. Bereits Giddens hatte beobachtet, dass die Konzepte von Zufall und Risiko gleichzeitig entstanden, da sie voneinander abhängig sind. Ein berechenbares und nicht zufälliges Risiko wurde einem nicht zu verantwortenden Schaden, d. h. einer Gefahr, gegenübergestellt.360 Im Exorzismusdispositiv entstand aber die Vorstellung von Risiko ohne Zufall. Die Funktion einer Residualkategorie konnte der Zufall in der katholischen Moraltheologie nicht übernehmen, da Zufall überhaupt ausgeschlossen war. Es entstand eine Aporie. Daraus musste sich das Regeldispositiv zwangsläufig entwickeln, wobei nicht nur der freie Wille einer berechenbaren Normalisierung unterworfen wurde, sondern zunehmend auch die göttliche Vorsehung. Gutberlet machte dies 1903 deutlich. Die »Sphäre eigentlicher ganz freier Entscheidung« sei klein.361 Denn der Mensch befolge »regelmäßig gewisse Gesetze«. Er wähle »regelmäßig das, was ihm besser erscheint, er wählt das Leichtere, Vortheilhaftere, was ihm mehr zusagt, was mehr Eindruck auf ihn macht usw.«.362 Und selbst in dem »engen Kreise unserer Freithätigkeit« führen Gewöhnung und Neigung dazu, »daß wir vielfach mehr automatisch als mit entschiedener Äußerung unserer Freiheit handeln«. Von einer Determination des Willens dadurch wollte er aber nicht sprechen. Denn auch für das »mehr oder weniger ›mechanische‹ Handeln« sei der Mensch verantwortlich. Die Menschen seien zwar »nicht die eigentlichen letzten Urheber« ihrer Handlungen, »aber die Vorsehung, welche sie uns anweist, thut es meistens durch unser freies Zuthun«. Die »vielen einzelnen Schritte«, die zu einem Ziel führen, seien frei gewählt, »zum Endergebnisse leitete freilich ihre Gesammtheit eine höhere Macht«.363 Der freie Wille war für ihn deshalb nur »wenn man ganz abstract spricht« unberechenbar und das nur in »einigen sehr vereinzelten Fällen«. In seinen »normalen concreten Verhältnissen« sei er berechenbar. Denn »alle normal angelegten Menschen treffen ihre Willensentschließungen nach 360 Giddens: Konsequenzen 50. Vgl. dazu Bonß: Risiko 188. – Dies zeigt sehr deutlich, dass die Vorstellung vom Risiko im Spannungsfeld von mathematischen und juridischen Begriffen entstand. Vgl. dazu Rosenhaft: Chance 16. 361 Gutberlet: Kampf 594. 362 Ebd. 611. 363 Ebd. 594.

378  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  denselben Normen«.364 Tilman Pesch führte 1907 aus, dass die Scholastiker zwar die »fatale Notwendigkeit aller Ereignisse« betonten, sich aber trotzdem zu zeigen bemühten, »daß hierdurch den einzelnen Vorkommnissen der Charakter des Andersseinkönnens, der Kontingenz keineswegs genommen werde«. Man könne nicht »von einem absolut unveränderlichen und mathematisch notwendigen Charakter aller Vorkommnisse« reden.365 Die Geschichte setze sich deshalb »zusammen aus Notwendigem und Zufälligem«. Für das Zufällige machte er Gott verantwortlich. Dabei handelte es sich für Pesch allerdings ebenfalls um ein Wahrnehmungsproblem. Der Zufall erscheint nur göttlich, er ist es nicht. Bei Gott »hört alle Zufälligkeit auf. Gott weiß ja alles voraus und hat alles bei der Anordnung seiner Vorsehung berücksichtigt«.366 Die »Naturursache« sei »nicht schlechthin Werkzeug« Gottes. Er »schmiegt sich ihr an, läßt sie wirken gemäß ihrer Naturstrebigkeit«.367 Um die Ausdehnung des menschlichen Handlungsspielraums zu bewältigen, entstand das Bestreben sowohl die menschliche Willensfreiheit als auch Gott Regeln zu unterwerfen.368 Die Emanzipation der Welt von Gott im Exorzismusdispositiv konnte nicht vollkommen sein, da Gott ja als allmächtig gedacht war. Deshalb musste auch noch Gottes Kompetenz für die Natur gezähmt werden, nachdem der Teufel die seine zu verlieren begonnen hatte. Der gefährliche Gott des Gnadendispositivs, der die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten nach Gutdünken förderte oder behinderte, wurde im Regeldispositiv zum Hüter seiner Gesetze.369 Der Katholik äußerte bereits 1853 die Ansicht, dass die »europäische Kultur« derart von der »geographischen Gestaltung, von den klimatischen und agronomischen Verhältnissen des Erdtheils und seinen Beziehungen zu den umliegenden Ländern und Meeren in ihrer Entwicklung abhängig und in ihrem Fortbestehen bedingt« sei, dass ihre »Entfaltung« gemäß göttlicher Vorsehung »schon in jene gewaltigen Revolutionen der Erdrinde hineingelegt« sein 364 Ebd. 611. 365 Pesch: Welträtsel I 222 f. 366 Ders.: Welträtsel II 374 f. 367 Ebd. 354. 368 Bereits Groethuysen erkannte, dass Gott in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich im 18. Jahrhundert immer mehr zum Bewahrer der gesellschaftlichen Ordnung wurde, immer öfter hatte er nach Gesetzen und Regeln zu bestrafen, die nicht in ihm selbst begründet waren, immer mehr wurde er zum Vollzugsorgan von Gesetzen, die unabhängig von ihm existierten. Vgl. Groethuysen: Entstehung I 225. 369 Blumenberg lehnt deshalb die Wahrnehmung der Fortschrittsidee als säkularisierte Eschatologie ab. Während die Fortschrittsidee von der Erfahrung der Vergangenheit auf eine »der Geschichte immanente Zukunft extrapoliert«, stelle die Eschatologie ein von außen kommendes Ereignis dar, das die Realisierung der menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse verhindere. Es könne deshalb »der eschatologische Gott des Geschichtsendes nicht zugleich der sein, der sich in der Geschichte als deren Hüter bemerkbar und glaubhaft macht«. Vgl. Blumenberg: Säkularisierung 39–41.

Zufall und Risiko  379

müsse.370 Deshalb kümmerte sich Gott bereits bei der Schöpfung um den Bedarf der Industrie an fossiler Energie: Als die reich mit Kohlenstoff gesättigte Atmosphäre der Vorwelt jenen mächtigen Pflanzenwuchs beförderte und Umwälzungen eigener Art diese gewaltigen Stämme verschütteten und dem Proceß der Verkohlung anheimgaben: da sah die leitende Vorsehung schon den fernen Zeitpunkt, wo eine künftige menschliche Bevölkerung, bei dem vermehrten Bedürfniß durch den Holzreichthum der Oberfläche nicht mehr befriedigt, ihre Zuflucht zu den mächtigen unterirdischen Steinkohlenlagern werde nehmen müssen.371

Für Lorinser war die Topographie der Erde 1878 »offenbar das Resultat einer Berechnung, einer gegenseitigen Abwägung der verschiedenen Verhältnisse, in Verbindung mit einer höheren Freiheit der Disposition«. Diese könne »den bloßen mit Nothwendigkeit wirkenden Naturkräften unmöglich« zugeschrieben werden, sondern »der göttlichen Providenz, welche, über den Naturkräften stehend, dieselben in solcher Weise geregelt und in Thätigkeit gesetzt hat, daß sie offenbare Absichten und Pläne verwirklichen mußten, die ihrem eigenen Wesen völlig fremd sind«. Denn niemand werde »so thöricht sein zu glauben, daß rein physikalische, chemische und mechanische Kräfte in einer nothwendigen inneren Verbindung mit Erfolgen stehen, welche gänzlich außerhalb ihrer Sphäre liegen und mit Chemie und Mechanik nicht das mindeste zu schaffen haben«. Wolle man »die Thatsachen nicht auf die freie Disposition eines höheren selbstbewußten Willens zurückführen, so ist man genöthigt, auf einen so merkwürdigen, so vielfältigen und so unglaublichen Zufall zu recurriren«.372 Vor allem die Schönheit der Erde galt ihm als Beweis für die göttliche Planung: Der Zufall hätte ein Chaos ohne Sinn und Ordnung geschaffen, das wohl Mannigfaltigkeit darbieten konnte, aber von Harmonie und Schönheit sicher keine Spur gezeigt hätte; die bloßen mit Nothwendigkeit wirkenden Naturkräfte würden ohne höhere Disposition, ohne vorausgegangene Berechnung der Resultate, die sie hervorbringen sollten, nur höchst einförmig und gleichartig gewirkt und auch nicht viel mehr als ein Chaos erzeugt haben.373

Dies veranschaulichte er am Beispiel des Ozeans: Wie gefährlich und verderbendrohend er dann auch erscheint, immer bleibt er an­ ziehend, schön und erhaben, nie wirkt er abstoßend, widerwärtig, das ästhetische Gefühl beleidigend. Auch in seinem wildesten Aufruhr zeigt er nichts Häßliches, 370 Die Behandlung der Naturwissenschaften in der Schule nach christlicher Auffassung. In: Der Katholik 8 (1853) 199–213 und 269–283, hier 207. 371 Ebd. 211. 372 Lorinser: Geographie 53. 373 Ebd. 184.

380  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Verzerrtes, Maaßloses, aus den Schranken harmonischer (wenn auch wilder und furchtbarer) Schönheit Heraustretendes.374

Georg Grupp wies 1891 darauf hin, dass der freie Wille eine »strenge Gesetzmäßigkeit« des geschichtlichen Verlaufs zwar verhindere. Allerdings werde er durch natürliche Faktoren beeinflusst: Alle Bestrebungen des Menschen, seien sie auf höhere oder niedere Güter gerichtet, gliedern sich in den umfassenden geschichtlichen Kausalzusammenhang ein und das Ganze der sozialen Bedingungen, Gelegenheiten und Hemmungen übt auf das Einzelwirken einen bestimmenden, beinahe zwingenden Einfluss, gewährleistet durch den göttlichen Geschichtsplan, der namentlich die höheren Bestrebungen leitet.375

Deshalb sei die »unmotivierte Willkür« ebenso unwahr wie der »zwingende Determinismus«.376 Jedes Volk habe von Gott eine »Veranlagung« bekommen, der es nachkommen müsse. Die Veranlagung bestehe in den Ideen von Kunst, Wissenschaft, Recht und Politik. Diese Ideen zu verwirklichen sei der Beruf der Völker, ihre Mission und Bestimmung. Sie widmen sich ihren Aufgaben nicht etwa aus dem Motiv sittlicher Begeisterung, idealer Selbsthingabe und ent­sagenden Gehorsams gegen den göttlichen Willen, sondern aus dem Drange ihrer Natur, die, auf solche Aufgabe angelegt, aus ihrer Lösung Befriedigung und Wohlsein hofft.377

Dabei behauptete Grupp nicht unberechenbare göttliche Eingriffe, sondern regelhafte und gesetzmäßige Eingriffe in die Geschichte. Dazu gehörte das »Gesetz der immanenten göttlichen Gerechtigkeit«, worunter er die Qualifizierung der menschlichen Taten im Diesseits meinte. So entsprang die Weltmachtstellung der Spanier und Portugiesen beispielsweise nicht etwa dem »Zufall«, sondern ihrer Tapferkeit im Kampf gegen die Mauren, indem sie die »edelsten Tugenden der Ritterlichkeit und Religiösität« entwickelten, die sie zu weiteren Unternehmungen befähigten. Andererseits würden Völker für ihre Areligiosität mit dem Niedergang bestraft. Wieder jedoch nicht aufgrund von einem außerordentlichen göttlichen Eingriff in die Geschichte, sondern aufgrund der von der göttlichen Vorsehung geschaffenen Regeln: In dieser Art sanken der Reihe nach alle die Völker, welche den Vorrang innehatten. Griechen und Römer, die Deutschen, Spanier und Franzosen verloren ihre Vorherrschaft. Besonders die antiken Staaten fielen ebenso tief, als sie sich hoch erhoben. Aber

374 Ebd. 413. 375 Grupp: Ideen 19. 376 Ebd. 13. 377 Ebd. 39.

Zufall und Risiko  381

nicht minder sichtbar ist die Strafe, die moderne Völker auf dem Fuße ereilt, und die Zukunft wird uns noch weitere Belehrung geben.378

Anders als im Gnadendispositiv war nicht mehr auf die Apokalypse zu warten, die Geschichte war endgültig das Gericht. Deshalb handelte es dabei nicht um eine Analogieprognose. Die Möglichkeit einer solchen lehnte Grupp ab. Das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont war für ihn bereits von naturgesetzlicher Notwendigkeit: Liegt es schon an und für sich in der Natur des Geistes, daß er nie bei der bloßen Erhaltung des Überlieferten stehen bleibt, sondern darüber hinausstrebt oder aber auch von der erreichten Höhe immer mehr herabsinkt, so widerstrebt es auch aller Vernunft anzunehmen, die Menschheit drehe sich immer im Kreise.379

Nicht eine statische Analogieprognose, sondern eine dynamische Tendenzprognose war seine Absicht. Er betonte, daß die Geistes-, Gemüts- und Willenskräfte des Menschen unverändert bleiben, wenn auch ihr Gegenstand, ihre Richtung und Form wechselt. Dieses Gesetz ist nicht gleichwertig dem bekannten Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Denn die Gesamtsumme der menschlichen Kräfte ist ohne Zweifel vermehr- und verminderbar und was die einzelne Kraft erschafft, erhält sich wenigstens für die menschliche Berechnung nicht in gleichem Grade wie die Kraftwirkung der Natur.380

Damit übereinstimmend machte Albert Maria Weiß die Französische Revolution 1892 zum gesetzmäßig wirkenden Werkzeug der göttlichen Vorsehung. Diese lasse sich nicht auf einzelne Menschen zurückführen, sondern die Ideen der Zeit begeisterten die Einzelnen mit ihnen Ernst zu machen. Wir haben auch hier ein Beispiel von dem Unterschied der öffentlichen und der Privatmoral. Millionen hätten vergebens das Recht der Revolution gepredigt, wenn sie das bloß als ihre persönliche Überzeugung verkündigt hätten.

Da aber »die öffentliche Meinung, das öffentliche Recht und die öffentliche Sitte von dem Grundgedanken, aus dem sich die Umwälzung als Recht ergibt, längst durchdrungen war, bedurfte es nur einiger weniger Männer, um ihr den Sieg zu verschaffen.«381 Die Französische Revolution war das Werk einer transpersonalen bürgerlichen Gesellschaft, nicht einzelner Menschen, nicht Gottes und nicht des Teufels: »Gott hat die Revolution nicht gemacht, so wenig als die Hölle.« Sehr wohl diene sie aber als Werkzeug Gottes, und zwar als gesetzmäßig wirkendes. 378 Ebd. 128 f. 379 Ebd. 148. 380 Ebd. 150 f. 381 Weiß: Frage 41.

382  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Sie müsse »widerwillig dazu dienen, Gottes Rechtsordnung zu verwirklichen«, denn: »Was sein Recht einzig in sich selber hat, muß auch sein Recht an sich selbst vollstrecken. Die Revolution ist stolz darauf, ihr Recht nicht von Gott, sondern allein von sich zu haben. Mit diesem Ursprung hat sie auch ihren Verlauf und ihr Ende vorgezeichnet.«382 Die Welt war bis zu dem Punkt veränderbar, als es die nicht veränderbaren naturrechtlich legitimierten Regeln, denen diese Veränderungen unterworfen waren, erlaubten. Zunächst waren es der Teufel und die Menschen, die sich an die natürlichen Regeln halten mussten, schließlich aber auch Gott. Der gefährliche Gott des Gnadendispositivs hätte nach der Funktionslogik des Exorzismusdispositivs aus der Immanenz verdrängt werden müssen, was durch ein religiöses System letztlich nicht gelingen konnte, weshalb er im Regeldispositiv gezähmt wurde. Damit erfüllte sich eine Hoffnung, die Adam Müller bereits 1809 zum Ausdruck brachte: Vielleicht fände sich in der vereinigten Bewegung der Menschheit oder einer Nation, wenn wir dieselbe durch Jahrhunderte verfolgten, eine Art von Gesetz der Bewegung; vielleicht fände sich, daß, wie jeder Vers seinen eigenthümlichen Rhythmus, jedes Musik-Stück seinen eigenthümlichen Takt, so auch jede Nation ihre eigenthümliche Bewegung habe, welche vor allen Dingen der Staatsmann, als Capellmeister, doch auch jeder einzelne Bürger seines Theils empfinden und in welche er, der Natur seines Instrumentes gemäß, eingreifen müsse.383

So wie mit der Nationalökonomie und der Statistik Wissenschaften entstanden, die sich auf mathematischer Grundlage mit der Zukunft beschäftigten,384 zeigt sich in der Entfaltung der katholischen Sozialethik in ihrer juridischen Form am Ende des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit von proaktivem, auf eine immanente Zukunft orientiertem, und das hieß letztlich planbarem, Verhalten. Gott und Teufel verschwanden dabei nicht. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich ihre Funktionen veränderten.

6. Die moralische und die mathematische Wahrscheinlichkeit Es war nicht zuletzt die Wahrscheinlichkeit, die den Übergang vom Exorzismus- zum Regeldispositiv initiierte. Im Exorzismusdispositiv emanzipierte sich die Welt von Gott, aber nicht vom Bösen. Der gefährliche Gott verlor zugunsten des riskanten Teufels an immanentem Gewicht. Es entstand das moralische Risiko als Rationalisierung, um Gottes Wille einerseits nicht zu determinieren, 382 Ebd. 57–59. 383 Müller: Elemente I 68. 384 Vgl. Hölscher: Entdeckung 103.

Die moralische und die mathematische Wahrscheinlichkeit  383

andererseits aber die völlige Kontingenz zu vermeiden und Verlässlichkeit zu erlangen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der moraltheologische Probabilismus der Frühen Neuzeit in der Neuscholastik eine Renaissance erlebte. Ja, er konnte sich durch die erweiterten menschlichen Handlungsmöglichkeiten im 19. Jahrhundert erst so richtig entfalten.385 Nach Ansicht des Probabilismus ist jede Handlung erlaubt, für die gute Gründe sprechen. Nach Ansicht des Probabiliorismus ist eine Handlung, die die Gefahr der Gesetzesverletzung mit sich bringt, nur dann erlaubt, wen die Gründe dafür stärker sind als die Gründe für die gegenteilige, sicherere Handlung. Nach Ansicht des Äquiprobabilismus ist auch eine weniger sichere Handlung erlaubt, nicht nur wenn sie besser, sondern bereits, wenn sie ebenso gut begründet ist wie das sicherere Verhalten. Der moraltheologische Tutiorismus bzw. Rigorismus bedeutet, dass eine Handlung verboten ist, wenn Zweifel über sie bestehen. Nur beim Zweifel darüber, ob eine Handlung geboten ist, ist sie erlaubt. Laxismus bedeutet, dass jedes Verhalten erlaubt ist, für das Gründe sprechen. Päpstlich verboten wurden Laxismus und Rigorismus, der Streit zwischen Probabilismus und Probabiliorismus löste sich im Äquiprobabilismus Liguoris auf.386 Der Probabilismus konstruiert die unsichere Welt nicht als gefährlichen und auch nicht als freien, sondern als riskanten Ort. Denn der Probabilismus entscheidet auch da, wo er sich gegen die Bindung ausspricht, nicht für die Freiheit.387 Deshalb neigt er stets zum Probabiliorismus. Das Verhältnis von Freiheit und Bindung wurde zum Normalen und mit Wahrscheinlichkeit berechnet. Es entstand das probabilioristische Regeldispositiv, das sich vom tutioristischen Gnadendispositiv und vom probabilistischen Exorzismusdispositiv abhob. Der Neuscholastiker Pruner bezeichnete den Tutiorismus 1882 dementsprechend als »unerträgliche Last«.388 Freier Wille und Gewissheit erschienen dem jesuitischen Astronomen Braun 1889 anlässlich der Bestimmung des Weltalters als unvereinbar, freier Wille und Wahrscheinlichkeit indes sehr wohl: Die Schönheit und die innere Harmonie der kosmogonischen Theorie kann es höchstens nur als sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen, daß die Entwickelung auf einem gänzlich verschiedenen sehr kurzen Weg geschehen sei; aber absolute Gewißheit darüber, wie es de facto geschehen sei, kann sie nicht bieten, als höchstens denjenigen, welche überhaupt den Glauben an einen mit freiem Willen waltenden Schöpfer verloren haben.389 385 Zum Probabilismus im 19. Jahrhundert vgl. Weiß: Moral 83–86. 386 Zum Probabilismus vgl. Knebel: Wille; Otte: Probabilismus. Da die Gewichtung von Argumenten nicht nachvollziehbar ist und weil es eine Logik, die nicht die Ableitbarkeit, sondern das Maß der Stützung einer Behauptung darstellt, nicht gibt, hat sich der Probabiliorismus nicht durchgesetzt und es gibt in er Tat keine praktischen Unterschiede zwischen Probabilismus und Probabiliorismus. Vgl. Ebd. 301 f. 387 Vgl. Ebd. 300. 388 Pruner: Moraltheologie 52–57. 389 Braun: Kosmogonie 170.

384  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Der Moraltheologe Simar wies 1893 darauf hin, dass der Tutiorismus der Erbsündenlehre widersprach. Es sei »in allen Angelegenheiten des menschlichen Lebens unmöglich«, eine absolute Gewissheit zu erlangen: Gott selbst hat ja auch z. B. gewollt, daß wir in Bezug auf unsern Gnadenstand keine Gewißheit besitzen sollen. Wenn es Pflicht wäre, auch die Gefahr einer bloß materiellen Sünde allzeit zu vermeiden, so hätte Gott selbst durch jene Ungewißheit uns in die Unmöglichkeit versetzt jener Pflicht nachzukommen.390

Dabei erschien ihm Gewissheit zu statisch für die Immanenz zu sein. Im Unterschied zur feststehenden Gewissheit erblickte er in der Wahrscheinlichkeit eine dynamische Größe: Durch die weitere Entwicklung der Wissenschaft oder infolge lehramtlicher Entscheidungen der Kirche kann eine Anschauung den Charakter der Wahrscheinlichkeit einbüßen und umgekehrt das für unwahrscheinlich Gehaltene sich als wahrscheinlich oder wahr herausstellen.391

Die von dem Wissenschaftshistoriker Ian Hacking postulierte »probabilistische Revolution« des späten 17. Jahrhunderts, die durch die Berechnung der Wahrscheinlichkeit professionelle Risikokalkulation ermöglicht hatte und deshalb als Voraussetzung für die Ausbreitung des Versicherungswesens gilt,392 führt dessen Fachkollege Sven K. Knebel deshalb auf einen Strukturwandel katholischer Theologie zurück. Diese habe sich damals in ein »Experimentierfeld für metaphysische Hypothesen zur Erklärung des kontingenten Ereignisses« auf der Grundlage eines »mathematisierbaren Wahrscheinlichkeitsbegriffs« verwandelt, was den Boden für die Wahrscheinlichkeitsdefinition als Verhältnis der günstigen zu den möglichen Fällen bereitet habe.393 Eine Wechselwirkung zwischen moralischer und mathematischer Wahrscheinlichkeit zeigte sich dann auch wieder in der neuscholastischen Renaissance des 19.  Jahrhunderts. Die Historisch-politischen Blätter behaupteten 1865 die Kongruenz von moralischer und mathematischer Wahrscheinlichkeit, als sie einen Ausbau der Sozialstatistik forderten und sich dabei ausdrücklich auf den französischen Mathematiker Pierre-Simon de Laplace (1749–1827) beriefen. Dieser habe darauf hingewiesen, daß man die auf Beobachtung und Calcul gegründete Methode, welche in den Natur­ wissenschaften so treffliche Dienste geleistet, auch auf die politischen und mora­ 390 Simar: Lehrbuch 127–130. 391 Ebd. 120–126. 392 Hacking: Emergence. Vgl. dazu Daston: Individuals; Zwierlein: Grenzen 424; Link: Versuch 342; Menke: Nutzen 301–304. Zum Zusammenhang zwischen Versicherungswesen und Wahrscheinlichkeitsrechnung vgl. auch Ewald: Vorsorgestaat 211, der die Versicherung als »Rationalitätstyp, der durch den Wahrscheinlichkeitskalkül formalisiert wird«, bezeichnet. 393 Knebel: Wille 556.

Die Normalisierung der sozialen Gerechtigkeit  385

lischen Wissenschaften anwenden sollte, Beobachtung und Calcul aber sind die Seele der vergleichenden Statistik wie der Astronomie.394

Der Thomist Gutberlet zeigte sich 1905 deshalb fasziniert von der Psychophysik, weil er darin »ein mathematisch genaues Verhältnis zwischen dem auf die Seele einwirkenden Reiz und der von demselben ausgelösten Empfindung durch Experimente zu gewinnen« sah.395 Er fand es faszinierend, »das gesamte Seelenleben, und gerade dieses besonders, durch exakte Methoden genauer zu erforschen«,396 und zwar auf der Grundlage der »Meßbarkeit psychischer Zustände«.397 Die Theologie dürfe »die Mathematik nicht von sich weisen, sie muss die mathematischen Wahrscheinlichkeitsprinzipien berücksichtigen, in deren zehn Hauptsätzen nach Laplace ›die ewigen Gesetze der Vernunft und Wahrheit ihre Begründung finden‹«.398 Die neuscholastische Faszination an der göttlich-gewissen und präzisen Berechenbarkeit des Rechts im Exorzismusdispositiv erweiterte sich im Regeldispositiv zum normalisierenden Interesse an mit Wahrscheinlichkeit berechenbaren naturgesetzlichen Abläufen.

7. Die Normalisierung der sozialen Gerechtigkeit Albert Maria Weiß, der im Rufe reaktionärer Konservativität stand,399 kritisierte in seiner 1883 veröffentlichten Schrift »Die Gesetze für Berechnung von Kapitalzins und Arbeitslohn« diejenigen Nationalökonomen, welche »jeden Versuch volkswirthschaftliche Grundsätze auf mathematische Formeln zurückzuführen, fast barock und verwunderlich finden«. Weiß schätzte mathematische Gesetzmäßigkeiten. Er hielt wenig von volkswirtschaftlichen Gesetzen, »die sich nicht strenge durch mathematische Formeln darstellen und erweisen lassen«. Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage seien ungeeignet, wenn sie »die Probe der Mathematik nicht aushalten«. Zur Lösung der sozialen Frage könne es »nichts schaden, wenn auch die dürre Mathematik ein wenig zu Wort kömmt, und die trockene Logik und die eiserne Konsequenz der Scholastik dazu«. Deshalb lehnte er die »Berserkerwuth gegen das römische Recht« ab. Ehe man die sozialen Probleme nicht »auf eine Form bringt, in der man mit ihnen auch rechnen kann, und zwar so rechnen, daß Gerechtigkeit und Billigkeit, Recht und Moral und 394 Zur Kritik von Lösungen der socialen Frage. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 117–131, 196–208 und 274–293, hier 118. 395 Gutberlet: Psychophysik 1. 396 Ebd. 2. 397 Ebd. 45. 398 Ders.: Unendliche III f. 399 Albert Maria Weiß rief auf dem Frankfurter Katholikentag 1863 in die Menge: »Zurück! Nicht vorwärts, nein zurück!« Zit. nach Stegmann / Langhorst: Geschichte 663.

386  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Religion ihre volle Rechnung finden, ist an eine Lösung nicht zu denken«.400 Dabei machte er deutlich, dass die Notwendigkeit zur Berechnung von sozialen und ökonomischen Gesetzen auf das Bemühen der juridischen Sozialethik um die Transformation von sozialen Gefahren in Risiken zurückging. Das Arbeitsverhältnis betrachtete Weiß als Gesellschaftsvertrag. Arbeit und Kapital wirkten zusammen, um Gebrauchswerte zu produzieren. Deshalb dürften sich sowohl »Kapitalist« als auch Arbeiter vom »gemeinsamen Ertrage« nur so viel aneignen, »als einem jeden nach dem strengen Rechte gebührt«. Und deshalb sei das Arbeitsprodukt der Ausgangspunkt der Lohnberechnung, da der Lohn der Anteil des Arbeiters am Arbeitsprodukt sei.401 Da der Arbeiter aber nicht bis zum Verkauf des Arbeitsprodukts warten könne, lasse er sich »ratenweise vom Kapitalisten zum Voraus eine Bezahlung geben [, und zwar] nicht aus dem, was dem Kapitalisten als alleinigem Eigenthümer gehört, sondern aus dem, was später erst wahrscheinlicher Weise als Product ihrer gemeinsamen Thätigkeit sich ergeben wird«. Der Arbeitgeber nehme also »ein größeres einseitiges Risiko auf sich« als der Arbeitnehmer.402 Beide nehmen aber ein Risiko auf sich. Der Arbeitnehmer bleibe genauso »Herr seines Einsatzes« wie der Arbeitgeber, weshalb beiden ein Anteil am Gewinn zustehe, aber in unterschiedlicher Höhe: »Und zwar muß der Antheil bei allen genau der Größe ihres jeweiligen Einsatzes entsprechen.«403 Dabei sei es erlaubt, »um besonderer Fehler oder Schwächen oder Unzuverlässigkeiten des anderen Theiles willen« im Voraus »eine gewisse Versicherung und im Falle der wirklich erfolgten Beschädigung eine Entschädigung« zu verlangen. Eine Versicherung sei nur gegen ein zurechenbares Verschulden eines Partners möglich. Liege die Schuld bei beiden oder bei keinem, »so hatten sie verhältnißmäßig gleiches Risiko und können also ebenso gut beide ihr Risiko in Rechnung bringen wie es außer Rechnung lassen«.404 Den Lohn betrachtete Weiß also als Anteil am Unternehmergewinn. Denn der Lohn begann für ihn erst mit dem Übersteigen der Lebensnotdurft, darunter handle es sich um »Ersatz der Arbeitskosten«.405 Die Vergütung des Arbeiters setze sich deshalb aus dem Verbrauchswert, also den Arbeitskosten, und dem Gebrauchswert, d. h. dem durch die Produktion entstandenen Mehrwert, der vom Reingewinn abzuleiten sei, zusammen.406 Bei der Berechnung des Verbrauchswerts seien die Ausbildungskosten und die jährlich wechselnden Lebenshaltungskosten zu berücksichtigen. Dabei seien die Ausbildungskosten zu kapitalisieren und im Voraus auf die Jahre der zu berechnenden Lebensarbeitszeit aufzuteilen. Das sei aber nicht für den Einzelfall 400 Weiß: Gesetze V–VII. 401 Ebd. 7 f. 402 Ebd. 10 f. 403 Ebd. 12 f. 404 Ebd. 14 f. 405 Ebd. 20. 406 Ebd. 27 f.

Die Normalisierung der sozialen Gerechtigkeit  387

möglich, sondern nur für den statistischen Durchschnitt. Da die »mittlere Dauer der Arbeitsfähigkeit« 25 Jahre betrage, solle der Zinssatz vier Prozent betragen. Dies sei das »Normalmaß«. Dies sei ein Ansatz, »welcher für beide Theile billig ist und der im Durchschnitte und für regelmäßig das Mittelmaß trifft«. Damit glaubte er eine »allgemeine Formel für jeden Gesellschaftsvertrag zwischen Arbeit und Kapital« gefunden zu haben.407 Dabei entstand ein »neues Risiko« für den Arbeitgeber daraus, dass Weiß die unveränderliche Höhe des Lohnes vom veränderlichen Reingewinn ableitete. Dies sei nicht ein »Risiko des Geschäftes«, sondern ein davon völlig verschiedenes Risiko, »das lediglich durch die hier gewählte Form der Auszahlung der Früchte des Geschäftes an die Arbeit erzeugt wird«. Er nannte es »Risiko der Muthmaßlichkeit«. Denn es sei bei der Lohnbestimmung die mutmaßliche Höhe des Reingewinnes zu berechnen, und zwar so, dass das Kapital gesichert sei.408 Die Beiträge für die Versicherung gegen Unfall und für Alter müsse der Arbeiter dann aber selbst tragen, da die Kosten dafür bei der Lohnfestsetzung bereits berücksichtigt seien.409 Weiß demonstrierte, wie Recht mathematische und moralische Berechenbarkeit durch die Orientierung an formalen Regeln statt an persönlichen Qualitäten herstellte.410 Dies führte dazu, dass er das Normale mit dem Durchschnitt identifizierte. Im Gnadendispositiv war Normalität von Normativität abgeleitet worden, worin sich dessen Vollkommenheitsorientierung ausdrückt. Normal war das transzendente Ideal. Nach Werners Ansicht von 1850 war es daher der Sündenfall, der den Menschen anormal machte. Er sprach von der »anormalen Beschaffenheit des Menschen« und führte sie zurück auf die »Dissonanz desselben mit dem, was der Mensch seiner Idee nach ist«.411 Die »individuellen und generellen Concretisirungen der zeitlichen Menschenexistenz« seien mit »Einseitigkeiten und Mängeln« behaftet, so dass viele »Gefahren der Abirrung vom Normaltypus der sittlichen Menschenexistenz« bestehen. Dies liege nicht in der »ursprünglichen Beschaffenheit des gottgesetzten Menschenwesens«, sondern sei eine Folge der durch die Sünde versursachten Brechung der harmonischen Einheit des geistig-sittlichen Menschenwesens und der hiedurch angebahnten Überwältigung des inneren seelischen Geistmenschen von den Mächten der sinnlichen Wirklichkeit innerhalb und außerhalb des Menschen.412

Das Normalitätskonzept des Exorzismusdispositivs gründete dann auf einer immanenten, nur noch transzendent legitimierten, naturrechtlichen Normativität, 407 Ebd. 29–36. 408 Ebd. 49–51. 409 Ebd. 62 f. 410 Darin drückt sich Wirkungsweise und Funktion der Sozialpolitik im Unterscheid zur Armenpflege aus. Vgl. Huf: Sozialstaat 108–126. 411 Werner: System 278. 412 Ebd. 350.

388  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  wie es Stöckl 1879 ausdrückte. In der Gesellschaft müssten »die ewigen Gesetze des Rechtes als norm- und maßgebende Principien zur Anwendung kommen«. Denn nur auf der Grundlage des Rechts können sich die sozialen Verhältnisse »gesund« entwickeln. Das Recht sei für die Gesellschaft das, was »für einen lebendigen Organismus die in seiner Natur angelegten Entwickelungsgesetze sind«. Ein Organismus könne sich nur »gesund und normal« entwickeln, wenn er den »ihm immanenten Entwicklungsgesetzen« folge. Deshalb sei »die Realisirung der ewigen Gesetze des Rechtes auch für den socialen Organismus die unabweisbare Bedingung seiner gesunden und normalen Entwickelung und Gestaltung«. Wenn »das Recht aus der Societät weicht, ist es um die normale Entwickelung derselben geschehen, und Mißgestalt und Verzerrung der socialen Verhältnisse tritt an deren Stelle«.413 In der »modernen Rechtsanschauung« gehe das Recht vom Staat aus, was es »fließend« und »veränderlich« mache. Deshalb könne nur ein transzendent legitimiertes Naturrecht ein »bleibendes Normalrecht« sein.414 Aufgabe des Gesetzgebers sei es, »die normalen Verhältnisse zu schützen und nicht untergehen zu lassen«.415 Normalität drückte sich im Exorzismusdispositiv im Recht aus und nicht in der Berechnung. Dabei war es die starke Betonung der Willensfreiheit, welche die Skepsis gegenüber der Berechnung von sozialen Gesetzmäßigkeiten begründete und die spezifische Vorstellung von Normalität prägte. So verweigerte sich Pruner 1901 der Berechnung eines Normallohnes. Er lehnte zwar die Bestimmung der Lohnhöhe auf dem Arbeitsmarkt ab und forderte eine Orientierung am Naturrecht auf Existenz. Ersetzt werden müsse »die mit Aufwand von Zeit, Geld und Mühe gewonnene Vorbildung, seine Gesundheit und Kraft, Intelligenz, Arbeitszeit, seine Haftbarkeit für den Erfolg, welchen die vom Arbeitgeber dargebotenen Mittel zu erwarten berechtigen, und manche Gefährdung bei der Arbeit«. Gemäß dem Willensfreiheitspostulat des Exorzismusdispositivs sah er darin aber nicht das Ergebnis einer Berechnung, sondern des Arbeitskampfes. Da die »moderne Fluktuation aller industriellen und merkantilen Verhältnisse« eine dauerhafte Berechnung der Lohnhöhe nicht möglich mache, sah er im Arbeitskampf das richtige Mittel »einen entsprechenden Ausgleich« zu finden.416 Bereits 1884 hatte sich Hertling gegen die Berechnung eines Normallohnes gewandt. Für Hertling war das Naturrecht auf Existenz die Voraussetzung für die Willensfreiheit. Deshalb sah er in Hitzes »Normallohn« einen Widerspruch zum Postulat der Willensfreiheit. Das Recht auf Existenz drückte sich für ihn in Arbeiterschutzgesetzgebung und Sozialversicherungen aus. Denn niemand habe 413 Stöckl, Albert: Das Christenthum und der Fortschritt. In: Ders.: Fragen I 76–111, hier 89. 414 Ders.: Das moderne atheistische und das christliche Rechtsprincip. In: Ders.: Fragen II 70–100, hier 73. 415 Ders.: Fabrikwesen und Fabrikarbeiter. In: Ders.: Fragen III 282–296. 416 Pruner: Pastoraltheologie II 291 f.

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ein Recht auf »behaglichen Wohlstand oder gar auf Reichthum«, jeder aber ein »Maß gottverdienter Rechte, welches den gottgesetzten Pflichten entspricht«.417 Deshalb lasse sich das Naturrecht auf Existenz »für die Normirung des richtigen Verhältnisses von Kapital und Arbeit« nicht verwenden.418 Deshalb gebe es »keine ein- für allemal gültige Formel, welche das normale Verhältniß von Arbeit und Kapital ausspräche«.419 Die Lösung der sozialen Frage könne nicht in der Kombination von Renten- und Arbeitseinkommen liegen, da sie selbst nicht in der Akkumulation von Kapital auf der Arbeitgeberseite und der Reduktion auf das bloße Arbeitseinkommen auf der Arbeitnehmerseite bestehe.420 Hitze war es in seinem 1880 veröffentlichten Werk »Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft« darum gegangen, Risiko durch Berechnung auszuschließen und Sicherheit herzustellen. Er hatte Vorschläge zur Berechnung von Durchschnittsgewinnen gemacht, um die geforderte Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer bei der Lohnfestsetzung berücksichtigen zu können sowie Überund Unterproduktion zu vermeiden.421 Er hatte den »Durchschnittsgewinn für jedes Jahr und für eine Reihe von Jahren für jede Productionsbranche feststellen« wollen. Davon müsse eine »Risiko-Prämie« für das unternehmerisches Risiko, ein »geistiger Arbeitslohn« für die Unternehmensführung und die Verzinsung des Kapitals abgezogen werden. Übrig bleibe ein »reiner Unternehmergewinn«, der mit den Arbeitern geteilt werden müsse, sei es als Erhöhung des Arbeitslohns, als Prämie oder als Steuernachlass. Dies würde die »absolute Sicherheit und Stetigkeit« des Arbeitereinkommens bedeuten. Eine derartige »Ordnung der Production« würde »das Risico desselben auf Null reduciren«.422 Hitze hatte mit den Mitteln des Regeldispositiv die Ziele des Gnadendispositivs herstellen wollen. Es war ein erratischer Versuch. Wurde die Berechenbarkeit sozialer Gesetze abgelehnt, konnte das Normale nicht im Durchschnitt gefunden werden. Huber lehnte 1904 die Identifizierung des Normalen mit dem Durchschnitt noch ab: Der Unterschied zwischen den einzelnen Menschen ist bald grösser, bald kleiner; er variiert in unendlicher Mannigfaltigkeit von der gänzlichen Unähnlichkeit eines Geistesriesen und eines blöden Kindes bis zur frappierenden Ähnlichkeit von Zwillingen; aber eine totale Gleichheit findet sich auch bei letzteren nicht. Es gibt keinen Durchschnittsmenschen, der zur Beurteilung der übrigen als Schablone dienen könnte.423

417 Hertling, Georg von: Einige Bemerkungen zu Fr. Hitze’s »Kapital und Arbeit«. In: Ders.: Aufsätze 27–74, hier 40 f. 418 Ebd. 30–32. 419 Ebd. 37. 420 Ebd. 40. 421 Hitze: Kapital 392 f. Vgl. auch Ebd. 473–493. 422 Ebd. 567 f. 423 Huber: Hemmnisse 102.

390  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Gutberlet wies 1915 übereinstimmend damit darauf hin, dass der Durchschnitt nur einen »Punkt« darstelle, aber die Normalität »eine große Ausdehnung« habe. Denn der Begriff des Durchschnitts sei nicht »quantitativ«, sondern »qualitativ« zu bestimmen: »Normal ist der Mensch, der für die Aufgaben des menschlichen Lebens ausgerüstet ist. Diese Ausrüstung und die speziellen Aufgaben sind aber so mannigfaltig, daß sofort die Breite der Normalität verständlich wird.«424 Normalität wurde im Exorzismusdispositiv nicht mehr in der Transzendenz gesucht, sondern in der Immanenz. Der Berechnung von Durchschnitten, also die Herleitung des Normalen aus dem beobachteten Objekt selbst, stand aber die Willensfreiheit noch entgegen. Schließlich setzte sich aber die Herleitung des Normalen aus dem beobachteten Objekt selbst, also die Bildung von Durchschnittswerten mittels Berechnung, durch, wie sich in den eingangs angeführten Lohnberechnungen von Albert Maria Weiß zeigen ließ. Das Normale mit dem Durchschnitt identifizierte 1887 auch Eugen Jäger, Mitglied der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker, in deren Umfeld sich auch Weiß bewegte. Der gerechte Preis sollte sich nach den »Durchschnittsgeschäften« richten. Darunter verstand er Geschäfte »mit einem mittleren Betriebe oder Umschlage«. Es gelinge ihnen, »den Preis so niedrig zu halten, daß das Publikum zufrieden ist und die Einnahme den standesgemäßen Ansprüchen des Kaufmanns und seiner Familie genügt«. Diese »Durchschnittsgeschäfte« bilden »in normalen Zeiten« die Mehrzahl. Unter diesen Bedingungen herrsche »ein auskömmlicher mittlerer Wohlstand«. Größere Betriebe können bei gleichen Preisen Reichtümer ansammeln, kleinere Betriebe können den Lebensunterhalt nur bei höheren Preisen erhalten.425 Die Lohnhöhe, die sich nach der 1891 veröffentlichten Ansicht von Liberatore nicht durch Angebot und Nachfrage bestimmen lasse, sollte sich stattdessen an einer Normfamilie mit zwei bis drei Kindern orientieren. Dies sei »die Zahl, die man durchschnittlich voraussetzen kann, weil die Erfahrung lehrt, daß ungefähr die Hälfe der zur Welt gebrachten Kinder im zarten Alter stirbt«.426 Den derart berechneten Lohn sollte der Staat dann mit Hilfe von rechtlichem Zwang durchsetzen.427 Heinrich Pesch wollte seinen Minimallohn 1897 an den durchschnittlichen Lebensbedürfnissen der Arbeiter orientieren. Naturrechtliche Basis war also das Recht auf Existenz. Damit die Lohnhöhe der ausgleichenden Gerechtigkeit entsprach, mussten sich Leistung und Gegenleistung entsprechen. Das bedeutete, dass sich die Höhe des Lohnes nach dem Wert der Arbeit richten musste. Berücksichtigt werden mussten der Aufwand an Zeit, Kraft, Geschicklichkeit, Intelligenz, Ausbildung sowie »für die Verantwortung und für die Gefahren, die mit einer derartigen Arbeit 424 Gutberlet: Psychologie 153. 425 Jäger: Handel 116 f. 426 Liberatore: Grundsätze 270. 427 Ebd. 294.

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naturgemäß zu übernehmen sind«.428 Dieser Lohn bilde dann »unter normalen Verhältnissen« die Untergrenze, wenn Arbeitskraft, Arbeitsleistung und Bedürfnisse des Arbeiters »normal« seien und die »allgemeine Geschäftslage der betreffenden Branche« derart sei, »daß die Zahlung des absoluten Minimallohnes ohne eigene positive Schädigung den Unternehmern dieser Branche möglich ist«. Die individuellen Verhältnisse des Unternehmers könnten dabei nicht berücksichtigt werden, »weil für die Preisbildungen überhaupt das Individuelle hinter dem Allgemeinen zurückstehen muß«. Dabei müsse bei der Bestimmung der Lohnhöhe auch die Familie des Arbeiters berücksichtigt werden, da das Recht auf Verehelichung natürlich begründet sei. Deshalb forderte er: »Die Lohnbestimmung aber richtet sich nicht nach den wenigen Ausnahmefällen, in denen vereinzelte Arbeiter ehelos bleiben, sondern nach der großen Masse und dem, was naturgemäß gewöhnlich geschieht.«429 Das Normale wurde im Übergang vom Gnaden- zum Exorzismusdispositiv von einer transzendenten zu einer immanenten und im Übergang vom Exorzismus- zum Regeldispositiv von einer qualitativen zu einer quantitativen Größe. Die das agonale Exorzismusdispositiv bestimmende Forderung, in das soziale und ökonomische Gefüge proaktiv einzugreifen, um Gefahren in Risiken zu transformieren, erforderte die Bestimmung eines Ziels dieser Eingriffe. Während eine Gefahr nur eine Reaktion ex post erlaubt, ist das Risiko auf eine vorausschauende und d. h. berechnende Perzeption der Zukunft orientiert. Neben der Standardisierung stellt die Normalisierung eine Maßnahme dar, um Gefahren in Risiken zu transformieren.430 Deshalb musste sich das Exorzismusdispositiv zum Regeldispositiv normalisieren, d. h. die Normalität eines sozialen Objekts wurde nicht mehr von einer außerhalb liegenden Norm abgeleitet, sondern aus der berechnenden Beobachtung dieses Objekts. Wenn Albert Maria Weiß proletarische Normallebensläufe berechnete, dann bezog er sich nicht mehr auf eine abstrakte, außerhalb der beobachteten Gruppe liegende Norm, sondern leitete die Norm aus dem konkreten Objekt seiner Beobachtung ab.431 Die Frage nach der Verantwortung wurde dabei von der Frage nach der Normalität ersetzt.432 Das zeigt sich insbesondere bei den vor allem auch katholischerseits geforderten Sozialversicherungen, die den Schaden von der Ausnahme zum Normalfall machten.433 428 Pesch: Lohnvertrag 497–499. 429 Ebd. 504–506. 430 Evers / Nowotny: Umgang 249. Auch Bonß: Risiko 25 stellt fest, dass die Wahrnehmung von Unsicherheit als Risiko zur »Normalisierung jener Unsicherheit, die als ein konstitutiver Bestandteil der Moderne anerkannt werden muß«, führt. 431 Zu dieser Funktionsweise von Versicherungen vgl. Ewald: Vorsorgestaat 215 f. 432 So fragt das Berufsrisikoprinzip der Sozialversicherungen nicht mehr nach Schuld, sondern führt zur Differenzierung von Normalität und Anomalie. Vgl. Ebd. 365. 433 Vgl. Bonß: Risiko 212.

392  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Foucault unterscheidet im Hinblick auf die Verarbeitung von Kontingenz zwischen einem Souveränitätsdispositiv, einem Disziplinierungsdispositiv und einem Normalisierungsdispositiv.434 Das auf das Territorium bezogene und im späten Mittelalter entstandene juridische Souveränitätsdispositiv teilt binär zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Es ist an Normativität orientiert, weshalb es die Willensfreiheit betont sowie Zwang und Verbot fordert. Es lässt nur die Beobachtung diskontinuierlicher Einzelfälle zu.435 Das Disziplinierungsdispositiv des frühneuzeitlichen Verwaltungsstaates setzt Überwachungs- und Korrekturmechanismen in Kraft und richtet sich auf den Körper. Neben Gebot und Verbot treten Leistung und Moral als gesellschaftliche Regulierungsmechanismen. Normalisierung erfolgt durch Klassifizierung, d. h. durch Spaltung zwischen Normalem und Anormalem. Diese Normalisierung ist aber noch nicht auf einen Mittelwert bezogen, sondern auf eine außerhalb liegende Norm. Das Normale wird aus dem Normativen abgeleitet. Es ist deshalb an einer Idealnorm orientiert. Statistisch ermittelte Daten werden als natürlich wahrgenommen und dadurch enthistorisiert und entdynamisiert. Einzelfälle werden zu diskontinuierlichen Reihen mit stabilen Grenzen untereinander zusammengefügt.436 Das Normalisierungsdispositiv, das nach Foucault im »Regierungsstaat« des 18. und 19. Jahrhunderts vorherrschte, gliedert ein Delikt in eine Reihe wahrscheinlicher Fälle und in eine Kostenkalkulation. Statt der binären Aufteilung in Erlaubtes und Verbotenes werden ein optimaler Mittelwert und Grenzen des Akzeptablen festgelegt. Das Normalisierungsdispositiv gründet nicht mehr im Territorium, sondern richtet sich auf die Gesamtheit der Bevölkerung. Beobachtet wurden nicht juristische Einzelfälle, sondern Massenobjekte, aus denen das Normale durch Berechnung abgeleitet wird. Dabei zielt das Normalisierungsdispositiv nicht auf Gebot und Verbot, sondern auf Regelung. Das Normative wird aus dem Normalen abgeleitet. Bei der statistischen Beobachtung entstehen kontinuierliche Felder mit flexiblen Grenzen. Klassifizierung erfolgt unter Bezugnahme auf die Normalität einer Gruppe, anhand der Abweichung vom gruppenspezifischen Mittelwert. Das Normalisierungsdispositiv schafft den Durchschnittsmenschen. Sozialpolitik soll seine Existenz ermöglichen.437 434 Vgl. dazu Foucault: Geschichte 13–50; ferner Bublitz: Macht 275. 435 Foucault: Geschichte 17 f. 436 Zur Definition des Disziplinierungsdispositivs vgl. Ebd. 89 f.: »Die disziplinarische Normalisierung besteht darin, zunächst ein Modell, ein optimales Modell zu setzen, das in bezug auf ein bestimmtes Resultat konstruiert ist, und der Vorgang der disziplinarischen Normalisierung besteht darin, zu versuchen, die Leute, die Gesten, die Akte mit diesem Modell übereinstimmen zu lassen, wobei das Normale genau das ist, was in der Lage ist, sich dieser Norm zu fügen, und das Anormale ist das, was dazu nicht in der Lage ist.« – Das Disziplinierungsdispositiv von Foucault entspricht dem »Protonormalismus« von Link: Versuch 57 und 220 f. 437 Vgl. Foucault: Geschichte 98. Vgl. dazu Ewald: Vorsorgestaat 192 f. – Das Normalisierungsdispositiv, von Foucault auch als Sicherheitsdispositiv bezeichnet, entspricht dem »fle-

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Wenn diese verschiedenen Dispositive auch schwerpunktmäßig einer bestimmten Zeit zuzuordnen sind, handelt es sich nicht um eine bloße Aufeinanderfolge. Das Souveränitätsdispositiv verschwand nicht mit der Entwicklung des Disziplinierungs- und des Normalisierungsdispositivs. So ist es auch bei den katholischen Kontingenzdispositiven, die mit denjenigen Foucaults allerdings nicht deckungsgleich sind. Wie das Souveränitätsdispositiv ist das Gnadendispositiv einzelfallbezogen und reaktiv, aber die Willensfreiheit ist nicht generalisiert. Proaktiv Handeln können die Gebenden, die Nehmenden nur reaktiv erdulden. Es ist deshalb einseitig an Belohnung und nicht an Strafe orientiert. Wie im Disziplinierungsdispositiv wird Recht durch Moral als gesellschaftlicher Regulierungsmechanismus ersetzt, weshalb das Gnadendispositiv wie dieses an der transzendenten Vollkommenheit orientiert ist. Normalität wird von transzendenter Normativität abgeleitet. Das nachfolgende Exorzismusdispositiv erscheint dagegen wir ein Rückschritt zum Souveränitätsdispositiv. Die Generalisierung der Willensfreiheit im Exorzismusdispositiv führt dazu, dass auch die Strafe generalisiert wird. Dies geschieht durch rechtlichen Zwang. Normalität wird nicht mit transzendenter Vollkommenheit identifiziert, sondern in den immanenten Naturgesetzen gesucht, die aber wie im Disziplinierungsdispositiv außerhalb des beobachteten Objekts liegen, weshalb sich noch keine Orientierung an Mittelwerten ergibt. Dabei wird Armenfürsorge bereits durch Sozialpolitik ersetzt. Aus dem Exorzismusdispositiv entwickelt sich das Regeldispositiv, das mit dem Normalisierungsdispositiv weitgehend deckungsgleich ist. Die Normen werden zunehmend aus dem verdateten beobachteten Gegenstand abgeleitet. Bei der statistischen Beobachtung entstehen kontinuierliche Felder mit flexiblen Grenzen. Das Regeldispositiv ist im Unterschied zum Gnaden- und Exorzismusdispositiv an der Herstellung von Konformität orientiert. Im Gegensatz zum personalistischen Gnadendispositiv bewirkt das Regeldispositiv die Herstellung von Konformität durch rechtlichen Zwang, um Berechenbarkeit herzustellen.438 Nach Fromm sind beide Vorgehensweisen gerade durch ihre spezifische Funktionsweise religiös. Für Fromm besteht der Zweck der Religion für den Menschen darin, »seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen«.439 Dafür stehen der Religion zwei Mittel zur Verfügung. Das eine Mittel sieht er in der Liebe. Sie ermögliche Integration ohne Unterdrückung der Individualität. Denn Liebe sei nur in Freixiblen Normalismus« von Link: Versuch 57. – Beschreiben Normativität und Normalität bei Foucault verschiedene Phänomene, betont sein Schüler Ewald die normalisierende Funktion des Rechts, wodurch er Normalität und Normativität in Relation setzt. Vgl. Link: Versuch 122. 438 Degele / Dries: Modernisierungstheorie 107–111 sehen darin ein Merkmal der Moderne. Die Rationalisierungstendenz der Moderne führt zu einer zunehmenden Standardisierung des menschlichen Lebens auf Kosten individueller und regionaler Differenzen, um Effizienz, Berechenbarkeit und Kontrolle zu gewährleisten. 439 Fromm: Kunst 22 f.

394  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  heit und nie unter Zwang möglich.440 Daneben stehe der Religion die Herstellung von Konformität durch Zwang zur Verfügung, welche zur »Standardisierung des Menschen« und zur Aufgabe der Individualität führe.441 Den Konformität herstellenden Zusammenhang von Normalisierung und Verrechtlichung machten die Haider Thesen der Freien Vereinigung katholischer Socialpolitiker von 1884 deutlich. Sie forderten durch rechtlichen Zwang die Herstellung einer Lohnhöhe, die »für einen Arbeiter bei normaler Arbeitskraft ohne übermäßigen Aufwand von Zeit und Kraft alle erforderlichen Existenzmittel (eventuell auch für eine Familie) und einen mehr oder minder großen Sparpfennig für die Zeit der Arbeitslosigkeit« gewährleisten sollte. In der Agrarpolitik wurde der bäuerliche Familienbetrieb als Normalfall definiert. Analog zur Bestimmung der Lohnhöhe sollte er für die »standesgemäße Existenz einer bäuerlichen Familie hinreichend« sein und der »stabilen selbstständigen Existenz seines Besitzers« dienen, vom »Inhaber« bewohnt und »ohne Verwendung von Beamten« bewirtschaftet werden. Intestaterbrecht und Verschuldungsgrenzen sollten einerseits »die Aufsaugung des Bauernstandes in Latifundienwirthschaft, andererseits die Auflösung desselben in Zwergwirthschaften« verhindern.442 Die Faszination am Außergewöhnlichen im Gnadendispositiv ersetzte das Exorzismusdispositiv durch das Gesetzmäßige, den unerklärlichen Sondereingriff Gottes durch die Beherrschung der (dämonischen) Realität, wodurch es sich zum Regeldispositiv entwickelte, in dem die Orientierung an der Idealnorm durch die Berechnung der Durchschnittsnorm ersetzt wurde. Für Pruner war die Maß­ losigkeit 1858 sowohl Kennzeichen der Sünde als auch der Liebe. Beides benötigte seiner Ansicht nach Grenzen.443 Die »Hochschätzung des Leidens« eignete sich nach der 1910 geäußerten Ansicht von Franz Walter für den »Durchschnitt der Menschen« nicht.444 Das Studium der Scholastik betrachtete Albert Maria Weiß in der Rückschau auf sein Leben als »Zügel für den Geist« im Gegensatz zur 440 Ebd. 36–48. 441 Ebd. 27–34. 442 Beschlüsse, vorgelegt auf dem Amberger Katholikentag 1884. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker 1887 7–19. 443 Pruner: Lehre II VIII: »In unserer Zeit, welche über Alles räsonnirt, was das eigene Ich zu gewinnen oder zu verlieren hat, ist es nothwendig, genau die Grenzen zu kennen, innerhalb welcher die Freiheit sich bewegen darf, ohne zum Frevler an Gottes heiligem Gesetze zu werden, und über welche hinaus nach unten das Gebiet der Sünde beginnt, die zügellos und gesetzlos ist, – und nach oben das Gebiet der Liebe, deren Gesetz es ist, Gutes zu thun, ohne je zu sagen, ›es ist genug‹.« – Ebd. 401: »Die Liebe beschränkt sich nicht darauf, das von Gott gegebene Gut nicht zur Sünde zu mißbrauchen oder Andere nicht zu verletzen, sondern sie ist bereit, Alles Gott zu opfern, und nicht die Schranken der negativen Gebote der Gerechtigkeit ›non occides, non moechaberis, non furtum facies‹ halten sie in der Tugend, sondern unverwandten Blickes sieht sie auf die unendliche Heiligkeit und will nur Eines, – heilig sein, wie ihr Vater im Himmel heilig ist.« 444 Walter: Leib 52.

Die Normalisierung der sozialen Gerechtigkeit  395

»Überspannung« der Romantik, »die alle Formen formlos, die alle Ideale zwecklos macht, die das Ziel nicht hoch und weit genug zu stecken weiß«.445 In dem Maße, in dem die Kirche zur Heterotopie wurde, wurde die außerkirchliche Welt normal und diese Normalität auch in der Immanenz gesucht und aus der Beobachtung der Immanenz berechnet, wie Schneid in einer neuscholastischen Propagandaschrift von 1881 deutlich machte. So kritisierte er, dass bisher viel »über den Staat und die Societät philosophiert« worden sei und man sich »um das thatsächliche Leben des Volkes und seiner Glieder wenig gekümmert« habe. Neuerdings sei eine Umkehr zu bemerken. Immer mehr »Socialpolitiker« »beobachten und studiren Land und Leute, um die socialen Gesetze aus der Societät selber zu gewinnen«. Man nenne diese Methode die empirische, »weil nach ihr auf demselben Wege die Gesetze des socialen, wirthschaftlichen und politischen Lebens gewonnen werden, auf welchem die Naturwissenschaft die Gesetze der physischen Welt erlangt hat«. Diese Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Ethik habe bereits Aristoteles gegen Platons Idealstaat angewandt. Thomas habe diese Methode dann übernommen und ebenfalls »empirisch über den Staat philosophirt«. Er habe »seine Lehren über die Funktionen des socialen Lebens, über Eigenthum und Vertheilung der Güter, über Wucher, Armenwesen, Capital u. s. w. dem wirklichen Leben abgelauscht«.446 Beßmer erteilte 1906 allen Versuchen zur Herleitung der immanenten Normalität aus der Transzendenz eine Abfuhr. Suche man den »eigentlichen Typus des Menschen« im Hinblick auf das jenseitige Leben, dann dürfe man nur »den reinen Naturzustand, status naturae purae, zum Ausgangspunkt nehmen.« Mit diesem »Naturzustand« meinte er den paradiesischen Zustand des Menschen. Im Hinblick auf das Diesseits sei es dagegen falsch, darin »den Normaltypus des Menschen« zu erblicken.447 In dieser Orientierung am Durchschnitt konkretisierte sich ein Empirismus, den Franz Xaver Kaufmann, kritisch als Widerspruch zum neuscholastischen Anspruch auf Präzision und Allgemeinheit betrachtete, als »spekulative Überhöhung intuitiver Einsichten in die Struktur des Alltagswissens«.448 Dadurch werde, so Knoll, »ein Zustand sozialer Wirklichkeit abgebildet und derselbe als ein Gesolltsein erklärt«.449 Dabei handelt es sich eben um Normalisierung. Die Norm wurde nicht mehr aus dem außerhalb der Gesellschaft liegenden Naturrecht abgeleitet, das Naturrecht wurde vielmehr mit der Gesellschaft

445 Weiß: Lebensweg 153 f. 446 Schneid: Philosophie 110 f. 447 Beßmer: Grundlagen 157–160. 448 Kaufmann: Überlegungen 147 f. Vgl. dazu Böckenförde: Naturrecht 109–112; Hollerbach: Naturrecht 238 f.; Knoll: Kirche 37 f. 449 Ebd. 38.

396  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  identifiziert.450 Neben der juridischen Spekulation machte sich die Empirie immer bemerkbarer. Cathrein brachte diese Veränderung 1887 zum Ausdruck: »Denn die Verleihung der natürlichen Rechte richtet sich nicht nach dem, was ausnahmsweise, sondern nach dem, was allgemein oder durchschnittlich erheischt wird.«451 Durchschnitt und Naturrecht widersprachen sich nicht mehr. Diese Durchsetzung des Durchschnittsmenschen macht für Niklas Luhmann systemtheoretischen Sinn. Er sieht im Übergang von der Idealnorm zur Durchschnittsnorm ein Ergebnis der Ausdifferenzierung des religiösen Systems. Wenn ein religiöses System wie das christliche mit scharfen Grenzen zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern ausdifferenziert wird, dann wird die – in unserem Fall verkirchlichte – Idealnorm immer unerreichbarer und öffnet Raum für die Durchschnittsnorm zur Handhabung des menschlichen Zusammenlebens.452 Und dies auch in der religiösen Beobachtung der Welt. Dabei weist Rüb darauf hin, dass die mit der Einführung der Sozialversicherungen einhergehende »Orgie des Messens und Kalkulierens und der Konstruktion des Durchschnittsmenschen« individuelles Handeln für gesellschaftliche Prozesse bedeutungslos machte.453 Auf die katholische Theologie übertragen heißt das, dass eine Sozialethik, die sich als Strukturenethik verstand, die also die strukturellen Rahmenbedingungen für die Möglichkeiten zum Erwerb des individuellen Heils aufgrund einer generalisierten Willensfreiheit herstellen wollte, normalisierend wirken musste. Diese Prognostizierbarkeit kollektiven Verhaltens wurde auch in der katholischen Sozialethik zur Grundlage der sozialen Zukunftssorge, wie die Berechnungen von Hitze und Weiß zeigen. Quételets Samen der statistischen Regelmäßigkeit waren ahistorisch und konnten gerade deshalb im ahistorischen Naturrecht auf fruchtbaren Boden fallen. Dadurch entwickelte sich das agonale, auf Willensfreiheit gründende Exorzismusdispositiv zum normierenden Regeldispositiv.

8. Der Geist des Mittelstandes Groethuysen hat in seiner »Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung« im Frankreich des Ancien Régime darauf hingewiesen, dass das Bürgertum für die katholische Moraltheologie ursprünglich keinen Sinn hatte. Armut und Reichtum waren es, denen die Kirche Sinn verlieh. Die Armen wur 450 Zu dem durch die Sozialversicherungen verursachten Bedeutungswandel des Naturrechts vgl. Ewald: Vorsorgestaat 461. 451 Cathrein: Privatgrundeigenthum 345 f. 452 Luhmann: Funktion 146. Damit übereinstimmend sehen Degele / Dries: Modernisierungstheorie 120 f. die Normalisierung menschlichen Denkens, Handelns und Fühlens als Teil der Rationalisierungstendenz der Moderne. 453 Rüb: Risiko 311 f.

Der Geist des Mittelstandes  397

den gepriesen, die Reichen getadelt. Sie mussten Versuchungen widerstehen, die die Armen nicht hatten. Die Reichen waren dazu da, um den Armen zu spenden, die Armen, um den Reichen die Möglichkeit zur Spende und damit zum Heil zu ermöglichen. Arme und Reiche waren aufeinander angewiesen. Die dualistische Unterteilung der Gesellschaft in Armut und Reichtum lasse sich deshalb auf das antithetische Verhältnis von Sünde und Vergebung zurückführen. Der dazwischen stehende Bürger ließ sich in dieses Schema nicht integrieren. Im Gegensatz zum Reichen hatte er das Almosengeben nicht nötig. Er existierte in sich selbst, war auf kein Gegenüber angewiesen. Der Bürger war das Normale, Armut und Reichtum stellten Abweichungen von dieser Norm dar.454 Wegen der fehlenden Heilsrelevanz schätzte das an der Idealnorm orientierte Gnadendispositiv den bürgerlichen Bereich der Mitte zwischen Armut und Reichtum nicht. Das Mittlere war indifferent und mittelmäßig. Eine Regierung, so Friedrich Schlegel, solle nicht eine »bloß passive« Mitte zwischen zwei streitenden Parteien einnehmen, so, »als ob man Nichts wäre und eigentlich indifferent«. Folge könne nur ein »unentschiedenes inkonsequentes Schwanken« sein. Dies sei das »Extrem der Schwäche«. Eine Regierung müsse eine aktive Rolle einnehmen und diese befinde sich nicht in der Mitte.455 Der von Liebe, Leiden und Opfer faszinierte Clemens Brentano stellte sich 1834 gegen eine Volksausgabe des »Bitteren Leidens«, weil es ihm bisher schon zu sehr »in den Mittelstand gekommen war«.456 Den Katholik stieß 1850 die »Masse ›der Gebildeten‹« als Folge der »allgemeinen Gleichmacherei« und der »Vermischung der Standesunterschiede« ab.457 Ratzinger beklagte in der caritativ geprägten ersten Auflage seiner Volkswirtschaftslehre 1881 die herrschende Mittelmäßigkeit: Die Herrschaft der Mittelmäßigkeit hat eine eigenthümliche Erscheinung hervorgerufen in der sogen. öffentlichen Meinung, welche der ureigenste Ausdruck der Gesinnung der großen Masse der Gebildeten ist. Allem Großen und Erhabenen steht die öffentliche Meinung tief feindselig gegenüber; das Genie, welches über die große Masse hervorragt, wird angefeindet; religiöse Forderungen, welche über ein gewisses Durchschnittsmaß von Opfer und Entsagung hinausgehen, werden auf das heftigste bekämpft.

Der Egoismus habe die »schöpferische, ideale Kraft gebrochen, hat jene Größe, welche nur in der Liebe, in der Entsagung und im Opfer wurzelt, vernichtet und hat ein Herabsinken auf den Stand einer gewissen Mittelmäßigkeit verursacht«.458 454 Vgl. Groethuysen: Entstehung II 26 f. und 43–45. 455 Schlegel: Signatur 542 f. 456 Zit. nach Osinski: Katholizismus 175–183. 457 Zur Orientierung in der Gegenwart. In: Der Katholik 1 (1850) 5–21, hier 13. 458 Ratzinger: Volkswirthschaft (1881) 16–18; diese Passage übernahm Ratzinger in die zweite Auflage seiner Volkswirtschaftslehre: Ders.: Volkswirtschaft (1895) 562–564.

398  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Für die Historisch-politischen Blätter konkretisierte sich das Dual von Armut und Reichtum 1840 im Verhältnis zwischen den »mittleren Klassen« und den »untern, mit ihrer eigenen Hand arbeitenden Klassen«, die »der ältere Sprachgebrauch den ›gemeinen Mann‹ zu nennen pflegt«. Es handelte sich nicht mehr um eine Polarisierung von oben und unten, sondern von Mitte und unten. Das Dual passte nicht mehr zur sozialen Realität. Es war verschoben. Es wurde nicht mehr als gottgegeben wahrgenommen, sondern als Folge des revolutionären Gleichheitsgrundsatzes in der Wirtschaft. Deshalb konnte es keine Heilsrelevanz mehr für sich beanspruchen. Die Historisch-politischen Blätter erblickten darin »Symp­tome«, die »auf ein tiefer liegendes, gefährliches Unwohlseyn der Gesellschaft und auf eine stürmische Zukunft deuten«.459 Im Jahr 1855 konstatierten die Historisch-politischen Blätter dann eine »Spaltung des Volkes in bourgeoisie und peuple«. Während sich die Lage des Peuple »fortwährend verschlimmert« habe, hätten die Angehörigen der Bourgeoisie nur ihre eigenen Interessen verfolgt und dadurch gezeigt, »daß sie nicht mehr wahrhaft in der Volksgemeinschaft leben, denken und handeln«. Die »dem Volke entwachsende Bourgeoisie« habe sich »factisch vom Volke getrennt« und sei »an die Stelle des frühern Adels« getreten460  – aber ohne die Heilsrelevanz von Armut und Reichtum fortzuführen. Als Hirscher den ersten deutschen Katholikentag von 1848 kritisierte, hatte er dieses verschobene und paradoxe Dual, das ein Mittleres mit einem Pol in einem Dual identifizierte, übernommen. Dabei zeigte er aber im Unterschied zu den Historisch-politischen Blättern Sympathie für den »Mittelstand«: »Nicht die Massen sind die Nation; der Mittelstand, namentlich die in der Gesellschaft durch Talent, Kenntnisse, Amt oder Vermögen höher Stehenden sind die Nation.«461 Dieser Mittelstandsbegriff ist Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung, die das Bürgertum vom dritten zum mittleren Stand machte. In der feudalen Ordnung hatte keine Notwendigkeit bestanden, das Bürgertum zwischen den Polen von Adel und Untertanen von diesen zu trennen und als in der Mitte stehend zusammenzufassen. Deshalb ist der Mittelstandsbegriff Ausdruck einer neuen, im 18. Jahrhundert sich erst entwickelnden Gesellschaftsstruktur, in der das Bürgertum nicht mehr am Ende der rechtlich determinierten ständischen Hierarchie, sondern in der Mitte zwischen Adel und besitzlosen Unterschichten in einer ökonomisch determinierten Struktur steht. Der Mittelstand wurde zum Synonym für das Bürgertum.462 459 Über die Gefahr einer socialen Revolution durch die untern Volksklassen und über deren Stellung in älterer und neuester Zeit. In: Historisch-politische Blätter 5 (1840) 577–586, 666–685 und 739–760, hier 577–581. 460 Bourgeoisie und Volk, insbesondere in Rhein-Preußen. In: Historisch-politische Blätter 36 (1855) 981–990, hier 982–984. 461 Zit. nach Mooser: Volk 269 f. 462 Vgl. Conze: Mittelstand 49–57.

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Dabei differenzierte sich dieser Mittelstandsbegriff auch im katholisch-sozialethischen Diskurs immer weiter aus. Buß beschränkte den Begriff der »Mittelklasse« 1837 allein auf den »Handwerkerstand«, als er ihn als durch die Industrialisierung gefährdetes »Moment des Gleichgewichts zwischen den andern Ständen und ihren sich bekämpfenden Interessen« beschrieb.463 Joerg führte das Entstehen der Bourgeoisie in den Historisch-politischen Blättern 1865 auf den »Ruin des Mittelstandes« zurück. Dieser »alte und ächte« dritte Stand des korporativ gebundenen ständischen Bürgertums habe sich in Bourgeoisie und »vierten Stand« geteilt. Während die Bourgeoisie durch die ökonomischen Liberalisierungen den Mittelstand zerstört habe, wolle der vierte Stand den »ruinirten Mittelstand rächen« und sich »an dessen Stelle setzen«, worin er den Beginn einer »neuen kleinbürgerlichen Culturperiode« erblickte.464 Ein weiterer Artikel im selben Jahrgang der Historisch-politischen Blätter beschrieb ebenfalls die soziale Ausdifferenzierung des »dritten Standes« in »Bourgeoisie« und »Peuple«. Der »Peuple« wurde dann der »›vierte‹ Stand«.465 Dabei strebe die Bourgeoisie durch die Aufhebung aller rechtlichen Unterschiede, durch Grundentlastung und Gewerbefreiheit, der »einzig möglichen Stand, der Staat selber und der Stand katexochen« zu werden. Die Bourgeoisie sei deshalb Träger einer »socialen Revolution«. Dadurch sollte »alles Unbewegliche, alles fest in sich Abgeschlossene, alles ›Ständische‹ […] in Fluß gebracht werden«. Um das »allgemeine und gleiche Staatsbürgertum« zu erhalten und die »Vernichtung alles Classenbewußtseyns« zu erreichen, ziele die Bourgeoisie nur »zum Schein« gegen Adel und Klerus. Vor allem richte sie sich gegen den »ächten bürgerlichen Mittelstand«, der als »eigentliches Bürgerthum« von der Bourgeoisie unterschieden sei. In der Revolution von 1848 sei dann »das eigentliche Bürgerthum, die erhaltende Macht im Mittelstande, untergegangen und das in Deutschland sonst fremde Gewächs der kosmopolitischen Geldmacht, die Bourgeoisie, zur Herrschaft gelangt«. Die Regierungen verbündeten sich schließlich mit der Bourgeoisie, was zum Dreiklassenwahlrecht geführt habe und dazu, dass »der Einfluß des eigentlichen Mittel- und Bauernstandes fast ganz vernichtet ist«.466 Dabei erwarteten die Historisch-politischen Blätter das Ende der Bourgeoisie und den Aufstieg des vierten Standes. Man stehe »erst am Anfang einer Entwicklung, die immer größere und ernstere Verhältnisse annehmen wird«.467 Ziel der Bourgeoisie, so Joerg 1867, sei nicht der Sturz der Throne oder die Abschaffung der Religion gewesen, sondern »der Umsturz jeder positiven Organisation des Erwerbslebens«. Als 463 Wortlaut der Rede des Abgeordneten Buß vom 25. April 1837 über das soziale Problem. In: Retzbach: Buß 48–85, hier 64. 464 Joerg: System 51–67. Vgl. auch: Ders.: Geschichte 2–5. 465 Aphorismen über die social-politische Bewegung. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 1000–1018, hier 1005–1008. 466 Ebd. 1009–1013. 467 Ebd. 1017 f.

400  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  sich eine sozialistische Revolution durch die Arbeiter abgezeichnet habe, habe die Bourgeoisie allerdings ein Bündnis mit den Regierungen geschlossen. Und diese Koalition habe in Preußen den Mittelstand und die bäuerlichen Wähler durch das Dreiklassenwahlrecht weitgehend von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen.468 Deshalb gebe es jetzt drei Parteien, und zwar die Partei des Besitzes, die Partei des verdrängten Besitzes und die Partei des zukünftigen Besitzes.469 Der heilsrelevante ständische Dualismus von oben und unten wurde nach Ansicht von Joerg und der Historisch-politischen Blätter durch eine ökonomische Mehrgliedrigkeit ersetzt, das in einem neuen, erst zu schaffenden, wieder heilsrelevanten Mittelstand aufgehoben werden sollte. Joerg setzte seine Hoffnungen nicht auf den untergehenden alten Mittelstand, sondern auf die Schaffung eines neuen Mittelstandes durch die Entproletarisierung der Arbeiter. Deshalb lehnte er eine bloße Rückkehr zu den Zünften und Innungen auch ab. Die soziale Frage bestehe darin, so Joerg 1867, ob den Arbeitern ein Anteil am unternehmerischen Gewinn zustehe. Darauf geben die Reste der »alten gesellschaftlichen Organisation« keine Antwort »und wer bei dem socialen Streit des heutigen Tages immer nur das untergehende Handwerk im Sinne hat, der baut Schlösser in die blaue Luft oder auf den Flugsand der Steppe«.470 Die Aufgabe der Sozialpolitik sei es deshalb nicht nur, das Handwerk vor der Großindustrie zu schützen, sondern auch die Lohnarbeiter der Großindustrie »selber auf die Stufe eines neuen Mittelstandes zu erheben«.471 Dabei beklagte er den durch die Zerstörung des alten Mittelstandes entstandenen Gegensatz zwischen Armut und Reichtum  – was die verlorene Heilsrelevanz des Duals von Armut und Reichtum deutlich macht. Gewerbefreiheit und liberales Erbrecht führten zum Schwinden des »Mittelstandes« und zur zunehmenden Polarisierung zwischen Armut und Reichtum, dem »jeder vermittelnde Übergang der Vermögensverhältnisse« fehle. Dort aber, »wo aber der mittlere Vermögensstand sich auflöst, damit eine kleine Minderheit im Golde schwimme, während die große Masse im äußersten Elend verkommt: da ist an die Stelle der göttlichen Ordnung die öconomische Todsünde an der Menschheit, der Weltwucher getreten«.472 Die katholische Sozialethik nahm einen sozialen Ausdifferenzierungsprozess wahr, der die Identifizierung zwischen Bürgertum und Mittelstand unmöglich machte und der großbürgerlichen Bourgeoisie einen kleinbürgerlichen Mittelstand entgegenstellte, der von Anbeginn an als ökonomisch prekär definiert wurde. Die aus den Wirren der Französischen Revolution entstandenen büro 468 Joerg: Geschichte 5–7. 469 Ebd. 16–20. 470 Ebd. 18. 471 Ebd. 209 f. 472 Ebd. 80 f.

Der Geist des Mittelstandes  401

kratischen Reformstaaten mit dem Ziel einer egalitären Staatsbürgergesellschaft ließen rechtliche Differenzierungen nicht mehr zu. Deshalb wurden die Kommunen als Einwohnergemeinden konstituiert und die Gewerbefreiheit  – zwischen 1811 in Preußen und 1868 in Bayern  – eingeführt. Das ständische Stadtbürgertum verlor seine rechtlichen Privilegien, wurde politisch entmachtet und ökonomisiert. Der Stadtbürger wurde durch den Staatsbürger ersetzt, der rechtlich qualifizierte ständische Hausvater wurde zum ökonomisch definierten Hausbesitzer. Der rechtlich qualifizierte Ausschluss von Abhängigkeit war nicht mehr die Voraussetzung für die Ausübung politischer Rechte. Privilegien – etwa das Dreiklassenwahlreicht – wurden nicht mehr rechtlich, sondern ökonomisch legitimiert. Das alte Wirtschaftsbürgertum der Städte verschmolz mit den Unternehmern zu einer neuen bürgerlichen Oberklasse. Die begriffliche Identifizierung von Bürgertum und Mittelstand löste sich auf. Die Mehrheit der Handwerker, Kleinhändler und Gastwirte entfernte sich ökonomisch und kulturell vom Bürgertum und näherte sich dem Proletariat an. Es entstand das Kleinbürgertum, dessen Statusunsicherheit zwischen Bürgertum und Proletariat zur Ideologisierung seiner sozioökonomischen Stellung als Mittelstand führte und zu dessen zentralem Merkmal die Selbstständigkeit wurde.473 Beim Katholizismus des 19. Jahrhunderts nun handelte es sich nach dem Ausweis der sozialgeschichtlichen Forschung um eine vom Kleinbürgertum bzw. Mittelstand dominierte soziale Formation. Überwiegend katholische Regionen waren oft Rückzugsgebiete vorkapitalistischer und vorindustrieller Wirtschaftsweise, marktfern und agrarisch geprägt. In den katholischen Hauptschauplätzen der Industrialisierung im Rheinland und in Oberschlesien gab es kaum katholische Unternehmer.474 Darin liegt für Mooser der Grund der Wertschätzung des Katholizismus für den so genannten alten, also handwerklichen, kaufmännischen und bäuerlichen Mittelstand.475 Auffällig ist auf jeden Fall, dass die Forderungen nach Schutz des nichtbourgeoisen Mittelstandes vor sozialem Abstieg und nach Hebung des Proletariats in einen nichtbourgeoisen Mittelstand, der zugleich als gesellschaftlich stabilisierend und existenzbedroht dargestellt wurde, vor allem und zuerst im katholisch-sozialethischen Diskurs erhoben wurde. Erst danach und schwächer wurde das Konzept auch im protestantischsozialethischen, konservativen und nationalliberalen Diskurs verwendet.476 Die 473 Zur Entstehung von Kleinbürgertum bzw. Mittelstand vgl. Conze: Mittelstand 63–81; Mergel: Klasse 12 f.; Wehler: Geburtsstunde 199; Hennis: Ende 183–188. – Die Entwicklung vom rechtlich determinierten ständischen Hausvater zum ökonomisch definierten Hausbesitzer zeigt Koselleck am Beispiel des Preußischen Landrechts von 1794 auf. Vgl. Koselleck: Begriffsgeschichten 475. 474 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Mooser: Volk 259; ferner Bauer: Katholizismus 28–53; Maier: Soziologie. 475 Mooser: Beruf 129. 476 Conze: Mittelstand 73–86.

402  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Kongruenz zwischen der Mittelstandsorientierung der katholischen Theologie und der sozialen Basis des Katholizismus ist unübersehbar.477 Allerdings sollte diese Kongruenz nicht überbetont werden und die katholische Sozialethik nicht vorschnell als Lobby des Mittelstandes betrachtet werden. Ging es dem Mittelstand um protektionistischen Schutz vor dem Abstieg, so der katholischen Sozialethik um die Herstellung einer sozialen Position des Risikos. Der Mittelstand ist dann nicht diejenige soziale Formation, die vor Existenzbedrohung geschützt werden muss, sondern deren unaufhebbares Merkmal die Existenzbedrohung ist. Der Mittelständler wird so der Mensch schlechthin. So wie der Mensch vor der Sünde scheitern kann, kann der Mittestand scheitern. Aber er kann, er muss es nicht. Die caritative Solidarität der Not im Gnadendispositiv wurde durch die Transformation von Gefahren in Risiken in eine Solidarität der Angst umgewandelt.478 Das Scheitern, das für den Risikobegriff konstitutiv ist, war es genauso für den katholischen Mittelstandsbegriff. Dippel propagierte in seiner »GesellschaftsLehre« 1873 »einen gewissen Mittelbesitz«, denn mäßiger Reichthum verschafft Sicherheit und Behaglichkeit des Lebens, aber er verweichlicht den Muth nicht; er sichert durch Ausbeutung der Naturkräfte die äußeren Mittel für ein thätiges Leben auf allen den Wegen, welche die Vorsehung vor unseren Augen eröffnet, aber er weckt in ihnen nicht den Wahnsinn des Hochmuthes, wie so oftmals die materielle Überlegenheit es thut.479

Als Hitze 1877 für die Bildung von Produktivassoziationen eintrat, tat er dies einerseits zwar, um »die Concurrenz, die Speculation, das Risico zu mildern«,480 andererseits aber, um die Arbeiter zu Miteigentümern zu machen und sie »aus dem Proletariat in den Mittelstand« zu heben. Denn dann habe der Arbeiter »wieder Etwas zu verlieren, und das gibt conservativen Sinn«.481 Als Cathrein 1887 »übermäßige Armuth« ebenso als Quelle von Unsittlichkeit wie »über 477 Für Bourdieu zeigt sich der kleinbürgerliche Charakter des Katholizismus in der Betonung des Dualismus zwischen Immanenz und Transzendenz, in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits, das für die fortschrittsoptimistische Bourgeoisie nicht derart attraktiv gewesen sei wie für das ökonomisch bedrängte Kleinbürgertum. Denn die religiöse Nachfrage sei abhängig von der sozialen Position. Er spricht hier nicht ohne Ironie von der »wundersamen Harmonie«, die sich zeige »zwischen der Form, welche die religiösen Praktiken und Glaubensinhalte in einer gegebenen Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt annehmen, und den spezifisch religiösen Interessen ihrer bevorzugten Klientel«. Zit. nach Meireis: Legitimierung 202 f. 478 Nach Ulrich Beck bedeutete der Übergang von der ökonomischen Ungleichheitssemantik zur modernen Risikosemantik den Weg von der »Solidarität der Not zur Solidarität der Angst«. Vgl. Beck: Risikogesellschaft 65. 479 Dippel: Gesellschafts-Lehre 333 f. 480 Hitze: Frage 110 f. 481 Ebd. 205–215.

Der Geist des Mittelstandes  403

mäßigen Reichthum« identifizierte, forderte er von einer »weisen Socialpolitik«, »dahin zu streben, daß ein mäßiger Wohlstand möglichst vielen zu theil wird«. Allerdings sei es »ein thörichtes, weil unmögliches Unternehmen, die Armuth gänzlich verbannen zu wollen«. Die Möglichkeit von sozialem Auf- und Abstieg diene »unserer Prüfung, zur Übung der Tugend und dadurch zur Erwerbung des ewigen Lebens«.482 Der Mittelstand bewegte sich für Lehmkuhl 1884 zwischen Bequemlichkeit und Verantwortung. Gewerbefreiheit, Großindustrie, Kapitalismus und Maschinenarbeit bedeuteten »ein beständiges Abhängigkeits- und Dürftigkeitsverhältniß, welches den eigentlichen Mittelstand ausmerzt«.483 Der dadurch hervorgerufene »moralische Schaden« sei hoch, da der Fabrikarbeiter, nicht an Selbstständigkeit gewohnt, Sparsamkeit und Verantwortlichkeit vermissen lasse.484 Einerseits wollte er deshalb einen »Mittelstand«, der, »ohne die Bedürfnisse des Luxus und der Üppigkeit zu kennen, ein bequemes und reichliches Auskommen für die Bedürfnisse des Lebens hat«. Andererseits leite die Selbstständigkeit zu »Vorsorge und Berechnung« an. Deshalb sei die Leistungs­f ähigkeit eines Volkes am größten, »wenn Verarmung und übermäßiger Überfluß gleich weit entfernt waren«.485 Reichensperger verdeutlichte bereits 1847, dass der Mittelstand die Konkretion einer unvollkommenen Gesellschaft war. Es gehe nicht darum, den Menschen »den höchsten Grad des möglichen Glückes« zu geben, sondern darum, »die größte Summe des möglichen Glücks der größten Anzahl möglicher Generationen« zu geben und dies sei das »mittlere Glück«. Dieses sah er in der Landwirtschaft in den »kleinen Gütern« verwirklicht, denn diese sichern »gegen die beiden gefährlichsten Feinde des Staates« gleichermaßen, gegen »übermächtigen Reichthum« und gegen »hoffnungslose Armuth«. Die »richtige Betriebsgröße« sei deshalb »nicht zu groß und nicht zu klein«.486 Das Verhältnis zwischen dem Mittelstand und der juridischen Sozialethik erschöpfte sich also nicht darin, dass diese die Interessen von jenem vertrat, weil jener innerhalb des Katholizismus dominierte. Vielmehr muss – in Anlehnung an Max Weber – festgestellt werden, dass die juridische Sozialethik einen mittelständischen Geist inspirierte.487 482 Cathrein: Privatgrundeigenthum 480 f. 483 Lehmkuhl: Handwerkerfrage 117. 484 Ebd.: »Der Fabrikarbeiter, dem von Jugend auf, bevor er noch erzogen ist, die Taschen gefüllt werden, lernt ein flottes, vergnügungssüchtiges Leben; er entwöhnt sich der natürlichen Auctorität und vergißt nur zu leicht die kindlichen Pflichten der Ehrfurcht und Fürsorge für die Eltern in den Tagen ihrer Dürftigkeit; an eigene Sparsamkeit gewöhnt er sich nicht; wird er selbständig, Familienvater, dann reicht bald – besonders bei den schon angenommenen Lebensgewohnheiten – der Verdienst nicht mehr aus; Armuth und Dürftigkeit tritt ein.« 485 Ebd. 117 f. 486 Reichensperger: Agrarfrage 72–74. 487 Es ist deshalb unzureichend, wenn Knoll behauptet, dass es der neuscholastischen Rechtsphilosophie nicht um Sozialreform, sondern um Akkomodation an den Kapitalismus

404  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Mit dem Risiko bekam der selbstständige Mittelstand moralischen, naturrechtlich gebotenen Sinn. Als die Historisch-politischen Blätter 1865 Mäßigkeitsvereine gegen die Verschwendung, Klöster als Ersatz für die Auswanderung und »Missionen für Rettung der Arbeiterkinder« forderten, sollte das Zusammenwirken dieser drei Organisationen dafür sorgen, dass der »Großbetrieb allmählig auf den handwerksmäßigen zurückgebracht« werde. Denn das Handwerk stehe sittlich höher als die Fabrikindustrie, »welche den Menschen zum Bedienten [!] einer Maschine herabwürdigt. Daher müssen keineswegs die Handwerker zu Unternehmern erniedrigt, sondern vielmehr die Unternehmer zu Handwerkern erhoben werden«.488 Für Dippel machte der »Mittelbesitz« ein Volk 1873 »am glücklichsten«, denn es herrsche »Selbstentsagung auf der einen und Geringschätzung oder Schätzung des Reichthums nach seinem wahren Werthe auf der anderen Seite, Geduld und Ergebung in den Willen Gottes auf der einen, wahrhaft christliche, werkthätige Liebe auf der anderen Seite«. Es gebe dann keine »Unterdrückung und Ausbeutung des Armen durch den Reichen«.489 Wollte Dippel den Mittelstand fördern, weil sich nur in diesem die Nächstenliebe verwirklichen konnte, so setzte sich aber durch, den moralischen Wert des Mittelstandes nicht in der Ermöglichung von Liebe, sondern von Willensfreiheit zu sehen. In den Produktivgenossenschaften sah Stöckl 1880 ein geeignetes Mittel zur Schaffung eines »neuen Mittelstandes«. Ein solcher sei naturrechtlich geboten, denn: Im Menschen liegt einmal ein natürliches Streben nach einer selbstständigen Stellung, wie in jeder anderen, so auch in wirthschaftlicher Beziehung; er wünscht in eine solche Lage zu kommen, daß er nicht lediglich im Dienste und für das Interesse Anderer arbeitet, sondern daß er vielmehr in einer selbstständigen Stellung seine Kraft unmittelbar und direct für seine eigenen Interessen einsetze.490

In Übereinstimmung damit war der genossenschaftliche Zusammenschluss für den Freisinger Diözesanpriester Oberhauser in seiner sozialethischen Dissertation von 1910 das Mittel, das den Mittelstand »aus der tödlichen Umarmung des Großunternehmertums« reiße, »jeder kann wieder selbst seines Glückes Schmied sein, in die eigene Hand ist Sein und Nichtsein gelegt«.491 War es in der caritativen Sozialethik die Liebe gewesen, die den Gegensatz zwischen Armut und Reichtum überbrückte, sollte sich dieser Gegensatz in der juridischen Sozialethik im Mittelstand aufheben. Und dafür waren die Rahmenbedingungen durch rechtlichen Zwang zu schaffen. gegangen und durch sie nur die bereits initiierte Sozialpolitik legitimiert worden sei. Vgl. Knoll: Kirche 73–75 und 84. 488 Zur Kritik von Lösungen der socialen Frage. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 117–131, 196–208 und 274–293, hier 291 f. 489 Dippel: Gesellschafts-Lehre 333. 490 Stöckl, Albert: Productiv-Genossenschaften. In: Ders.: Fragen III 297–312. 491 Oberhauser: Prinzip 61.

Der Geist des Mittelstandes  405

Auch für Hertling bestand das Ziel der Sozialpolitik darin, »die Gegenüberstellung von Capital und Arbeit« zu beseitigen, wie er 1893 ausführte. Produktivgenossenschaften lehnte er aber ab. Sie hätten die in sie gesetzten Hoffnungen enttäuscht, da sie sich den produktionstechnischen und betriebswirtschaftlichen Aufgaben nicht gewachsen gezeigt hätten. Er forderte deshalb, »die noch vorhandenen wirthschaftlich selbständigen kleinen und mittlern Gewerbetreibenden vor dem Aufgehen in der Masse der Industriearbeiter zu schützen« und diesen »die Wege zu eröffnen, die sie oder einzelne von ihnen zu wirthschaftlicher Selbständigkeit führen können«, d. h. »die Arbeiter selbst, einzeln oder in Gruppen, zu Unternehmern zu machen«. Diese »Decentralisation der Industrie«, deren Beförderung er sich nicht zuletzt von der im Vergleich zur Dampfkraft billigeren Elektrotechnik als Energiequelle erhoffte, würde dann die »gleichmäßigere Vertheilung des Reichthums« zur Folge haben, es würde »wachsender Wohlstand in den breiten Schichten des Volkes eintreten«, während die Industrialisierung zur Polarisierung der Gesellschaft geführt habe. Denn »Speculation und Concurrenz« bewirkten das »Schwanken zwischen Überproduction und Arbeitslosigkeit, zwischen überreichem Gewinn und völligem Zusammenbruch«, unlauterem Wettbewerb, Reklameschwindel und Lohndumping. Da davon nur eine Minderheit profitiere, glaubte er nicht, dass diese ökonomische Struktur von Dauer sein werde. Von einem »Naturproceß, der unaufhaltsam den gewerblichen Mittelstand seiner Auflösung entgegentreibe«, könne deshalb nicht die Rede sein. Vielmehr erwartete er, das die »realen, wirthschaftlichen Interessen der Gesellschaft« zum Anwachsen des Mittelstandes führen werden.492 Sie mussten nur etwas stimuliert werden. Dabei wurde die Förderung des Mittelstandes und die damit zusammenhängende Entproletarisierung der Arbeiter von den späten Vertretern einer caritativen Sozialethik abgelehnt. Der Mittelstand war ein Phänomen des 19. Jahrhunderts und stand deshalb mit ständischen Gesellschaftskonzeptionen im Widerspruch. Als sich Adolf Bruder im Staatslexikon 1892 zur Struktur der Gesellschaft äußerte, machte er den Kapitalismus für die »kalte« Polarisierung der Gesellschaft in »Besitz und Nichtbesitz« verantwortlich. Die »Lebensentfremdung« zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei größer als diejenige zwischen den Ständen in der Frühen Neuzeit oder zwischen »Herr und Knecht« im Mittelalter. Die »gemüthliche Berührung des Arbeiters mit dem (unpersönlich gewordenen) Unternehmer« sei verschwunden. Er sprach vom »ausschließlichen gesellschaftlichen Gegensatz von arm und reich«. Dazwischen gebe es zwar eine »Grauzone«, bestehend aus »kleinen Beamten, Schullehrern, besser gestellten Handwerkern und Landleuten, kleinen Kaufleuten und Fabrikanten«. Dabei zögen diese »Ausnahmen des Emporsteigens und Herabsinkens die Auf-

492 Hertling: Naturrecht 77–81.

406  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  merksamkeit in unverdientem Maße auf sich«.493 Nicht die Aufhebung von Armut und Reichtum im Mittelstand, sondern die Rückkehr zur vielgliedrigen ständischen Gesellschaft als automatische Folge einer Rechristianisierung forderte er. Abhilfe erhoffte er sich von »Verbindungen, welche die Gegensätze je auf ihrem eigenthümlichen Gebiet aus sich selbst zu überwinden trachten«, womit er den zwangsweisen Zusammenschluss in berufsständischen Genossenschaften meinte.494 Darin sah er eine »Einrichtung zum Wohl der Arbeit und zu Ungunsten des bloßen Besitzes als solchen, eine Friedensstation in dem alten Hader von Arbeit und Besitz«.495 Auch Lehmkuhl zeigte sich als später Vertreter der cari­ tativen Sozialethik, als er sich 1895 gegen die entproletarisierende Teilhabe der Arbeiter an den Unternehmen aussprach und dazu auf das Alte Testament zurückgriff: Das mosaische Gesetz legt dem jüdischen Volk eine menschliche und liebevolle Behandlung der unfreien Knechte und Mägde ans Herz; es schreibt nach einer gewissen Reihe von Jahren deren Freilassung unter Dazugabe eines anständigen Lohnes vor: Aber an eine sociale Gleichstellung der Herren und Knechte während der Dauer der Knechtschaft denkt es nicht.496

Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sei ein Verhältnis zwischen Ungleichen: Den Hohen und Begüterten kommt es zu, in wahrhaft christlicher Liebe in das Elend und die Noth der übrigen Menschheit einzugreifen und sie zu lindern; den Dürftigen und Niedrigen, in Demuth und Geduld ihr Los zu tragen und vielfach von der Liebe ihrer Mitmenschen zehren zu müssen.497

War es der caritativen Sozialethik um die praktische Milderung und nicht um die strukturelle Aufhebung des Gegensatzes zwischen Armut und Reichtum gegangen, ging es der juridischen Sozialethik nicht um die praktische Milderung dieses Gegensatzes, sondern um dessen strukturelles Verschwinden durch die proaktive Herstellung einer allgemeinen Mittelstandsgesellschaft. Lehmkuhl brachte die Verbindung aus Juridifizierung, Willensfreiheit und proaktiver sozialer Egalität 1893 auf den Punkt, als er die Sozialenzyklika »Rerum novarum« erläuterte. Diese lege der Staatsgewalt die Pflicht auf, durch »Rechtsschutz« und »allgemeine Gesetze« einen »allgemeinen Mittelwohlstand« herzustellen, weise aber »Übergriffe in die privatrechtlichen Verhältnisse, wodurch die freiheitliche Entwicklung der menschlichen Thätigkeit unterbunden und zerstört würde«, 493 Bruder: Gesellschaft 1228–1231. 494 Ebd. 1231–1234. 495 Ebd. 1224. 496 Lehmkuhl: Arbeitsvertrag 11. 497 Lehmkuhl: Arbeitsvertrag 23.

Der Geist des Mittelstandes  407

ab.498 Im Anschluss daran war Ratzingers Ziel 1895 der »Wohlstand aller« auf der Grundlage von »Mittelbesitz«.499 Für Biederlack war es 1898 Aufgabe des Staates, das »wahre zeitliche Gemeinwohl« anzustreben. Dieses »verlangt den Zustand eines wenigstens in etwa gleichmäßigen Vertheiltseins der zeitlichen Güter unter die Bürger«, und dies sowohl im Hinblick auf den gesellschaftlichen Frieden als auch »mit Rücksicht auf den überirdischen Zweck«. Reichtum sei ebenso hinderlich für die Erreichung des Heils wie Armut. Deshalb sei »das erste Erfordernis für eine christliche Socialpolitik«, die »Bildung und Erhaltung des Mittelstandes in dem Umfange und dem Grade zu fördern, daß der weitaus größere Theil der Menschen dem Mittelstande angehöre«. Deshalb müsse der Staat mit den Mitteln des Rechts dafür sorgen, »daß ein gar leichter und plötzlicher Übergang sowohl von der Armut zum Reichthum als umgekehrt möglichst ausgeschlossen werde«.500 Soziale Mobilität solle also nicht verhindert, sondern beschränkt werden. Die wirtschaftliche Struktur sollte nach Ansicht von Biederlack nicht gefährlich sein, sondern riskant.501 Die ökonomische Struktur müsse deshalb dafür sorgen, »daß alle für angestrengte und andauernde wirtschaftliche Thätigkeit, aber auch nur für eine solche, als Lohn schon jetzt die Erhaltung und Besserung ihrer äußeren Lage erwarten können«.502 Der Historiker Ernst Hanisch spricht angesichts derartiger Forderungen von der »sozialkatholischen Vorstellung des Ausgleichs von arm und reich zu einem mittleren (kleinbürgerlichen) Status«.503 Für den Kirchenhistoriker Bernhard Schneider lag eine der wesentlichen Leistungen der ultramontanen Presse darin, ständische und geographische Grenzen eingeebnet zu haben.504 Tatsächlich wurde die Ablehnung der sozialen Egalisierung im Mittleren von ihrer Akzeptanz abgelöst. Das Mittlere hatte sich auf den Weg zum Allgemeinen gemacht, wie es Reichensperger bereits 1848 erkannt hatte, als er eine Rückkehr zur ständisch gegliederten Gesellschaft für unmöglich gehalten hatte. Denn alle 498 Ders.: Frage 1. 499 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 246. 500 Biederlack: Frage 135 f. 501 Ebd. 136 f.: »Solche Erwerbs- und Productionsverhältnisse, welche den ruhigen Besitz des rechtmäßig erworbenen Vermögens sehr unsicher machen, sind ebenso als ungesund zu verurtheilen wie jene Verhältnisse, in welcher das rechtmäßige Eigenthum in beständiger Gefahr ungerechter Verletzung durch Diebstahl und Raub sich befindet. Ein rasches, unverschuldetes Hinabsinken in das Proletariat hat ganz gewöhnlich Entmuthigung, Erbitterung, ja Verzweiflung zur Folge, die dann auch Vernachlässigung der pflichtgemäßen Sorge für das Seelenheil zur Folge haben. Umgekehrt wird die Leichtigkeit, ein großes Vermögen sich zu erwerben, zum übermäßigen Verlangen nach demselben anreizen und damit zum Vergessen des letzten und höchsten Zieles, zur Anwendung auch unerlaubter Mittel, und falls das Vermögen erworben ist, zur Selbstüberhebung und zum Stolz.« 502 Ebd. 137. 503 Hanisch: Denken 160. 504 Schneider: Katholiken 44–54.

408  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  »schönen und großen Tugenden haben längst aufgehört, die ausschließliche oder auch nur hervorstechende Eigenschaft« eines einzelnen Standes zu sein. Der »Mittelstand« habe alle diese Tugenden in sich aufgenommen, das Wissen der Geistlichkeit, das Besitztum und die Waffen des Adels. Der Mittelstand sei nun »der allgemeine Stand«.505 Der Begriff des Mittelstandes tendiert zur Egalisierung, da er sowohl binären als auch ternären Strukturierungsvorstellungen widerspricht.506 Schließlich wurden alle sozialen Schichten zwischen Adel und Bourgeoisie einerseits sowie Arbeiterschaft andererseits zum Mittelstand gezählt, weshalb alle Definitionsund Quantifizierungsversuche scheiterten. Aus dem Mittelstand wurde die »soziale Vielfalt der breiten Mitte« (Eckart Conze) in der Mittelschicht.507 Der Diskurstheoretiker Jürgen Link beschreibt die Umwandlung des binären Gesellschaftsmodells mit antagonistischer Kluft zwischen Armut und Reichtum in ein symmetrisch-ternäres mit dominanter Mitte als Normalisierung.508 Tatsächlich bezeichnete Reischl die gefährliche Abhängigkeit der Arbeiter von den Unternehmern 1892 nicht mehr als Unrecht, sondern als anormal. Er beklagte den »abnormen Zustand der um Lohn für Andere arbeitenden Masse«.509 Aus der Generalisierung der Willensfreiheit entwickelte sich die Vorstellung einer mittelständisch dominierten Gesellschaft als Normalzustand, aus dem Exorzismusdispositiv entwickelte sich das Regeldispositiv. Dessen sozialethisches Leitbild entsprach der von dem Soziologen Helmut Schelsky (1912–1984) beschriebenen kleinbürgerlich geprägten »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, einer egalitären Gesellschaft besitzender Bürger in der zweiten deutschen Nachkriegszeit.510 Dabei strebte auch die liberale Sozialphilosophie nach Aussage des Historikers Lothar Gall einer »klassenlosen Bürgergesellschaft ›mittlerer Existenzen‹« entgegen.511 Es handelte sich dabei um eine liberale »Leitvorstellung bürgerlicher Politik« (Andreas Schulz).512 Dabei sieht Schulz darin die soziostrukturelle Konkretion des von der bürgerlichen kulturellen Hegemonie erhobenen Normierungsanspruchs.513 Im Gegensatz dazu sieht Metz darin eine notwendige Folge 505 Rede Reichenspergers in der Preußischen Nationalversammlung vom 30.10.1848. In: Peter Reichensperger 38–40. 506 Vgl. Conze: Mittelstand 73–81. 507 Vgl. Ebd. 86–88. 508 Vgl. Link: Versuch 436. – Der Mittelstand wurde zunehmend als »natürliches Zentrum der Gesellschaft«, als »Verkörperung sozialer ›Normalität‹« definiert. Vgl. Wehler: Geburtsstunde 199. 509 Reischl: Arbeiterfrage 2. 510 Schelsky: Wandlungen. Vgl. dazu Braun: Konzept; Geißler: Ende. 511 Gall: Liberalismus 115. 512 Schulz: Lebenswelt 45 f. – Diese durch die Auflösung der Grenzen zwischen Ständen und Klassen entstehende nivellierte Mittelklassegesellschaft konkretisierte sich auch in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Vgl. Mergel: Klasse 6–14. 513 Schulz: Lebenswelt 22–25.

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des mit liberalen Vorstellungen zumindest in Spannung stehenden Sozialstaats. Die planende Sozialpolitik bewirke, dass sich die Gesellschaft »auf einen Durchschnitt zubewegt, auf die ›Mittelschichten-Gesellschaft‹, in der eine segmentäre Arbeiter-Sozialpolitik immer weniger integrative Wirkungen erzeugt«.514 Dies meint Werner Conze wohl, wenn er den katholischen Mittelstandsbegriff als »Inbegriff einer entwicklungsfähigen, entspannten industriellen Gesellschaft der Zukunft« versteht.515 Jedenfalls steht ein dominierender Mittelstand in katholisch-juridischer Vorstellung nicht am Ende einer von (wirtschaftlicher) Freiheit geprägten Entwicklung wie in der liberalen Sozialphilosophie, sondern ist ein proaktiv herzustellender Zustand, der Freiheit erst ermöglicht, wie von den Befürwortern des Sozialstaats gefordert. Voraussetzung einer solchen Sichtweise ist die Überwindung von Knappheit. Hatte das Gnadendispositiv auf der Grundlage von Knappheit und daraus folgender ökonomischer Ungleichheit funktioniert, so gründete das juridische Exorzismusdispositiv auf der Grundlage von Verantwortlichkeit und Normativität, das Regeldispositiv in Normalität. Knappheit spielte im Exorzismusdispositiv keine Rolle mehr, sondern das Dual von Gefahr und Risiko, das in sich den Keim der Entwicklung von der Normativität zur Normalität trug.

9. Die moralische Aufwertung der Arbeit Proletariat bedeutete nach katholischer Auffassung im Exorzismusdispositiv Unsicherheit und Abhängigkeit, bedeutete ein Leben als Gefahr. Durch die Entproletarisierung sollten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit nicht als Selbstzweck installiert werden, sondern der Willensfreiheit Raum verschafft werden, um nach Schuld und Verantwortung fragen zu können. Es ist deshalb unzureichend zu behaupten, dass sich die Kirche der sozialen Frage mit strukturellen Vorschlägen nur wegen der Herausforderung durch die Sozialdemokratie zugewandt habe und das Problem nicht erkannt habe, weil sie allzu lange einem traditionellen mittelständischen Gesellschaftsideal verbunden gewesen sei, wie Nipperdey behauptet.516 Erst die Juridifizierung ermöglichte der katholischen Sozialethik, Strukturveränderungen zu entwerfen und zu fordern. Der Prozess der Juridifizierung begann aber lange vor dem Auftreten der Arbeiterbewegung. Und die Forderung nach einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft war nicht traditionalistisch, sondern nur unter den Bedingungen einer in Fluss geratenen sozialen Struktur möglich. 514 Metz: Geschichte 241. 515 Conze: Mittelstand 81. 516 Vgl. Nipperdey: Religion 51. Der Kirchenhistoriker Hubert Jedin folgt ihm dabei. Vgl. Jedin: Freiheit 25.

410  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Dabei war die Mittelstandsorientierung die konsequente Folge und die alleinige Möglichkeit, die Forderung nach Entproletarisierung mit der Beibehaltung des privatkapitalistischen Wirtschaftssystems zu verbinden. Zweifellos wirkte die Betonung des Privateigentums an den Produktionsmitteln durch die katholische Sozialethik abgrenzend gegenüber der Sozialdemokratie und das privatkapitalistische Wirtschaftssystem legitimierend.517 Die emanzipierende Komponente der katholischen Mittelstandsorientierung kann aber nicht übersehen werden. Denn nach Karl Löwith wurde erst mit dem bürgerlichen Kapitalismus das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten als Ausbeutung empfunden, wodurch das Verlangen nach Befreiung entstand. Denn seitdem die Stratifikation der Gesellschaft ihre rechtliche Legitimität verloren hatte, verschärfte die ökonomische Ungleichheit der Güterverteilung den sozialen Konflikt.518 Vor diesem Hintergrund erscheint die Generalisierung der Willensfreiheit durch die juridische Sozialethik emanzipierend. Die Willensfreiheit war im Gnadendispositiv auf den freiwillig Gebenden beschränkt, dem gegenüber der Empfangende zu Dank verpflichtet gewesen war. Nun sollte die Fähigkeit zur Willensfreiheit auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt werden. Dabei war es letztlich die Arbeit, die in der juridischen Sozialethik zum Mittel der Emanzipation wurde, und zwar dadurch, dass es die Bildung von Eigentum ermöglichte. Die Sozialenzyklika »Rerum novarum« von 1891 forderte die Entproletarisierung der Arbeiter, indem ihnen durch sozialpolitische Maßnahmen (gerechter Lohn, Produktivgenossenschaften, Sozialversicherungen) die Möglichkeit zum Erwerb von Eigentum durch Arbeit gegeben werden sollte.519 Franz Walter machte den Zusammenhang zwischen Arbeit und Eigentum in seiner 1895 erschienenen Sozialethik deutlich. Der Mensch sei nur dann »wahrhaft frei, wenn er wenigstens bis zu einem gewissen Grade über äußere Güter nach seinem Belieben – propria cura, sagt Thomas – verfügen kann, nicht bloß über Genußgüter, sondern auch über Arbeitsmittel«.520 Es sei unmöglich, daß die Arbeit zur Sklavin des Kapitals herabsinkt, solange sie auf eigenem Boden steht. Begreiflich, daß es um die Kapitalherrschaft geschehen ist, wenn die Arbeiter nicht mehr bloße Tag- und Stücklohnarbeiter sind, sondern so stehen, daß sie mit dem Kapital als freie Leute verhandeln können.521

517 Vgl. dazu Otte: Wirkungen 78. 518 Vgl. Löwith: Weltgeschichte 53. 519 Rerum novarum. In: Texte zur katholischen Soziallehre 1–38, hier 3 und 21. 520 Walter: Eigenthum 21. So auch Périn: Politik 200 f.: »Der freie Mann ist von Natur Eigenthümer des Ertrages seiner eigenen Arbeit sowie der Arbeit derjenigen, deren Persönlichkeit er kraft der Gemeinschaft des Blutes oder der Bande der Liebe in dieser Welt gleichsam vertritt und fortsetzt. Ohne das Eigenthum geht die Arbeit zu Grunde, weil der Arbeiter nicht mehr auf den Ertrag seiner Arbeit rechnen kann.« 521 Walter: Eigenthum 34.

Die moralische Aufwertung der Arbeit  411

Heinrich Pesch forderte um die Jahrhundertwende nicht nur die Sicherung des Mittelstandes vor sozialem Abstieg,522 sondern auch, dem Proletariat den sozialen Aufstieg in den Mittelstand durch Arbeit zu ermöglichen. Es solle dem Proletariat durch »Eigenthum an Haus und Boden wiederum eine fachliche Unterlage der wirtschaftlichen Existenz verschafft« werden.523 Nur durch einen »sozial unabhängigen gewerblichen Mittelstand« lasse sich die »Ausbildung eines schroffen Gegensatzes« zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, hervorgerufen durch die »Lockerung des persönlichen Verhältnisses« seit der Umsetzung der bürgerlichen Forderung nach allgemeiner Rechtsgleichheit, heilen.524 Es bedürfe einer »mittleren Klasse«, die sich durch Arbeit definiert und in die der fleißige Arbeiter deshalb aufsteigen könne, die von früh bis spät arbeitet, dabei aber eines gewissen Wohlstandes, der Behaglichkeit ohne Prunk, sich erfreuen kann, einer Klasse, die den ärmeren Gruppen näher steht und geschickte, fleißige, glückliche Elemente der unteren Klasse in sich aufnimmt, die also nicht so unerreichbar hoch über den unteren Klassen sich erhebt.

In der »Mittelklasse« seien »wenige so arm, um durch den Umsturz nur gewinnen zu können, wenige so reich, um als gesellschaftliche Macht der Autorität des Staates zu trotzen, kein Bürger so reich […], daß er die andern kaufen könnte, und keiner so arm, daß er sich selbst verkaufen müßte«. Eine riskante »Mittelklasse« diente ihm deshalb als gesellschaftlich stabilisierendes Element zwischen den sozialen Polen von Armut und Reichtum: »Proletarischen Ausschreitungen kann durch die Verbindung der Mittelklasse mit den oberen Schichten, plutokratischen Anmaßungen durch die Allianz mit der Masse begegnet werden.«525 Dabei wird der den Mittelstand generierende Zusammenhang zwischen Ar­ beit und Eigentum bei Scheimpflug besonders deutlich. Seiner Ansicht nach besaß der Kündigungsschutz 1889 Eigentumscharakter. Scheimpflug beabsichtigte, »den Arbeitsanspruch dem Eigenthume zu nähern, beziehentlich zu Eigenthum umzubilden und dadurch den Angriffen gegen das Eigenthum zu begegnen«.526 Tatsächlich war es der Rechtsanspruch auf soziale Hilfe, der eine neue Art von Eigentum begründete, hergeleitet aus der Arbeit. Metz sieht in den Sozialversicherungen deshalb eine »geradezu revolutionäre Geste gegen einen feudalen Besitz, der auf Erben und nicht Arbeiten beruht«.527 Damit übereinstimmend sieht der katholische Theologe Michael Schäfers in der neuscholastischen Sozialethik eine Anpassung an die bürgerliche dominierte Gesellschaft mit ihrer Dominanz 522 Pesch: Liberalismus 459. 523 Ders.: Freiwirtschaft 343. 524 Ders.: Entwicklung. 525 Ders.: Klassen 528 f. 526 Scheimpflug: Recht 1–30. 527 Metz: Geschichte 180.

412  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  der Leistungsethik.528 Tatsächlich kritisierte Hitze am Feudalismus im Jahr 1880, dass nicht Tüchtigkeit herrschte, sondern »der Zufall der Geburt«.529 Die neuscholastische Sozialethik zog das durch Arbeit erworbene Eigentum dem durch Geburt erworbenen vor.530 Der unentschiedene und widersprüchliche theologische Dualismus zwischen dem Ethos der Arbeit und dem Ethos der Armut wurde in der juridischen Sozialethik zugunsten des Arbeitsethos entschieden. Nicht mehr Armut war moralisch wertvoll, sondern Arbeit – wenn die Arbeit auch nie calvinistischer Selbstzweck wurde, sondern immer nur thomistisches Mittel zum Zweck.531 Wenn Hans Maier behauptet, »die bürgerliche Aufstiegsmoral ist dem katholischen Denken fremd: sie bricht sich an einer zwischen den Polen von arm und reich, hoch und nieder ausgespannten statisch-ständischen Lebenslehre«,532 dann übersieht er den sozialethischen Bedeutungsverlust des Duals von Armut und Reichtum durch die Propagierung der riskanten, Arbeit aufwertenden Mittelstandsgesellschaft der juridischen Sozialethik. Bereits Groet­ huysen hat erkannt, dass das heilsökonomische Dual von Armut und Reichtum durch die juridische Moraltheologie der Jesuiten im Ancien Régime überwunden worden war. Dabei behauptete er im diametralen Gegensatz zu Max Weber die Kompatibilität dieser mit der säkularisierten Leistungsethik des Bürgertums, als er aufwies, dass die jansenistische Theologie mit ihrer Verweigerung einer menschlichen Mitwirkung am Heil den handelnden Bürger abgestoßen habe, während die Moraltheologie der Jesuiten den Menschen Einfluss auf ihr 528 Schäfers: Kraft 442–455. Vgl. ferner Lantz: Eigentumsrecht 123–126. – Zu weitgehend ist, wenn Schmidt: Handlanger 146 die Vorstellung von göttlicher Belohnung im Diesseits, wie sie in populären katholischen Lesestoffen des 19. Jahrhunderts zu finden ist, als »Schritt in die bürgerliche Welt« bezeichnet. Darin ist kein zwingendes leistungsethisches Moment zu sehen. Die Arbeit, nicht die göttliche Belohnung, ist der Schlüssel zur bürgerlichen Leistungsethik. 529 Hitze: Kapital 307. 530 Die Kritik von Böckenförde greift deshalb zu kurz. Böckenförde kritisiert, dass der Eigentumsbegriff der katholischen Naturrechtslehre den Charakter industrieller Produktionsweise ignoriere und in der bäuerlichen, handwerklichen und kleinunternehmerischen Vorstellung vom Privateigentum an den Produktionsmitteln gründe, während im industriellen Produktionsprozess auch über fremde Arbeitsleistungen, technische Produktionsabläufe, Verbrauchsmöglichkeiten der Abnehmer, Befriedigung bestehender oder Weckung neuer Bedürfnisse verfügt werde. Vgl. Böckenförde: Naturrecht 119. 531 Zum calvinistischen und thomistischen Arbeitsethos vgl. Weber: Ethik 183–185. Auf diese eingeschränkte Bedeutung der Leistungsethik ist es zurückzuführen, wenn Lönne: Katholizismus 80 zu dem Ergebnis kommt, dass sich der soziale Emanzipationsanspruch der kirchlich gebundenen Massen sowohl gegen konservativen Elitismus als auch gegen liberalleistungsideologische Emanzipationsversprechen gerichtet habe. – Deshalb ist es zu weitgehend, in der katholischen Berufsethik mit Mooser: Beruf 131 eine »unbürgerliche Berufsethik, fundiert durch religiöse und überindividuelle Normen, die der subjektiven bürgerlichen Leistungsethik fremd waren«, zu sehen und diese als Teil einer umfassenden katholischen Bürgertumskritik zu werten. Trotz aller Distanz zur bürgerlichen Leistungsethik zeigt die juridische Sozialethik doch eine deutliche Tendenz zur Annäherung. 532 Maier: Sozial- und Staatslehre 6.

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Heil zugesprochen habe und deshalb für das sich emanzipierende französische Bürgertum zur Legitimierung des eigenen ökonomischen und politischen Handelns attraktiv gewesen sei. Es sei auf jesuitischer Grundlage eine bürgerliche Leistungsethik entstanden, die vom Gedanken der Prädestination frei gewesen sei, aber den Gedanken der Rechenhaftigkeit verfolgt habe: Von Gott werde gesegnet, wer fleißig und anständig ist.533 Im deutschen Sprachraum, wo das Bürgertum in quantitativer und qualitativer Hinsicht eher protestantisch war, gelangte diese Haltung erst nach der Französischen Revolution zum Durchbruch. Anders als das ständische Bürgertum des Ancien Régime war das Bürgertum nach den von der Französischen Revolution provozierten ökonomischen und politischen Umwälzungen bestimmt durch politische und rechtliche Gleichheit, die allerdings aufgrund des Postulats der individuellen Freiheit nicht in materielle Gleichheit mündete. Eigentum und Bildung waren nicht mehr auf Vererbung angewiesen. Sie wurden durch Arbeit erwerbbar und zu einer profanen Leistungsethik ideologisiert, deren soteriologische Wurzeln in protestantischen Theologoumena sich noch in der Vorstellung einer gewissen deterministischen Notwendigkeit des Zusammenhangs aus Arbeit und Eigentum zeigten. Durch Eigentum verfügte das Bürgertum über die Kompetenz zur Steuerung der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion, durch Bildung über die Kompetenz zur Strukturierung der Gesellschaft.534 Dies machte Bürgerlichkeit als Wertsystem, das sich nicht auf die soziale Gruppe des Bürgertums beschränkte und sich in sozialen Praktiken äußerte, die verschiedene Gesellschaftsformationen miteinander verknüpfte, kulturell dominant.535 Auf diese Art und Weise konnte sich eine bürgerliche Kulturhegemonie im Kaiserreich entwickeln. Die Geselligkeits-, Organisations- und Handlungsformen des Bürgertums bestimmten das öffentliche Leben.536 Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Eigentum fand sich also sowohl im dezidiert akatholischen Bürgertum als auch in der dezidiert unbürgerlichen 533 Groethuysen: Entstehung II 84–99. Vgl. dazu Mergel: Klasse 319. – Deshalb mahnt der Sozialhistoriker Michael Mitterauer die Untersuchung der »Auswirkungen des individualistischen Frömmigkeitsstils der Jesuiten auf die Entwicklung bürgerlicher Individualisierungstendenzen« an. Vgl. Mitterauer: Kreuzzeichen 199. 534 Vgl. Mergel: Klasse 6–14. Dabei weist Mergel darauf hin, dass das Bürgertum des 19. Jahrhunderts nicht allein mit ökonomischen Kriterien zu bestimmen sei und deshalb nicht nur Klassenqualität besessen habe. Denn das Bürgertum habe auch eine deutlich erkennbare ständische Prägung besessen, und zwar durch die Äußerung ideeller Interessen. Während die Arbeiteridentität in der ökonomischen Lage gegründet habe, habe das Bürgertum ein Elitebewußtsein an den Tag gelegt, das sich in einem gemeinsamen Lebensstil und im Konnubium geäußert habe, was ständische Kategorien sind. Während wohlhabende Handwerker nicht dazugehörten, hätten dies weniger wohlhabende Gebildete durchaus getan, da sie über Herrschaftswissen verfügten. 535 Vgl. dazu Hettling: Kultur 319–339; Schulz: Lebenswelt 19–22 und 69–76. 536 Vgl. dazu Ebd. 22–25.

414  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  katholischen Sozialethik. Der Unterschied lag darin, dass der Zusammenhang im Bürgertum Sicherheit produzierte, in der katholischen Sozialethik Unsicherheit produzieren sollte. Denn es war die Willensfreiheit, die den Zusammenhang zwischen Arbeit und Eigentum herstellte. Weiß legitimierte das Privateigentum 1892 mit dem freien Willen. Denn nur das Privateigentum ermöglichte ihm die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, die den freien Willen zum Ausdruck brachte. Allerdings betonte Weiß, dass die Willensfreiheit nur die »Möglichkeit« des Eigentumserwerbs darstelle: In Wirklichkeit kann Eigenthumsrecht nur von dem angetreten und behauptet werden, der seine Freiheit gegenüber den irdischen Gütern rechtlich und thatsächlich zur Anwendung gebracht hat oder doch bereit ist, sie in Anwendung zu bringen, soweit es für ihn möglich ist. Solches kann aber nur durch äußerliche Thätigkeit, also durch Arbeit, geschehen.537

Wenn Knoll behauptet, dass ökonomische Freiheit für die neuscholastische Rechtsphilosophie ein genauso belangloser Begriff gewesen sei wie die politische Freiheit, weshalb er in den Bemühungen der katholischen Sozialethiker um Eigentumsbildung nur »Scheingefechte« sieht,538 so unterschätzt er die sozialethische Funktion des Eigentums zur Ermöglichung von Willensfreiheit deutlich. Der Neuscholastiker Weiß bildete ein Begriffsfeld aus Sicherheit, Recht, Selbstständigkeit und Eigentum, ein anderes aus Gnade und Rechtlosigkeit, Abhängigkeit und Unsicherheit. Es liege in der »Natur des Menschen«, dass er arbeitet, um ein Ziel (»Erfolg, Lohn, Ruhe«) zu erreichen. Deshalb könne man nicht »zumuthen, es bloß auf den guten Willen, die Liebe, Billigkeit und Gunst eines Menschen ankommen zu lassen«. Dies sei »ein allzu unsicheres Ziel«. Der »Standpunkt der Gnade, des freien Beliebens« biete deshalb »Anhaltspunkte zu Beschwerden«. Deshalb müsse der Lohn nach den »Forderungen des Rechts« geregelt werden. Dies liege in der »Natur der Sache«. Denn die Begriffe Lohn und Gnade schließen sich gegenseitig aus: »Niemand dient um Dank, sondern um Lohn, niemand um Gnade, sondern um sein Recht. Lohn wird nicht nach Gnade gegeben, sondern nach Pflicht und Recht. Nach allen Rechtsbegriffen und Sprachvorstellungen gehören Lohn und Verdienst zusammen; Verdienst aber begründet ein strenges Recht.« Deshalb bestehe die »Ungerechtigkeit der Gegenwart« darin, dass das Kapital der Arbeit eine Vergütung nach »Gutbefinden und Vortheil, nicht als verhältnißmäßig gleichberechtigter Macht«, gewähre.539 Deshalb sei der Arbeiter »auf Gnade und Ungnade« dem Kapital ausgeliefert. Diese Ungleichheit sei durch die Zerstörung der »alten Ordnung« bewirkt worden, »wonach jeder Arbeiter doch wenigstens einen kleinen sichern Besitz und damit stets ein wenig 537 Weiß: Frage 327 f. 538 Knoll: Kirche 71 f. 539 Weiß: Frage 331 f.

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gesicherte Arbeit hatte. Wo aber der arme Arbeiter mit leeren Händen und mit leerem Magen beim Massenkapital um Beschäftigung im kleinen betteln gehen muß, bleibt ihm nichts übrig, als sich um jede Bedingung zu verkaufen.« Um das »Verderben voll zu machen« habe man die »alten Stände und geschlossenen Arbeitsverbände« aufgelöst, »worin früher die Schwachen durch die Verbindung vieler Schutz gefunden hatten«. Deshalb forderte er: »Die Arbeit muß frei werden und muß frei bleiben. Frei aber ist sie nur dann, wenn der Arbeiter selbständig seinen eigenen Zweck bei der Arbeit verfolgt. Wer lediglich für fremden Zweck arbeitet, ist ein Sklave.« Werde der Mensch »wieder in seine Rechte eingesetzt, so wird die Persönlichkeit des arbeitenden Subjectes, die freie, unverkäufliche, selbständige Person eines jeden, auch des Armen, zum Mittelpunkte des wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gemacht«.540 Es ist also gerade die nostalgische Klage über das Ende der ständischen Ordnung, die deutlich macht, dass das neuscholastische Bemühen um die Transformation von Gefahren in Risiken nur nach der Freisetzung der Individuen aus traditionellen Bindungen möglich war. Erst diese Freisetzung ermöglichte die Reflexion von Eigentum und Arbeit im Hinblick auf Kontingenz. Die eigene Situation konnte als Ausgeliefertsein an die Macht anderer wahrgenommen werden. Dabei handelte es sich nicht um ein Spezifikum der katholischen Sozialethik. Denn deshalb werde die Moderne von einem »großen verfassungsrechtlichen Diskurs« über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit begleitet, so der Soziologe Georg Vobruba. In dem Maße, in dem die Stellung des besitzenden Bürgertums als frei und sicher wahrgenommen wurde, erschien die Schaffung von Eigentum als Möglichkeit zur Handhabung von Unsicherheit und Unfreiheit, weshalb Vobruba dem Privateigentum »freiheitsstiftende Effekte« zuschreibt.541 Die Freiheit der Besitzenden stand der Sicherheit der Besitzlosen gegenüber. Deshalb wurde aus dem Begriff der sozialen Sicherheit der Gegenbegriff zur Freiheit.542 Dabei ist dieser Dualismus in der neuscholastischen Sozialethik nicht derart klar, da weder Freiheit noch Sicherheit bedingungslos gedacht wurden und Sicherheit in der Welt überhaupt nicht herstellbar war. Freiheit und Sicherheit konnten einander deshalb nicht entgegengesetzt werden, sondern wurden beide im Risiko relativiert. Und dieses Risiko war religiös. Denn das Vorrecht, Gefahr zu sein, kam nicht anderen Menschen zu, sondern Gott. So erscheint die neuscholastische Sozialethik als Beitrag zur Befreiung aus sozialer Unmündigkeit unter Beibehaltung religiös determinierter Bindungen.

540 Ebd. 342–344. 541 Vobruba: Freiheit 139–141. 542 Ebd. 142.

416  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv 

10. Das Einkommen der Heiligen Familie Wenn das Ziel der juridischen Sozialethik in der Entproletarisierung des Arbeiters bestand, verloren duldende Armut und gebender Reichtum gleichermaßen ihren moralischen Sinn. Der »omnipotente Staat und die rationalistisch-­ humanistische Bildung« waren für den Katholik 1850 zwar die »beiden großen Gegner der Kirche«, daneben aber die Armut als »dritte böse Potenz unserer Zeit«.543 In Kolpings »Kalender für das katholische Volk« wurde eine Geschichte erzählt, in der Reichtum als Gefahr dargestellt wurde. Die Geschichte schließt: So leitet Reichwerden gern zum Übermut; so führt der Übermut zur Ausgelassenheit, diese gebiert den Frevel, und der Frevel ruft die Rache des Richters heraus. Wär’s nicht besser gewesen, die Leute wären im bescheidenen Mittelstande geblieben und dadurch bei guter Zucht und Sitte gehalten worden, als dass sie mit ihrem Reichtum und mittelbar durch ihn in die Hände des gerechten Gottes fielen?544

Für Périn war die Armut 1876 immerhin noch ambivalent, einerseits eine Folge der Sünde, andererseits liege in ihr aber auch eine »sühnende Kraft, welche ihr neben dem Charakter der Strafe auch den einer Wohlthat bewahrt«.545 Scheicher war dagegen 1884 der Ansicht, Not schade der »Sittlichkeit nicht wenig«.546 Dabei sprach er sich schon deshalb für einen Rechtsanspruch auf Sozialhilfe und gegen das Almosen aus, da dieses den Anschein einer besonderen Heilsnähe der Reichen weckte: […] aber hüten wir uns, den Schein, um mehr kann es sich überhaupt nicht handeln, auch nur zuzulassen, als ob die Fehler, Härten und Sünden der Reichen nur Schwächen wären, welche vom Himmelreiche nicht ausschließen, weil Stiftungen von ihrem Gelde gemacht worden sind, weil die Bettler und Pfründner betend mit der Leiche gegangen sind. Das müßte ja im Armen den Gedanken wachrufen, als ob der Mammonismus und Kapitalismus auch im Himmel Geltung habe [!], als ob man auch drüben Sperrsitze und Logen bekäme, aus welchen man auf den Pöbel herabsehen könne.547

Linsenmann, ein Befürworter von Produktivgenossenschaften,548 konnte in der Armut 1891 dann keine Tugend mehr sehen und im Reichtum nur eine Versuchung: »Der Bettel darf nicht zum sittlichen Ideal erhoben werden, aber ebenso wenig das ruhelose Arbeiten und Jagen nach Gewinn und nach jenen Schätzen, 543 Zur Orientierung in der Gegenwart. In: Der Katholik 1 (1850) 5–21. 544 Frevelmut und Gottes Gericht. Eine wahre Tatsache. In: Adolph-Kolping-Schriften XIV 370–375. 545 Périn: Politik 208. 546 Scheicher: Klerus 6. 547 Ebd. 29. 548 Linsenmann: Lehrbuch 583.

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welche Rost und Motten verzehren. Nicht wer die Menschen reich, sondern wer sie zufrieden macht, ist ihr wahrer Wohlthäter […].«549 Liberatore beklagte im selben Jahr die dualistische Teilung der Gesellschaft in die »Überreichen« und die »Elenden«.550 Auch Ratzinger sah im Reichtum 1895 die »Gefahr«, sich auf ihn statt auf Gott zu verlassen.551 Armut und Reichtum galten auch Huber 1904 gleichermaßen als moralische Gefahr, da sie Hemmnisse der Willensfreiheit darstellten.552 In dem Maße, in dem Armut und Reichtum an moralischem Wert verloren, gewann der Mittelstand daran. Im Gnadendispositiv war die Armut Kennzeichen der Heiligen Familie. Die Heilige Familie war arm, aber begnadet. Armut ging nicht auf mangelnden Fleiß zurück, sondern war gottgegeben.553 In der Theologisch-praktischen Monats-Schrift wies Benefiziat Eckmüller die Behauptung von der Armut der Heiligen Familie im Jahr 1900 dann dezidiert zurück. Sie sei nicht »eine ganz arme, in einem unfreundlichen, halbverfallenen Häuschen wohnende, sondern eine glückliche, von Reichtum wie von ›großer Armut‹ gleichweit entfernte Familie« gewesen.554 Die Heilige Familie habe sich eines »bescheidenen Wohlstandes« erfreut. Schließlich lebten die Eltern Mariens ebenfalls in einer »gewissen Wohlhabenheit«. Zu diesem »ererbten Besitztume, das sie durch die Arbeit ihrer fleißigen Hände noch vermehrt hatte, kam noch als Eigentum der hl. Familie das Besitztum des hl. Josef«. Außerdem war Josef ein »tüchtiger, fleißiger, nüchterner Handwerksmann«. Schließlich konnte Gottes Segen nirgends »in höherem Grade sein als bei der hl. Familie«. »Und trotzdem«, so fragte sich der Autor, »sollen sie ›sehr arm‹ gewesen sein?«555 Die Geburt Jesu in einem Stall beweise nicht die Armut, sondern die Demut der Heiligen Familie: Gewiß hatten die Besitzer des Hauses – dies ist bei der bekannten Gastfreundschaft des Orients unbedingt anzunehmen – ihren begnadigten Verwandten aus Nazareth die vordere Stube angeboten, aber die wunderbare Demut der heiligen Jungfrau und auch des heiligen Joseph nahm dies nicht an, sie wollte freiwillig arm zu uns kommen. Also wegen des ›Stalles von Bethlehem‹ brauchte die hl. Familie keineswegs ›sehr‹ arm zu sein.556

Materielle Armut war für den Autor nicht gottgewollt: »Die hl. Familie war nicht ganz arm; dank ihrem Fleiße und ihren übrigen Tugenden hatten sie ihr gutes

549 Ebd. 290. 550 Liberatore: Grundsätze 82–86. 551 Ratzinger: Volkswirtschaft (1895) 117. 552 Huber: Hemmnisse 173. 553 Vgl. Erlemann: Familie 89. 554 Eckmüller: Familie 331. 555 Ebd. 328 f. 556 Ebd. 326.

418  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Auskommen. Die Armut an sich will Gott nicht, wohl aber Armut im Geiste; Gott will, daß jeder Mensch sein ordentliches Fortkommen in der Welt finde.«557 Das Familieneinkommen Mariens und Josephs trieb die Kapläne offensichtlich um. Auch Kaplan Franz Sales Kaufmann aus Buchenberg im Allgäu wandte sich in der Theologisch-praktischen Monats-Schrift 1900 in einem theologischen Aufsatz über den Mittelstand vom alten Dual von Armut und Reichtum zugunsten des Mittelstandes ab. Er behauptete, der Priester sei »vielleicht viel zu sehr geneigt, dem sogenannten evangelischen Rate der freiwilligen Armut das Wort zu reden«. Der Armut stehen zwar die meisten Verheißungen zu, aber sie »demoralisiere« auch, »namentlich in unserer Zeit, sehr leicht zum Unglauben, Diebstahl, Habsucht und Kampf gegen Thron und Altar«. Auch Jesus habe »nicht in gänzlicher Entäußerung jeglichen Eigentums« gelebt, vielmehr habe er »ein bescheidenes Vermögen« besessen. Deshalb propagierte er den Mittelstand als den anzustrebenden materiellen Zustand: Wenn es einem Seelsorger gelungen ist, diesen Mittelstand als den am meisten wünschenswerten hinzustellen, daß er besser daran ist als die reiche, hochgestellte Welt, dann hat er in die Herzen des größten Teiles der Menschheit Zufriedenheit gesenkt und wahrscheinlich nicht unbedeutend zur Lösung der socialen Frage beigetragen.

Es gebe »in der Welt 3 Ordnungen, Klassen oder Stände«. Es gebe Armut und Reichtum, der »größte Teil der Menschen aber steht zwischen beiden drinnen mit bescheidenem Vermögen: das ist der Mittelstand, auch Nährstand oder die arbeitende Klasse genannt«.558 Dieses neue Narrativ von der Heiligen Familie zeigt, wie sehr die Armut an moralischem Wert zugunsten von Arbeit verloren hatte. Verlor die Armut ihren sozialmoralischen Sinn, dann erledigte sich auch der sozialmoralische Sinn von Gabe und Opfer.559 Armut wurde, um mit Foucault zu sprechen, nicht mehr im Spannungsfeld von Demütigung und Ruhm verstanden, sondern durch Schuld bzw. Verantwortung im Spannungsfeld von Ordnung und Unordnung.560 Deshalb bekam die soziale Struktur moralische Qualität, im Hinblick darauf, wie sie Verantwortlichkeit ermöglichte. Während Armut und Reichtum unmoralisch und gefährlich wurden, wurde das Risiko moralisch. Hitzes Ziel bestand 1880 557 Ebd. 330. 558 Kaufmann: Mittelstand. 559 Für Mauss: Gabe 157–165 funktionierten die Sozialversicherungen nach den Prinzipien von Gabe und Gegengabe. Der Arbeiter gebe seine Arbeit und sein Leben teils dem Arbeitgeber, teils der Gesellschaft hin. Dies begründet nach Mauss die Verpflichtung der Gesellschaft, ihn gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter zu versichern. Dadurch macht Mauss aber letztlich selbst deutlich, dass es sich bei den Sozialversicherungen nicht mehr um eine zwischenmenschliche Beziehung auf der Grundlage von Ungleichheit handelt, weshalb es nicht möglich ist, die Sozialversicherungen im Paradigma von Gabe und Gegengabe zu betrachten. 560 Vgl. Foucault: Wahnsinn 68–98.

Vom Ordnen zum Messen  419

darin, den Mittelstand vor dem Absinken ins Proletariat zu schützen und gleichzeitig einen Teil des »vierten Standes« durch Einkommensaufbesserung »über das Niveau des Proletariat’s« zu erheben. Er wies aber darauf hin, dass man nicht alle »retten« könne. Es werde immer einen vierten Stand geben, dessen Einkommen »so ziemlich sich auf den ›durchschnittlich nothwendigen Lebensunterhalt‹ reduciren wird«. Denn die Möglichkeit der Armut sei das »Loos der ›gefallenen‹ Menschheit«, dies sei Gottes Gesetz.561 Die Heilsrelevanz des Mittelstandes benötigte die Möglichkeit von sozialem Abstieg. Armut und Reichtum besaßen keine Heilsrelevanz mehr, aber ihr Vorhandensein war für die Heilsrelevanz des Mittelstandes nötig.

11. Vom Ordnen zum Messen Im Gnadendispositiv konnte das Mittlere als moralisch indifferente Mittelmäßigkeit abgelehnt, aber auch als (unerreichbares) Ideal vollkommener Harmonie bewundert werden. Görres identifizierte die Mitte 1821 mit der Harmonie. In der Mitte hoben sich alle Gegensätze auf.562 Sein Ideal waren jene »glücklichen Zeiten, wo die Gesellschaft geregelt in einem schönen, gerundeten Ebenmaß, in innerlich wohlgestimmter Harmonie, in der Fülle einer ungetrübten, klaren, sich selbst durchsichtigen Gesundheit blüht«.563 Sailer sprach 1834 von der »goldenen Mittelmäßigkeit«. Er verstand darunter das »schöne Mittelding zwischen Reichthum und Armuth«. Diese »aurea mediocritas empfiehlt sich von selbst dem 561 Hitze: Kapital 340 f. 562 Görres, Joseph: Europa und die Revolution. Stuttgart 1821. In: Ders.: Politische Schriften 145–285, hier 164: »Um diese Mitte werden sich also, wenn wir das Ganze in einer klaren, sinnlichen Anschauung übersehen wollen, jene drey Achsen, weil sich in ihnen die drey verschiedenen Widersprüche ausdrücken sollen, in drey verschiedenen Ebenen also ordnen, daß sie mit ihren Mittelpunkten in einen einzigen zusammenfallen und von da aus sich rechtwinklicht kreutzend in ihren Umkreisen in eine vollkommene oder oblonge Kugelgestalt verbreiten, je nachdem der Mittelpunkt die getheilten Kräfte wirklich oder nur scheinbar in sich vereint. An die Enden der drey also gestellten Achsen werden nun die äußersten Gegensätze, die irgend die Wirklichkeit verträgt, sich ordnen; an die zwischenliegenden Punkte sodann alle die vielfach gemischten Temperaturen sich vertheilen und gegen die Mitte durch die Brennpunkte bis zu ihrer idealen Vereinigung alsdann die stetig anwachsenden Exponenten der beyden bildenden Grundkräfte ansteigen. Und so wird durch die drey Durchschnittsflächen, die durch die drey möglichen Schnitte dieser Gestalt gegeben sind, und durch ihre Achsen die dreyfache Grundentzweyung in allen menschlichen Angelegenheiten vollkommen ausgedrückt, während die vielfachen Beugungen in den verschiedenen Längen und Breiten die ganze Fülle möglicher Temperaturen darstellen und von da an gegen die Mitte das allmählige Anwachsen der organisirenden Kräfte in stets zunehmender Allgemeinheit, endlich in der Mitte selbst, dem Sensorium commune, die geforderte höhere Einheit aller Richtungen und Gegensätze gegeben ist.« 563 Ebd. 192.

420  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Weisen, der von den Drückungen des Mangels so wie von den stechenden Dörnern des Überflusses gleich frei seyn möchte, um sein Gemüth ungehindert zur Betrachtung des Göttlichen, des Ewigen zu erheben.«564 Auf jeden Fall war das Mittlere des Gnadendispositivs anders definiert als im Regeldispositiv. Dieses Mittlere wurde nicht durch die Berechnung des Durchschnitts gewonnen, weshalb es sich nicht um das statistisch Normale handelte. Es handelte sich um eine ästhetische Qualität.565 Damit übereinstimmend verortete das »Homiletische Real-Lexicon« von 1860 den Mittelstand dort, wo Ordnung war. Der »Mann der Ordnung« ist pünktlich und hält »auch bezüglich des Raumes überall Ordnung«, denn »wie er jedem Geschäfte seine bestimmte Stunde anweist, so einem jeden Gegenstand seinen bestimmten Ort«. Dieser Mann sei »nicht sehr begütert, aber doch auch nicht arm. Man braucht nicht reich zu sein, um Ordnung zu halten; aber wer Ordnung hält, wird auch selten arm; denn er hält in Allem Ordnung, in seinem Gewerbe, in seiner Haushaltung, in seinen Arbeits- uns Erholungsstunden.«566 Ein mittelständisches Leben war harmonisch, wenn es geordnet war. Im Gnadendispositiv war das Mittlere Ergebnis der Ordnung, im Regeldispositiv von Messung. Messen und Ordnen sind zwei Formen des Vergleichs. Beim Messen wird ein Ganzes in Teile zerlegt. Ordnung dagegen besteht ohne Bezug zu einer äußeren Einheit. Beim Ordnen, so Foucault, entstehen Serien, »deren erster Punkt eine Wesenheit ist, von der man unabhängig von jeder anderen eine Anschauung haben kann, und wo die anderen Punkte mit wachsenden Unterschieden erstellt werden«. Dagegen analysiert das Maß »in Einheiten, um Beziehungen der Gleichheit und Ungleichheit festzustellen«. Die Ordnung »richtet Elemente ein, die möglichst einfach sind, und disponiert die Unterschiede nach möglichst schwachen Graden«. Das Messen ersetzt Gegenstände durch quantifizierbare Daten. Es werden dadurch Qualitäten durch Quantitäten ersetzt, feststehende Formen durch Relationen, Geschlossenheit durch Offenheit, zeitliche Stabilität durch Veränderung. Daten sind Mittel, nicht Zwecke. Es 564 Sailer: Handbuch III 167 f. 565 Windischmann: Gericht 260 f.: »So ist das Gemüth dann wirklich die lebendige Symphonie aller Funktionen des Menschen, der Einklang derselben zur einfachen, treuen, liebevollen Gesinnung, welche alles Exzentrische, Über- und Untermenschliche in ruhige Bahnen bringt, ohne Unterlaß das Menschliche beabsichtigt, vom Einseitigen sich niemals, und sey es noch so virtuos, begeistern läßt; es ist die mittlere reine Stimmung, welche weder das Irdische noch das Himmlische, weder das Zeitliche noch das Ewige jemals verabsäumt; welche allem und jedem, was die Erde trägt, sein Recht widerfahren läßt, das Widerspenstige ausgleicht, das Streitende zum Frieden bringt, indem sie alle diese Kräfte auf ihren eignen Wegen nöthigt, das Unausweichliche, das Göttliche anzuerkennen nicht blos, sondern auch alle menschliche Rechte und Einsichten, die bewundernswürdigste Kraft, wie die tiefste Wissenschaft vor Gott zu demüthigen, mit freudiger Überzeugung die Offenbarung zu empfangen und in uns gedeihen zu lassen […].« 566 Krönes: Real-Lexicon X 56–59.

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geht nicht darum, Dinge hinzunehmen, sondern sie zu beherrschen. Quantitative Daten ermöglichen die Aufstellung mathematischer Gleichungen, was mit Qualitäten nicht möglich ist. Ist das normative Ordnen der ständischen Gesellschaft einzelfallbezogen, wodurch diskontinuierliche Felder entstehen, wirkt das normalisierende Messen kontinuierend, d. h. es ist mit Gradualisierung und Skalierung verbunden.567 Görres selbst brachte den Unterschied zwischen der geordneten und der (noch abgelehnten) gemessenen Mitte 1821 auf den Punkt, als er formulierte, dass Deutschland ehedem »das Reich der Mitte« gewesen, nun aber zum »Reich der Mittelmäßigkeit« herabgesunken sei.568 Das Mittlere des Regeldispositivs hatte im Unterschied zum geordneten Mittleren des Gnadendispositivs keine inhaltliche Qualität mehr. Er wurde durch quantifizierendes, ökonomisches Messen bestimmt. Heinrich Peschs Mittelstand war 1907 das Ergebnis einer sozialen Skalierung. Er bezeichnete eine derartige »Schichtung der Bevölkerung nach Wohlstandsklassen« als günstig, »bei welcher die Dezentralisation und Ausgleichung des Besitzes von oben nach unten hin auf der sozialen Leiter, mit allgemeinerer Teilnahme des gesamten Volkes am Volksvermögen und Volkseinkommen, Platz greift«. Deshalb freute es ihn, dass der einkommenssteuerpflichtige Teil der preußischen Bevölkerung stärker und der vermögenssteuerpflichtige schwächer gewachsen war als die Gesamtbevölkerung. Vor allem fiel ihm die Zunahme der Einkommenssteuerpflichtigen unter den »gut gestellten Arbeitern« auf. Dabei wollte er »keineswegs die volle volkswirtschaftliche und soziale Gleichartigkeit des ›neuen Mittelstandes‹ […], der nicht auf der ökonomisch-sozialen Unterlage des alten Mittelstandes sich aufbaut, sondern lediglich durch Besitz und Einkommen eine ›mittlere‹ Stellung einnimmt«, behaupten.569 Messend ging auch Heinrich Koch vor, als er sich in den Stimmen aus Maria Laach 1908 mit dem »neuen Mittelstand« beschäftigte. Darunter subsummierte er alle Personen, »die im Dienst von privaten Arbeitgebern ausschließlich oder überwiegend geistig tätig sind und als Gegenleistung eine feste, nach größeren Zeitabschnitten bemessene Vergütung, das Gehalt, beziehen«. Gemeinsam war ihnen also das Fehlen von unternehmerischer Selbstständigkeit, die den alten Mittelstand kennzeichnete. Deshalb definierte er die Selbstständigkeit nicht unternehmerisch, sondern finanziell: »Wir finden durchweg bei diesen Angehörigen des Mittelstandes außer dem regelmäßigen Einkommen noch einiges Vermögen, ein eigenes Geschäft oder eine sichere Anstellung, und dadurch ist ihnen ein gewisses Maß von Selbständigkeit gewahrt.« Die ökonomische Relation zu Armut und Reichtum machte den Mittelstand. Es handelte sich um 567 Vgl. dazu Foucault: Ordnung 85–91; ferner Dewey: Suche 101–107; Link: Versuch 336 f. 568 Görres, Joseph: Europa und die Revolution. Stuttgart 1821. In: Ders.: Politische Schriften 145–285, hier 257. 569 Pesch: Kennzeichen 183 f.

422  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  eine Bevölkerungsschicht, »die der Not und Dürftigkeit der unteren Klassen enthoben ist, aber auch an den Überfluß und die herrschende Stellung der Aristokratie nicht heranreicht«, um Personen, »die gleich weit entfernt stehen von Proletarierelend und von entnervendem Luxus«. Dieser neue Mittelstand sei aus dem Proletariat entstanden, nachdem der alte proletarisiert worden sei. Dabei sei der neue Mittelstand viel stabiler als der alte Mittelstand, gerade weil er auf dem ökonomischen Faktor Arbeit und nicht auf rechtlichen Eigentumstiteln basierte: »[…] den festen Besitztitel ersetzt hier zudem berufliche Tüchtigkeit, die im allgemeinen eine Bürgschaft dafür ist, daß das Einkommen nicht entzogen oder geschmälert wird.« Während der alte Mittelstand nicht zu erhalten sei, könne der neue Mittelstand die Polarisierung der Gesellschaft »in zwei sich schroff gegenüberstehende Klassen«, diejenige der Kapitaleigentümer und diejenige der Lohnarbeiter, aufhalten. Gemeinsam mit den Teilen des alten Mittelstandes, die vom industriellen Großbetrieb nicht verdrängt wurden  – also dienstleistende Handwerker im Unterschied zu produzierenden Handwerken und Bauern, deren Wirtschaft er für intensiver hielt als diejenige der Großbetriebe –, könne der neue Mittelstand dann den gesamten Mittelstand bilden.570 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Bedeutung des alten Mittelstandes zugunsten des Proletariats weiter ab. Daraus entstand dann nicht zuletzt aufgrund immer komplexerer Produktionsprozesse und zunehmender Verwaltungsaufgaben in Staat und Wirtschaft ein neuer Mittelstand aus Facharbeitern, Angestellten und Beamten. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch das Ende der strukturellen Massenarmut im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts. Im Unterschied zum alten Mittelstand handelte es sich also um unselbstständig Beschäftigte. Gemeinsames Kennzeichen von altem und neuem Mittelstand war aber ein Einkommen, das zur Wohlhabenheit reichte, nicht aber zur Kapitalakkumulation. Es herrschte nach wie vor Statusunsicherheit.571 Dabei ist diese Statusunsicherheit nicht nur ein Phänomen der ökonomischen Basis, sondern auch des Überbaus. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Statusunsicherheit und der Praxis des sozialen Messens. Durch die Quantifizierung des Sozialen wird der soziale Status disponibel. In einer quantifizierten Welt gibt es kein Gleichgewicht und keine festen Positionen. Es besteht ständige Unruhe. Der Versuch, dieser durch gesteigerte Anstrengung zu entkommen, ist trügerisch und führt zu noch mehr Unruhe.572 Dies macht deutlich, wie sehr sich die gemessene Mitte des Regeldispositivs von der geordneten Mitte des Gnadendispositivs unterscheidet, es handelt sich dabei nämlich nicht um den Ausdruck 570 Koch: Mittelstand 241–254. 571 Zum so genannten »neuen Mittelstand« vgl. den Forschungsüberblick bei Mooser: Volk: 259; ferner Bauer: Katholizismus 28–53; Conze: Mittelstand 73–81; Maier: Soziologie; Mergel: Klasse 12 f. 572 Mau: Quantifizierung 281.

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eines Gleichgewichts. Indem aber die Quantifizierung des Sozialen »kumulative Statusverfestigung bei gleichzeitiger Statuslabilität« (Steffen Mau) bedeutet,573 ist sie passgenau zu den sozialethischen Folgerungen katholischer Anthropologie: Ein dominierender Mittelstand, der über Messen definiert wird und der stets dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt ist. Der neue Mittelstand wuchs seit den 1890er Jahren insbesondere im Katholizismus. Auf den Katholikentagen stellte der neue Mittelstand seither die Mehrheit.574 Der Übergang vom Ordnen zum Messen im Regeldispositiv ist aber kein bloßer Reflex auf die Entstehung eines neuen Mittelstandes. Das Messen erstreckte sich auf das gesamte Regeldispositiv. Es zeigte sich auch in der Prognostik, im Übergang von der ordnenden Analogieprognose zur messenden Tendenzprognose.575 Die ganze Welt wurde von einer geordneten zu einer gemessenen. Der Dillinger Lyzealprofessor Franz Xaver Pfeifer suchte deshalb 1885 die Proportionen des Goldenen Schnitts nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur, woraus er eine allgemeine Gesetzmäßigkeit ableitete. Dieses Gesetz zerlege sich in das »Moment« der Mannigfaltigkeit und das der »einheitlichen Verknüpfung«. Der Begriff der Mannigfaltigkeit beinhalte Vielheit und Verschiedenheit. Der Begriff der einheitlichen Verknüpfung beinhalte »Continuität und Vermittlung«. Dies folge aus dem aristotelischen Satz, dass die Natur keine Sprünge macht. Daraus folgten die Proportionen des Goldenen Schnitts. Dieser sei eine »Teilung, welche den continuierlichen Zusammenhang der Teile nicht aufhebt«, er entstehe nicht »synthetisch, nicht durch Zusammensetzung, sondern analytisch, durch Teilung, und so entsteht auch in der Natur ein gegliedertes Ganze nicht durch mechanische Zusammensetzung, sondern durch innere Differenzierung«. Das Ganze sei den Teilen deshalb vorgängig. Dabei sei die Teilung des Goldenen Schnitts nur bei »stetigen, resp. linearen Grössen exakt ausführbar«. Dabei seien im Goldenen Schnitt die Teile durch das Ganze bestimmt, weil die Teile zueinander das gleiche Verhältnis haben wie der größere Teil zum Ganzen. Einheit werde im Goldenen Schnitt durch »Stetigkeit« und »Vermittlung« hergestellt, »weil in demselben durch das Verhältnis des Major als Mittelglied zum Minor und zum Ganzen eine stetige Proportion hergestellt ist«. Im Unterschied zur »Stetigkeit« setze die »Vermittlung« aber den Gegensatz zweier Extreme voraus, wobei die Extreme zeitlich vorangehen. Dieser Gegensatz fehle der Stetigkeit. Der Goldene Schnitt lasse sich aber aus beiden ableiten, entweder in Größenverhältnissen durch die »Vermittlung« oder in der Perspektive durch die »Stetigkeit«. Dabei sah er im Goldenen Schnitt die »Proportio divina«, weil er die »Proportion der göttlichen Schöpfungen« darstelle, und gleichzeitig die »Proportio humana«, weil er sich im menschlichen Körper zeige, weil er »den 573 Ebd. 574 Mooser: Volk 263–265. Vgl. dazu auch Horstmann: Katholizismus 28–31. 575 Vgl. Kapitel V.4.

424  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  mathematischen Geist des Menschen in ganz besonderer Weise anspricht« und weil er dem künstlerischen Schaffen des Menschen angemessen sei.576 Beim Übergang vom Ordnen zum Messen handelt es sich also letztlich um eine Notwendigkeit im Übergang vom juridischen Gesetz zur empirischen Gesetzmäßigkeit, vom Normativen zum Normalen. Für Lorinser war 1883 der gerechte Preis deshalb nicht derjenige, der die Produktionskosten deckte, sondern derjenige, der in der Mitte zwischen dem höchsten und dem niedrigsten lag: »Was also zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Preise liegt, ist das Maß für den erlaubten und gerechten Preis einer Waare.«577 Es ging nicht mehr um das geometrische, sondern das arithmetische Mittel. Deshalb gab es keine starren Grenzen in diskontinuierlichen Feldern, sondern dynamische Grenzen in graduell strukturierten kontinuierlichen Feldern. So war es für Costa-Rossetti 1888 Ziel der Volkswirtschaft, daß der größere Theil der Bürger sich einer bescheidenen, jedoch ungleichen Wohlhabenheit erfreut, welche nicht Reichthum genannt werden kann; daß ein geringerer Theil mäßigen Reichthum besitzt; daß ein dritter Theil endlich, und zwar der bei weitem geringste, gelinder Armuth ausgesetzt ist und keine Klasse von Menschen in bleibendem Elende schmachten müsse.578

Der Politologe Holger Straßheim unterscheidet zwischen einer explorativen und einer arithmetischen Variante der Sozialpolitik. Die explorative Sozialpolitik setze auf Kontextualisierung und Individualisierung. Sie sei »an spezifische räumliche, zeitliche und soziale Konstellationen« gebunden. Die arithmetische Variante gehe von der Mathematisierbarkeit und deshalb Beherrschbarkeit der Welt aus, weshalb er sie auf den »Mythos der Maschine« zurückführt. Die Komplexität sozialer Prozesse sei in ihre »mathematischen Grundfunktionen« aufgelöst und so handhabbar gemacht worden. Sie begebe sich auf die »Suche nach einem politischen Regelwerk von metrisch exakt bestimmbaren und univer­sell gültigen Einflußgrößen«. Sie sei »auf die Abstraktion, Standardisierung und Relationierung sozialer Probleme fokussiert und befördert daher eine dekontextualisierte Sicht«.579 Während das ordnende Gnadendispositiv explorativ funktionierte, tat es das messende Regeldispositiv arithmetisch. Dabei ist dieser Übergang vom Ordnen zum Messen nicht nur auf die Sozialethik und die Prognostik beschränkt. Er äußert sich auch in der Strukturierung der Kirchengemeinde im Kirchenraum, was an dieser Stelle in einer räumlich dichten Analyse ostbayerischer Fälle gezeigt werden soll. Dabei ist vor allem die Situation in Marktflecken von Interesse. Denn hier trafen im Unterschied zu Dörfern und 576 Pfeifer: Schnitt 211–229. 577 Lorinser: Lehre 255. 578 Costa-Rossetti: Grundlagen 35. 579 Straßheim: Differenzmaschine 184–195.

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Städten mit Bauern und Bürgern zwei unterschiedliche soziale Formationen recht gleichwertig aufeinander, was strukturelle Brüche besonders sichtbar werden lässt. Dazu ist ein Rückblick auf die Frühe Neuzeit nötig.

12. Die Sakralisierung des Nutzens Am 16.  Juni 1705 beschwerte sich der Pfleger im hochstiftisch-passauischen Markt Obernzell (Lkr. Passau) beim Geistlichen Rat in Passau, es habe sich »eine solche Unordnung eingeschlichen, indeme die Beurin balt zu forderst in der Khürchen und die Burgerin, wanns auch schon ein Rathsfrau ist, zu hinderst sizen thuet«.580 Auch der Pfarrer war der Ansicht, dass »es absurt scheinete, wan der hohe Herr auf dem Pflaster stehet und der Jemand, welcher keine Landsburten tragt, in dem Kürchenstul sizen solle«.581 Der Geistliche Rat war der Ansicht der örtlichen Obrigkeit. Er genehmigte am 30. Juni 1705 die neue Kirchenstuhlordnung, wonach die Bauern hinten, die Bürger vorne sitzen sollen, »weillen hierdurch ein gebüehrend underschiedt der Ständte und Persohnen beobachtet, guete Ordnung eingefüehret« werde.582 Während die Bürger mit der neuen Verteilung zufrieden waren, wollten die Bauern ihre Plätze aber nicht räumen.583 Die neue Struktur wurde von ihnen als Chaos diskriminiert. Der Pfarrer habe »baldt da, baldt dorthin einen Kürchenstuehl assignirt, also zwar das maniche weder von dem heiligen Evangelio noch einer Prödig was verstehen khönnen«.584 Zur gleichen Zeit beschwerte sich der Rat des ebenfalls hochstiftisch-passauischen Marktes Untergriesbach beim örtlichen Pfarrer, dass in der Pfarrkirche »kein Ordnung gegen andere Märckhte obseruiert« werde. Die Kritik bezog sich darauf, dass »die Paurn voran in denen Stüellen sizen, sie hingegen als Rathsverwandte bei der Khirchenthier ohne Stüell stehen miessen«.585 Der nach Untergriesbach eingepfarrte Bauer Georg Wiplinger aus Diendorf bestand allerdings auf seinen beiden Kirchenstühlen, die er mit seinem Gut von seinem Vater übernommen hatte, und zwar »wie es aller Orth gebreuchig« sei.586 Pfarrvikar 580 Schreiben von Christian Graf, Pfleger von Obernzell, an den Geistlichen Rat in Passau vom 16.6.1705. ABP, OA Pfa Obernzell I 15. 581 Schreiben von Pfarrer Paul Priglmayer an den Geistlichen Rat in Passau vom 21.11.1711. Ebd. 582 Schreiben des Geistlichen Rats in Passau an den Pfarrer von Obernzell vom 30.6.1705. Ebd. 583 Schreiben von Pfarrer Paul Priglmayer an den Geistlichen Rat in Passau vom 25.4.1712. Ebd. 584 Schreiben der »Pfarrgemeinde« Obernzell an den Geistlichen Rat in Passau vom 31.3.1712. Ebd. 585 Schreiben von Sebastian Graf, Pfleger von Untergriesbach, an den Geistlichen Rat in Passau vom 6.1.1709. ABP, OA Pfa Untergriesbach I 31. 586 Schreiben von Georg Wiplinger an den Geistlichen Rat in Passau vom 20.1.1710. Ebd.

426  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Johann Georg Dietrich behauptete am 16. Juli 1710 in einem Schreiben an den Geistlichen Rat, dass keiner mehr als einen Kirchenstuhl besitzen dürfe, weshalb Wiplinger auf einen seiner beiden Stühle verzichten sollte. Daraufhin erklärte Wiplinger, »das er kainen auß beiden Stuellen von sich lasse« und »so fern ihme beyde Kürchen Stüell nit gelassen werdten, er die Pfarrkürchen zu Griesbach nit mehr vor seine Pfarr Kürchen erkennen, sondern anderstwohin sich pfarren wole«.587 Der Widerstand der Bauern war in Untergriesbach im Unterschied zu Obernzell offenbar so groß, dass der Rat resignierte: »[…] so scheinet doch die Sözung keine rechte und gebreuchiger Ordtnung nach, sondern wuerdt das Werckh in der alten Confussion verbleiben müessen.«588 Der Konflikt um die Kirchenstühle in Obernzell und Untergriesbach zeigt, dass der Kirchenraum in der lokalen Vorstellung der Bauern durchaus ein Symbol der sozialen Struktur darstellte. Dabei stellte die Symbolisierung sozialer Distinktion durch die Zuweisung eines bestimmen Ortes in der Kirche an eine bestimme soziale Gruppe eine klerikale Innovation dar. Erst seither wurde die Verortung im Kirchenraum von Bedeutung. Vorher wurde die soziale Distinktion nicht durch die Zuweisung eines bestimmten Orts im Kirchenraum an eine bestimmte soziale Gruppe produziert, sondern durch die unterschiedliche Anzahl der innegehabten Plätze, so wie die Getreidemenge nicht nach Gewicht, sondern mit Hilfe eines Hohlmaßes durch Umfang bestimmt wurde. Es war nicht in erster Linie von Bedeutung, wo man saß, sondern wie viele Sitze man sein Eigen nennen konnte.589 Denn es handelte es sich nicht um abstrakten Platz, sondern um konkrete, optisch und haptisch wahrnehmbare Sitze mit Eigentumscharakter.590 587 Schreiben von Pfarrvikar Johann Georg Dietrich an den Geistlichen Rat in Passau vom 16.7.1710. Ebd. 588 Schreiben von Rat, Richter und Ausschuss des Marktes Untergriesbach an den Geistlichen Rat in Passau vom 11.8.1710. Ebd. – Noch 1843 wurden Bauern und Bürger im Markt Schönberg (Lkr. Freyung-Grafenau) derart getrennt, dass die Bürger die vorderen, die Bauern die hinteren Plätze bekamen. Dies führte nicht zu Streit, sehr wohl aber die gleichzeitig vorgenommene Trennung der Geschlechter. Die Müllerin weigerte sich einen neuen Platz einzunehmen »und erscheint mitten unter den ledigen Burschen«. Vgl. Schreiben des Pfarrers von Schönberg an das Bischöfliche Ordinariat in Passau vom 18.4.1843. ABP, OA Pfa Schönberg I 59. 589 Auch in Außervillgraten in Osttirol verlief die Symbolisierung der sozialen Differenzierung in der Kirchenstuhlordnung von 1800 nicht über die Distanz zum Allerheiligsten, sondern über die Anzahl der Sitze. Vorzugsplätze gab es nicht, mit Ausnahme der Plätze für die örtlichen Amtsträger in der vordersten Bank. Vgl. Trojer: Kirchenstuhlrecht 99.  – Im hohenzollerischen Ostrach wurde der soziale Rang seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ebenfalls über die unterschiedliche Anzahl der Plätze in den Kirchenstühlen symbolisiert. Bauern hatten Anspruch auf je zwei Plätze, Söldner nur auf je einen. Begründet wurde dieser Unterschied mit der unterschiedlichen hohen Belastung mit Frondiensten für den Kirchenbau. Vgl. Kraus: Kirchenstuhl-Ordnung. 590 Da die Plätze in der Kirche gegen eine üblicherweise jährliche Gebühr überlassen wurden, hatten die Kirchenstühle Eigentumscharakter bekommen. Bei Übergabe und Verkauf von Anwesen gingen die Kirchenstühle üblicherweise an die neuen Besitzer der Anwesen über. Vgl. Grünewald: Rechtsverhältnisse.

Die Sakralisierung des Nutzens  427

Nicht die Verortung im Raum, sondern das Eigentum an konkreten Sitzen war von Bedeutung, weshalb sie nicht einfach vertauscht werden konnten. Dabei war die Symbolisierung der sozialen Bedeutung über die Anzahl der Sitze durchaus von der Notwendigkeit abgeleitet, für die Familienangehörigen und Dienstboten Plätze zur Verfügung zu stellen. Im Dorf Neukirchen am Inn (Lkr. Passau) entstand 1713 anlässlich der Neuverteilung der Kirchenstühle Streit, da einem Bauern vom zuständigen Pfarrvikar die Plätze für seine Dienstboten entzogen wurden. Der Pfarrvikar empfand es als Skandal, dass »man eine junge ledige Dirn oder Knecht in einen Stuel muthwilliger weiß und angemasten gewalts eintringen, hingegen andere Verheurathete Persohnen, die jede umb daß Gottshauß meritiert gemacht, ausser denen Stuellen auf dem Boden solle stehen lassen«.591 Dabei wurde die Anzahl der Sitze nicht nur zur Symbolisierung der sozialen Stellung sowie als Platz für Familie und Dienstboten benötigt, sondern diente auch wirtschaftlichen Zwecken. Der Untergriesbacher Bauer Matthias Schurm beklagte sich 1876 beim Bischöflichen Ordinariat in Passau, dass manche mehr Kirchenstühle besitzen als sie benötigen und sie sogar in »Afterpacht« geben.592 Diese symbolische Struktur, die soziale Bedeutung nicht an der Verortung im Raum, sondern am Umfang der Sitze konkretisierte, wurde von den Geistlichen nicht erkannt. Ihre Vorstellung von Ordnung bezog sich auf die Verortung im Raum. Ein differenziertes Schema zur Verortung der sozialen Gruppen im Raum entwickelte 1766 der örtliche Klerus in der Filialkirche im Markt Simbach bei Landau. Der zuständige Pfarrer, Franz Perger aus Niederhausen, trennte zunächst die Männer von den Frauen, dann die Bauern von den Bürgern, platzierte jene im hinteren Teil, diese im vorderen der Kirche. Die Bürger ordnete er nach Zünften, wobei er einen »Rang deren Handwerks« offenbar nach ökonomischer Wertigkeit festlegte. Am nächsten zum Altar setzte er die Bierbrauer, dann die Bäcker, anschließend die Metzger, dahinter die Schumacher, schließlich den Rest der Handwerker. Innerhalb eines Handwerks wurden die Plätze nach Alter vergeben.593 Daraufhin entstand Streit, der sich nach Ansicht des zuständigen Dekans, der die Vorgänge als bischöflicher Kommissar zu untersuchen hatte, daran entzündete, dass die Bauern, die »vormahlen auch unter denen Bürgern zum Theil vermischte Kürchständ haten, an jezo abgeändert und zurückh gestelt werden«. Der Dekan betrachtete dies als »ganz neue Ordnung wider die vor schon villen Jahren beobachtete Observanz, in welcher sich niemahlen eine 591 Schreiben des Abts von Vornbach an den Geistlichen Rat in Passau vom 2.11.1734. ABP, OA Pfa Neukirchen am Inn I 1. 592 Schreiben von Matthias Schurm an das Bischöfliche Ordinariat in Passau vom 4.11.1876. ABP, OA Pfa Untergriesbach I 31. – Die Familie Francksen aus Langwarden in der protestantischen Wesermarsch besaß im 17. Jahrhundert 40 Plätze in der Kirche, die sie vermietete. Vgl. Aka: Bauern 119–127. 593 Schreiben von Franz Perger, Pfarrer von Niederhausen, an den Geistlichen Rat in Passau vom 30.5.1766. ABP, OA Pfa Simbach bei Landau I 4; Kirchenstuhlregister vom 18.1.1767. Ebd.

428  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Zerrittung geäusert habe«.594 In einem Schreiben an den Geistlichen Rat erklärten der Kramer Matthias Köck sowie die Bierbrauer Johann Georg Sulzer und Andreas Wischlburger im Namen der Simbacher Bürger, dass es bisher üblich gewesen sei, das jeder, sei er Bauer oder Bürger, »ein oder mehrere Kürchen Ständt« gegen die Entrichtung eines »Stüfftsgelds« für sich und seine Erben erwerben konnte. Dies sei die »schönst- und zahlreicheste Ordnung« gewesen, welcher der Pfarrer »ein End und der Zerritt- und Unordtnung mit Verwechslung der Kürchen Ständten einen Anfang zu machen« beabsichtigt habe. Dadurch sei »zu iedermans Ärgernuß recht muethwillig und unnöttiger Dingen ein solcher Tumult und Confusion in der Gemeinde erwöket worden, daß dieser Gott geheiligte Ohrt mehr einem Kauff- als Gotteshauß gleich gesehen«.595 Obwohl die neue Kirchenstuhlordnung vom Geistlichen Rat genehmigt wurde,596 hielt die »Kirchenstuhlabänderungs-Differenz« an.597 Die Anhäufung mehrerer Kirchenstühle in der Hand einer Person wurde also im Laufe des 18. Jahrhunderts vom Klerus immer weniger akzeptiert. Der Grund dafür könnte im Bevölkerungswachstum liegen. Dieses führte nicht nur zu einem Anstieg der Zahl der Angehörigen unter- und kleinbäuerlicher Schichten und damit zu einem größeren Platzbedarf, sondern auch zu vermehrten sozioökonomischen Konflikten um die dörflichen Ressourcen und auch zu einem schärferen sozialen Distinktionswillen.598 Tatsächlich beklagte der Pfarrer von Breitenberg (Lkr. Passau) angesichts des Platzmangels in seiner Kirche um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, dass manche Familien über bis zu sieben Plätze verfügten, während andere gar keine besaßen.599 Bei der daraufhin folgenden Neuverteilung machten die Bauern allerdings darauf aufmerksam, dass der Pfarrer samt seinen drei Kaplänen »von uns 678 Hausgesessenen, Häuslern und Häuslerinnen« seinen Lebensunterhalt habe und nicht von den »übermässig angehäuften 3070 Ledigen und Inwohnern«.600 Schließlich wurden bei der Neuverteilung der Kirchenstühle 1803 die unterbäuerlichen Pfarrangehörigen von den Eigentümern getrennt und diese bevorzugt, denn, so der Pfarrer in einem Schreiben an den Geistlichen Rat, die »Hausgesessenen fodert [!] man in Kirchenbau Reparations-Fällen zu unentgeldlichen [!] Bäum- und Steinfuhren 594 Schreiben von Christian Seitz, Dekan und Pfarrer von Arnstorf, an den Geistlichen Rat in Passau vom 15.4.1766. Ebd. 595 Undatiertes Schreiben von Vertretern der Simbacher Bürgerschaft an den Geistlichen Rat in Passau. Ebd. 596 Schreiben von Franz Perger, Pfarrer von Niederhausen, an den Geistlichen Rat in Passau vom 21.2.1767. Ebd. 597 Schreiben des Geistlichen Rats in Passau an die Regierung in Landshut vom 4.7.1768 (Entwurf). Ebd. 598 Vgl. dazu Sabean: Schwert 23. 599 Geistlicher Ratsvortrag vom 31.12.1796. ABP, OA Pfa Breitenberg I 59. 600 Schreiben von Breitenberger Gemeindemitgliedern an den Geistlichen Rat in Passau vom 10.1.1804. Ebd.

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auf, und nicht leedige Weibsbilder«.601 Der Anstieg der Bevölkerung ist also nicht der Grund dafür, dass die Anhäufung von Kirchenstühlen in einer Hand nicht mehr akzeptiert wurde. Denn bei der Neuverteilung wurde die stark angewachsene Zahl der unter- und kleinbäuerlichen Pfarrangehörigen gar nicht berücksichtigt. Und das blieb so. In Hauzenberg (Lkr. Passau) wurden die Plätze in der neuerbauten Pfarrkirche noch 1879 nicht an Personen, sondern an Anwesen vergeben, »alle übrigen Familien, die so genanten Häuslleute als Herbergsleute, wurden ausgeschlossen«, so der Pfarrer.602 In der Pfarrei Dommelstadl (Lkr. Passau) wurden die Plätze nach der Kirchenstuhlordnung vom 20. Januar 1889 zunächst an die Anwesensbesitzer verteilt, dann auf die »Inhaber der in der Pfarrgemeinde bestehenden öffentlichen Ämter und Dienste« und schließlich nur »nach Möglichkeit« auf die »unbehausten« Familien.603 Es war also nicht der Bevölkerungsdruck, der die Neuverteilungen der Plätze in den Kirchenstühlen am Ende des 18. Jahrhunderts provozierte, sondern die zunehmende Verflüssigung sozialer Strukturen, die Ersetzung der starren Hierarchie durch den veränderlichen Rang, in dem es keine Sitze, sondern nur mehr Plätze gab. So wie in den Märkten die Bürger vor die Bauern gesetzt wurden und die Mitglieder vornehmerer Zünfte vor den anderen saßen, wurden auf den Dörfern die Bauern nun von den unterbäuerlichen Parochianen getrennt. Was die Anhäufung mehrerer zu einem Anwesen gehörender Plätze skandalös machte, war nicht der Platzmangel, sondern die Tatsache, dass dies bedeutete, dass Bauern und ihre Dienstboten nebeneinander saßen. Der Rang forderte aber nicht nur eine Trennung der Bürger von den Bauern, sondern auch eine Trennung der Bauern von ihren Dienstboten. Mit dem Rang bekam es Bedeutung, wo und neben wem man saß. In Weihmichl (Lkr. Landshut) wurden die Kirchenstühle 1784 neu verteilt. Der zuständige Pfarrer erkannte in seiner Kirche »keine Ordnung«, es herrschte seiner Ansicht nach ein »Mischmasch«. Die Inhaber von Anwesen verschiedener Größe saßen ebenso durcheinander wie ihre Dienstboten. Einerseits saßen Knechte eines Dienstherrn nicht beisammen, andererseits beobachtete er, dass »auch die Knecht halber und ganzer Baurn unter einander sich befanden«. Um »eine Ordnung herzustellen«, definierte er eine Männer- und eine Frauenseite. Dann schuf er eine Rangfolge nach dem Hoffuß: »Zuerste gehen die ganze, hernach die halb, nach diesen die 4tl Baurn und so fort. Unter gleichen z. B. mehrer ganzen Baurn macht den Rang der Vorbuchstab des Hausnamens, doch so, daß ein jedes[!] nicht seinen Stand, sondern seinen Stuhl zu beobachten 601 Schreiben des Pfarrers von Breitenberg an den Geistlichen Rat in Passau vom 3.8.1803. Ebd. 602 Schreiben des Pfarrers von Hauzenberg an das Bischöfliche Ordinariat in Passau vom 20.12.1879. ABP, OA Pfa Hauzenberg I 14. 603 Kirchenstuhlordnung der Pfarrei Dommelstadl vom 20.1.1889. ABP, Pfarrarchiv Vornbach 124. So auch die Kirchenstuhlordnung von Galgweis aus dem Jahr 1913: Kirchenstuhlordnung der Pfarrkirche Galgweis vom Oktober 1913. ABP, OA Pfa Galgweis II 4 a.

430  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  haben solle.« Auf der Empore gab er den Knechten eines Dienstherren benachbarte Plätze und ordnete sie ebenfalls nach Hoffuß und Anfangsbuchstaben des Dienstherren. Ebenso verfuhr er mit den weiblichen Dienstboten. Diese Struktur erschien ihm nun »regelmässig und schön gleichförmig«.604 Es dauerte allerdings, bis sich der Rang durchsetzte. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkurrierte der Rang mit dem Umfang, wie sich an der Beschwerde des Untergriesbacher Bauern Matthias Schurm vom 4. November 1876 zeigte. Zu seinem Anwesen gehörten vier Plätze. Nach dem Kauf eines zusätzlichen Anwesens, zu dem fünf Plätze gehörten, standen ihm seiner Meinung nach neun Plätze zu. Von diesen wollte ihm die Kirchenverwaltung zwei entziehen. Darüber beschwerte er sich, da dadurch das erworbene Anwesen an Wert verliere und der Platz für seine Dienstboten nicht ausreiche.605 Er beklagte aber auch, dass ihm die vorderen Stühle entzogen wurden: »Überdieß haben andere Anwesensbesitzer fast lauter Stühle der ersten Klasse, und ich hatte bei meinem ersten Anwesen fast lauter Stühle der letzten Klasse und nun will man mir wiederum zum Danke dafür, daß das Gut nicht zertrümmert worden und nicht zertrümmert wird, die bessern entziehen.«606 Der Rang widersprach ständischen Hierarchisierungskonzepten und machte in der Kirche aus dem ständischen Hausvater den ökonomisch definierten Hausbesitzer. Es handelte sich um die Ökonomisierung der Bevölkerung, den Bedeutungsverlust rechtlicher zugunsten ökonomischer Kriterien gesellschaftlicher Strukturierung, wie sie sich auch in der Agrarpolitik zeigte. Im 18. Jahrhundert entstand in den staatlichen Behörden die Idealvorstellung einer bäuerlichen Landwirtschaft  – als Ergebnis der Identität von Arbeit, Familie und Eigentum – als Optimum (agrar)ökonomischer Leistungsfähigkeit. Der bäuerliche Hof wurde auf ökonomischer Grundlage ideologisiert.607 Dabei ging diese Ökonomisierung der Landwirtschaft – entgegen der säkularisierenden Annahmen der Modernisierungstheorie – einher mit einer Sakralisierung der Ökonomie. Die ökonomische Bedeutung einer Person wurde an der Distanz ihres Kirchenplatzes zum Allerheiligsten gemessen. Das Ökonomische wurde sakralisiert und das Sakrale bekam Bedeutung für die soziale Distinktion. Je reicher, desto näher am Heiligen, was es nur konsequent machte, dass die Nähe zum Heiligen in Geld gemessen wurde. Eine bischöflich-passauische Verordnung verlangte 1788 die Wertung der Kirchenstühle nach ihrer Nähe zum Altar. Die Stühle im vorderen Drittel sollten zwölf Kreuzer jährliche Gebühr kosten, diejenigen im 604 Schreiben des Pfarrers von Weihmichl an die Kirchendeputation Landshut vom 20.2.1784. StaLa, Kirchendeputation Landshut (Rep. 201) 1006. 605 Schreiben von Matthias Schurm an das Bischöfliche Ordinariat in Passau vom 4.11.1876. ABP, OA Pfa Untergriesbach I 31. 606 Schreiben von Matthias Schurm an das Bischöfliche Ordinariat in Passau vom 5.1.1877. Ebd. 607 Vgl. Sabean: Schwert 235 f.

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mittleren Drittel zehn Kreuzer und die hinteren acht Kreuzer.608 In Otterskirchen (Lkr. Passau) mussten die Kleinbauern, die bisher ihre Plätze im vorderen und mittleren Drittel der Kirche eingenommen hatten, nach der Umsetzung der Verordnung deshalb ihre Plätze räumen.609 Die Aufteilung des Kirchenraumes in drei oder mehr, in Abhängigkeit von der Distanz zum Allerheiligsten unterschiedlich bepreiste Klassen ermöglichte zwar die Zuweisung eines Ranges auf ökonomischer Grundlage. Zwischen den Klassen, die in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 eingeführt wurden, bestanden aber noch feste Grenzen. Die Verteilung der Kirchenstühle nach der Grundsteuerleistung, wie 1852 in Oberroning (Lkr. Landshut),610 1875 in Holztraubach (Lkr. Straubing-Bogen)611 und 1888 in Laberweinting (Lkr. Straubing-Bogen)612 wies dann dynamische Grenzen zwischen den Kirchenstuhlinhabern auf. Dementsprechend war in Holztraubach alle drei Jahre eine Revision des Rangs vorgesehen.613 Dies bedeutet eine vollständige Sakralisierung des Kirchenraums, denn privates Eigentum an einem konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Kirchenstuhl war unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich. In materieller Hinsicht waren die Kirchenstühle nun unumstritten Eigentum der Kirche. Es war die Ökonomisierung, welche durch Überwindung rechtlicher Normen eine völlige Sakralisierung des Kirchenschiffs ermöglichte – was der Sichtweise der Kleriker entsprach, denn die sakrale Qualität des Kirchenschiffs hatte für die Bauern keine Rolle gespielt, sondern nur das Eigentum an ihren Stühlen. Der Wert des Ökonomischen konnte ab jetzt an Sakralität gemessen werden, der Nutzen bekam moralischen Wert. Dieser Vorgang war verbunden mit dem Übergang vom Ordnen (Simbach bei Landau) zum Messen (Holztraubach). In Simbach bei Landau handelte es sich um eine diskontinuierliche Struktur mit festen Grenzen zwischen den Einheiten. Der dortige Pfarrer strukturierte seine Gemeinde, wie Görres die Zeit strukturierte.614 Das Normale wurde vom Normativen abgeleitet. In Holztraubach wurde gemessen. Es entstand eine kontinuierliche Struktur von dynamischen 608 Schreiben von Paul Friedl, Pfarrer von Hauzenberg, an den Geistlichen Rat in Passau vom 13.1.1790. ABP, Generalakten 974. Im Bistum Bamberg war eine derartige Wertung der Kirchenplätze bereits 1671 eingeführt worden. Vgl. Kirchenstuhlordnung für das Hochstift Bamberg. In: Rössler: Kirchenstühl 364. 609 Schreiben von Andreas Joseph Grueber, Pfarrer von Otterskirchen, an den Geistlichen Rat in Passau vom 26.1.1790. ABP, Generalakten 974. 610 Aktenvermerk vom 12.4.1852. BZAR , Pfarrakten Oberroning 2. 611 Kirchenstuhlregister 1875–1878. BZAR , Pfarrarchiv Holztraubach 34/2. 612 Stingl: Kirchenstuhlprozeß. 613 Darauf weist hin, dass das erhaltene Kirchenstuhlregister von Holztraubach auf eine Dauer von drei Jahren angelegt war. Es handelt sich um die »Abschrift des letzten Kirchenstuhlvertheilungs-Verzeichnisses aus der Zeit von 1875–1878.« Vgl. Kirchenstuhlregister 1875–1878. BZAR , Pfarrarchiv Holztraubach 34/2. 614 Vgl. Kapitel V.4.

432  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Relationen. In Holztraubach wurde das Normative vom Normalen abgeleitet. Aus unüberwindlichen und starren rechtlichen Grenzen wurden dynamische Grenzen. Es entstand ein kontinuierliches Feld, das vom Rang bestimmt wurde. Es zeigt sich deshalb in Holztraubach, dass es zutrifft, wenn Link die Normalisierung als Antwort auf die kapitalistische Wachstumsdynamik betrachtet, da sie an Konkurrenz orientiert ist.615 Die Einführung des Rangs zur Strukturierung des Kirchenraums initiierte Konkurrenz um die vorderen Plätze, in die ökonomische Konkurrenz übersetzt wird. Deshalb handelt es sich beim messenden Strukturieren des Kirchenraums um eine Disziplin im Sinne Foucaults, um eine Technik des Messens, Abschätzens und Abstufens, eine Technik der Relation.616 Sie ist die »Kunst des Ranges«.617 Denn es entstand »der ständige kollektive Wettbewerb der Individuen, die sich im Vergleich qualifizieren und klassifizieren«.618 Der geordnete Rang in Simbach bei Landau musste sich zum messenden Rang in Holztraubach entwickeln, da sich der Rang erst im Messen voll entfaltet. Denn Kennzeichen des Ranges ist es, dass er sich in einem »seriellen Raum« ständig verschiebt. Deshalb fungiert der Rang als »Überwachungs-, Hierarchisierungs- und Belohnungsmaschine«. Daher muss der Rang sichtbar sein. Um dies zu erreichen, arbeitet die Disziplin mit »›lebenden Tableaus‹, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen«.619 Deshalb ist die Disziplin eine »Macht, die, anstatt zu entziehen und zu entnehmen, vor allem aufrichtet, herrichtet, zurichtet – um dann allerdings um so mehr entziehen und entnehmen zu können. Sie legt die Kräfte nicht in Ketten, um sie einzuschränken; sie sucht sie allesamt so zu verbinden, daß sie vervielfältigt und nutzbar gemacht werden.«620 Der Rang bedeutete also Ökonomisierung.621 Lebende Tableaus entstehen sowohl in Simbach bei Landau wie auch in Holztraubach. In Simbach bei Landau handelte es sich aber um eine hierarchische Gliederung aufgrund normativer Vorgaben, was starre Grenzen nach sich zog und Konkurrenz unmöglich machte. Denn die Relation zwischen Metzgern und Bierbrauern ist nicht messbar. Erst durch seine Ökonomisierung, wie sie sich in Holztraubach, Oberroning und Laberweinting zeigte, wurde der Rang wirksam. Durch die Verteilung der Plätze in der Kirche auf der Grundlage der Grundsteuerleistung fielen Ökonomisierung, Normalisierung und (Selbst-) Disziplinierung des Sozialen ineinander. Die Grundsteuerleistung stellte ein generalisiertes skalierendes und gradualisierendes Instrument der Normalisie 615 Vgl. Link: Versuch 358. 616 Foucault: Überwachen 164–168. 617 Ebd. 187. 618 Ebd. 207 f. 619 Ebd. 188–190. 620 Ebd. 220. 621 Ebd. 202 f.

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rung zur Verfügung. Die Strukturierung des Kirchenraums gründete am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr auf Normativität, der Kirchenraum produzierte Normalität – neben Krankenhaus, Schule, Gefängnis und Fabrik. Dabei gehen Ökonomisierung und Normalisierung eine spezifisch katholische Verbindung mit dem Heiligen ein. Aus dem göttlichen Verbot des Müßiggangs wurde die internalisierte Konkurrenz  – um die vordersten Plätze in der Kirche. War es den Bauern bis ins 18. Jahrhundert egal, wo sie saßen, wurde es nun bedeutsam. Äußerliches Gebot wurde durch innere Disziplin, Streben nach dem besseren Rang, ersetzt.622 Und dies nicht nur in der Struktur des Kirchenraums, sondern auch in der Struktur der Prozessionen. Die szenische Fronleichnamsprozession der Frühen Neuzeit wandelte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Präsentation der gesellschaftlichen Struktur.623 Dabei bedeutete der Rang in Kirchenraum und Prozession, dass die Mitglieder der Kirchengemeinden gemessen und in eine dreidimensionale Tabelle übertragen wurden, was sie zu Daten machte.624 Neben die transzendente Begründung des Eigentums zur Herstellung von Willensfreiheit trat die immanente Begründung des Eigentums als effizient. Als Ketteler in einer Adventspredigt 1848 die thomistische Lehre vom Eigentum auslegte, nannte er als Grund für die Existenz des Privateigentums die Konkurrenz, denn Jeder sorge besser für das, was ihm selbst gehöre, als was er mit Anderen gemeinschaftlich besitze. Jedermann, fügte er [Thomas von Aquin] hinzu, fliehe die Arbeit und überlasse, was Allen gemeinschaftlich obliege, gerne dem Anderen, wie es unter einer zahlreichen Dienerschaft zu geschehen pflege.

Ohne Privateigentum würde »jede gute Verwaltung vernichtet, jede Verbesserung unmöglich gemacht«. Die »natürliche Trägheit« im Menschen würde sich durchsetzen, Zank und Streit würden ausbrechen, »allgemeine Verwirrung entstehen, wenn Jeder für Alles zu sorgen habe«.625 Auch Reichensperger und Ratzinger begründeten ihre Entwürfe zur Umgestaltung der sozialen und ökonomischen Strukturen mit dem Streben nach Effizienz.626 Lehmkuhl lobte 1884 den »Mittelstand« nicht nur, weil dieser »ohne die Bedürfnisse des Luxus und der Üppigkeit zu kennen, ein bequemes und reichliches Auskommen für die Bedürfnisse des Lebens hat«. Er wies auch darauf hin, dass die mittelständische Selbstständigkeit zu »Vorsorge und Berechnung« anleite. Deshalb sei die Leis 622 Vgl. zu diesem Internalisierungsvorgang auch Elias: Prozeß. Vgl. dazu Angenendt: Prozeß. 623 Schlögl: Glaube (2013) 298. 624 Vismann: Akten 208: »Mit der Übertragung von Geschehenem, Gehörtem und Gelesenem in Tabellen werden aus Gütern, Kräften, Zuständen und Verhältnissen von Land und Leuten Daten.« 625 Ketteler: Fragen 29. 626 Vgl. Kapitel V.2.

434  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  tungsfähigkeit eines Volkes am größten, »wenn Verarmung und übermäßiger Überfluß gleich weit entfernt waren«.627 Das Risiko wurde nicht mehr nur mit der Willensfreiheit, sondern mit der Nützlichkeit begründet. Damit vollzog auch Lehmkuhl den Übergang vom individuellen transzendenten zum gesellschaftlichen immanenten Nutzen des Mittelstandes. Dabei war der Übergang von der Verantwortung zum Nutzen und vom Strafen zum Rang, d. h. vom Exorzismuszum Regeldispositiv, bereits in der Juridifizierung der Sozialethik angelegt. Denn ein Grund dafür lag ja darin, dass dem Recht größere Effizienz bei der Lösung sozialer Probleme zugesprochen worden war als der Liebe.628

13. Verwalten statt Strafen Die Homogenisierung der Sprache war ein zentrales Anliegen katholischer Ekklesiologie und Pastoraltheologie nach den volkssprachlichen Experimenten der Aufklärungszeit.629 Für die einheitliche liturgische Verwendung des Lateinischen sprach die Tatsache, dass sie eine tote Sprache war, so der Katholik 1859. Denn nur deshalb »scheint sie sich uns als Gefäß der ewigen und abstracten Wahrheiten zu eignen«. Sie sei dadurch »dem unaufhörlichen Wechsel und Wandel, der Unruhe der Entwicklung überhoben«.630 Im Gegensatz zum Lateinischen seien die Volkssprachen »unbestimmt und vieldeutig«. Dabei eigneten sich die Volkssprachen schon deshalb nicht als liturgische Sprachen, da die sprachliche Vielfalt als Folge des Sündenfalls interpretiert wurde.631 Damit übereinstimmend plädierte auch Schuech 1896 für die liturgische Verwendung der lateinischen Sprache: Als eine todte und darum unveränderliche Sprache bewahrt sie den überlieferten, unabänderlichen Inhalt des Glaubens in seiner ursprünglichen Reinheit, entzieht ihn dem Wechsel und der Veränderung, verhütet jede Verdrehung und Fälschung und stellt durch ihren allgemeinen und fortdauernden Gebrauch die Einheit des Cultus unter allen Völkern und zu allen Zeiten her.

Übersetzungen haben »Irrthümer, Verdrehungen, Fälschungen« zur Folge, »zumal auch der jedesmalige Zeitgeist seine unchristlichen Ansichten in die Liturgie einzuschwärzen versuchen würde«. Der »Cultus« würde sich »in Kürze« verändern und jede Diözese einen eigenen Ritus besitzen. Außerdem entweihe die Alltagssprache die Liturgie: 627 Lehmkuhl Handwerkerfrage 117 f. 628 Vgl. Kapitel IV.8. 629 Vgl. dazu Harnoncourt: Liturgie 352–354; Schneider: Spätaufklärung 55 f. 630 Die Sprache der katholischen Wissenschaft. In: Der Katholik 2 (1859) 839–854, hier 841–844. 631 Ebd. 847 f.

Verwalten statt Strafen  435

Die Feier des Heiligen und Geheimnisvollen erfordert den Gebrauch einer besonderen, geheiligten, Ehrfurcht erweckenden, der Entweihung nicht ausgesetzten Sprache, und durch das ahnungsvolle Helldunkel einer solchen fremden und geheiligten Sprache wird zugleich um den Gottesdienst ein gewisser geheimnisvoller Schleier gelegt, der das Mysteriöse des katholischen Cultus ganz treffend symbolisiert und dem religiösen Gefühle ebenso entspricht als dasselbe fördert.

Die Katholizität der Kirche fordere eine einheitliche Sprache, die aufgrund der Apostolizität der Kirche nur das Latein als Sprache der Apostelzeit sein könne.632 Aufgrund seiner Gewissheit war das Latein die Sprache, die der Kirche als Heterotopie der Gewissheit angemessen erschien. Sie wirkte an der Absonderung der Kirche von der Welt mit und erzeugte innerkirchliche Homogenität. Dabei stellte die Latinisierung der Liturgie nicht die einzige sprachliche Homogenisierungsbemühung der katholischen Kirche dar. Einen bemerkenswerten sprachlichen Homogenisierungsversuch legte der badische Pfarrer Schleyer 1879 mit seiner Weltsprache Volapük vor. Dabei ging es ihm um Religion und Nutzen gleichermaßen. Einerseits wollte er damit den Dualismus zwischen Babel und Pfingsten auflösen.633 Andererseits ging es ihm um die »Erleichterung des täglich riesiger anwachsenden Verkehrs und Handels, der Gewerbtätigkeit, der Wissenschaft und Kunst«.634 Volapük sollte nur in lateinischer Schrift geschrieben werden. Denn keine Schrift sei »so einfach, schön, deutlich, weitverbreitet und altehrwürdig«.635 Überall sei strengstens auf Einheitlichkeit zu achten, damit keine Streitigkeiten entstehen. Deshalb stellte er drei Grundregeln auf: »1) Einer Menschheit eine Sprache! 2) Einer Sprache eine Schrift! 3) Einer Schrift eine Lesung!«636 Um seine Weltsprache so einfach wie möglich zu gestalten, merzte er Geschlechtswörter, Teilungsartikel, Ausnahmen von den grammatischen Regeln, unregelmäßige Verben, schwierige Pronomina, ein Übermaß von Selbstund Mitlauten, schwierige Reime sowie Inkonsequenzen bei Wortbedeutungen, Rechtschreibung und Wortstellung aus.637 Schleyer war sich sicher, Volapük spare Zeit und sei leicht erlernbar, fördere logisches Denken, da es nur »deutlich unterschiedene, klare Begriffe« verwende, erfreue »sich einer festen Termino 632 Schuech: Handbuch 447–449.  – Benger: Pastoraltheologie 239 formulierte 1862: »Je bestimmter, unverletzlicher, der Deutung des Privatgeistes entrückter die liturgische Formel ist, desto besser. Lebende Sprachen werden unaufhörlich verändert und umgebildet; die Bedeutung der Worte wird eine andere; die Landessprache in der Liturgie müßte immer neue Übersetzungen nothwendig machen, damit die kirchliche Controlle erschweren, die Gefahr des Irrthumes bedeutend erhöhen, selbst oft die Gültigkeit der sacramentalen Handlungen in Frage stellen. Die Liturgie in derselben unbeweglichen Sprache sichert Allen denselben Glauben, und ist nicht bloß Symbol der Einheit, sondern auch ein Mittel die Einheit zu bewahren.« 633 Vgl. Haupenthal: Schleyer 70–73. 634 Schleyer: Grammatik 7. 635 Ebd. 11. 636 Ebd. 13. 637 Ebd. 15 f.

436  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  logie« und ermögliche deshalb die Abfassung »unzweideutiger« Verträge. Mit Volapük könne »Alles aufs genaueste und feinste« ausgedrückt werden. Es besitze eine »leichte, feste, klare und deutliche Orthographie«.638 Schleyers Vorhaben liest sich letztlich wie die sprachpolitische Konkretion der Neuscholastik. Wurde die katholische Kirche durch das Lateinische sprachlich homogenisiert, so sollte es die Kommunikation zwischen der Kirche und ihrer Umwelt nicht durch das eigenbrötlerische Volapük Schleyers werden, sondern durch eine bürokratisierte Sprache, bei der es auch um Gewissheit und Effizienz gleichermaßen ging. Nach Ebertz beabsichtige die kirchliche Bürokratisierung, durch Uniformierung und Disziplinierung Berechenbarkeit herzustellen und die administrative Effizienz zu steigern.639 Kennzeichen der katholischen Kirche des 19.  Jahrhunderts ist eine zunehmende Bürokratisierung. Darin konkretisierte sich in erster Linie die Betonung objektiver transpersonaler Strukturen durch die Neuscholastik. Denn die katholische Kirche verstand sich stets vor allem als transpersonale objektive Struktur, nur führte die neuscholastische Rechtsphilosophie zu einer Betonung der formalen Strukturen zuungunsten der personalistischen Inhalte, wie sie vor allem im Gnadendispositiv betont worden waren. Dabei erfolgte die kirchliche Bürokratisierung nach Ebertz in drei Schüben. Voraussetzung dafür war Entfeudalisierung durch Säkularisation. Der Verlust ihrer weltlichen Herrschaft machte die Bischöfe zu hauptberuflichen Kirchenfunktionären. Geburts- wurde durch Amtscharisma und davon abhängiges Sozialprestige, erworben nicht zuletzt durch Leistung, ersetzt. Dabei schaltete die Säkularisation die pastoralen Konkurrenten der Bischöfe aus. Die Domkapitel verloren ihren Status als eigenständige Körperschaften, wurden dadurch entmachtet und zu administrativen Organen reduziert. Durch die Auflösung der Klöster wurde die Seelsorge in den Pfarreien vereinheitlicht.640 Links des Rheins sorgte das dort geltende französische Recht bereits für die freie Versetzbarkeit der Pfarrer durch die Bischöfe.641 Der erste Bürokratisierungsschub bedeutete also durch die Ausschaltung von Zwischengewalten eine Stärkung der zentralen bischöflichen Behörden bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der Seelsorge. Der zweite Bürokratisierungsschub, beginnend noch im Vormärz, forciert aber durch die Lockerung der staatlichen Kirchenaufsicht nach der Jahrhundertmitte, betraf die diözesanen Verwaltungsstrukturen. Schriftlichkeit, Aktenmäßigkeit, Regelgebundenheit und Arbeitsteilung wurden in den zentralen diözesanen Behörden eingeführt. Die Bürokratisierung des Klerus erfolgte 638 Ebd. 16–18. 639 Vgl. dazu zusammenfassend Ebertz: Bürokratisierung; Gabriel: Gesellschaftsentwicklung 212–216; Schieder: Kirche; Stickler: Reichskirche 287; Wolf: Rohrstengel. Zur kirchlichen Bürokratisierung am Beispiel des Bistums Augsburg vgl. Witetschek: Erneuerung 144–198. 640 Vgl. Ebertz: Haus 68–72; ferner Müller: Diözesanbehörden 1–3 und 12 f.; Schneider: Entwicklungstendenzen 163. 641 Vgl. Ebd. 173–177.

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durch eine monopolisierte Ausbildung in den Priesterseminarien, ein rationales Prüfungswesen, regelmäßige Exerzitien, Visitationen und Pastoralkonferenzen sowie regelmäßig erscheinende Amtsblätter. Die Einführung des Kanzleistils in der Kommunikation zwischen den bischöflichen Behörden und dem Klerus führte zu kommunikativer Formalisierung und klerikaler Homogenisierung auf bürokratischer Grundlage.642 Das Selbstbild der Priester glich sich dem­ jenigen der Beamten an, weshalb Mergel die Priester als »Bürger in der Kirche« bezeichnete.643 In den Sprengeln von Trier und Köln beispielsweise wurde ein engmaschiges Netz an Dekanaten als Aufsichts- und Vollzugsorgane der diözesanen Behörden installiert. Die Pfarrer wurden dort regelmäßig mit detaillierten Fragebögen visitiert. Es gab regelmäßige Dekanatskapitel, Pastoralkonferenzen und »Cura-Examen« zur Erneuerung der Beichtfakultät. Die Pfarrer sahen sich zudem einer wachsenden Zahl von bischöflichen Verordnungen gegenüber. Es gab Vorschriften über die Gestaltung der Dienstschreiben, über den klaren hierarchischen Geschäftsgang, Einführung von Lagerbüchern, Aufforderung zur Einrichtung von Pfarrarchiven sowie zur Schriftlichkeit und Aktenmäßigkeit der Verwaltung. Darüber hinaus wurden Vordrucke eingeführt, um die Verwaltung effizienter zu gestalten.644 Wie die lokalen Pfarrämter mit den zentralen diözesanen Behörden synchronisiert wurden, zeigt eine bischöfliche Verordnung vom 13. August 1824, mit der die Pfarrer des Bistums Regensburg aufgefordert wurden, ihre Akten innerhalb von drei Monaten zu ordnen. Zuerst sollten sie die geistlichen von den weltlichen Akten trennen. Danach sollten »die auf specielle Gegenstände bezüglichen Schriften für jeden solchen Gegenstand gesondert zusammengelegt, mit einem den Betreff bezeichnenden Überschlagsbogen versehen und fascikelweise zusammengebunden werden«. Daraufhin war jeder Faszikel »auf dem Überschlagsbogen neben dem Betreffe mit einer Nummer zu bezeichnen« und »mit den fortlaufenden Nummern und Betreffen in ein Verzeichnis einzutragen«. Von diesem Verzeichnis musste es zwei Exemplare geben, »wovon das eine zu den Acten zu legen, das andere aber vor Ablauf des obbestimmten Termins von drei Monaten der betreffenden königlichen Polizeibehörde zu überreichen kömmt«.645 Ergebnis dieses zweiten Bürokratisierungsschubs war die »bürokratische Formalisierung der kirchenamtlichen Sozialbeziehungen« (Michael N. Ebertz).646 642 Vgl. Ebertz: Haus 72–79. 643 Vgl. Mergel: Klasse 89 f. – Bei aller Bürokratisierungstendenz gab es aber auch spezifisch kirchliche Grenzen derselben. Während die staatliche Bürokratie seit den Reformen des späten 18. Jahrhunderts eine vom Herrscher unabhängige Position bekam, blieben die kirchlichen Beamten persönlich an den Bischof gebunden. Vgl. Meister: Beamtenrecht 10 f.; Müller: Diözesanbehörden 72–84. 644 Vgl. Schneider: Entwicklungstendenzen 173–177. 645 Oberhirtliche Verordnungen 228–230. 646 Ebertz: Herrschaft 100.

438  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Beim dritten Bürokratisierungsschub handelte es sich dann nach der diözesanen Zentralisierung und Homogenisierung um die gesamtkirchliche Zentralisierung durch die Dogmatisierung von Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat des Papstes auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/1870. Es entstand eine von Max Weber so genannte »Kaplanokratie«. Bischöfe und Pfarrer wurden »zu einfachen Beamten der kurialen Zentralgewalt«.647 Nuntiaturen und ad-liminaBesuche dienten der kurialen Kontrolle der Bischöfe.648 Gleichzeitig führte der Ausbau der Verwaltungen zur Anstellung von immer mehr Laien.649 Im Erzbistum Freiburg wurden die kirchlichen Beamten durch eine »Dienerpragmatik für die Beamten des Erzbistums Freiburg« vom 20. Februar 1862 den staatlichen Beamten gleichgestellt, nachdem die dienstherrliche Autonomie der Kirche mit Gesetz vom 9.  Oktober 1860 anerkannt worden war. Die Bestimmungen der badischen Staatsdienerpragmatik vom 30.  Januar 1819 wurden dabei nahezu wörtlich übernommen.650 Das Freiburger Beispiel zeigt sehr deutlich die Rolle des Staates für den Ausbau der kirchlichen Verwaltungen.651 Karl Gabriel, Lutz Raphael und Wolfgang Schieder sehen in der Bürokratisierung der kirchlichen Strukturen die Übernahme eines staatlichen Vorbilds.652 Dabei ist dies für Raphael nicht zuletzt eine Folge der staatlichen Instrumentalisierung der Kirche für öffentliche Aufgaben, etwa im Bildungswesen und in der Armenfürsorge.653 Systemtheoretisch erscheint eine vom Staat übernommene bürokratische Kommunikation dann als Mittel zur Erleichterung der Kommunikation zwischen Systemen, was vorher aufgrund der Entwicklung systemeigener Semantiken zum Problem geworden war.654 Das bayerische Innenministerium forderte tatsächlich die Angleichung der kirchlichen an die staatlichen Verwaltungsstrukturen, was dann zur innerkirchlichen Trennung von Gerichtsbarkeit und Verwaltung führte.655 Die Büro 647 Weber: Parlament 23 f. 648 Vgl. Ebertz: Haus 79–81. Während die Mehrzahl der geschichtswissenschaftlichen Forscher davon ausgeht, dass Bürokratisierung und Hierarchisierung eine strengere Kontrolle über den Klerus brachten, teilt Anderson diese Ansicht nicht, da das Netz der deutschen Bistümer im Vergleich zu Frankreich grobmaschiger war. Deshalb spricht sie von einer »Autonomie« des deutschen Klerus. Vgl. Anderson: Grenzen 204 f. 649 Vgl. Meister: Beamtenrecht; Müller: Diözesanbehörden 128–136. 650 Meister: Beamtenrecht 10–46. 651 Ein weiterer Grund für die Expansion der diözesanen Verwaltungen ist darin zu sehen, dass die administrativen Behörden im Unterschied zu den Gerichtsbehörden im Kirchenrecht kaum Berücksichtigung fanden und ihnen deshalb keine kirchenrechtlichen Grenzen gesetzt waren. Vgl. Müller: Diözesanbehörden 4–7 und 71. 652 Vgl. Gabriel: Christentum 87–90; Raphael: Recht 209 f.; Schieder: Sozialgeschichte 20. 653 Raphael: Recht 25. 654 Zur systemtheoretischen Deutung der Bürokratisierung von Religion vgl. Gladigow: Religion 23. 655 Vgl. Witetschek: Erneuerung 122–126.

Verwalten statt Strafen  439

kratisierung ist aber nicht nur als Anpassung an staatliche Strukturen zu sehen, sondern auch als Folge der Abwehr von staatlichen Eingriffen – um sich dem Gegner im Kampf anzupassen, um sich ihm besser erwehren zu können, wie sich am Beispiel der preußischen Bistümer zeigen lässt. Die strenge staatliche Aufsicht führte einerseits zur Anpassung der kirchlichen Gerichtsbarkeit an das staatliche Recht, während in den bischöflichen Behörden andererseits staatlich approbierte Justitiare (Laien) angestellt wurden, um sich der staatlichen Eingriffe zu erwehren.656 Insgesamt führte diese spezifisch deutsche Konstellation zwischen Anpassung und Abwehr zu sehr ausgeprägten deutschen Diözesanverwaltungen,657 während es in Frankreich nur kirchliche Gerichts- und keine Verwaltungsbehörden gab.658 Denn in Frankreich wurde die gallikanische Unterwerfung unter den Staat vom laizistischen Kampf gegen die Kirche abgelöst. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Bürokratisierung der kirchlichen Strukturen auch innerkirchliche Vorteile bot. Bürokratische Strukturen schaffen Bindung, wo personale Beziehungen versagen. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft führte dazu, dass sich Intention und Praxis beim Vollzug des Glaubens voneinander lösten, da Rituale immer weniger situationsund kontextgebunden praktiziert wurden. Da Konformität sich immer weniger mit den traditionellen Mitteln der Sozialkontrolle herstellen ließ, wurde dies in der katholischen Kirche zunehmend mit kontinuierlich wirksamen büro­ kratischen Mitteln versucht.659 Das Spannungsverhältnis zwischen Inhalt und Form, das daraus entstand, brachte Ketteler 1867 zum Ausdruck, als er behauptete, dass Bürokratie und Religion unvereinbar seien. Denn die Bürokratie bedeute »excessive Freiheit in der Form« und »schrankenlosen Despotismus in der Sache«.660 Liturgisches Latein, badisches Volapük und bürokratische Apostolizität zeigen, dass Effizienz und Kontrolle, die sich im Streben nach Gewissheit ausdrückten, einen immer wichtigeren Stellenwert im Katholischen einnahmen. Es ging jeweils darum, die Vergeudung von Kraft, Material und Zeit zu minimieren und den Ertrag zu optimieren. Dies bedeutet, dass zufälliges, planloses und traditionsgebundenes Handeln durch Arbeitsteilung, Normierung, Standardisierung, Bürokratisierung und Systematisierung von Wirklichkeit zu ersetzen war – nicht zuletzt darum, um Handeln vorhersehbar und dadurch erwartungssicher zu machen. Es handelte sich deshalb bei diesen drei sprachpolitischen Phänomenen um Rationalisierung, d. h. um eine Steigerung der Kontrolle über die Umwelt, was letztlich eine Entzauberung der Welt, d. h. Entmystifizierung und Verwis 656 Droste: Behörde 52 f.; Meister: Beamtenrecht 6 f.; Müller: Diözesanbehörden 28 f. 657 Vgl. Ebd. 8–10. 658 An ihrer Stelle gab es mehrere Generalvikariate in einem Bistum. Vgl. Ebd. 62 f. 659 Vgl. Gladigow: Religion 22 f. 660 Ketteler: Deutschland 56–59.

440  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  senschaftlichung, darstellt.661 Und das gilt gerade auch für das liturgische und mystische Latein, denn es wurde nach den volkssprachlichen Experimenten der katholischen Aufklärung nicht mehr einfach hingenommen, sondern sein Nutzen reflektiert. Dabei handelt es sich bei diesen sprachlichen Rationalisierungsbemühungen um formale Rationalität, die nicht mehr lokal eingebettet ist, sondern auf universal anwendbaren Regeln basiert.662 Der universalisierte Formalismus der bürokratisierten kirchlichen Strukturen stellt eine Konkretion der normalisierten Gesellschaft dar. Das Verwalten ersetzt das Strafen. Es ging nicht mehr um Verantwortung, sondern um Nützlichkeit. Die Regel ersetzt das Verbot. Das politische Interesse richtete sich, so Foucault, vom Volk auf die Bevölkerung. Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise, Wohnverhältnisse wurden zum Gegenstand administrativer Tätigkeit.663 Es ging nicht mehr um Verbieten, sondern um Produzieren. Es entstand in sozialer Hinsicht ein neuer Machtmechanismus, die Bio-Macht. Sie arbeitete nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik, nicht mit dem Gesetz, sondern mit Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern der Kontrolle, nicht mit dem Tod als ultima ratio der Strafe, sondern mit dem Leben.664 Foucault unterscheidet zwei Formen der Bio-Macht, und zwar die auf den Körper gerichtete Disziplin – wie in der körperlichen Aufstellung der Kirchenmitglieder im Kirchenraum – und die auf die Bevölkerung gerichtete Kontrolle und Regulierung.665 Dabei durchdrangen sich Wissen und Macht gegenseitig, da der Expertenblick immer mehr Kontroll- und Herrschaftswissen zur Verfügung stellte. Aus Rechtssubjekten wurden Lebewesen, die erfasst werden müssen und berechnet werden können. Das Gesetz verschwand nicht, aber es funktionierte immer mehr als Normalisierungsinstrument. Effekt dieser auf das Leben gerichteten Machttechnik ist die von Foucault so genannte »Normalisierungsgesellschaft«. Immer mehr verdrängt das Leben das Recht als Gegenstand politischer Konflikte. Es ging nicht mehr um ein Ideal, nicht mehr um Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter, man wartete nicht mehr auf das Friedensreich, sondern betrachtete das Leben als »Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse«.666 Das Interesse der Kirche an der Bevölkerung wuchs. Verwaltung war nicht Selbstzweck, sondern diente einem Zweck. Die Bürokratisierung kirchlicher Strukturen führte deshalb schon aus sich heraus zur Betonung von Nützlichkeit. Denn reaktives Strafen benötigt kein prophylaktisches Wissen, Nützlichkeit 661 Zum Begriff der Rationalisierung vgl. Degele / Dries: Modernisierungstheorie 95 f. 662 Ebd. 103 f. 663 Zum Unterschied von Strafen und Verwalten vgl. Foucault: Wille 36–38. 664 Ebd. 106–111. Vgl. auch: Ders.: Anormalen 71–74. 665 Ders.: Wille 166 f. 666 Ebd. 170–173.

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schon.667 Nicht Strafen, sondern Wissen war das Ziel, als sich die Ordinariate seit den 1840er Jahren um Daten der gläubigen Bevölkerung bemühten. Noch im 18. Jahrhundert hatten die bischöflichen Behörden kaum Bescheid gewusst über die seelsorgliche Infrastruktur, über Anzahl und Einsatzort der Kooperatoren, über den »status animarum«.668 Erst im Vormärz erwachte das Interesse daran. Dabei gingen Wissen, Verdatung und Normalisierung Hand in Hand. Eine bischöflich-regensburgische Verordnung vom 4. Februar 1834 beklagt die verspätete Einsendung der Seelenstandslisten, was das rechtzeitige Erscheinen der Schematismen behinderte.669 Um die Angaben rascher verarbeiten zu können, wurden schließlich zur Verdatung der Bevölkerung zunehmend Formulare eingesetzt. 1842 bestimmte eine bischöflich-regensburgische Verordnung etwa die Vereinheitlichung der seelsorglichen Auskünfte der Pfarrämter durch Formulare.670 1856 sind »Formulare: ›Tabellarische Übersicht des Seelenstandes etc.‹ lithographiert worden«, um »gleichförmiger Herstellung des Seelenstandes der Pfarreien und Exposituren zum Jahresberichte« willen.671 Im gleichen Jahr wurde ein 136 Nummern umfassender Fragebogen zur einheitlichen Inventarisierung kirchlicher Kunst an die Pfarrer verschickt.672 Die im Bistum Regensburg anlässlich der Diözesanbeschreibung 1858 abgefragten Daten über den moralischen Zustand der Bevölkerung dienten nicht dem Strafen, nicht der Frage nach Schuld und Verantwortung im Beichtstuhl, sondern dem Willen zum Wissen in den bischöflichen Behörden mit höchstens apologetischem Zweck.673

667 Dabei muss an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen werden, dass bereits der Übergang vom caritativen Gnaden- zum juridischen Exorzismusdispositiv mit Effizienzgründen begründet werden kann, und dies im Anschluss an Girard: Heilige 39: »Gerichtswesen und Opfer haben also letztlich die gleiche Funktion, aber das Gerichtswesen ist unendlich viel effizienter.« Im Übergang vom Exorzismus- zum Regeldispositiv wurde der Nutzen aber vom Mittel zum Zweck. 668 Oberhirtliche Verordnungen 131 f., 145, 161 und 179. 669 Oberhirtliche Verordnungen 296. 670 Um im Bistum Regensburg beim lokalen Kirchenvermögen »zur Erleichterung des Geschäftes eine Gleichförmigkeit herbeizuführen, hat man von einem Formulare, das bereits in mehreren Orten in Anwendung gebracht wird, Abdrücke besorgt«. Vgl. Oberhirtliche Verordnungen 444. 671 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 (17.6.1856). 672 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 (11.12.1856). 673 Vgl. Kirchinger: Einleitung 23–29.

442  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv 

14. Die Normierung der Willensfreiheit, das Interesse an der Bevölkerung Mit der Bürokratisierung der kirchlichen Strukturen als Konkretion einer normalisierten Gesellschaft wurde die Statistik von einer bekämpften Gefahr für die Willensfreiheit zu einem akzeptierten Mittel der Apologetik. Statistiken wurden im 19. Jahrhundert zunächst zum Merkmal des bürokratisierten Staates, mit deren Hilfe die soziale Integration bewerkstelligt werden sollte. Sie machten aus Volk Bevölkerung und formten Gesellschaft.674 Demgegenüber besaß die katholische Statistik nur rudimentären Charakter. Das bayerische Statistische Landesamt beklagte sich 1914 darüber, dass es zwar seit einem Vierteljahrhundert über Zahlen verfügte, die über die Kirchlichkeit der Protestanten Auskunft gaben, aber erstmals 1911 im Statistischen Jahrbuch Zahlen über die Kirchlichkeit der Katholiken veröffentlichen konnte und diese auf das Bistum Regensburg beschränkt waren. Erst 1914 waren dann alle bayerischen Diözesen, außer Würzburg, in der Lage, dem Statistischen Landesamt Zahlen zu liefern.675 Kaufmann begründet diesen Rückstand mit einer herrschenden Unklarheit über die theologische Brauchbarkeit der Daten.676 Überzeugender als diese pragmatische Erklärung ist die religionsgeschichtliche von Schlögl. Dieser stellte eine »statistische Selbstbeobachtungspraxis« bei den protestantischen Kirchen bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest. Religiosität wurde an der regelmäßigen Teilnahme an kirchlichen Handlungen gemessen. Dagegen seien in der katholischen Statistik die »Mobilisierungserfolge bei außergewöhnlichen Ereignissen« im Mittelpunkt gestanden. Eine katholische Statistik des religiösen Alltags entstand dann erst am Ende des 19. Jahrhunderts, was Schlögl mit der katholischen Ekklesiologie begründet, die auf die Heiligkeit der Institution Kirche Wert legte und für die der Alltag deshalb keinen Wert besaß.677 In der Zunahme statistischer Aussagen katholischer Provenienz zeigt sich dann ein zunehmendes Interesse am Alltag, wenn Schlögl diesen Schluss auch nicht ziehen will.678 Tatsächlich orientiert sich das Regeldispositiv nach der Hete 674 Vgl. Fleiter: Kalkulation 170; Hippel / Stier: Europa 360; Raphael: Verwissenschaftlichung 165–193. – Bis in die 1840er Jahre aber fehlten noch statistische Erhebungen über den wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Einheitliche gesamtdeutsche Erhebungen gab es überhaupt nicht. Vgl. Hahn / Berding: Reformen 256. Eine Kriminalstatistik für das gesamte Deutsche Reich gab es erst 1881. Vgl. Graff: Kriminalstatistik 55–84; Schwerhoff: Kriminalitätsforschung 48 f. und 191. 675 Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts 46 (1914) 152 f. 676 Vgl. Kaufmann: Theologie 38. 677 Vgl. Schlögl: Glaube (2013) 278 f. Vgl. dazu ferner Koch: Bevölkerung 297; Pahl: Kirche 79–88. 678 Schlögl: Glaube (2013) 449 sieht das zunehmende katholische Interesse an einer Alltagsstatistik allerdings nicht als Konkretion von Normalisierungstendenzen, sondern als An-

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rotopisierung der Gnade nicht mehr am Außergewöhnlichen, sondern am Alltag und am Normalen. Statistiken sind verdatend, d. h. quantifizierend, entkontextualisierend und entsubjektivierend.679 Statistiken entsprachen deshalb der neuscholastisch-naturrechtlichen Objektivierungstendenz. Es passt deshalb, dass gerade das ultramontane Musterbistum Regensburg zur Lieferung der Daten für die ersten kirchlichen Alltagsstatistiken katholischer Provenienz in Bayern in der Lage war. Den Zusammenhang zwischen der entsubjektivierenden Wirkung von Statistiken und der juridischen Objektivierungstendenz – wie sie sich dann später in der Neuscholastik konkretisierte – sprach Buß 1844 ausdrücklich an. Er sah in den geistlichen Gemeinschaften eine Überwindung der rein persönlichen Wohltätigkeit, was sie zur statistischen Beobachtung prädestiniere. Denn sie können Beobachtungen machen, »welche nicht unterbrochen werden, weil der Orden nicht stirbt, und nur die Glieder wechselt und die übernommenen Hospitäler selten mehr abgibt«. Dies ließ ihm die geistlichen Gemeinschaften als »verlässigste Grundlage« der vernachlässigten Medizinalstatistik erscheinen.680 Der Karmelit Karl Dillinger veröffentlichte 1844 eine, in zweiter Auflage 1847 erschienene, statistische Übersicht über die katholische Kirche.681 Ein zweimal 1860 und 1862 erschienenes »Statistisches Jahrbuch der Kirche« wurde ebenfalls von ihm herausgegeben.682 Eine grobe Übersicht bot 1861 der Weltgeistliche Brammerz.683 Es handelte sich dabei um tatsächliche Statistiken, also um die tabellarische Zuordnung der Zeichensysteme Daten und Zahlen.684 Den Schritt von der Deskription zur Arithmetik machten sie allerdings noch nicht. Sie dienten noch nicht als Grundlage für vergleichende Berechnungen und schufen deshalb keine sinnlich nicht wahrnehmbaren Erkenntnisgegenstände  – etwa den Durchschnittsmenschen. Dies lag wohl nicht zuletzt an der mangelhaften Datengrundlage. Es ist deshalb bezeichnend, dass Neher, ein weiterer klerikaler Kirchenstatistiker, die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit dieser Werke 1864 anzweifelte, als er selbst statistische Berechnungen anstellte. Laut Neher fehlte es »katholischerseits annoch an einer unparteiischen und vollständigen, die ganze Kirche wie die außer der Kirche stehenden Religionsgemeinschaften umfassenden kirchlichen Geographie und Statistik«. Die älteren Werke seien »mehr historisch als geographisch«.685 Erstmals wurden dann von Neher in einer kazeichen dafür, dass die Selbstverständlichkeit kirchlicher Mitgliedschaft zunehmend durch eine bewusste Entscheidung ersetzt wurde. 679 Die Historikerin Rebekka Habermas hat diese Wirkung anhand der Verbrechensstatistik des 19. Jahrhunderts untersucht. Vgl. Habermas: Diebe 109–130. 680 Buß: Orden 383. 681 Dillinger: Kirche. 682 Ders.: Jahrbuch I und II. 683 Brammerz: Bisthümer. 684 Zu den Eigenschaften von Statistiken vgl. Vismann: Akten 209. 685 Neher: Geographie V–VIII.

444  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  tholischen Statistik Durchschnittswerte gebildet. So errechnete er etwa, dass ein französisches Bistum durchschnittlich 417 000 Seelen und 514 Seelsorgestellen umfasste.686 Trotzdem war Neher noch mehr an der kirchlichen Hierarchie als am religiösen Alltag interessiert. Erstmals entwickelten 1863 die Jesuiten das Vorhaben, eine Statistik des kirchlichen Alltags aufzustellen. Daraus entstanden die seit 1871 erscheinenden Stimmen aus Maria Laach.687 Ihr Zweck war ein apologetischer. Im Jahr 1904 forderte Heinrich Koch in den Stimmen aus Maria Laach, die Statistik in den Dienst der Seelsorge zu stellen: »Die ziffermäßige Zusammenstellung von so viel Gutem, das im Laufe des Jahres geschieht, aber auch von so vielem, das geschehen sollte und unterlassen wird, die greifbare Darstellung des Fortschritts oder Rückschritts in der Gemeinde wirkt aufklärend und anregend für Klerus und Volk.«688 Das katholische Interesse an Alltagsstatistik war grundsätzlich apologetisch.689 Der Jesuit Herman A. Krose schätzte die Möglichkeiten der Moralstatistik 1906, um »ein klares und zuverlässiges Bild der Zustände und Vorgänge im gesellschaftlichen Leben der Menschen zu geben«. Er warnte aber vor dem Missbrauch der Statistik in der konfessionellen Polemik. So wurde den Katholiken auf statistischer Grundlage »moralische Minderwertigkeit« vorgeworfen, was er überprüfen wollte.690 Als Kennzeichen der Unsittlichkeit galten in der Statistik die Zahl der unehelichen Geburten, die Vergehen gegen Strafgesetze, die Selbstmorde und die Ehescheidungen.691 Einen Zusammenhang zwischen Konfession und unehelicher Geburtenrate stritt er aber ab. Sowohl unter mehrheitlich katholischen wie mehrheitlich protestantischen Staaten fänden sich sowohl solche mit hoher als auch solche mit niedriger Zahl an unehelichen Geburten. Außerdem gab er zu bedenken, dass die wirtschaftlichen und gesetzlichen Ehehindernisse berücksichtigt werden müssen und dass die internationale Vergleichbarkeit aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden nicht gegeben sei.692 Schließlich kam er zu dem Ergebnis, daß überall da, wo sich die Möglichkeit bietet, protestantische und katholische Bevölkerungsgruppen mit einigermaßen analogen äußeren Existenzbedingungen in bezug auf die unehelichen Geburten zu vergleichen, der protestantische Volksteil niemals besser, in der Regel aber erheblich schlechter steht.

686 Ebd. 419. 687 Vgl. dazu Hubert: Moraltheologie 25 f. 688 Koch: Bevölkerung 296. 689 Diesem apologetischen Interesse dienten auch die katholischen Pressestatistiken, die es ab 1875 gab. Vgl. dazu Schmolke: Presse 183 f. 690 Krose: Religion 3 f. 691 Ebd. 9. 692 Ebd. 12–26.

Die Normierung der Willensfreiheit, das Interesse an der Bevölkerung   445

Darüber hinaus wies er darauf hin, dass sich Kriminalität nicht als moralischer Indikator eigne, da es auch Kriminalität ohne »moralische Schuld« gebe. Außerdem beeinträchtige die hohe Dunkelziffer und unterschiedliche Definitionen von Straftatbeständen die Aussagekraft der Kriminalstatistik.693 Unterschiedliche Kriminalitätsraten führte er auf unterschiedliche wirtschaftliche Bedingungen sowie auf den »Volkscharakter« zurück, nicht aber auf die Konfession.694 Kroses Ausführungen zeigen, wie weit sich das normalisierende Regeldispositiv bereits vom strafenden Exorzismusdispositiv entfernt hatte. Dabei mussten Verantwortlichkeit und Normalisierung in Einklang gebracht werden. Als sich Gutberlet 1893 mit der Moralstatistik beschäftigte, machte er deutlich, dass diese die »vier Wahrheiten« der katholischen Weltanschauung nicht verletzen dürfe. Dies waren »die Realität der äusseren Welt«, die »objective Geltung der übersinnlichen Principien«, die »Teleologie« der Weltordnung und die Freiheit des Willens.695 Dabei werde die Moralstatistik als Beweis gegen die Existenz der Willensfreiheit angeführt, da durch sie Gesetzmäßigkeiten in den Handlungen insbesondere der Verbrecher nachgewiesen werden.696 Dass »die Mehrung der Verbrechen im allgemeinen nicht auf faule allgemeine Zustände schliessen lasse, wird Niemand behaupten wollen«. Es dürfe aber auch »nicht alles auf Rechnung des socialen Körpers« gebucht werden. Die Sittlichkeit sei »persönliche That, und die Gesellschaft darf freilich nicht atomisirt werden, aber die unabhängige Persönlichkeit der Einzelnen darf auch nicht aufgegeben werden, sie darf nicht im Ganzen verschwinden«. Er wollte die »socialen Verhältnisse für ein unbescholtenes Leben« in Rechnung stellen, die Verbrecher aber auch nicht als »Opfer und Martyrer der Menschheit« betrachten.697 Denn der freie Wille sei nicht mit Regellosigkeit gleichzusetzen: Die freien Ursachen, die wir kennen, handeln nicht gesetzlos, sondern im Grossen und Ganzen nach bestimmten Normen. Obgleich sie nämlich absolut gesprochen stets gegen ihre Neigung handeln, stets das Schwierigere dem Leichteren vorziehen könnten, so macht doch thatsächlich der ihnen wesentliche Glückseligkeitstrieb, dass sie regelmässig das grössere Gut wählen, das Leichtere, Angenehmere u. s. w. vorziehen. Auf diese Weise kann man allerdings mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit bestimmen, was unter bestimmten Verhältnissen die Menschen, namentlich in ihrer Gesammtheit betrachtet, frei thun werden: unter gleichen Bedingungen werden auch sie meistens gleich, unter verschiedenen, neuen Umständen meistens entsprechend handeln.698

693 Ebd. 52–54. 694 Ebd. 62–65. 695 Gutberlet: Willensfreiheit 1. 696 Ebd. 40. 697 Ebd. 49–51. 698 Ebd. 10.

446  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Freiheit und Regelmäßigkeit schlössen sich nicht aus: Wenn jahraus jahrein ganz genau gleichviel Diebstähle in einem Lande verübt würden, so würden natürlich alle Diebe sich doch frei zum Stehlen entschliessen. Aus der Regelmässigkeit könnte weiter nichts gefolgert werden, als dass die Noth die gleiche bleibt sowie die Zahl der Bedürftigen, dass die Gelegenheit zum Stehlen gleich günstig bleibt, dass die sittliche Kraft sich bei bestimmten Gesellschaftsklassen nicht steigert u. s. w.699

Deshalb besaß die Statistik für ihn keine moralische Aussagekraft: In der That ist die Thätigkeit der grössten Gesellschaft ganz genau in demselben Masse frei oder determinirt, als die einzelnen Glieder derselben sich frei entschliessen können; die Freiheit ist eine von der Zusammenfassung vollständig unabhängige, dem Individuum so wesentlich zukommende Eigenschaft, dass sie in der Menge ebenso stark wie in der Isolirung hervortreten muss und eine Gesetzmässigkeit im ganzen moralischen Körper eine Gesetzmässigkeit der Einzelentschliessungen verlangt.700

Besaß die Moralstatistik für Gutberlet keine moralische Aussagekraft, so doch einen epistemologischen. Das Verdienst der Moralstatistik lag für Gutberlet in der Möglichkeit von gewissen Aussagen über transpersonale Einheiten.701 Es handelte sich dabei für ihn um eine Gewissheit, die auf den Einzelfall nicht übertragbar war.702 Denn die Regelhaftigkeit zeige lediglich einen »Reiz«, dem man nachgeben könne, aber nicht müsse.703 Trotzdem sah Gutberlet das Verdienst 699 Ebd. 52. 700 Ebd. 44. 701 Ebd. 44 f.: »Denn je grösser die Menge, desto mehr Normalmenschen hat man gegenüber den Sonderlingen, desto mehr normale Entschliessungen gegenüber abnormen. So kann man, wenn es sich um einen oder den anderen Menschen handelt, nie mit Gewissheit sagen, ob er nicht, ohne einen Vortheil zu hoffen, gelogen habe; hat man aber eine grössere Menge, so weiss man ganz sicher, dass sie nur durch das Interesse sich zur Lüge verleiten lassen.« 702 Ebd. 45: »Insofern man nun die Einwirkung solcher Einflüsse auf den Willen des Einzelnen mit allen seinen geheimen Bedürfnissen und Neigungen nicht berechnen kann, lässt sich die Gewissheit, die man vom Ganzen hat, nicht auf die einzelnen Fälle übertragen.« 703 Ebd. 254 f.: »Weil z. B. zur Zeit der Theuerung einer grösseren Zahl als sonst es vortheilhaft erscheint, durch Stehlen sich den nöthigen Unterhalt zu verschaffen, werden mehr Diebstähle begangen. Dabei nöthigt die Noth nicht zum Stehlen, sondern reizt nur dazu; dass diesem Reize frei Folge geleistet wird, bildet die Schuld des Diebstahls, welche gar nicht vorhanden wäre, wenn die Noth zum Stehlen zwänge.« – So argumentiert auch Lehmkuhl: Selbstmord 364. Er lehnte das Vorhandensein »nöthigender Regeln« des menschlichen Handelns ab, keineswegs aber dasjenige allgemeiner Regeln: »Der Mensch folgt leider zu häufig den Reizen, denen er unterworfen ist – das berechtigt zur Aufstellung von Regeln wiederkehrender Handlungen unter bestimmten Verhältnissen und es berechtigt zur Vornahme einer Besserung herrschender Verhältnisse; aber wenn auch die Menschen voraussichtlich so und so handeln werden, so folgt denn doch noch keineswegs, daß sie sich selbst nicht anders determiniren könnten.« – Seitz sprach 1902 davon, dass die Moralstatistik nur ein »relatives, nicht absolutes Gesetz der Trägheit oder des Beharrungsvermögens auch auf geistigem Gebiete« feststellen

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der Moralstatistik darin, diese Regelmäßigkeiten und damit die Abhängigkeit des Menschen von sozialen Strukturen aufgedeckt zu haben. Diese wirkte seiner Ansicht nach immerhin stärker als die Abhängigkeit von der Natur: So ist die Sterbeziffer für natürliche Todesfälle nicht so gesetzmässig wie für gewaltsame, auf freier That beruhende Todesarten. Die Zahl der Frauen, welche durch Ehescheidung ohne Männer sind, ist constanter als die der Wittwen. Und doch wirken beim natürlichen Tode zunächst rein physikalische Ursachen, während Selbstmord, Todtschlag, Ehescheidung u. dgl. das Werk freiester Überlegung zu sein scheinen.704

Durch »Beobachtung« seien die »Gesetze« des menschlichen Handelns so geläufig, »dass wir mit voller Bestimmtheit voraussagen können, wie sich der Mensch in diesen oder jenen […] Verhältnissen entschliessen wird«. Wegen der »absoluten Freiheit des Willens« sei es zwar möglich, sich zu irren, aber da Sonderlinge Ausnahmen sind, werden wir bei einer grösseren Menge stets die vorausgesehene normale Entscheidung beobachten. Eine ganz genaue Regelmässigkeit wird aber auch nur selten beobachtet, es gibt immer kleine Schwankungen, gerade wie sie die Unberechenbarkeit des Willens verlangt.705

Der freie Wille war von der Grundlage des Strafens zur normalen Abweichung vom statistisch ermittelten Durchschnitt geworden. Hatte das Gnadendispositiv die Möglichkeit der Überschreitung der Regel durch Gott und das Exorzismusdispositiv die Regelhaftigkeit des Bösen betont, so das Regeldispositiv die Göttlichkeit der Einhaltung der Regel. Gerade die soziale Regelhaftigkeit verweise, so Gutberlet, »auf einen Ordner, der selbst in ein solches Gewirre dadurch Gesetzmässigkeit brachte, dass er die menschliche Natur trotz ihrer Freiheit bestimmten Gesetzen unterwarf und diese Gesetze mit all den unzähligen möglichen Combinationen äusserer Verhältnisse in Harmonie setzte«.706 Die soziale Regelhaftigkeit setzte er mit der göttlichen Vorsehung gleich, nämlich dass »die freien Wesen nicht regellos handeln, jedenfalls können der unendlichen Weisheit auch die freien Entschlüsse der Geschöpfe von Ewigkeit her nicht unbekannt sein: sie kann dieselben also auf ihre Ziele mit Sicherheit richten«.707 In der statistischen Regelmäßigkeit kamen nun göttliche Vorsehung könne. Der Durchschnitt sei eine »Fiktion«. Die Regelmäßigkeit werde bei der Moralstatistik häufig durchbrochen, was bei »mechanischer Naturnotwendigkeit« unmöglich wäre. Sie biete nur die »Täuschung einer absoluten Regelmäßigkeit« durch die Bildung des Durchschnittes: »Der mittlere Durchschnitt, welcher das Resultat einer derartigen Beobachtung bildet, ergibt den einzelnen Fällen gegenüber eine mathematische Fiktion und Abstraktion.« Vgl. Seitz: Willensfreiheit 41 f. 704 Gutberlet: Willensfreiheit 51 f. 705 Ebd. 52. 706 Ebd. 100. 707 Ebd. 4.

448  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  und freier Wille zur Deckung.708 So bekam das Dual von Normal/Abnorm moralischen Sinn und überlagerte das Dual von Gut/Böse: Sind es nicht blos abnorme Entschliessungen, welche die Sicherheit im einzelnen Falle beeinträchtigen: auch die äusseren Verhältnisse können zu einem, den allgemeinen Gewohnheiten widersprechenden Entschlusse drängen. In diesem Falle wird ganz normal das grössere Gut gewählt, abnorm ist nur, dass durch die veränderten Umstände für den Einzelnen ein geringeres Gut oder ein Übel wird, was für die Menge ein grosses Gut ist.709

Abnorm war für Gutberlet sowohl das absichtlich Böse als auch das absichtlich Gute. Normal war nur mehr derjenige, der »weit mehr durch natürliche Verhältnisse als durch übersinnliche Motive, wie sie die Religion bietet, von der Sünde abgehalten wird«. Obwohl Gutberlet von der sittlichen Wirksamkeit der Religion überzeugt war, war er sich doch bewusst, »dass bei den meisten Menschen weit mehr die natürlichen und materiellen Bedingungen ihr Handeln leiten als ideale und religiöse Motive. Die Nothdurft des Lebens ist es, welche in weitaus den meisten Fällen zum Verbrechen treibt.« Wirkungsvoller als die Religion halten die »Schranken der Sitte«, der »Volkscharakter«, die »öffentlichen Verhältnisse«, also Justiz und Polizei, von Verbrechen ab: Natürlich werden in Gegenden, die durch Militarismus und strammste Polizeiorganisation zahm gemacht und durch Fabrikwesen in ihrer Naturkraft angekränkelt sind, weniger Anzeigen wegen Gesetzesverletzungen vorkommen als im bayerischen Walde mit seinen naturwüchsigen unabhängigen Bauern.710

Deshalb spiegelten die Volkskirchen den moralischen Zustand einer Bevölkerung getreuer wider als die Sekten. Gutberlet bemerkte, dass die herrschende Religion eines Landes die Armen in ihrer Mitte hat, während die Dissidenten meistens wohlhabender sind; die Geringen können nie aus der grossen Masse sich ausscheiden und eine Sonderstellung in religiöser Beziehung einnehmen. Im Schoosse der herrschenden Religion werden sich auch vorzugsweise die Religionslosen niederschlagen und selbst die wirklichen Gläubigen nicht jenen religiösen Eifer entfalten wie die auf ihr persönliches Wirken angewiesene Minderheit.711

Die Volkskirchen waren in sozialer Hinsicht normal, die Sekten anormal. Deshalb behauptete Gutberlet 1903, »daß nur mit Änderung der Verhältnisse, z. B. der Gesellschaft, der Beschäftigung eine Besserung oder ein Rückgang ein-

708 Ebd. 248. 709 Ebd. 45. 710 Ebd. 64–66. 711 Ebd. 66.

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tritt«.712 Denn die Not führe zu einer vererbbaren und akkumulierten »Degeneration des Organismus«, d. h. zu geschwächter Widerstandskraft gegen »sittliche Gefahren«.713 Nun wurde aber der katholische Bevölkerungsteil sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung nicht als normal, sondern als abnorm wahrgenommen, was sich in der so genannten Inferioritätsdebatte zeigte, in der die Statistik zum apologetischen Argument wurde. Es gab Bemühungen die im Vergleich zum Durchschnitt niedrigere Bildung, den geringeren ökonomischen Erfolg und die höhere Kriminalität bzw. sexuelle Aktivität des katholischen Bevölkerungsteils nachzuweisen und auf die Konfessionszugehörigkeit zurückzuführen, was am prominentesten und nachhaltigsten von Max Weber in seiner »protestantischen Ethik« unternommen wurde. Mooser sieht in dieser Debatte ein Anzeichen für die zunehmende Verbürgerlichung einer katholischen Identität, deren Merkmal eigentlich Unbürgerlichkeit war.714 Denn gefordert wurde ja die Verringerung der Distanz der katholischen Bevölkerung zum ökonomisch und kulturell dominierenden (protestantischen) Bürgertum. Dabei ist bemerkenswert, dass erstmals nicht die katholische Kirche, sondern die katholische Bevölkerung in ihren statistischen Daten in den Fokus einer politischen Debatte geriet. Die Inferioritätsdebatte ist deshalb als wichtige Zäsur zu betrachten. Die »Modernitätsschwelle« einer Gesellschaft liegt für Foucault nämlich dort, wo die Bio-Macht entsteht, wo es in den politischen Strategien um die Existenz einer Gattung geht.715 In dem Maße, in dem das Opfer heterotopisiert wurde, verlor die katholische Inferiorität an Sinn für das Alltagsleben. Während Alban Stolz das einfache Volk schätzte, da er der Ansicht war, dass Moral und Religiosität mit der Bildung abnahmen,716 fragte sich der pfälzische Zentrumsabgeordnete und Jurist Wilhelm Mayer (1874–1923) auf dem Katholikentag von 1912: »Woher sollen die Millionen für die Kirchen kommen, wenn der Proletarier der einzig berechtigte

712 Ders.: Kampf 614–617. 713 Ebd. 625. 714 Mooser: Volk 262–270. Mooser behauptet, dass der Bürger innerhalb des Katholizismus »kaum ein soziales Selbstbild erringen konnte« und dass er »als Bürger für den ›Katholizismus‹ keine notwendige soziale Gestalt war«. Anders als der Arbeiter, der zum Prototyp des Laienchristen aufgewertet worden sei, habe der Bürger niemals eine derartige symbolische Überhöhung erfahren. Die christliche Gesellschaft sei keine bürgerliche Gesellschaft. Absicht der katholischen Sozialethik sei ein »maßvoller Fortschritt in der Verbesserung der Lebensverhältnisse«, aber als »Ausweg aus der bürgerlichen Gesellschaft«, gewesen. 715 Foucault: Wille 170 f. 716 Bilder zur christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre 21: »Für den Menschen ist es meistens nicht gut, wenn er alles im Überfluß hat – dessentwegen hat es der große Weingärtner auch eingerichtet, daß im ganzen nicht viele Menschen üppig leben können.« Vgl. Osinski: Katholizismus 283–285.

450  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Typus eines Christen sein soll?«717 Hertling hatte bereits 1896 dazu aufgerufen, das »Bildungsdeficit« der Katholiken nicht hinzunehmen oder dem »Übelwollen akatholischer oder liberaler Regierungen« zuzuschreiben, sondern selbst das »Versäumte baldigst« nachzuholen: Es handelt sich um die Zukunft der katholischen Kirche in Deutschland. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Katholiken stätig zurückgedrängt und aus der Sphäre der Bildung, des Besitzes und der Herrschaft ausgeschlossen werden. Energische Anstrengungen müssen gemacht werden.718

Die Inferiorität der katholischen Bevölkerung fand keinen Sinn mehr im Leiden für das Jenseits, es ging nicht mehr um das Abbüßen einer Strafe oder um das Erwerben von Verdiensten, sondern um die Frage, was für den Bestand der Kirche nützlich war. Die katholische Inferiorität wurde als nutzlos und anormal betrachtet. Dabei zeigt die Debatte schließlich auch die Internalisierung von Rang und Konkurrenz und deren gesellschaftlich homogenisierende Wirkung. Die Inferioritätsdebatte spiegelt einen normalisierenden Wettbewerb wider und dieser zielt auf die »parallele Aus-Richtung der Konkurrenz-Subjekte in Richtung der Spitzenwerte« (Jürgen Link).719

15. Synchronisierung der Beschleunigung, Gradualisierung der Zeit Eine derartige Synchronisierung lässt sich auch an der Entwicklung der katholischen Zeitwahrnehmung im 19. Jahrhundert erkennen. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit beschleunigten sozialen und ökonomischen Wandels. Zwischen 1780 und 1914 verdreifachte sich die Bevölkerung in Deutschland und auch das Sozialprodukt pro Kopf stieg – bei aller Ungenauigkeit angesichts ungenügender Daten für die Anfangszeit  – fast auf das Dreifache. Der Grund für das Wirtschaftswachstum lag in technologischen Neuerungen der Produktions- und Verkehrstechnik sowie der Arbeitsorganisation.720 Die Zeitgenossen nahmen diese Veränderungen als zeitliche Beschleunigung wahr und reflektierten sie. Sie

717 Zit. nach Mooser: Volk 259. 718 Hertling, Georg von: Das Bildungsdeficit der Katholiken in Bayern. In: Ders.: Schriften 383–403, hier 399 f. 719 Vgl. Link: Versuch 325–329. Auch Hellemans: Zeitalter 105–112 behauptet den kompetitiven Charakter der Inferioritätsdebatte. Pluralismus sei in fortgeschrittenen agrarischen Zivilisationen von territorialer Art. Dieser territoriale Pluralismus sei in der Moderne durch kompetitiven Pluralismus innerhalb eines Territoriums ersetzt worden. Die kirchliche Integration sei Teil dieser Entwicklung. 720 Vgl. Kocka: Jahrhundert 44–61.

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wurde zur Grunderfahrung einer sich als modern verstehenden Gesellschaft.721 Für Karl Marx waren Unsicherheit und Bewegung das Kennzeichen der von der Bourgeoisie geprägten Epoche.722 Daran schließt der Soziologe Hartmut Rosa an. Seiner Ansicht nach sind es nicht die Klassengegensätze, sondern die Wachstums- und Beschleunigungszwänge, die die moderne Gesellschaft prägen.723 Für die Modernisierungstheorie ist der Kapitalismus der wichtigste Faktor der Beschleunigung, denn es geht diesem um Gewinnmaximierung und Gewinnvorteil, und dies bei Verzicht in der Gegenwart um erhofften Gewinns in der Zukunft willen.724 Im Kapitalismus ist Zeit Geld und damit ist Zeit ein knappes Gut. Es herrscht Planmäßigkeit, Regelmäßigkeit und Effizienz der Zeitnutzung. Die Arbeit ist geprägt von Gleichförmigkeit und Monotonie. Sie wird nicht durch Tages- oder Jahreszeiten gegliedert. Die geleistete Arbeit wird nicht am Produkt, sondern am Lohn gemessen. Die aufgabenbezogene Zeiteinteilung wird durch die lohnbezogene, von einem abstrakten Zeitmaß geprägte Zeiteinteilung ersetzt. Es handelt sich um eine denaturalisierte Zeitwahrnehmung.725 Dabei verortet Max Weber die Grundlage für die kapitalistische Wertschätzung der Zeit in der protestantischen Soteriologie und sieht sie als Teil des abendländischen Prozesses der Rationalisierung. Indem es dabei um Effizienzsteigerung ging, beschreibt er sie als Beschleunigung.726 Dabei stellt die Zunahme einer Menge je Zeiteinheit die abstrakteste Definition von Beschleunigung dar.727 Dabei weist Rosa darauf hin, dass die Wahrnehmung von Beschleunigung erst möglich wird, wenn solche kulturelle Orientierungen, die – wie Rationalisierung und Fortschritt – Beschleunigung auszudrücken in der Lage sind, vom Wandel selbst ausgenommen werden und daher Erwartungssicherheit schaffen.728 Beschleunigung besteht aber nicht nur in der Zunahme einer Menge je Zeiteinheit, sondern auch in der Schrumpfung der zur Verfügung stehenden Zeit. Die Systemtheorie führt die Beschleunigung der Zeit auf die Ersetzung der segmentierten durch die funktional differenzierte Gesellschaft zurück, da die Synchronisationserfahrungen der Systeme zunehmen. Während dadurch die Zahl notwendiger Entscheidungen steigt, schrumpft die Gegenwart als der dafür zur Verfügung stehende Zeitraum wegen des Auseinandertretens von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont.729 Koselleck führt dies auf die technischen, 721 Vgl. Radkau: Zeitalter 190–194; Rosa: Beschleunigung 40 f. 722 Vgl. Löwith: Weltgeschichte 49. 723 Rosa: Beschleunigung 272. 724 Vgl. Degele / Dries: Modernisierungstheorie 161 f.; ferner Rosa: Beschleunigung 91. 725 Vgl. Messerli: Zeiteinteilung 163–170; vgl. dazu auch Thompson: Zeit. 726 Weber: Ethik 73–96. 727 Vgl. Rosa: Beschleunigung 94. 728 Ebd. 150 f. 729 Vgl. Lübbe: Gegenwartsschrumpfung; ferner Rosa: Beschleunigung 131–134 und 408; auch Elias: Prozeß 348.

452  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  ökonomischen und politischen Revolutionen in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 zurück. Das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont habe nicht nur zur Wahrnehmung einer offenen Zukunft geführt, die sich in der Vorstellung einer immanenten Vervollkommnungsfähigkeit, einem Möglichkeitsüberschuss und zur Krise als Dauerbegriff der Geschichte konkretisiert habe, sondern auch dazu, dass die Zeit als beschleunigt wahrgenommen worden sei. Die Gegenwart sei zur Übergangsperiode zwischen Vergangenheit und Zukunft geworden, sie sei geschrumpft. Insgesamt habe sich dadurch die Wahrnehmung von Raumschwund und Zeitverkürzung ergeben. Die Ereigniszeit, die in der Erfahrung zyklischer Jahres- und Lebensläufe gründete, sei durch eine denaturalisierte lineare Zeiterfahrung abgelöst worden. Diese Denaturalisierung habe sich in einer Loslösung der Zeitwahrnehmung von konkreten Ereignissen und Räumen geäußert, was sie einerseits akzelerierbar gemacht und andererseits jede zyklische Zeitwahrnehmung verhindert habe, wodurch sie linear geworden sei.730 Bereits die genuin christliche Zeitwahrnehmung war im Unterschied zur zyklischen, die in der Tradition des Altertums stand, von eschatologischer Linearität und Akzeleration geprägt.731 Nach augustinischer, von Thomas von Aquin übernommener Ansicht, stellte das mit der Menschwerdung Christi begonnene Zeitalter das letzte von sechsen dar. Dass die Apokalypse deshalb bevorstand, war sicher, unsicher war nur der Zeitpunkt.732 Für den Religionshistoriker Ernst Benz ist es deshalb der Druck der endzeitlichen Termine, der zur Beschleunigung der Zeit führe. Die Beschleunigung der Zeit unmittelbar vor dem Jüngsten Gericht sei teuflischen Ursprungs, da der Teufel nach Offb. 12,12 »weiß, daß er wenig Zeit hat«.733 Als biblische Anzeichen der nahenden Apokalypse galten 730 Koselleck: Abstraktheit; Vgl. ferner Becker: Zeit 14–16; Koselleck: Beschleunigung 153–168; Messerli: Zeiteinteilung 217. – Auch für Hartmut Rosa entsteht die Beschleunigungswahrnehmung im Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Dies geschehe, wenn das Tempo des sozialen Wandels höher wird als das familiäre Austauschtempo, also in der Sattelzeit. Vgl. Rosa: Beschleunigung 86 und 445. – Während Koselleck die Veränderung der Zeitwahrnehmung als einen recht abrupten Vorgang beschreibt, behauptet Ernst Wolfgang Becker, dass sich die politischen Revolutionen stets »immer nur in ihrer Latenz« zeigten und den »Sprung in die Zukunft« vermissen ließen, weshalb sie sich in einer »langfristigen Allmählichkeit« verlören. Deshalb hätten sich Erfahrungsraum und Erwartungshorizont nicht in den akuten revolutionären Phasen, sondern »in stagnierenden Zeiten des polarisierten Übergangs (Vormärz), in denen eine Revolution nur latent zu verzeichnen war«, auseinanderentwickelt. Es seien die enttäuschten revolutionären Hoffnungen gewesen, die für das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont gesorgt und ein utopisches Überschusspotential freigesetzt hätten, was die Wahrnehmung von Fortschritt initiiert habe. Vgl. Becker: Zeit 355–366. 731 Vgl. Blumenberg: Lebenszeit 246; Löwith: Weltgeschichte 29 und 85; vgl. dazu Rosa: Beschleunigung 283–286. 732 Vgl. Löwith: Weltgeschichte 185. 733 Benz: Akzeleration 4–10.

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neben der Ausbreitung des Evangeliums auf der ganzen Erde und der Bekehrung der Juden, neben Entchristlichung und Christenverfolgung das Schwinden der Nächstenliebe, Krieg, Seuchen und Hungersnöte, Mond- und Sonnenfinsternisse und schließlich auch die Verkürzung der Zeit.734 Die Erfahrung der Französischen Revolution provozierte katholischerseits endzeitliche Deutungen, die bis in den Vormärz nachwirkten.735 Explizit apokalyptisch war die Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit 1814 bei Windischmann: »Das Gericht des Herrn hat begonnen, es ist unaufhaltbar und immer schneller; denn nachdem die Zeit die größten Anstrengungen gemacht, stürzt sie immer thörichter zusammen; That und Gericht folgen sich auf dem Fuß.«736 Die Apokalypse hielt er für »unaufhaltsam«.737 Der »Religionsfreund für Katholiken« definierte seine Gegenwart 1822 als Zeit der »bangen Erwartung ihres Ausganges«. Es sei »Unglaubliches und Unerhörtes« geschehen, und dies in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit: »Begebenheiten, wie wir sie in Jahrhunderten sonst kennen, wechselten in Monaten und Tagen.«738 Schlegel sah in seiner »Signatur des Zeitalters«, erschienen 1820 bis 1823, »drohende Anzeichen« einer Katastrophe. Er konstatierte einen »entscheidenden Wendepunkt der welthistorischen Entwicklung« aufgrund eines Unfriedens, der seit den vergangenen fünf Jahren »fast in steigender Progression sich zu vermehren und zu verbreiten scheint«. Nachdem Napoleon Bonaparte bezwungen war, »wurden alle alte Hoffnungen von neuem rege, Wünsche ohne Maß und Ziel erwachten und niemand zweifelte an dem Beginn einer neuen, glücklicheren Epoche für die Menschheit«. Die Hoffnung aber sei enttäuscht worden. Das Chaos sei geblieben: »Die Verwirrung der Meinungen war gewiß nicht minder groß und ebenso verwickelt und schwer zu lösen als der Kampf der in Unordnung und Zwiespalt geratenen Eigentumsinteressen.«739 Napoleons Sturz sei nur der Schluss des ersten Akts »in dem furchtbaren Drama unserer durch große Katastrophen mit beschleunigtem Lauf dahineilenden Weltgeschichte«.740 Der unchristliche Staat sei immer in Bewegung, der »dynamische« konstitutionelle Staat schwächer, der revolutionäre stärker, »in seinem Innern immer in Bewegung und mit sich selbst beschäftigt«.741 Für 734 Vgl. Hölscher: Weltgericht 96–104; Koselleck: Kriterien 77; Koselleck: Zeitverkürzung 185–188. Die einschlägigen Bibelstellen sind Mt 24. 15–28; Paulus 2. Thess 2.3; Mk 13.22; Offb. 735 Vgl. dazu Scheuchenpflug: Bibelbewegung 187–191; ferner Baumgartner: Seelsorge 512 f.; Gerber: Pragmatismus 178–200; Schmidt: Handlanger 19 f. Dagegen kommt Luginbühl: Christenthum 187 zu dem Ergebnis, dass die Interpretation der Französischen Revolution als Strafgericht Gottes gegenüber der eschatologischen Interpretation dominiert habe. 736 Windischmann: Gericht 174. 737 Ebd. 239. 738 Zit. nach Pesch: Presse 229–233, hier 229. 739 Schlegel: Signatur 483–485. 740 Ebd. 489. 741 Ebd. 573 f.

454  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Häglsperger stand der Jüngste Tag 1826 nahe bevor, da die biblischen Vorzeichen bereits eingetreten seien: Aus diesen biblischen Bezeichnungen läßt sich nun abnehmen, daß falsche Propheten, Kriege, Drangsale zu den entfernteren, die vollendete allgemeine Predigt des Evangeliums aber, der immer kühnere antichristliche Geist, die immer steigende Verführung und Sittenlosigkeit, die neuerdings wieder zunehmende Empörungswuth Satans, zu den nähern Vorzeichen vom Tage des Herrn gehören.742

Für Gaume resultierte die Beschleunigung der Zeit letztlich aus dem Möglichkeitsüberschuss, der aus dem Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont entstanden war: Wenn man bedenkt, daß diese Bewegung erst im Beginnen ist, daß jeder Tag neue Mittel zu ihrer Beschleunigung bringt; wenn man an das Eisenbahn-Fieber denkt, welches sich plötzlich der Völker bemächtigt hat, und an die ungeheuere Kenntniß der Kräfte der Natur, welche der Mensch gegenwärtig besitzt; wenn man bedenkt, daß neue Mittel zu immer schnellerer Beförderung von einem Punkt zum andern zu erfinden, zu vervollkommnen, anzuwenden der Gegenstand ist, um den sich sowohl der Reichthum als die Thätigkeit der Menschen concentrirt: so wird Alles glaublich, denn Alles wird möglich.

Dabei erschien ihm die Beschleunigung unaufhaltsam: »Schon wird der Raum, den unsere Väter, den wir selbst in mehreren Tagen zu durchlaufen hatten, in wenigen Stunden zurückgelegt: er könnte es in noch weniger Zeit werden.«743 Um die Ziellosigkeit dieses Möglichkeitsüberschusses doch noch mit moralischem Sinn zu versehen, interpretierte er die Beschleunigung apokalyptisch. Die Beschleunigung wurde doch wieder zum Vorzeichen der Apokalypse.744 Neue Nahrung erhielten die endzeitlichen Deutungen der beschleunigten Zeit durch die revolutionären Wirren kurz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts. 742 Häglsperger: Wiedererhöhung II 487–490. 743 Gaume: Blick 196 f. Auch Denifle: Kirche 146 konstatierte 1906 einen Zusammenhang von zeitlicher Beschleunigung und Möglichkeitsüberschuss einer offenen Zukunft. Er beklagte die »entsetzliche Hast und Unruhe, jene Überstürzung und Rastlosigkeit, die wir auf allen Gebieten des menschlichen Schaffens sehen«. Deshalb fragte er sich: »Welches Jahrhundert hat mehr Regierungssysteme und einen größeren Schwall von Gesetzen zu Tage gefördert als das unsrige? Mit welcher Eile werden die wichtigsten Gesetze eingebracht und in wenigen Tagen zum Beschlusse erhoben? Wie grundlos werden die Staatsverfassungen geändert! Frankreich allein hat binnen siebzig Jahren sechzehn erlebt! – Die Geschichte der philosophischen Systeme vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts bis auf unsere Zeit füllt wenigstens den fünften Teil der ganzen Geschichte der Philosophie aus, das ist eines Zeitraumes von mehr als zweitausend Jahren. – Das Ziel der modernen Industrie ist: Ins Unbestimmte produzieren, um unbestimmten Genusses willen; ins Unbestimmte Bedürfnisse zu schaffen, um die Genüsse ins Unbestimmte zu steigern.« 744 Gaume: Blick 129 f.

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Während Lorinser »das Stille, Ruhige, Unmerkliche« 1847 als Kennzeichen für das »Wachstum« der katholischen Kirche identifizierte, betrachtete er die revolutionäre »Auflösung« als »etwas Gewaltsames, Unruhiges, Lärmmachendes«.745 Als Kennzeichen von Revolutionen galt ihm deshalb eine Beschleunigung der Zeit.746 Gerade dies machte Revolutionen zum Vorzeichen der Apokalypse: Mit jener reißenden Schnelligkeit, die sich stets im Verlaufe eines Auflösungsprocesses zeigt, hängt es daher auch zusammen, wenn nach der h. Schrift das Überhandnehmen des Bösen auf Erden das Zeichen des nahen Endes ist, wenn dem Reiche des Antichrist nur die kurze Frist von drei und einem halben Jahr bestimmt ist.747

Für Cortés war die Zeit der Apokalypse angebrochen, wie er in einem von Buß übersetzten und veröffentlichten Brief an die Herausgeber der spanischsprachigen Zeitungen »País« und »Heraldo« am 16.  Juli 1849 deutlich machte. Ohne den genauen Zeitpunkt zu wissen, müsse man berücksichtigen, »daß die größten Apostasien in Europa vollzogen wurden; daß das Licht des Evangeliums in die entferntesten Erdstriche gedrungen, daß ohne allen Zweifel, von den Prophetien, welche das Ende ankündigen, viele schon erfüllt sind und die andern sich erfüllen werden.«748 Als der Katholik den Kapitalismus 1854 für die Beschleunigung verantwortlich machte, machte er ihn zum Mittel der göttlichen Vorsehung zur Herbeiführung der Apokalypse: »Man hebe und hebe die Industrie, man vermehre den Gewerbstand, wie dies seit Jahren in erschrecklichem Maaße geschieht, man vermehre und vervollkommne die Maschinen, jedenfalls wird doch immer mehr producirt als an Ort und Stelle consumirt.« Die Überschüsse müssten dann außerhalb Europas abgesetzt werden, was zu einer engeren Verbindung der einzelnen Weltgegenden führe. Dies aber diene der Vorbereitung der Apokalypse: Die Erde wird nicht größer als sie ist, und Gott will offenbar die Industrie benutzen, alle ihre Theile zu verbinden. Die Gewinnsucht der Industriellen baut die Straßen und ebnet den Verkehr allen wilden Völkern wie einst die Herrschsucht der Römer, daß Jesus Christus der Eckstein werde allen Menschen auf der ganzen Erde; kein Winkel der Entscheidung entgehe.749

745 Lorinser: Entwicklung 158 f. 746 Ebd. 152: »Jede Auflösung, die ein abnormer Entwicklungsproceß und nur ein zu einer Crisis führender Übergangszustand ist, verläuft schnell und ist ein kurzer, eilender Proceß. Revolutionen gehen gewöhnlich rasch und gewaltsam vor sich, denn sie sind in der That nur Auflösungen. Die Dauer aller Häresien ist fast immer kurz, denn sie sind nur ein Mittelzustand zwischen Leben und Tod oder einem dem Tode ähnlichen Zustande.« 747 Ebd. 152 f. 748 Cortés / Buß: Politik 36–52, hier 46. 749 Die Industrie und die Seelsorge in den Fabriken. In: Der Katholik 10 (1854) 368–376, hier 370 f.

456  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Der Kulturkampf forcierte die apokalyptische Deutung von Beschleunigung. Der katholische Reichstagsabgeordnete Edmund von Radziwill beklagte 1872, dass die Trennung zwischen Staat und Kirche nur dazu geeignet sei, »eine Katastrophe zu beschleunigen, die zu verhüten oder wenigstens aufzuschieben die Pflicht jedes Christen, jedes rechtschaffenen Mannes und Bürgers ist.«750 Damit meinte er nicht irgendeine Katastrophe, sondern die »Entscheidungsschlacht in diesem Riesenkampfe« zwischen »Gut und Bös, Himmel und Hölle, Gott und Teufel«.751 Am 21. Januar 1883 behauptete Senestrey in einem Fastenpatent: Die Drangsal der Gegenwart wird immer noch größer; lauter und allgemeiner ertönen die Klagen über schlimme Zeiten; fast mit jedem Tage sehen wir die Zahl Derjenigen wachsen, welche, selbst hilflos, auf fremde Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. In der neuesten Zeit haben Unglücksfälle und schreckliche Natur-Ereignisse in allen Theilen der Welt, insbesondere große Feuersbrünste und weithinreichende Überschwemmungen Habe, Eigenthum und Gesundheit von Tausenden und Tausenden geschädigt, ja selbst Menschenleben in großer Zahl oft in einem Augenblick dahingerafft. Rathlos steht die Menschheit gegenüber den entfesselten Elementen: selbst großer Eifer im Geben und Helfen vermag kaum die drückendste Noth zu lindern.

Er war überzeugt, dass Gott durch diese »Züchtigungen die Menschen nochmal zu sich rufen will, ehe sein Zorn entbrennt, um die Verstockten und Halsstärrigen zu vernichten«.752 Dabei kündigte sich der Übergang vom Gnaden- zum Exorzismusdispositiv an, wenn die Beschleunigung der Zeit nicht mehr apokalyptisch vom Ende der Zeit her gedeutet wurde, sondern in einem dauerhaften agonalen Zustand moralisch qualifiziert wurde. Die Kämpfe gegen die Kirche dauerten nach der 1847 veröffentlichten Ansicht von Häglsperger »bis zum Ende aller Zeiten«. Sie haben »bei Weiten noch nicht alle Stadien ihrer Entwicklung durchlaufen«. Die Kirche aber werde »auf ein Neues erstarken, und somit schneller (wiewohl erst nach Ablauf der bittern Läuterungsperiode) zu jener glücklichen Freiheit gelangen«.753 Dabei führte ein beschleunigtes Leben für Westermayer 1848 geradewegs in die Hölle: Mit Schrecken gewahren wir auch, meine Lieben, wie wirklich der Fortschritt im Sinne der Welt alltäglich sich mehr und mehr beschleunigt, wie dieser Fortschrittswagen bereits mit Dampf getrieben wird und kaum mehr aufzuhalten ist. Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens sind zu einer Höhe gediehen, wie nie; der Fortschritt auf der breiten Straße ist außerordentlich; er wird auf’s Möglichste beschleunigt, gerade als hätte die Menschheit eine wahnsinnige Sehnsucht nach der Hölle, gerade, als wenn sie nicht früh genug in die Hölle käme.754 750 Radziwill: Autorität 400 f. 751 Ebd. 500 f. 752 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1883 ( 21.1.1883). 753 Häglsperger: Tage 24–27. 754 Westermayer: Bauernpredigten II/I 13.

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Eine konfessionspolitische Interpretation der beschleunigten Zeit lieferte der Katholik 1854. Er bezeichnete die arithmetische Progression als katholisch, die geometrische Akzeleration dagegen als protestantisch. Die durch die »katholische Kirche civilisirte Menschheit schreitet aller Störungen ungeachtet seit achtzehn Jahrhunderten unter Gottes allmächtiger Leitung stetig fort«. Der Katholik behauptete, »wenn man das Mittelalter in ebenso lange Perioden, als eine seit der Reformation abgelaufen ist, theilt, auf jede dieser Perioden durchaus kein minderer, ja manchfach ein größerer geistiger Fortschritt kommt als auf diese letzte Periode«.755 Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sei es zur Beschleunigung einer als protestantisch qualifizierten Wissenschaft gekommen. Es handle sich dabei um eine Wissenschaft, »die Alles, was sie in den abgelaufenen zwei Jahrhunderten versäumt hatte, im Sturmschritte einzuholen und in ihrem Siegeslauf Alles zu überflügeln und ihren Thron bis zu den Sternen zu erheben schien«. Ihre dämonische Bestimmung war ihm gewiss: Der Protestantismus wird keine andere Wissenschaft mehr produciren. Es ist ihm nur noch eine Reproduction von bereits Dagewesenem und das Ausspinnen von Consequenzen übrig, die nur dazu dienen können, die Falschheit der Principien noch mehr zu enthüllen. Die zur Linken schreiten, um über Hegel hinauszukommen, fort in’s reine Nichts und in die Teufelei; die zur Rechten bemühen sich, zurückzukehren zu dem Geist und den Doctrinen der Reformatoren – beides aber hat keine Zukunft mehr.756

Auch ohne apokalyptische Erwartung war die Akzeleration dämonisch, die Progression göttlich. Gottes Geist zeige sich, so Rietter 1865/1866, nicht im Sturme, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer, sondern im Säuseln sanfter Lüfte, in der gesetzlichen und geordneten Umbildung des Bestehenden, in der ruhigen Entwicklung des Neugewonnenen, in dem durch Überlegung und Klugheit geleiteten, die rechtmäßigen Grenzen nicht überschreitenden Fortschritt.757

Die Beschleunigung der Zeit wurde aber nicht nur passiv rezipiert, sie konnte auch aktiv herbeigeführt werden. Dabei war es im Gnadendispositiv das caritative Opfer, das beschleunigend wirkte. Mehr Opfer pro Zeiteinheit führten zur Wahrnehmung von beschleunigter Zeit. Häglsperger beschrieb 1823 in der Biographie des Priesters Simon Zollbrucker die beschleunigende Wirkung der Liebe:

755 Vorurtheile und Thatsachen. In: Der Katholik 10 (1854) 1–16, hier 3–5. So auch Hummelauer: Vorzeit 149. 756 Vorurtheile und Thatsachen. In: Der Katholik 10 (1854) 1–16, hier 6 f. 757 Rietter: Breviarium 258.

458  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Noch brannte in seinem Herzen die nämliche Flamme der Liebe Gottes, die ihn unaufhörlich begeistert und ermuthiget hatte. Diese Liebe aber ist nie mit dem zufrieden, was sie bisher geleistet, sondern treibt immer mehr und mehr, begeistert immer mehr und mehr, je näher sie sich dem himmlischen Ziele sieht.758

Das »Leichtanwendbare« und »Schnellentscheidende« zählten für Sailer zu den Kennzeichen der Liebe.759 Westermayer stimmte ihm dabei 1848 zu.760 Für Hirscher bedeutete Lieben 1851 »rastloses Denken, Sehnen und Schaffen«.761 Der Katholik schrieb 1850: »Gewiß, Niemand wird für eine Sache Eifer und Begeisterung haben, für welche er nichts opfert; je mehr er aber dafür opfert, um so größer wird sein Eifer und seine Liebe sein.«762 Diese Dynamik lag für den Katholik im Dual von Strafe und Belohnung begründet: »In der göttlichen Weltordnung auf Erden aber soll aus jedem Strafgericht eine Erlösung hervorgehen und jedesmal, wo die Sünde überfließt, noch reichlicher die Gnade sich ergießen.«763 Und 1851 mahnte der Katholik: Endlich, je trüber die Zeit, je unsicherer alle Zustände, je weniger Befriedigung in denselben zu finden, je drohender die Gefahren, je schneidender die Gegensätze: um so mehr werden Viele aus der Welt zu Gott in die Einsamkeit getrieben, zum Opfer ihrer Selbst begeistert werden; […].

Deshalb förderten die »äußerste Ungunst der Umstände, Ungerechtigkeit und Verfolgung, alle Bosheit der Feinde« das »Heil der Kirche«. Was begonnen wurde, »muß progressiv sich vervielfältigen«.764 Anlässlich der Okkupation Roms durch italienische Truppen am 14. Oktober 1870 nahm Senestrey eine Verkürzung der Zeit wahr, die er durch sein Gebet noch zusätzlich beschleunigen wollte: Erbarme dich unser, du Gott aller Dinge! Und schau auf uns und zeige uns das Licht deiner Erbarmungen. Hebe deine Hand über die fremden Völker, auf daß sie deine Macht sehen. Erneuere deine Zeichen und wiederhole deine Wunder. Verherrliche deine Hand und deinen rechten Arm. Beschleunige die Zeit, und denke an das Ende, damit sie deine Wunder erzählen.765 758 Häglsperger: Zollbrucker 70. 759 Sailer: Grundlehren 442. In der Predigt anlässlich der Primiz des späteren Regensburger Bischofs Franz Xaver Schwäbl (1778–1841) führte Sailer am 13. September 1801 aus, der Geistliche des 19. Jahrhunderts müsse »zu größerem Leid entschlossen sein als seine Vorgänger«. Zit. nach Hahn: Romantik 19 f. 760 Westermayer: Bauernpredigten II/I 70: »Die Liebe hat dann noch das Eigene, daß sie sich nicht lange besinnt, nicht lange hin und her schwankt, sondern eilt.« 761 Hirscher: Moral II 9. 762 Die kirchliche Wohlthätigkeit. In: Der Katholik 2 (1850) 531–548, hier 539. 763 Ebd. 532. 764 Betrachtungen über die Gegenwart. In: Der Katholik 4 (1851) 72–84 und 183–191, hier 83 f. 765 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1870 (14.10.1870).

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Am 9.  Mai 1872 äußerte Senestrey seine Zuversicht, »durch unser Gebet und unsere brüderliche Liebe die Tage der Prüfung kürzen, den Sieg des göttlichen Reiches beschleunigen« zu können. Dabei machte er den notwendigen Zusammenhang zwischen Leiden und Siegen deutlich. Je größer das Leiden, desto größer der Triumph: »Ist aus allen Verfolgungen, aus jedem Blutbade, aus allen Kämpfen und scheinbaren Verlusten die Kirche Gottes nicht immer stärker, größer, ehrwürdiger hervorgegangen?«766 Das Gebet für die Armen Seelen diente Martin 1883 dazu, die Zeit zu »beschleunigen«.767 Senestrey beabsichtigte mit seinem Fastenpatent des Jahres 1885 »die Erbarmungen Gottes, wie der heilige Vater mahnt, zu beschleunigen, und zwar durch Gebet und durch ein ganz christliches Leben«. Denn es brechen auch jetzt die göttlichen Strafgerichte immer zahlreicher und schrecklicher herein über ganze Länder und Völker, ja über die ganze menschliche Gesellschaft, weil nicht bloß die Ungläubigen, sondern auch so viele Bekenner des christlichen Namens ungescheut Gottes und der Kirche Gebote übertreten.

Seine Diözesanen rief er dazu auf: »[…] gewinnet sein Wohlgefallen, besänftiget seinen Zorn und wendet die göttlichen Strafgerichte von euch  – und so viel an euch liegt, auch von der Gesellschaft ab. So beschleuniget ihr die göttlichen Erbarmungen«.768 Im Jahr 1886 wiederholte er seine Hoffnungen auf eine beschleunigende Wirkung des Gebets.769 Und schließlich behauptete Senestrey am 24. Februar 1890, dass der von »Übeln und Gefahren« umdrängte Papst die Josephsverehrung propagiere, »um die göttliche Hilfe noch mehr zu beschleunigen«.770 Es war aber widersprüchlich, durch ein vermehrtes und effizienteres Leiden die Zeit zu beschleunigen, um dadurch umso eher zur Vollkommenheit zu gelangen. Denn die Grenze vom reaktiven Erdulden zum proaktiven Handeln wurde dadurch überschritten. Der beschleunigte apokalyptische Attentismus des Gnadendispositivs drängte zu dem auf Dauer gestellten proaktiv-agonalen Exorzismusdispositiv.771 Die dominante katholische Endzeitstimmung, die 766 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1872 (9.5.1872). 767 Martin: Fest- und Gelegenheitsreden 500–502. 768 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1885 (23.1.1885). 769 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1886 (23.1.1886): »Gleichwie Alles, was die Kinder der Kirche fehlen und sündigen, ihrer Mutter zum Kummer und Nachtheil gereicht und nicht ohne Einfluß bleibt auf Gottes weise Anordnungen, Zulassungen und Strafgerichte: so kommt hinwiederum auch alles Gute und Verdienstliche in dem Leben und dem Wirken der einzelnen Gläubigen der Gesammtheit zu Nutzen und trägt bei, den Zorn Gottes zu besänftigen und seine Erbarmungen zu beschleunigen.« 770 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1890 (24.2.1890). 771 Zwierlein: Grenzen 447 f. kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Apokalyptik »im Wesentlichen nichts mit den Bereichen wirtschaftlicher und politischer Planung oder Organisation zu tun« habe.

460  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  ­ orbert Busch in seiner mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung der Herz-JesuN Frömmigkeit noch für die 1860er Jahre feststellen konnte,772 wich zunehmend einer agonalen Haltung, die sich nicht mehr im apokalyptischen Horizont mit schwacher Determinierung von Immanenz und Transzendenz befand, sondern im klar geschiedenen Dual von Immanenz und Transzendenz. Nach Aussage des Literaturhistorikers Klaus Vondung entstehen apokalyptische Erwartungen bei »Existenzspannung zwischen innerweltlicher Defizienz und transzendenter Fülle«.773 Das ist insoweit richtig, als dies nur unter der Bedingung einer schwach determinierten Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz gilt. Denn die Apokalypse ist der Einbruch der Transzendenz in die Immanenz. Die scharfe neuscholastische Grenze zwischen unvollkommener Immanenz und vollkommener Transzendenz verhinderte eine apokalyptische Deutung der Beschleunigung. Auf die Apokalypse Bezug zu nehmen wurde im Laufe des 19.  Jahrhunderts tatsächlich zu einem protestantischen Proprium.774 Darüber hinaus beherrschte aber auch die säkulare Zeitwahrnehmung um die Jahrhundertwende eine endzeitliche Stimmung. Die Überzeugung, am Ende der Zeiten angekommen zu sein, war weit verbreitet. Dabei mischte sich Untergangsstimmung mit Fortschrittsoptimismus, da das Kommen eines vollkommenen immanenten Zustandes  – entweder sozialistischer, liberaler oder protestantisch geprägter konservativer Art  – angenommen wurde. Die deutsche politische Kultur war apokalyptisch geprägt, die Hoffnung auf Wiedergeburt nach dem Untergang allgemein verbreitet.775 Dem stand das Exorzismusdispositiv mit seiner unüberwindlichen Unvollkommenheit der Welt entgegen. Josef Pohle ging 1903 im »Hochland« davon aus, dass die Erde noch eine »lange Zukunft« haben werde, bis das Ende dann »unerwartet und unvorhergesehen« komme.776 Also keine Beschleunigung mehr, sondern ruhige Entwicklung bis zum plötzlichen Ende. In dem Maß, in dem die Geschichte anstatt der Apokalypse zum Gericht wurde, wurde die Beschleunigung zunehmend von einem außergeschichtlichen zu einem geschichtlichen Phänomen, wie sich am Beispiel von Keels eschato 772 Busch: Frömmigkeit 305. 773 Vondung: Apokalypse 64. 774 Vondung konstatiert apokalyptische Kriegsdeutungen zu Beginn des Ersten Weltkrieges vor allem in protestantischen Predigten, kaum jedoch in katholischen. Er führt dies darauf zurück, dass das nationalistische Sendungsbewusstsein im Bürgertum, das im Katholizismus im Unterschied zum Protestantismus keine dominierende Stellung einnahm, mit apokalyptischen Deutungen verbunden gewesen sei. Vgl. Ebd. 195 f. – Die protestantische Affinität zu apokalyptischen Erwartungen zeigt sich auch an der Zunahme religiöser Endzeiterwartungen in den englischen Industrierevieren zwischen 1780 und 1850. Vgl. Kippenberg / Stuckrad: Einführung 165 f.; Kahle: Zeichen; Linse: Geisterseher 12 f. Vgl. dazu auch Delumeau: Angst 207, der den Zusammenhang von endzeitlichen Erwartungen und sozialrevolutionären Hoffnungen in ländlichen Gesellschaften anspricht. 775 Vgl. Brittnacher: Ermüdung 77; Meumann: Endzeit; Vondung: Apokalypse. 776 Vgl. Pohle: Lehre 304.

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logischen Ausführungen von 1868 zeigen lässt. Die Konflikte der Gegenwart galten ihm nicht als Anzeichen einer nahenden Apokalypse. Vielmehr handelte es sich dabei um »partiale Gerichte, die dem allgemeinen Gerichte verwandt sind, und die Erscheinungen, welche diesem verkündend vorausgehen, treten auch ähnlich, wenn auch schwächer, auf, wenn jene mit ihren finsteren Schrecken heraufziehen«.777 Gott schicke deshalb »seine Vorboten« dauernd, »ehe er die Schaalen seines Zornweines auf die Völker herabgießt. Mangel an Verdienst, Theuerung, Hungersnoth, Cholera, Unsicherheit der Throne, Revolutionen und wie alle die Calamitäten der Neuzeit heißen, sind mahnende Stimmen«.778 Nicht mehr das reaktive Leiden angesichts einer schwach definierten Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz beschleunigte die Zeit, sondern das proaktive agonale Handeln in der Immanenz. Die zunehmende Verbreitung katholischer Periodika galt der »Katholischen Kirchenzeitung« 1844 als Beweis dafür, »daß ein neues, kräftig sich regendes Leben in der Kirche erwacht ist, daß sie, die seit der französischen Revolution mehr eine passive Rolle spielt, seit den letzten zehn Jahren wieder mehr in die weltlichen Verhältnisse heraustritt«. Ihr würden »mit jedem Tage neue Capacitäten und Kräfte« zuwachsen. Vor allem liege ein »günstiges Zeichen« darin, dass es immer mehr katholische Tageszeitungen gebe, womit sie sich »dem größern Publikum, der Masse des Volkes« zuwende.779 Der Kölner Erzbischof Geissel ermahnte seine Mitbrüder auf der Würzburger Bischofskonferenz im Herbst 1848 mit der beschleunigten Zeit mitzuhalten und die kirchenpolitischen und pastoralen Anstrengungen zu vergrößern. Die kulturelle, soziale und politische Umgestaltung schreite »mit der unsere Zeit charakterisirenden Sturmeseile vorwärts, und es hat nicht den Anschein, als sei es irgend einer Macht der Erde gegeben, sie aufzuhalten und noch weniger, sie in das alte Mass zurückzuführen«. Da sich auch die Angriffe gegen die Kirche intensivierten, forderte er, die Kirche müsse »sich vorsehen, wenn sie nicht grosse Gefahr leiden will; und soll sie nicht zu Grunde gehen oder wenigstens ihr künftiges Loos von Andern, sogar ihren Feinden, sich zumessen lassen, so muss sie selber ihr Geschick in die Hand nehmen.«780 Es galt nun, im agonalen Dauerzustand die langsamere kirchliche Geschwindigkeit an die schnellere dämonische anzupassen. Der Katholik steigerte ab 1844 seine Erscheinungsweise, um mit der »Ungeduld der Zeit« mithalten zu können: »Wenn auch im Augenblicke sich gerade die Thatsachen nicht drängen, so ist ein Monat der Gegenwart doch schon eine lange Zeit, sie will schnelle Berichte über die Ereignisse und Erörterungen von einem bestimmten Standpunkte aus über 777 Keel: Welt I/3. 778 Ebd. I/7. 779 Zit. nach Pesch: Presse 297–299, hier 297–299. 780 Promemoria des Erzbischofs Johannes von Geissel von Köln über eine Synodale Zusammenkunft der deutschen Bischöfe. In: Vering: Verhandlungen 129–150, hier 129 f.

462  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Alles, was vorgefallen.«781 Als der Katholik 1851 über die Expansion der geistlichen Gemeinschaften berichtete, sah er darin ein Anzeichen dafür, »dass Gott die Wurfschaufel in die Hand genommen« habe, »um seine Tenne zu reinigen«. Es »fließt in demselben Grade der Strom seiner Gnade mächtiger, als die Zeit der Entscheidung näher rückt«. Dabei bereitete der Katholik seine Leser nicht auf ein apokalyptisches Ereignis, sondern auf einen agonalen Zustand vor. Der Sieg der Kirche sei nämlich »nicht eine augenblickliche Anstrengung, worauf Ruhe folgt, sondern das mächtige Aufblühen eines Baumes, der über seine Umgebung hinaus Äste treibt und immer größere Kraftfülle erlangt und nöthig hat, um sich in seiner Stellung zu erhalten und die entsprechende Masse Früchte zu erzeugen und zu tragen«.782 Der Thomist Plaßmann mahnte 1860 zur Schnelligkeit bei der Rückbesinnung auf die mittelalterliche Scholastik, um im Kampf gegen das Böse Schritt halten zu können: Die sociale Communication ist bis ins fabelhafte leicht geworden, das Böse und Irrige geht raschen Schrittes seiner Wege: wehe, wenn das Gute und Wahre nicht gleichen Schrittes sich bedient zu seiner Verbreitung! Kommen wir zu spät, wer weiß, ob wir noch siegen werden! Die Zeiten des Friedens sind gar zu kostbar: glaubt ihr an eine noch längere Zeit des Friedens, so laßt sie uns benutzen, um stark zu sein zur Zeit des Krieges!783

In Belgien, Italien und vor allem in Frankreich, »wo sich Alles in gewaltiger Gährung regt, kehrt man allüberall eilenden Schrittes zur Doctrin des h. Thomas zurück«. Demgegenüber sah er Deutschland im unverantwortlichen Rückstand: Und du, mein theures Vaterland – du weltberühmtes Land der speculativen Interessen? Seit zwei Decennien hast du schon hinreichende Proben abgegeben, daß noch ein ächt katholischer Geist dich beseelt. Da geht’s langsamen zwar, doch festen Schrittes. Wohlan! Wenn ächt katholischer Sinn dich treibt, so vernimm, weß Geistes Kind der große Thomas ist.784

Deshalb war er sich sicher, »daß Thomas wieder regieren wird. Das ist gar nicht mehr in Frage. Die Frage ist nur noch eine Frage nach der Zeit, wann er regieren wird.«785 Im Hinblick auf die Anwendung der modernen Kommunikations- und Verkehrsmittel warnte der spätere Mainzer Bischof Haffner auf dem Katholikentag des Jahres 1863 vor einer Verweigerungshaltung:

781 Zit. nach Pesch: Presse 265–269, hier 265. 782 Die Bibliothek eines Landgeistlichen. In: Der Katholik 4 (1851) 214–222 und 323–331, hier 214. 783 Plaßmann: Schule 68. 784 Ders.: Vorhallen 8 f. 785 Ders.: Schule 7.

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Ich will nicht in Abrede stellen, meine verehrten Herren, daß der Teufel diese Erfindungen zu einem großen Theile früher benutzt hat als wir. Das ist eine alte Geschichte; auch die Auffindung der neuen Welt ist früher von ihm benutzt worden und auch die Entdeckung des Weibes unter dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen ist zuerst dem Teufel zu statten gekommen, aber lange hat die Freude des Teufels nicht gedauert, Maria und Christus haben ihm diese Freude verdorben, die Natur ist zuerst in die Hand des Bösen gefallen, aber sie bleibt in seinen Händen nicht.

Deshalb war er sich sicher, dass die Kirche aufholen werde: »Der Teufel ist uns in ihnen vorangeeilt und wir scheinen zurückzubleiben. Aber die Zeit wird kommen und sie scheint nicht ferne zu sein, in der unsere Gegner merken werden, daß wir ihnen hart an der Seite sind.« Denn in den neuen Kommunikations- und Verkehrsmitteln sah er »katholische Erfindungen«, da sie der Universalität der katholischen Kirche dienten: Der Telegraph ist Katholik, er ist eine durch und durch katholische Institution, ein neues Band für die Eine katholische Kirche. Wenn seit Jahrhunderten die Dekrete des Statthalters Christi zu Rom mit der Aufschrift angeschlagen wurden: urbi et orbi, so ist dieses Wort nunmehr zur vollen Wirklichkeit geworden, da die elektrischen Blitze im Dienste Roms stehen.

Das gleiche gelte für die Eisenbahn: Es scheint mir der tiefste Zweck, zu dem sie erfunden wurde, ist der, daß die katholische, die Eine Kirche, die den Erdkreis umschließt, um so rascher und um so leichter mit allen ihren Gliedern in Verbindung stehe. Wenn Victor Emanuel [II., König von Italien, 1820–1878] dereinst den Mont Cenis [mit einem Eisenbahntunnel] wird durchstochen haben, dann hat er eine neue Gasse für den Ultramontanismus eröffnet und er verdient den Dank der katholischen Welt.

Er rief deshalb die Katholiken dazu auf, mit den »Waffen des 19. Jahrhunderts« zu streiten, »als wären wir Kinder dieses Jahrhunderts«, aber »wir ändern weder unsere Grundsätze noch unser Leben, wir sind heute und überall dieselben Katholiken, die wir im Mittelalter waren«.786 Der Neuscholastik pressierte es. Bereits Karl Gabriel ist die Durchsetzung der Neuscholastik in »atemberaubend kurzem Zeitraum« aufgefallen. Die »überraschend schnelle Verbreitung und Durchsetzung« zeige ein »hohes Maß an Dynamik, Durchschlagskraft und empirischem Erfolg«.787 Der Thomist Lehmkuhl interpretierte die Schrumpfung des Raumes durch die technischen Innovationen im Verkehrs- und Kommunikationswesen 1888 schließlich als Auftrag zur Tätigkeit: 786 Verhandlungen der fünfzehnten Generalversammlung der katholischen Vereine Deutsch­lands 323–328. 787 Gabriel: Christentum 82–87.

464  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Die thatkräftige Hilfe, welche sonst durch Zeit und Raum in ihrer Wirksamkeit gehindert war, hat zum großen Theil diese Fesseln abgestreift. Da ist es Pflicht und Aufgabe der katholischen Welt, mit ganz neuem Aufwand von Leistungen und Mitteln das Weltapostolat in die Hand zu nehmen.788

Die Umwandlung von Gefahren in Risken führte zu Beschleunigung, wie Heinrich Pesch in den 1890er Jahren feststellte. Den Grund dafür erblickte er darin, dass unter diesen Bedingungen Arbeit nicht mehr der Bedarfsdeckung diente, sondern der Bildung von Eigentum: Das Recht, Eigenthum zu erwerben, die Gewißheit, die Früchte der eigenen Anstrengung zu genießen, das persönliche Interesse am Erfolge der Arbeit sind in der That der mächtigste Sporn, um die intensivste Anspannung der individuellen Arbeitskraft, ein rastloses Streben nach Verbesserungen in der Production, einen umsichtigen Wetteifer hinsichtlich der vortheilhaftesten Gestaltung und der Erzielung größtmöglicher Wirtschaftlichkeit im technischen Productionsprocesse zu erzeugen.789

Damit schloss sich Pesch der Argumentation der Sozialenzyklika »Rerum novarum« an.790 Aufgabe des Menschen sei es, so ein weiteres päpstliches Rundschreiben vom 4.  Oktober 1903, »das Werk Gottes beschleunigen helfen«.791 Die Stimmen aus Maria Laach fanden 1903 Gefallen an der Einführung einer »mathematischen Universalsprache«. Denn sie zeichnete sich durch »Kürze und Knappheit« aus. Durch ihre Anwendung wäre eine »Beschleunigung des Denk- und Vorstellungsvermögens der Menschheit zu erwarten, was man gewiß aus hundert Gründen nicht warm genug begrüßen könnte«.792 Solange die Beschleunigung als apokalyptisch bzw. dämonisch wahrgenommen worden war, konnte sich ihr moralischer Sinn gar nicht oder nur im Opfern zeigen (Gnadendispositiv). Nun, da sie im agonalen Kampf instrumentell wurde, verkehrte sich ihre moralische Qualifikation vom Bösen ins Gute (Exorzismusdispositiv). Die Beschleunigung war im Kampf gegen das Böse nützlich. Der Nutzen der Beschleunigung konnte schließlich erkannt werden (Regeldispositiv). Wegen der unterschiedlichen moralischen Bewertung von Beschleunigung war die Romanik der im Gnadendispositiv bevorzugte Baustil und wurde die Gotik von der exorzistischen Neuscholastik geschätzt. Im Jahr 1851 machte sich der Katholik Gedanken über die Unterschiede zwischen romanischer (»byzantinischer«) und gotischer Bauweise. Während ihm die romanische für Stabilität stand, sei die Gotik »nicht mehr der Ruhe, sondern der Arbeit, des Kampfes, 788 Lehmkuhl: Petrus Claver 381 f. 789 Pesch: Liberalismus 262. 790 Vgl. dazu Lantz: Eigentumsrecht 127–129. 791 Päpstliches Rundschreiben vom 4.10.1903. In: Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1903. 792 Eine »mathematische Universalsprache«. In: Stimmen aus Maria Laach 64 (1903) 231–233.

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der Sehnsucht und des Triumphes«.793 Der Katholik plädierte deshalb 1853 für eine Wiederaufnahme des romanischen Baustils, da nur dieser in der Lage sei, »den Himmel in der Erde darzustellen und alles Irdische, soviel möglich, zu vergeistigen«. Die Romanik verwirkliche dieses Postulat, indem sie »die Form des irdischen Raumes in der gradlinigen Bewegung, worin sich eine Unvollkommenheit ausspricht, durch die Bogenlinie – die Form des himmlischen Raumes und der vollkommenen Bewegung«  – beherrschbar mache794 und die »Herrschaft des Halbkreisbogens«795 etabliere. Schließlich sei aber die vollkommene romanische Statik durch die unvollkommene gotische Dynamik ersetzt worden: »Das Hochstrebende, das Emporsteigende, wurde nun zum durchaus herrschenden Principe erhoben, das Sichherabsenkende, das Ruhende, Bleibende aber soviel nur möglich verdrängt.«796 Als sich der Katholik dann 1859 entgegen seiner bisherigen Haltung gegen die Romanik und für die Wiederaufnahme der Gotik aussprach, zeigte er sich erfreut über die Schnelligkeit, mit der sich die kirchliche Kunst der Gotik besann. Darin zeige sich »mit einer Schnelle, welche uns selbst in unserer Kleingläubigkeit vielleicht am Meisten überrascht hat, eine Wendung, deren Richtung wir wohl jetzt schon im dankbaren Aufblicke zu Gott erkennen, ohne jedoch ihr Ziel bestimmen zu können«. Es eilte: »In ›Sturm- und Drangperioden‹, wie die Zeit heute offenbar wieder eine ist, frommt es auch nicht viel, zu zaudern und lange wählerisch zu sein.«797 Nun war die Gotik der Inbegriff der christlichen Kunst. Die in die Gotik hineininterpretierte Dynamik entsprach dem akzelerierten Selbstbild der Neuscholastik besser als die Romanik. Der Katholik führte dazu aus: Das Streben der christlichen Baukunst ging, so lang sie wahrhaft Fortschritte machte, dahin, die Materie immer mehr zu beseitigen und zu vergeistigen und den Strömen des durch die Kunst der Formen und Farben ästhetisch gestalteten und seiner Profanheit entkleideten Lichtes mächtigere und freiere Wege zu bahnen. Insbesondere sind stets die Hauptpunkte und Theile des Gebäudes durch die größeren Lichter bezeichnet. Die Mitte, im Längen- und Querdurchschnitt, (die symmetrische Axe) trifft immer auf das größte Licht, was namentlich auch durch die Erfindung der Spitzbogengewölbe (im Gegensatz zu dem römisch-heidnischen Tonnengewölbe) erzielt wurde.798

Der Rundbogen stand also nicht mehr für Vollkommenheit, sondern für Heidentum. Dabei wurde die Gotik von der Neuscholastik nicht nur wegen ihrer 793 Gothisch und Byzantinisch. In: Der Katholik 3 (1851) 420–427, hier 423 f. 794 Über die christliche Baukunst. In: Der Katholik 7 (1853) 385–408, hier 387. 795 Ebd. 402. 796 Ebd. 404–408. 797 Zur ächten Renaissance der kirchlichen Kunst. In: Der Katholik 1 (1859) 96–110, 195–211, 364–373, 478–489 und 718–739, hier 96 f. 798 Die Grundverschiedenheit der heidnischen und der christlichen Baukunst. In: Der Katholik 2 (1850) 172–186, hier 185.

466  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Dynamik geliebt, sondern auch wegen ihrer Unvollkommenheit. Der Katholik machte die Unvollkommenheit zum Kennzeichen christlicher Kunst, »denn wenn auch zur Zeit die Architektur des Mittelalters als höchstes Muster christlicher Kunst vor uns steht, so läßt sich doch nicht in Abrede stellen, daß noch eine neue und höhere Gestaltung katholischer Kunst möglich sei«. Es sei »gewiß, daß der Grundcharakter der christlichen Kunst stets derselbe bleiben muß«, weshalb der gotische nicht die Vollendung des romanischen Stils sei, sondern »jeder der beiden Style in seiner Art, ohne daß sie in einander übergehen, der höchsten Vollendung fähig« sei.799 Die zugeschriebenen Funktionsprinzipien der Gotik waren diejenigen des Exorzismusdispositivs, und zwar Formalismus,800 Unvollkommenheit und die darin liegende paradoxe Relation von Statik und Dynamik.801 Die Beschleunigung der Zeit wurde im Exorzismusdispositiv von einer Bewegung hin zur Vollkommenheit zu einer instrumentellen Bewegung mit Zweck, aber ohne immanentes Ziel.802 Es bestand kein beschleunigender Wirkungszusammenhang mehr zwischen absolutem Opfer und vollkommener Apokalypse, sondern zwischen immanenter Unvollkommenheit und veränderbarem Recht.803 Dabei zeigt die katholische Wahrnehmung von Beschleunigung die von Koselleck beschriebene Entwicklung, wonach diese zunächst von einem Ziel abgeleitet worden war, dann aber aus dem Vergleich mit vergangenen Ereignissen, was diese empirisch überprüfbar machte. Die Beschleunigung wurde von einem Erwartungs- zu einem Erfahrungsbegriff.804 Wenigstens die heterotopische kirch­liche Hierarchie aber sollte statisch bleiben. Renninger führte die durch Dampf und Elektrizität bewirkte Beschleunigung 1869 »mit Resignation« auf die göttliche Vorsehung zurück, wenn nur die »unerschütterlichen Glaubenssätze« der Kirche davon unberührt blieben.805 Faulhaber führte die Beschleunigung 1911 darauf zurück, dass die Menschen während ihrer kurzen Lebenszeit so viel Zukunft wie möglich vorwegnehmen wollten. Demgegenüber könne die Kirche ruhig ihren Gang in die Zukunft gehen.806 Die Geschwindigkeiten von Kirche 799 Ebd. 175 f. 800 Vgl. Kapitel IV.4. 801 Vgl. Kapitel V.2. 802 Franz Walter (Leib 45) behauptete 1905: »Wie eine Frucht, die durch Steigerung der Wärme und Nahrung künstlich zur raschen Reife gebracht wird, nie den Grad der Vollendung erhält wie die Frucht, die unter den normalen natürlichen Bedingungen herangereift ist, so kommt auch das menschliche Leben, dessen Zweck in möglichst rascher Entwicklung und Ausnützung erblickt wird, in der Regel nie zu jener Vollreife als bei einem in normaler Wirksamkeit.« 803 Zur sozial dynamisierenden Wirkung eines veränderbaren Rechts vgl. Kaufmann: Religion 290. 804 Vgl. Koselleck: Beschleunigung 173–175; Koselleck: Zeitverkürzung 189. 805 Renninger: Unveränderlichkeit 33 f. 806 Vgl. Schindler: Kairos 198–203. Dazu passt, dass Gabriel Fleuriau (Lebensgeschichte V f.) das Leben des heiligen Petrus Claver als eintönig beschrieb: »Je fader und einförmiger vor-

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und Teufel wurden im Exorzismusdispositiv synchronisiert. Mit der zunehmenden Heterotopisierung der Kirche traten sie wieder auseinander. Die Suche nach immanenten Gesetzmäßigkeiten für die wahrnehmbare Beschleunigung der Zeit im Regeldispositiv konnte beginnen. Diese wurden zunächst in der Wirtschaft gesucht. Der Moraltheologe Fer­ di­nand Probst machte den Materialismus 1850 für die Beschleunigung ver­ant­ wortlich: Die Größe des Glücks hängt daher von der Masse der Genüsse und diese wieder von der Vervielfältigung der Bedürfnisse ab. Je mehr der Mensch bedarf, desto mehr wird er angetrieben zu erzeugen, je mehr er erzeugt, desto mehr kann er wieder für seine Genüsse verwenden. Auf dieser Wechselbewegung gesteigerter Bedürfnisse und gesteigerter Befriedigung beruht aller Fortschritt der Bewegung des socialen Geistes.807

Hitze führte die Beschleunigung 1880 auf den Kapitalismus zurück. Dieser absorbiere die »Mittelstände« und »viel schneller« noch das »kleinere Kapital«, weil »die Zahl der Concurrirenden geringer, die technischen Bedingungen viel entwickelter sind, die Widerstandskraft aller, dort in Sitte und angeborener Zähigkeit wurzelnd, hier viel schwächer ist«.808 Denn das Kapital liebt die Beweglichkeit, den Wechsel und die Verschiebbarkeit der Arbeiter und des Kapitals in Quantität und Qualität, je nach dem Stand der Productionsbedingungen; die Seele der Kapitalswirtschaft ist der Tausch, der Verkehr, Leichtigkeit der Verbindungen und auch wieder leichte Lösbarkeit derselben, nach allen Beziehungen hin.809

Auch Franz Walter führte die Beschleunigung 1906 auf den Kapitalismus zurück: Das Sprunghafte, Wechselvolle, Unsichere ist zur bleibenden Signatur geworden. Eisenbahn, Dampfschiff, Telegraph und Telephon vermindern die Entfernungen, heben die Schranken von Raum und Zeit auf und eröffnen der Spekulation unabsehbare Gebiete. Diese Unruhe, welche diese in das Erwerbsleben hineinbringt, pflanzt sich auf alle Lebensgebiete fort. Wir leben rascher als unsere nicht kapitalistischen Vorfahren. Nervöse Hast, ein Überstürzen rasch wechselnder Moden, ein Haschen nach neuen Stilarten auf dem Gebiet der schönen Künste gehört zur Signatur des Kapitalismus.810 liegende Lebensgeschichte dem genußsüchtigen Leser erscheinen mag, desto bewunderungswürdiger werden aufmerksame und tiefsehende, fromme Seelen den Helden Claver finden, denn es gehört ungleich mehr Heldenstärke dazu, um vierzig Jahre lang die erschreckliche Einförmigkeit eines so abgetödteten, so müheseligen Lebens, wie das des heiligen Peter Claver ist, zu ertragen, und mit einem Muthe zu ertragen, der sich stets gleich bleibt – dazu, sage ich, gehört mehr Heldenstärke, als von einem Unternehmen zu einem anderen überzugehen, sei es auch, daß jedes derselben mühsam ist.« 807 Probst: Moraltheologie II 400. 808 Hitze: Kapital 37. 809 Ebd. 309. 810 Walter: Kapitalismus 22.

468  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Und im Jahr 1910 führte er aus, dass ein »nervöser Habitus« das »entwicklungspsychologische Kennzeichen des Wirtschaftslebens der freien Unternehmung« sei, des »raschen, mühelosen Erwerbens«. Die »Jagd nach dem Glück« sei mit »großen seelischen Aufregungen« verbunden: »Die beständige Spannung, die Gier nach Gewinn, die Furcht vor Verlust verscheuchen Ruhe und Behagen und zehren beständig an der Nervenkraft.«811 Er beklagte »Hast und Unruhe des modernen Lebens«. Die »Schnellebigkeit unserer Tage« führe zu rascher Abnützung und erzeuge geistige und körperliche »Erschöpfungszustände«.812 Eine Erweiterung der ökonomischen Erklärung auf anthropologischer Basis bot 1885 der Moraltheologe Schneider. Er führte die Beschleunigung auf die »Weissen« mit »ihrem ungestümen Thatendrang, ihrer rastlos erfinderischen, den ganzen Erdball erobernden Unruhe« zurück.813 Der Apologet Seitz erklärte die Beschleunigung 1914 schließlich zu einer Konkretion der menschlichen Natur. In der Geschichte wirke sich das »Trägheitsprinzip« aus, und zwar im »natürlichen Hang, lieber die Ansprüche auf die Lebenshaltung niedriger als die Tatkraft höher zu spannen«. Trotzdem gebe es Fortschritt, da die Natur eines jeden endlichen Wesens auf eine allmähliche Entfaltung der in ihr liegenden Kräfte angelegt ist, so daß die Menschheit ganz am Anfang mangels hinreichender Zeit zu selbsttätiger Entfaltung noch nicht auf derselben Höhe gestanden sein kann wie später. Im Laufe der Zeit steigert sich der Kulturfortschritt nicht in arithmetischer, sondern in geometrischer Progression, weil die durch ihn gewonnenen Elemente die fruchtbaren Vorbedingungen zu immer wieder neuen werden.

Dabei förderten sich die Fortschritte in Natur- und Geisteswissenschaft gegenseitig aufgrund der leiblich-seelischen Doppelnatur des Menschen: So wird z. B. mit der Erfindung der Schrift und Buchdruckerkunst der geistige Ideenaustausch erleichtert und dadurch auch der Fortschritt in den Geisteswissenschaften beschleunigt, und umgekehrt wird durch tieferes Eindringen in das Wesen der Dinge die Herrschaft des Geistes über die Natur wie über sich selbst fortgesetzt vervollkommnet.

Dabei handle es sich allerdings um eine Bewegung mit starken Schwankungen, um eine »wellenförmige Bewegung«.814 Nachdem die Beschleunigung so ihren dämonischen Charakter verloren hatte, konnte Schnelligkeit zum Merkmal außerordentlichen göttlichen Wirkens werden. Für den Dillinger Lyzealprofessor Pfeifer war eine beschleunigte Hei-

811 Ders.: Leib 186 f. 812 Ebd. 193. 813 Schneider: Naturvölker I 32. 814 Seitz: Religionsbegründung 429 f.

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lung in der Theologisch-praktischen Monats-Schrift im Jahr 1900 ein Kennzeichen für das Eingreifen Gottes: Da bekanntlich zwar nicht alle, aber doch viele Krankheiten durch natürliche Mittel behoben werden können, diese aber immer für ihr Wirken eine gewisse Zeit brauchen, so ist es, wenn eine Heilung als Wunder anerkannt werden soll, zwar nicht das einzige, aber ein wesentliches Erfordernis, daß die Heilung plötzlich und vollkommen stattgefunden habe.

Auch der Erfolg von wetterbeeinflussenden Gebeten ließ sich an der Raschheit der Wetterveränderung ablesen: Ein solches Eintreten von Regen könnte als Wunder nur dann gelten, wenn dasselbe auf das Gebet hin unter solchen Umständen, wobei natürlicherweise kein Regen zu erwarten ist, und in so rascher Folge, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Gebet und Regen klar zu Tage liegt, sich einstellt. Ferner ist zu bemerken, daß der Betende nur dann um ein Wunder betet, wenn er damit die Meinung verbindet, daß Gott sofort und durch unmittelbares Eingreifen in den Gang der Natur Regen herbeiführen solle.

Ein zu langer Zeitraum zwischen Gebet und erbetenem Ereignis sprach gegen ein Wunder, etwa wenn bei Dürre um Regen gebetet werde: Sie verlangen dann nicht, daß Gott sofort und durch wunderbares Eingreifen in den Gang der Natur Regen schicke, sondern sie bitten einfach um Regen; das Wann und Wie stellen sie ganz Gott anheim, und wenn dann früher oder später Regen kommt, trägt derselbe keineswegs die charakteristischen Merkmale eines Wunders an sich, weil derselbe in einer Weise und unter solchen Umständen sich einstellt, daß auch die rein natürlichen Ursachen vollkommen dazu ausreichen würden.815

Die Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit ohne apokalyptischen Horizont in einem auf Dauer gestellten agonalen immanenten Zustand bedeutet, dass die Zeit nicht mehr diskontinuierlich in konkreten, gottbewirkten Ereignissen voranschritt, sondern in messbaren graduellen Zeiteinheiten. Die Ereigniszeit wurde durch die absolute, denaturalisierte, gradualisierte und meßbare Zeit ersetzt. Geordnete zyklische Zeitkonzepte wurden dadurch obsolet. Die beschleunigte Zeit war linear und sie war meßbar gerade deshalb.816 Der Karmelit Karl Dillinger sah sich 1862 nur zwei Jahre nach dem Erscheinen seines statistischen Jahrbuches gezwungen, eine Überarbeitung vorzulegen, denn die »Zeit schreitet unaufhaltsam vorwärts« und »ein Monat ist in unseren Tagen begebenheitsreicher, als es

815 Pfeifer: Frage 302 f. 816 Vgl. Borst: Computus 125–135. – Rosa: Beschleunigung 278 spricht von der »Kolonialisierung der Ereigniszeit durch die lineare Zeit«.

470  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  noch vor gar nicht langer Zeit ein Jahr gewesen ist«.817 Dabei nahm er die zeitliche Beschleunigung wegen der Eisenbahn als Schrumpfung des Raumes wahr.818 Dies zwang Dillinger zu einer Änderung der Gliederung. War seine Übersicht im ersten Band noch nach Erdteilen gegliedert gewesen, fasste er nun alle Bistümer alphabetisch gereiht in einer einzigen Tabelle zusammen. Er war der Ansicht, dass die Beschleunigung der Mobilität durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes es »rechtfertigen mag«, alle »fünf Erdtheile in eine gemeinsame Übersicht zu bringen«.819 Seine erklärte Absicht war es, ein mit dem Ausbau der Eisenbahn schritthaltendes Wachstum der katholischen Kirche in Diözesen, Gläubigen, Ordenshäusern, Ordensmitgliedern und Bruderschaften darzustellen.820 Denifle nahm 1906 eine »Bewegung um der Bewegung willen« wahr, einen Fortschritt »ohne Ziel und Ende«.821 Als Albert Maria Weiß an der Jahreswende 1915/1916 auf sein Leben zurückblickte, war seine Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit überhaupt nicht mehr occasional, sondern relational. Die Zeit seines Lebens habe »an Abwechslung nichts zu wünschen übrig gelassen«. Mindestens alle fünf Jahre habe es »etwas Neues« gegeben: »Länger ertrug dieses unruhige Geschlecht die Langeweile über das Bestehende und das bereits Bekannte nicht.«822 Er sah eine »ununterbrochene Kette von Revolutionen, Staatsumwälzungen, Entthronungen, Attentaten, Fürsten- und Präsidentenmorden, weit über hundert an der Zahl. Weder die römische Kaiserzeit noch die Geschichte der orientalischen Despotien kann sich damit messen.«823 Ereignisse machten nicht mehr die Zeit, diese konkretisierte sich in Ereignissen.

16. Bistumsbeschreibungen: Vom Strafen zum Verwalten, vom Verwalten zum Wissen Die Homogenisierung des Raumes ging also mit Homogenisierung, Gradualisierung und Denaturalisierung der Zeit einher. Die geordnete Ereigniszeit wurde durch eine denaturalisierte, gradualisierte und messbare Zeit ersetzt. Da, »wie alles natürliche, so auch das geistliche Leben in der Zeit einer öfteren Erneuerung bedürfe, wenn es nicht durch das stäte Einwirken der irdischen Elemente allmälig aufgerieben werden oder in seiner eigenen Hinlässigkeit erschlaffen und ersterben soll«, wurde am 13. Februar 1827 die Jährlichkeit der Priesterexerzitien 817 Dillinger: Jahrbuch II III. 818 Ebd. 2: »Der Dampf treibt die Menschen, sie mögen so weit von einander auf der Erdoberfläche wohnen, als sie wollen, mit Riesenschritten zueinander.« 819 Ebd. 4. 820 Ebd. 197 f. 821 Denifle: Kirche 147. 822 Weiß: Lebensweg 1. 823 Ebd. 3.

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im Bistum Regensburg angeordnet.824 Die bayerischen Bischöfe wollten ihre Tagungen nicht mehr von einer konkreten Notwendigkeit abhängig machen, sondern sich regelmäßig treffen. Sie vereinbarten deshalb ab 1864 einen jährlichen Tagungsrhythmus, was allerdings nicht eingehalten wurde, weshalb 1893 ein dreijähriger Turnus eingeführt wurde. Die deutschen Bischofskonferenzen fanden ab 1867 im zweijährigen Turnus statt, ab 1871 jährlich.825 Das Regensburger Verordnungsblatt, dessen Erscheinen noch 1854 gemäß einer occasionalen Zeitwahrnehmung »vorläufig nicht an gewisse Zeitabschnitte gebunden, sondern nur durch den vorhandenen Stoff bedingt sein soll«,826 erschien ab 1859 regelmäßig. Dabei hatte die Denaturalisierung der Zeitwahrnehmung in der katholischen Kirche bereits im späten Mittelalter begonnen. Seit 1475 ist der Zyklus der Heiligen Jahre durch 25 teilbar. Daran zeigte sich Unabhängigkeit von astronomischen und biologischen Zyklen sowie Verfügbarkeit über Zeit.827 Schließlich dauerte es aber bis ins 19. Jahrhundert, bis sich in der kirchlichen Hierarchie eine denaturalisierte Zeitwahrnehmung durchsetzte. Der Ausbau der kirchlichen Verwaltung war Voraussetzung dafür und Folge davon. Strafen ist punktuell, verwalten drängt zur Kontinuierung. Es ging immer weniger um die Reaktion auf eingetretene Ereignisse, sondern um proaktiv wahrgenommene Regelmäßigkeit. Der Zusammenhang zwischen einer das Strafen zurückdrängenden Verwaltung, beschleunigter Zeitwahrnehmung und Denaturalisierung der Zeit lässt sich am Beispiel der Regensburger Bistumsbeschreibungen zeigen.828 Diese Bistumsbeschreibungen werden Matrikel, Handbuch, Beschreibung, Realschematismus oder Pfründeschematismus genannt und beinhalten Daten über alle zu einem geistlichen Jurisdiktionsbereich gehörenden Pfarreien. Derartige Bistumsbeschreibungen stellten ein Instrument geistlicher Verwaltung seit dem späten Mittelalter dar.829 Die älteste Regensburger Bistumsmatrikel datiert aus dem Jahr 1326 und stellt ein Verzeichnis der von den Pfarreien an den bischöflichen Stuhl zu leistenden Abgaben dar.830 Auch die folgenden Matrikeln von ca. 1350, 1389/1390, 1430, 1438, 1482, 1555 und 1600831 stellen Abgabenverzeichnisse zu konkreten Anlässen dar. 824 Oberhirtliche Verordnungen 244 f. 825 Vgl. Vogel: Bischofskonferenzen 468 f. und 772. 826 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 (22.9.1854). 827 Vgl. Müller: Jubiläum 14 f. 828 Die folgenden Ausführungen stellen eine aktualisierte und überarbeitete Version von Kirchinger: Einleitung 9–17 dar. 829 Einen Überblick über die Regensburger Bistumsmatrikeln bieten Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 323–338; ders.: Diözesanmatrikeln (1997) XIII–XX; Heim: Matrikeln 385–393. 830 Vgl. dazu Ebd. 386; Mai: Pfarreienverzeichnisse 7–33. 831 Nach Heim: Matrikeln 387 f. stellt die Bistumsmatrikel von 1600 ein Register der Annaten, d. h. der Abgaben, die dem Bischof bei der Verleihung einer Pfründe bezahlt werden

472  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Die von der Reformation verursachten konfessionellen und politischen Veränderungen veranlassten dann erstens, dass die kirchlichen Behörden nun nicht mehr nur an Informationen über Abgaben interessiert waren, sondern auch an der Bevölkerung, eben wegen deren Haltung zur Reformation. Zweitens führten sie dazu, dass die kirchlichen Behörden immer rascher an Informationen gelangen wollten. Deshalb wurden Visitationen als Mittel zur gegenreformatorischen Disziplinierung von Klerus und Kirchenvolk durch das Konzil von Trient im zweijährigen Rhythmus vorgeschrieben.832 Wenn dieser Rhythmus auch nicht eingehalten wurde, brachten die sich nun häufenden Visitationen als verwaltungstechnisches Ergebnis Visitationsprotokolle hervor, die in den Bistumsverwaltungen gebunden wurden, wodurch sie von diesen als Informationsquelle unabhängig von den Visitationen benutzt werden konnten.833 Dabei entstand das erste Visitationsprotokoll des Bistums Regensburg bereits 1508. Denn die Schäden des bayerischen Erbfolgekrieges hatten dort schon vor der Reformation eine Visitation in den Pfarreien veranlasst. Dementsprechend enthält es Angaben über den Zustand kirchlicher Gebäude und Geräte sowie über den Klerus, bezeichnenderweise aber noch nicht über die Bevölkerung.834 Nachreformatorische Visitationsprotokolle liegen  – sämtlich ediert  – aus den Jahren 1526, 1559 und 1589/1590 vor. Das Protokoll der aus eigenem Antrieb der Bistumsleitung durchgeführten Visitation von 1526 beschränkte sich ebenfalls noch auf die Herkunft der Priester und die rechtlichen Verhältnisse der Pfarreien.835 Auf landesherrlichen Druck kam die Visitation von 1559 in den bayerischen Teilen der Bistümer der Salzburger Kirchenprovinz zustande,836 diejenige im Bistum Regensburg von 1589/1590 ebenso.837 Diese beiden Maßnahmen umfassten bereits den vollständigen Fragenkatalog, wie er im 16. und 17.  Jahrhundert im deutschen Sprachraum bei Visitationen üblich wurde. Im Zentrum standen Angaben zur Person der Priester (Herkunft, Ausbildung, Lebensführung), zum Zustand der kirchlichen Gebäude und Gerätschaften, zu den rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Pfarreien sowie zur seelsorglichen Situation in den Pfarreien. Dabei beschränkte sich das Interesse

mussten, dar. Denn es sind alle Pfründen mit ihren Einkommen aufgelistet. Vgl. dazu auch: Ders.: Einführung (1993) VII–XI. 832 Vgl. dazu Jedin: Einführung 4–9. 833 So etwa die Protokolle der Visitation von 1589/1590. Vgl. Mai: Einleitung (2003) VII. 834 Regensburger Visitationsprotokoll von 1508 7–31; vgl. dazu Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 327 f. 835 Regensburger Visitationsprotokoll von 1526 23–40; vgl. dazu Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 328–330. Nach Lang: Erforschung 188 handelte es sich dabei gar nicht um eine Visitation. Vielmehr sei der Text »ein bischöfliches Verzeichnis zur Überprüfung der finanziellen Lage, mehr nicht. Der Name ›Visitation‹ erweckt zu hohe Erwartungen.« 836 Vgl. Mai: Einleitung (1993) 5*–53*; ders.: Diözesanmatrikeln (1992) 330. 837 Vgl. ders.: Einleitung (2003) VII–XIX; ders.: Diözesanmatrikeln (1992) 330 f.

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an den Gläubigen auf ihre Rechtgläubigkeit, die an der Teilnahme an den Sakramenten gemessen wurde.838 Gemeinsam ist den Visitationsprotokollen und den Abgabeverzeichnissen, dass sie Instrument eines zeitlich präzise bestimmbaren konkreten Verwaltungsaktes waren, mit dem auf ein konkretes Ereignis reagierte wurde. Deshalb gab es von ihnen auch nur jeweils ein Exemplar und dieses war handschriftlich. Von diesen Visitationsprotokollen hebt sich die Bistumsmatrikel, die der Pondorfer Erzdechant Gedeon Forster (1616–1675)839 im Jahr 1665 verfasste, ab. Grundlage seiner Arbeit waren nämlich nicht nur Visitationsprotokolle, sondern auch Konsistorialakten und Berichte der Pfarrvorstände. Gleichzeitig war ihr Informationsgehalt aber beschränkt. Er umfasste nur die rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Pfarreien sowie den geographischen und personellen Umfang derselben und war deshalb deutlich geringer als bei den Visitationsprotokollen. Der Zweck von Forsters Bistumsbeschreibung bestand nicht im administrativen Sammeln von Informationen, sondern in deren Ordnung zum Zweck der Publikation. Dabei gab es noch einen Zusammenhang mit einem konkreten Ereignis. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges und der Rekatholisierung der Oberpfalz sollte ein geordnetes Bild von kirchlicher Verwaltung vermittelt werden. Denn die Bistumsbeschreibung sollte auch gedruckt werden, weshalb sich heikle Informationen aus den Visitationsprotokollen über den moralischen Zustand von Pfarrern und Gläubigen darin nicht fanden.840 Für die Bistumsbeschreibung von 1723/1724 lässt sich dann kein konkretes Ereignis als Anlass mehr ausmachen. Bei dieser Bistumsbeschreibung handelte es sich um ein Werk, das auf Veranlassung des Bistumsadministrators Gottfried Langwerth von Simmern (1669–1741) zustande kam. Sie war zwar Teil von Langwerths pastoralen Reformbemühungen, aber nicht Ergebnis einer Visi­tation, sondern sie trat an die Stelle der Visitation.841 Erstmals hatten die Pfarrvorstände Berichte auf der Grundlage von Fragebögen einzusenden, die sich an das Schema der Visitationen hielten. Dementsprechend blieb diese Bistumsbeschreibung auch ungedruckt und lag nur in einem einzigen Exemplar vor.842 Die Bistumsbeschreibung von 1723/1724, die bisher umfangreichste ihrer Art in der Diözese Regensburg, zeigt, wie sehr sich Visitationen im 18.  Jahr­ hundert vom Disziplinierungsinstrument zu einer »Einrichtung zum Sammeln 838 Vgl. dazu Lang: Reform 133–137. 839 Vgl. zu ihm Gruber: Forster 294–302. 840 Vgl. dazu Heim: Einführung (1990) XI–XVII; Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 331 f.; Heim: Matrikeln 388 f. 841 Nach Lang: Erforschung 191 f. gingen die kirchlichen Behörden am Ende des 17. Jahrhunderts dazu über, die Visitation mit Hilfe von Fragebögen schriftlich durchzuführen und nicht mehr durch Augenschein vor Ort. 842 Vgl. dazu Hausberger: Langwerth von Simmern 205–208; Heim: Einführung (1996) XXV–XXX ; ders.: Matrikeln 390–392.

474  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  von verwaltungsrelevanten Daten« (Peter Thaddäus Lang)843 entwickelt hatten und sich von einem Instrument des Strafens zu einem Instrument des Verwaltens wandelten. Die Bistumsbeschreibung, die der bischöflich-regensburgische Registrator Joseph Jakob von Heckenstaller (1748–1832) zwischen 1782 und 1787 eigenhändig in zwei Exemplaren verfasste, knüpft zwar dann im Hinblick auf den Informationsgehalt wieder an Forsters Bistumsbeschreibung von 1665 an. Denn sie war wieder äußerst knapp gehalten. Sie enthält lediglich topographische Angaben über die Entfernung der einzelnen Ortschaften zu ihren Pfarr- und Filialkirchen.844. Aber ein konkretes Ereignis als Anlass für die Erstellung dieser Bistumsbeschreibung ist im zeitlichen Umfeld der Erstellung wieder nicht auszumachen. Ihr Anlass bestand im Streben nach Ordnung von Wissen in Tabellen und Listen.845 Hatte sich der Zusammenhang zwischen konkreten Ereignissen und den Bistumsbeschreibungen im 17. und 18. Jahrhundert gelockert, war er dann mit der Heckenstaller-Matrikel völlig gekappt worden. Ihr Zweck bestand nur mehr in der Ordnung von Information. Dabei zeigt sich die Unabhängigkeit der Bistumsbeschreibungen von äußeren Ereignissen, von denen sie nicht mehr veranlasst wurden, gerade darin, dass sie nun, seit dem Ende des 18. und vor allem seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, regelmäßigere Neubearbeitungen erfuhren. Denn wenn eine Bistumsbeschreibung ihren Zweck nur noch in sich selbst trägt, kann es nur mehr ihre eigene Obsoleszenz sein, welche eine Neubearbeitung nötig macht, wenn Veränderungen nicht mehr von konkreten Er­eignissen, sondern vom Lauf einer absoluten Zeit an sich abhängig gemacht werden sowie Erfahrungsraum und Erwartungshorizont aufgrund einer beschleunigten Zeitwahrnehmung auseinandertreten. Das regelmäßige Erscheinen neubearbeiteter Bistumsbeschreibungen war also eine Folge veränderter Zeitwahrnehmung. Ausdrücklich zeigte sich dies erstmals an der Bistumsbeschreibung, die der regensburgische Konsistorialregistrator Thomas Ried (1773–1827)846 auf staatliche Veranlassung hin 1812/1813 bearbeitete.847 Es sollten nämlich »die künftig sich ergebenden Veränderungen jährlich als Nachtrag zum Diöcesan-Status

843 Lang: Erforschung 191 f. 844 Vgl. dazu Heim: Einführung (1992) VII–XII; Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 333; Heim: Matrikeln 392 f. 845 Zum Drang der Aufklärung nach Ordnung durch Tabellierung und Listen vgl. Foucault: Überwachen 187–190. 846 Vgl. zu ihm Oefele: Ried 513 f. 847 Ried: Matrikel (3)–(8); vgl. dazu Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 333 f.; vgl. auch Gottswinter: Pfarreibeschreibungen 173–200 und Götz: München 81–113, welche die auf dieselbe staatliche Initiative hin hergestellte Beschreibung des Erzbistums München und Freising von 1817 behandeln.

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nachzuliefern« sein.848 Im Hinblick auch darauf handelte es sich bei Rieds Werk nicht zufällig um die erste auch tatsächlich gedruckte Beschreibung des Bistums Regensburg. Mit ihr war die Bistumsbeschreibung, die sich bereits vorher vom Strafen gelöst und in den Bereich der Verwaltung übergegangen war, nun in den Bereich des Wissens übergetreten. Dabei waren sowohl die Erwartung ihrer Obsoleszenz als auch die Veröffentlichung Voraussetzung und Folge gleichermaßen der vollständigen Verselbstständigung der Bistumsbeschreibungen vom administrativen Geschäft. Wer immer sie benutzen wollte, warum auch immer, konnte dies nun tun. Entsprechend eingeschränkt war deshalb aber noch ihr Informationsgehalt. Sie enthält nur knappe Angaben über die Zugehörigkeit der Ortschaften des Bistums zu kirchlichen und weltlichen Verwaltungsebenen, während Ried die Veröffentlichung weitergehender – ökonomischer und pastoraler – Angaben ausdrücklich verweigerte und sich als Leserschaft ausschließlich den Diözesanklerus wünschte.849 Rieds Bistumsbeschreibung stand noch zwischen Verwalten und Wissen. In ihr zeigt sich das Misstrauen des Verwaltungsmannes, der die Verselbstständigung eines administrativen Hilfsmittels spürte und dieser Entwicklung entgegenwirken wollte, ohne es zu können. Die Knappheit der Information der Regensburger Bistumsmatrikel von 1813 stand mit der veröffentlichten Form der Bistumsbeschreibung letztlich in einem Spannungsverhältnis, das eine publizistische Dynamik in Gang setzte, die den Umfang der dargebotenen Informationen in den folgenden Bistumsbeschreibungen schrittweise anwachsen ließ. Die von dem bischöflichen Sekretär Joseph Lipf (1805–1876)850 auf der Grundlage von eingesandten Fragebögen bearbeitete und 1838 veröffentlichte Bistumsmatrikel brachte dann die von Ried verweigerten Informationen. Neben der Tatsache, dass Rieds Matrikel vergriffen war, war es der Wunsch nach umfassenderen Angaben, der die Neubearbeitung veranlasste.851 Nach dem Vorbild des Erzbistums München und Freising sollten »umständlichere Nachrichten über den Bestand der Pfarreien und die gottesdienstlichen Verrichtungen in denselben« geboten werden.852 Die Matrikel von 1838 bot deshalb Angaben über den geographischen und personellen Umfang der Pfarreien, deren wirtschaftliche und rechtliche Verhältnisse sowie die pastoralen Aufgaben der darin wirkenden Priester. Einen Schritt weiter ging die 1863 veröffentlichte Bistumsmatrikel. Thematisch gingen die Informationen zwar nicht über die Bistumsmatrikel von 1838 hinaus, waren jedoch wesentlich detaillierter. Grundlage waren Pfarreibeschreibungen, welche die Pfarrvorstände zu verfassen hatten.853 Sie waren nicht Er 848 Ried: Matrikel (3). 849 Ebd. (4). 850 Vgl. zu ihm Ammer: Zusammensetzung 110 f. 851 Lipf: Matrikel III–VI; vgl. dazu Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 334 f. 852 Lipf: Matrikel III. 853 Matrikel 1863 III–XV; vgl. dazu Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 335.

476  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  gebnis einer Visitation, standen auch nicht an deren Stelle, sondern sollten eine solche vorbereiten und gleichzeitig zur Veröffentlichung einer neuen Bistumsbeschreibung dienen.854 Im Vergleich zur Bistumsbeschreibung von 1723/1724, als die Zwecke von Bistumsbeschreibung und Visitation in der statistischen Informationsbeschaffung zusammengefallen waren, waren nun die Zwecke der beiden administrativen Einrichtungen deutlich geschieden und hatte sich die zeitliche Zuordnung von Visitation und Bistumsbeschreibung, von Strafen und Verwalten, umgekehrt. Das Genre der Bistumsbeschreibung hatte nun die Stufe der absoluten Verzeitlichung erreicht. Diese beschränkte sich nämlich nicht nur 1.) auf den Zeitpunkt der Neubearbeitung, sondern erstreckte sich 2.) auch auf die Erhebungsmethode und 3.) auf die Auswahl der veröffentlichten Informationen. Als Grund für die Neubearbeitung wurde 1.) die Beschleunigung der Zeit angegeben: »Aber die Verhältnisse ändern sich, – in heutiger Zeit viel rascher und in viel größerem Maße als sonst; und so kam es, daß, zumal nachdem die Matrikel von 1838 vergriffen war, das Bedürfniß einer neuen hervortrat.«855 Mit der Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit wurde 2.) auch die Fragebogenmethode gerechtfertigt. Als Berichterstatter erschien der Pfarrvorstand nicht nur deshalb geeignet zu sein, da er »mitten in den Verhältnissen lebt und sie am besten kennen muß, unmittelbar aus dem Leben schilderte und als nach dem besten Wissen gemacht an die oberhirtl. Stelle übergab«, sondern auch deshalb, da die Erstellung der Bistumsmatrikel aus den Akten heraus eine langwierige Arbeit gewesen wäre, »unterdessen hätten aber die Dinge den Wechselgang alles Irdischen fortgesetzt« und die Vorarbeiten wären vor ihrer Publikation veraltet gewesen.856 Schließlich wurde 3.) auch der Umfang der dargebotenen Informationen von der Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit bestimmt. Denn »wegen der oft raschen Veränderlichkeit mancher Ansätze ist eine mehr in’s Einzelne gehende Darlegung der verschiedenen Einnahms- und Ausgabs-Posten unterblieben«. Und von der Angabe der Pfründegröße wurde wegen der »projectirten Zusammenlegungen und Arrondirungen der Grundstücke, durch häufiger werdende Verkäufe sowie andererseits durch Ankäufe von liegenden Gütern mittelst verloos’ter Grundrenten-Ablösungs-Kapitalien« abgesehen, da deshalb »sehr viele und weitgreifende Veränderungen in den nächsten Jahren bevorstehen«.857 Denn Ziel der Bistumsbeschreibung war nicht nur eine »vollständige«, sondern auch eine »genaue« Bistumsbeschreibung, ja »die größte Genauigkeit«, da die »Aufgabe eines solchen Buches darin besteht, möglichst treu« nicht nur den »gegenwärtigen«, sondern auch den »thatsächlichen Bestand der Dinge 854 Bischöfliche Verordnung vom 10.10.1859. In: Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1859 124–135, hier 124. 855 Matrikel 1863 VII. 856 Ebd. VIII. 857 Ebd. XIV.

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niederzulegen«.858 Kriterium für die Auswahl der veröffentlichten Daten war also nicht etwa die Praktikabilität der Bistumsmatrikel als Informationsquelle für den Seelsorgeklerus, wie noch von Ried angedeutet, sondern das Streben nach Gewissheit. Die Wahrnehmung einer beschleunigten Zeit und das Streben nach statischer Gewissheit sollten in diesem Instrument einer heterotopisierten Kirche zur Deckung gebracht werden. Daraus entstand ein Widerspruch, der dadurch gelöst wurde, dass kontingente Informationen zwar gesammelt, aber nicht veröffentlicht wurden, wie ein Vergleich des Fragenkatalogs mit den tatsächlich veröffentlichten Daten zeigt. Während der Fragenkatalog besonderen Wert auf liturgische Unklarheiten und strittige Rechtsverhältnisse legte, wurden keinerlei derartige Informationen veröffentlicht. Die Bistumsmatrikel von 1916 stellte dann einen weiteren Schritt vom Verwaltungsmittel zur Wissensgenerierung dar. Als Grund für die ab 1911 vorbereitete Neubearbeitung wurde lediglich ein »allgemein empfundenes Bedürfnis einer Neuherausgabe« angegeben. Dabei sollte die Bistumsmatrikel eigentlich wieder stärker in die kirchliche Behördenstruktur eingebunden werden. »Dem praktischen Interesse des Seelsorger zu dienen« war erstmals ausdrücklich »Hauptziel« bei der Abfassung einer Bistumsbeschreibung: »Möge das neue Werk den hochwürdigen Seelsorgepriestern ein Führer sein zum Verständnis der Pfarrei und ein Wegweiser zu einer systematischen Durchforschung der Geschichte unserer altehrwürdigen Diözese!« Deshalb wurde der Umfang der veröffentlichten Informationen auch um Angaben über die außerordentlichen liturgischen Verrichtungen, die Pfründegebäude, das Schulwesen, die Wohltätigkeitseinrichtungen, die Behördenverhältnisse und die sozialen Vereine erweitert, wodurch die Bistumsmatrikel den Charakter eines »statistischen geistlichen Amtshandbuches« bekommen sollte859. Diesem Charakter stand entgegen, dass die Bistumsmatrikel von 1916 erstmals auch Angaben über die Geschichte der Pfarreien enthielt, sie sich also in dieser Hinsicht von der Verwaltung weg und zur Wissensbeschaffung hinbewegte. Die gesamte Geschichte der Bistumsbeschreibungen zeigt, dass sie sich im Spannungsfeld von administrativem Geheim-Wissen und öffentlichem wissenschaftlichem Wissen bewegten. Führte das Streben nach administrativem Wissen zu Verzeitlichung, so das wissenschaftliche Wissen zu Entzeitlichung. Dabei ist gerade in den historiographischen Informationen der Bistumsmatrikel von 1916 ein erster Schritt zur Entzeitlichung zu sehen, um dadurch Brauchbarkeit zu sichern. Die gedruckten Regensburger Bistumsbeschreibungen waren im 19. Jahrhundert etwa im Abstand einer Generation neu bearbeitet worden, was der modernen intergenerationalen Beschleunigungswahrnehmung entsprach. Mit zunehmender Beschleunigung, die sich schließlich intragenerational 858 Ebd. VII f. 859 Ebd. III; vgl. dazu Mai: Diözesanmatrikeln (1992) 335 f.

478  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  vollzog, konnten sie nicht mehr Schritt halten und drohten deshalb obsolet zu werden. Deshalb vergrößerten sich die Publikationsabstände letztlich wieder.860

17. Die heilige Kleinfamilie Voraussetzung für soziale Beschleunigung ist die Trennung von Arbeit und Leben. Erst mit der Reinigung der Arbeit von lebensweltlichen Bezügen durch die Industrialisierung konnte sich zeitökonomische Rationalität in der Arbeit durchsetzen. Deshalb drehte sich der Arbeitskampf auch um die Länge des Arbeitstages.861 Dabei lässt sich Beschleunigung an der Veränderung der Generationenstrukturen beobachten. Die Veränderung geht von einer intergenerationalen zu einer generationalen, schließlich zu einer intragenerationalen Beschleunigung – von der Vererbung der Berufe über den Lebensberuf bis zu mehreren Berufen in einem Leben. Lebensberuf und bürgerliche Kleinfamilie können deshalb als Signum des generationalen Tempos gelten.862 Unter den Bedingungen stratifizierter Gesellschaft herrschte ein Familienbild, das generational, verwandtschaftlich und funktional nicht differenziert war. Arbeit und Familie waren identisch. Die Arbeit war aus der Familie nicht ausdifferenziert. Die lohnlose Mitarbeit von Verwandten stand neben der Einbeziehung von nichtverwandten Arbeitsgehilfen. Diese Großfamilie umfasste mehrere Generationen. Zwischen ihnen gab es keine scharfe Trennung. Üblich war das Aufwachsen der Kinder mit Stiefvater oder Stiefmutter, die jünger sein konnte als das älteste Kind der ersten Frau. Kindererziehung war geschlechtlich und generational differenziert, d. h. die männlichen Kinder wurden von den männlichen Familienangehörigen in ihre Pflichten eingeführt, die weiblichen Kinder von den Frauen. Es bestand die Vorstellung einer die Generationen überdauernden Familie. Deshalb konnte die Eheschließung nicht als Neugründung einer Familie verstanden werden, die Vorstellung einer Liebesheirat konnte nicht entstehen.863

860 Die nächste Regensburger Bistumsmatrikel nach 1916 erschien erst wieder 1997. Zu den Publikationsabständen der Bistumsbeschreibungen der bayerischen Diözesen vgl. »Übersicht 1: Gedruckte Pfarr- bzw. Bistumsbeschreibungen des 19. und 20. Jahrhunderts aus kirchlicher Provenienz (Bayern)«. In: Kirchinger: Vielfalt 385–387. 861 Rosa: Beschleunigung 273. 862 Ebd. 179 und 182. – Für den Frühneuzeithistoriker Stefan Brakensiek ist die Frage nach der Bedeutung des Generationenkonzepts bei der Deutung historischen Wandels noch nicht endgültig beantwortet, da es auch Epochen gab, denen die Vorstellung von Generationen fremd war. Er sieht deshalb darin eher ein heuristisch wertvolles Konzept. Vgl. Brakensiek: Erfahrungen 55. 863 Zur Großfamilie der stratifizierten Gesellschaft vgl. Hermsen: Faktor 88; Luhmann: Liebe 163–182.

Die heilige Kleinfamilie  479

Industrialisierung und Kapitalisierung des Wirtschaftslebens, vor allem die damit verbundene Arbeitsteilung, führten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Bürgertum zur Auflösung der traditionellen Hauswirtschaft, d. h. zu einer zunehmenden Trennung von Erwerbs- und Familienleben. Die bürgerliche Familie wurde aus dem Produktionsprozess ausgegliedert und das Gesinde aus dem Familienverband gedrängt. Das Familienbild reduzierte sich auf die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Die Familie wurde zum Ort der emotionalen Kompensation des rationalen Arbeitslebens. Aus der ökonomischen Zweckmäßigkeitsehe wurde eine Liebesehe; so zumindest die bürgerliche Idealvorstellung  – der Rahmen ökonomischer Rücksichtnahmen bei der Eheschließung hatte sich nicht aufgelöst, aber gelockert. Der Erwerbscharakter der weiblichen Arbeit verschwand und wurde auf die Bereiche von Reproduktion, Sozialisation und Konsumtion beschränkt.864 In dem Maße, in dem die Kindererziehung in den Mittelpunkt der hausfraulichen Aufgaben rückte, wurde sie aber auch aufgewertet und die Kindheit wurde erstmals als eigenständige Lebensphase wertgeschätzt.865 Die Beziehung der Mutter zum Kind wurde zum »Kernbereich der bürgerlichen Familienkonzeption« (Jürgen Reyer).866 Diese Geschlechter- und Familienverhältnisse herrschten nur in einer schmalen Schicht ökonomisch potenten städtischen Bürgertums vor, das es sich leisten konnte, auf den Erwerbscharakter der Frauenarbeit zu verzichten.867 Da sie aber integraler Bestandteil der bürgerlich-kapitalistischen Ordnungsvorstellungen waren, welche sich im Kampf des Bürgertums um ökonomische und politische Macht verbreiteten, wurden sie biologistisch-naturwissenschaftlich legitimiert, mit schichtübergreifendem Allgemeinheitsanspruch versehen und dadurch zur Familiennorm. Die bürgerliche Kleinfamilie wurde zum reproduktiven Leitbild des 19. Jahrhunderts normalisiert.868 Von katholischen Autoren wurde das intergenerationale Familienbild der stratifizierten Gesellschaft noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts propagiert. Adam Müller sah im Staat 1809 »nicht bloß die Verbindung vieler neben einander lebender, sondern auch vieler auf einander folgender Familien«.869 Für 864 Zur Entstehung des bürgerlichen Familienbildes und der spezifisch bürgerlichen Ar­ beits­teilung von Mann und Frau vgl. Bock / Duden: Arbeit 118–199; Gerhard: Verhältnisse 81–95; Schütze: Mutterliebe 123–132; Sachße: Mütterlichkeit 98–100; Reyer: Mütter 108–127. Zur systemtheoretischen Perspektive auf die Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie vgl. Schlögl: Glaube (1995) 288–291 und 320 f. 865 Zur Stellung des Kindes in der bürgerlichen Kleinfamilie vgl. Ariès: Geschichte 469– 556; Schulz: Lebenswelt 3–9; Shorter: Wandel 256–287. 866 Reyer: Mütter 126. 867 Vgl. dazu Gerhard: Verhältnisse 124–153; Haupt: Berufskarrieren 142–160. 868 Sachße: Mütterlichkeit 94–103; Hausen: Öffentlichkeit 81–88; dies.: Polarisierung 363– 393; Honegger: Ordnung; Frevert: Mann 13–60; Reyer: Mütter 162–166. Vgl. dazu auch Link: Versuch 143–146. 869 Müller: Elemente I 60.

480  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Périn war die Familie noch 1878 nicht generational beschränkt: »Ohne die Tradition ist die Familie nur mehr eine hinfällige Anhäufung und Aneinanderreihung von individuellen Existenzen, welche das Interesse dieses Augenblickes bildet und das des nächsten schon auflöst. Ohne die Tradition gibt es keine Familie mehr.« Die Erbfolge diente ihm dementsprechend in erster Linie dazu, dass die Söhne den Vätern im Beruf folgen konnten.870 Bereits im frühen 19. Jahrhundert, verstärkt aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, hatte bei katholischen Autoren jedoch eine Umorientierung zum bürgerlichen Familienbild stattgefunden. Gaume identifizierte die Heilige Familie im Jahr 1845 mit der bürgerlichen Kleinfamilie: Die ewige Weisheit vollendete ihr Werk. Nach dem neuen Plane errichtete sie eine Familie, welche die Sprache aller Zeiten die heilige Familie nennt. Hier sind alle ursprünglichen Charaktere wieder hergestellt; hier sind alle daraus fließenden Pflichten erfüllt; mit einem Wort, hier sind alle wahren Gesetze der häuslichen Gesellschaft vollzogen: Joseph, Maria, Jesus sind die ewig geweihten Namen des Vaters, der Mutter und des Kindes, aus denen sie besteht.871

Die Heilige Familie wurde zum Urtyp der bürgerlichen Kleinfamilie gestaltet, was bereits Karl Marx in der vierten These über Feuerbach 1845 aufgefallen war.872 Entsprechend der bürgerlichen Kleinfamilie wurde die Heilige Familie ikonographisch nachweisbar auf die Beziehung zwischen Joseph, Maria und dem Jesuskind beschränkt.873 Profanes und religiöses Leitbild glichen sich an. Hildegard Erlemann spricht deshalb von einer »Dichotomie von Säkularisierung der Hl. Familie und Sakralisierung der christlichen Familie«.874 So habe sich aus der Heiligen Familie »eine zur platten Eindeutigkeit reduzierte und profanierte, ideale kleinbürgerliche Familiengemeinschaft« entwickelt.875 Die Heilige Familie habe sich zum »eindimensionalen Vorbild für konservativen Verhaltensnormen« verengt.876 Dabei wurde die Verehrung der Heiligen Familie von der katholischen Kirche mit Nachdruck propagiert. 1892 errichtete Papst Leo XIII. den »Allgemeinen Verein der christlichen Familien zu Ehren der Heil. Familie von Nazareth«, Organ war die Zeitschrift »Die heilige Familie«.877 Daneben entstanden zahl 870 Périn: Politik 245 f. 871 Gaume: Geschichte II 178. 872 Vgl. Löwith: Weltgeschichte 58. 873 Erlemann: Familie 15 f. 874 Ebd. 172. 875 Ebd. 201. 876 Ebd. 177. Vgl. dazu auch Hämmerle: Funktionen 255; Lutterbach: Gotteskindschaft 320 f. 877 Erlemann: Familie 172–197; Lutterbach: Gotteskindschaft 350–362.

Die heilige Kleinfamilie  481

reiche geistliche Frauengemeinschaften, so genannte Kongregationen, die die Heilige Familie in ihrem Namen führten.878 Dadurch war die katholische Kirche wesentlich an der Verbreitung des kulturellen Leitbildes der bürgerlichen Kleinfamilie beteiligt.879 Dies zeigt sich auch an der Entwicklung der Kinderbildung zum katholischen Kernanliegen im 19.  Jahrhundert.880 Der Historiker David Blackbourn sieht in den grassierenden Marienvisionen durch Kinder eine Folge der mit der Entstehung der Kleinfamilie verbundenen »Idealisierung des Kindes als Inbegriff von Reinheit und schlichtem Glauben«.881 Übereinstimmend damit sieht der Kirchenhistoriker Hubertus Lutterbach darin eine Wertschätzung des Kindes als Verkörperung vorrationaler Ideale. Lutterbach spricht von einer »jesuskind- und gotteskindzentrierten Spiritualität« der ultramontanen Kirche.882 Dies habe vor dem Hintergrund der veränderten Mutterrolle in der Kleinfamilie zu einer Bedeutungssteigerung von Maria geführt, wobei Lutterbach in den gehäuften Marienerscheinungen des 19. Jahrhunderts das Mutter-Kind-Verhältnis der bürgerlichen Kleinfamilie reproduziert sieht, da vor allem Kinder Empfänger der Prophezeiungen waren.883 Die ultramontane Kirche sei deshalb wesentlich geprägt von der »Hinorientierung auf das Jesuskind, auf die Gotteskindschaft und auf die Heilige Familie«.884 Die Übernahme des bürgerlichen Leitbilds der Kleinfamilie durch katholische Theologen bedeutete auch, dass Eingriffe der Eltern in die Biographie der Kinder zunehmend begrenzt wurden. Linsenmann lehnte elterliche Eingriffe in die Standes- und Berufswahl der Kinder 1878 genauso als Sünde ab885 wie Lorinser 1883.886 Dabei stand das Christentum durch die Forderung nach dem Konsens der Gatten statt der Eltern seit jeher für eine Entwertung der intergenerationalen Abstammung als Grundlage der Ehe zugunsten der generationalen Paarbeziehung.887 Gaume war sich dessen 1845 durchaus bewusst: »Während bei den Römern der emancipirte Sohn immer minderjährig blieb, so lange sein Vater lebte, setzte die Kirche ein Alter der Mündigkeit für ihn fest und gab ihm das bürgerliche Recht, besitzen, erwerben und Zeuge seyn zu können.«888 Deshalb lehnte Gaume den Einfluss der Eltern auf die Standes- und Berufswahl ab: »Da der Mensch seine Berufung empfangen hat, da es ihm eben so wenig freisteht, […] seiner Größe eine Spanne zuzusetzen oder die Farbe eines seiner Haare zu 878 Ebd. 362–381. 879 Gabriel: Christentum 76–79. 880 Vgl. Lutterbach: Gotteskindschaft 381–391. 881 Blackbourn: Marienerscheinungen 185 f. 882 Lutterbach: Gotteskindschaft 322–324. 883 Ebd. 334–343. 884 Ebd. 390. 885 Linsenmann: Lehrbuch 284. 886 Lorinser: Lehre 369–371. 887 Vgl. Angenendt: Ehe 104; Dilcher: Ehescheidung 312–315; Schwab: Ehe 95 f. 888 Gaume: Geschichte II 323.

482  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  verändern, so folgt daraus, daß die Wahl seines Standes im Leben nicht unter die Gewalt der Eltern gehört.« Denn jeder Mensch habe eine Berufung, »die er sich nicht gegeben, sondern die er empfangen hat. Sie zu erkennen, ihr zu folgen, ihre Pflichten mit Treue und Beständigkeit zu erfüllen, das sind die unerläßlichen Bedingungen des individuellen Glückes und der allgemeinen Harmonie.«889 Deshalb wertete er die Bindung der Kinder an die intergenerationale berufliche Struktur der Familie als Zeichen von Entchristlichung.890 Der Übergang von der intergenerationalen zur generationalen Folge trug zur Synchronisation der Geschwindigkeit des katholisch-religiösen Systems mit seiner beschleunigten Umwelt bei. Die Auflösung der intergenerationalen Groß­familie wurde im sozialethischen Diskurs dann auch als beschleunigender Faktor wahrgenommen. Joerg beklagte in den Historisch-politischen Blättern 1865, dass »jede corporative Gestaltung, die von den Vätern auf die Kinder vererbt wird«, in den »allgemeinen Fluß der Beweglichkeit gebracht« werde. Dem Liberalismus gehe es darum, »die Corporationen des Bürgerthums zu pulverisiren und die chemische Auflösung des ganzen Menschengeschlechts, wie der Bischof von Mainz [Wilhelm Emmanuel von Ketteler] sich ausdrückt, in flottirende Individuen einzuleiten«, und zwar durch Gewerbefreiheit und Bodenmobilisierung.891 Der klerikale Arbeiterfunktionär Pieper bewertete die Herauslösung der Gesellen aus der Hausgemeinschaft des Handwerksmeisters 1908 ebenfalls als Faktor sozialer Beschleunigung: Immer seltener finden wir den Lehrling in die Hausgemeinschaft des Lehrherrn aufgenommen; beim jugendlichen Arbeiter ist dies schon an sich ausgeschlossen. Im Arbeitsverhältnis steht der Lehrling dem Meister heute weit freier gegenüber, während der Geselle gleich dem Industriearbeiter auf den Boden des freien Arbeitsvertrages getreten ist.

Deshalb würden die Jugendlichen »viel eher selbständig«. Und deshalb bedürfe der Jugendliche des Schutzes, »da einmal die Gefahren gewachsen sind, da zum andern Mal eine Reihe schützender Schranken fielen«.892 Die Kleinfamilie stellte das soziale Leitbild des Regeldispositivs dar. Denn in ihr bündelten sich die zeitlichen und sozialen Normalisierungsprozesse des Regeldispositivs. Die Realität der amorphen Großfamilie mit ihren unklaren generationalen und funktionalen Strukturen wurde durch ein homogenes Leit 889 Ders.: Geschichte III 236. 890 Ebd. 236: »In unserer dem Christenthume entfremdeten Familie jedoch ist der Beruf der Kinder die Angelegenheit, worüber man sie am Wenigsten befragt. Die Eltern entscheiden darüber mit einer unglaublichen Leichtfertigkeit; oft thun sie es a priori mit unbeschränkter Gewalt. Zu wissen, ob Gott ihren Sohn oder ihre Tochter zu diesem oder einem andern Stand bestimme, das ist die letzte ihrer Sorgen: sie denken gar nicht daran.« 891 Joerg: System 51 f. 892 Pieper: Jugendfürsorge 7–9.

Die Kontinuierung des Duals Heilig / Profan  483

bild ersetzt. Homogenisiert wurde es durch die Ausdifferenzierung aller ökonomischen Funktionen und die Reduktion auf die Reproduktion. Dies machte die Kleinfamilie nicht nur zum sozial beschleunigenden Faktor, sondern auch zum Mittel, diese handhabbar zu machen. Gaume betrachtete die Erziehung der Kinder 1851 als Mittel zur Heilung der Zukunft, da die Gegenwart angesichts einer sich beschleunigenden Zeit ohnehin nicht zu retten war.893 Die von Erlemann angesprochene Sakralisierung der bürgerlichen Kleinfamilie ist deshalb eine Konkretion der Umorientierung der katholischen Sozialethik vom Strafen zum Verwalten, vom Tod zum Leben, eine Konkretion der Bio-Macht. Die Familie in ihrer bürgerlichen Form war für die katholische Kirche des 19. Jahrhunderts von bevölkerungspolitischem Nutzen, was das erstarkte Interesse an ihr erklärt und die Gereiztheit, mit der familienpolitische Konflikte ihrerseits geführt wurden.894

18. Die Kontinuierung des Duals Heilig / Profan Die bürgerliche Kleinfamilie war nicht nur zur Norm geworden, sie wurde zur natürlichen Familienform biologisiert und dadurch normalisiert, was sie als Faktor der Bio-Macht ausweist. Diese von Foucault so genannte Bio-Macht wurde nicht mehr auf rituelle, zeremonielle und nichtkontinuierliche Weise ausgeübt, sondern durch »permanente Überwachungs- und Kontrollmechanismen« zu einem Kontinuum gemacht. Der lückenhafte Charakter der Macht, der sich auf Punkte, Zonen, Individuen und Gruppen bezog, wurde durch die Durchdringung des gesamten Gesellschaftskörpers ersetzt.895 Dies geschah eben durch Normalisierung, die sich nach Foucault über die Stufen Vergleich, Homogenisierung, Kontinuierung, Quantifizierung, Statistik, Durchschnittskalkül und Ausdifferenzierung des Normalitätsfeldes entwickelte.896 Ergebnis ist eine weitgehende kontinuierte und normalisierte soziale Homogenität. Dieser Normalisierungsprozess erstreckt sich auch auf das Religiöse, indem das spezifisch religiöse diskontinuierliche Dual von Heilig und Profan kontinuiert, also eingeebnet und damit ein Beschleunigungshindernis beseitigt wurde.897 Eine besonders stark ausgeprägte Diskontinuität zwischen heilig und 893 Gaume: Wurm VI. 894 Vgl. etwa die so genannten Kölner Wirren, die seit dem Übergang von einer konzilianten zu einer strikten Haltung in der Mischehenfrage in der Amtszeit des Kölner Erzbischofs Clemens August Droste zu Vischering zu einem spektakulären Konflikt zwischen Staat und Kirche in Preußen führten. Vgl. Keinemann: Ereignis. 895 Foucault: Anormalen 115–118. 896 Vgl. ders.: Wille. Vgl. dazu Link: Versuch 117. 897 Trotz der christlichen Wurzeln der Beschleunigungserfahrung sieht Rosa in Religiosität ein Beschleunigungshindernis, da Sakralzeiten ein Element der Statik darstellten. Vgl. Rosa: Beschleunigung 287.

484  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  profan ist ein Kennzeichen des Katholischen. Es gibt profane und heilige Handlungen (Arbeit und Gebet), Zeiten (Alltag und Feiertage), Orte (Wohnhäuser und Kirchen) und Personen (Laien und Kleriker).898 Die Reformation bedeutete durch die Heiligung des alltäglichen Handelns eine Kontinuierung aller dieser Diskontinuitäten, stärker nach calvinischem, schwächer nach lutherischem Verständnis. Max Weber beschreibt die calvinische innerweltliche Askese als derartige Kontinuierung. Auch seiner Ansicht nach war das Leben des Katholiken nicht kontinuierlich. Es stellte aufgrund der Möglichkeit, Sünden durch das Sakramentsangebot der Kirche auszugleichen, »eine nicht notwendigerweise zu einem Lebenssystem rationalisierte Reihe einzelner Handlungen« dar, je nach Gelegenheit zum Ausgleich konkreter Sünden oder als »Versicherungsprämie«. Deshalb spricht Weber von dem »katholischen, echt menschlichen Auf und Ab zwischen Sünde, Reue, Buße, Entlastung, neuer Sünde«. Die guten Werke galten den Calvinisten dagegen umgekehrt als Zeichen des Heils, wovon sie die Gnadengewissheit ableiteten. Anders als der Katholik konnte der Calvinist Sünden nicht ausgleichen. Die Spannung, die sich daraus ergab, habe nach Weber zu einer »zum System gesteigerten Werkheiligkeit« geführt, einer »konsequenten Methode der ganzen Lebensführung«.899 Weber spricht von der »Suprematie des planvollen Wollens« über Leidenschaften und Triebe.900 Den Calvinismus kennzeichnete deshalb eine »Tendenz zur Uniformierung des Lebensstils«, wie er sich etwa auch im kapitalistischen Drang nach Standardisierung äußere.901 Das Regeldispositiv, dessen prophylaktisches Streben nach Berechenbarkeit sich aus dem diätetisch-dämonomanischen Charakter des Exorzismusdispositivs herausentwickelt hatte und bereits lautstark eine methodische Lebensführung propagierte,902 ebnete diese katholischen Ungleichmäßigkeiten nicht völlig ein, verringerte aber die Amplituden. Adam Müller war 1809 in den »Elementen der Staatskunst« noch ein Gegner jeglicher sozialer, juristischer, kultureller und mentaler Kontinuierung, die seiner Beobachtung nach von den »Kosmopoliten in unseren Tagen« gefordert worden sei. Die geschichtliche Entwicklung der Gesetze gering schätzend, 898 Vgl. dazu Scribner: Order 1–16. 899 Weber: Ethik 152–155. 900 Darin sei der Calvinismus dem mittelalterlichen Mönchtum verwandt, wobei die Askese im Calvinismus innerweltlich gewesen und im Mönchtum außerweltlich geblieben sei. Vgl. Ebd. 155–157. 901 Ebd. 192. Scribner weist allerdings darauf hin, dass diese Normalisierung breite protestantische Schichten nicht erreicht habe. Deren Alltagsleben sei nach wie vor vom Dual von heilig und profan geprägt gewesen. Vgl. Scribner: Auswirkungen. Trotz allem stellt aber auch Scribner eine normalisierende Verringerung des Gegensatzes zwischen heilig und profan fest. Er selbst behauptet ein »sakralisiertes, aber eben nur schwach sakramentales Universum« des Protestantismus (Ders.: Reformation 388). 902 Vgl. Kapitel V.2.

Die Kontinuierung des Duals Heilig / Profan  485

weil die Figur der einzelnen Europäischen Staaten gewissen geometrischen Begriffen, die Gesetzessammlungen derselben gewissen Systemen und die ganze Haushaltung der Staaten gewissen arithmetischen Exempeln und gewissen Vorstellungen einer äußeren Symmetrie nicht angemessen waren,

verlangten sie: »Ein Herr, Ein Gesetz, Ein Kalender, ein Münze-Maß und Gewicht über dem ganzen Erdboden«.903 Im Gegensatz dazu forderte Périn 1876 dann die globale Uniformierung des kirchlichen Lebens: Einer der Charakterzüge, an welchen sich die Überlegenheit der modernen Welt über die heidnische darthun läßt, ist die immer vollkommener und unaufhaltsamer hervortretende Einheit, welche sich über den ganzen Erdkreis hin zwischen allen getrennten Gliedern der großen Menschenfamilie und zwischen allen Klassen jeder staatlichen Familie anbahnt.904

Der erste Schritt der Kontinuierung bestand in einer bereits im Vormärz beginnenden sozialen Homogenisierung des Klerus, durch Zentralisierung, Bürokratisierung und Professionalisierung.905 Durch Dienstprüfungen, die so genannten Konkurse, wurde die priesterliche Berufung in eine funktionale Profession überführt. Die soziale Distanz der Kleriker zu außerkirchlichen Funktionseliten verringerte sich.906 Gleichzeitig wurden die Gottesdienstformen homogenisiert. 1853 wurde im Bistum Regensburg das bisher verwendete so genannte »kleine Ritual«, ein Liturgiehandbuch ortskirchlicher Tradition, außer Gebrauch gesetzt, »damit jede Verschiedenheit in den kirchlichen Funktionen vermieden werde«.907 1860 wurden im Bistum Regensburg die Paramente vereinheitlicht.908 Dabei bezog die liturgische Homogenisierung erstmals auch das Kirchenvolk im Sinne einer Verkirchlichung mit ein. Lokale Frömmigkeitstraditionen wurden zentralistisch umorientiert. Für Schlögl bedeutet dies einen »Normalisierungsdiskurs« im überlokalen Horizont.909 Der Katholizismusforscher Siegfried Weichlein bezeichnete die Bonifatiusverehrung des späten 19. Jahrhunderts als »Musterfall einer binnenkirchlichen Standardisierung der Frömmigkeitstraditionen« im Dienste der Verkirchlichung von Religion. Dies zeigte sich dann besonders plakativ, als sich die deutschen Bischöfe seit 1856 am Bonifatiusgrab in Fulda zur Vollversammlung trafen.910

903 Müller: Elemente I 78 f. 904 Périn: Politik 8 f. 905 Vgl. dazu auch Kapitel V.14. 906 Vgl. Schlögl: Glaube (1995) 144–155. 907 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 (24.8.853). 908 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1860 (23.4.1860). 909 Schlögl: Glaube (2013) 298. 910 Weichlein: Konfession 200–202.

486  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Diese homogenisierenden liturgischen Reformen bedeuteten eine Kontinuierung des Duals von Heilig und Profan in zeitlicher Hinsicht. Dies zeigt sich an der 1884 auf die ganze Welt ausgedehnten Ewigen Anbetung. Jeden Tag sollte jede Stunde irgendwo auf der Welt die geweihte Hostie zur Anbetung ausgesetzt werden.911 Am 1. Juni 1894 propagierte Senestrey die Einführung der Ewigen Anbetung für sein Bistum mit den Worten: Diese Anbetung soll fortan ununterbrochen stattfinden, indem jede Pfarrei, ja auch Exposituren und Filialen einen ganzen oder halben Tag zugetheilt erhalten und sich dann regelmässig und alle Jahre durch die ganze Diöcese in der Anbetung des Allerheiligsten nach der von Uns bestimmten Ordnung ablösen.912

Dabei sollten diese liturgischen Reformen auch zu einer Kontinuierung des Duals von Heilig und Profan in räumlicher Hinsicht führen, so etwa als Senestrey 1893 die Verehrung der Heiligen Familie propagierte: »So soll es alle Tage, so soll es in allen Familien, so soll es in allen Ländern und Erdtheilen sein, wo Christen leben und um das Bild der heiligen Familie sich schaaren. Jede Familie soll, so viel möglich, ein treues Nachbild der heiligen Familie von Nazareth sein oder werden.«913 Einen weiteren Kontinuierungsschub bedeutete für das Dual von Heilig und Profan die katholische Entdeckung der Massen. Im Jahr 1851 begann das bischöfliche Ordinariat von Regensburg bereits mit der Vereinheitlichung des Bruderschafts- und Andachtswesens.914 In allen Diözesen wurden lokale Bruderschaften zugunsten von Einheitsbruderschaften zurückgedrängt. Diese repräsentierten nicht mehr lokale Bedürfnisse, sondern eine »›Allgemeinheit‹ sozialer Ordnung« (Rudolf Schlögl).915 Das katholische Vereins- und Pressewesen ging noch darüber hinaus und habe einen »Strukturwandel von der bürgerlichen Elitenkultur zur industriekapitalistischen Massenkommunikationsgesellschaft« bewirkt, so der Kulturhistoriker Gangolf Hübinger.916 Die katholische Religiosität habe sich nach Altermatt »von einer populären Volks- zu einer popularisierten Massenreligion, die das Gepräge einer von oben gesteuerten Massenkultur annahm«, gewandelt. Die Spannung zwischen Eliten- und Volksreligiosität habe dadurch abgenommen.917 Die Massenreligiosität ersetzte die Mitgliederbindung aufgrund persönlicher Sozialbeziehungen, die in Nationalstaaten, die auf Massenkommunikation basierten, nicht mehr funktionierten. Im konstitutionellen 911 Verhandlungen der XXXI . General-Versammlung der Katholiken Deutschlands 195–197. 912 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1894 (1.6.1894). 913 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1893 (27.1.1893). 914 Oberhirtliche Verordnungen 601 f. 915 Schlögl: Glaube (2013) 298 f. 916 Hübinger: Säkularisierung 97. 917 Altermatt: Katholizismus (1991) 69

Die Kontinuierung des Duals Heilig / Profan  487

System war das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nicht mehr Angelegenheit von Episkopat und Regierung, sondern es kam auf die Massen an.918 Es kam zu Veräußerlichungen, Kitsch und Mittelmäßigkeit.919 Dabei erweiterte sich der kirchliche Partizipationsraum der Laien auf Kosten der virtuosen Konkurrenten.920 Die tendenzielle Einebnung der Differenz zwischen Klerikern und Laien beschränkte sich nicht mehr auf die weltlichen Funktionseliten, sondern erstreckte sich nun auch auf die kirchlichen Massen. Verkirchlichung war letztlich Homogenisierung, war Einebnung der sozialen, zeitlichen und räumlichen Konkretionen des Duals von Heilig und Profan, was der im Exorzismusdispositiv erfolgten Heterotopisierung der Kirche wieder entgegenwirkte – aber nicht wie im Gnadendispositiv auf göttlicher, sondern auf menschlicher Grundlage. Nach sozialer Normalisierung strebte dann die neuscholastische Sozialethik mit ihrem Leitbild der klassenlosen, graduell skalierten Mittelstandsgesellschaft.921 Für biographische Normalisierung sorgten die Übernahme des bürgerlichen Familienbildes und die Bemühungen um die Transformation von Gefahren in Risiken durch die Sozialversicherungen. Denn die Sozialversicherungen führen zu einer Normalisierung des Lebenslaufs. Soziales und chronologisches Alter wurden zur Deckung gebracht. Es entstand der am Erwerbssystem organisierte, vorhersehbare Normallebenslauf. Die Sozialpolitik funktionierte nicht mehr über die Integration in lokale oder ständische Kollektive, sondern über die Definition eines standardisierten Lebenslaufs.922 Vor allem die Altersversicherung erbrachte dieses Normalisierungsleistung, indem sie das Alter definierte und feste Altersgrenzen installierte. Das dreiteilige Lebenslaufkonzept (Jugend/ Ausbildung, Berufstätigkeit/Erwachsensein, Alter/Ruhestand) galt zwar bereits vor der Industrialisierung.923 Allerdings gab es keine sanktionierten Altersgrenzen. Der körperliche Verfall, der Rückgang der Leistungsfähigkeit und damit die Vorbereitung auf den Tod – Merkmale, die für das Alter als kennzeichnend wahrgenommen wurden  – mussten selbst eingeschätzt werden.924 Die Sozialversicherungen brachten dann die Normierung von Zeitpunkt und Konditionen des Ruhestandes. Durch die Altersversicherung wurde das arbeitsfreie Alter von einem Privileg der Besitzenden zu einem Rechtsanspruch, indem die durch die Arbeit erworbenen Versicherungsleistungen zum Eigentum wurden.925 Der berechenbare standardisierte Lebenslauf wurde zu einer der wichtigsten Ver 918 Ebertz: Organisierung 49–52. 919 Ebd. 56–63. 920 Ebd. 70. 921 Vgl. Kapitel V.9. 922 Zur sozialen Bedeutung des standardisierten Lebenslaufs vgl. Kaufmann: Leitbild 101; Kohli: Gesellschaftszeit 183–191; Huf: Sozialstaat 177–188; Ehmer: Lohnarbeit. 923 Vgl. Göckenjan: Alter 97–99. 924 Vgl. ders. / Taeger / Haupt: Altersbilder 223–228. 925 Vgl. Ebd. 228–236.

488  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  mittlungsinstanzen zwischen Individuum und Gesellschaft und ersetzte damit die Liebe des Gnadendispositivs. Insgesamt stellte die Kontinuierung des Duals von Heilig und Profan eine Folge der kapitalistischen Industriegesellschaft dar.926 Die systemtheoretische Erklärung dafür liefert Luhmann. Er weist darauf hin, dass das handlungsunabhängige Dual Sakral/Profan im Laufe der Ausdifferenzierung der Systeme teilweise überformt und teilweise ersetzt wurde durch Duale, die in der sozialen Interaktion entstehen. Die Duale Leid/Heil und Sünde/Gnade böten »sehr viel weniger starre und sehr viel ›reichere‹, innergesellschaftlich brauchbare Anknüpfungspunkte für Beziehungen zur Politik und zur Wirtschaft, zum System der sozialen Schichtung und zu den Familienhaushalten als die Trennung von Sakral und Profan«.927 Die Ausdehnung des menschlichen Handlungsspielraums führte also zu einer Kontinuierung des Duals von Heilig und Profan durch den Nutzen. Es handelt sich in der Anpassung an die Industriegesellschaft also nicht um die Weber’sche Entzauberung der Welt, sondern um die nachgeholte Kontinuierung des Duals Heilig/Profan, was die Pole des Duals näher zueinander brachte, d. h. das Profane wurde partiell sakralisiert, das Heilige partiell profaniert.

19. Katholische Degenerationskonzepte Nach Schlegel und Johann Gottfried Herder (1744–1803) sind die Merkmale einer Kultur am reinsten in ihrem Ursprung erkennbar.928 Dieser Vorstellung nach war das Älteste und Primitivste das Vollkommenste.929 Der gläubige katholische Arzt Bénédict Augustin Morel (1809–1873) entwickelte daran anschließend aufgrund einer Kombination aus medizinischen und religiösen Vorstellungen eine 1857 veröffentlichte Degenerationstheorie, wonach der ursprünglich vollkommen erschaffene Mensch den Einflüssen der Umwelt unterliege, was zu körperlicher und moralischer Degeneration führe, die vererbt werde. Damit erklärte er abweichendes sexuelles Verhalten.930 Dies war der Beginn eines intensiven wissenschaftlichen Streits um die angebliche Degeneration der damals so genannten primitiven Völker. Wer in ihnen degenerierte Reste ehemaliger 926 Hartmut Rosa zeigt, dass die Zeit unter den Bedingungen des kapitalistischen und industrialisierten Produktionsprozesses keine Qualität hat, d. h., dass es keine heiligen Zeiten geben kann. Vgl. Rosa: Beschleunigung 258. Die »aufgabenorientierte Zeitorientierung« setzte Selbstständigkeit voraus. Mit der Dominanz abhängiger Arbeit im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer schlug die aufgabenorientierte Zeit in bemessene Zeit um. Zeit begann mit Geld bewertet zu werden. Vgl. Thompson: Zeit 39 f. 927 Luhmann: Funktion 194–196; vgl. ferner: Ders.: Religion 146. 928 Vgl. Raedts: Entdeckung 126 f. 929 Vgl. Ebd. 182. 930 Vgl. Bauer: Kultur 297.

Katholische Degenerationskonzepte  489

Hochkulturen sah, sprach ihnen autochthone Entwicklungsfähigkeit ab und legitimierte den Kolonialismus seitens der durch Christus aus der Degeneration wieder erhobenen Europäer. Wer in ihnen den Ursprung der Menschheit suchte, ging davon aus, dass sich die gegenwärtigen Kulturen aus ihnen entwickelt hatten und sprach ihnen Entwicklungsfähigkeit zu.931 Die Degenerationstheorie traf zunächst nicht auf fruchtbaren katholischen Boden. Gemäß der katholischen Erbsündenlehre wurde die Welt zwar als defizienter, nicht zu vervollkommnender Ort wahrgenommen, geprägt vom Abfall von Gott.932 Doch damit hatte es sein Bewenden. Erst die Akzeptanz immanenter, prognostizierbarer Regelmäßigkeiten im Regeldispositiv führte in Kombination mit der katholischen Erbsündenlehre und anknüpfend an frühneuzeitliche bzw. spätscholastische Erklärungen religiöser Pluralität als dämonisch verursachter Abfall von der göttlichen Offenbarung933 zu einer spezifisch katholischen Degenerationstheorie. Denn die Defizienz war nicht mehr wie in ihrem agonalen exorzistischen Stadium statisch, sondern beschleunigte sich.934 Nach der 1865 veröffentlichten Ansicht der Historisch-politischen Blätter drohte der Untergang mit mathematischer Gewissheit: Laut Adam Riese wandeln wir auf dem Wege des Verderbens; laut Adam Riese ist binnen einer gar nicht langen Reihe von Jahren der Untergang gewiß, ohne daß schreckliche Natur-Ereignisse, verheerende Seuchen und blutige Kriege uns decimiren – wenn der bisherigen einseitigen Entwicklung nicht Halt geboten, wenn ihr nicht ein Damm entgegen gethürmt wird, der den Strom des Verderbens in minder gefährliche und zerstörende Bahnen einzwängt.935

Auch nach Renningers 1869 geäußerter Ansicht nahm die Defizienz zu: Das Erste in der Reihe war das Vollkommenste. Die Menschheit entwickelte sich nicht aus einem Keim, wie ein Embryo, weder in physischem noch in sittlichem Betracht: der anfängliche Zustand des Menschengeschlechtes war nicht der niedrigste, wie die Rationalisten glauben, sondern der höchste.936

Dabei verglich er die Offenbarung mit einer Sonne, deren Strahlen mit zunehmender Entfernung »nicht mehr so rein und lauter und intensiv aufgenommen« werden.937 Der badische Gefängnisseelsorger Krauß schrieb dazu 1912:

931 Vgl. dazu Kippenberg: Entdeckung 80–98. 932 Vgl. dazu Blumenberg: Säkularisierung 64. 933 Vgl. dazu Mulsow: Lafitau. 934 Vgl. dazu Kapitel V.1. 935 Zur Kritik von Lösungen der socialen Frage. In: Historisch-politische Blätter 55 (1865) 117–131, 196–208 und 274–293, hier 118. 936 Renninger: Unveränderlichkeit 39. 937 Ebd. 38.

490  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Jedes Zeitalter klagt sich an zugunsten seiner Vorgänger. Aus all diesen Klagen spricht aber im Grunde nur ein großartiges, wenn auch oft unverstandenes Heimweh des gefallenen sündigen Menschengeschlechtes nach einer Zeit, die frei von Sünde, Elend und Schmerzen war: – nach dem verlorenen Paradies, nach dem goldenen Zeitalter, von welchem schon die Völker des Altertums voll Sehnsucht geträumt haben.938

Diese spezifisch katholische Degenerationstheorie war neuscholastisch. Voraussetzung für sie war nämlich das scholastische Postulat des »perfectum prius imperfecto«.939 Ausdrücklich diente sie dazu, den Atavismus Lombrosos zurückzuweisen. Wenn das Verbrechen atavistisch erklärt werde, meinte Gutberlet 1893, »so müssen also die Vorfahren des Menschen ein Verbrechergeschlecht gewesen sein, wie uns die wilden Volksstämme noch schwache Typen oder Überreste darstellen«.940 Katholische Theologen begaben sich nun als – meist autodidaktische – Philologen, Anthropologen und Ethnologen auf die Suche nach dem Urmonotheismus, den sie bei den so genannten primitiven Völkern zu finden hofften. Für den Priester Friedrich Windischmann, der selbst promovierter Linguist war, bestand die Aufgabe der Etymologie 1840 darin, sprachliche Entwicklungsgesetze zu entdecken, um die »Uranfänge der Völker« und ihre Mischungen aufzudecken. Je älter die Sprache sei, desto »reiner« und »desto reicher ist sie an Wurzeln, desto mannichfaltiger in Biegung und Ableitung, desto reiner und unvermischter in allen Lautverhältnissen«. Im Laufe der Zeit verschwindet die Kraft der Flexion immer mehr, während das Bedürfniß der scharfen Gedanken-Bestimmung bleibt, und so bilden sich neue Casus und neue Conjugationen, aber nicht mehr organisch, sondern, ich möchte sagen, mechanisch durch Präpositionen und Hülfszeitwörter.

Die »Auffindung der Principien dieser geistigen Einheit« sei die Aufgabe der »philosophischen Grammatik«.941 Indem das Wort »Ausdruck des Gedankens« sei, könne die Etymologie zu den ältesten religiösen Überzeugungen der Menschheit kommen, zur Uroffenbarung. Diese Analyse sei »fast nicht minder sicher« als die chemische. Die Etymologie werde »also eine philosophisch-historische Anschauung des Alterthums gewähren, die in vielen Fällen treuer und sicherer seyn mag als geschichtliche Aufzeichnungen, weil die Sprachbildung etwas über die individuelle Willkür Hinausreichendes ist«.942

938 Krauß: Kampf 20. 939 Vgl. Specht: Voraussetzungen 45. 940 Gutberlet: Willensfreiheit 101–159. 941 Windischmann: Fortschritt 9–12. 942 Ebd. 14 f.

Katholische Degenerationskonzepte  491

Während sich die Qualität der Sprache für Windischmann änderte, aber nicht verminderte, ging Cathrein bei seiner Suche nach der Uroffenbarung 1914 von einer zunehmenden Abkehr der Menschen vom urtümlichen Idealzustand aus. Cathrein ging von der Behauptung aus, dass sich die Vorschriften des Dekalogs bei allen Völkern nachweisen ließen, woraus er auf eine ursprüngliche Einheit schloss: Sind alle Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen, stammen sie alle von einem Elternpaare ab, so sind sie auch alle einander in Bezug auf Natur und Anlagen im wesentlichen gleich und alle bilden sich spontan einen Grundstock von gleichen Begriffen und Grundsätzen der theoretischen und praktischen Ordnung.943

Seither habe aufgrund der Erbsünde eine zunehmende Abkehr von diesem göttlichen Ideal stattgefunden. Dies bewies er mit der Behauptung, dass die »widernatürliche Unzucht« bei den »Wilden« nicht derart ausgeprägt sei wie bei den »Kulturvölkern«.944 Er stellte deshalb eine »Uroffenbarung« mit anschließender Degradation fest: Alles weist auf eine längst verflossene Zeit zurück, wo die Menschen eine klarere und reinere Erkenntnis dieser Wahrheiten besaßen, die dann von einem Geschlecht dem andern überliefert, aber allmählich verdunkelt und mit mancherlei Irrtümern vermischt wurden. Die ethnologische Forschung bringt uns so der christlichen Lehre von einer Uroffenbarung sehr nahe. Bestätigt wird diese Auffassung durch die vielen Überlieferungen der Naturvölker, die oft lebhaft an die biblischen Berichte erinnern.

So sei »die Meinung, daß der Tod durch die Schuld der Menschen in die Welt gekommen ist«, von großer »Verbreitung«.945 Indigene Völker als Ideal zu betrachten, bereitete in Mitteleuropa durchaus Schwierigkeiten. Nach der 1885 geäußerten Ansicht des späteren Paderborner Bischofs Wilhelm Schneider wiesen die »Naturvölker« bereits Anzeichen für den Abfall von Gott auf. Deshalb seien sie zwar nicht affenähnlich, aber entsprächen auch nicht dem »Menschheitsideal«. Das Leben »aller Wilden« befinde sich »im Zustande eines so heillosen und hoffnungslosen Verfalles, dass daraus keine Selbsthilfe, zu der auch nirgend ein Anlauf gemacht wird, wieder erheben kann«. Sie seien »verarmt an den religiösen Überlieferungen aus einer besseren Zeit«. Die »Naturvölker« seien in »sittlich-religiöser Hinsicht sämtlich gesunkene oder, um die Bezeichnung ›Wilde‹ zu entschuldigen, verwilderte Menschen, für die es ohne fremde Fürsorge und Führung keine Rettung« gebe.946 Dabei zog er den Begriff des »Wilden« demjenigen des »Naturmenschen« vor. Denn dieser Be 943 Cathrein: Einheit I 8. 944 Ebd. 31. 945 Ders.: Einheit III 574. 946 Schneider: Naturvölker I III–V.

492  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  griff bezeichne den »kulturlosen, tierähnlichen Urmenschen der Darwinischen Entwickelungslehre«. Der »Sohn der Wildnis« sei dagegen ein »Mensch wie alle andern«. Dabei spiegle sich der »Grad der Kultur« an der äußeren Erscheinung wider. So seien die sesshaften Araber in Hauran »stämmig, wohlbeleibt und mit einem starken Barte geziert, während ihre wandernden Brüder, die Beduinen, immerfort den Mühseligkeiten eines unstäten Lebens ausgesetzt, schwach gebaut sind und ein kleines Gesicht und einen dünnen Bart haben«.947 Daneben wirkten sich aber auch die naturräumlichen Gegebenheiten auf das äußere Erscheinungsbild aus, so in Nordamerika, wo sich eine »Yankeerasse« aus »europäischem Blut« und »indianischem Typus« entwickelt habe.948 Damit wollte Schneider zeigen, dass die Merkmale der menschlichen Rassen nicht unveränderlich seien, was er als Beleg für die ursprüngliche »Einheit des Menschengeschlechts« anführte.949 Der Mensch, so schloss er, sei »ein bewegliches, unruhiges Wesen, das seine Lage immer zu verändern und zu verbessern trachtet und manchmal aus unklarer, ahnungsvoller Sehnsucht nach einem fremden Lande zum Wanderstabe greift« und dadurch Veränderungen am äußeren Erscheinungsbild bewirke.950 Dabei ging es Schneider nicht um den Urmonotheismus an sich, sondern darum, den einheitlichen Ursprung der Menschheit und damit die Gewissheit des biblischen Schöpfungsberichtes zu beweisen. Deshalb griff er auch auf überlieferte Narrative profaner und religiöser Art zurück: Sagen von dem Untergange des goldenen Zeitalters und von der Wiederkehr desselben am Ende aller Dinge sind ältestes Eigentum fast aller Völker; die sagenhafte Form, in der das religiöse Bewußtsein seine Erinnerung an eine glückliche Urzeit, an den vertraulichen Verkehr Gottes mit den ersten Menschen niedergelegt hat, mag verschieden sein: der Kern ist überall derselbe.951

In dieser »Gleichheit der menschlichen Denkfähigkeit und Denkrichtung« sah er den Beleg für die »Ursprungseinheit« und damit die Schöpfung der Menschheit durch Gott.952 Der Kannibalismus war dann konsequenterweise nicht »›Überbleibsel‹ barbarischen Urzustandes«, sondern Anzeichen religiösen Verfalls.953 947 Ebd. 4 f. 948 Ebd. 12: »Der Yankee oder Neuengländer in Nordamerika zeigt schon nach der zweiten Generation einige Züge des Indianertypus; Amerika hat aus den Angelsachsen eine neue Rasse geprägt, die Yankeerasse, in der zwar das europäische Blut, aber der indianische Typus überwiegt.« 949 Ebd. 15 f. 950 Ebd. 23. 951 Ebd. 24 f. 952 Ebd. 32 f. 953 Ebd. 181. – Ebd. 188 f.: »Als der Menschheit Dichten und Trachten durchaus ins Sinnliche und Fleischliche sich verirrt hatte, wurde auch die Gottheit und das Verhältnis der Menschen zu ihr in rohsinnlichen Formen gedacht. Infolgedessen trat beim Opfer die ethische Beziehung vor der materiellen Beschaffenheit zurück; das Hauptgewicht wurde nicht mehr

Katholische Degenerationskonzepte  493

Auch der »Gespensterglaube« der Australier enthalte »einige echte, wenn auch rudimentäre, Elemente der Religion, den Glauben nämlich an ein unsichtbares Wesen, das Schöpferkraft besitzt und Wohlthaten spendet«.954 Die Religion der Australier gleiche nicht »einer aufblühenden Knospe sondern einer verwelkten und entblätterten Blume«. Der Monotheismus habe sich nicht aus derartigen archaischen Vorstellungen entwickelt, sondern diese seien ihrerseits vielmehr Folge des Abfalls vom Monotheismus.955 Schneider war sich bewusst, dass die Behauptung von der fehlenden »Entwickelungsfähigkeit« der Naturvölker» nur als Begründung für eine »herzlose Ausbeutungs- und Ausrottungspolitik« diente.956 Die Behauptung von der deterministischen Gewissheit des kulturellen Niedergangs der »Naturvölker« lehnte er ab. Der Mensch reagiere auf die Natur »nach seinen eigenen immanenten Gesetzen«, er sei nicht der »willenslose Aus- oder Abdruck der äusseren Natur, mechanisch bildsam an jedem Orte, wie ein gestaltloses Stück Wachs, so dass ihm die Natur ihr wechselndes Bild aufdrücken und ihn zum Spielball ihrer unberechenbaren Launen machen dürfte«. Der Mensch sei vielmehr der »König der Schöpfung, begabt mit einem Willen, der stark genug ist, physikalische Hindernisse zu überwinden, der aber auch Freiheit besitzt, geographische Geschenke der Natur ungenützt zu lassen«.957 Die Einflüsse der Umwelt auf den Menschen in eine »Formel« zu fixieren sei nicht möglich, da unbestimmbare Faktoren, wie die Lust und Leichtigkeit der Wanderung in neue Wohnsitze, die wechselvolle Stimmung des Menschengemütes und seine veränderlichen Antworten auf gleichartige Eindrücke von aussen, die ruhelose Regsamkeit und die regellose Erfindungskraft des Geistes in der Naturbeherrschung, einen Strich durch die Berechnung ziehen.958

Wenn die Willensfreiheit auch Gewissheit über den kulturellen Niedergang ausschloss, so jedoch nicht Wahrscheinlichkeit. Viele Naturvölker seien unrettbar dem Untergange geweiht und siechen zusehends dahin, teils an den Folgen ihrer widernatürlichen Laster, teils an den von den Europäern eingeschleppten Seuchen, teils an Krankheiten und Unfruchtbarkeit, welche durch die jähe Veränderung auf die Hauptsache, die Opfergesinnung, sondern auf die Opfergabe gelegt; die Übergabe des Herzens, die Unterwerfung des Willens, mit einem Worte, der Gehorsam, welcher ›besser ist als Opfer‹, wurde ausser acht gelassen. Im heftig empfundenen Verlangen, Gott als der unumschränkten Majestät und Souveränetät, dem Herrn über Leben und Tod, das Beste zu geben, opferte nun die Menschheit das Beste, was sie noch kannte und besaß, ihr eigenes Fleisch und Blut.« 954 Schneider: Naturvölker II 97. 955 Ebd. 100. 956 Schneider: Naturvölker I 33. 957 Ebd. 40 f. 958 Ebd. 60 f.

494  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  der Lebensweise verursacht werden. Keineswegs aber fallen sie einem frühen Tode deshalb anheim, weil sie etwa von der Natur dazu bestimmt oder mit geringerer Lebensfähigkeit begabt wären als die Kulturvölker.959

Die Geschichte der heidnischen Ehe nahm er deshalb als Verfall wahr, der sich sowohl bei den Naturvölkern als auch bei den Völkern der Antike zeigte.960 Deshalb kam er zu dem Ergebnis, die »ersten Menschen« seien »halbcivilisirte Wesen« gewesen. Davon haben sich die »wilden Horden« durch die Wanderung in die »ungünstigste Naturumgebung« zurückentwickelt und sich »nur spärliche Abfälle vom kulturlichen Urbesitz« bewahren können. Daneben sei es zur »Bildung stationärer Rassen« gekommen, zu denen er die »Naturvölker« zählte, und schließlich der »civilisirten Völker, welche den Antrieben des günstigen Schauplatzes, auf den die Vorsehung sie gestellt, eine glückliche Empfänglichkeit entgegenbrachten«.961 Auf dem Deutschen Anthropologentag von 1909 wollte der Steyler Missionar und Religionswissenschaftler Schmidt die Streitfrage klären, ob die Pygmäen Urform oder Kümmerform seien.962 Er selbst sah in ihnen »keine sekundären Verkümmerungsprodukte, sondern eine primäre Urrasse«.963 Dies zeige sich daran, dass sich die Pygmäen den naturräumlichen Gegebenheiten angepasst hätten: »Den sie umgebenden Verhältnissen sind die Pygmäenstämme vollständig gewachsen, das leistet ihre Intelligenz in vollkommenster Weise. Nur zu sehr haben sie sich an diese Verhältnisse gewöhnt und sich in sie hineingebildet. Sie sind vollkommene Jäger und Sammler.« Zum materiellen Fortschritt seien die Pygmäen deshalb nicht in der Lage, weil dieses der Natur angepasste Jagdleben zu unstet für die Entwicklung einer Arbeitsethik sei.964 Dabei verstärke der auf Arbeit basierende kulturelle und materielle Fortschritt bei den auf die Pygmäen folgenden Naturvölkern den »intellektuellen, ethischen, sozialen und religiösen Verfall«. Deshalb könne man bei den Pygmäen, »diesen am tiefsten Anfang der äusseren Kulturentwicklung stehenden Erstlingsvölkern, in so vielen wichtigen Dingen gar nicht solche Sonderbarkeiten, Scheusslichkeiten, Rohheiten antreffen, wie wir sie von anderen Naturvölkern so vielfach gewohnt waren«. Es sei lediglich dem Christentum zu verdanken, wenn ein derartiger Verfall in Europa aufgehalten worden sei. Er schloss deshalb zwar auf eine Entwicklung »vom naturhaft Unbewussten zum geistig Bewussten, vom passiv Genossenen zum aktiv Erworbenen, vom naiv und darum vielfach unvollkommen Erfassten zum durch mannigfache Geistesarbeit Geläuterten«. Ausgangspunkt der menschlichen Ent 959 Ebd. 28 f. 960 Schneider: Naturvölker II 424 und 482 f. 961 Schneider: Naturvölker I 64 f. 962 Schmidt: Stellung 1 f. 963 Ebd. 266. 964 Ebd. 111 f.

Katholische Degenerationskonzepte  495

wicklung sei aber »nicht die Tiefe absoluter Unvernunft und Schlechtigkeit« gewesen, sondern »die Höhe einer schon in allem Anfang wirklichen, mit den reichen Anlagen des Geistes ausgestatteten Menschennatur«.965 Er bezeichnete es deshalb als Fehler der Evolutionstheorie, eine anfängliche Unvollkommenheit anzunehmen.966 Für Schmidt galt deshalb eine Kongruenz von Ursprünglichkeit und Religiosität. Während bei den Semangpygmäen bei zunehmender kultureller Entwicklung die Verehrung eines höchsten Wesens zurückgegangen sei, Manismus und Animismus aber zugenommen hätten, habe sich bei den »anthropologisch wie kulturell« auf der »tiefsten Stufe« stehenden Bewohnern der Halbinsel Malakka kaum Manismus oder Animismus gezeigt, sehr wohl aber die Verehrung eines höchsten Wesens.967 Die Theorie einer Entwicklung der Verehrung eines höchsten Wesens aus dem Animismus und Manismus bei den zentralafrikanischen Pygmäen lehnte er ab.968 Denn bei den primitiveren Pygmäen finde man keinen Animismus, keinen Ahnenkult und keinen Manismus. Es fehlten also diejenigen Elemente »welche die drei modernsten Theorien an den Anfang der religiösen Entwicklung überhaupt setzen wollten«.969 Vielmehr zeige sich die »innigste und umfassendste Verbindung von theistischer Religion und Ethik, die wir bei den Naturvölkern finden können«.970 Deshalb folgerte er, dass die Religion, die Anerkennung und Verehrung eines höchsten Wesens, hervorgegangen sei von einer naiv-kindlichen und doch tiefsinnig-genialen, aus dem ganzen Wesen des Menschen, seinem ganzen Denken, Fühlen und Verlangen, sich losringenden Schlussfolgerung von der Gesamtheit der Welttatsachen, der materiellen wie der idealen.

Die »religiösen Verhältnisse der auf späteren Entwicklungsstufen stehenden grosswüchsigen Naturvölker« zeigten dagegen »einen stetig fortschreitenden Verfall«.971 965 Ebd. 297–299. 966 Ebd. 284. 967 Ebd. 228. – Animismus (Beseeltheit der organischen und anorganischen Natur) und Manismus (Ahnenkult) waren zwei frühe religionshistorische Versuche zur Beschreibung der Religion primitiver Völker, die heute aufgrund ihrer evolutionistischen Implikationen als überwunden gelten können. Vgl. Kippenberg: Entdeckung 80–98. 968 Schmidt: Stellung 236. 969 Ebd. 241. 970 Ebd. 245. 971 Ebd. 249 f. – Bereits 1877 wurden Aberglaube und Polytheismus von Simar: Aberglaube 3 zur Folge des Sündenfalls gemacht. Über den Aberglauben schrieb er: »Zwar hat er nicht an der Wiege des menschlichen Geschlechtes sein unheimliches, verderbliches Spiel getrieben; er ist nicht gerade eben so alt wie die Religion. Dennoch reicht sein Walten so tief hinab in die graue Vorzeit, daß es unmöglich ist, die ersten Anfänge seiner Geschichte aufzudecken. Es genüge hier die Andeutung, daß der Aberglaube jedenfalls nicht jüngeren Ursprungs ist als die Abgötterei.«

496  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Dabei machte Schmidt die durchschnittliche Höhe der Stirn zum Gradmesser für die erreichte Entwicklungsstufe einer Bevölkerung. So wie die Stirn im ersten Fötalzustand in kürzester Zeit, mit einem Male und fast noch in übertriebener Weise sich bildet, so wäre auch in der Geschichte des ganzen Menschengeschlechtes die spezifisch menschliche Form der Stirn, als Index der Geistesfähigkeit, nicht langsam und allmählich, sondern plötzlich, wie mit einem Stoss, erreicht worden.

Und so wie die Stirn mit zunehmenden Alter des Menschen flacher wird, wären auch in der Geschichte der menschlichen Rassen diejenigen als dem Urzustand am nächsten stehend zu bezeichnen, welche die Höhe der Stirn am besten bewahrt haben, während die mit ›fliehender‹ Stirn, hierin wenigstens, schon in eine Altersentwicklung eingetreten wären.972

Wie bei Lombrosos Degenerationstheorie war die Entwicklungsstufe an der physischen Erscheinung des Menschen erkennbar, aber mit umgekehrten, moralisch definierten Vorzeichen. Die Atavismen wurden moralisch als gut bewertet. So wie die Seele nicht erkranken konnte, so konnte sie sich nicht entwickeln. Fortschritt mit naturgesetzlicher Gewissheit sah der Apologet Anton Seitz 1914 deshalb nur in der körperlichen, nicht in der geistigen Entwicklung. Der »freie Menschengeist« sei zwar »in den Rahmen einer gewissen gleichförmigen Naturanlage gespannt«, innerhalb dessen »vermag er sich bis zu einem gewissen Grade mit selbständiger Initiative auf die mannigfaltigste Weise auch mehr oder minder sprunghaft und nach entgegengesetzter Richtung zu bewegen«. Während es in der tierischen Entwicklung wegen der fehlenden Willensfreiheit keinen Rückschritt geben könne, sei dies in der menschlichen Entwicklung möglich. Die »menschliche Kulturentwicklung« werde durch die »äußeren Verhältnisse der gesamten Umgebung« in eine »gewisse Richtung« gewiesen, aber »nie eindeutig bestimmt«. Deshalb wies Seitz die dreistufige Entwicklung vom Jäger bzw. Sammler über den Nomaden zum Ackerbauern zurück, da die Jäger kraftvoller gewesen seien als die schwächlichen Ackerbauern. Stets herrschten deshalb Nomadenstämme über Ackerbauernvölker. Dabei schrieb er dem Ackerbau aufgrund von »Seßhaftigkeit und Gemächlichkeit« eine zivilisatorische Dynamik zu: Technisch-soziales Vorankommen ist nur möglich durch friedlichen Zusammenschluß einer größeren Menschenmasse, deren verschiedenartige geistige Veranlagung durch Arbeitsteilung und Produktionsaustausch für die Gesamtheit in immer höherem Grade nutzbar gemacht werden kann.

Unter der »Oberfläche« des materiellen Fortschritts aber »überwiegt der Verfall« der »religiös-sittlichen Kultur«. Der Grund dafür liege in der Dynamik der 972 Schmidt: Stellung 300 f.

Katholische Degenerationskonzepte  497

Erbsünde, in einer »sich immer mehr auswirkenden inneren Verderbnis der menschlichen Natur«. Eine »allgemeingültige Wahrheit« sei nur die Entwicklung des Komplizierten aus dem Einfachen und die »Erschöpfung aller endlich beschränkten Wesenskräfte«, so etwa der religiösen.973 Die Degeneration war nicht deterministisch geboten, aber durch die Erbsünde wahrscheinlich. Und diese zeige sich bei den »Naturvölkern«. Im Animismus sah er ebenfalls nicht den religiösen Ausgangspunkt, sondern einen »Durchgangspunkt« nach »dem Verfall einer höheren, zum Teil sogar nachweisbar monotheistischen Religionsform«. Im klassischen Altertum führten nicht »Geister und Genien aufwärts zu Göttern, sondern umgekehrt himmlische Götter abwärts durch dämonische Mittelwesen zu vergötterten Menschen«.974 In Übereinstimmung mit Schneider und Schmidt siedelte er die »Naturvölker« in diesem Durchgangspunkt an: Weder auf der tiefsten Stufe des Aberglaubens noch auf der höchsten der religiösen Gotteserkenntnis hat man sich die primitive, d. i. urwüchsige Menschheit zu denken, sondern auf einer der noch unverbrauchten, aber auch unentwickelten Geisteskraft entsprechenden relativ hohen Stufe natürlicher religiöser Einsicht, wie aus den ›Naturvölkern‹ ersichtlich wird, welche durch mehrtausendjähriges Verharren im nämlichen patriarchalisch einfachen Zustand dem Kindheitsstadium der Urmenschheit am nächsten kommen.975

Dabei zeigte sich auch an den katholischen Degenerationskonzepten die Umkehr des Verhältnisses von Normalität und Normativität. Stöckl leitete das Normale 1869 noch von der Norm ab, als er behauptete, der »kaukasische Typus« sei »edler und vollkommener« als alle anderen »Racen«. Deshalb müsse man annehmen, »daß sich im kaukasischen Typus der eigentliche Menschentypus am reinsten erhalten habe, während die Typen der übrigen Racen mehr oder weniger von dem reinen Menschentypus sich entfernt, unter denselben herabgesunken sind«. Eine »große intellectuelle, sittliche und religiöse Verwilderung« machte er dafür neben Klima, Lebensweise und geographischer Lage verantwortlich.976 Schneider dagegen orientierte sich dann 1885 nicht mehr am Idealzustand, sondern gradualisierte aufgrund der Bildung von Durchschnittswerten. Die Vorstellung, dass der »Naturmensch« in »unverfälschter Natürlichkeit, in urwüchsiger Kraft und Anmut und in ungetrübten Freuden seine Tage verbringe und den einstigen Bewohner Edens leibhaftig darstelle«, sei falsch. Es sei schon falsch, den »Naturmenschen« in körperlicher Hinsicht über den »Kulturmenschen« zu stellen. Das »Ideal menschlicher Schönheit nach unseren Begriffen« finde sich nur in der »mittelländischen« Rasse: »In Wirklichkeit übertrifft der gesunde, normal 973 Seitz: Religionsbegründung 425–434. 974 Ebd. 463 f. 975 Ebd. 544. 976 Stöckl: Lehrbuch I 196 f.

498  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  entwickelte Germane den Durchschnittskaffer, sowohl was die Proportionen als was die Kraft und Fülle der Formen anlangt.«977 Es ging nicht mehr um ein statisches (ursprüngliches) Ideal, sondern um ein kontingentes (rezentes) Ideal. Die katholische Anthropologie des späten 19. Jahrhunderts bestätigt die Behauptung des Wissenschaftshistorikers Wolf Lepenies, wonach die Erweiterung des Wissens im Übergang zur Moderne von räumlicher zu zeitlicher Anordnung führe. Komplexität sei zunehmend durch »Techniken der Verzeitlichung« verarbeitet worden. Die entwicklungsgeschichtliche Denkweise etablierte sich. Gesellschaften erschienen als historisch kontingente Stadien in einer Entwicklung. Der Wilde wurde als Relikt einer früheren Entwicklungsstufe integriert.978 Die katholischen Degenerationstheorien stellen deshalb nur eine Konkretion einer allgemeinen wissensgeschichtlichen Entwicklung dar, Darwins Evolutionslehre eine andere. Dabei nahm das Regeldispositiv aufgrund der spezifisch katholischen Kombination aus Willensfreiheit bzw. Erbsündenlehre und immanenter Regelhaftigkeit eine pessimistische Perspektive ein. Erst jetzt wurde katholischer Pessimismus, und deshalb auch Optimismus, möglich. Dies zeigt sich daran, dass die sozialen Diagnosen des dominikanischen Sozialethikers Albert Maria Weiß, der einerseits Gesetze der Kapitalbildung und des Arbeitslohns berechnete und andererseits die sozialen Verbesserungsmöglichkeiten gering einschätzte, kurz nach der Jahrhundertwende innerkatholisch als pessimistisch wahrgenommen wurden und eine so genannte Optimismusdebatte auslösten.979 War die Willensfreiheit für Seitz der Grund für Rückschritt, so für den mit der herrschenden kirchlichen Lehrmeinung immer wieder in Konflikt geratenden Ehrhard 1901 der Grund für immanenten Fortschritt. Er lehnte zwar die idealistische Vorstellung eines Fortschrittes als Vervollkommnung genauso ab wie die positivistisch-materialistische Vorstellung eines Fortschritts mit naturgesetzlicher Unausweichlichkeit. Die Willensfreiheit zeige sich aber »in dem Streben der Menschheit nach fortschreitender Erfassung des Wahren, Verwirklichung des Guten und Empfindung des Schönen«. Deshalb könne die Neuzeit keinen Rückschritt gegenüber dem Mittelalter darstellen. Fortschritte zeigten sich in staatlicher Organisation, sozialem Leben und Naturbeherrschung. 977 Schneider: Naturvölker I 75–77. 978 Lepenies: Ende 16–20. Verzeitlichung bedeutet in der Sprachwissenschaft den Übergang von der Grammatik zur historischen Philologie, in der Volkswirtschaft die Bedeutungssteigerung der Arbeitszeit, im Recht die Legalisierung von Rechtsänderungen durch Positivierung und die Entwicklung der Ästhetik zur Kunstgeschichte. Vgl. Ebd. 106–114. 979 Vgl. dazu Schindler: Kairos 198–203 – Weiß äußerte sich in seinen Lebenserinnerungen (Lebensweg 496 f.) selbst dazu: »Es ist uns gut ergangen. Das ist immer eine Gefahr für den Glauben und für das Leben der Christen. Schon in der Zeit vor der Verfolgung des Decius [römischer Kaiser, gest. 251] hat die Kirche das zu ihrem Schaden erfahren. So war es auch jetzt. Wir hatten beinahe vergessen, daß das Christentum die Religion des Gekreuzigten und des Kreuzes ist. Als ich vor Jahren irgendwo eine Reihe von Vorträgen über die Weissagungen der Psalmen von Christus hielt, da erzürnten sich fromme Seelen über diesen Pessimismus.«

Der ungeduldige Bischof, oder: ultramontane Nervosität  499

Dies gelte auch für die Kirche, da »der Fortschritt auf einem Kulturgebiete für alle anderen fruchtbar werde vermöge des einheitlichen Bandes, welches das ganze Kulturleben umschließt«.980 Jede Zeit sei deshalb gekennzeichnet durch »das ungleiche Maß menschlicher Mitarbeiterschaft mit Gottes Gnade«. Deshalb sei das Mittelalter unwiederbringlich untergegangen.981 Und Ehrhards Straßburger Kollege Zahn behauptete 1913/1914, es sei selbstverständlich, »daß man den frühzeitlichen Menschen möglichst tiefstehend zu denken habe«.982 Die Degenerationskonzepte konnten sich auch umkehren. Im Regeldispositiv ging es zunehmend um das Wissen von Regeln, nicht um das Ziel der Regeln, es ging zunehmend um das Normale, nicht das Normative.

20. Der ungeduldige Bischof, oder: ultramontane Nervosität Der am Rande der Orthodoxie stehende Theologe Albert Ehrhard bemerkte in seinem Buch »Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert«, dass die katholische Kirche im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von großer Ruhelosigkeit geprägt gewesen sei. Er bezeichnete die Amtsführung Leos XIII. als »intensiv«. Er habe eine »Unmasse von Einzelschreiben« verfasst und »tiefer als alle früheren Päpste in sämtliche Verhältnisse der katholischen Kirche eingegriffen«. Gleichzeitig bemerkte er aber einen »Mangel an hervorragender Initiative und Unternehmungslust«.983 Deshalb erschien Ehrhard der Ultramontanismus das Ergebnis einer nervösen Überreiztheit auf religiösem Gebiet zu sein: Es ist vielleicht die Folge der Nervosität unserer Zeit, daß die Empfindlichkeit auf dem Gebiete der religiös-kirchlichen Fragen einen Grad erreicht hat, den die Vergangenheit niemals gekannt hat. […] Diese psychologische Stimmung läßt aber leicht die bestgemeinten Besserungsvorschläge als unberechtigte Kritik an dem Gegenstande unserer Liebe erscheinen; und wenn es nun gar Katholiken sind, die an den kirchlichen Zuständen etwas auszusetzen haben, dann steigert sich der Widerwille gegen solche vermeintliche Angriffe bis zum höchsten Grade.984

Ehrhard stellte im Ultramontanismus ein Zusammentreffen von Statik und Dynamik – das exorzistische Paradox der Unvollkommenheit – fest, weshalb er ihn als nervös bezeichnen konnte. Das am Ende des 19. Jahrhunderts modische, wenn auch schillernde Krankheitsbild der Nervosität bezeichnete krankhafte Unruhe, eine Stimmung permanenter Selbstüberforderung, eine rasche Abwechslung ver 980 Ehrhard: Katholizismus 48–50. 981 Ebd. 52 f. 982 Zahn: Jenseits 8. 983 Ehrhard: Katholizismus 283–298. 984 Ebd. 15.

500  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  schiedener Ambitionen, was sich in Unentschiedenheit ausdrückte. Nervosität wurde als ein Gefühl des Nichtfertigwerdens angesichts von Reizüberflutung, Konkurrenzkampf und Leistungsdruck beschrieben, als eine Wechselbeziehung zwischen überzogenen Hoffnungen und folgender gereizter Enttäuschung.985 Als Kennzeichen der Nervosität bzw. Neurasthenie galten Reizbarkeit bei ständiger Geschäftigkeit, ein Wechsel zwischen Schlappheit und Hyperaktivität sowie zwischen Angst und Euphorie.986 Nervöse Zeitwahrnehmung entstand also an der Kontaktzone zweier unterschiedlicher Geschwindigkeitswahrnehmungen, einer sozialen und einer individuellen Geschwindigkeit.987 Neurasthenie erscheint so als Anpassungsreaktion an eine beschleunigte Zeit, eine Reaktion auf das Auseinanderfallen von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, was Ungeduld bewirkte.988 Dabei wurde die gesamte Gegenwart um die Jahrhundertwende als nervös wahrgenommen und Franz Walter teilte diese Diagnose 1905: Gerade unsere Zeit, die das Bild des krampfhaften Ringens, einer ungeheureren Anspannung der Willensenergie auf allen Gebieten menschlichen Arbeitens zeigt, hat auf der anderen Seite so vielfach über die Einbuße jedes energischen, mannhaften Wollens, über eine unheimlich überhandnehmende Willensschwäche zu klagen, die nicht selten zum völligen Zusammenbruch der sittlichen Persönlichkeit führt.989

Dabei galt Neurasthenie als Krankheit derjenigen, die zu dieser Anpassung an eine höhere Geschwindigkeit befähigt bzw. gezwungen waren, also der Wohlhabenden, und sie galt deshalb im Unterschied zur Ansicht von Ehrhard als spezifisch unkatholisch.990 Der Arzt Gassert stellte in seiner Gesundheitslehre für Kleriker 1902 dagegen aber eine auffallende Häufung von Neurasthenie im Theologenkonvikt fest: »Ein Herr schrieb mir, daß in seiner Diöcese 30 % der Neupriester nicht in vollem Umfange dienstfähig in die Pastoration kämen, und zwar nach seiner Ansicht infolge Überbürdung und mangelhafter Bewegung während der Studienzeit.«991 Er führte dies auf geistige Überarbeitung zurück: Es müssen sich die Verhältnisse bei uns geändert haben, unter denen die Menschen zu leben haben, welche ihre Arbeit der Hauptsache nach mit ihren Nerven, mit ihrem Gehirn zu verrichten gezwungen oder gewohnt sind. Und diese Verhältnisse haben sich geändert: Wissenschaft, Technik und Verkehr haben in den letzten 50 Jahren ihre Schritte nach vorwärts verdoppelt, aber auch die Anforderungen, die sie an diejenigen stellen, welche sich in ihren Dienst begaben.992 985 Vgl. Radkau: Zeitalter 10–22; ferner Messerli: Zeiteinteilung 220–225. 986 Vgl. Radkau: Zeitalter 134. 987 Vgl. Ebd. 415. 988 Vgl. Ebd. 265–268; Rosa: Beschleunigung 86. 989 Walter: Theorie 60 f. 990 Vgl. Radkau: Zeitalter 53. 991 Gassert: Arbeit 66. 992 Ebd. 45 f.

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Während Gassert den Grund für die ultramontane Nervosität in der kirchlichen Umwelt erblickt, verortet ihn Ehrhard in der Kirche selbst. Für beide war die ultramontane Kirche jedoch nervös. Verantwortlich dafür war die Agonalität des Ultramontanismus. Unruhe und Ungeduld waren Teil der ultramontanen Selbstbeobachtung. So forderte Renninger 1869 im Chilianeum: »Solange noch ein Volk im Schatten des Todes sitzt, solange noch eine Seele von dem Heile unerfaßt in der Finsterniß weilt, solange ist die Stunde der Ruhe für die Kirche noch nicht gekommen, solange muß sie arbeiten.«993 Von Ungeduld zeugt es auch, wenn sich der von den bischöflichen Ordinariaten in einem seelsorglichen Ratgeber von 1903 geforderte »geistliche Geschäftsstil« durch Wahrheit, Kürze und Einfachheit auszeichnen sollte. Wiederholungen, »Weitschweifigkeiten«, Fremdwörter und »rhetorische Floskeln« waren zu vermeiden.994 Ungeduld zeigt sich letztlich auch in der Rechtssprache des Codex Juris Canonici von 1917. Der Kanonist Klaus Mörsdorf, der sie 1937 untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass sie bisweilen derart knapp war, dass die Präzision darunter litt. Kürze ging vor Klarheit und Genauigkeit, was letztlich sogar eine eklatante »Unsicherheit der kanonistischen Fachsprache« bewirkte.995 Am deutlichsten lässt sich die ultramontane Rastlosigkeit auf dem Mediensektor nachweisen. Zwischen 1815 und 1847 wurden im deutschen Sprachraum 92 katholische Zeitungen gegründet, meist mit lokaler Reichweite, kurzer Lebensdauer und geringer Auflage. Immerhin verdreifachte sich die Bestandszahl katholischer Zeitungen zwischen 1825 und 1844. Dabei erschienen die meisten Zeitungen nicht zuletzt wegen der lockereren Zensur in Bayern.996 Katholische Zeitungen wurden in den 1850er Jahren deutschlandweit 19 gegründet. In den 1860er Jahren waren es 52, den Höhepunkt erreichten die Zeitungsgründungen in den 1870er Jahren (94), in den 1880er Jahren sanken sie wieder auf 78, in den 1890er Jahren wurden 81 gegründet und zwischen 1900 und 1910 waren es 60. Deshalb erschienen 1881 im Deutschen Reich 221 katholische Zeitungen, 1890 bereits 288, 1903 waren es 378 und 1912 dann 446. Zurückgeführt wird dieser Anstieg auf den Kulturkampf, die Zentrumsgründung und den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Reichsgründung.997 Die Zahl der Abonnenten stieg von 322 000 im Jahr 1871 auf 1 654 100 im Jahr 1903 und 2 624 900 im Jahr 1912.998 Die Zahl der Zeitschriftengründungen stieg wegen des Wegfalls der Presse­ restriktionen ebenfalls nach 1848 stark an. In den 1850er Jahren wurden 19 ge 993 Renninger: Unveränderlichkeit 112. 994 Kunze: Führung 1 f. 995 Mörsdorf: Rechtssprache 25–39. 996 Zur katholischen Presse im Vormärz vgl. Schneider: Katholiken 44–54; Aubert: Fortführung 473–476. 997 Vgl. Löffler: Geschichte 77 f.; Schmolke: Presse 18 und 179–186. Die Zahlenangaben beziehen sich nur auf die Hauptausgaben. Zur katholischen Presse vgl. ferner Scholz: Katholizismus 59–80. 998 Vgl. Löffler: Geschichte 79.

502  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  gründet, in den 1860er Jahren 21, in den 1870er Jahren 43 und in den 1880er Jahren 73. Dabei ist nicht nur eine quantitative Zunahme, sondern eine zunehmende inhaltliche Ausdifferenzierung festzustellen.999 Damit war die katholische Presse bedeutend umfangreicher als die protestantische und erfasste die katholische Bevölkerung bis auf die lokale Ebene hinab.1000 Immanentes kirchliches Handeln wurde also im Exorzismusdispositiv durch die mediale Kommunikation genauso zum konfessionsunterscheidenden Merkmal wie durch die Sozialethik.1001 Dabei wurde die Wahrnehmung ultramontaner Nervosität noch verstärkt, als neben die unsichere riskante Rastlosigkeit des agonalen Exorzismusdispositivs der gesteigerte bürokratische Konformitätsdruck des normalisierenden Regeldispositivs trat. Dieses die Wirkung steigernde und nicht widersprüchliche Zusammentreffen zeigte sich im massiven Anstieg der päpstlichen Verlautbarungen vor allem während des Pontifikats von Leo XIII.1002 Insbesondere die Verlautbarungen des bischöflichen Stuhls von Regensburg unter dem Episkopat Senestreys, der seine Diözese zum ultramontanen Musterbistum umgestaltete, können als Beispiel für agonale Rastlosigkeit und Ungeduld als Grund für den ultramontanen Konformitätsdruck herangezogen werden. Seit 1852 gab es im Bistum Regensburg ein Verordnungsblatt, dessen Taktung sich seither erhöhte. Im Jahr 1852 wurde eine Nummer veröffentlicht, 1853 waren es drei, vier 1854 und acht 1855. 1856 gingen sie auf sieben zurück, um 1858 auf 15 zu steigen.1003 Am 21. Dezember 1858 ordnete Senestrey an, dass die bischöflichen Verordnungsblätter durch die Pfarrvorstände »jederzeit und schleunig« an die Kooperatoren und Benefiziaten zuzustellen seien.1004 Am 5.  Juli 1859 sollten die Pfarrer innerhalb von vier Monaten über die Konsekration der Kirchen berichten.1005 Ein bischöfliches Rundschreiben vom 1. März 1864 zur Unterdrückung des Buches »Das Leben Jesu« des laizistischen französischen Historikers Ernest Renan (1823–1892) sollte dem Seelsorgeklerus des Bistums Regensburg »möglichst bald« zur Kenntnis gegeben werden.1006 In einem Pastoralerlass von 1869 lobte Senestrey das katholische Leben seiner Gegenwart als »so offen, freimütig und thatkräftig, daß wohl keine Periode der Kirchengeschichte sich einer herrlicheren Offenbarung des katholischen Sinnes rühmen kann«.1007 Diese 999 Vgl. Nickel: Monatsschrift 79–110. 1000 Vgl. Schmolke: Presse 19. 1001 Vgl. Kapitel IV.18. 1002 Vgl. Conzemius: Kirchenkrise 415; Ernesti: Leo XIII. 106–113. 1003 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 I. 1004 Oberhirtliches Verordnungsblatt 1852 bis 1858 (21.12.1858). 1005 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1859 (5.7.1859). 1006 Rundschreiben des bischöflichen Ordinariats an die Pfarrämter vom 1.3.1864. BZAR , OA-Gen 735. 1007 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 3. Dieser Pastoralerlass stammt wie die ersten 16 Hirtenbriefe Senestreys aus der Hand von dessen kongenialem Privatsekretär, dem Priester und Journalisten Willibald Apollinar Maier (1823–1874). Vgl. Schrüfer: Pastoral-Erlaß 209–234.

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»Entwicke­lung des katholischen Geistes, seine Entfaltung im Denken, Fühlen, Leben und Wirken steht nie still, wenn nicht äußere Einwirkungen in trüber Zeit ihn hemmen und gefesselt halten«. Deshalb bezeichnete er es als »nützlich«, wenn sein Klerus »in manchen Dingen zu einem gleichartigen Verfahren und Verhalten sich einige«.1008 Er kündigte an, dass sich eine Diözesansynode »möglichst bald« mit der liturgischen Vereinheitlichung beschäftigen werde. Da bis zur Einberufung dieser Diözesansynode aber doch »eine geraume Zeit vergehen« werde, verfügte er »kraft Unserer Autorität als Ordinarius« dasjenige, »was sofort nötig oder angemessen erscheint«.1009 Dabei warnte er seinen Klerus vor »thatloser Zeitvergeudung«. Der Klerus müsse »Träger allgemeiner Bildung, der heiligen Wissenschaft wie der vom Christenthume geläuterten und zu ihrer über­natürlichen Bestimmung emporgehobenen Humanität und Kultur« sein.1010 Der Klerus dürfe »als Organ dieser Kirche niemals die Hände in den Schoß legen«. Angesichts der Tatsache, dass die Kirche wegen der »Emancipation des Fleisches« im »heißesten Kampf« stehe, sei es »doppelte und dreifache Pflicht eines jeden Priesters, mit dem Aufgebote aller seiner Kräfte den gefährdeten Seelen zu Hilfe zu eilen«.1011 Aufgabe des Priesters sei die »unabläßige Warnung vor den Gefahren und nächsten Gelegenheiten zur Sünde«, denn: Je mehr der Geist der Verführung und des Unglaubens heutzutage die Menschen durch das gesprochene wie durch das gedruckte Wort zu berücken sucht, desto lauter muß das Gewissen den Seelsorger an seine Pflicht erinnern, die seiner Obhut anvertrauten Seelen durch die Verkündung des göttlichen Wortes vor dem Unheile zu bewahren.

Angesichts der sich mehrenden Arbeit konstatierte er dann einen Priestermangel: »Wie Christus sich Arme und Niedrige zu seinen Aposteln wählte, so treten auch heutzutage fast nur solche in das Heiligtum und diese in sehr ungenügender Zahl, während Bedürfnis und Arbeit sich immer mehren.«1012 Am 30. August 1885 gab Senestrey dann bekannt, dass er sich wegen des Priestermangels »beeilt« habe, ein zweites kirchliches Gymnasium in Regensburg zu errichten.1013 Als sich Senestrey am 25. Dezember 1891 wegen der Veröffentlichung von »Rerum novarum« an seinen Klerus wandte, führte er einleitend an, dass der lateinische Text »längst« im Verordnungsblatt veröffentlicht und eine deutsche Ausgabe »bereits« verteilt worden sei. Denn die »Lösung drängt«. Deshalb rief er dazu auf, »ohne Verzug« an die Lösung der sozialen Frage zu gehen. Bisher habe er sich zu der 1008 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 4. 1009 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 5 f. 1010 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 6–8. 1011 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 8–13. 1012 Allgemeiner Pastoral-Erlaß 13–19. 1013 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1885 (30.8.1885).

504  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Angelegenheit nicht geäußert, da er auf eine päpstliche Stellungnahme gewartet habe, die, so habe es geheißen, »in Bälde« zu erwarten sei.1014 Als Senestrey dann am 27. Januar 1893 zur Verehrung der Heiligen Familie aufrief, so tat er dies, um »der Gesellschaft am Schnellsten und Sichersten« zu helfen. Diese Verehrung sei nicht nur der »richtige«, sondern auch der »kürzeste« Weg zum Heil.1015 Es war nicht mehr der Teufel, der angesichts der Apokalypse ungeduldig war, sondern der Bischof angesichts einer agonalen Dauerkrise ohne immanentes Ziel. Für den Pastoraltheologen Joseph Amberger war die Unmäßigkeit 1869 eines der wesentlichen Merkmale des Ultramontanismus. Dieser ziele auf eine möglichst hohe Zahl an Priestern ab, was er als Imponiergehabe qualifizierte. Er riet den Bischöfen, die jungen Priester nicht zu früh in die Seelsorge zu schicken. Außerdem sollten sie bei den Weihezahlen »Maß und Ziel halten«, um die priesterliche Würde nicht zu gefährden.1016 Vor allem konkretisierte sich die ultramontane Unmäßigkeit für ihn aber in der nach »Allwissenheit« strebenden kirchlichen Bürokratie. Denn der »Bureaukratismus geht von dem Princip aus, Alles in jeglicher Beziehung regieren, den Gesetzen bis zum letzten Punkt überall Geltung verschaffen zu wollen«. Deshalb »entspringen Bureaukratismus und Absolutismus aus einer Quelle und diese ist die Leidenschaft der Herrschsucht oder des ausgeprägten Hochmuthes, ein Element, das in der Kirche Christi und deren Verwaltung nie zulässig ist«.1017 Denn die Verwaltung einer Diözese sei nur dann richtig, »wenn sie den Charakter der Herrschaft Christi an sich trägt«. Diese äußere sich in »Güte und Menschenfreundlichkeit«. Es handle sich dabei um eine »Herrschaft der Liebe«. Christus »will sein Volk nicht beherrschen wie ein Tyrann, sondern leiten und weiden wie ein Hirt«.1018 Deshalb widerspreche die bureaukratische Form oder Formulirung der bischöflichen Erlasse ganz und gar dem Geiste Christi und der alten apostolischen Zeit; leider ist da viel modernisirt worden, während man in anderen Stücken so strenge am Altkirchlichen festhalten will; am übelsten nehmen sich Hirtenbriefe im Kanzleistyl aus, Hirtenbriefe, denen man deutlich anmerkt, daß sie ohne Herz und Hirtenliebe fabrizirt sind.1019

Deshalb, so Amberger, dürfe kirchliche Verwaltung »nie und nimmer den Charakter des Bureaukratismus« tragen.1020 Wenn sie ihn trotzdem trage, dann wegen des von der Säkularisation verursachten bischöflichen Monarchismus: 1014 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1891 (25.12.1891). 1015 Oberhirtliches Verordnungs-Blatt 1893 (27.1.1893). 1016 Amberger: Diöcesanverwaltung 12–14. Tatsächlich nahm die Personalstärke des Klerus im Laufe des 19. Jahrhunderts stark zu. Vgl. Anderson: Grenzen 200–203. 1017 Amberger: Diöcesanverwaltung 47. 1018 Ebd. 10. 1019 Ebd. 50. 1020 Ebd. 10.

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Gerade in unserer Zeit ist es so schwer, hier Maaß zu halten, weil durch die Stürme der Säcularisation der ganze Bau des äußeren Kirchenwesens zertrümmert worden ist. Wir haben uns erst zur Noth in den untern Räumen der Ruinen des einst so großarti­ gen Baues wieder eingerichtet.

Der Klerus sei »beinahe auf Discretion in die bischöfliche Gewalt gegeben«, die Kontrolle durch die Domkapitel sei ausgefallen, es herrsche der »Absolutismus der Bischöfe«.1021 Eine weitere Quelle für die Wahrnehmung der ultramontanen Kirche als nervös liegt in der spezifisch neuscholastischen Naturwissenschaftstheologie. Offenbarung und Vernunft waren für die Neuscholastik die zwei Quellen menschlicher Erkenntnis. Da beide Gott zum Urheber haben, konnten sie nicht im Widerspruch zueinander stehen, ansonsten musste es sich um einen Irrtum handeln. Dieser wurde dann wegen des Primats der Offenbarung in der Wissenschaft gesucht.1022 Der Katholik wies 1853 auf die Abhängigkeit der Wissenschaft von der »Gesammtrichtung einer Zeit« hin, weshalb sie »unter den Zweifel fällt, den man gegen die in Schwang gehenden Ansichten einer Zeit zu hegen berechtigt ist«. Deshalb nahm die Zeitschrift für sich in Anspruch, »an der Wahrheit solcher angeblicher Resultate der Forschung zu zweifeln, die dem Apologeten der Offenbarung Schwierigkeiten zu bereiten vorgeschoben werden«.1023 In der Enzyklika »Libertas praestantissimum« stellte Leo XIII. am 20. Juni 1888 fest, »daß zwischen den von Gott geoffenbarten Wahrheiten und jenen der Vernunft ein eigentlicher Widerspruch nicht stattfinden kann, so daß, was mit jenen in Gegensatz tritt, eben dadurch auch nothwendig falsch sein muß«. Gerade deshalb stehe die Kirche der Forschung »nicht nur nicht entgegen, noch ist sie eine Feindin der Bildung und des Fortschrittes, sondern sie trägt nicht wenig dazu bei, Licht zu verbreiten, Schutz und Sicherheit zu verleihen«.1024 Als der Jesuit und Astronom Braun 1889 die »immensen Zeiträume« der Kosmogonie mit der Offenbarung in Einklang zu bringen versuchte, leitete er die Möglichkeit dazu davon ab, 1021 Amberger: Diöcesanverwaltung 8 f. 1022 Vgl. Meurers: Katholizismus 27 f. – Dabei weist Bergunder: Religion 86–141 darauf hin, dass die religiösen Versuche zur Etablierung einer Demarkationslinie zur Wissenschaft von Anfang an von Versuchen begleitet waren, Religion und Wissenschaft zu vereinen. – Gladigow: Religion 21 f. sieht in diesem Bemühen um Kongruenz zwischen Naturwissenschaft und Theologie ebenfalls kein spezifisch katholisches, sondern ein allgemein religiöses Phänomen. Denn er betrachtet Religion als System, dass die Differenzierungsfolgen, denen es selbst seine Entstehung verdanke, ständig zurückzunehmen versuche, indem es etwa Vorgaben für Recht und Wirtschaft mache, die die Differenzierung negierten. Darin sieht er eine spezifisch europäische Dynamik des Konflikts zwischen Kirche und Welt. 1023 Die Behandlung der Naturwissenschaften in der Schule nach christlicher Auffassung. In: Der Katholik 8 (1853) 199–213 und 269–283, hier 272 f. 1024 Rundschreiben III s. v. Libertas praestantissimum 44.

506  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  daß alle menschlichen Wissenschaften mit den Lehren der Offenbarung harmoniren müssen, eben weil die übernatürliche Offenbarung nicht minder als die natürliche in der Schöpfung selbst gelegene, von Gott, dem Urquell aller Wahrheit, ausgeht, und folglich ein wirklicher Widerspruch nicht bestehen kann.1025

Alles neu entstandene Wissen musste deshalb auf seine Integrationsfähigkeit in die Theologie überprüft werden. Wegen der Fortschritte der Natur- und Sozialwissenschaften mussten sich die Theologen daher in bisher nicht gekanntem Ausmaß mit diesen auseinandersetzen.1026 Der Jesuit Costa-Rossetti mahnte deshalb 1888 an, dass »die katholische Wissenschaft kein Gebiet menschlichen Wissens vernachlässigen soll«.1027 Deshalb stellte der Jesuit Franz von Hummelauer 1879 in den Stimmen aus Maria Laach geologische Berechnungen zum Alter der Menschheit an, wobei er zu dem Ergebnis kam, dass die Bibel zuverlässiger sei als die Geologie.1028 Wasmann wollte 1904 die Evolutionstheorie mit der Offenbarung in Einklang bringen. Seine Annahme bestand in einer »natürlichen Entwicklung der organischen Formen, in folgerichtiger Anwendung des Grundsatzes: Gott greift dort nicht unmittelbar in die Naturordnung ein, wo er durch natürliche Ursachen wirken kann«. Die Evolutionstheorie stelle deshalb »die letzte Konsequenz der kopernikanischen Weltanschauung dar, die wohl heute niemand mehr als ›unchristlich‹ bezeichnen wird«.1029 Dabei warnte Wasmann davor, sich von den atheistischen Vertretern der Evolutionstheorie nicht in eine wissenschaftlich nicht haltbare Verweigerungshaltung gegenüber dieser drängen zu lassen: »Wir geraten dann in dieselbe verfehlte Stellung, welche einst die Verteidiger des ptolemäischen Systems gegenüber der kopernikanischen Weltanschauung einnahmen.« Er unterschied deshalb zwischen der empirischen und der spekulativen Komponente der Evolutionstheorie, wobei nur erstere von der Theologie zu akzeptieren war. Unhintergehbar war ihm deshalb, »daß die hypothetische Stammesentwicklung der organischen Arten eine hinreichende erste Ursache gehabt haben müsse«.1030 Die Evolution wurde zu einem der natürlichen Gesetze, die auf Gottes Vorsehung zurückgingen.1031 Der katholische Arzt Gassert gründete seine Hoffnung auf die Überwindung der klerikalen Nervosität 1902 sogar auf die Evolutionstheorie, die auch für Priester gelte:

1025 Braun: Kosmogonie 169–178. 1026 Vgl. Meurers: Katholizismus 29. 1027 Costa-Rossetti: Grundlagen 2. 1028 Hummelauer: Berechnungen. 1029 Wasmann: Biologie 182. 1030 Ebd. 184–186. 1031 Ebd. 272.

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Die anatomische Voraussetzung dieses Entwicklungsfortschritts ist vorhanden. Das physiologische Gesetz, nach dem er möglich ist, ist das von Darwin formulierte Gesetz der Anpassungsfähigkeit. Dieses Gesetz existiert tatsächlich, d. h. die Eigenschaft des Menschen im ganzen und jedes seiner Organe im einzelnen, sich stärker zu entwickeln, sobald stärkere Anforderungen vom Leben an ihn als Ganzes oder an ein einzelnes seiner Organe dauernd gestellt werden, ist Tatsache.1032

Der Franziskanerprovinzial Anton Hammerschmid versuchte 1895 in der Theologisch-praktischen Monats-Schrift die Frage, ob die Menschheit von den Söhnen Noahs abstamme oder ob es vorsintflutliche Völker gegeben habe, zu beantworten. Obwohl die Behauptung der Sprachwissenschaftler und Anthropologen von der Existenz vorsintflutlicher Völker im Widerspruch zur Bibel stehe, war er überzeugt, diesen Widerspruch als Theologe auflösen zu können.1033 Er lehnte es ab, »die Sünde und die Strafe des sethito-kainitischen Hauptstammes so ohne weiteres auf die übrigen Völker auszudehnen«, genauso wenig »wie Gott später sämtliche Noachiden strafte, wenn er seinen Zorn über die vom Gesetze abgefallenen Israeliten ausgoß«. Noah habe überhaupt nicht wissen können, ob »Australien und Amerika, ob Afrika und Europa überschwemmt waren«. Er habe nur Aussagen über den »Komplex des sethito-kainitischen Volkes« treffen können.1034 Deshalb nahm Hammerschmid die Existenz von »außernoachischen Völkern« an, die sich bereits vor Noah von den Nachkommen Kains getrennt hätten. Sie »stehen zu den Noachiden in einem allerdings nicht bestimmbaren Grade der Seitenverwandtschaft oder Vetterschaft als Nachkommen von den Brüdern der in der Bibel genannten vorsintflutlichen Patriarchen«. Die Unterschiede von Klima, natürlicher Umwelt, wirtschaftlicher Lebensweise, Kultur sowie »Vererbung zufälliger Verletzungen und spontaner Eigentümlichkeiten« habe dann zur Ausdifferenzierung von verschiedenen Rassen »im Kindesalter der Menschheit« geführt. Diese hätten sich dann »gegen den Eintritt der Pubertät« gefestigt.1035 Je weiter die Menschen vom »Noachidentypus« abwichen, desto früher seien sie von diesem getrennt worden.1036 Dabei gehörten Indogermanen, Semiten und Hamiten nach ihrem »Rassetypus« und wegen ihrer flektierenden Sprachen zu einer gemeinsamen Familie.1037 Über den Grund der Verwandtschaft von baskischer und Berbersprache rätselte er: Die Berber sind Hamiten, die Phut der Noachidentafel. Es ist nun zweierlei möglich: entweder es kamen phutitische Völker über die Meerenge von Gibraltar nach Spanien und verbreiteten sich über ganz Westeuropa, dann hat die eigene ›Europäische Rasse‹ 1032 Gassert: Arbeit 47 f. 1033 Hammerschmid: Beschränktheit 679 f. 1034 Ebd. 683 f. 1035 Ebd. 688. 1036 Ebd. 691. 1037 Ebd. 760.

508  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  keine Berechtigung; oder wie Fr. v. Schwarz vermutet, und wie es nach dem auffallenden Typus viel wahrscheinlicher ist, die phutitischen Einwanderer fanden in Spanien bereits ein angesessenes Volk vor und vermischten sich mit demselben, und dann hätten wir in den Basken allerdings ein vornoachisches Volk vor uns und wir selbst hätten in unsern Adern einen großen Teil außernoachischen Blutes.1038

Darin glaubte er nun aber eine Übereinstimmung zwischen Bibel und Wissenschaft zu erkennen: Diese auffallende Übereinstimmung der Bibel und der Wissenschaft, zweier voneinander unabhängiger Quellen, von denen die Wissenschaft großentheils nichts weniger als bibelfreundlich ist, muß mehr als Zufall sein, sie muß ihren Grund in der objektiven Wirklichkeit haben. Demnach sind in der That nur die Indogermanen, Hamiten und Semiten Nachkommen des Sintflutpatriarchen, die übrigen Völker der Erde aber nicht.1039

Im Jahr 1898 widmete sich Hammerschmid dann der Verschiedenheit der Sprachen und wollte diese mit dem biblischen Bericht vom Turmbau zu Babel in Einklang bringen.1040 Jedes Volk habe »sein eigentümliches logisches, metaphysisches, psychologisches und moralisches System«, das sich in der Sprache widerspiegelt», denn »Volksgeist» und »Sprachgeist» hielt er für identisch. Deshalb opfere der »gefühlsreiche» Italiener »dem musikalischen Wohlklang die Bedeutung und die rauh klingenden Konsonanten; der verstandesmächtige Deutsche bewahrt umgekehrt die geistige Bedeutung und opfert lieber den Wohllaut«.1041 Dabei markierte der Turmbau von Babel für ihn nicht die Vollendung, sondern den Beginn der sprachlichen Unterschiede zwischen Semiten und Hamiten.1042 Im Entwicklungsstadium grammatischer Isolation hätten sich die indogermanischen Völker (Japhetiden) von den Noachidenstämmen, die sich grammatikalisch zur Agglutination weiterentwickelten, getrennt. Bevor die H ­ amito-Semiten von der Agglutination zur Flexion übergingen, hätten sich dann die Hamiten von den Semiten getrennt. Die Hamiten seien in diesem Stadium verblieben, die Semiten zur völligen Flexion übergegangen.1043 Vor der Sintflut bereits hätten sich die »Stammväter« der ostasiatischen und »ural-altaischen« Völker abgesondert.1044 Zusammenfassend urteilte er: 1038 Ebd. 768. – Hammerschmid bezog sich auf Franz von Schwarz, Astronom in russischen Diensten und autodidaktischer Ethnologe. Er vertrat einen »säkularisierten Schöpfungs­ mythos« und suchte die Urheimat der Menschheit im Unterschied zu den Darwinisten, die Afrika bevorzugten, in Übereinstimmung mit der Bibel in Asien. Vgl. zu ihm Torma: Turkestan-Expeditionen 72–74. 1039 Hammerschmid: Beschränktheit 774. 1040 Ders.: Sprachverwirrung 1. 1041 Ebd. 3–5. 1042 Ebd. 11–15. 1043 Ebd. 92 f. 1044 Ebd. 99 f.

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Die Bibel führt uns bezüglich der Völker- und Sprachentrennung der Noachiden genau an den Punkt, an welchen die Sprachforschung leitete; die Bibel kennt eine allgemeine Sprachverwirrung zu Babel ebensowenig als in der Philologie eine solche zulässig ist; beim Ereignis zu Babel war nur ein einziges semitisches Volk, das Haus Arphachschad, also die Vorfahren Abrahams, zugegen.1045

Dabei gründete er die Annahme einer kontinuierlichen Sprachentwicklung in der auf den Sündenfall folgenden Neigung zur Sinnlichkeit.1046 Neben diesen sprachwissenschaftlichen Anstrengungen erstreckte sich der ultramontane Eifer auch auf die Psychologie, in der etwa der Jesuit Gutberlet dilettierte,1047 während sich Tilman Pesch etwa autodidaktisch in Hirnforschung übte1048 und Lorinser die Mineralogie im Hinblick auf die Theodizee untersuchte.1049 Vor allem aber rief immer wieder der mögliche Ablauf des Weltuntergangs spekulativen Eifer hervor. Georg Bandorf beschrieb 1860 den physikalischen Ablauf des Weltuntergangs, den er mit der biblischen Offenbarung in Einklang bringen wollte. Da Mose von Gott mitgeteilt worden sei, dass die Menschheit nicht durch Wasserfluten vernichtet werde (Mose 9, 8–17), könne sie in dieser Hinsicht »vollkommen beruhigt sein«. Der Weltuntergang werde – nach Aussage der Evangelisten Matthäus, Lukas und Johannes – durch herabfallende Gestirne herbeigeführt. Dabei legte Bandorf seinen Überlegungen die astronomische Beobachtung zugrunde, dass sich die elliptische Bahn der Erde um die Sonne periodisch einem Kreis annähere, währenddessen sich der Verlauf des Mondes der Erde nähere. Wenn sich die Erdumlaufbahn wieder der Ellipse nähere, entferne sich der Mond allerdings nicht wieder von der Erde, da es keine Kraft gebe, die die Anziehungskraft der Erde überwinden und den Mond wieder auf seine vorherige Entfernung bringen könne. Deshalb nähere sich der Mond unaufhaltsam der Erde. Daher werde der Mond das Sonnenlicht letztlich verfinstern, was die Ankündigung des Weltuntergangs durch eine Sonnenfinsternis bei Matthäus, Lukas und Johannes erkläre. Da der Mond dann wahrscheinlich ins Meer stürzen werde, aber nach Moses keine Flut auslösen durfte, ging Bandorf davon aus, dass die »Sprengkraft« des Aufpralles die Erde zertrümmern werde. Und dann werde sich der Mond mit der Erde verbinden: »Die Attraktionskraft der Himmelskörper ist eben ein Naturgesetz, welches sich keinerlei Abweichungen erlaubt. Es muß diesem Gesetze zufolge der Mond dereinst mit unserer Erde sich wieder vereinigen.« Derartiges sei schon einmal geschehen, woraus der Mond überhaupt entstanden sei. Denn die Erdoberfläche sei derart zerklüftet, dass es »nicht ein Spiel des blinden Zufalls sein kann, sondern daß eine mächtige 1045 Ebd. 158. 1046 Ebd. 166 f. 1047 Gutberlet: Kampf; ders.: Psychophysik; ders.: Psychologie. 1048 Pesch: Gehirn; ders.: Thätigkeit. 1049 Lorinser: Mineralogie.

510  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  Kraft die Erde ehefrühestens getroffen und ihr ein Stück entrissen hat, welches diese wieder zurückfordert als ihr unveräußerliches, als ihr nicht entwendbares Eigenthum«. Denn so wie der Mensch von Erde sei und zu ihr zurückkehre, so sei auch der Mond von Erde und kehre zu ihr zurück. Während Bandorf für den Zeitpunkt des Weltuntergangs, gemäß dem päpstlichen Verbot, keine genaue Vorhersage machen wollte, erschien ihm die Tatsache des Weltuntergangs wegen der beschriebenen physikalischen Beobachtungen aber unumstößlich: »Wir können uns daher an nichts zuverlässiger halten als an die göttliche Vorhersage. Knüpfen wir an diese an und blicken dann hin auf die physischen Kräfte und Gesetze, so können wir alsdann kein günstiges Prognostikon für die Erhaltung der Erde als eines Planeten stellen.«1050 Vor allem dann der in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der so genannte Entropiesatz,1051 galt katholischen Autoren dann als Beweis für die Endlichkeit der Welt und damit ihre Erschaffung durch einen Schöpfer, während die atheistischen Monisten seine Geltung ablehnten und sich für den Beweis der Ewigkeit der Materie auf Massen- und Energieerhaltungssatz stützten, wobei der Entropiesatz die lineare katholische Zeitwahrnehmung stützte, während sich die Monisten zu einer zyklischen Zeitwahrnehmung zurückentwickelten.1052 So sah der jesuitische Astronom Epping 1882 das Ende der Welt dann gekommen, wenn nach dem Entropiesatz alle Bewegung in Wärme umgesetzt sei.1053 Die Sonne werde ihre Energie verlieren und endlich erkalten; die Bedingung des Fortbestandes von pflanzlichem und thierischem Leben ist damit aufgehoben. Ja, die Erde selbst wird schon viel früher das Wasser, den Hauptfactor für irdische Organismen, von der Oberfläche in ihr Inneres aufgenommen und so eigenhändig ihre besten Kinder vernichtet haben; als kahle, nackte Kugel muß sie dann, wie jetzt schon unser Mond, die Sonne umkreisen.1054

Es werde der »Zeitpunkt eintreten, wo alle anderen Thätigkeitsformen unwiederbringlich in Wärme sich umgesetzt haben, der Augenblick, wo über das ganze Weltall das Gleichgewicht der Temperatur herrscht«. Dies sei dann der »Tod des Weltalls«.1055 Schneider suchte das Ende der Welt 1896 dagegen im Verbrauch der Kohlensäure.1056 Luft und Wasser verschwinden, »die Erde bildet eine kalte, er 1050 Bandorf: Umgestaltung 357–367. 1051 Zur weltanschaulichen Bedeutung der Hauptsätze der Thermodynamik vgl. Messerli: Zeiteinteilung 191–196. 1052 Vgl. dazu Bumüller: Welt. 1053 Epping: Kreislauf 1 f. 1054 Ebd. 69. 1055 Ebd. 94. 1056 Schneider: Leben 360: »Da nun einerseits die unterirdischen Quellen der Kohlensäure stetig, wenn auch nur sehr allmählich, abnehmen, anderseits die Atmosphäre zur Bildung un-

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starrte, ausgetrocknete Kugel, deren Oberfläche überall zerrissen und zerklüftet und alles organischen Lebens beraubt ist«.1057 Der Dogmatiker und Astronom Josef Pohle versuchte dann 1903 die biblischen Aussagen zum Weltuntergang mit dem kopernikanischen Weltbild in Einklang zu bringen. Dabei war für ihn ein »vollständiger Frontwechsel« zu vollziehen, da die Vorstellung, dass die Fixsterne vom Himmel fallen, nicht mehr vertreten werden könne. Deshalb gab es für ihn zwei Möglichkeiten. Entweder werde die Erde durch Kollision mechanisch zertrümmert oder als Folge »plötzlicher Glutausbrüche« versengt. Dabei komme das Konzept der Kollision den biblischen Beschreibungen am nächsten. Die aristotelische Anschauung über die Inkorruptibilität des Himmels lasse sich spätestens seit der Erfindung der Spektralanalyse durch den Chemiker Robert Wilhelm Bunsen (1811–1899) und den Physiker Gustav Robert Kirchhoff (1824–1887) nicht mehr aufrecht erhalten: Sonne und Fixsterne, Planeten und Monde stellen, wie wir heute mit Bestimmtheit wissen, kein Bild unbeweglicher Ruhe und Unzerstörbarkeit, sondern rastloser Tätigkeit und unausgesetzter Wechselzustände dar. Selbst auf unserem Erdmonde mit seinem scheinbar unveränderlichen, in majestätischer Ruhe lächelnden Antlitz sind neuerdings Herde lokaler Um- und Neubildungen, Einsturzstellen an gewissen Kratern erkannt worden. Wo Veränderungen, da ist Verfall; wo Verfall, da ist Untergang und Tod.1058

Am wahrscheinlichsten erschien ihm deshalb die Apokalypse durch Meteoritenhagel, der den von Petrus geschilderten »Weltenbrand« (II. Petr. 3,10) hervorrufe.1059 Das Regeldispositiv umging das kirchliche Verbot, die Apokalypse zu berechnen, indem es die naturwissenschaftliche Wahrscheinlichkeit des Weltendes bestimmte und rein materialistisch in die Offenbarung zu integrieren versuchte. Der Hoffnungscharakter der Apokalypse verlor sich, es blieben Zerstörung und Pessimismus und eine vom Menschen auf die Erde übertragene Nervosität. Die Bemühung um die Kongruenz der Natur- und Sozialwissenschaften mit der Theologie sind Konkretionen der Suche nach normalisierenden Gesetzmäßigkeiten im Regeldispositiv. Das Regeldispositiv normalisierte den agonalen Entscheidungszwang des Exorzismusdispositivs, was ihn umso unentrinnbarer erscheinen ließ. Und gleichzeitig wurde er begrenzt. Dieser Wirkungszusam-

löslicher Karbonate bei der Verwitterung von Gesteinen sowie zur Bildung von kohlensaurem Kalk bei der Entstehung zahlloser Tierorganismen fortwährend Kohlensäuregehalt abgiebt, den sie nicht zurückerhält, so muß schließlich der Moment eintreten, wo dieses Gas gänzlich aus der Luft verschwunden und alles organische Leben erstorben sein wird.« 1057 Ebd. 361. 1058 Pohle: Lehre 303–305. 1059 Ebd. 313.

512  Sozialethik der Berechenbarkeit – Das Regeldispositiv  menhang ergab das ungeduldige, gereizte und nervöse Erscheinungsbild der ultramontanen Kirche um die Jahrhundertwende. Der von Ehrhard beeinflusste Franz Walter stellte 1905 jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Nervosität, Pessimismus und einer durch Gesetzmäßigkeiten eingeschränkten Willensfreiheit fest: Ein geschwächtes Nervensystem hat meist als Begleiterscheinung eine mehr oder weniger hochgradige Willensschwäche, welche oft den Anschein völligen Mangels der Willensfreiheit bietet. Der moderne Pessimismus, die sittliche Krankheit unseres Zeitalters, hängt mit der Nervenschwäche der modernen Menschen zusammen. Nichts aber ist der sittlichen Lebensführung hinderlicher als der düstere, verzweiflungsvolle Pessimismus.1060

Je mehr die natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse zunahmen, desto weniger waren sie mit der Offenbarung noch vereinbar. Theologische Positionen mussten geräumt werden. Der jesuitische Astronom Braun enthielt sich 1889 zwar aller Berechnungen des Weltendes, bestimmte aber das bisherige Alter der Erde aufgrund der Abkühlungsdauer heißer Massen auf 40 bis 200 Millionen Jahre. Deshalb kam er zu dem Schluss, dass die sieben Tage der Schöpfungsgeschichte nicht mit einem kalendarischen Tag gleichzusetzen seien.1061 Wegen der Astrophysik war es für Schneider 1896 nicht mehr überzeugend, den Himmel als »neue, überirdische Körperwelt« zu beschreiben, sondern als »die Höhe und die Fülle der Gotteserkenntnis«. Der Himmel sei kein Ort im physischen, sondern »im geistigen Sinne«. Der »Gegensatz zwischen Jenseits und Diesseits« sei kein räumlicher, sondern ein »zuständlicher«. Die »Bedingungen des sinnlichen Daseins« können nicht auf das übersinnliche Sein übertragen werden.1062 Die Bemühen um Kongruenz von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Offenbarung hatte in die Aporie und zur Überlastung geführt. Das Band zwischen wissenschaftlicher und theologischer Erkenntnis musste deshalb gelöst werden. Faulhaber, Bischof von Speyer und alttestamentlicher Exeget, forderte deshalb am 5. Januar 1913 in einer viel beachteten Rede das Ende der Bemühungen um die Kongruenz von Naturwissenschaft und Offenbarung: »Die Spannung zwischen Bibel und Naturwissenschaft ist gelöst, wenn wir in der Bibel nur Bibel, d. h. nur religiöse Belehrung, im Weinberg nur Weintrauben suchen«.1063 Er trennte die religiöse Aussagekraft der Bibel von der naturwissenschaftlichen. Dabei historisierte er die Offenbarung: Die Naturkenntnis der alten Welt ist hinter der modernen lorbeerumlaubten Naturwissenschaft um viele Lichtjahre zurückgeblieben, und da die biblischen Autoren in 1060 Walter: Leib 43. 1061 Braun: Kosmogonie 169–178. 1062 Schneider: Leben 329. 1063 Bibel und Naturwissenschaft 106 f. Zu dieser Rede vgl. Schindler: Kairos 190.

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solchen Fragen sich auf der gleichen Höhenlinie bewegen wie ihre Zeitgenossen, fällt der Vorwurf der Rückständigkeit auch auf die biblischen Bücher zurück.1064

Das Regeldispositiv mit seiner theologischen Begründung immanenter Gesetzmäßigkeiten scheiterte letztlich. In den Mittelpunkt rückten nun das bloße Mögliche und Machbare.1065

1064 Bibel und Naturwissenschaft 104. 1065 So jedenfalls die These von Stefan Gerber in seiner Habilitationsschrift über die katholische Sozialethik in der Weimarer Republik. Vgl. Gerber: Pragmatismus.

VI. Zusammenfassung Das religiöse System des Katholischen hielt trotz der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft seit der politisch-ökonomischen Doppelrevolution seinen gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch im 19. Jahrhundert aufrecht bzw. dessen Notwendigkeit ergab sich durch das Ende der als gottgegeben wahrgenommenen vorrevolutionären Strukturen erst. D. h. es ergab sich in dem Maße eine Erweiterung des religiös determinierten Handlungsraums, als sich auch der außerreligiöse Handlungsraum erweiterte. Handlungsmöglichkeiten ergaben sich aus den zunehmenden politischen Partizipationschancen, die nicht durch eine prinzipiell ablehnende Haltung dem konkreten Staat gegenüber eingeschränkt wurden und sich durch die Gründung des deutschen Nationalstaats sowie die Entstehung des Sozial- und Interventionsstaats noch erweiterten. Handlungsnotwendigkeiten ergaben sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung, die als Industrialisierung und Kapitalisierung zu sozialen Problemen führte. Die zunehmende Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten wurde als zunehmende Unsicherheit empfunden, was religiöse Kompetenz schon deshalb herausforderte, da es sich bei der Kontingenzbewältigung um ein religiöses Kernanliegen handelt. Um Unsicherheit zu bewältigen, entstanden im Laufe des 19.  Jahrhunderts drei verschiedene katholische Kontingenzdispositive – bestehend aus Diskursen, Handlungen und Institutionen – mit gesamtgesellschaftlicher Reichweite. Dabei führte der katholische Weg von der Suche nach Geborgenheit als immanent/transzendenter Sicherheit (Gnadendispositiv) über die Aufspaltung in transzendente Gewissheit und immanentes Risiko (Exorzismusdispositiv) hin zur Berechenbarkeit dieses immanenten Risikos bei voranschreitender Emanzipation von der Transzendenz (Regeldispositiv). Dieser Weg führte in sozialethischer Hinsicht von der caritativen Fürsorge über die juridische Geltendmachung der Willensfreiheit im Kampf gegen das Böse zum normalisierenden Leitbild des Nutzens. Das Gnadendispositiv war orientiert am gefährlichen Gott, das Exorzismusdispositiv am riskanten Teufel und das Regeldispositiv am regelmäßig handelnden Menschen. An diesem Punkt gelangte der gesamtgesellschaftliche religiöse Gestaltungsanspruch des Katholischen dann bereits vor dem Ersten Weltkrieg in eine nervöse Aporie. Die Theologie hatte ihren Gegenstand hinter sich gelassen. Grundlage für die spezifische Gestalt dieser sozialethisch wirksamen Kontingenzdispositive ist das Vorhandensein von (freiwilliger) Liebe und (erzwing­ barem) Recht als zweier konkurrierender, miteinander im Widerspruch stehen-

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der kommunikativer Generalisierungen im Christentum. Dabei konstituierte die religiöse Generalisierung Liebe, da es sich dabei um eine göttliche Eigenschaft handelte, ein begriffliches Netz aus Liebe, Freiwilligkeit, Gefahr und Gott. Und Recht konstituierte ein begriffliches Netz aus Recht bzw. Gerechtigkeit, Zwang, Berechenbarkeit, Risiko und dem Teufel, da es sich bei diesem um eine juridische Figur handelt, da dieser, wenn nicht in Gottes Auftrag, so durch dessen Zulassung, straft und prüft. Dabei ist das Verhältnis zwischen Liebe und Recht im Katholischen derart unentschieden, dass sie gleichermaßen zur Grundlage verschiedener sozialethisch wirksamer Kontingenzdispositive werden konnten. Dabei handelt es sich bei Liebe und Recht um zwei Generalisierungen, deren Dichotomie bereits vor der politisch-ökonomischen Doppelrevolution verschiedene theologische Diskurse prägte, etwa die verrechtlichte Kasuistik der Spätscholastik im Gegensatz zu caritativen Tendenzen in der jansenistischen Moraltheologie. Neu war nun, dass diese beiden Generalisierungen nach der Doppelrevolution zu sozialethischer Wirksamkeit gelangten. Denn die politischökonomische Struktur war seither nicht mehr gottgegeben, zunehmend stellte sich die Frage, wie eine solche Struktur aussehen musste, um ein gottgefälliges Leben zu ermöglichen. Aus der Moraltheologie differenzierte sich die Sozialethik aus. Liebe und Recht standen als religiöse Generalisierungen zur Bewältigung dieser Entwicklung zur Verfügung. Das unmittelbar nach bzw. noch während der Doppelrevolution in sozialethischer Hinsicht vorherrschende Gnadendispositiv kommunizierte über Liebe und wirkte deshalb personalistisch. Dies konkretisierte sich in der sozialen Bedeutung der Freundschaftszirkel, in der Abneigung gegenüber Vereinen und überhaupt objektiven Strukturen, weshalb auch das Kirchenbild personalistisch war. Durch seinen Anspruch, soziale Probleme auf personalistische Weise zu lösen, steht das Gnadendispositiv gleichsam im Übergang von der Individualzur Sozialethik. Trotzdem ist es kein Relikt der ständischen Gesellschaft aus der Zeit vor der politisch-ökonomischen Doppelrevolution. Die Freundschaftszirkel und die nach den Prinzipien von Gabe und Gegengabe funktionierende Barmherzigkeit sind sogar nur unter den Bedingungen einer bereits weitgehend aufgelösten ständischen Gesellschaft, die ja immer eine rechtlich determinierte war, möglich. Überhaupt hatte sich der Inhalt des Liebesbegriffs von einem äußeren, ständisch erwarteten Verhalten zu einer inneren Haltung gewandelt und konnte nur so ein nicht-juridisches Kontingenzdispositiv prägen. Das Gnadendispositiv ist deshalb Ausdruck einerseits aufgelöster ständischer Strukturen und andererseits geringen ökonomischen Handlungsdrucks und geringer politischer Partizipationsmöglichkeiten. Die Immanenz, die von der Transzendenz nur schwach getrennt war, wurde als nicht verbesserungsmöglich betrachtet. Sie hatte Anteil an der göttlichen Vollkommenheit, wie es in der Reich-Gottes-Lehre formuliert wurde. Deshalb wurden Zukunftsvorhersagen in Form von Prophezeiungen und Analogieprognosen von der Vollkommenheit abgeleitet. Darin bereits zeigte sich

516 Zusammenfassung der statische und fatalistische Charakter des Gnadendispositivs, der sich auch in sozialethischer Hinsicht äußerte. Die Wahrnehmung von Zivilgesellschaft als einer objektiven Struktur jenseits von zwischenmenschlicher Kommunikation gab es nicht. In Ungleichheit gründende soziale Probleme waren deshalb auf der Grundlage persönlicher Beziehungen zu lindern, nicht zu lösen. Sozialer Ungleichheit wurde Heilsrelevanz und dadurch religiöser Sinn verliehen. Sie war göttlichen Ursprungs und deshalb nicht aufzuheben. Soziale Egalisierungsversuche wurden nicht zuletzt in Erinnerung an die Französische Revolution als dämonisch gewertet. Die menschliche Willensfreiheit als zentraler Faktor katholischer Anthropologie war beschränkt auf diejenigen, die die Möglichkeit zu geben hatten. Leiden dagegen musste als Teil der göttlichen Vorsehung akzeptiert werden – insbesondere von denjenigen, die nichts zu geben hatten. Gott war unberechenbar, aber fürsorglich. In Gott war die größte Sicherheit, die für den Menschen in der Immanenz zur größten Unsicherheit, einer Gefahr,1 werden konnte. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Gnadendispositiv in der Um­­ setzung des gesamtgesellschaftlichen katholischen Gestaltungsanspruchs vom juridischen Exorzismusdispositiv ersetzt. Die dynamische wirtschaftliche und politische Entwicklung des frühen 19.  Jahrhunderts führte dazu, dass Erfahrungsraum und Erwartungshorizont immer weiter auseinandertraten. Es entstand ein Möglichkeitsüberschuss bzw. ein erweiterter menschlicher Handlungsraum zur Veränderung der Welt. Die Welt konnte nicht mehr als statisch und deshalb auch nicht mehr als vollkommen wahrgenommen werden. Der Schritt von der Welt, die unvollkommen war, da sie sich auf dem Weg zur Vollkommenheit des Reiches Gottes befand, zur Welt die an sich unvollkommen war und sich nicht entwickelte, war klein, aber eine Grenze war dadurch überschritten. Der erweiterte Handlungsspielraum führte zu einer Dämonisierung der Immanenz. Denn der Möglichkeitsüberschuss wurde als generalisierte Willensfreiheit – der katholische Grund für die Möglichkeit zur Entscheidung für das Böse  – verarbeitet. Die Welt wurde zum Kampfplatz gegen das Böse. Die Folge war eine recht stabile Grenze zwischen göttlichem Jenseits und menschlich/dämonischem Diesseits. Die göttliche Vollkommenheit wurde allein im Jenseits verortet, das Diesseits wurde zum unvollkommenen Kampfplatz gegen das Böse, die Kirche als Ort der Gewissheit und des Leidens heterotopisiert und von der Welt vollends abgesondert, darin die personalistische Liebe von verobjektivierten Strukturen eingehegt und kontrolliert. Die sozialethische Betonung der generalisierten Willensfreiheit führte dazu, dass das reaktive persönliche Leiden an Heilsrele 1 Im Unterschied zu dieser innerreligiösen Analyse der Perzeption von Gefahr und Risiko und ihre Zuordnung zu transzendenten Kräften meint der »gefährliche Gott« von Ulrich Beck die Gewaltanfälligkeit insbesondere monotheistischer Religionen und ihre darin gründende Gefährlichkeit für die Umwelt. Vgl. Beck: Gott.

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vanz verlor und durch die Forderung nach proaktiver Veränderung sozialer und ökonomischer Strukturen ersetzt wurde. Es ging nicht mehr um das Leiden um des Himmels willen, sondern um die Befähigung zum Kampf gegen das Böse. Die reaktive Caritas wurde durch das proaktive Recht als Generalisierung verdrängt. Die sozialethischen Konzepte im Exorzismusdispositiv zielten nicht auf die Transformation von sozialer Unsicherheit in soziale Sicherheit, sondern auf die Transformation von Gefahren in Risiken. Die Welt war ein unvollkommener und unsicherer Ort, Sicherheit gab es nur im Jenseits. Das Dual von Armut und Reichtum, das im Gnadendispositiv Heilsrelevanz besaß, wurde nun als Gefahr betrachtet. Heilsrelevanz besaß nun der Mittelstand, der allein dem anthropologisch-sozialethischen Postulat des immanenten Risikos adäquat erschien. Dieser Mittelstand musste nicht eigentlich geschützt, sondern erst hergestellt werden. So wie Diätetik vorbeugend gegen die dämonische Besessenheit schützte, so sollten die strukturell wirksamen Entwürfe der Sozialethik (Sozialversicherungen, betriebliche Mitbestimmung, Gewinnbeteiligung, Arbeiterschutz) den Kampf gegen das Böse vorbeugend ermöglichen. Das Exorzismusdispositiv war deshalb von sozialer und zeitlicher Dynamik. Allerdings war diese begrenzt. Es sollte eine riskante Gesellschaft hergestellt werden, nicht aber eine gewisse Gesellschaft etwa sozialistischer Art. Im Exorzismusdispositiv herrschte das Paradox der Unvollkommenheit. Es sollte ein Zustand proaktiv hergestellt werden, der zwischen Gefahr und Sicherheit lag und sich nicht weiterentwickeln sollte. Unvollkommenheit aber drängt zur Entscheidung und damit zur Entwicklung. Daraus entstand ein agonaler Dauerzustand, der sich, einmal implementiert, nicht auf den Kampf mit dem Staat im Kulturkampf oder, umfassender, auf den Kampf gegen die so genannte Moderne beschränken lässt. Betonte das Gnadendispositiv die göttliche Vorsehung, so das Exorzismusdispositiv die persönliche Verantwortlichkeit vor Gott und daher den Kampf gegen das Böse. Dabei handelte sich um ein juridisches Problem. Recht ist die Generalisierung, mit der im Exorzismusdispositiv religiöser Sinn verliehen wurde, konkretisiert in Gerechtigkeit und rechtlichem Zwang. Die Juridifizierung der gesamten Theologie durch die Neuscholastik ist deshalb als theologische Bewältigung des Möglichkeitsüberschusses zu sehen, als Antwort auf zunehmenden sozialen Handlungsdruck und zunehmende gesellschaftliche und politische Partizipationsmöglichkeiten. Die Liebe erschien zunehmend als Mittel der Erhaltung, die durch das Recht als Mittel der Veränderung ersetzt werden sollte. Anders als Liebe vollzieht sich Recht nicht in persönlichen Beziehungen, sondern wirkt transpersonal durch seine Formalität. Die Wahrnehmung von Zivilgesellschaft und menschlicher Zusammenschlüsse als transpersonale und formale Objektivationen wurde möglich. In der Ekklesiologie wurde der objektive Charakter der Kirche wieder stärker betont. Das Exorzismusdispositiv ist deshalb durchaus als katholischer Beitrag zur Verfestigung von Formalismus in der deutschen

518 Zusammenfassung politischen Kultur zu betrachten.2 Im objektivierenden Strukturalismus des Exorzismusdispositivs ist neben der Lockerung von vereinsrechtlichen Restriktionen nach der Mitte des 19. Jahrhunderts der Grund für die Explosion des katholischen Vereinswesens zu sehen. Denn Vereine müssen nicht nur gegründet werden können, sie müssen auch gegründet werden wollen. Freundschaftszirkel, denen aufgrund ihres caritativen Charakters zunehmend Skepsis entgegengebracht wurde, wurden obsolet. Die funktionale gesellschaftliche Differenzierung wurde in der katholischen Theologie im Übergang vom Gnaden- zum Exorzismusdispositiv verarbeitet. Das Reich Gottes differenzierte sich in Staat und Kirche. Das Erbe des Gnadendispositivs bestand in der Vollkommenheit von Staat und Kirche als societates perfectae, das Exorzismusdispositiv betonte deren objektivierte, vergegenständlichte strukturelle Transpersonalität. Als die Existenz einer Zivilgesellschaft wahrgenommen wurde, war das Exorzismusdispositiv schon zu ausgeprägt. Versuche, diese als societas perfectae zu definieren, konnten nicht mehr zur Reife gelangen. So blieb allein die Zivilgesellschaft zwischen Staat und Kirche unvollkommen, aber deshalb auch menschlicher Gestaltung zugänglich, während Staat und Kirche dies nicht waren. Die Zivilgesellschaft war unvollkommen, zum Bösen geneigt, aber deshalb auch gestaltbar und bot Raum für Kreativität. Pessimismus und Ablehnung beschreiben die katholische Haltung zur Welt unzutreffend. Die Agonalität des Exorzismusdispositivs beinhaltete nämlich nicht nur die Notwendigkeit zum Kampf gegen das Böse, sondern auch die Möglichkeit dazu. Die Versuche der Forschung, die Modernität oder Antimodernität des Katholischen zu bestimmen, heben sich in dieser Agonalität auf. Beim Exorzismusdispositiv ging es nicht mehr darum, sich einem unberechenbaren und rachsüchtigen Gott zu fügen, sondern sich einem Dämon entgegenzustellen, der bekämpfbar war und der sich als Geschöpf Gottes an Regeln halten musste. Das Exorzismusdispositiv trug deshalb den Keim des Regeldispositivs, das nicht mehr in der Dichotomie von Liebe und Recht aufgeht, in sich. Da der Teufel bei seinen Aktivitäten wie der Mensch an die Naturgesetze gebunden ist und keine Wunder im eigentlichen Sinne wirken kann, ist sein Handeln regelhaft. Die kommunikative Generalisierung, mit der im Regeldispositiv religiöser Sinn möglich wurde, war die Gesetzmäßigkeit. Die Einsicht in die Bindung des Menschen als seelisch-körperliches Mischwesen an die Natur steigerte – entsprechend der zunehmenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse  – die Akzeptanz von zunächst natürlichen, dann auch sozialen Gesetzmäßigkeiten. Das Regeldispositiv ermöglichte die Übernahme dieser Gesetzmäßigkeiten, die außerhalb der Theologie entwickelt wurde, in das religiöse 2 Nach Kurt Sontheimer ist die politische Kultur Deutschlands etatistisch, unpolitisch und formalistisch, d. h. juridisch. Vgl. Sontheimer: Grundzüge 164–174; ferner Bergem: Tradition 90 f.

Zusammenfassung  519

System. Die dauerhafte Agonalität des Exorzismusdispositivs wandelte sich in Normalisierung. Das Normale wurde zunehmend nicht mehr vom Normativen abgeleitet, sondern aus dem beobachteten sozialen Gegenstand. Das Normale wurde im Durchschnitt gesucht. Der Mittelstand wurde nicht mehr inhaltlich durch seine Tätigkeit definiert, sondern durch die Berechnung von Einkommen. Die diskontinuierlichen, stabilen Grenzen zwischen sozialen und zeitlichen Entitäten wurden durch kontinuierliche, gradualisierte Relationen ersetzt. Es waren nicht mehr Ereignisse, die die Zeit strukturierten, und nicht mehr soziale Entitäten, die die Gesellschaft strukturierten, sondern Relationen und Kausalitäten. Es wurde nicht mehr geordnet, sondern gemessen. Die Zukunft wurde zunehmend mit Hilfe der Tendenzprognose zu erkennen versucht. Die teuflische Fähigkeit zur wahrscheinlichen Berechnung der Zukunft ging auf den Menschen über, die gewisse Kenntnis der Zukunft blieb ohnehin bei Gott. Initiierte das Exorzismusdispositiv eine Emanzipation von Gott, so das Regeldispositiv eine Emanzipation vom Teufel, insgesamt handelte es sich also um eine Emanzipation der Immanenz von der Transzendenz. Gott war endgültig nicht mehr derjenige, der in das menschliche Leben strafend oder belohnend als Richter eingriff, sondern derjenige, der als Polizist über das Funktionieren der Gesetze wachte. Die Akzeptanz einer »Autonomie der irdischen Wirklichkeit«, die dem Zweiten Vatikanischen Konzil zugeschrieben wird,3 hatte seine Wurzeln also weit vorher in der neuscholastischen Theologie. Dies drückte sich darin aus, dass es im Regeldispositiv nicht um Strafe ging, sondern um Verwaltung, nicht um Verantwortlichkeit, sondern um Nützlichkeit. Die Heterotopisierung des Opfers im Exorzismusdispositiv hinterließ außerhalb der Kirche eine vom Recht nicht zu füllende sozialethische Lücke, die im Regeldispositiv durch den Nutzen gefüllt wurde. Der Nutzen, die Effizienz und der Rang wurden im Regeldispositiv von Bedeutung. Sollte im Exorzismusdispositiv eine riskante Struktur hergestellt werden, welche Willensfreiheit ermöglichen und damit Strafe sinnvoll machen sollte, so ging es im Regeldispositiv um normalisierende administrative Eingriffe in diese Struktur, um sie vorhersagbar zu machen. Die diätetisch-dämonomanische Vorsorge des Exorzismusdispositivs wurde im Regeldispositiv durch administrativ-kalkulative Vorsorge ersetzt. Der Handlungsspielraum, den das Exorzismusdispositiv geöffnet hatte, wurde dadurch reglementiert, d. h. begrenzt und planbar gemacht. Dabei war es das neuscholastische Naturrecht, das für die Weiterentwicklung des Exorzismus- zum Regeldispositiv führte. Denn der neuscholastische Begriff des Naturrechts beinhaltete Gesetz und Gesetzmäßigkeit, Norm und Normalität gleichermaßen. Deshalb ging es im Exorzismusdispositiv um Verantwortung, im Regeldispositiv um die prophylaktische Berechnung der Verantwortung. Das Naturrecht ebnete den Weg von der Zurechenbarkeit zur Berechenbarkeit. Dabei handelt es sich nicht um ein gelehrtes

3 So die Behauptung von Stegmann  /  Langhorst: Geschichte 608.

520 Zusammenfassung Wortspiel. Vielmehr war es der mathematische Charakter der neuscholastischen Rechtsphilosophie, der dafür sorgte. Wegen der Wahrnehmung der Immanenz als unvollkommen war der Übergang vom Exorzismus- zum Regeldispositiv zwingend, wie die Geschichte des katholisch-sozialethischen Mittelstandsdiskurses zeigt. Die im Exorzismusdispositiv geforderte klassenlose Mittelstandsgesellschaft erschien allein in der Lage, das von der katholischen Anthropologie geforderte heilsrelevante Risiko zu generalisieren. Erstmals wurde in der katholischen Sozialethik nicht eine bestehende soziale Struktur legitimiert, sondern eine heilsökonomisch sinnvolle Struktur planvoll entworfen. Die Frage nach dem heilsökonomischen Nutzen wurde reflektiert und mit dem ökonomischen Nutzen identifiziert. Die katholische Inferiorität, die im Gnadendispositiv noch religiösen Sinn besaß, hatte im agonalen Exorzismusdispositiv ihren Sinn verloren, im Regeldispositiv wurde sie unerträglich. Dabei musste die Propagierung einer klassenlosen Mittelstandsgesellschaft normalisierend wirken, da in ihr das Dual von Armut und Reichtum aufgehoben wurde und sich die Frage nach der genauen Verortung dieses Mittelstandes stellte. Diese wurde dann nicht mehr in der Ordnung, sondern im Maß gesucht. Die exorzistische Spannung zwischen sozialer Unvollkommenheit der Immanenz und darin stattfindender individueller Vervollkommnungsmöglichkeit im Hinblick auf die Transzendenz wurde im Regeldispositiv durch die normalisierende Berechnung gemildert. Auch das Katholische ist also von einem Phänomen gekennzeichnet, das als Dialektik der Moderne bezeichnet wird.4 Die Dichotomie von Modernität und Antimodernität bei der Analyse des Katholischen im 19. Jahrhunderts wird durch die Beobachtung der religiösen Verarbeitung von Kontingenz obsolet. Überhaupt wirkte sich die Normalisierungstendenz des Regeldispositivs einebnend auf Duale aus, dabei auch auf das spezifisch religiöse, im Exorzismusdispositiv besonders betonte Dual von Sakralität und Profanität. Der neuscholastische Ultramontanismus holte damit gleichsam eine Entwicklung nach, die die Kirchen der Reformation prägte. Die drei sozialethisch wirksamen Kontingenzdispositive entstanden im Laufe des 19. Jahrhunderts, zunächst im Vormärz das Gnadendispositiv, im zweiten Drittel des Jahrhunderts das Exorzismusdispositiv und im letzten Drittel das Regeldispositiv. Um die Wende zum 20. Jahrhundert existierten deshalb drei Kontingenzdispositive gleichzeitig. Zunächst im kirchlich/zivilgesellschaftlichen Grenzraum diskursiv flottierend, banden sie sich schließlich an konkrete Situationen, an denen sich ihre spezifische Fähigkeit zur Bewältigung von Kontingenz am effizientesten entfalten konnte. Das Gnadendispositiv fand seinen Ort in der Eucharistie und dem damit beschäftigten Klerus, das Exorzismus­dispositiv 4 Vgl. dazu in kirchengeschichtlicher Hinsicht Unterburger: Moderne 27; vgl. dazu auch Eisenstadt: Modernen 40.

Zusammenfassung  521

im Beichtstuhl an der Kontaktstelle zwischen Klerus und gläubigen Laien, das Regeldispositiv schließlich in den Verwaltungen, mit denen das katholischkirchliche System mit seiner Umwelt kommunizierte. Es waren drei Handlungsmuster entstanden. Eine Zuordnung der verschiedenen Kontingenzdispositive zu verschiedenen theologischen Strömungen, Orden oder Publikationsorganen ist nicht möglich. Von der Zuordnung eines Problems, etwa der sozialen Frage, zu einer dieser Situationen hing dessen Lösungsvorschlag ab. Dies zeigt sich etwa bei den drei als konservativ geltenden Sozialethikern Bruder, Hertling und Weiß. Für Bruder, den Mitarbeiter Hertlings bei der Herausgabe des Staatslexikons, war sie eine Frage der Eucharistie bzw. des Opfers, für Hertling eine Frage des Beichtstuhls bzw. der Verantwortlichkeit, für Weiß eine Frage der Verwaltung bzw. des Nutzens. Im katholisch-sozialethischen Diskurs dominierte am Ende des 19. Jahrhunderts entsprechend der zunehmenden systemischen Verflechtungen zwischen katholischer Kirche und ihrer Umwelt das Regeldispositiv. Während Ideen- und Sozialgeschichte die katholische Isolation von der gesellschaftlichen Umwelt im 19. Jahrhundert betonen, konnte gezeigt werden, dass die katholischen Dispositive die gleichen Probleme auf die gleiche Art zu lösen versuchten wie die säkulare Sozial- und Rechtsphilosophie. Das irritierende war für diejenigen, die sich selbst als modern beschrieben, dass der gesamtgesellschaftliche religiöse Deutungsanspruch entgegen ihrer Prognose vom Bedeutungsverslust des Religiösen aufrecht erhalten wurde. Das Bild der Antimodernität, wonach sich die katholische Kirche zur Stabilisierung ihrer Herrschaft über die Gläubigen moderner Mittel bediente, ist unzureichend. Form und Inhalt beeinflussten sich gegenseitig. Überhaupt verstellt ein allzu sehr auf die Ausübung von Herrschaft fokussierter Blick auf die katholische Kirche die Einsicht in deren Entwicklungspotential, etwa im Hinblick auf die schuld- und höllenzentrierte ultramontane Pastoral. D. h. der Teufel machte nicht mehr Angst als Gott, sondern weniger. Sein Auftreten ermöglichte proaktive Handlungen, wo gegenüber Gott Klageverbot herrschte. Immanente Kompetenzen erkämpfte sich der Mensch aus katholischer Sicht nicht von Gott, sondern vom Teufel. Damit das geschehen konnte, musste sich aber auch Gott aus der Welt zurückziehen, im Regeldispositiv dann der Teufel. Übrig blieb der Mensch. Das Regeldispositiv erscheint deshalb als grandioser Versuch, den gesamtgesellschaftlichen katholischen Deutungsanspruch gegen die gesamte Transzendenz aufrecht zu erhalten. So betrachtet ist die Geschichte der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert keine Geschichte einer Abwendung von der Welt, sondern einer agonalen Zuwendung zu ihr bei gleichzeitiger Distanzierung von der Transzendenz. Daraus musste aber eine religiöse Aporie entstehen, dem letztlich der gesamtgesellschaftliche katholische Deutungsanspruch zum Opfer fiel.  – Der katholische Weg durch das 19. Jahrhundert verlief abseits der Hauptroute, aber er führte in die gleiche Richtung.

Anhang

Biogramme der verwendeten Autoren Joseph Amberger (1816–1889), Weltgeistlicher, Pastoraltheologe, geb. im niederbayerischen Pfahl, 1838 Priesterweihe, 1840 theologische Promotion, 1842 außerplanmäßige Professur für Kirchenrecht an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, 1845 Ordinarius für Pastoraltheologie, 1852 Domkapitular in München, in der Priesterausbildung tätig, Biograph Johann Michael Sailers.1 Franz Xaver (von) Baader (1765–1841), Laie, Sozialphilosoph, geb. in München, Studium der Medizin, Tätigkeit als Arzt, anschließend Studium der ­Chemie und Mineralogie, als Bergwerksingenieur tätig, 1808 geadelt, einer der wichtigsten politischen und sozialphilosophischen Autoren der deutschen Spätromantik, Mitglied des Kreises um Joseph Görres, ab 1826 Professor für Philosophie an der Universität München, gehört mit der 1835 veröffentlichten Schrift »Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät« zu den frühen katholischen Sozialreformern, Johann Michael Sailer nahe stehend, Protagonist der Ökumene.2 Ammonius Bacher, Franziskanerpater, lebte im 18. Jahrhundert, seine dämonologische Schrift »Waffen des Lichtes wider die Fürsten der Finsterniß« fand im 19.  Jahrhundert mehrere Neuauflagen, von Franz Sales Handwercher verbreitet.3 Georg Bandorf, publizierte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts im katholischen Manz-Verlag in Regensburg, nach Ausweis der Vorworte in seinen Publikationen aus Ebern in Unterfranken stammend, aber nach Ausweis des Würzburger Diözesanschematismus kein Priester.4 Joseph Bautz (1843–1917), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. in Keeken bei Kleve, theologische Promotion, Professor für Dogmatik in Münster, vorwiegend Beschäftigung mit Eschatologie, was ihm den Spitznamen »Höllen-Bautz« einbrachte.5

1 Schrüfer: Amberger. 2 Groh: Gesellschaftskritik 43–51; Stammen: Baader; Stegmann: Katholizismus 25–30. 3 Katholisch-theologisches Literaturblatt vom 13.11.1846; Winklhofer: Handwercher 190. 4 Bandorf: Umgestaltung; Schematismus Würzburg1860. 5 Fischer: Sarg 139–141; Wagner: Bautz 162–167.

526  Biogramme der verwendeten Autoren Michael Benger (1822–1870), Redemptoristenpater, Moraltheologe, geb. in der Pfarrei Bockum bei Krefeld, 1845 Priesterweihe, 1854 Eintritt in den Redemptoristenorden, bedeutendster und einflussreicher Theologe der bayerischen Ordensprovinz im 19. Jahrhundert, seine Schriften fanden weite Verbreitung über den Orden hinaus, Akteur in zahlreichen Volksmissionen.6 Julius Beßmer (1864–1924), Jesuitenpater, theologisch unspezifisch, geb. in Zug in der Schweiz, Studium der Philosophie in Eichstätt und der Theologie in Rom am Collegium Germanicum, Lehrtätigkeit an kirchlichen und staatlichen Lehranstalten, theologische Promotion, 1892 Eintritt in den Jesuitenorden, Verfasser zahlreicher Artikel für die »Stimmen aus Maria Laach«.7 Joseph Biederlack (1845–1930), Jesuitenpater, Kirchenjurist, theologische Promotion, Professor für Kirchenrecht in Rom und Innsbruck, sein erstmals 1895 erschienenes Werk »Die sociale Frage« wurde zum sozialethischen Stan­dardwerk.8 Joseph Anton Biggel (gest. 1838), Weltgeistlicher, Pfarrer in Zöbingen in Württemberg, Schüler Johann Baptist Hirschers, erfolgreicher Erbauungsschriftsteller.9 Gustav Graf von Blome (1829–1906), Laie, Jurist, geb. in Hannover, aus niedersächsischer Adelsfamilie stammend, 1857 Konversion zur katholischen Konfession, österreichischer Diplomat, seit 1867 Mitglied des österreichischen Herrenhauses, machte sozialreformerische Vorschläge im berufsständischen Sinn, Befürworter der Arbeiterschutzgesetzgebung.10 Wilhelm Brammer(t)z (geb. 1831), Weltgeistlicher der Erzdiözese Köln, 1855 Priesterweihe, seit 1860 Rektor der höheren Schule in Köln.11 Karl Braun (1831–1907), Jesuitenpater, Astronom, geb. in Neustadt in Hessen, Studium der Theologie am Collegium Germanicum und an der Gregoriana in Rom, theologische Promotion, 1861 Eintritt in den Jesuitenorden, astronomischer Schriftsteller und Erfinder technischer Geräte.12 Clemens Brentano (1778–1842), Laie, Schriftsteller, geb. in Ehrenbreitstein bei Koblenz, medizinische und bergwissenschaftliche Studien, 1817 nach Entfremdung Rückkehr zum Glauben, 1818 bis 1824 Aufzeichnung der Visionen der Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick, zum Umkreis Sailers gehörend, Hauptvertreter der so genannten Heidelberger Romantik.13 Franz Xaver Britzger (geb. 1808), Weltgeistlicher des Bistums Augsburg, Naturkundler, theologische Promotion, 1870 im Augsburger Schematismus als Pro 6 Weiß: Redemptoristen 541–545. 7 Koch: Jesuiten-Lexikon 200. 8 Schmitt: Biederlack; Dirsch: Solidarismus 281–287. 9 Biggel: Predigten VII–X. 10 Preradovich: Blome. 11 Handbuch der Erzdiözese Köln 49. 12 Labitzke: Braun. 13 Frühwald: Spätwerk.

Biogramme der verwendeten Autoren  527

fessor der Philosophie an der geistlichen Akademie in St. Petersburg geführt, Verfasser einer Pastoralmedizin.14 Adolf Bruder (1851–1896), Laie, Rechtsstudien, Kustos der Universitätsbibliothek Innsbruck, Herausgeber der ersten Auflage des »Staatslexikons der GörresGesellschaft«, galt als Agrarexperte.15 Simon Buchfelner (geb. 1786), Weltgeistlicher des Erzbistums München und Freising, 1812 Priesterweihe, Gründer eines Priestervereins zur Betreuung der Wallfahrt in Altötting, bekannter Erbauungsschriftsteller.16 Franz Josef (von) Buß (1803–1878), Laie, Jurist, geb. in Harmersbach in Baden, Sohn eines Schneidermeisters, Promotionen in Philosophie, Recht und Medizin, seit 1836 Ordinarius für Staatswissenschaft in Freiburg im Breisgau, 1837 Wahl in die zweite Kammer der Badischen Ständeversammlung, seine berühmte »Fabrikrede« vom 25. April 1837 gilt als erste sozialpolitische Rede in einem deutschen Parlament, führender katholischer Politiker, Herausgeber und Redakteur verschiedener katholischer Zeitungen, Gründer zahlreicher katholischer Vereine, Gründungsmitglied der Görres-Gesellschaft, 1848/1849 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung in der konservativen Fraktion »Café Milani«, 1863 Erhebung in den österreichischen Adelsstand.17 Augustin Calmet (1672–1757), Benediktinerpater, Bibelwissenschaftler und Kir­ chenhistoriker, geb. bei Commercy in Lothringen, 1688 Eintritt in den Benediktinerorden, 1696 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1718 Abt von St. Leopold bei Nancy, 1728 Abt von Senones, fruchtbarer Schriftsteller.18 Carl Capellmann (1841–1898), Laie, Arzt, medizinische Promotion, Praxis in Aachen, Verfasser einer Pastoralmedizin, die 1914 in 14. Auflage erschienen ist.19 Viktor Cathrein (1845–1931), Jesuitenpater, unspezifischer Theologe, geb. in Brieg (Kanton Wallis), Eintritt in den Jesuitenorden in Gorheim bei Sigmaringen, 1872 wegen des Kulturkampfes Emigration nach Großbritannien, 1877 Priesterweihe, Redakteur der Stimmen aus Maria Laach, produktiver rechtsphilosophischer und sozialreformerischer Schriftsteller, Neuscholastiker.20 Juan Donoso Cortés (1809–1853), Laie, Diplomat und Politiker, geb. im spanischen Don Benito als Sohn einer adeligen Familie, juristisches und philoso 14 Schematismus Augsburg 1870 177. 15 Siebertz: Löwenstein 223; Centralblatt für Bibliothekswesen 7 (1890) 127. 16 Schematismus München und Freising 1858 83; Pastoral-Blatt für die Erzdiöcese München-Freising vom 9.1.1873; Send-Bote für katholische Vereine und Freunde der Kirche überhaupt vom 26.1.1878. 17 Lange: Buß; Dorneich: Buß. 18 Hell: Calmet. 19 Capellmann: Pastoralmedizin. 20 Dirsch: Solidarismus 287–299; Siedlaczek: Qualität.

528  Biogramme der verwendeten Autoren phisches Studium, nach anfänglicher Sympathie für den Liberalismus unter dem Einfluss der Märzrevolution Hinwendung zur katholischen Kirche, einflussreicher politischer Schriftsteller, dessen Werke von Franz Joseph von Buß ins Deutsche übersetzt wurden.21 Julius Costa-Rossetti (1841–1900), Jesuitenpater, Moraltheologe, geb. in Venedig, 1867 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten in Böhmen, große Bedeutung als sozialpolitischer Schriftsteller innerhalb des Jesuitenordens, Neuscholastiker, großer Einfluss auf Heinrich Pesch.22 Joseph Marie Comte de Maistre, gen. DeMaistre (1752–1821), Laie, Jurist, geb. in Chambéry als Sohn einer savoyischen Adelsfamilie, Wandel vom Freimaurer zum gläubigen Katholiken als Reaktion auf die Französische Revolution, Ideengeber des päpstlichen Souveränitätsanspruchs, neben Louis-GabrielAmbroise de Bonald Hauptvertreter des französischen Traditionalismus, Gegner des Rationalismus, Vordenker der kirchlichen Wiedergeburt, utopischer Denker.23 Heinrich Denifle (1844–1905), Dominikanerpater, Kirchenhistoriker, geb. in Imst in Tirol, 1876 Professor für Kirchengeschichte in Graz, 1880 Generalassistent des Dominikanerordens in Rom, 1883 Unterarchivar am Vatikanischen Archiv, Lutherbiograph.24 Martin Deutinger (1815–1864), Weltgeistlicher, Philosoph, geb. im oberbayerischen Langenpreising, 1837 in der Erzdiözese München und Freising zum Priester geweiht, 1844 theologische Promotion, mehrere Positionen in der Lehre im bayerischen Lyzeal- und Universitätswesen, Entwicklung zum spätromantischen Kunstphilosophen, 1858 Universitätsprediger in München, Gründer und Redakteur der »Siloah. Zeitschrift für religiösen Fortschritt inner der Kirche«, die nur 1850 erschienen ist, Freund Ignaz von Döllingers, am Rande der Orthodoxie stehend.25 Ger(h)ard Diessel (1845–1907), Redemptoristenpater, Sozialethiker und Homilet, geb. in Freren bei Osnabrück, theologische und medizinische Studien, 1868 Priesterweihe, Missionar in Dänemark, 1877 Eintritt in den Redemptoristenorden in Österreich, da der Orden wegen des Kulturkampfs im Deutschen Reich verboten war, Übernahme verschiedener Ordensämter und selbstständige Leitung von Ordensniederlassungen in Österreich-Ungarn, als katholischer Publizist und homiletischer Schriftsteller tätig.26

21 Beneyto: Apokalypse; Dirsch: Solidarismus 336–343. 22 Ebd. 251–255; Koch: Jesuiten-Lexikon 361. 23 Langendorf: Joseph de Maistre; Uertz: Gottesrecht 69–91; Wassilowsky: Geburt. 24 Köhler: Denifle. 25 Braun: Deutinger. 26 Leitgeb / Tauscher: Lebensbilder 248–262.

Biogramme der verwendeten Autoren  529

Karl a Sancto Aloysio Dillinger (geb. 1803), Karmelitenpater, Statistiker, geb. im unterfränkischen Oberwern, 1827 Priesterweihe, 1855 Prior des Klosters der unbeschuhten Karmeliten in Würzburg.27 Joseph Dippel (1840–1915), Weltgeistlicher der Diözese Passau, unspezifischer Theologe, geb. im niederbayerischen Wittibreut, 1863 Priesterweihe, 1865 theologische Promotion, in der Seelsorge tätig.28 Johann Sebastian (von) Drey (1777–1853), Weltgeistlicher der Diözese Rottenburg, Dogmatiker, geb. in Röhlingen, 1801 Priesterweihe, theologische Promotion, 1812 Universitätsprofessor für Apologetik und Dogmatik, 1823 Erhebung in den Adelsstand, Mitbegründer der Tübinger »Theologischen Quartalschrift«, Protagonist der Tübinger Schule, welche die historisch-kritische Methode in die Bibelwissenschaft einführte.29 Clemens August Droste zu Vischering (1773–1845), Weltgeistlicher, geb. im westfälischen Ahlen als Sohn einer Adelsfamilie, 1798 in Münster zum Priester geweiht, caritativ tätig, 1808 Gründung der Kongregation der »Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria«, der nach ihm so genannten »Clemensschwestern«, 1827 bis 1835 Weihbischof in Münster, 1835 bis 1845 Erzbischof von Köln, Konflikt mit Preußen in der Mischehenfrage, deshalb unter Hausarrest gestellt, dadurch Provokation der so genannten Kölner Wirren, die die Politisierung des Katholizismus zur Folge hatten.30 Felix Antoine Philibert Dupanloup (1802–1878), Weltgeistlicher, geb. in Ober­­ savoyen, 1825 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1841/842 Rhetorikprofessor an der Sorbonne, 1849 zum Bischof von Orléans gewählt, 1871 Mitglied der Assemblée National, trotz Bedenken Akzeptanz der päpstlichen Unfehlbarkeit, einflussreicher katholischer Publizist und Kirchenpolitiker, versuchte mäßigend auf den Ultramontanismus zu wirken.31 Friedrich Eberl (1843–1918), Weltgeistlicher der Diözese Passau, unspezifischer Theologe, geb. im niederbayerischen Kreuzberg, Moraltheologe, 1865 zum Priester geweiht, 1866 theologische Promotion, Lehrtätigkeit im bayerischen Gymnasial- und Lyzealwesen.32 Martin Eckmüller (geb. 1863), Weltgeistlicher der Diözese Passau, geb. im niederbayerischen Hofkirchen an der Donau, 1888 Priesterweihe, in der Seelsorge tätig, Spitalbenefiziat in Ering am Inn, heimatgeschichtliche Forschungen, Publikationen in der »Theologisch-praktischen Monats-Schrift«.33 27 Dillinger: Kirche; Schematismus Würzburg 1858 148. 28 Grenner: Wirtschaftsliberalismus 173. 29 Rief: Reich; Ruf System. 30 Hänsel-Hohenhausen: Droste zu Vischering. 31 Conzemius: Dupanloup. 32 Große Bayerische Biographische Enzyklopädie 408. 33 Schematismus Passau 1900 42 und 149 f.

530  Biogramme der verwendeten Autoren Albert Ehrhard (1862–1940), Weltgeistlicher, Kirchenhistoriker, geb. im elsässischen Herbitzheim, ab 1892 Universitätsprofessor für Kirchengeschichte in Würzburg, Wien, Freiburg im Breisgau und Straßburg, im Modernistenstreit Konflikt mit der Kurie, aber ohne Modernist zu sein, bedeutender Kirchenhistoriker.34 Joseph Epping (1835–1894), Jesuitenpater, Astronom, geb. im westfälischen Bevergern, theologisches und mathematisches Studium, 1870 Priesterweihe, theologische und mathematische Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten.35 Ignaz Familler (1863–1923), Weltgeistlicher der Diözese Regensburg, Botaniker, geb. im niederbayerischen Puchhausen, 1887 Priesterweihe, 1892 Ernennung zum Anstaltsgeistlichen in der Kreisirrenanstalt Karthaus Prüll bei Regensburg, 1896 naturwissenschaftliche Promotion mit einem botanischen Thema, 1911 Vorsitzender der »Vereinigung katholischer Seelsorger an deutschen Heil- und Pflegeanstalten«.36 Michael (von) Faulhaber (1869–1952), Weltgeistlicher, alttestamentlicher Exeget, geb. im unterfränkischen Heidenfeld, 1892 Priesterweihe, 1895 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1903 Ordinarius für alttestamentliche Exegese an der Universität Straßburg, 1910 Ernennung zum Bischof von Speyer, 1913 Erhebung in den persönlichen Adelsstand, 1917 Ernennung zum Erzbischof von München und Freising, 1921 Ernennung zum Kardinal.37 Gabriel Fleuriau (1693–1770), französischer Jesuitenpater, Biograph des hl. Petrus Claver.38 Johann Nepomuk Foerstl (1881–1950), Weltgeistlicher der Diözese Regensburg, Kirchenhistoriker, geb. in Furth im Wald, 1904 zum Priester geweiht, 1908 von Franz Walter promoviert, dann in der Seelsorge tätig.39 Franz Friedhoff (1821–1878), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. im westfälischen Appelhülsen, 1846 Priesterweihe, 1858 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an der Universität Münster, Neuscholastiker.40 Bernhard Fuchs (1814–1854), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. im schwäbischen Elchingen, dem Schülerkreis Schellings zugehörig, 1837 Priesterweihe, 1842 theologische Promotion, 1844 Domprediger in München, 1849 Ordinarius für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, dem Umkreis der Tübinger Schule zugehörig.41 34 Trippen: Ehrhard. 35 Koch: Jesuiten-Lexikon 497 f. 36 Necker: Familler. 37 Körner: Faulhaber. 38 Fleuriau: Lebensgeschichte. 39 Foerstl: Almosen; Weber: Dekane 247. 40 Hadrossek: Bedeutung 225–240. 41 Kellner: Fuchs; Hadrossek: Bedeutung 168–191.

Biogramme der verwendeten Autoren  531

Martin Fuchs (1843–1919), Weltgeistlicher, Dogmatiker, Domvikar in Linz, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Protagonist der Neuscholastik.42 Franz Xaver (von) Funk (1840–1907), Weltgeistlicher, Patristiker, geb. in Abtsgmünd bei Aalen, 1863 philosophische Promotion, 1864 Priesterweihe, 1875 Ordinarius für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen, 1890 Erhebung in den württembergischen Adelsstand, im Grenzgebiet von Theologie und Nationalökonomie tätig.43 Heinrich Gassert (1857–1928), Laie, Arzt, geb. in Sölden bei Freiburg im Breisgau, medizinische Promotion, praktizierend als Hausarzt, im katholischen Studentenverbindungswesen tätig, 1902 Redner auf dem Katholikentag in Mannheim, Verfasser einer Pastoralmedizin.44 Jean-Joseph Gaume (1802–1879), Weltgeistlicher, Pädagoge, geb. in Fuans im Departement Doubs, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1843 bis 1852 Generalvikar der Diözese Nevers, anschließend Generalvikar in weiteren französischen Diözesen, fruchtbarer neuscholastischer Schriftsteller, dessen umfangreiches Werk auch ins Deutsche übersetzt wurde, bekannt geworden wegen seiner umstrittenen Agitation gegen die Verwendung von Autoren der griechisch-römischen Antike im höheren Schulwesen.45 Franz Adam Göpfert (1849–1913), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Würzburg, 1871 Priesterweihe, 1876 theologische Promotion, als Ordinarius für Moraltheologie an der Universität Würzburg verfasste er ein moraltheologisches Standardwerk.46 Joseph (von) Görres (1776–1848), Laie, geb. in Koblenz, zunächst Anhänger der Französischen Revolution, unter dem Eindruck der Napoleonischen Kriege Abwendung vom Rationalismus und Hinwendung zum Glauben, Universalgelehrter, 1827 Berufung an die Universität München, wo er geschichtsphilosophische Vorlesungen hielt, einflussreicher katholischer Publizist, seit 1838 Mitarbeiter an den »Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland«, 1839 Erhebung in den Adelsstand, einer der wichtigsten politischen Autoren der deutschen Spätromantik, Haupt des Görres-Kreises, der sich zu einem Kristallisationskern des politischen Katholizismus entwickelte.47 Georg Grupp (1861–1922), Weltgeistlicher, Kirchenhistoriker, geb. im württembergischen Böhmenkirch, philosophische Promotion, Bibliothekar des Fürsten von Öttingen-Wallerstein im schwäbischen Maihingen.48 42 Gangl: Ehrle 48 43 Tüchle: Funk. 44 Siebler: Gassert. 45 Hofmann: Gaume. 46 Hilgenreiner: Göpfert. 47 Fink-Lang: Görres. 48 Zoepfl: Grupp.

532  Biogramme der verwendeten Autoren Constantin Gutberlet (1837–1928), Weltgeistlicher der Diözese Fulda, Dogmatiker, geb. im thüringischen Geismar, Studium am Collegium Germanicum in Rom, 1861 Priesterweihe, 1862 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1874 wegen des Kulturkampfs Ausweisung aus dem Deutschen Reich, Herausgeber des »Philosophischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft«, Neuscholastiker, um die Vereinbarung von Naturwissenschaft und Offenbarung bemüht, deshalb Veröffentlichung zahlreicher Aufsätze in der katholischen Zeitschrift »Natur und Offenbarung«.49 Franz Seraph Häglsperger (1796–1877), Weltgeistlicher der Diözese Regensburg, religiöser Schriftsteller, geb. in der niederbayerischen Pfarrei Binabiburg, Schüler Johann Michael Sailers in Landshut, 1819 Priesterweihe, Sailer fungierte als Primizprediger, mehrere Seelsorgestationen im niederbayerisch-oberbayerischen Grenzgebiet, antirationalistischer Prediger und Schriftsteller.50 Paul Leopold Haffner (1829–1899), Weltgeistlicher, geb. in Horb am Neckar, 1852 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1866 Generalvikar im Bistum Mainz, 1877 wegen des Kulturkampfes Zwangsruhestand, 1886 Ernennung zum Bischof von Mainz, in dieser Funktion Mitglied der Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen, im katholischen Vereinswesen aktiv, Herausgeber der »Frankfurter zeitgemäßen Broschüren«, antijüdischer Schriftsteller, Neuscholastiker.51 Carl Ludwig von Haller (1768–1854), Laie, Staatsrechtler und Nationalökonom, geb. in Bern, antirevolutionärer und antirepublikanischer Schriftsteller, Vordenker eines reaktionären Konservatismus, 1807 Professor für Staatsrecht an der Berner Akademie, 1814 Wahl in den Großen Rat der Stadt Bern, 1820 Konversion von der reformierten zur katholischen Konfession, daraufhin unfreiwilliger Rücktritt von allen öffentlichen Ämtern, Emigration nach Frankreich, nach der Julirevolution Rückkehr in die Schweiz, 1816 bis 1834 Verfassung seines Hauptwerks »Restauration der Staatswissenschaft«, nur eingeschränkte publizistische Wirksamkeit.52 Anton Hammerschmid (1851–1933), Franziskanerpater, Naturkundler, geb. bei Straubing, 1875 Eintritt in den Franziskanerorden, 1897 bis 1903 Provinzial der bayerischen Franziskanerprovinz, botanische, linguistische und anthropologische Veröffentlichungen.53 Franz Sales Handwercher (1792–1853), Weltgeistlicher der Diözese Regensburg, religiöser Schriftsteller, geb. in der niederbayerischen Pfarrei Oberhausen, 49 Scheidt: Gutberlet. 50 Eder: Häglsperger. 51 Klose: Gott 64–93; Peitz: Anfänge 282–284. 52 Roggen: Restauration. 53 Holzapfel; Hammerschmid.

Biogramme der verwendeten Autoren  533

Schüler Johann Michael Sailers, 1816 Priesterweihe, 1836 Übernahme der Gäubodenpfarrei Oberschneiding, Gründer des antirationalistischen »Oberschneidinger Reformbundes« zur Intensivierung der Seelsorge, als charismatischer »Segenspfarrer von Oberschneiding« verehrt, Mystiker, ab 1830 Visionen, die veröffentlicht wurden.54 Johann Anton Joseph Hansen (1801–1875), Weltgeistlicher der Diözese Trier, geb. in Quiddelbach, 1824 zum Priester geweiht, in der Pfarrseelsorge tätig, historiographische Veröffentlichungen, in der Märzrevolution als Abgeordneter tätig, zuerst in der Linken, dann in der gemäßigten Linken, staatsfreundlich, aktiv im katholischen Vereins- und Pressewesen.55 Heinrich Hansjakob (1837–1916), Weltgeistlicher, Schriftsteller, geb. im badischen Haslach, 1863 Priesterweihe, 1865 philosophische Promotion, in der Seelsorge tätig, 1871 bis 1881 Mitglied des badischen Landtags für die Katholische Volkspartei, im Kulturkampf wegen Beamtenbeleidigung inhaftiert, erfolgreicher Heimatschriftsteller.56 Johann Baptist Haring (1867–1945), Weltgeistlicher, Kirchenjurist, geb. im steirischen Wettmannstetten, 1891 Priesterweihe, 1896 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1906 Ordinarius für Kirchenrecht an der Universität Graz, einflussreicher Kirchenjurist.57 Friedrich Hense (geb. 1837), Weltgeistlicher des Bistums Münster, geb. in Münster, 1861 Priesterweihe, philosophische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten.58 Georg von Hertling (1843–1919), Laie, Jurist, geb. in Darmstadt, Gründungsmitglied der »Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland«, 1882 Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität München, einflussreicher sozial- und finanzpolitischer Schriftsteller, 1875 bis 1890 und 1896 bis 1912 Mitglied des Deutschen Reichstages für das Zentrum, 1909 bis 1912 Fraktionsvorsitzender, Angehöriger des rechten Zentrumsflügels, um die Aussöhnung zwischen Staat und Kirche nach dem Kulturkampf bemüht, 1912 bis 1917 Vorsitzender des bayerischen Staatsministeriums und bayerischer Außenminister, 1917/1918 deutscher Reichskanzler.59 Bernard Heyne (geb. 1863), Weltgeistlicher der Diözese Münster, geb. in Beckum, 1888 Priesterweihe, Anstaltsgeistlicher der Provinzial-Irrenanstalt Marienthal.60

54 Leidl: Handwercher; Winklhofer: Handwercher. 55 Fuchs: Hansen. 56 Hoben: Hansjakob. 57 Plöchl: Haring. 58 Schematismus Münster 1868 14. 59 Becker: Hertling. 60 Schematismus Münster 1901 30.

534  Biogramme der verwendeten Autoren Johann Baptist (von) Hirscher (1788–1865), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Bodnegg, 1810 Priesterweihe, 1817 Ordinarius für Moral- und Pastoraltheologie an der Universität Tübingen, 1835 Erhebung in den persönlichen Adelsstand, 1837 Ordinarius für Moraltheologie an der Universität Freiburg im Breisgau, 1839 Domkapitular, 1850 Domdekan, ab 1847 Mitglied der Ersten Kammer des Großherzogtums Baden, als Hauptvertreter der Tübinger Schule Gegner der Neuscholastik.61 Franz Hitze (1851–1921), Weltgeistlicher, Sozialethiker, geb. in Hanemicke bei Olpe, 1878 Priesterweihe, 1893 Ernennung zum ersten Professor für christliche Gesellschaftslehre im deutschsprachigen Raum in Münster, Protagonist der katholischen Arbeitervereine, 1890 Mitbegründer des Volksvereins für das katholische Deutschland, 1882 bis 1893 und 1898 bis 1912 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses für das Zentrum, 1884 bis 1918 Mitglied des Deutschen Reichstages für das Zentrum, 1919/1920 Mitglied der Verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar, 1920/1921 Mitglied des Deutschen Reichstages, einer der einflussreichsten katholischen Sozialpolitiker im deutschen Sprachraum.62 Wilhelm Hohoff (1848–1923), Weltgeistlicher, Sozialethiker, geb. im sauerländischen Medebach, 1871 Priesterweihe, intensive Auseinandersetzung mit den Werken von Karl Marx, thomistischer Interpret von Karl Marx, bemüht um die Verständigung zwischen katholischer Sozialethik und Sozialismus.63 August Huber, Weltgeistlicher der Erzdiözese Freiburg im Breisgau, theologische Promotion, Pfarrer in Furtwangen.64 Franz von Hummelauer (1842–1914), Jesuitenpater, Exeget, geb. in Wien, 1860 Eintritt in den Jesuitenorden, Lehrtätigkeit an jesuitischen Lehranstalten, 1903 Konsultor der päpstlichen Bibelkommission, zahlreiche Veröffentlichungen in den Stimmen aus Maria Laach.65 Eugen Jäger (1842–1926), Laie, geb. im pfälzischen Annweiler, naturwissenschaftliches und technisches Studium, 1867 philosophische Promotion, als Verleger katholischer Zeitungen (»Pfälzer Zeitung«, »Rheinisches Volksblatt«) tätig, 1882 Mitgründer des pfälzischen Zentrumsvereins, 1887 bis 1902 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtags für die Zentrumspartei, 1898 bis 1918 Mitglied des Deutschen Reichstages für die Zentrumspartei, 1919/1920 Mitglied des bayerischen Landtages für die Bayerische Volkspartei, bedeutender sozialethischer Publizist.66 61 Keller: Hirscher; Rief: Reich. 62 Stegmann: Katholizismus 63–67; Grenner: Wirtschaftsliberalismus 251–265. 63 Dietz: Hohoff; Kreppel: Entscheidung. 64 Huber: Hemmnisse. 65 Koch: Jesuiten-Lexikon 833. 66 Morsey: Jäger.

Biogramme der verwendeten Autoren  535

Carl Ernst Jarcke (1801–1852), Laie, Jurist und politischer Publizist, geb. in Danzig, kaufmännische Lehre, anschließend Jurastudium, Vertreter der historischen Rechtsschule, 1824 Ernennung zum außerordentlichen Professor, unter dem Einfluss Karl Windischmanns 1825 Konversion zur katholischen Konfession, 1825 außerordentlicher Professor an der Universität Berlin, Mitbegründer des Berliner »Politischen Wochenblatts«, 1832 Wechsel in den österreichischen Staatsdienst, 1838 Mitbegründer der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland, Eintreten für die Freiheit der Kirche von staatlicher Einflussnahme, einer der wichtigsten Vertreter des katholischaltständischen Konservatismus.67 Magnus Jocham (1808–1893), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. bei Immenstadt im Allgäu, 1831 Priesterweihe, mehrere Seelsorgestationen, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1854 theologische Promotion, zwischen SailerSchule und Neuscholastik stehend.68 Joseph Edmund Joerg (1819–1901), Laie, Historiker, geb. in Immenstadt im Allgäu, Abbruch des Theologiestudiums, Mitglied des Kreises um Joseph Görres, 1846 Ausbildung zum Archivar, führender Vertreter der katholischreichsfeindlichen Bayerischen Patriotenpartei, 1852 bis 1901 Herausgeber der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland, 1865 bis 1881 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages, 1868 bis 1870 Mitglied des Zollparlaments, 1874 bis 1878 Mitglied des Deutschen Reichstages, Gegner der Reichseinigung, einflussreicher großdeutsch orientierter katholischer Publizist.69 Ludwig Kannamüller (1859–1949), Laie, Arzt, geb. im niederbayerischen Waldkirchen, seit 1902 in Passau als Arzt niedergelassen, als Schriftsteller im medizinisch-theologischen Grenzgebiet tätig.70 Franz Sales Kaufmann (1865–1922), Weltgeistlicher des Bistums Augsburg, 1890 Priesterweihe, in der Seelsorge tätig.71 Leo Keel (geb. 1839), Benediktinerpater im schweizerischen Einsiedeln, Exeget, geb. in Rorschach, 1860 Profess.72 Paul Wilhelm (von) Keppler (1852–1926), Weltgeistlicher, geb. in Schwäbisch Gmünd, 1874 Priesterweihe, 1883 theologische Promotion und Ordinarius für neutestamentliche Exegese an der Universität Tübingen, 1889 Ordinarius für Moral- und Pastoraltheologie an der Universität Tübingen, 1898 Ernennung

67 Depenheuer: Suche; Kraus: Jarcke. 68 Zinkl: Jocham. 69 Lucas: Jörg. 70 Mader: Passauer 116. 71 Schematismus Augsburg 1922. 72 Einsiedler Kalender für 1871 16.

536  Biogramme der verwendeten Autoren zum Bischof von Rottenburg, 1899 württembergischer Personaladel, Gegner des Modernismus.73 Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), Weltgeistlicher, Jurist, Sozialethiker, Politiker, geb. in Münster als Spross eines westfälischen Adelsgeschlechts, nach dem abgeschlossenen Jurastudium Ausscheiden aus dem Staatsdienst aus Gewissensgründen wegen des Mischehenstreits, anschließend Studium der Theologie, Studienfreund Adolph Kolpings, 1844 Priesterweihe in Mainz, 1848/1849 Mitglied der Nationalversammlung, 1850 Ernennung zum Bischof von Mainz, 1851 bis 1877 Mitglied der Ersten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen, 1871/1872 Mitglied des Deutschen Reichstages für das Zentrum, Mitgründer des Zentrums, Festungshaft aufgrund von Kritik an der staatlichen Kirchenpolitik während des Kulturkampfes, bedeutender sozialethischer Autor.74 Heinrich Klee (1800–1840), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. in Münstermaifeld bei Koblenz, beeinflusst von Karl Windischmann, 1825 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1829 Professor für Dogmatik in Bonn, 1839 Berufung nach München, bedeutender antirationalistischer, romantischer Theologe, auf Distanz zur Neuscholastik und zur Mainzer Schule.75 Joseph Kleutgen (1811–1883), Jesuitenpater, Dogmatiker, geb. in Dortmund, 1834 in der Schweiz Eintritt in den Jesuitenorden, 1837 Priesterweihe, Mitarbeiter in der Ordensleitung der Jesuiten in Rom, Lehrtätigkeit an jesuitischen Lehranstalten, Vorreiter der Neuscholastik, seine Werke wurden im deutschen Sprachraum viel beachtet, wichtiger Berater von Papst Pius IX . bei der Vorbereitung des Unfehlbarkeitsdogmas.76 Heinrich Koch (1870–1914), Jesuitenpater, Sozialethiker, geb. im westfälischen Meschede, Studium der katholischen Theologie und der Nationalökonomie, 1909 Privatdozent für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Innsbruck.77 Adolph Kolping (1813–1865), Weltgeistlicher, Sozialethiker, geb. in Kerpen bei Köln, Schuhmacherlehre, anschließend Studium der katholischen Theologie, Studienfreund Wilhelm Emmanuel von Kettelers, 1845 Priesterweihe, Begründer der Kolpingvereine, einflussreicher sozialethischer Publizist.78

73 Baum: Keppler. 74 Zu Ketteler als Sozialpolitiker vgl. Birke: Ketteler; Langner: Grundlagen; ders.: Sozialethik 154–201; Lenhart: Ketteler; Nothelle-Wildfeuer: Ketteler; Schäfers: Kraft 371–408; Uertz: Gottesrecht 161–192. 75 Ulacia: Klee. 76 Deufel: Kirche 84–91; Finkenzeller: Kleutgen. 77 Koch: Jesuiten-Lexikon 1002. 78 Kracht: Kolping.

Biogramme der verwendeten Autoren  537

Michael Felix Korum (1840–1921), Weltgeistlicher, unspezifischer Theologe, geb. im elsässischen Wickerschweier, 1865 theologische Promotion, im gleichen Jahr Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1880 Dom­ pfarrer in Straßburg, 1881 Ernennung zum Bischof von Trier, pochte auf die Freiheit der Kirche von staatlicher Einflussnahme, aufgrund seiner vermittelnden Position im Gewerkschaftsstreit Konflikt mit Rom.79 Franz Adam Karl Krauß (1843–1917), Weltgeistlicher des Erzbistums Freiburg im Breisgau, geb. in Buchen im Odenwald, 1866 Priesterweihe, während des Kulturkampfes kurzzeitig inhaftiert, seit 1877 Strafanstaltsgeistlicher in Bruchsal und Freiburg im Breisgau.80 Philipp Krementz (1819–1899), Weltgeistlicher, geb. in Koblenz, 1842 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1867 bis 1885 Bischof von Ermland, ab 1885 Erzbischof von Köln, seit 1893 Kardinal, Gegner der päpstlichen Unfehlbarkeit, deshalb vor deren Dogmatisierung Abreise vom Ersten Vatikanischen Konzil, schließlich aber Unterwerfung unter die Konzilsmehrheit.81 Franz Edmund Krönes (1822–1895), Weltgeistlicher der Erzdiözese Olmütz, geb. im böhmischen Leitomischl, 1850 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen und staatlichen Lehranstalten in Mähren, Verfasser des »Homiletischen Real-Lexikons«.82 Hermann A. Krose (1867–1949), Jesuitenpater, Statistiker, geb. in Bremen, nach Jurastudium Studium der katholischen Theologie, 1891 Eintritt in den Jesuitenorden, 1900 Priesterweihe, 1902 bis 1905 Studium der Nationalökonomie, 1909 Chefredakteur der Stimmen aus Maria Laach, gilt als Mitbegründer der katholischen Missionswissenschaft, 1908 Herausgeber des »Kirchlichen Handbuchs für das katholische Deutschland«, Protagonist der kirchlichen Statistik.83 Franz Kunze, Weltgeistlicher der Erzdiözese Breslau, Pfarrer im oberschlesischen Wyssoka.84 Hugue Felicité Robert de Lamennais (1782–1854), Weltgeistlicher, geb. in SaintMalo, Gründer der Zeitschrift »L’Avenir«, Gegner der gallikanischen Verflech­ tung von Staat und Kirche, Anhänger der Republik, Vordenker des Ultramontanismus, Ideengeber der kirchlichen Erneuerung im deutschen Sprachraum, wegen seiner revolutionären politischen Ansichten päpstliche Verurteilung 1832 in der Enzyklika »Mirari vos« und 1834 in »Singulari nos«.85 79 Schiel: Korum. 80 Middendorff: Krauß 161 f. 81 Hegel: Erzbistum 85 f. 82 Krönes: Jahres-Bericht 55. 83 Koch: Jesuiten-Lexikon 1044. 84 Kunze: Führung. 85 Gurian: Ideen 101–147; Valerius: Katholizismus; Uertz: Gottesrecht 91–106.

538  Biogramme der verwendeten Autoren Auguste François Lecanu (geb. 1803), Weltgeistlicher, Kirchenhistoriker, theologische Promotion, Domherr in Coutances (Normandie), die deutsche Übersetzung seiner Dämonologie erschien 1863 im Manz-Verlag in Regensburg.86 Augustin Lehmkuhl (1834–1918), Jesuitenpater, Moraltheologe und Sozialethiker, geb. in Hagen, 1853 Eintritt in den Jesuitenorden, theologische Promotion, Lehrtätigkeit an jesuitischen Lehranstalten, während des Kulturkampfes Emigration nach England, Paraguay und in die Niederlande, als Autor der »Theologia Moralis« einflussreich, Neuscholastiker.87 Vincenzo Gioacchino Pecci, als Papst: Leo XIII. (1810–1903), Weltgeistlicher, Sozialethiker, geb. in Carpineto Romano als Spross einer Landadelsfamilie, Ausbildung für den päpstlichen Verwaltungsdienst, 1835 Promotion zum Dr. beider Rechte, 1837 Priesterweihe, 1843 Nuntius in Belgien, 1853 Ernennung zum Kardinal, Gegner des italienischen Staatskirchentums und Befürworter der weltlichen Herrschaft der Päpste, 1878 zum Papst gewählt, während seines Pontifikats erschienen 86 Enzykliken, darunter mit »Rerum novarum« 1891 die erste Sozialenzyklika, dadurch Aufwertung der Sozialethik, deshalb als »Arbeiterpapst« bezeichnet, wollte die Kirche aus der gesellschaftlichen Isolation herausführen, Protagonist der Neuscholastik.88 Matteo Liberatore (1810–1892), Jesuitenpater, Dogmatiker, geb. in Salerno, theologische Promotion, 1826 Eintritt in den Jesuitenorden, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Mitbegründer der Zeitschrift »Civiltà cattolica«, wichtiger Protagonist der Neuscholastik, dessen Werke ins Deutsche übersetzt wurden.89 Franz Xaver (von) Linsenmann (1835–1898), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Rottweil, 1859 Priesterweihe, 1867 bis 1889 Professor für Moral- und Pastoraltheologie an der Universität Tübingen, 1882 Erhebung in den Adelsstand, 1889 Domkapitular in Rottenburg, deshalb auch Mitglied des Württembergischen Landtags, 1898 zum Bischof von Rottenburg gewählt, er starb aber vor der Bischofsweihe, theologischer Außenseiter.90 Karl Heinrich Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (1834–1921), Laie, Jurist, später Dominikanerpater, geb. im böhmischen Haid, Jurastudium, 1868 bis 1898 Vorsitzender des »Zentralkomitees der katholischen Vereine Deutschlands«, Mitglied der ersten Kammer des Bayerischen Landtages, der Ersten Kammer der Badischen Ständeversammlung, der Ersten Kammer der Württembergischen Landstände sowie der Ersten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen, Mitbegründer der katholischen Zentrumspartei, 86 Lecanu: Geschichte. 87 Dirsch: Solidarismus 281–287; Koch: Jesuiten-Lexikon 1090–1092. 88 Ernesti: Leo XIII. 89 Koch: Jesuiten-Lexikon 1103 f.; Peitz: Anfänge 247–280. 90 Auer: Linsenmann; Hadrossek: Bedeutung 262–281.

Biogramme der verwendeten Autoren  539

1871/1872 Mitglied des Deutschen Reichstages, Mitwirkung an der Wiedererrichtung der Benediktinerabtei Maria Laach, 1907 Eintritt in das Dominikanerkloster im niederländischen Venlo unter dem Ordensnamen Raymund Maria, 1909 Priesterweihe, einflussreicher Sozialethiker.91 Konrad Lomb (1804–1862), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Fulda, 1828 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1853 Domkapitular in Fulda, Schüler Johann Baptist Hirschers.92 Franz Lorinser (1821–1893), Weltgeistlicher, Naturkundler, geb. in Berlin, während des Studiums in München Mitglied des Görres-Kreises, 1843 Priesterweihe, 1844 theologische Promotion, 1869 Domkapitular in Breslau, theologischer Berater seines Erzbischofs auf dem Ersten Vatikanischen Konzil, um die Vereinbarung von Offenbarung und Naturwissenschaft bemüht.93 August Friedrich Ludwig (1863–1948), Weltgeistlicher, geb. im unterfränkischen Mainbernheim, Studium der evangelischen Theologie, 1885 Konversion zur katholischen Konfession, anschließend Studium der katholischen Theologie, 1887 Priesterweihe, anschließend juristische Promotion, in der Seelsorge tätig und Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten.94 Conrad Martin (1812–1879), Weltgeistlicher, unspezifischer Theologe, geb. in Geismar im thüringischen Eichsfeld, linguistisches und theologisches Studium, 1836 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1856 zum Bischof von Paderborn gewählt, Errichtung mehrerer kirchlicher Lehranstalten, Ausbau der kirchlichen Infrastruktur in seinem Bistum, Förderer der Jesuiten, auf dem Ersten Vatikanischen Konzil Mitglied der dogmatischen Konstitution zur Vorbereitung des Unfehlbarkeitsdogmas, Vorkämpfer der Infallibilität, im Kulturkampf Festungshaft, 1875 Absetzung als Bischof und Flucht nach Belgien, antijüdischer Schriftsteller.95 Ferdinand Marx, Laie, Arzt im westfälischen Erwitte, medizinische Promotion, Verfasser einer Pastoralmedizin.96 Wenzeslaus Mattes (1815–1886), Weltgeistlicher, unspezifischer Theologe, geb. im württembergischen Renquishausen, theologische und philosophische Pro­motion, 1840 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Abgeordneter der Zweiten Kammer der Württembergischen Landstände für das Zentrum, Mitglied des Vorstandes der philosophischen Sektion der ­Görres-­Gesellschaft, Neuscholastiker.97

91 Siebertz: Löwenstein. 92 Reusch: Lomb. 93 Lauchert: Lorinser. 94 Nickel: Monatsschrift 171. 95 Hengst: Martin; Hadrossek: Bedeutung 107–115. 96 Marx: Pastoral-Medizin. 97 Raberg: Handbuch 546 f.

540  Biogramme der verwendeten Autoren Constantin Mattner (gest. 1899), Weltgeistlicher der Erzdiözese Breslau, theologische Promotion.98 Otto Menzinger (1875–1950), Weltgeistlicher, geb. in Straubing, 1900 Priesterweihe, 1931 theologische Promotion in Freiburg im Breisgau mit einem mariologischen Thema, seelsorgliche Tätigkeit im Bistum Regensburg, spirituelle und heimatkundliche Publikationen.99 Moritz Meschler (1830–1912), Jesuitenpater, geb. in Brig im Kanton Wallis, 1850 Eintritt in den Jesuitenorden, 1862 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an jesuitischen Lehranstalten, im Kulturkampf aufgrund von Vertreibung Emigration in die Niederlande, produktiver geistlicher Schriftsteller.100 Theodor Meyer (1821–1913), Jesuitenpater, geb. in Bünzen im Kanton Aargau, 1841 Eintritt in den Jesuitenorden, 1847 im Sonderbundskrieg Vertreibung aus der Schweiz, 1851 zum Priester geweiht, Lehrtätigkeit an deutschen kirchlichen Lehranstalten, im Kulturkampf Emigration aus dem Deutschen Reich in die Niederlande, bestimmender Einfluss auf die Stimmen aus Maria Laach, einer der führenden neuscholastischen Naturrechtsphilosophen und Sozialethiker, wichtiger Ideengeber der katholischen Soziallehre.101 Johann Adam Möhler (1796–1838), Weltgeistlicher, Kirchenhistoriker, geb. in Igersheim bei Mergentheim, Schüler von Johann Sebastian Drey und Johann Baptist Hirscher, 1819 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, seit 1826 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tübingen, 1835 Annahme eines Rufes an die Ludwig-Maximilians-Universität nach München, 1838 Domdekan in Würzburg, bedeutendes Mitglied der Tübinger Schule.102 Christoph Moufang (1817–1890), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Mainz, 1839 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1871 bis 1890 Reichstagsabgeordneter für das Zentrum, 1877 Wahl zum Bischof von Mainz als Nachfolger Wilhelm Emmanuel von Kettelers, von der großherzoglich-hessischen Regierung im Kulturkampf abgelehnt, deshalb bis zur Bischofsweihe Paul Leopold Haffners 1886 nur Administrator des Bistums Mainz, Mitinitiator der Katholikentage, Mitglied der Kommission zur Vorbereitung des Ersten Vatikanischen Konzils, Sozialethiker und -politiker von großem Einfluss.103 Adam Heinrich (von) Müller (1779–1829), Laie, Jurist, geb. in Berlin, 1805 in Wien Konversion zur katholischen Konfession, 1809 Publikation seines staatsphilosophischen Hauptwerks »Elemente der Staatskunst«, Befürworter des monarchischen Ständestaates, Vertreter antikapitalistischer Ansichten, 98 Gottschalk: Hedwigs-Predigten 154. 99 Schematismus Regensburg 1935 39 und 129; Müller: Jahre 132. 100 Becker: Meschler. 101 Uertz: Gottesrecht 197–236. 102 Scheele: Einheit. 103 Klose: Gott.

Biogramme der verwendeten Autoren  541

nach Auseinandersetzung mit dem preußischen Reformpolitikern Wechsel in den österreichischen Staatsdienst, 1826 Erhebung in den österreichischen Adelsstand, einer der wichtigsten politischen Autoren der deutschen Spätromantik.104 Stephan Jakob Neher (1829–1902), Weltgeistlicher, Kirchenhistoriker, geb. im württembergischen Ebnat, 1855 Priesterweihe, Vorreiter der katholischen Kirchenstatistik.105 Josef Oberhauser (1878–1928), Weltgeistlicher der Erzdiözese München und Freising, Sozialethiker, geb. im oberbayerischen Obing, 1902 Priesterweihe, theologische Promotion, in der Seelsorge tätig.106 Ernst Werner Maria von Olfers (1840–1915), Laie, Arzt und Naturkundler, geb. in Berlin als Sohn der Schriftstellerin und berühmten Berliner Salonière Hedwig von Olfers (1799–1891), medizinische Promotion, Arzt am St. Hedwigskrankenhaus in Berlin, Rittergutsbesitzer im ostpreußischen Metgethen, Verfasser einer vom Erzbischof von Freiburg im Breisgau approbierten Pastoralmedizin.107 Johannes Heinrich Oswald (1817–1903), Weltgeistlicher, Dogmatiker, 1840 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten in Paderborn und Braunsberg, Verfasser eschatologischer und mariologischer Werke, sein mariologisches Hauptwerk »Dogmatische Mariologie« 1855 indiziert.108 Charles Périn (1815–1905), Laie, Jurist und Nationalökonom, geb. im belgischen Mons, 1844 Professor an der katholischen Universität Löwen, u. a. des öffentlichen Rechts und der politischen Ökonomie, einflussreicher katholisch-sozialethischer Schriftsteller, dessen Werke ins Deutsche übersetzt wurden, durch seine Befürwortung des Kapitalismus als liberaler Katholik qualifiziert, in der Politik Wandel vom Liberalen zum Ultramontanen.109 Heinrich Pesch (1854–1926), Jesuitenpater, Sozialethiker, geb. in Köln, Bruder von Tilman Pesch, theologisches und volkswirtschaftliches Studium, 1876 Eintritt in den Jesuitenorden, 1888 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Auseinandersetzung mit dem Marxismus, einflussreicher sozialethischer Schriftsteller, sein Hauptwerk »Lehrbuch der Nationalökonomie« schuf die Grundlage für die Sozialenzyklika »Quadragesimo anno« von 1931, Neuscholastiker.110 104 Koehler: Ästhetik; Langner: Sozialethik 21–153; Portmann-Tinguely: Romantik 8–58; Urbach: Theorie 372–381; Wuthenow: Romantik. 105 Lauchert: Neher. 106 Schematismus München und Freising 1903 8. 107 Lölhöffel: Olfers 1032. 108 Muser: Prinzip 47–50; Ziegenaus: Weg 108–110. 109 Potempa: Band 98–104; Dirsch: Solidarismus 318–335. 110 Grenner: Wirtschaftsliberalismus 266–295; Große Kracht: Hebung; Dirsch: Solidarismus 368–388.

542  Biogramme der verwendeten Autoren Tilman Pesch (1836–1899), Jesuitenpater, Naturkundler und Psychologe, geb. in Köln, Bruder von Heinrich Pesch, 1852 Eintritt in den Jesuitenorden, 1866 Priesterweihe durch Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, während des Kulturkampfes Emigration in die Niederlande, Redakteur der Zeitschrift Stimmen aus Maria Laach, Neuscholastiker.111 Franz Xaver Pfeifer (1829–1902), Weltgeistlicher der Diözese Augsburg, Philosoph, geb. im schwäbischen Deisenhofen, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, um die Vereinbarung von Offenbarung und Naturwissenschaft bemüht, Neuscholastiker.112 August Pieper (1866–1942), Weltgeistlicher, Sozialethiker, geb. in Eversberg bei Meschede, theologische und philosophische Promotion, 1890 Priesterweihe, Mitarbeiter von Franz Hitze, Geschäftsführer des »Volksvereins für das katholische Deutschland«, den er zur größten katholischen Organisation weltweit aufbaute, im Gewerkschaftsstreit Befürworter der interkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften, 1907 bis 1918 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses und des Deutschen Reichstages für das Zentrum, am Lebensende Annäherung an den Nationalsozialismus.113 Friedrich Pilgram (1819–1890), Laie, Jurist und Sozialethiker, geb. in Imbach bei Solingen, 1846 Konversion zur katholischen Konfession, erster Chefredakteur der Zentrumszeitung »Germania«, Ideengeber der katholischen Sozialethik.114 Hermann Ernst Plaßmann (1817–1864), Jesuitenpater, geb. im sauerländischen Hellefeld, 1843 Priesterweihe, 1846 Eintritt in den Jesuitenorden, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Konsultor der Indexkongregation an der Kurie, Rektor des Campo Santo Teutonico in Rom, Wegbereiter der Neuscholastik.115 Josef Pohle (1852–1922), Weltgeistlicher, unspezifischer Theologe und Astronom, geb. in Niederspay bei Koblenz, theologisches und astronomisches Studium, 1878 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten in der Schweiz und in Großbritannien, 1888 Mitbegründer des »Philosophischen Jahrbuchs der Görres-Gesellschaft«, 1889 bis 1893 Professor für Apologetik an der katholischen Universität Washington, ab 1894 Dogmatikprofessor in München und Breslau, Mitarbeiter an mehreren katholischen Lexika, Protagonist der Neuscholastik.116 Ferdinand Probst (1816–1899), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Ehingen an der Donau, 1840 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, seine 1848 erschienene Moraltheologie markiert den Übergang zur Neuscho 111 Dirsch: Solidarismus 255–269; Koch: Jesuiten-Lexikon 1407 f. 112 Eisler: Philosophen-Lexikon 538 f. 113 Dahmen: Pieper. 114 Casper: Pilgram; Senge: Kirche. 115 Peitz: Anfänge 199–247. 116 Leichtfried: Pohle.

Biogramme der verwendeten Autoren  543

lastik, 1864 Ordinarius für Pastoraltheologie an der Universität Breslau, 1896 Ernennung zum Dompropst in Breslau.117 Johann Evangelist (von) Pruner (1827–1907), Weltgeistlicher, unspezifischer Theologe, geb. in Nürnberg, 1849 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1869 bis 1889 Domkapitular in Eichstätt, 1889 bis 1892 Domdekan in Eichstätt, 1892 bis 1907 Dompropst in Eichstätt, 1906 Erhebung in den bayerischen Adelsstand, begründete den Ruf Eichstätts als Hochburg der Neuscholastik.118 Edmund von Radziwill (1842–1895), Benediktinerpater, Sozialethiker und -politiker, geb. im böhmischen Teplitz als Sohn eines preußischen Majors, 1874 bis 1884 Mitglied des Deutschen Reichstages für das Zentrum, anschließend Eintritt in den Benediktinerorden in Beuron.119 Georg Ratzinger (1844–1899), Weltgeistlicher, Kirchenhistoriker und Sozialethiker, geb. im niederbayerischen Rickering, 1867 Priesterweihe, Schüler Ignaz von Döllingers, 1868 theologische Promotion, 1875 bis 1877 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages und 1877/1878 Mitglied des Deutschen Reichstages für die Bayerische Patriotenpartei, 1893 bis 1899 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtages und 1898/1899 Mitglied des Deutschen Reichstages für den Bayerischen Bauernbund, Gegner der Reichseinigung, sozialethischer und antijüdischer Publizist.120 Peter Reichensperger (1810–1892), Laie, Jurist, geb. in Koblenz, wichtiger Protagonist des politischen Katholizismus, 1848 Mitglied der preußischen Nationalversammlung, 1852 Gründungsmitglied der katholischen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus, 1867 Mitglied des Norddeutschen Reichstages, 1869/1870 Gründungsmitglied des Zentrums, 1871 bis 1892 Mitglied des Deutschen Reichstages, Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas, wichtiger sozialphilosophischer Schriftsteller.121 Wilhelm Karl Reischl (1818–1873), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in München, 1840 Priesterweihe, 1842 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1867 Professor für Moraltheologie an der Universität München.122 Johann Baptist Renninger (1829–1892), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. in Würzburg, juristisches und theologisches Studium, 1854 Priesterweihe, Lehr­ tätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Domkapitular in Würzburg, Neu­ scholastiker.123 117 Klose: Gott 64–93; Reiter: Moraltheologe; Hadrossek: Bedeutung 93–107. 118 Ebd. 250–262. 119 Deutscher Parlaments-Almanach 1881 199. 120 Kirchinger: Theorie. 121 Grenner: Wirtschaftsliberalismus 231–250; Stegmann / Langhorst: Geschichte 626 f. 122 Weis: Reischl. 123 Lauchert: Renninger.

544  Biogramme der verwendeten Autoren Anton Rietter (1808–1866), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Stadtamhof bei Regensburg, 1831 Priesterweihe, 1844 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, seit 1852 Ordinarius für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Neuscholastiker.124 Sebastian Ruf (1802–1877), Weltgeistlicher, geb. in Absam in Tirol, seit 1837 Anstaltsgeistlicher der Landes-Irrenanstalt in Hall in Tirol, zahlreiche psychiatrische Publikationen.125 Johann Michael (von) Sailer (1751–1832), Weltgeistlicher, Moral- und Pastoraltheologe, geb. im oberbayerischen Aresing, bis zur Auflösung des Jesuitenordens 1773 Jesuitennovize, 1775 Priesterweihe, 1780/1781 Professor für Dogmatik an der Universität Ingolstadt, 1784 Professor an der Universität Dillingen, als Illuminat denunziert und seines Amtes enthoben, ab 1799 wieder Inhaber eines theologischen Lehrstuhls in Ingolstadt und ab 1800 an der Universität Landshut, großer Einfluss durch publizistisches und persönliches Wirken, 1821 Domkapitular in Regensburg, 1826 Erhebung in den bayerischen Adelsstand, 1829 Ernennung zum Bischof von Regensburg, sein Moralhandbuch war eines der bedeutendsten Werke seiner Art.126 Matthias Joseph Scheeben (1835–1888), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. in Meckenheim bei Bonn, 1858 theologische Promotion und Priesterweihe in Rom, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, einer der wichtigsten Theologen deutscher Sprache, keiner Schule eindeutig zuzuordnen.127 Joseph Scheicher (1842–1924), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in St. Stefan ob Stainz in der Steiermark, 1869 Priesterweihe, 1875 theologische Promotion, seelsorgliche und publizistische Tätigkeit, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1890 bis 1919 Mitglied im niederösterreichischen Landtag, 1894 bis 1918 Mitglied des österreichischen Reichstags, 1918/1919 Mitglied der provisorischen Nationalversammlung, einflussreiches Mitglied der christlichsozialen Bewegung, Anhänger Carls von Vogelsang, antijüdischer Schriftsteller.128 Karl Scheimpflug (1856–1944), Laie, Jurist, geb. in Wien, juristisches Studium, 1879 juristische Promotion, österreichischer Beamter, gehörte dem Kreis um Carl von Vogelsang an, ab 1903 Leitung der sozialwissenschaftlichen Sektion der »Österreichischen Leo-Gesellschaft«, sozialethischer Publizist.129 Friedrich (von) Schlegel (1772–1829), Laie, romantischer Philosoph und Sprachwissenschaftler, geb. in Hannover als Sohn eines protestantischen Pastors, Studium von Jura und Klassischer Philologie, 1808 Konversion zur katho 124 Hadrossek: Bedeutung: 214–222. 125 Lentner: Ruf. 126 Unterburger: Sailer; Weitlauff: Sailer. Zur Bedeutung von Sailers Moraltheologie vgl. Klotz: Sailer 15; Wachinger: Moraltheologie 264–267. 127 Paul: Denkweg. 128 Szanya: Traum. 129 Wichart: Scheimpflug.

Biogramme der verwendeten Autoren  545

lischen Konfession, im österreichischen Staatsdienst tätig, seit 1814 Benutzung des ererbten Adelstitels, einer der wichtigsten politischen Autoren der deutschen Spätromantik, galt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als einer der führenden katholischen Denker.130 Johann Martin Schleyer (1831–1912), Weltgeistlicher, Linguist, geb. im badischen Oberlauda, 1856 Priesterweihe, in der Seelsorge tätig, während des Kulturkampfes inhaftiert, Erfinder der Plansprache Volapük, die er 1879 der Öffentlichkeit vorstellte, Verfasser poetischer Publikationen.131 Aloys (von) Schmid (1825–1910), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. in Zaumberg im Allgäu, 1849 Priesterweihe, 1850 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an staatlichen und kirchlichen Lehranstalten, 1866 Ordinarius für Dog­ matik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1893 Erhebung in den persönlichen Adelsstand, Neuscholastiker, Verfechter der päpstlichen Unfehlbarkeit.132 Wilhelm Schmidt (1868–1954), Ordenspriester der Steyler Missionare, Religionsund Sprachwissenschaftler, geb. in Hörde bei Dortmund, 1892 zum Priester geweiht, anschließend sprach- und islamwissenschaftliche Studien, ab 1895 in Österreich tätig, lehrte Anthropologie und Ethnologie an der Universität Wien, einer der bedeutendsten Sprachwissenschaftler seiner Zeit, verfolgte mit seinen Forschungen aber immer einen apologetischen Zweck, Begründer der »Wiener Schule« der Ethnologie, erklärter Antisemit, nach dem Anschluss Österreichs Emigration in die Schweiz.133 Leonhard Schmöller (1871–1945), Weltgeistlicher, unspezifischer Theologe, geb. im niederbayerischen Jandelsbrunn, 1893 Priesterweihe, in der Seelsorge und an kirchlichen Lehranstalten tätig, Neuscholastiker.134 Johann Nepomuk Schneid (1778–1848), Weltgeistlicher der Diözese Passau, vor der Säkularisation Prämonstratenser, Predigt- und Erbauungsschriftsteller, Dekan in Aidenbach.135 Mathias Schneid (1840–1893), Weltgeistlicher, Philosoph, geb. in Wemding, 1865 Priesterweihe, 1875 philosophische Promotion in Freiburg im Breisgau, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, ab 1891 Domkapitular in Eichstätt, wichtiger Protagonist der Neuscholastik.136 Wilhelm Schneider (1847–1909), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Gerlin­ gen im Sauerland, 1872 zum Priester geweiht, theologische Promotion, ab

130 Osinski: Katholizismus 135; Urbach: Theorie 369–372. 131 Haupenthal: Schleyer. 132 Finkenzeller: Schmid. 133 Brandewie: Giants. 134 Mader: Passauer 207. 135 Kehrein: Lexikon 108; Alzheimer-Haller: Handbuch 627 f. 136 Dörr: Schneid; Peitz: Anfänge: 322 f.

546  Biogramme der verwendeten Autoren 1900 Bischof von Paderborn, Beschäftigung mit moraltheologischen, ethnologischen und esoterischen Themen.137 Bruno Schön, Franziskanerpater, theologische Promotion, Seelsorger der niederösterreichischen Landesirrenanstalt in Wien, um den Nachweis psychischer Erkrankung Martin Luthers bemüht.138 Ignaz Schuech (geb. 1823), Benediktinerpater im oberösterreichischen Krems­ münster, Pastoraltheologe, geb. im mährischen Kornitz, 1843 Eintritt in Kremsmünster, 1848 Priesterweihe, einflussreicher pastoraltheologischer Schriftsteller.139 Anton Seitz (1869–1951), Weltgeistlicher, Apologet, geb. im mittelfränkischen Bad Windsheim, abgebrochenes Jurastudium, 1892 zum Priester geweiht, theologische Promotion, anschließend Studium und Promotion in Philosophie, ab 1904 Ordinarius für Apologetik an der Universität München.140 Ignatius (von) Senestrey (1818–1906), Weltgeistlicher, geb. im oberpfälzischen Bärnau, Jesuitenzögling, 1838 philosophische Promotion, 1842 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1854 kurzzeitig Mitglied der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, 1858 umstrittene Ernennung zum Bischof von Regensburg und Erhebung in den bayerischen Adelsstand, 1858 theologische Promotion, ultramontaner Eiferer, entschiedener Verfechter der päpstlichen Unfehlbarkeit, Ausbau des Bistums Regensburg zur ultramontanen Musterdiözese, quantitativer Ausbau der Seelsorge, Vollender der Regensburger Domtürme, der Mystikerin Louise Beck hörig, Initiator eines posthumen Inquisitionsverfahrens gegen seinen Vorgänger Johann Michael Sailer.141 Johann Peter Silbert (1777–1844), Laie, Schriftsteller, geb. im elsässischen Kolmar, wegen Französischer Revolution Emigration, Lehrtätigkeit an staatlichen Lehranstalten in Siebenbürgen und Österreich, religiöser Schriftsteller.142 Theophil Simar (1835–1902), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. in Eupen, 1859 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1880 Ordinarius für Moraltheologie in Bonn, 1891 bis 1899 Bischof von Paderborn, 1899 bis 1902 Erzbischof von Köln als preußischer Wunschkandidat.143 Albert Stöckl (1823–1895), Weltgeistlicher, theologischer Philosoph, geb. im mittelfränkischen Möhren, 1848 Priesterweihe, 1855 philosophische Promotion, mehrere Stationen an kirchlichen Lehranstalten im deutschsprachigen Raum, 1871 Domkapitular in Eichstätt, von 1877 bis 1881 Mitglied des Deutschen 137 Madey: Schneider. 138 Schön: Briefe. 139 Wurzbach: Lexikon 118 f. 140 Nesner: Erzbistum 168. 141 Unterburger: Sailer. 142 Bäumker: Silbert. 143 Hegel: Erzbistum 90 f.; Hadrossek: Bedeutung 240–250.

Biogramme der verwendeten Autoren  547

Reichstages für das Zentrum, wichtiger Impulsgeber der neuscholastischen Sozialethik.144 August Stöhr (1843–1890), Laie, Arzt, geb. in Würzburg, 1865 philosophische Promotion, 1866 medizinische Promotion, als praktischer Arzt in Würzburg tätig, seine 1878 erstmals veröffentlichte Pastoralmedizin erlebte zahlreiche Auflagen, 1890 Mitglied des Deutschen Reichstages für die Zentrumspartei.145 Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg (1750–1819), Laie, Jurist und Schriftsteller, geb. im holsteinischen Bramstedt, juristisches Studium, im oldenburgischen und dänischen Staatsdienst tätig, Dichter des Sturm und Drang, 1800 Konversion zur katholischen Konfession, Freund Johann Michael Sailers.146 Alban Stolz (1808–1883), Weltgeistlicher, Pastoraltheologe, geb. im badischen Bühl, juristische, philosophische und theologische Studien, 1833 Priesterweihe, Lehrtätigkeit an kirchlichen und staatlichen Lehranstalten, in der Seelsorge tätig, 1845 theologische Promotion durch Johann Baptist Hirscher, 1848 Ordinarius für Pastoraltheologie und Pädagogik an der Universität Freiburg im Breisgau, vertrat antijüdische Positionen, populärer Schriftsteller.147 Luigi Taparelli d’Azeglio (1793–1862), Jesuitenpater, Sozialethiker, geb. in Turin, 1814 Eintritt in den Jesuitenorden, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, Lehrer des späteren Papstes Leo XIII., Mitbegründer der Jesuitenzeitung »Civiltà cattolica«, Mitbegründer der naturrechtlichen katholischen Sozialethik, zahlreiche nationalökonomische Publikationen, früher Protagonist der Neuscholastik, Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche.148 Carl von Vogelsang (1818–1890), Laie, Jurist, geb. im schlesischen Liegnitz, nach dem juristischen Studium Eintritt in den preußischen Justizdienst, Mitglied des mecklenburgischen Landtags, 1850 Konversion zur katholischen Konfession unter dem Einfluss Wilhelm Emmanuel von Kettelers, 1864 Übersiedlung nach Österreich, seither als Publizist für katholische Presseorgane tätig, u. a. für die Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland, beeinflusste die österreichische Sozialgesetzgebung mit Arbeitszeitbegrenzung und Sozialversicherungen, Mitbegründer der »Freien Vereinigung Katholischer Socialpolitiker«, vertrat antijüdische Positionen, gilt als der einflussreichste Vertreter der sozialkonservativen Aristokratie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, argumentierte thomistisch-naturrechtlich.149 Ignaz Waller (1837–1905), Weltgeistlicher des Bistums Straßburg, Kirchenhistoriker, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten.150 144 Walter: Philosophie 176–179; Edmaier: Stöckl; Peitz: Anfänge 284–288. 145 Specht / Schwabe: Reichstagswahlen 213. 146 Lagaude: Konversion. 147 Osinski: Katholizismus 283–285. 148 Koch: Jesuiten-Lexikon 1728. 149 Bader: Sozialreform 153–159; Dirsch: Solidarismus 130–154. 150 Desroche: Dieux 256.

548  Biogramme der verwendeten Autoren Franz Walter (1870–1950), Weltgeistlicher, Moraltheologe, geb. im oberpfälzi­ schen Amberg, juristische und theologische Studien, 1896 theologische Promotion, 1903 Ordinarius für Moraltheologie an der Universität Straßburg, 1904 Ordinarius für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.151 Erich Wasmann (1859–1921), Jesuitenpater, Naturkundler, geb. in Meran, 1875 Eintritt in den Jesuitenorden in den Niederlanden, Redakteur der Stimmen aus Maria Laach, 1888 Priesterweihe, zoologische Studien, um die Vereinbarung von Offenbarung und Naturwissenschaft bemüht, Vertreter der Darwin’schen Deszendenztheorie.152 Sebastian Weber (1858–1941), Weltgeistlicher der Diözese Regensburg, geb. im niederbayerischen Rottenburg an der Laaber, 1884 Priesterweihe, in der Seelsorge tätig, seit 1890 Kurat an der niederbayerischen Kreisirrenanstalt Deggendorf, 1912 bis 1924 an der niederbayerischen Kreisirrenanstalt in Mainkofen.153 Albert Maria Weiß (1844–1925), Dominikanerpater, Moraltheologe, geb. im oberbayerischen Indersdorf, 1867 Priesterweihe, 1870 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1873 im steirischen Graz Eintritt in den Dominikanerorden, 1890 Professor für Gesellschaftswissenschaften an der Universität Freiburg in der Schweiz, dort 1897 Ordinarius für Apologetik, in gedanklicher Nähe zu Vogelsang, Neuscholastiker.154 Bernhard Werneke (1825–1909), Laie, Historiker und Philologe, geb. in Münster, Gymnasiallehrer in Coesfeld, im ostpreußischen Ost-Crone, in Paderborn und Montabaur, dort Direktor, Publikationen im »Katholischen BroschürenVerein« Frankfurt am Main.155 Karl Werner (1821–1888), Weltgeistlicher, Moraltheologe und Kirchenhistoriker, geb. im niederösterreichischen Hafnerbach, 1843 Priesterweihe, 1845 theologische Promotion, Lehrtätigkeit an kirchlichen Lehranstalten, 1870 Ordinarius für neutestamentliche Exegese an der Universität Wien, allmähliche Hinwendung zur Neuscholastik.156 Anton Westermayer (1816–1894), Weltgeistlicher, geb. im niederbayerischen Deggendorf, 1840 Priesterweihe, theologische Promotion, 1842 Domprediger in Regensburg, 1847/1848 Herausgeber der Zeitschrift »Der katholische Hausfreund«, 1849 bis 1871 Mitglied der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, 1874 bis 1884 Mitglied des Reichstages, jeweils für die 151 Große Bayerische Biographische Enzyklopädie 2049. 152 Koch: Jesuiten-Lexikon 1831 f. 153 Schematismus Regensburg 1931 16 und 153. 154 Dirsch: Solidarismus 154–168; Stegmann: Katholizismus 63; Weiß: Lebensweg. 155 Schodrok: Turnpolitik 478. 156 Pritz: Werner; Schroeder: Werner; Hadrossek: Bedeutung 144–168.

Biogramme der verwendeten Autoren  549

Bayerische Patriotenpartei bzw. das Zentrum, polemischer Prediger, einer der fruchtbarsten katholischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.157 Friedrich Windischmann (1811–1861), Weltgeistlicher, Philologe, geb. in Aschaffenburg als Sohn des Arztes Karl Joseph Windischmann, 1832 philosophische Promotion mit einer sprachwissenschaftlichen Arbeit, anschließend Studium der katholischen Theologie, 1836 Priesterweihe und theologische Promotion, 1839 Domkapitular in München, Freund Ignaz von Döllingers, 1846 bis 1856 Generalvikar des Erzbistums München und Freising.158 Karl Joseph Windischmann (1775–1839), Arzt, geb. in Mainz, 1796 medizinische Promotion, lehrte seit 1818 an der Universität Bonn Medizin und Geschichte, Gutachter gegen den rationalistischen Dogmatiker Georg Hermes, Freund Friedrich Schlegels, Vertreter einer romantischen Naturphilosophie, Protagonist der katholischen Erneuerung im Vormärz.159 Friedrich Wörter (1819–1901), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. im badischen Offenburg, 1846 Priesterweihe, theologische Promotion, 1860 Ordinarius für Dogmatik an der Universität Freiburg im Breisgau.160 Joseph Zahn (1862–1945), Weltgeistlicher, Dogmatiker, geb. im unterfränkischen Stadtprozelten, 1885 Priesterweihe, 1890 theologische Promotion, lehrte ab 1903 Dogmatik in Straßburg und Würzburg.161

157 Hartmannsgruber: Patriotenpartei 126 und passim. 158 Weiß: Weisungen 151–162 und passim. 159 Weber: Aufklärung 46–51. 160 Krieg: Wörter. 161 Ganzer: Fakultät 356–361.

Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Ungedruckte Quellen Archiv des Bistums Passau (ABP) Generalakten 974 OA Pfa Breitenberg I 59 OA Pfa Galgweis II 4 a OA Pfa Hauzenberg I 14 OA Pfa Neuburg am Inn I 1 OA Pfa Obernzell I 15 OA Pfa Schönberg I 59 OA Pfa Simbach bei Landau I 4 OA Pfa Untergriesbach I 31 Pfarrarchiv Vornbach 124

Archiv des Erzbistums München und Freising (AEMF) Realia 2348 S 380

Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg (BZAR) OA-Gen 735 OA-Gen 2367 OA-Gen 2382, Die Obsessis et Daemoniacis OA-Gen 3389 OA-Gen 3686

Pfarrakten Oberroning 2 Pfarrarchiv Holztraubach 34/2

Staatsarchiv Landshut (StaLa) Kirchendeputation Landshut (Rep. 201) 1006

Periodika  551

2. Periodika Centralblatt für Bibliothekswesen Chilianeum. Blätter für katholische Wissenschaft, Kunst und Leben Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker Literarische Rundschau Der Katholik. Eine religiöse Zeitschrift zur Belehrung und Warnung Katholisch-theologisches Literaturblatt Magazin für volkstümliche Apologetik Pastoral-Blatt für die Erzdiöcese München-Freising Send-Bote für katholische Vereine und Freunde der Kirche überhaupt Siloah. Zeitschrift für religiösen Fortschritt inner der Kirche Stimmen aus Maria Laach Theologisch-praktische Monats-Schrift Theologische Quartalschrift Zeitschrift des K. Bayerischen Statistischen Landesamts

3. Gedruckte Quellen Adolph-Kolping-Schriften. Kölner Ausgabe. Bd. 3: Soziale Frage und Gesellenverein. Teil I: 1846–1852. Hg. von Copelovici, Rosa u. a. Köln 1985. Adolph-Kolping-Schriften. Kölner Ausgabe Bd. 14: Kalender für das katholische Volk 1858 bis 1861. Hg. von Lüttgen, Franz. Köln 2001. Allgemeiner Pastoral-Erlaß an den hoch. Klerus des Bistums Regensburg. Gegeben am 17. Januar 1869. Regensburg o. J. [Amberger, Joseph:] Die Diöcesanverwaltung, vom Standpunkte des Kirchenrechtes und der Pastoral-Theologie, mit Berücksichtigung jetziger Zeitverhältnisse. Straubing 1869. Baader, Franz von: Gesammelte Schriften zur Societätsphilosophie. Bd. 1. Hg. von Hoffmann, Franz. Leipzig 1854. Baader, Franz von: Gesammelte Schriften zur Societätsphilosophie. Bd. 2. Hg. von Hoffmann, Franz. Leipzig 1854. Baader, Franz von: Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuern und innigern Verbindung der Religion mit der Politik. Nürnberg 1815. Baader, Franz von: Über Liebe, Ehe und Kunst. Aus den Schriften, Briefen und Tagebüchern. München 1953. Bacher, Ammonius: Waffen des Lichtes wider die Fürsten der Finsterniß, besonders für Kranke und Sterbende. Nebst Morgen-, Abend-, Meß-, Beicht- und Kommunion-Gebeten. 2. Aufl. Straubing 1846. Bandorf, Georg: Die kommende Umgestaltung der Erde, als nothwendige Folge der früheren Erdrevolution. Erklärt und bewiesen aus den Vorgängen und aus dem Leben in der Natur im Zusammenhalte mit der Offenbarung. Regensburg 1860. Bautz, Joseph: Die Hölle. Im Anschluß an die Scholastik dargestellt. Mainz 1882. Benger, Michael: Pastoraltheologie. Bd. 2. Regensburg 1862. Beßmer, Julius: Die Grundlagen der Seelenstörungen. Freiburg im Breisgau 1906. Beßmer, Julius: Störungen im Seelenleben. Freiburg im Breisgau 1904. Bibel und Naturwissenschaft. Nach Bischof Dr. Faulhaber (Speyer). In: Magazin für volkstümliche Apologetik 12 (1913) 103–107.

552  Quellen- und Literaturverzeichnis Biederlack, Joseph: Die sociale Frage. Ein Beitrag zur Orientierung über ihr Wesen und ihre Lösung. 3. Aufl. Innsbruck 1898. Biggel, Joseph Anton: Des Christen Wandel im Erdenthale und seine Sehnsucht nach der himmlischen Heimat. Ein Gebet- und Erbauungs-Buch für katholische Christen, zunächst in höhern Ständen. 4. Aufl. Stuttgart 1839. Biggel, Joseph Anton: Des Christen Wandel im Erdenthale und seine Sehnsucht nach der himmlischen Heimat. Ein Gebet- und Erbauungsbuch für katholische Christen aller Stände. 18. Aufl. Stuttgart 1862. Biggel, Joseph Anton: Predigten auf alle Sonn- und Festtage des katholischen Kirchenjahres. Zugleich Erbauungsbuch für das Volk. Nördlingen 1840. Bilder zur christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre aus den Schriften von Alban Stolz. Hg. von Telch, Karl. Freiburg im Breisgau 1909. Blome, Gustav von: Reorganisation der Gesellschaft durch Bildung von Berufsgenossenschaften. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1888, 69–86. Brammerz, Wilhelm: Die katholischen Bisthümer des Erdkreises. Eine geographisch-statistische Übersicht. Bergheim 1861. Braun, Karl: Über Kosmogonie vom Standpunkt christlicher Wissenschaft mit einer Theorie der Sonne und einigen darauf bezüglichen Philosophischen Betrachtungen. Münster 1889. Brentano, Clemens: Religiöse Werke. Bd. 1/1. Hg. von Moering, Renate. Stuttgart 1985. Britzger, Franz Xaver: Handbuch der Pastoral-Medizin für Seelsorger auf dem Lande. Mit besonderer Rücksicht auf die in den süddeutschen Staaten geltenden Sanitäts-Gesetze und Verordnungen. 2. Aufl. Regensburg 1855. Bruder, Adolf: Gesellschaft. In: Ders. (Hg.): Staatslexikon der Görres-Gesellschaft. Bd. 2. Freiburg im Breisgau 1892, 1199–1237. Buchfelner, Simon: Die Wundenmale Jesu an den zwei noch lebenden Jungfrauen Dominika Lazari und Maria von Mörl im südlichen Tyrol, mit kurzer Lebensgeschichte derselben, und einem Vorworte über die stellvertretende Genugthuung Christi. Auch ein Christenlehrgeschenk für Feiertagsschüler. 2. Aufl. München 1839. Bumüller, Johannes: Unsere Welt. Schöpfung oder Ewigkeit? Mit naturwissenschaftlichen Randbemerkungen zu Häckels »Ewigkeit«. Mönchengladbach 1918. Buß, Franz Josef Ritter von: Der Orden der barmherzigen Schwestern. Übersicht seiner Entstehung, Verbreitung, Gliederung, Leistung, Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit in der Gegenwart. Schaffhausen 1844. Buß, Franz Josef Ritter von: System der gesammten Armenpflege. Nach den Werken des Herrn Gérando und nach eigenen Ansichten. Bd. 1. Stuttgart 1843. Calmet, Augustin: Über Geistererscheinungen. 2. Aufl. Regensburg 1855. Capellmann, Carl: Pastoralmedizin. 17. Aufl. Paderborn 1914. Cathrein, Viktor: Die Einheit des sittlichen Bewußtseins der Menschheit. Eine ethnographische Untersuchung. Bd. 1: Die Kulturvölker. Die Naturvölker Europas, Asiens und Afrikas (nördliche Hälfte). Freiburg im Breisgau 1914. Cathrein, Viktor: Die Einheit des sittlichen Bewußtseins der Menschheit. Eine ethnographische Untersuchung. Bd. 3: Die Naturvölker Südamerikas, Australiens und Ozeaniens. Freiburg im Breisgau 1914. Cathrein, Viktor: Die Einteilung und Behandlung der Verbrecher nach der kriminalsoziologischen Schule. In: Stimmen aus Maria Laach 67 (1904) 155–173. Cathrein, Viktor: Die Grundbegriffe des Strafrechts. Eine rechtsphilosophische Studie. Freiburg im Breisgau 1905. Cathrein, Viktor: Das Privatgrundeigenthum im Lichte des Naturrechts. In: Stimmen aus Maria Laach 33 (1887) 341–350 und 472–481.

Gedruckte Quellen  553 Cathrein, Viktor: Recht, Naturrecht und positives Recht. Eine kritische Untersuchung der Grundbegriffe der Rechtsordnung. Freiburg im Breisgau 1901. Cathrein, Viktor: Sociale Frage. In: Hergenröther, Joseph / Kaulen, Franz (Hg.): Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon. Bd. 11. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1899, 431–465. Cathrein, Viktor: Das Strafrecht der Zukunft. In: Stimmen aus Maria Lach 50 (1896) 361–374 und 489–505. Cortés, Juan Donoso / Buß, Franz Josef Ritter von: Zur katholischen Politik der Gegenwart. Paderborn 1850. Costa-Rossetti, Julius: Allgemeine Grundlagen der Nationalökonomie. Beitrag zu einem System der Nationalökonomie im Geiste der Scholastik. Freiburg im Breisgau 1888. Costa-Rossetti, Julius: Die Staatslehre der christlichen Philosophie. Fulda 1890. Denifle, Heinrich: Die katholische Kirche und das Ziel der Menschheit. Hg. von Schultes, Reginald M. 2. Aufl. Graz 1906. Denkschrift des Episcopates der oberrheinischen Kirchenprovinz in Bezug auf die Königlich Württembergische, Großherzoglich Badische, Großherzoglich Hessische und Herzoglich Nassauische allerhöchste Entschließung vom 5. März 1853 in Betreff der Denkschrift des Episcopates vom März 1851. Freiburg im Breisgau 1853. Deutinger, Martin: Giebt es einen Fortschritt inner der Kirche? In: Siloah. Zeitschrift für religiösen Fortschritt inner der Kirche 1 (1850) 9–12, 36–40 und 57–62. Deutinger, Martin: Die Zeichen der Zeit. In: Siloah. Zeitschrift für religiösen Fortschritt inner der Kirche 1 (1850) 28–32, 52–56, 73–76, 101–104, 123–127, 145–150, 169–173, 193–197, 217–220, 244–248, 265–268 und 289–294. Deutscher Katholizismus und Sozialpolitik bis zum Beginn der Weimarer Republik. Hg. von Heitzer, Horstwalter. Paderborn 1991. Diessel, Gerard: Die Arbeit betrachtet im Lichte des Glaubens. Ein Beitrag zur Lösung der socialen Frage. Regensburg 1891. Dillinger, Karl: Die katholische Kirche in ihrer gegenwärtigen Ausbreitung auf der Erde, oder historische und statistische Nachrichten über sämmtliche in unsern Tagen mit dem heiligen apostolischen Stuhle zu Rom in Glaubensgemeinschaft stehenden Christengemeinden. Mit dem Anhange: Die geistlichen Orden und religiösen Congregationen der katholischen Kirche. 2. Aufl. Regensburg 1847. Dillinger, Karl: Statistisches Jahrbuch der Kirche, oder: Gegenwärtiger Bestand des gesammten katholischen Erdkreises. Nach den besten Quellen bearbeitet. Bd. 1. Regensburg 1860. Dillinger, Karl: Statistisches Jahrbuch der Kirche, oder: Gegenwärtiger Bestand des gesammten katholischen Erdkreises. Nach den besten Quellen bearbeitet. Bd. 2. Regensburg 1862. Dippel, Joseph: Christliche Gesellschafts-Lehre. Oder: Principielle Erörterungen über die social-politischen Grundfragen der Gegenwart in populärer Darstellung. Regensburg 1873. Droste zu Vischering, Clemens August: Über die Genossenschaften der barmherzigen Schwestern, insbesondere über die Einrichtung einer derselben, und deren Leistungen in Münster. 2. Aufl. Münster 1838. Dupanloup, Felix: Die in den letzten Zeiten veröffentlichten Prophezeiungen und Wundererscheinungen. Mainz 1874. Eberl, Friedrich: Die Kirche und die Association der Arbeiter. Passau 1866. Eckmüller, Martin: War die hl. Familie »sehr arm«? In: Theologisch-praktische MonatsSchrift 10 (1900) 326–331. Ehrhard, Albert: Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit. 9. bis 12. Aufl. Stuttgart 1902. Ernst Ludwig von Gerlach. Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken 1795–1877. Bd. 2 1848–1877. Hg. von Gerlach, Jakob von. Schwerin 1903. Epping, Joseph: Der Kreislauf im Kosmos. Freiburg im Breisgau 1882.

554  Quellen- und Literaturverzeichnis Familler, Ignaz: Pastoral-Psychiatrie. Ein Handbuch für die Seelsorge der Geisteskranken. Freiburg im Breisgau 1898. Familler, Ignaz: Zur Frage von Selbstmord und Irresein. In: Theologisch-praktische MonatsSchrift 15 (1915) 801–809. Fleuriau, Gabriel: Lebensgeschichte des seligen Peter Claver, aus der Gesellschaft Jesu, Apostels von Cartagena in Westindien. 2. Aufl. Regensburg 1873. Foerstl, Johann Nepomuk: Das Almosen. Eine Untersuchung über die Grundsätze der Armenfürsorge in Mittelalter und Gegenwart. Paderborn 1909. Franz von Baaders Gedanken über Staat und Gesellschaft, Revolution und Reform. Hg. von Claassen, Johannes. Gütersloh 1890. Friedhoff, Franz: Specielle Moraltheologie. Regensburg 1865. Fuchs, Bernhard: Moral. In: Wetzer, Heinrich Joseph / Welte, Benedikt (Hg.): Kirchen-Lexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 7. Freiburg im Breisgau 1851, 282–309. Fuchs, Bernhard: System der christlichen Sittenlehre, oder katholische Moraltheologie. Augsburg 1851. Fuchs, Martin: Reflexionen zur Encyklica Aeterni Patris über die Wiedereinführung der christlichen Philosophie in die katholischen Schulen nach dem Sinne des englischen Lehrers, des hl. Thomas von Aquin. 2. Aufl. Linz 1881. Funk, Franz Xaver: Zins und Wucher. Eine moraltheologische Abhandlung mit Berücksichtigung des gegenwärtigen Standes der Cultur und der Staatswissenschaften. Tübingen 1868. Gassert, Heinrich: Arbeit und Leben des katholischen Klerikers im Lichte der Gesundheitslehre. Paderborn 1902. Gaume, Jean Joseph: Geschichte der häuslichen Gesellschaft bei allen alten und neuen Völkern oder Einfluß des Christenthums auf die Familie. Bd. 2. Regensburg 1845. Gaume, Jean Joseph: Geschichte der häuslichen Gesellschaft bei allen alten und neuen Völkern oder Einfluß des Christenthums auf die Familie. Bd. 3. Regensburg 1845. Gaume, Jean Joseph: Der Kirchhof im neunzehnten Jahrhundert. Oder: Das letzte Wort der Solidarischen. Regensburg 1874. Gaume, Jean Joseph: Der nagende Wurm der heutigen Gesellschaften oder das Heidenthum in der Erziehung. Ein Gegenbild zur Geschichte der häuslichen Gesellschaft oder Einfluß des Christenthums auf die Familie. Regensburg 1851. Gaume, Jean Joseph: Wohin gehen wir? Ein Blick auf die Bestrebungen der gegenwärtigen Zeit. Einleitung zur Geschichte der häuslichen Gesellschaft. Regensburg 1845. Gesundheitskunde, oder praktische Anweisung zur Erhaltung, Befestigung und Stärkung der Gesundheit für Geistliche und Solche, welche es werden wollen. Nach bewährten Schriftstellern und eigener Beobachtung bearbeitet. Regensburg 1853. Göpfert, Franz Adam: Moraltheologie. Bd. 1. Paderborn 1897. Görres, Joseph: Die christliche Mystik. Bd. 2. Regensburg 1837. Görres, Joseph: Die christliche Mystik. Bd. 4. Regensburg 1842. Görres, Joseph: Geistesgeschichtliche und politische Schriften der Münchner Zeit (1828–1838). Hg. von Deuerlein, Ernst. Köln 1958. Görres, Joseph: Politische Schriften (1817–1822). Hg. von Wohlers, Günther. Köln 1929. Grabreden. Hg. von Mattner, Constantin. Breslau 1881. Grupp, Georg: Ideen und Gesetze der Geschichte. Paderborn 1891. Grupp, Georg: Jenseitsreligion. Erwägungen über brennende Fragen der Gegenwart. 2./3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1916. Gutberlet, Constantin: Experimentelle Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der Pädagogik. Paderborn 1915. Gutberlet, Constantin: Der Kampf um die Seele. Vorträge über die brennenden Fragen der modernen Psychologie. 2. Aufl. Mainz 1903.

Gedruckte Quellen  555 Gutberlet, Constantin: Der Kosmos. Sein Ursprung und seine Entwicklung. Paderborn 1908. Gutberlet, Constantin: Psychophysik. Historisch-kritische Studien über Experimentelle Psychologie. Mainz 1905. Gutberlet, Constantin: Der Spiritismus. Köln 1882. Gutberlet, Constantin: Das Unendliche metaphysisch und mathematisch betrachtet. Mainz 1878. Gutberlet, Constantin: Die Willensfreiheit und ihre Gegner. Fulda 1893. Häglsperger, Franz Seraph: Simon Zollbrucker. Pfarrer und Rural-Dekan in Binabiburg in seinem Leben und Wirken. Ein Muster katholischer Seelensorger. München 1823. Häglsperger, Franz Seraph: Über die geistliche Seelenführung im Beichtstuhle. In Briefen an einen Freund. Sulzbach 1839. Häglsperger, Franz Seraph: Über Seelenleiden und Menschentröstung nach katholisch-kirchlichen Principien. In Briefen an einen Freund. Sulzbach 1843. Häglsperger, Franz Seraph: Was liegt heut zu Tage dem kathol. Curatklerus, den kirchenfeindlichen Bewegungen unserer Zeit gegenüber, zuvörderst ob? Bedenkpunkte für sich selbst und seine Mitpriester zum neuen Jahre 1847. Regensburg 1847. Häglsperger, Franz Seraph: Die Wiedererhöhung des gefallenen Menschen. Eine Messiade in kurzen Betrachtungen auf alle Tage des Jahres zunächst für katholische Christen aus gebildeten Ständen. Bd. 1. München 1826. Häglsperger, Franz Seraph: Die Wiedererhöhung des gefallenen Menschen. Eine Messiade in kurzen Betrachtungen auf alle Tage des Jahres zunächst für katholische Christen aus gebildeten Ständen. Bd. 2. München 1826. Haffner, Paul: Die Bacillen des socialen Körpers. Ein historisch-politischer Versuch. Frankfurt am Main 1885. Haffner, Paul: Schlafen und Träumen. In: Frankfurter zeitgemäße Broschüren. Neue Folge 5 (1884) 296–341. Haller, Carl Ludwig: Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt. Bd. 1. 2. Aufl. Winterthur 1820. Haller, Carl Ludwig von: Satan und die Revolution. Ein Gegenstück zu den »Paroles d’un croyant«. In: Ders.: Satan und die Revolution und andere Schriften. Hg. von Langendorf, Jean-Jacques. Wien 1991, 101–117. Hammerschmid, Anton: Anthropologische Beschränktheit der Sintflut. In: Theologisch-praktische Monats-Schrift 5 (1895) 678–693, 757–774 und 840–854. Hammerschmid, Anton: Die Sprachverwirrung zu Babel. In: Theologisch-praktische MonatsSchrift 8 (1898) 1–15, 89–101, 158–169 und 228–240. Handwercher, Franz Sales: Blicke in die Zukunft. Oder: Gesichte eines frommen und erleuchteten Priesters in den Jahren 1828 bis 1830. In Versen dargestellt. o. O. 1848. Hansen, Johann Anton Joseph: Der Morgenstern der religiösen und politischen Wiedergeburt Deutschlands, oder prophetische Stimmen über unsere Gegenwart und Zukunft, kurz zusammengestellt. Trier 1850. Hansjakob, Heinrich: Aus kranken Tagen. Erinnerungen an einen freiwilligen Heilanstaltsaufenthalt. Hg. von Bender, Elisabeth. Waldkirch 1992. Haring, Johann Baptist: Der Rechts- und Gesetzesbegriff in der katholischen Ethik und modernen Jurisprudenz. Graz 1899. Hense, Friedrich: Die Versuchungen und ihre Gegenmittel nach den Grundsätzen der Heiligen und der großen Geisteslehrer. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1890. Hertling, Georg von: Aufsätze und Reden socialpolitischen Inhalts. Freiburg im Breisgau 1884. Hertling, Georg von: Kleine Schriften zur Zeitgeschichte und Politik. Freiburg im Breisgau 1897. Hertling, Georg von: Naturrecht und Socialpolitik. Köln 1893. Hertling, Georg von: Recht, Staat und Gesellschaft. Kempten 1906.

556  Quellen- und Literaturverzeichnis Heyne, Bernard: Über Besessenheitswahn bei geistigen Erkrankungszuständen. Paderborn 1904. Hirscher, Johann Baptist von: Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit. Bd. 1. 4. Aufl. Tübingen 1845. Hirscher, Johann Baptist von: Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit. Bd. 2. 5. Aufl. Tübingen 1851. Hirscher, Johann Baptist von: Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit. Bd. 3. 5. Aufl. Tübingen 1851. Hirscher, Johann Baptist von: Die socialen Zustände der Gegenwart und die Kirche. Tübingen 1849. Hitze, Franz: Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft. Vorträge. Paderborn 1880. Hitze, Franz: Normal-Arbeitsordnung sowie Normal-Statut eines Arbeiter-Ausschusses. Festgestellt vom Linksrheinischen Verein für Gemeinwohl. Mit Einleitung und Erläuterungen nebst Auszügen aus Fabrik-Ordnungen sowie einer Zusammenstellung der Bestimmungen des Arbeiterschutzgesetzes von 1891. Köln 1892. Hitze, Franz: Die Quintessenz der socialen Frage. Paderborn 1880. Hitze, Franz: Die sociale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung. Mit besonderer Berücksichtigung der verschiedenen socialen Parteien in Deutschland. Drei Vorträge. Paderborn 1877. Hitze, Franz: Was Jedermann bezüglich der Invalidenversicherung wissen muß in Fragen und Antworten auf Grund des Abänderungsgesetzes vom 13. Juli 1899 und der Ausführungsverordnungen neu zusammengestellt. Berlin 1901. Hitze, Franz: Die Würdigung der deutschen Arbeiter-Sozialpolitik. Kritik der Bernhardschen Schrift: Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik. Mönchengladbach 1913. Huber, August: Die Hemmnisse der Willensfreiheit. Münster 1904. Hummelauer, Franz von: Die christliche Vorzeit und die Naturwissenschaft. In: Stimmen aus Maria Laach 18 (1880) 140–149, 281–292 und 408–420. Hummelauer, Franz von: Geologische Berechnungen des absoluten Alters der Menschheit. In: Stimmen aus Maria Laach 17 (1879) 66–81 und 140–151. Jäger, Eugen: Inwiefern trägt der Handel in seiner jetzigen Betriebsweise eine Mitschuld an der traurigen wirthschaftlichen Lage unserer Länder und welche Correctivmittel könnten in’s Auge gefaßt werden? In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1887, 115–137. Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1887. Jeiler, Ignatius: Besessene. In: Hergenröther, Joseph / Kaulen, Franz (Hg.): Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon. Bd. 2. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1883, 514–526. Jocham, Magnus: Memoiren eines Obskuranten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Sattler, Magnus. Kempten 1896. Joerg, Joseph Edmund: Geschichte der social-politischen Parteien in Deutschland. Freiburg im Breisgau 1867. Joerg, Joseph Edmund: Das System des liberalen Ökonomismus und das Wesen der Bourgeoisie. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 56 (1865) 50–67. Kannamüller, Ludwig: Laster und Willensfreiheit. In: Theologisch-praktische Monats-Schrift 25 (1915) 684–691 und 748–755. Kaufmann, Franz Sales: Der Mittelstand im Lichte des Glaubens und der Vernunft. In: Theologisch-praktische Monats-Schrift 10 (1900) 581 f. Keel, Leo: Die jenseitige Welt. Eine Schrift über Fegfeuer, Hölle und Himmel, der diesseitigen Welt zur Beherzigung. Einsiedeln 1868. Keppler, Paul Wilhelm: Das Problem des Leidens in der Moral. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1904.

Gedruckte Quellen  557 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältniss zu Religion und Sittlichkeit. In: Ders.: Schriften, Aufsätze und Reden 1867–1870. Hg. von Iserloh, Erwin u. a. Mainz 1978, 406–428. Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Die Arbeiterfrage und das Christenthum. In: Ders.: Schriften, Aufsätze und Reden 1848–1866. Bearb. von Iserloh, Erwin u. a. Mainz 1977, 367–515. Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Deutschland nach dem Kriege von 1866. In: Ders.: Schriften, Aufsätze und Reden 1867–1870. Hg. von Iserloh, Erwin u. a. Mainz 1978, 1–127. Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Freiheit, Autorität und Kirche. In: Ders.: Schriften, Aufsätze und Reden 1848–1866. Bearb. von Iserloh, Erwin u. a. Mainz 1977, 222–364. Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Fürsorge der Kirche für die Fabrikarbeiter. In: Ders.: Schriften, Aufsätze und Reden 1867–1870. Hg. von Iserloh, Erwin u. a. Mainz 1978, 429–451. Ketteler, Wilhelm Emmanuel von: Die großen socialen Fragen der Gegenwart. Sechs Predigten gehalten im Hohen Dom zu Mainz. In: Ders.: Schriften, Aufsätze und Reden 1848–1866. Bearb. von Iserloh, Erwin u. a. Mainz 1977, 22–87. Klee, Heinrich: Grundriß der katholischen Moral. Hg. von Himioben, Heinrich Joseph. Mainz 1843. Kleutgen, Joseph: Briefe aus Rom. Münster 1869. Kleutgen, Joseph: Über den Glauben an das Wunderbare. In: Ders.: Das Evangelium des heiligen Matthäus nach seinem innern Zusammenhang, auch für gebildete Laien zur andächtigen Betrachtung des Lebens unseres Heilandes, in Kürze erklärt. Freiburg im Breisgau 1882, 239–286. Koch, Heinrich: Die Bevölkerung der modernen Großstadt. In: Stimmen aus Maria Laach 67 (1904) 142–154 und 283–299. Koch, Heinrich: Die Gleichstellung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Großindustrie. In: Stimmen aus Maria Laach 69 (1905) 235–251 und 374–393. Koch, Heinrich: Ein neuer Mittelstand. In: Stimmen aus Maria Laach 74 (1908) 241–255. Korum, Michael Felix: Wunder und Göttliche Gnadenerweise bei der Ausstellung des hl.  Rockes zu Trier im Jahre 1891. 3. Aufl. Trier 1891. Krauß, Franz Adam Karl: Der Kampf gegen die Verbrechensursachen. Übersichtlich dargestellt für alle Volks- und Vaterlandsfreunde. Paderborn 1905. Krauß, Franz Adam Karl: Lebensbilder aus der Verbrecherwelt. Mit einer populären Abhandlung über Verbrechen und Willensfreiheit, Schuld und Strafe. Aus den Papieren eines alten Gefängnispfarrers herausgegeben. Paderborn 1912. Krementz, Philipp: Israel Vorbild der Kirche. Versuch einer Beleuchtung der Geschichte der Christenheit durch die vorbildliche Geschichte Israels. Mainz 1865. Krönes, Franz Edmund: Homiletisches Real-Lexicon, oder: Alphabetisch geordnete Darstellung der geeignetsten Predigtstoffe aus der katholischen Glaubens- und Sittenlehre, Liturgie und anderen homiletischen Hilfswissenschaften, verbunden mit einer ausführlichen Uebersicht und Eintheilung des Inhalts aller sonn- und festtäglichen Episteln und Evangelien des katholischen Kirchenjahres. Zum Handgebrauche für Prediger und Religionslehrer bearbeitet und herausgegeben. Bd. 1. Regensburg 1856. Krönes, Franz Edmund: Homiletisches Real-Lexicon, oder: Alphabetisch geordnete Darstellung der geeignetsten Predigtstoffe aus der katholischen Glaubens- und Sittenlehre, Liturgie und anderen homiletischen Hilfswissenschaften, verbunden mit einer ausführlichen Uebersicht und Eintheilung des Inhalts aller sonn- und festtäglichen Episteln und Evangelien des katholischen Kirchenjahres. Zum Handgebrauche für Prediger und Religionslehrer bearbeitet und herausgegeben. Bd. 9. Regensburg 1860. Krönes, Franz Edmund: Homiletisches Real-Lexicon, oder: Alphabetisch geordnete Darstellung der geeignetsten Predigtstoffe aus der katholischen Glaubens- und Sittenlehre, Liturgie und anderen homiletischen Hilfswissenschaften, verbunden mit einer ausführlichen Uebersicht und Eintheilung des Inhalts aller sonn- und festtäglichen Episteln und

558  Quellen- und Literaturverzeichnis Evangelien des katholischen Kirchenjahres. Zum Handgebrauche für Prediger und Religionslehrer bearbeitet und herausgegeben. Bd. 10. Regensburg 1860. Krönes, Franz Edmund: Homiletisches Real-Lexicon, oder: Alphabetisch geordnete Darstellung der geeignetsten Predigtstoffe aus der katholischen Glaubens- und Sittenlehre, Liturgie und anderen homiletischen Hilfswissenschaften, verbunden mit einer ausführlichen Uebersicht und Eintheilung des Inhalts aller sonn- und festtäglichen Episteln und Evangelien des katholischen Kirchenjahres. Zum Handgebrauche für Prediger und Religionslehrer bearbeitet und herausgegeben. Bd. 12. Regensburg 1862. Krose, Hermann A.: Religion und Moralstatistik. München 1906. Kunze, Franz: Die Führung des katholischen Pfarramtes. Unter Berücksichtigung der neuesten Bestimmungen. Paderborn 1903. Lamennais, Hugue Felicité de: Worte eines Gläubigen. Hamburg 1834. Lecanu, Auguste F.: Geschichte des Satans. Sein Fall, seine Anhänger, seine Offenbarungen, seine Werke, sein Kampf gegen Gott und die Menschen. Zauberei, Besessenheit, Illuminismus, Magnetismus, Klopfgeister, Tischrücken, Spiriten. Geisterspuk in Kunst und Literatur, dämonische Verbindung. Regensburg 1863. Lehmkuhl, August: Arbeitsvertrag und Strike. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1895. Lehmkuhl, August: Das Bürgerliche Gesetzbuch des Deutschen Reiches nebst Einführungsgesetz. Unter Bezugnahme auf das natürliche und göttliche Recht, insbesondere für den Gebrauch des Seelsorgers und Beichtvaters. 4./5. Aufl. Freiburg im Breisgau 1900. Lehmkuhl, August: Die Handwerkerfrage und der staatliche Schutz. In: Stimmen aus Maria Laach 26 (1884) 113–125 und 524–542. Lehmkuhl, August: Der hl. Petrus Claver und die Linderung socialer Noth. In: Stimmen aus Maria Laach 34 (1888) 381–395. Lehmkuhl, August: Der Selbstmord und die Mißhandlung der Statistik. In: Stimmen aus Maria Laach 22 (1882) 345–365. Lehmkuhl, August: Die sociale Frage und die staatliche Gewalt. Freiburg im Breisgau 1893. Lehmkuhl, August: Die sociale Noth und der kirchliche Einfluß. Freiburg im Breisgau 1892. Lehmkuhl, August: Versicherung und Versicherungszwang. In: Stimmen aus Maria Laach 29 (1885) 465–477. Liberatore, Matteo. Grundsätze der Volkswirtschaft. Innsbruck 1891. Linsenmann, Franz Xaver: Lehrbuch der Moraltheologie. Freiburg im Breisgau 1878. Lipf, Joseph: Matrikel des Bisthums Regensburg. Regensburg 1838. Lomb, Konrad: Christkatholische Moral. Regensburg 1844. Lorinser, Franz: Geographie und Meteorologie in Beziehung zur Theodicee. Regensburg 1878. Lorinser, Franz: Die Lehre von der Verwaltung des heiligen Bußsacramentes. Ein Handbuch der praktischen Moral. 2. Aufl. Breslau 1883. Lorinser, Franz: Mineralogie und Chemie in Beziehung zur Theodicee. Regensburg 1880. Lorinser, Franz: Physik in Beziehung zur Theodicee. Regensburg 1880. Lorinser, Franz: Entwicklung und Fortschritt in der Kirchenlehre. Nach Henry Newman. Breslau 1847. Ludwig, August Friedrich: Die stigmatisierte Tertiarin Maria Beatrix Schuhmann aus Pfarrkirchen. In: Theologisch-praktische Monats-Schrift 25 (1915) 462–475. Martin, Conrad: Fastenpredigten. Hg. von Stamm, Christian. Paderborn 1886. Martin, Conrad: Fest- und Gelegenheitsreden. Hg. von Stamm, Christian. Paderborn 1883. Martin, Conrad: Festreden. Hg. von Stamm, Christian. Paderborn 1884. Martin, Conrad: Sonntägliche Predigten für die heilige Advent-, Epiphanie-, Fasten- und Osterzeit. Hg. von Stamm, Christian. Paderborn o. J. Martin, Conrad: Sonntägliche Predigten für die heilige Pfingstzeit. Hg. von Stamm, Christian. Paderborn 1882. Marx, Ferdinand: Pastoral-Medizin. Paderborn 1894.

Gedruckte Quellen  559 Matrikel des Bisthums Regensburg. Nach der allgemeinen Pfarr- und Kirchen-Beschreibung von 1860 mit Rücksicht auf die älteren Bisthums-Matrikeln zusammengestellt. Regensburg 1863. Matrikel der Diözese Regensburg. Regensburg 1916. Mattes, Wenzeslaus: Vorsehung, göttliche. In: Wetzer, Heinrich Joseph / Welte, Benedikt (Hg.): Kirchen-Lexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 11. Freiburg im Breisgau 1854, 754–760. Mattes, Wenzeslaus: Weissagung, Prophetie. In: Wetzer, Heinrich Joseph / Welte, Benedikt (Hg.): Kirchen-Lexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 11. Freiburg im Breisgau 1854, 837–841. Menzinger, Otto: Über die Urgeschichte des Menschen. In: Theologisch-praktische MonatsSchrift 25 (1915) 16–39, 72–83, 144–153 und 249–255. Meschler, Moritz: Erziehung und Heranbildung des Leibes. In: Stimmen aus Maria Laach 73 (1907) 530–545. Meyer, Theodor: Die Arbeiterfrage und die christlich-ethischen Socialprincipien. Freiburg im Breisgau 1891. Meyer, Theodor: Die Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts. Nach Maßgabe der im Syllabus § VII. verzeichneten Irrthümer beleuchtet. Freiburg im Breisgau 1868. Möhler, Johann Adam: Der Saint-Simonismus. In: Dr. J. A. Möhler’s, ernannten Domdecans zu Würzburg und Ritters des kgl. bayerischen St. Michael-Ordens, ehedem ord. Professors der Theologie zu München, gesammelte Schriften und Aufsätze. Bd. 2. Hg. von Döllinger, Ignaz. Regensburg 1840, 34–53. Moufang, Christoph: Einige Irrthümer bezüglich der sozialen und religiösen Frage, besprochen auf der XXV. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands zu Würzburg. Würzburg 1877. Müller, Adam: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 1. Bearb. von Baxa, Jakob. Wien 1922. Müller, Adam: Die Elemente der Staatskunst. Bd. 2. Bearb. von Baxa, Jakob. Wien 1922. Müller, Adam: Streit zwischen Glück und Industrie. In: Ders.: Ausgewählte Abhandlungen. Hg. von Baxa, Jakob. 2. Aufl. Jena 1931, 89–93. Müller, Adam: Von der Idee des Staates und vom Begriff des Staates. In: Ders.: Schriften zur Staatsphilosophie. Hg. von Kohler, Rudolf. München o. J., 1–21. Neher, Stephan Jakob: Kirchliche Geographie und Statistik von Italien, Spanien, Portugal und Frankreich. Regensburg 1864. Oberhauser, Josef: Das christliche Prinzip der Solidarität und die Genossenschaftsbewegung des Mittelstandes. Eine Untersuchung der sittlichen Grundlagen und Wirkungen der modernen mittelständischen Genossenschaften. Paderborn 1910. Oberhirtliche Verordnungen und allgemeine Erlasse für das Bisthum Regensburg, vom Jahre 1250–1852. Hg. von Lipf, Joseph. Regensburg 1853. Oberhirtliches Verordnungsblatt für das Bisthum Regensburg, enthaltend die oberhirtlichen Verordnungen und allgemeinen Erlasse vom April des Jahres 1852 bis zum Schlusse des Jahres 1858. Regensburg 1858. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1859. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1860. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1869. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1870. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1871. Regensburg o. J.

560  Quellen- und Literaturverzeichnis Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1872. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1875. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1883. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1885. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1886. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1890. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1891. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1893. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1894. Regensburg o. J. Oberhirtliches Verordnungs-Blatt für das Bisthum Regensburg. Jahrgang 1903. Regensburg o. J. Olfers, Ernst Werner Maria von: Pastoralmedizin. Die Naturwissenschaft auf dem Gebiete der katholischen Moral und Pastoral. Ein Handbuch für den katholischen Klerus. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1911. Oswald, Johannes Heinrich: Eschatologie, das ist die letzten Dinge, dargestellt nach der Lehre der katholischen Kirche. Paderborn 1868. Périn, Charles: Christliche Politik. Die Gesetze der christlichen Gesellschaften. Freiburg im Breisgau 1876. Pesch, Heinrich: Freiwirtschaft oder Wirtschaftsordnung. In: Stimmen aus Maria Laach 49 (1895) 341–359. Pesch, Heinrich: Kennzeichen des Volkswohlstandes. In: Stimmen aus Maria Laach 73 (1907) 24–42 und 179–200. Pesch, Heinrich: Liberalismus, Socialismus und christliche Gesellschaftsordnung. Freiburg im Breisgau 1893–1896. Pesch, Heinrich: Die Lohnfrage in der Praxis. In: Stimmen aus Maria Laach 53 (1897) 225–239. Pesch, Heinrich: Lohnvertrag und gerechter Lohn. In: Stimmen aus Maria Laach 52 (1897) 22–30, 128–143, 253–267, 373–389 und 491–507. Pesch, Heinrich: Die neuzeitliche Entwicklung im Handwerk. In: Stimmen aus Maria Laach 67 (1904) 486–504. Pesch, Heinrich: Religion und Volkswohlstand. In: Stimmen aus Maria Laach 47 (1894) 249–263. Pesch, Heinrich: Die sozialen Klassen. In: Stimmen aus Maria Laach 74 (1908) 394–406 und 519–531. Pesch, Heinrich: Ziele und Grenzen der staatlichen Wirtschaftspolitik. In: Stimmen aus Maria Laach 50 (1896) 1–10 und 180–190. Pesch, Tilman: Gehirn und Seele. In: Stimmen aus Maria Laach 6 (1874) 297–311. Pesch, Tilman: Die Großen Welträtsel. Philosophie der Natur. Bd. 1: Philosophische Naturerklärung. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1907. Pesch, Tilman: Die Großen Welträtsel. Philosophie der Natur. Bd. 2: Naturphilosophische Weltauffassung. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1907. Pesch, Tilman: Die Thätigkeit des menschlichen Gehirns. In: Stimmen aus Maria Laach 6 (1874) 447–462 und 511–529.

Gedruckte Quellen  561 Peter Reichensperger 1810–1892. Hg. von Hehl, Ulrich von. Paderborn 2000. Pfeifer, Franz Xaver: Frage: Verlangen jene Geistlichen und Laien, welche zu gewissen Zeiten um Regen oder Sonnenschein beten, im Grunde genommen von Gott ein Wunder und thun sie dies aus Unwissenheit? In: Theologisch-praktische Monats-Schrift 10 (1900) 297–309 und 386–394. Pfeifer, Franz Xaver: Der Goldene Schnitt und dessen Erscheinungsformen in Mathematik, Natur und Kunst. Augsburg [1885]. Pieper, August: Jugendfürsorge und Jugendvereine. Mönchengladbach 1908. Pilgram, Friedrich: Sociale Fragen betrachtet aus dem Prinzip kirchlicher Gemeinschaft. Freiburg im Breisgau 1855. Plaßmann, Hermann E.: Die Logik gemäß der Schule des h. Thomas. Soest 1860. Plaßmann, Hermann E.: Die Moral gemäß der Schule des h. Thomas. Soest 1861. Plaßmann, Hermann E.: Die Schule des h. Thomas von Aquino. Zur genaueren Kenntnißnahme und weiteren Fortführung für Deutschland neu eröffnet. Paderborn 1859. Plaßmann, Hermann E.: Vorhallen zur Philosophie gemäß der Schule des h. Thomas. Soest 1860. Pohle, Josef: Die christliche Lehre vom Weltuntergang und die moderne Astronomie. In: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst 1 (1903/1904) 303–315. Pohle, Josef: Die Sternenwelten und ihre Bewohner. Zugleich als erste Einführung in die moderne Astronomie. 5. Aufl. Köln 1906. Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung. Bd. 1: 1815 bis 1870. Hg. von Bergsträßer, Ludwig. München 1921. Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung. Bd. 2: 1871 bis 1914. Hg. von Bergsträßer, Ludwig. München 1923. Probst, Ferdinand: Katholische Moraltheologie. Bd. 1. Tübingen 1848. Probst, Ferdinand: Katholische Moraltheologie. Bd. 2. Tübingen 1850. Pruner, Johann Evangelist: Lehrbuch der katholischen Moraltheologie. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1883. Pruner, Johann Evangelist: Lehrbuch der Pastoraltheologie. Bd. 1: Das Priesteramt. Darbringung des hl. Meßopfers und Spendung und Empfang der von Gott angeordneten Gnadenmittel. Paderborn 1900. Pruner, Johann Evangelist: Lehrbuch der Pastoraltheologie. Bd. 2: Das Lehramt und das Hirtenamt des katholischen Priestertums. Paderborn 1901. Pruner, Johann Evangelist: Lehre vom Rechte und von der Gerechtigkeit. Moraltheologische Abhandlung mit genauer Berücksichtigung des kirchlichen und bürgerlichen Rechtes. Bd. 1: Constitutive Gerechtigkeit, oder Inhalt, Erwerbung und Übertragung der Rechte, nach den Grundsätzen der Moraltheologie mit vergleichender Darstellung des gemeinen Rechtes, des bayerischen, preußischen und würtembergischen Landrechtes, des französischen und österreichischen Gesetzes und der vorzüglichsten im Königreiche Bayern geltenden Provinzial- und Statutarrechte. Regensburg 1857. Pruner, Johann Evangelist: Lehre vom Rechte und von der Gerechtigkeit. Moraltheologische Abhandlung mit genauer Berücksichtigung des kirchlichen und bürgerlichen Rechtes. Bd. 2: Restitutive Gerechtigkeit, und die Gebote der Gerechtigkeit, nach den Grundsätzen der Moraltheologie, mit Bezugnahme auf das kirchliche und Vergleichung mit dem weltlichen Rechte. Regensburg 1858. Pruner, Johann Evangelist: Wirksamkeit der gefallenen Engel auf Erden. In: Theologischpraktische Monats-Schrift 3 (1893) 81–91 und 161–171. Radziwill, Edmund von: Die kirchliche Autorität und das moderne Bewußtsein. Breslau 1872. Ratzinger, Georg: Zur sozialen Frage. In: Chilianeum 1 (1869) 377–392. Ratzinger, Georg: Die Volkswirthschaft in ihren sittlichen Grundlagen. Ethisch-sociale Studien über Cultur und Civilisation. Freiburg im Breisgau 1881.

562  Quellen- und Literaturverzeichnis Ratzinger, Georg: Die Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1895. Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1508. Hg. von Mai, Paul / Popp, Marianne. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 18 (1984) 7–316. Das Regensburger Visitationsprotokoll von 1526. Hg. von Mai, Paul. In: Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 21 (1987) 23–314. Reichensperger, Peter: Die Agrarfrage aus dem Gesichtspunkte der Nationalökonomie, der Politik und des Rechts und in besonderem Hinblicke auf Preußen und die Rheinprovinz. Trier 1847. Reischl, Wilhelm Karl: Arbeiterfrage und Socialismus. Vorlesungen, gehalten im SommerSemester 1871. 2. Aufl. Stuttgart 1892. Renninger, Johann Baptist: Die Grundlage christlicher Politik. Würzburg 1879. Renninger, Johann Baptist: Unveränderlichkeit und Fortschritt in der Kirche. In: Chilianeum 1 (1869) 32–44 und 106–112. Ried, Thomas: Geographische Matrikel des Bißthums Regensburg nach alphabetischer Ordnung der Pfarreyen. Regensburg 1813. Rietter, Anton: Breviarium der Christlichen Ethik. München 1865/1866. Rietter, Anton: Die Moral des heiligen Thomas von Aquin. München 1858. Ruf, Sebastian: Die Criminaljustiz. Ihre Widersprüche und die Zukunft der Strafrechtspflege. Criminal-psychologische Studien. Innsbruck 1870. Rundschreiben erlassen von Unserem Heiligsten Vater Leo XIII., durch göttliche Vorsehung Papst, an alle Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen. Bd. 2. Freiburg im Breisgau 1887. Rundschreiben erlassen von Unserem Heiligsten Vater Leo XIII., durch göttliche Vorsehung Papst, an alle Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen. Bd. 3. Freiburg im Breisgau 1893. Sämmtliche Rundschreiben erlassen von Unserem Heiligsten Vater Leo XIII., durch göttliche Vorsehung Papst, an alle Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt, welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen. Bd. 1. Freiburg im Breisgau 1881. Sailer, Johann Michael: Früchte der echten Pastoraltheologie oder kurzgefaßte Lebens­ geschichten echtgebildeter Priester. 2. Aufl. Sulzbach 1839. Sailer, Johann Michael: Glückseligkeitslehre aus Gründen der Vernunft, mit steter Hinsicht auf die Urkunden des Christenthums, oder christliche Moralphilosophie. Bd. 1. 3. Aufl. Sulzbach 1830. Sailer, Johann Michael: Grundlehren der Religion. Ein Leitfaden zu Vorlesungen aus der Religionslehre für akademische Jünglinge aus allen Fakultäten. 3. Aufl. Sulzbach 1832. Sailer, Johann Michael: Handbuch der christlichen Moral zunächst für künftige katholische Seelensorger und dann für jeden gebildeten Christen. Bd. 1. 2. Aufl. Sulzbach 1834. Sailer, Johann Michael: Handbuch der christlichen Moral zunächst für künftige katholische Seelensorger und dann für jeden gebildeten Christen. Bd. 2. 2. Aufl. Sulzbach 1834. Sailer, Johann Michael: Handbuch der christlichen Moral zunächst für künftige katholische Seelensorger und dann für jeden gebildeten Christen. Bd. 3. 2. Aufl. Sulzbach 1834. Sailer, Johann Michael: Über Erziehung für Erzieher oder Pädagogik. Bd. 2. 2. Aufl. Sulzbach 1831. Sailer, Johann Michael: Vorlesungen aus der Pastoraltheologie. Bd. 2. 5.  Aufl. Sulzbach 1835. Schanderl, Adolf: Leichenschauscheine und Statistik. In: Theologisch-praktische MonatsSchrift 10 (1900) 564–566.

Gedruckte Quellen  563 Scheeben, Matthias Joseph: Musikalische Harmonielehre in ihrer Bedeutung für die vorchristliche Philosophie. In: Literarische Rundschau 4 (1878) 240–249 und 267–274. Scheicher, Joseph: Auf welche Weise ist im Geiste des Christenthumes auf Linderung der Armuth hinzuwirken? Wie ist der Kirche auf diesem Gebiete die ihr zukommende Stellung zu wahren? Wie ist der Mißbrauch der Wohlthätigkeit zu Parteizwecken zu verhüten? In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1888, 99–114. Scheicher, Joseph: Der Klerus und die soziale Frage. Moral-soziologische Studie. Innsbruck 1884. Scheimpflug, Karl: Das Recht der Arbeit. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1889, 1–30. Scheimpflug, Karl: Thesen zum Arbeitsrecht. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1889, 43–50. Der Schild des Glaubens wider alle zeitliche Uebel; oder gründlicher Unterricht, wie jeder Christ sich selbst in Krankheiten, Versuchungen und Unglücksfällen helfen, sie von sich abtreiben, und dagegen sich verwahren kann. Allen Geplagten zum Trost und zur Hilfe herausgegeben durch einen Priester der Erzdiözese Freiburg. Regensburg 1846. Schlegel, Friedrich: Die Signatur des Zeitalters (1820–1823). In: Ders.: Studien zur Geschichte und Politik. Hg. von Behler, Ernst. München 1966, 483–596. Schleyer, Johann Martin: Populär-katechetische Grammatik der Weltsprache Volapük samt Schlüssel zu derselben. 2. Aufl. Konstanz 1890. Schmid, Aloys: Untersuchungen über den letzten Gewißheitsgrund des Offenbarungsglaubens. München 1879. Schmidt, Wilhelm: Die Stellung der Pygmäenvölker in der Entwicklungsgeschichte des Menschen. Stuttgart 1910. Schneid, Johann Nepomuk: Die arme Hirtenfamilie. Eine lehrreiche Geschichte allen Eltern, Kindern und Dienstbothen erzählt. Landshut 1832. Schneid, Mathias: Die Philosophie des hl. Thomas v. Aquin und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Zugleich eine Rechtfertigung der Encyclika »Aeterni Patris«. Würzburg 1881. Schneid, Mathias: Spezielle Metaphysik im Geiste des heil. Thomas von Aquin. Bd. 2: Psychologie im Geiste des hl. Thomas von Aquin. Teilbd. 1: Leben der Seele. Paderborn 1892. Schneider, Wilhelm: Das andere Leben. Ernst und Trost der christlichen Welt- und Lebensanschauung. Paderborn 1896. Schneider, Wilhelm: Göttliche Weltordnung und religionslose Sittlichkeit. Zeitgemäße Erörterungen. 2. Aufl. Paderborn 1909. Schneider, Wilhelm: Die Naturvölker. Mißverständnisse, Mißdeutungen und Mißhandlungen. Bd. 1. Paderborn 1885. Schneider, Wilhelm: Die Naturvölker. Mißverständnisse, Mißdeutungen und Mißhandlungen. Bd. 2. Paderborn 1886. Schneider, Wilhelm: Der neuere Geisterglaube. Thatsachen, Täuschungen und Theorien. Paderborn 1882. Schön, Bruno: Briefe über Geistesgestörte für Seelsorger, Ärzte, Richter, Eltern, Lehrer, Künstler und alle Freunde der Menschenkunde, nebst einem Anhange als Schlüssel zum Verständnisse der Schriften von Dr. Joh. Em. Veith. 2. Aufl. Wien 1873. Schuech, Ignaz: Handbuch der Pastoral-Theologie. Hg. von Gimmich, Virgil. 10. Aufl. Innsbruck 1896. Seitz, Anton: Natürliche Religionsbegründung. Eine grundlegende Apologetik. Regensburg 1914. Seitz, Anton: Willensfreiheit und moderner psychologischer Determinismus. Psychologische Studie. Köln [1902]. Silbert, Johann Peter: Conversations-Lexicon des geistlichen Lebens. Bd. 1. Regensburg 1839. Silbert, Johann Peter: Conversations-Lexicon des geistlichen Lebens. Bd. 2. Regensburg 1839.

564  Quellen- und Literaturverzeichnis Simar, Theophil: Der Aberglaube. Köln 1877. Simar, Theophil: Lehrbuch der Moraltheologie. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1893. Sœur Jeanne. Memoiren einer Besessenen. Hg. von Farin, Michael. Nördlingen 1989. Die Stigmatisirten des 19. Jahrhunderts: Anna Katharina Emmerich, Maria von Mörl, Domenica Lazzari, Juliana Weiskircher, Josepha Kümi, Bertina Bouquillon, Bernarda vom Kreuze, Maria Rosa Andriani, Maria Cherubina Clara vom heiligen Franziskus, Louise Lateau, Helena vom Bolawatta, Margaretha Bays und Esperanza von Jesu. Nach authentischen Quellen herausgegeben von einem Curatpriester. Regensburg 1877. Stöckl, Albert: Das Christenthum und die großen Fragen der Gegenwart auf dem Gebiete des geistigen, sittlichen und socialen Lebens. Apologetisch philosophische und socialpolitische Studien. Bd. 1. Mainz 1879. Stöckl, Albert: Das Christenthum und die großen Fragen der Gegenwart auf dem Gebiete des geistigen, sittlichen und socialen Lebens. Apologetisch philosophische und socialpolitische Studien. Bd. 2. Mainz 1880. Stöckl, Albert: Das Christenthum und die großen Fragen der Gegenwart auf dem Gebiete des geistigen, sittlichen und socialen Lebens. Apologetisch philosophische und socialpolitische Studien. Bd. 3. Mainz 1880. Stöckl, Albert: Das Christenthum und die modernen Irrthümer. Apologetisch-philosophische Meditationen. Mainz 1886. Stöckl, Albert: Lehrbuch der Philosophie. Erste Abteilung: Einleitung in die Philosophie, empirische Psychologie, Logik und Erkenntnislehre. 2. Aufl. Mainz 1869. Stöckl, Albert: Lehrbuch der Philosophie. Zweite Abtheilung: Metaphysik, Ethik, Social- und Rechtsphilosophie. 2. Aufl. Mainz 1869. Stöckl, Albert: Das Opfer nach seinem Wesen und nach seiner Geschichte. Mainz 1861. Stöhr, August: Handbuch der Pastoralmedicin mit besonderer Berücksichtigung der Hygiene. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau 1887. Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu: Leben des heiligen Vincentius von Paulus nebst dessen Ordensregeln, und ein aus dem Italienischen übersetztes Gespräch der heiligen Katharina von Siena. 2. Aufl. Wien 1819. Stolz, Alban: Kohlschwarz mit einem rothen Faden. Kalender für Zeit und Ewigkeit 1873. 4. Aufl. Freiburg im Breisgau 1886. Taparelli, Luigi: Versuch eines auf Erfahrung begründeten Naturrechts. Bd. 1. Regensburg 1845. Texte zur katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der Päpste und andere kirchliche Dokumente. 9. Aufl. Köln 2007. Verhandlungen der fünfzehnten Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands zu Frankfurt am Main am 21., 22., 23. und 24. September 1863. Amtlicher Bericht. Frankfurt am Main 1863. Verhandlungen der zwanzigsten General-Versammlung der katholischen Vereine Deutschlands in Düsseldorf am 6., 7., 8. und 9. September 1869. Amtlicher Bericht. Düsseldorf 1869. Verhandlungen der XXXI. General-Versammlung der Katholiken Deutschlands zu Amberg vom 31. August bis 4. September 1884. Nach stenographischer Aufzeichnung herausgegeben vom Lokal-Komité. Amberg 1884. Verhandlungen der Versammlung katholischer Gelehrten in München vom 28. September bis 1. Oktober 1863. Regensburg 1863. Vering, Friedrich H.: Die Verhandlungen der deutschen Erzbischöfe und Bischöfe zu Würzburg im October und November 1848. In: Archiv für katholisches Kirchenrecht 21 (1869) 108–169, 207–290 und 22 (1869) 214–303, 373–474. Vogelsang, Carl von: Der Capitalismus. In: Jahrbuch der Freien Vereinigung kathol. Socialpolitiker. Frankfurt am Main 1888, 49–61. Vogelsang, Carl von: Gesammelte Aufsätze über socialpolitische und verwandte Themen. Bd. 1. Augsburg 1885.

Gedruckte Quellen  565 Waller, Ignaz: Die Offenbarung des hl. Johannes im Lichte der hl. Geschichtstypik, der alttestamentlichen Prophetie und ihres eigenen Zusammenhanges nebst einem Anhange über die Theologie des hl. Buches. Rixheim 1882. Walter, Franz: Aberglaube und Seelsorge mit besonderer Berücksichtigung des Hypnotismus und Spiritismus. 2. Aufl. Paderborn 1911. Walter, Franz: Das Eigenthum nach der Lehre des hl. Thomas von Aquin und des Socialismus. Freiburg im Breisgau 1895. Walter, Franz: Kapitalismus, Sozialismus und Christentum. München 1906. Walter, Franz: Der Leib und sein Recht im Christentum. Eine Untersuchung des Verhältnisses moderner Körperkultur zur christlichen Ethik und Askese. Donauwörth 1910. Walter, Franz: Socialpolitik und Moral. Eine Darstellung ihres Verhältnisses mit besonderer Bezugnahme auf die von Prof. Werner Sombart neuestens geforderte Unabhängigkeit der Socialpolitik von der Moral. Freiburg im Breisgau 1899. Walter, Franz: Theorie und Praxis in der Moral. Paderborn 1905. Wasmann, Erich: Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1904. Weber, Sebastian: Zwangsgedanken und Zwangszustände in pastoral-psychiatrischer Beurteilung. Paderborn 1903. Weiß, Albert Maria: Die Gesetze für Berechnung von Kapitalzins und Arbeitslohn. Erste Beilage zur Apologie des Christenthums. Freiburg im Breisgau 1883. Weiß, Albert Maria: Lebensweg und Lebenswerk. Ein modernes Prophetenleben. Freiburg im Breisgau 1925. Weiß, Albert Maria: Sociale Frage und Sociale Ordnung oder Institutionen der Gesellschaftslehre. 2. Aufl. Freiburg im Breisgau 1892. Werneke, Bernhard: Die Statistik freiwilliger Handlungen und die menschliche Willensfreiheit. Frankfurt am Main 1868. Werner, Karl: System der christlichen Ethik. Bd. 1: Einleitung und Güterlehre. 2. Aufl. Regensburg 1888. Westermayer, Anton: Bauernpredigten, die auch manche Stadtleute brauchen können, auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres, zugleich ein Hauptbuch für’s katholische Landvolk. [Erster Jahrgang] Bd. 1. Regensburg 1847. Westermayer, Anton: Bauernpredigten, die auch manche Stadtleute brauchen können, auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres, zugleich ein Hauptbuch für’s katholische Landvolk. Zweiter Jahrgang Bd. 1. Regensburg 1848. Westermayer, Anton: Bauernpredigten, die auch manche Stadtleute brauchen können, auf alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres, zugleich ein Hauptbuch für’s katholische Landvolk. Zweiter Jahrgang Bd. 2. Regensburg 1848. Windischmann, Friedrich: Der Fortschritt der Sprachenkunde und ihre gegenwärtige Aufgabe. Festrede zur Feier des Ludwigstages, gelesen in der öffentlichen Sitzung der k. Akademie der Wissenschaften in München am 24. August 1844. München 1844. Windischmann, Karl Joseph: Das Gericht des Herrn über Europa. Blicke in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Frankfurt am Main 1814. Wörter, Friedrich: Zufall. In: Wetzer, Heinrich Joseph / Welte, Benedikt (Hg.): Kirchen-Lexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Bd. 11. Freiburg im Breisgau 1854, 1299 f. Zahn, Joseph: Einführung in die christliche Mystik. Paderborn 1908. Zahn, Joseph: Das Jenseits. 2. Aufl. Paderborn 1920.

566  Quellen- und Literaturverzeichnis

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Personenregister

Abraham  345, 509 Adam  102, 298, 345 Ágreda, María de Jesús de  336 Almond, Gabriel  46 Altermatt, Urs  16, 18, 24, 31, 33, 93, 230, 297, 486 Amann, Karl  119 Amberger, Joseph  504, 525 Amort, Eusebius  336 Anderson, Margaret Lavinia  21, 438 Antiochus Epiphanes  345 Aretin, Karl Maria von  119 Aristoteles  152, 180, 182, 186, 201, 369, 395, 423, 511 Arnold, Claus  21 Aschmann, Birgit  12 Assmann, Aleida  101 Augustinus von Hippo, hl.  13 f., 94, 99, 452 Baader, Franz Xaver (von)  104 f., 111, 113, 115, 119, 124–126, 135–137, 150, 157, 240, 330, 525 Bacher, Ammonius  525 Bandorf, Georg  79, 509 f., 525 Baudri, Johann Anton Friedrich  236 Bauer, Clemens  223 Baumgartner, Konrad  109 Bautz, Joseph  70 f., 82, 162 f., 202, 525 Beck, Louise  194, 339, 546 Beck, Ulrich  59, 262, 402, 516 Becker, Ernst Wolfgang  317, 452 Becker, Winfried  24 Behringer, Wolfgang  373 Bellamy, Edward  306 Benger, Michael  74, 92, 526 Benz, Ernst  452 Berger, Peter L.  49, 99 Berlepsch, Hans Hermann von  266 Besier, Gerhard  19 Beßmer, Julius  361, 395, 526

Biederlack, Joseph  218, 226, 236, 244, 265, 269, 308, 407, 526 Biggel, Joseph Anton  71, 526 Bismarck, Otto von  276, 343 Blackbourn, David  15, 481 Blaschke, Olaf  21, 23 f., 32 f., 295 Blome, Gustav Graf von  280, 313 f., 526 Blumenberg, Hans  181, 378 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  169, 412 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de  131, 528 Bonß, Wolfgang  58 f. Boos, Martin  130 Bossuet, Jacques Bénigne  75, 374 Bourdieu, Pierre  46, 49, 141 f., 402 Brakensiek, Stefan  478 Brammer(t)z, Wilhelm  443, 526 Braun, Karl  206, 372, 383, 505, 512, 526 Brenner, Friedrich  113 Brentano, Christian  118 Brentano, Clemens  90, 110, 118, 284, 397, 526 Britzger, Franz Xaver  526 Bruder, Adolf  222, 367, 405, 521, 527 Buchfelner, Simon  284, 527 Bucholtz, Franz Bernhard von  118 Bunsen, Robert Wilhelm  511 Burke, Edmund  126 Busch, Norbert  164, 209, 231, 285, 460 Buß, Franz Joseph (von)  94, 145, 148, 187, 230, 232 f., 240–242, 245–247, 267, 270, 301, 309, 318, 321, 399, 443, 455, 527 f. Calmet, Augustin  82, 527 Capellmann, Carl  527 Caramuel y Lobkowitz, Juan  170 Carl, Horst  91 Casper, Bernhard  156 Cathrein, Viktor  155, 170, 176, 180 f., 204, 208 f., 211–213, 244, 254, 257 f., 363, 370, 375, 396, 402, 491, 527 Cervantes, Miguel de  239

Personenregister  611 Charlotte Augusta von Wales  285 Clark, Christopher  295 Clemens, Franz Jakob  155 Conze, Eckart  55, 408 Conze, Werner  409 Conzemius, Victor  14, 18, 157 Cornelius, Peter von  119 Cortés, Juan Donoso  94, 232–234, 309, 455, 527 Costa-Rossetti, Julius  158, 180, 226, 229, 257, 262, 375, 424, 506, 528 Darwin, Charles  369, 372, 492, 498, 507, 548 Decius, Ks. von Rom  498 Deharbe, Joseph  107 DeMaistre, Joseph Marie Comte de Maistre, gen.  131, 234, 283, 374, 528 Demmer, Klaus  168 Denifle, Heinrich  91, 144, 329, 470, 528 Descartes, René  157, 206 Deufel, Konrad  231 Deutinger, Martin  76, 322, 335, 340, 528 Dewey, John  160, 205 f. Diepenbrock, Melchior (von)  119 Diessel, Ger(h)ard  198, 528 Dietrich, Johann Georg  426 Dietz, Hermann Joseph  118 Dilcher, Gerhard  210 Dillinger, Karl a Sancto Aloysio  321, 443, 469 f., 529 Dippel, Joseph  217, 228, 243, 264 f., 402, 404, 529 Dirsch, Felix  224 Dittmer, Lowell  46 Döllinger, Ignaz (von)  119, 147, 324, 528, 543, 549 Douglas, Mary  58, 88 Drey, Johann Sebastian (von)  108, 138, 158, 529, 540 Droste von Hülshoff, Clemens August  162 Droste zu Vischering, Clemens August ​ 128, 195, 199, 483, 529 Dupanloup, Felix Antoine Philibert  337, 529 Durkheim, Émile  39, 123, 189, 365 Dux, Günter  39 f. Eberl, Friedrich  140, 144, 200, 245, 263, 529 Ebertz, Michael N.  13, 26, 76, 168, 194, 196, 339, 436 f.

Eckmüller, Martin  417, 529 Edelman, Murray D.  290 Ehrhard, Albert  14, 239, 498–501, 512, 530 Eichendorff, Joseph von  90 Eisenstadt, Shmuel N.  29–31 Eliade, Mircea  38 Elias, Norbert  76, 160, 178, 232 Elkins, David J.  46 Emmerick, Anna Katharina  284, 526 Epping, Joseph  510, 530 Erlemann, Hildegard  286, 480, 483 Ernesti, Jörg  303 Ernst, Cécile  89 Eva 102 Evers, Adalbert  56, 225, 262, 277, 285 Ewald, François  59, 125, 218, 274, 278, 384, 393 Familler, Ignaz  359, 366, 530 Fantappiè, Carlo  183 Faulhaber, Michael (von)  285, 466, 512, 530 Febvre, Lucien  55 Feneberg, Johann Michael  130, 480 Feuerbach, Ludwig  151 Fey, Clara  118, 199 Fichte, Johann Gottlieb  157 Fischer, Michael  295 Fleckenstein, Gisela  19 Fleuriau, Gabriel  466, 530 Florentini, Theodosius  190, 263 Foerstl, Johann Nepomuk  282, 315, 530 Forster, Gedeon  473 f. Foucault, Michel  47, 53 f., 59, 83, 180, 211, 230, 290, 364, 369, 392 f., 418, 420, 432, 440, 449, 483 François, Etienne  198 Franz, Adolph  270 Franz Xaver, hl.  287 Franziskus von Assisi, hl.  286 Freytag, Nils  15 Freud, Sigmund  40 Friedhoff, Franz  109, 113, 144, 530 Friedrich, Martin  128, 293 Friedrich Wilhelm IV., Kg. von Preußen ​ 336 Frohschammer, Jakob  155 Fromm, Erich  77, 286, 393 Fuchs, Bernhard  99, 102, 120, 185, 210, 530 Fuchs, Martin  531 Fukuyama, Francis  22 Funk, Franz Xaver (von)  180, 531

612 Personenregister Gabriel, Karl  15, 17, 25 f., 156, 165, 184, 438, 463 Galassi, Silviana  211 Galen, Ferdinand Heribert von  270 Gall, Lothar  408 Gallitzin, Amalie von  118, 199 Galura, Bernhard  113 Garling, Stephanie  61 Gassert, Heinrich  500 f., 506, 531 Gatz, Erwin  118 Gaume, Jean-Joseph  79, 144, 299, 320, 334, 342, 344, 454, 480 f., 483, 531 Gay, Peter  100 Geertz, Clifford  39, 41–44, 54, 151 Geissel, Johannes (von)  320, 325, 461 Gérando, Joseph Marie  233, 242 Gerber, Stefan  513 Gerlach, Ernst Ludwig von  174 Giddens, Anthony  123, 183 f., 286, 377 Girard, René  39, 142, 283 Gloßner, Michael  155 Göpfert, Franz Adam  200, 202, 368, 531 Görres, Guido  118 Görres, Joseph (von)  77 f., 84–87, 94, 104 f., 116–119, 124, 137, 195, 284, 300, 317, 319, 324, 330, 341 f., 371, 374, 419, 421, 431, 525, 531, 535, 539 Götz von Olenhusen, Irmtraud  20 f. Götze, Karl Heinz  330 Goßner, Johann  130 Graf, Friedrich Wilhelm  27 Grane, Leif  168, 177 Gregor I. der Große, hl., Papst  161, 323 Gregor XVI., Papst  177 Gripentrog, Stephanie  304 Groethuysen, Bernhard  13 f., 168, 209, 378, 396, 412 Groh, Andreas  101 Große Kracht, Hermann-Josef  28, 196, 215 f. Grupp, Georg  237, 307, 314, 352, 376, 380 f., 531 Günther, Anton  157 Gutberlet, Constantin  85, 94, 155, 210, 371–377, 385, 390, 445–448, 490, 509, 532 Habermas, Rebecca  443 Hacking, Ian  384 Häglsperger, Franz Seraph  75 f., 81, 87, 90, 114, 120, 146, 283, 339, 357, 454, 456 f., 532

Härter, Karl  178 Haffner, Paul Leopold  91, 155, 322, 351, 462, 532, 540 Haller, Carl Ludwig von  90, 94, 96, 103, 105, 192, 213, 331, 532 Hammerschmid, Anton  507 f., 532 Hammerstein, Gerhard  230 Handwercher, Franz Sales  67, 332 f., 525, 532 Haneberg, Daniel (von)  324 Hanisch, Ernst  407 Hansen, Johann Anton Joseph  96, 332, 336, 353, 533 Hansjakob, Heinrich  287, 533 Haring, Johann Baptist  229, 533 Hartmann, Franz Xaver  20 Hayward, Rhodri  355 Heckenstaller, Joseph Jakob von  474 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  102, 157, 214, 457 Heggelin, Ignaz Valentin  109, 120 Heinrich, Johann Baptist  155, 217, 226 Helena von Brügge  336 Hellemans, Staf  450 Heller, Andreas  230, 295 Hense, Friedrich  82, 96, 210, 533 Hensel, Luise  118, 199 Herder, Johann Gottfried  488 Hergenröther, Joseph  210 Hermann von Lehnin  336 Hermes, Georg  163, 549 Herodes d. Große  342 Hertling, Georg von  112, 175, 186, 193, 202, 207, 218, 229, 269 f., 273–276, 278, 281 f., 303, 306 f., 314, 316, 350, 388, 405, 450, 521, 533 Heyde, Ludwig  215 Heyne, Bernard  354, 533 Hirscher, Johann Baptist (von)  88, 99, 102, 112–114, 123 f., 132, 138, 157 f., 164, 198, 299, 398, 458, 526, 534, 539 f., 547 Hitze, Franz  228, 248–253, 266, 278–282, 298, 303, 309, 314, 326, 344, 388 f., 396, 402, 412, 418, 467, 534, 542 Hölscher, Lucian  50, 138, 328, 349 Hofbauer, Klemens Maria, hl.  118, 121 f., 172 Hohoff, Wilhelm  221, 534 Hollerbach, Alexander  167, 178, 189 Holzem, Andreas  27 f., 36, 43 f., 75, 81, 88, 153, 195, 200, 286, 288, 296

Personenregister  613 Holzhauser, Bartholomäus  336 Horst, Ulrich  177 Huber, August  201, 360–365, 389, 417, 534 Huber, Eva  61–69 Hübinger, Gangolf  30, 486 Hürten, Heinz  19, 176 Huf, Stefan  277 Hume, David  39, 371 Hummelauer, Franz von  506, 534 Ignatius von Loyola, hl.  287 Jacobi, Friedrich Heinrich  157 Jäger, Eugen  390, 534 Jarcke, Carl Ernst  118, 201, 535 Jedin, Hubert  21, 409 Jeiler, Ignatius  85, 98, 304 Jhering, Rudolf von  172 Jocham, Magnus  121, 287, 338, 535 Joerg, Joseph Edmund  139, 178, 228, 243, 247, 270, 302 f., 399 f., 482, 535 Johannes Evangelist, hl.  114, 345, 509 Judas Ischariot  342 Jung, Carl Gustav  259 Kain 507 Kaiphas 289 Kampmann, Christoph  55 Kannamüller, Ludwig  535 Kant, Immanuel  178, 202, 214 Kantorowicz, Ernst  183 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm  122 Katz, Heiner  176 Kaufmann, Franz Sales  418, 535 Kaufmann, Franz Xaver  23, 25, 29, 38, 41, 55–57, 140, 165, 168, 196, 230, 307 f., 395, 442 Kaufmann, Thomas  48 Keel, Leo  460, 535 Keppler, Paul Wilhelm (von)  70, 535 Ketteler, Wilhelm Emanuel von  107 f., 129, 187, 217, 222–224, 238, 243, 245, 263, 288, 292 f., 302 f., 343, 358, 364, 374, 433, 439, 482, 536, 540, 542, 547 Kirchhoff, Gustav Robert  511 Kittsteiner, Heinz-Dieter  257 Klee, Heinrich  120, 207, 295, 536 Kleinschrod, Carl von  119 Kleutgen, Joseph  155, 231, 338, 340, 350, 536 Klinkowström, Friedrich von  118

Klose, Martin  189 Klotz, Philipp  109 Klug, Matthias  231, 326, 328, 339 Knebel, Sven K.  384 Knoll, August M.  169, 208, 229, 295, 395, 403, 414 Koch, Heinrich  188, 266, 270, 421, 444, 536 Koch-Sternfeld, Joseph Ernst von  119 Kocka, Jürgen  12, 29 Köck, Matthias  428 Kolping, Adolph  102, 106, 196–198, 235, 416, 536 Kon, Igor S.  123 Kornmann, Rupert  336, Korum, Michael Felix  95, 537 Koselleck, Reinhart  57, 187, 208, 328, 349, 374, 401, 451 f., 466 Kraepelin, Emil  211 Krafft-Ebing, Richard von  204 Kraus, Franz Xaver  193 Krauß, Franz Adam Karl  204, 211, 363, 489, 537 Krementz, Philipp  343, 537 Krönes, Franz Edmund  53, 111, 537 Krose, Hermann A.  444 f., 537 Kuefstein, Franz Graf von  158 Kunze, Franz  537 Kuropka, Joachim  36 Lamarck, Jean-Baptiste de  369 Lamennais, Hugue Felicité Robert de  111, 115, 157, 234, 331, 537 Landwehr, Achim  46, 49 Lang, Peter Thaddäus  474 Langhorst, Peter  189, 223 f., 281 Langner, Albrecht  179, 189 Langwerth von Simmern, Gottfried  473 Laplace, Pierre-Simon de  384 f. Lassalle, Ferdinand  134, 263 f., 302, 306 Lau, Christoph  41, 59 f. Laurent, Johann Theodor  188 Lausberg, Peter Joseph  108 Lavater, Johann Kaspar  121 Lecanu, Auguste François  82, 85, 92, 94–96, 354, 538 Lederer, David  89 Lehmann, Hartmut  44 Lehmkuhl, August  175, 181, 209, 219, 254, 258, 269, 272, 277, 403, 406, 433 f., 446, 463, 538 Lehner, Markus  217

614 Personenregister Leibniz, Gottfried Wilhelm  161, 171, 232 Leitgöb, Martin  231, 239 Lennig, Franz Adam  198 Leo XIII., Papst  53, 155, 158, 167, 187, 199, 216, 257, 259, 291 f., 296, 298, 303 f., 480, 499, 502, 505, 538, 547 Leonrod, Franz Leopold von  231 Lepenies, Wolf  498 Lepsius, M. Rainer  31 f., 36, 156, 292 Leugers-Scherzberg, August-Hermann  25 Liberatore, Matteo  128, 158, 220, 244, 270, 390, 417, 538 Libermann, François  284 Lieber, Moritz  118 Liebermann, Bruno Franz Leopold  119 Liguori, Alfons von, hl.  164, 383 Lill, Rudolf  16 Link, Jürgen  54, 392 f., 408, 432, 450 Linsenmann, Franz Xaver (von)  147, 153, 233, 273, 298, 366, 368, 416, 481, 538 Lipf, Joseph  475 Lipset, Seymour Martin  34 Liszt, Franz von  211 f. Lönne, Karl Egon  19, 133, 140, 231, 412 Löw, Joseph  119 Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, Karl Heinrich Fürst zu  268, 538 Löwith, Karl  410 Lomb, Konrad  72, 112, 114, 307, 539 Lombardi Vallauri, Luigi  183 Lombroso, Cesare  202 f., 210, 490, 496 Lorinser, Franz  71, 160 f., 163, 185, 298, 370, 373, 379, 424, 455, 481, 509, 539 Loth, Wilfried  18 f., 32 f., 35, 168 Luckmann, Thomas  49, 99 Ludwig I., Kg. von Bayern  84, 122 Ludwig XVI., Kg. von Frankreich  284 Ludwig, August Friedrich  352, 539 Lübbe, Hermann  39 Lüderssen, Klaus  205 Luhmann, Niklas  39, 41, 43, 58–60, 88, 97, 99 f., 156 f., 240, 259, 308, 396, 488 Luise von Mecklenburg-Strelitz, Kgin. von Preußen 285 Lukas Evangelist, hl.  509 Luther, Martin  76 f., 237, 484, 528, 546 Lutterbach, Hubertus  481 Maier, Hans  156, 166, 349, 412 Maier, Willibald Apollinar  502 Makropoulos, Michael  319, 328, 373

Mallinckrodt, Pauline von  118, 199 Malthus, Thomas  312 Marett, Robert Ranulph  40 Martin, Conrad  72 f., 80 f., 112, 144–149, 163, 259, 287, 297, 459, 539 Marx, Ferdinand  539 Marx, Karl  221, 250, 261, 344, 451, 480, 534, 541 Massing, Otwin  43 Mattes, Wenzeslaus  352, 371, 539 Matthäus Evangelist, hl.  509 Mattner, Constantin  540 Mauss, Marcel  418 Mayer, Wilhelm  449 Meinhold, Peter  292 Menzinger, Otto  540 Mergel, Thomas  17, 231, 413, 437 Meschler, Moritz  361, 540 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von ​ 118 Metz, Karl Heinz  57, 408, 411 Meumann, Markus  256, 307 Meyer, Theodor  155, 165, 179, 217, 228, 540 Minois, Georges  93, 156, 337 f., 358 Mitterauer, Michael  413 Möhler, Johann Adam  113, 115, 324, 540 Möller, Johannes  118 Mörsdorf, Klaus  501 Mogel, Hans  140 Molina, Luis de  209 Montalembert, Charles de  309, 324 Mooser, Josef  23, 33, 195 f., 285, 401, 412, 449 Morel, Augustin Bénédict  488 Morgott, Franz von Paula  155 Morsey, Rudolf  18, 176 Moses 509 Moufang, Christoph  155, 282, 301, 540 Moy de Sons, Ernst von  162 Muchembled, Robert  22 Müller, Adam (von)  77 f., 90, 103, 105, 118, 124, 126, 137, 186, 285, 319, 374, 382, 417, 479, 484, 540 Müller-Goldkuhle, Peter  159 Nachor 345 Napoleon I. Bonaparte, Ks. von Frankreich ​ 89, 343, 345, 453, 531 Napoleon III., Ks. von Frankreich  345 Nassehi, Armin  58 f. Neher, Stephan Jakob  443 f., 541

Personenregister  615 Nickel, Monika  161 Nicklas, Thomas  47 Niggemann, Ulrich  55, 58 Nipperdey, Thomas  16 f., 28, 161, 196, 409 Noah 507–509 Novalis (Friedrich von Hardenberg)  101 Nowak, Kurt  15, 21 f. Nowotny, Helga  56, 225, 262, 277, 285 Oberhauser, Josef  404, 541 Oberkamp, Carl August von  119 Oberthür, Franz  113 Oesterreich, Traugott Konstantin  297, 354 Öttl, Georg (von)  119, 122 Oevermann, Ulrich  40 Olfers, Ernst Werner Maria von  359, 541 Olfers, Hedwig von  541 O’Malley, Martin  292 Oswald, Johannes Heinrich  83, 93, 170, 324, 346, 541 Otto, Rudolf  38, 151 f. Pascal, Blaise  206 Passavant, Karl  118 Perger, Franz  427 Périn, Charles  149, 152 f., 186, 202, 256, 262, 283, 375, 410, 416, 480, 485, 541 Pesch, Heinrich  155, 188, 219, 226 f., 280 f., 390, 411, 421, 464, 528, 541 f. Pesch, Tilman  154 f., 370, 372, 378, 509, 541 f. Petrus Apostel, hl.  353, 511 Petrus Claver, hl.  287, 466 Pfeifer, Franz Xaver  423, 468, 542 Pieper, August  482, 542 Pilat, Joseph Anton von  118 Pilatus, Pontius  342 Pilgram, Friedrich  132, 138 f., 242, 542 Pius VIII., Papst  332 Pius IX ., Papst  289, 345, 536 Plaßmann, Hermann Ernst  72, 113, 149, 154 f., 157–159, 166, 173, 175, 261, 299, 358, 462, 542 Platon  11, 395 Pohle, Josef  160, 260, 460, 511, 542 Polanyi, Karl  141 f. Probst, Ferdinand  135, 185, 467, 542 Prodi, Paolo  164, 172 Proudhon, Pierre Joseph  94, 309 Pruner, Johann Evangelist (von)  86, 94, 147, 150, 161, 163, 167, 170, 176 f., 181,

201, 212, 220, 230, 298, 304, 359, 383, 388, 394, 543 Puchta, Georg Friedrich  172, 180 Pyta, Wolfram  34, 45 Quételet, Adolphe  206, 366, 396 Raab, Heribert  110 Radziwill, Edmund von  456, 543 Raedts, Peter  156 Räß, Andreas  118 Rahner, Karl  15 Rammstedt, Otthein  356 f. Raphael, Lutz  30, 178, 438 Ratzinger, Georg  96, 108, 134, 136, 139, 145, 151, 187, 191 f., 219, 222, 226, 244, 253, 264, 268, 312–314, 344, 397, 407, 417, 433, 543 Reckwitz, Andreas  13, 47 Reichensperger, Peter  242 f., 267, 300, 310–313, 403, 407, 433, 543 Reisach, Karl August Graf von  231 Reischl, Wilhelm Karl  221, 267, 408, 543 Renan, Ernest  502 Renninger, Johann Baptist  228, 299, 466, 489, 501, 543 Repgen, Konrad  118 Reyer, Jürgen  479 Ricci, Lorenzo  336 Ried, Thomas  474 f., 477 Riedel, Valentin (von)  131 Riesebrodt, Martin  40 Rietter, Anton  127, 147, 166, 177, 182, 200, 256, 291, 298, 329, 352, 457, 544 Ringseis, Johann Nepomuk (von)  86, 119 Rodbertus, Karl  251 Rönz, Helmut  20 Röschlaub, Andreas  119 Rohe, Karl  33, 44–46, 49, 54, 228 Rokkan, Stein  34 Roosevelt, Franklin D.  262 Roper, Lyndal  88 f. Rosa, Hartmut  262, 451 f., 483, 488 Roßbach, Johann Joseph  263 Rottmanner, Karl  119 Rousseau, Jean Jacques  237 Rüb, Friedbert W.  262, 291, 396 Ruf, Sebastian  213 f., 544 Sailer, Johann Michael (von)  104, 106, 108 f., 113 f., 119–122, 130, 133, 164, 172,

616 Personenregister 190, 194, 330, 419, 458, 525 f., 532 f., 535, 544, 546 f. Salat, Jakob  130 Saul, Kg. von Israel  335 Savigny, Friedrich Carl von  119, 171 f., 179 Schaezler, Konstantin von  155, 162 Scharfe, Martin  172 Schatz, Klaus  118, 131, 195, 314 Scheeben, Matthias Joseph  161, 544 Scheffczyk, Leo  109 Scheicher, Joseph  221, 244, 314, 326, 347, 416, 544 Scheimpflug, Karl  269, 411, 544 Schell, Hermann  231 Schelling, Friedrich Wilhelm  157, 530 Schelsky, Helmut  408 Schenk, Eduard (von)  119, 122, 144 Schervier, Franziska  118, 199 Schieder, Wolfgang  23, 438 Schindler, Dominik  122, 371 Schlegel, Friedrich (von)  90, 104, 108, 118, 124, 319, 330 f., 397, 453, 488, 544, 549 Schleyer, Johann Martin  435 f., 545 Schlögl, Rudolf  20, 27, 165, 184, 192, 194, 196, 262, 285, 288, 295, 442, 485 f. Schlosser, Johann Friedrich Heinrich  118 Schmid, Aloys (von)  155, 545 Schmid, Christoph (von)  120, 130 Schmidt, Susanne  412 Schmidt, Wilhelm  494–497, 545 Schmidt-Biggemann, Wilhelm  75, 283 Schmiedl, Joachim  19 Schmöller, Leonhard  189, 545 Schnabel, Franz  183 Schneid, Johann Nepomuk  78, 545 Schneid, Mathias  154 f., 159, 207, 365, 372, 395, 545 Schneider, Bernhard  44, 90, 124, 407 Schneider, Wilhelm  73, 85, 94 f., 149, 176, 232, 254 f., 296, 298, 330, 346, 353, 370, 372, 374, 468, 491–493, 497, 510, 512, 545 Schön, Bruno  353, 360 f., 546 Schorlemer-Alst, Burghard von  270 Schramm, Percy Ernst  183 Schuech, Ignaz  173, 289, 360, 434, 546 Schütz, Ludwig  155 Schulz, Andreas  408 Schulze-Delitzsch, Hermann  134, 263–265 Schumann, Maria  288 Schurm, Matthias  427, 430 Schwäbl, Franz Xaver (von)  119 f., 144, 458

Schwarz, Franz von  508 Schwinn, Thomas  30 Scribner, Robert W.  90, 484 Seinsheim, Karl Graf von  119 Seitz, Anton  204, 446 f., 468, 496, 498, 546 Senestrey, Ignatius (von)  53, 73, 79, 81, 145, 151, 231, 234, 239, 258, 260, 289, 296, 300, 325, 339, 343, 456, 458 f., 486, 502–504, 546 Sennet, Richard  203 Sepp, Johann Nepomuk  235 f. Settegast, Joseph Maria  118 Seyfried, Anton  119 Silbert, Johann Peter  53, 86, 107, 113, 331, 546 Simar, Theophil  95 f., 201, 207, 210, 351, 384, 495, 546 Simeon, Richard E.  46 Simmel, Georg  141 f. Sohm, Rudolph  152 Sontheimer, Kurt  518 Stahl, Friedrich Julius  151, 225 Stegmann, Franz Josef  189, 223 f., 265, 281 Steinhoff, Anthony J.  24 Stephanitz, Dieter von  172 Stöckl, Albert  80, 129, 136, 153, 155, 181, 186, 199, 210, 234, 243, 247, 288, 325, 329, 358 f., 370, 388, 404, 497, 546 Stöhr, August  72, 231, 286, 353, 360, 547 Stolberg-Stolberg, Bernhard Joseph Graf zu 118 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu  78, 118, 319, 547 Stolberg-Stolberg, Joseph Theodor Graf zu  118 Stolberg-Wernigerode, Eleonore Auguste Gräfin zu  122 Stollberg-Rilinger, Barbara  48 Stolleis, Michael  179, 183 Stolz, Alban  93, 139, 296, 449, 547 Straßheim, Holger  50, 424 Sulzer, Johann Georg  428 Taparelli d’Azeglio, Luigi  128, 155, 167, 192, 367, 547 Taylor, Charles  29 Thekla von Iconium, hl.  287 Therach 345 Theresia von Ávila, hl.  287 Thomas von Aquin, hl.  110, 149, 155, 158 f., 162, 164, 166 f., 180 f., 192 f., 201, 205,

Personenregister  617 209, 217, 221, 223, 227, 229, 257, 270, 283, 295, 314, 360, 368, 395, 410, 412, 433, 452, 462, 547 Thompson, Edward P.  126, 137 Tischner, Wolfgang  36 f. Titus, Ks. von Rom  342 Tönnies, Ferdinand  123 Trepp, Anne-Charlott  101 Troeltsch, Ernst  151 f., 223, 283 Uertz, Rudolf  166, 169, 179, 188, 223 f., 292 Ussel, Jos van  22 Vásquez, Gabriel  163 Ven, Josephus Johannes Maria van der  152 Verba, Sidney  46 Viaene, Vincent  22, 285 Victor Emanuel II., Kg. von Italien  463 Vinzenz von Paul, hl.  78, 112 Vismann, Cornelia  120, 174, 181 Vobruba, Georg  263, 415 Vogelsang, Carl von  97, 187, 217, 313, 326, 544, 547 f. Vondung, Klaus  460 Waardt, Hans de  88 Wagner, Richard  327 Waller, Ignaz  190, 345 f., 547 Walter, Ferdinand  162 Walter, Franz  87, 167, 185, 218, 265, ­269–271, 290, 306, 315, 353–355, 394, 410, 466 f., 500, 512, 530, 548 Warnkönig, Ferdinand August  162 Wasmann, Erich  373, 506, 548 Weber, Christoph  19, 193, 232

Weber, Max  12–14, 29, 36, 42, 54, 76, 97, 162, 179, 403, 412, 438, 449, 451, 484, 488 Weber, Sebastian  359, 548 Wehler, Hans-Ulrich  15–17 Weichlein, Siegfried  36, 350, 485 Weis, Nikolaus  118 Weiß, Albert Maria  11, 51, 155, 157, 160, 164 f., 167, 176, 179, 186, 192, 208 f., 217, 220, 228, 299, 301, 327, 337, 348, 372, 376, 381, 385–387, 390 f., 394–396, 414, 470, 498, 521, 548 Weiß, Otto  37, 155, 193, 258, 338 Welte, Benedikt  53, 85, 98, 168 Werneke, Bernhard  364, 548 Werner, Karl  387, 548 Werner, Zacharias  118 Westermayer, Anton  70, 91, 102, 106, 116, 127, 142, 233, 284, 286, 320, 456, 458, 548 Wetzer, Heinrich Joseph  53, 85, 98 Wichern, Johann Hinrich  292 Wildavsky, Aaron  58 Windischmann, Friedrich  490 f., 324, 549 Windischmann, Karl Joseph  86, 90, 118, 319, 420, 453, 535 f., 549 Winter, Ernst Karl  169 Wiplinger, Georg  425 f. Wischlburger, Andreas  428 Wittmann, Georg Michael  120 Wörter, Friedrich  371, 549 Wolff, Christian  171 Zahn, Joseph  71, 347–349, 499, 549 Zollbrucker, Simon  120, 457 Zweig, Stefan  261 Zwierlein, Cornel  59, 307, 459