Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit [1. ed.] 9783837931518, 9783837978438

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Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit [1. ed.]
 9783837931518, 9783837978438

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Rollende Steine
Themen dieses Buches
Gefühle machen Politik
1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus
Ist der Populismus ein neues Phänomen?
Spannung zwischen Zentrum und Peripherie
Die Autoritäre Persönlichkeit
Die Unfähigkeit, zu vertrauen
Angst
Hass
Scham
Neid
Ekel
Verbitterung
Ressentiments
Brandstifter Alexander Gauland: Ressentiment, Feindseligkeit und Biederkeit
Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer
2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments
»Die ganz gemeine Eitelkeit als Berufskrankheit bei Politikern« (Max Weber)
Der Brexit als illusionärer Souveränitätsgewinn
Wurzeln des antieuropäischen Ressentiments
Fremdenhass und Autonomieillusionen als Kompensation für gekränkten Nationalstolz
3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise
Epistemisches Vertrauen – epistemisches Misstrauen
Familiendynamiken in der Corona-Krise
Intellektuelle Gewährsmänner des Misstrauens: Agamben und Foucault
Empirisches zur Verschwörungsmentalität
Psychodynamik der Impfskepsis
Magisches Denken und die Fähigkeit zur Besorgnis
4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz
Der Film Das radikal Böse
Das Rätsel des Bösen
Die Banalität des Bösen
Die Pathologie des Bösen
Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Autoritärer Charakter
Schließt die Normalitätsthese die Pathologiethese aus?
Maligner Narzissmus und Großgruppenidentität
Ist Völkermord ein Ausdruck des Todestriebes?
5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« – zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik
Zwischen Rechtspopulismus und »Willkommenskultur«
Das vierfache Trauma des Zweiten Weltkrieges
Die Unfähigkeit zu trauern und die Atombegeisterung als weltweite kollektive Abwehr
Die Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre
»Mehr Demokratie wagen«
Stationen der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit
Im Schatten von Tschernobyl
Die Entdeckung der Kriegskindheiten aus dem Zweiten Weltkrieg
Im Schatten von Fukushima
Vergangenheitsbewältigung in Japan und Westdeutschland
Vergangenheitsbewältigung in der DDR und in Westdeutschland
Das deutsche Trauma der Vertreibung
Deutsche »Willkommenskultur«
Wie geht es mir mit meinem eigenen Text?
Politische Konsequenzen
6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder
»Kalte« und »heiße« Kulturen
Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen
Bilanz und Ausblick
7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit
»Vulnerabilität« und »Trauma«
Vulnerabilität als Charakteristikum des Lebendigen
Die Frühgeburtlichkeit des Menschen
Liebe und Sexualität
Die Verwundbarkeit der nackten Haut
Warum der Homo sapiens seine Körperbehaarung fast vollständig verloren hat
Zärtlichkeit und Sexualität
Psychische Vulnerabilität
Vulnerabilität, Vertrauen und Resonanz
»Dialektik der Sensibilität« (Andreas Reckwitz)
Verletzlichkeit und kollektive Verantwortung
Bilanz
8 Zeitenwende
Neues Leitbild »Wehrhafter Friede«
Die Grünen zwischen Pazifismus und Wehrhaftigkeit
Warum den Grünen Waffenlieferungen leichter fallen als der SPD
Blick zurück – die Zeitenwende von 1989
Die Auflösung der UdSSR als kollektive narzisstische Kränkung
Die Verleugnung kollektiver Traumata führt zu ihrer Wiederkehr
Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe
»Gewählte Traumata« und »gewählte Ruhmesblätter«
Selenskyj als psychologisches Gegenmodell zu Putin
Ausblick
Literatur
Textnachweise

Citation preview

Hans-Jürgen Wirth Gefühle machen Politik

In der Reihe Psyche und Gesellschaft sind bisher unter anderem folgende Titel erschienen: Tobias Grave, Oliver Decker, Hannes Gießler, Christoph Türcke (Hg.): Opfer. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2017. Felix Brauner: Mentalisieren und Fremdenfeindlichkeit. Psychoanalyse und Kritische Theorie im Paradigma der Intersubjektivität. 2018. Ulrich Bahrke, Rolf Haubl, Tomas Plänkers (Hg.): Utopisches Denken – Destruktivität – Demokratiefähigkeit. 100 Jahre »Russische Oktoberrevolution«. 2018. Bandy X. Lee (Hg.): Wie gefährlich ist Donald Trump? 27 Stellungnahmen aus Psychiatrie und Psychologie. 2018. Sascha Klotzbücher: Lange Schatten der Kulturrevolution. Eine transgenerationale Sicht auf Politik und Emotion in der Volksrepublik China. 2019. Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Ritual. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2019. Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Autoritarismus. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2019. Rolf Haubl, Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Grenzerfahrungen. Migration, Flucht, Vertreibung und die deutschen Verhältnisse. 2019. Caroline Fetscher: Das Paddock-Puzzle. Zur Psychologie der Amoktat von Las Vegas. 2021. Johann August Schülein: Psychoanalyse als gesellschaftliche Institution. Soziologische Betrachtungen. 2021. Steffen Elsner, Charlotte Höcker, Susan Winter, Oliver Decker, Christoph Türcke (Hg.): Enhancement. Kritische Theorie und Psychoanalytische Praxis. 2021. Florian Bossert: Viraler Angriff auf fragile Subjekte. Eine Psychoanalyse der Denkfähigkeit in der Pandemie. 2022. Klaus Ottomeyer: Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen. 2022. Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. 2. Aufl. 2022.

Psyche und Gesellschaft

Herausgegeben von Johann August Schülein und Hans-Jürgen Wirth

Hans-Jürgen Wirth

Gefühle machen Politik Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit

Psychosozial-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2022 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Honoré Daumier, La parade foraine (1865) Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar ISBN 978-3-8379-3151-8 (Print) ISBN 978-3-8379-7843-8 (E-Book-PDF)

Inhalt

Einleitung Rollende Steine Themen dieses Buches Gefühle machen Politik

1

Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus Ist der Populismus ein neues Phänomen? Spannung zwischen Zentrum und Peripherie Die Autoritäre Persönlichkeit Die Unfähigkeit, zu vertrauen Angst Hass Scham Neid Ekel Verbitterung Ressentiments Brandstifter Alexander Gauland: Ressentiment, Feindseligkeit und Biederkeit Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer

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9 9 18 21 27 27 30 33 35 39 42 47 50 54 59 64 68 79

Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

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»Die ganz gemeine Eitelkeit als Berufskrankheit bei Politikern« (Max Weber) Der Brexit als illusionärer Souveränitätsgewinn

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Inhalt

Wurzeln des antieuropäischen Ressentiments Fremdenhass und Autonomieillusionen als Kompensation für gekränkten Nationalstolz

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Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise Epistemisches Vertrauen – epistemisches Misstrauen Familiendynamiken in der Corona-Krise Intellektuelle Gewährsmänner des Misstrauens: Agamben und Foucault Empirisches zur Verschwörungsmentalität Psychodynamik der Impfskepsis Magisches Denken und die Fähigkeit zur Besorgnis

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Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz Der Film Das radikal Böse Das Rätsel des Bösen Die Banalität des Bösen Die Pathologie des Bösen Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Autoritärer Charakter Schließt die Normalitätsthese die Pathologiethese aus? Maligner Narzissmus und Großgruppenidentität Ist Völkermord ein Ausdruck des Todestriebes?

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Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« – zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik Zwischen Rechtspopulismus und »Willkommenskultur« Das vierfache Trauma des Zweiten Weltkrieges Die Unfähigkeit zu trauern und die Atombegeisterung als weltweite kollektive Abwehr Die Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre »Mehr Demokratie wagen« Stationen der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit Im Schatten von Tschernobyl

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Inhalt

Die Entdeckung der Kriegskindheiten aus dem Zweiten Weltkrieg Im Schatten von Fukushima Vergangenheitsbewältigung in Japan und Westdeutschland Vergangenheitsbewältigung in der DDR und in Westdeutschland Das deutsche Trauma der Vertreibung Deutsche »Willkommenskultur« Wie geht es mir mit meinem eigenen Text? Politische Konsequenzen

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AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder »Kalte« und »heiße« Kulturen Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen Bilanz und Ausblick

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Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit »Vulnerabilität« und »Trauma« Vulnerabilität als Charakteristikum des Lebendigen Die Frühgeburtlichkeit des Menschen Liebe und Sexualität Die Verwundbarkeit der nackten Haut Warum der Homo sapiens seine Körperbehaarung fast vollständig verloren hat Zärtlichkeit und Sexualität Psychische Vulnerabilität Vulnerabilität, Vertrauen und Resonanz »Dialektik der Sensibilität« (Andreas Reckwitz) Verletzlichkeit und kollektive Verantwortung Bilanz

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Zeitenwende Neues Leitbild »Wehrhafter Friede« Die Grünen zwischen Pazifismus und Wehrhaftigkeit Warum den Grünen Waffenlieferungen leichter fallen als der SPD

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Inhalt

Blick zurück – die Zeitenwende von 1989 Die Auflösung der UdSSR als kollektive narzisstische Kränkung Die Verleugnung kollektiver Traumata führt zu ihrer Wiederkehr Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe »Gewählte Traumata« und »gewählte Ruhmesblätter« Selenskyj als psychologisches Gegenmodell zu Putin Ausblick

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Literatur

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Textnachweise

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Einleitung

Rollende Steine Unter der Überschrift »Rollende Steine« berichtete die FAZ vom 14. September 1965 über das erste Konzert der Rolling Stones in Deutschland im westfälischen Münster: »Nicht einmal dem Namen nach waren uns die Rolling Stones bekannt. Plötzlich mussten wir uns belehren lassen, dass diese heitere Angelegenheit bedrohliche Ausmaße annehmen kann und ernst genommen werden muss. 6.000 Jugendliche im westfälischen Münster, wo ungefähr zur selben Zeit der Dom mit vermutlich geringerer Beteiligung säkular gefeiert wurde, strömten herbei, um die Londoner Beats zu hören und zu sehen. Am Vormittag hatten die halbwüchsigen Fans die Tore zum Flugplatz gestürmt und waren mit Wasserwerfern zurückgeprügelt worden. Wem galt der Rausch? Fünf jungen Männern, die die Haare länger tragen als Mädchen und eine erbärmlich einfallslose primitive Musik zum besten geben. Der Rhythmus soll auf junge Menschen so elementar wirken, daß es kein Halten gibt. Ketten von dem jungen Publikum zugewandten stämmig Saalordnern, starrten böse in den Saal, um loszuprügeln, wenn die Masse nach vorn in Bewegung geraten sollte. Wir sahen dank der Vermittlung des Bildschirms den Rollenden Steinen zu, hatten ihnen zugehört, als sie, von einem Reporter befragt, mit seltsam affenähnlichen ruckweisen Bewegungen Auskunft über An- und Abfahrtszeiten und die Auflagenhöhe ihrer Schallplatten gaben. Es kann doch wohl nicht sein, daß man als älterer Mensch bereits jeden Kontakt zu dem, was junge Menschen bewegt, verloren haben soll? Man hat Erinnerungen und guten Willen  – und begreift es nicht. Ganz gewiss ist das nicht die Jugend. Vielleicht ist es nur ein kleiner Bruchteil? Was wir sahen, war freilich massenhaft und beängstigend. Nicht wegen der Wildheit, sondern weil

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Einleitung

das auslösende Moment, die Rollenden Steine, gar so dürftig ist. Wie ist es möglich, dass fünf lächerlich unmännlich gekleidete und behaarte Wesen Tausende junger Menschen zu frenetischem Hüftwippen und Kopfnicken bringen? Wir fragten einen jungen Mann, der die Sache offensichtlich mit lächelnder Überlegenheit beobachtete. Seine Erklärung: Die haben nichts anderes. Die haben nichts, was sie interessiert, wofür sie schwärmen, was sie beschäftigt, worauf sie warten, wenn sie ihre Berufs- oder Schulstunden absolviert haben. Die Erklärung sollte zur Kenntnis genommen werden. Die haben nichts! Darum beateln sie. Wesentlich an dieser Erklärung ist, dass junge Menschen nur durch spontan, aus eigenem Antrieb gewählte Betätigungen auszufüllen seien. Es wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass es im Allgemeinen keine elementare Not gibt. Der Überschuss an Kräften findet kein Objekt. Man ergibt sich der Betäubung aus Mangel. Vielleicht auch aus Trotz, aus Widerspruchsgeist gegen die ignorierende Ahnungslosigkeit der ›Alten‹? Oder man lässt sich einfach anstecken und läuft mit in die Gummiknüppel hinein? Vielleicht wären diese armseligen Feste einer im Stich gelassenen Jugend nicht so armselig und dürftig, wenn man sich dieser Jugend im Industriezeitalter mehr annähme. Aber wie? Man kann die Probleme jedenfalls nicht einfach ignorieren. Mindestens müsste man mehr und Genaueres darüber wissen, so alt das Thema schon ist. K. K.«1

Mir ist der Zeitgeist, der sich in diesem FAZ-Artikel artikuliert, noch immer sehr präsent. Ich erinnere noch zahlreiche Szenen, in denen ich mit dem Unverständnis, der Ablehnung – ja gelegentlich auch mit dem blanken Hass – konfrontiert war, der mir von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern2 aber auch von wildfremden Menschen auf der Straße entgegenschlug, weil ich lange Haare hatte und wie ein »Gammler« gekleidet sei. Ich hingegen empfand die Musik der Beatles, der Stones, der Kinks, von Bob Dylan und Frank Zappa und seinen Mothers of Invention als Verheißung eines neuen Lebensgefühls, das durch Freiheit, Individualität und eine kritische Distanz zu den herkömmlichen Lebensstilen, Umgangsformen und Lebens1 Der ehemalige SPIEGEL-Reporter Cord Schnibben hat diesen Zeitungsschnipsel aus seinem Archiv ausgegraben und 2021 auf Twitter gepostet. 2 Um eine gendergerechte Sprache und insbesondere ein gendergerechtes Denken zu praktizieren, verwende ich in diesem Buch in lockerer Abwechslung verschiedene Formulierungen und Schreibweisen, um die verschiedenen Geschlechter anzusprechen. Einer strengen Systematik soll dabei nicht gefolgt werden.

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Rollende Steine

auffassungen gekennzeichnet war. Was macht den FAZAutor beim Anblick des Stones-Konzerts und des jugendlichen Publikums so aggressiv geladen, dass er seine Abneigung und Verachtung kaum zügeln kann. Was ist der besondere Stein des Anstoßes? Die langen Haare der Musiker werden mit fast identischen Formulierungen gleich zweimal thematisiert: »Fünf junge Männer, die die Haare länger tragen als Mädchen« und »fünf lächerlich unmännlich gekleidete und behaarte Wesen« »mit seltsam affenähnlichen ruckweisen Bewegungen«. In Abbildung 1: Rolling-Stones-Konzert in Münster, diesen Formulierungen 1965 (© timeline images/Hermann Schröer) klingt an, dass es sich aus Sicht des Autors (ich nehme an, dass sich hinter dem Kürzel K. K., mit dem der Artikel gekennzeichnet ist, ein männlicher Autor verbirgt) nicht um wirkliche Männer, nicht um eigentliche Menschen handelt, sondern um merkwürdige, fremdartige Mischwesen, deren Geschlechtszugehörigkeit in Zweifel zu ziehen ist. Diese Menschen entsprechen nicht seinem Bild von Männlichkeit – und es scheint, als möchte er ihnen am liebsten die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies absprechen. Das Adjektiv »affenähnlich« muss man wohl als rassistisch bezeichnen, denn es gehört einem Assoziationsraum an, zu dem auch der Begriff »Urwaldmusik« und ein Begriff gehört, den wir heutzutage noch nicht einmal in kritischer Absicht zitierend aussprechen wollen. Diese Begriffe nehmen Bezug auf die 11

Einleitung

nationalsozialistischen Begriffe der »entarteten Musik« und der »entarteten Kunst«, mit der die Nationalsozialisten die musikalische und künstlerische Moderne diffamierten. Das Unverständnis des Autors für die psychischen, ästhetischen und kommunikativen Bedürfnisse der damaligen Jugend sind frappierend. Sein mit Verachtung, altväterlicher Herablassung, Entwertung und Hass erfülltes Pamphlet mag aus heutiger Sicht antiquiert und lächerlich anmuten und scheint aus einer fernen Zeit zu stammen. Und doch ist der Kulturkonflikt, der sich damals symptomatisch an den Rolling Stones entzündete, noch heute virulent. Er schien für einige Jahre oder Jahrzehnte von minder großem Einfluss zu sein, ist nun aber in Gestalt des Rechtpopulismus und Rechtsextremismus mit unerwarteter Heftigkeit zurückgekehrt. Konventionelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie Männlichkeitskulte gepaart mit Frauenverachtung und Homophobie stellen charakteristische Merkmale aller autoritär-populistischen Bewegungen dar (Weiß, 2017, S. 237; Leggewie, 2016, S. 141f.). Das Syndrom eines affektgeladenen homophoben Ressentiments findet sich heute wieder in zahlreichen internationalen rechtsextremen und populistischen Gruppierungen. Auch auf höchster Ebene internationaler Politik spielt diese Thematik eine Rolle: So bezeichnete Boris Johnson am 28. Juni 2022 in einem Interview mit dem ZDF Wladimir Putin als »ein perfektes Beispiel für toxische Männlichkeit«. Er fuhr fort: »Wenn Putin eine Frau wäre, so hätte er, glaube ich, nicht einen so verrückten, machohaften Krieg vom Zaun gebrochen.«3 Johnson mag mit seiner Äußerung nicht falsch liegen, aber es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet ein Politiker, dessen Handlungen häufig als testosterongesteuert erscheinen, sich in dieser Weise äußert. Vorausgegangen war eine Witzelei unter den politischen Führern beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau, bei dem Johnson angesichts der hohen Temperaturen vorschlug, die Jacketts auszuziehen. Er fügte hinzu: »Wir alle müssen zeigen, dass wir härter sind als Putin.« Kanadas Premierminister Justin Trudeau kommentierte, man solle Putin »unsere Muskeln« zeigen. Er spielte damit auf ein ikonografische MachoFoto an, das Putin 2009 mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd reitend in Westsibirien zeigt. Putin reagierte pikiert: »Ich weiß nicht, wie sie sich ausziehen wollten, oberhalb oder unterhalb der Gürtellinie. Ich denke, es wäre in jedem Fall ein widerlicher Anblick gewesen«, sagte er vor Journa3 https://www.youtube.com/watch?v=JQKkC7_81Tw (11.07.2022).

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Rollende Steine

listen in der turkmenischen Hauptstadt Aschgabat, als gäbe es bei seiner ersten Auslandsreise nach Beginn des Ukraine-Krieges kein wichtigeres Thema. Putins bleibt nicht auf der Ebene des Spotts, sondern steigt voll auf die inhaltliche Ebene ein, so als hätten sich die versammelten Regierungschefs tatsächlich »unter der Gürtellinie« ausziehen wollen. Das ist aber allein seine Fantasie. Seine Reaktion ist humorlos, konkretistisch und prüde und aktiviert Affekte von Ekel und Homophobie. Dabei war er es, der sich wirklich nackt ausgezogen hatte – wenn auch nur »oberhalb der Gürtellinie«. Die traditionellen Vorstellungen von »wahrer Männlichkeit« existieren noch heute in verschiedenen Gruppierungen und Kulturen. Die damit einhergehenden Feindbilder richten sich heutzutage vor allem gegen sexuelle Minderheiten, die sich in der weltweiten LGBTQ-Bewegung organisiert haben und auch gegen weibliche und queere Personen, die es wagen, in der Öffentlichkeit politisch in Erscheinung zu treten. Dazu zwei Beispiele aus dem Bundestagswahlkampf 2021, der von der Corona-Pandemie geprägt war: Der AfD-Spitzenkandidat Tino Chrupalla verunglimpfte Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (im Zusammenhang mit Kretschmers sorgenvoller Corona-Politik) als »Pfeife«, die »nicht rumflennen« solle. Die Kritik an Kretschmer ist also, dass er zu mädchenhaft sei. Alice Weidel, seit dem 30. September 2021 im Rahmen einer Doppelspitze mit Chrupalla Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, bezeichnete Deutschland als »Hippiestaat« (Locke, 2021, S. 8). Die staatliche Macht der Bundesrepublik mit Flower-Power in Verbindung zu bringen, empfindet sie wahrscheinlich als besonders scharfe Form des Lächerlichmachens. Lange Haare bei Männern stehen auch hier als Symbol für weibliche bzw. »weibische Schwäche«. Dazu passt auch der Hass, den die 13-jährige Schülerin Greta Thunberg auf sich zog: Während der Dürre- und Hitze-Krise in Europa 2018 begann sie damit, jeden Freitag den Schulbesuch zu verweigern, und setzte sich mit einem Schild, das die Klima-Katastrophe thematisierte, auf die Straße. Mit dieser an sich harmlosen Protest-Aktion gab sie den Anstoß für die globale Jugend-Bewegung Fridays for Future und setzte damit einen Prozess des Umdenkens in Gang, der inzwischen weltweit Regierungsprogramme beeinflusst, gleichzeitig jedoch eine Welle hasserfüllter Diffamierungen hervorrief. Das ehemalige rechtsextremistische AfD-Mitglied Andreas Kalbitz bezeichnete sie als »zopfgesichtiges Mondgesicht-Mädchen«. Wieder spielen die Haare eine Rolle und die Tatsache, dass sich hier eine weibli13

Einleitung

che Jugendliche herausnahm, in höchst erfolgreicher Weise öffentlich in Erscheinung zu treten. Der Befund eines wiederaufflammenden Kulturkampfes gilt sowohl für die inneren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den westlichen Industriestaaten als auch für die Auseinandersetzungen, wie sie sich beispielsweise zwischen der Europäischen Union und einigen ihrer osteuropäischen Mitgliedsländer  – namentlich Ungarn und Polen  – abspielen. Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński opponieren gegen die EU, weil sie durch den moralischen und politischen Liberalismus ihren nationalen, kulturellen und moralischen Lebensstil infrage gestellt sehen und sich unterminiert fühlen. Wie hängt nun der Zeitgeist, der sich in dem FAZ-Artikel von 1965 artikulierte, mit den rechtspopulistischen Strömungen fast 60 Jahre später zusammen? Meine These lautet: Wenn man eine Diagnose über den gegenwärtigen Zeitgeist stellen will, muss man mit der Analyse in den 1960er Jahren beginnen. Dort nahmen die psychosozialen Veränderungsprozesse, die zu den für die moderne Gesellschaft typischen Charakterstrukturen und Wertorientierungen führten, ihren Ausgang. Natürlich haben auch diese Prozesse ihre historischen Wurzeln, aber die Zäsur des Zweiten Weltkriegs und der ökonomische wie psychologisch-kulturelle Neuanfang – der nicht nur Deutschland, sondern die ganze westliche Welt erfasste – nahm in dieser Zeit richtig Fahrt auf. Seit dem FAZ-Artikel von 1965 über die »Rollenden Steine« und ihre Fans hat sich die sozialpsychologische Verfasstheit der deutschen Gesellschaft grundlegend geändert. Die FAZ verfügt heute über ein Feuilleton, das nicht nur die Musik-Tradition der 1960er  Jahre, insbesondere Bob Dylan, kenntnisreich kommentiert, sondern in dem auch solche ressentimentbehafteten Ausfälle wie seinerzeit nicht mehr vorkommen. Und doch laboriert die Gesellschaft an den Konfliktdynamiken, die in der Tradition der damaligen Polarisierung stehen. Wie lässt sich das sozialpsychologisch verstehen? Können sozialwissenschaftlich und psychoanalytisch inspirierte Zeitdiagnosen etwas zum besseren Verständnis dieser Konfliktdynamik beitragen? Diesen Fragen versuche ich, mich in diesem Buch zu nähern. Im Zentrum meiner Studien steht der grassierende Rechtspopulismus mit seinen komplexen psychologischen, gesellschaftlichen, politischen und historischen Ursachen. Dazu einige allgemeine Überlegungen: Man kann den Rechtspopulismus als eine regressive Reaktion auf den stetigen Wertewandel, von dem sich viele Menschen emotional überfordert fühlen, ver14

Rollende Steine

stehen. So wie der FAZ-Kommentator vor 60 Jahren keinen emotionalen Zugang zum Lebensgefühl der jugendlichen Stones-Fans gewinnen konnte, so verständnislos und ablehnend stehen heutzutage viele Menschen den emanzipatorischen Bedürfnissen, die sich beispielsweise in der LGBTQBewegung artikulieren, gegenüber. Die Digitalisierung, Individualisierung und Flexibilisierung überfordern auch viel Menschen, die Imperative, die von diesen Prozessen ausgehen, sind jedoch weitgehend anonym und abstrakt, so dass die Empörung kaum Anknüpfungspunkte findet. Psychologische Themen wie die Ehe für alle oder Geschlechtersensibilität sprechen emotional direkt an und eignen sich deshalb besonders als Gegenstand hitziger Polarisierungen. Historisch stellt die nationalsozialistische Vergangenheit gleichsam eine Art von Giftmülldeponie dar, die noch immer antisemitische und rassistische Ideologien, zersetzende Ressentiments, böswillige Verschwörungserzählungen und heftige Affekte wie giftige Dämpfe absondert. »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!« hatte Bertolt Brecht in seiner Parabel Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1966 [1941]), die den Aufstieg Adolf Hitlers schildert, formuliert. Der rechtsextreme Rand des Rechtspopulismus zapft dieses hochexplosive Reservoir an und nutzt es schamlos, um das aktuelle politische und kulturelle Klima zu vergiften. Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland ist ein Virtuose auf diesem Gebiet. Ich widme seinen Strategien eine eingehende Analyse. Schließlich hat sich der Rechtspopulismus im Zuge seiner weltweiten Verbreitung zu einem System der Welterklärung entwickelt, das eine ähnliche Orientierungsfunktion erfüllt, wie sie Ideologien (beispielsweise dem Marxismus) oder religiösen Glaubenssystemen zukommt. Er bietet zum einen kognitive Orientierung, indem er Theorien aufstellt, die häufig einem Verschwörungsnarrativ folgen und zum Kampf gegen die Eliten aufrufen, zum anderen liefert er auch emotionale Orientierung, indem er nationalistische Größenfantasien unterstützt und die Äußerung negativer Affekte wie Hass, Verachtung und Ressentiments gegen Minderheiten stimuliert und legitimiert. Rechtspopulistische Stimmungen und Bewegungen gewinnen immer dann vermehrten Zulauf, wenn es zu gesellschaftlichen Krisen kommt, die Unsicherheit und kollektive Ängste hervorrufen. Am deutlichsten war das im vergangenen Jahrzehnt bei der Fluchtbewegung als Folge der Kriege in Syrien und in Afghanistan und bei der Corona-Pandemie der Fall. Das Anwachsen rechtspopulistischer Bewegungen war zunächst ein Phä15

Einleitung

nomen, von dem andere Länder stärker betroffen waren als Deutschland. In den Niederlanden mischte die europa- sowie islamfeindliche »Partei für die Freiheit« von Geert Wilders bereits seit Mitte der Nuller-Jahre die Politik auf und hatte 2017 gute Chancen, stärkste Partei zu werden (Schweighöfer, 2017). In Frankreich ist der Rechtspopulismus »eng mit dem Aufstieg des Front national (FN) verbunden« (Backes, 2019, S. 293). Der Front National (heute: Rassemblement National) zählt zu den erfolgreichsten rechtspopulistischen Parteien Europas und hat bereits Anfang der 1970 Jahre die politische Bühne betreten. Der Parteigründer Jean-Marie Le Pen wurde 2011 von seiner Tochter Marine Le Pen beerbt, die die Partei zur gesellschaftlichen Mitte hin öffnete und inzwischen zu einer ernsthaften Konkurrenz für Emmanuel Macron aufstieg. Das zentrale Thema des französischen Rechtspopulismus ist der »Abwehrkampf gegen die außereuropäische Immigration«, mit der »nahezu alle Übel« verknüpft wurden (ebd., S. 310). In der Bundesrepublik existierte zwar seit den 1960er Jahren eine offen agierende rechtsextreme Szene, die mit der 1964 gegründeten NPD auch einige beachtliche Wahlerfolge erzielte, aber letztlich verlor diese Partei ab Anfang der 1970er Jahre mehr und mehr an Bedeutung. Allerdings war die Existenz einer rechtsradikalen und gewaltbereiten Szene nicht zu übersehen, schien aber auf gesellschaftliche Randgruppen wie Skinheads und Fußball-Hooligans oder auf »Rückwärtsgewandt-Zurückgebliebene« und »Irgendwie-aus-der-Zeit-Gefallene«, die Hitlers Geburtstag feierten, begrenzt zu sein. Mit Skinheads machte ich Bekanntschaft, als ich in den frühen 1980er Jahren einige von ihnen im Rahmen eines Forschungsprojektes über Jugendprotest (Bock et al., 1989) interviewte und auf Fußballspiele begleitete. In ausführlichen Interviews und teilnehmender Beobachtung untersuchten wir den motivationalen Hintergrund der jugendlichen Skinheads. Sie »fühlten sich wie der letzte Dreck« (Wirth, 1989a) und hatten biografisch und sozial allen Grund dazu. Praktisch alle der meist männlichen Skinheads, die wir befragten, waren sozial marginalisierte Außenseiter mit höchst belasteten Biografien. Sobald wir ihre äußere Fassade der aggressiven Ablehnung überwunden hatten und in ein Gespräch kamen, zeigten sich die meisten von ihnen als höchst bedürftige Jugendliche, die Sehnsucht nach Anerkennung und sozialem Kontakt hatten. Als wirkliche gesellschaftliche Gefahr erschienen mir nicht diese verwahrlosten Jugendlichen, sondern die reaktionären Strömungen in der CDU/CSU, die unverhohlen Ressentiments gegen Fremde, Sozialisten, 16

Rollende Steine

Kommunisten, Intellektuelle und auch gegen »Hippies«, Alternative und Aktivist*innen der Neuen Sozialen Bewegungen schürten. Die CSU unter Franz-Joseph Strauß, Hessens CDU-Chef Alfred Dregger und der Wahlkampf des hessischen CDU-Politikers Roland Koch, der offen mit fremdenfeindlichen Ressentiments spielte, nahm ich als die eigentliche Bedrohung der Demokratie war. Im August  1992 kam es in Rostock-Lichtenhagen zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für AsylbewerberInnen sowie ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter. Rechtsradikale steckten das Wohnheim mit Molotowcocktails in Brand. Hunderte von Schaulustigen applaudierten der Gewalt, behinderten den Einsatz von Polizei und Feuerwehr und verbreiteten eine Pogrom-Stimmung, wie sie in Deutschland seit der Nazi-Zeit nicht mehr geherrscht hatte. Die Asyldebatte verschärfte sich und wurde von Medien wie der BILD-Zeitung und von christdemokratischen Politikern wie Roland Koch befeuert. Aber letztlich setzte sich diese politische Stimmung während dieser Jahre nicht durch. Vielmehr rückte die CDU unter der 16-jährigen Kanzlerschaft von Angela Merkel in die politische Mitte – manche sprachen von einer »Sozialdemokratisierung« der CDU – und schien nicht mehr anfällig für rechte und »autoritäre Versuchungen«, um einen Buchtitel von Wilhelm Heitmeyer (2018) zu zitieren. Deutlich reaktionäre Strömungen und Stimmen in der CDU verschwanden von der politischen Bühne (wie beispielsweise Roland Koch) oder traten in den Hintergrund. Die CSU verfügte zwar nach wie vor über Politiker wie Horst Seehofer und Markus Söder, die gekonnt auf der rechtspopulistischen Klaviatur spielen konnten und können, aber das war eben doch nur die kleine Schwester-Partei. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass es der Bundesrepublik gelungen ist, der autoritären Versuchung zu widerstehen, ganz offenbar, weil sie in einem jahrzehntelangen emotional aufwühlenden Prozess die Auseinandersetzung um die nationalsozialistische Vergangenheit und ihr Fortwirken in der Gegenwart wirklich ernsthaft geführt hat. Eine Zeit lang sah es so aus, als ob sich das Gespenst des Rechtspopulismus in Deutschland weniger stark ausbreiten würde als in vergleichbaren Ländern des Westens. Mit der Flüchtlingskrise von 2015 und Angela Merkels spektakulärer Entscheidung, die Grenzen Deutschlands temporär für die bereits vor den Toren stehenden Geflüchteten zu öffnen, bekam die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und mit ihr die AfD enormen Auftrieb. 17

Einleitung

Themen dieses Buches Beunruhigend ist insbesondere, dass der Rechtspopulismus nicht auf die dafür bekanntermaßen anfälligen gesellschaftlichen Gruppierungen beschränkt blieb, sondern sich bis in die Mitte der Gesellschaft ausgebreitet hat (Decker & Brähler, 2018). Im ersten Kapitel »Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus« werde ich mich mit den sozialpsychologischen Hintergründen dieser rechtspopulistischen Bewegung beschäftigen. Die Flüchtlingskrise war ein Brandbeschleuniger dieser Entwicklung. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus bilden ein Syndrom, dass bereits die Frankfurter Schule, insbesondere Erich Fromm und Theodor W. Adorno, thematisiert haben. Die heutige Situation zeichnet sich gegenüber der Situation in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts dadurch aus, dass sowohl westliche Regierungen wie in den USA und Großbritannien (Norris & Inglehart, 2019) als auch osteuropäische Regierungen wie die von Ungarn, Polen und Tschechien (Decker et al., 2022) anfällig für Rechtspopulismus sind. Hinzu kommt das neue Phänomen, dass das autoritäre Regime in Russland Rechtspopulisten in den USA und in Europa materiell und medial unterstützt und durch seine Propagandamaschine ideologisch befeuert. Die manipulativen Eingriffe Russlands in den amerikanischen Wahlkampf 2016, die zu Donald Trumps Wahlsieg maßgeblich beitrugen, waren offenbar von der Absicht bestimmt, maximales Chaos in den USA zu stiften und damit die amerikanische Position zu schwächen. Darüber hinaus existiert zwischen der russischen Regierung und den rechtspopulistischen Bewegungen eine inhaltliche Übereinstimmung, was die Ideologie, die grundlegenden Wertorientierungen und die Weltsicht angeht. Es macht schon einen sehr großen Unterschied, ob in einer Gesellschaft mehr oder weniger einflussreiche Gruppierungen, Strömungen und Parteien mit rechtspopulistischen Zielsetzungen existieren, oder ob die Regierung selbst rechtspopulistischen Überzeugungen anhängt, wie das in Trumps Amerika, in Ungarn, in Polen und unter Boris Johnson in Großbritannien der Fall ist. Im zweiten Kapitel »Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments« werde ich am Beispiel des Brexits zeigen, zu welchen gesamtgesellschaftlichen Verwerfungen es kommt, wenn die Regierungspolitik von antieuropäischen Ressentiments bestimmt wird. Der Brexit verspricht seinen Befürwortern einen illusionären Souveränitätsgewinn. Er soll den gekränkten Nationalstolz und den so18

Themen dieses Buches

zioökonomischen und kulturellen Statusverlust, den Teile der Bevölkerung im Zeichen der Globalisierung erfahren haben, auf einer kollektiv-psychologischen Ebene kompensieren. Die Brexit-Bewegung weist damit die typischen Merkmale rechtspopulistischer, fremden- und demokratiefeindlicher Bewegungen auf, wie sie momentan in vielen Ländern auftreten. Im dritten Kapitel »Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise« beschäftige ich mich mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das psychosoziale Befinden von Kindern, Jugendlichen und Familien und auf das gesamtgesellschaftliche Klima. Wie zahlreiche Studien zeigen, haben Ängste während der Pandemie signifikant zugenommen. Klinische Erfahrungen legen wiederum nahe, dass angstneurotische, paranoide und hysterische Familientypen besonders heftig auf die Pandemie reagieren und zu typischen Verarbeitungsmustern neigen. Zur Gefährdung durch das Virus und den Folgen der Kontaktbeschränkungen kam als dritter sozialpsychologischer Belastungsfaktor die Querdenken-Bewegung hinzu, die durch Misstrauen, Empörung, Verschwörungstheorien und Impfgegnerschaft geprägt ist und zu einer affektiv aufgeheizten öffentlichen Auseinandersetzung geführt hat. Die beziehungsdynamischen und sozialpsychologischen Hintergründe dieser Phänomene werden auf der Grundlage empirischer Studien und anhand von drei Selbstinszenierungen von Teilnehmer*innen von AntiCorona-Demonstrationen genauer analysiert. Im vierten Kapitel »Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz« geht es um die grundlegenden psychologischen, gesellschaftlichen und anthropologischen Faktoren für das »radikal Böse«. Wie werden aus normalen jungen Männern Massenmörder? In der Genozid-Forschung stehen sich zwei Erklärungsansätze diametral gegenüber: Während der eine von Hannah Arendts Diktum der »Banalität des Bösen« (1986 [1964]) ausgeht und in den Handlungen der brutalsten Massenmörder nur das Verhalten von »ganz normalen Menschen« (Welzer, 2005) sieht, die sich konform zur herrschenden Tötungsmoral verhielten, führt der entgegengesetzte, psychoanalytisch fundierte Ansatz die gleichen Handlungen auf einen »bösartigen Narzissmus« (Kernberg, 1985) zurück. Ich diskutiere beide Theorien als relevante Erklärungsansätze und unternehme den Versuch, sie in einer sozialpsychoanalytischen Theorie kollektiver Identitäten und kollektiver Traumata zu integrieren. Im fünften Kapitel »Von der ›Unfähigkeit zu trauern‹ bis zur ›Willkommenskultur‹  – zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepu19

Einleitung

blik« widme ich mich dem jahrzehntelangen Prozess der kollektiven Auseinandersetzung Deutschlands mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Ich glaube zeigen zu können, dass diese Auseinandersetzung tatsächlich einen erheblichen Beitrag zur Demokratie in Deutschland geleistet und dazu geführt hat, dass eine gewisse Resilienz gegenüber rechtspopulistischen Versuchungen entstanden ist. Dafür spricht jedenfalls die Tatsache, dass die rechtpopulistischen Bewegungen und Parteien im europäischen Vergleich in der Bundesrepublik nicht so viel politischen Einfluss gewinnen konnten wie in den meisten unserer Nachbarländer. Es geht keineswegs darum, aus der relativ gelungenen Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland einen neuen Nationalstolz abzuleiten. Das wäre auch insofern gänzlich verfehlt, als dieser Prozess ja keineswegs zufriedenstellend abgeschlossen ist. Die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit ist ein unabgeschlossener und wohl auch prinzipiell unabschließbarer Prozess der gesellschaftlichen Selbstreflexion. Aber man kann doch konstatieren, dass die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der nationalen Vergangenheit des eigenen Volkes die Grundlage dafür geschaffen hat, dass alle etablierten und staatstragenden Parteien der Bundesrepublik den Rechtspopulismus inzwischen einhellig ablehnen und nicht nur bei der AfD, sondern auch in den eigenen Reihen bekämpfen. Im sechsten Kapitel »AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder« beschäftige ich mich mit der Wähler- und Anhängerschaft dieser beiden Parteien und mit den sozialen Milieus, den psychosozialen Leitbildern und den psychokulturellen Wertvorstellungen, die sie repräsentieren. Ich greife dazu auf empirische Erhebungen, insbesondere die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 (Decker, Brähler, 2018; Heller, Decker & Brähler, 2020), deren Daten ich verwenden durfte, zurück. Es zeigt sich in den Daten deutlich, dass sich die Wertorientierungen, Welt- und Menschenbilder des Rechtspopulismus und die der Grünen an entgegengesetzten Polen des Wertespektrums befinden. Die grundlegenden Kontroversen, die sich auf den Wertewandel beziehen, sind heute noch die gleichen wie im Jahr 1962, als die Rolling Stones ihre ersten Konzerte gaben. Im siebten Kapitel »Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit« formuliere ich einen »positiven« Gegenentwurf zum heroischen Menschenbild des Rechtspopulismus. Vulnerabilität ist eine biologische Tatsache, die alles Lebendige auszeichnet, beim Homo sapiens aber besonders ausgeprägt ist. Sie ist biologisch begründet in der physiologischen Frühgeburtlichkeit und der nackten Haut des Menschen. Seine körperliche, psychische, soziale und 20

Gefühle machen Politik

kulturelle Vulnerabilität macht den Menschen anfällig für Traumatisierungen, eröffnet jedoch zugleich die Chance auf eine erhöhte Sensibilität für Sinneseindrücke aller Art, zwischenmenschliche Beziehungen und innerpsychische Prozesse. Heroische Menschenbilder hingegen verleugnen die anthropologische Tatsache der Verletzlichkeit, der Leidensfähigkeit und des Bewusstseins der Sterblichkeit. Dieses Kapitel war ursprünglich als Schlusskapitel konzipiert, in dem sozusagen ein zukunftsweisender und hoffnungsvoller Schlussakkord angestimmt wird. Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine hat ein weiteres Kapitel notwendig gemacht. Das achte Kapitel »Zeitenwende« versucht eine erste Orientierung über die Frage, was die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte »Zeitenwende«, die ohne Zweifel mit Wladimir Putins verbrecherischem Krieg angebrochen ist, psychologisch, gesellschaftlich und politisch bedeutet. Zugleich stellt sich mit Putins Krieg aber auch die Frage, ob die in diesem Buch entwickelten Thesen, Erklärungen und Interpretationen nun in einem neuen Licht erscheinen oder gar revidiert werden müssen. Naturgemäß ist es schwer, historische Ereignisse, die lange gehegte Überzeugungen erschüttern, zu einem Zeitpunkt zu analysieren, an dem man noch mittendrin steckt. Politische Entscheidungen dulden aber keinen Aufschub, sondern müssen im laufenden Prozess gefällt und umgesetzt werden. Auch wissenschaftliche Überlegungen sollten nicht in vornehmer Zurückhaltung aufgeschoben werden, bis man sie aus der sicheren zeitlichen Distanz anstellt, vorausgesetzt man möchte, dass sie in den gesellschaftlichen und politischen Diskussionsprozess Eingang finden. Das war in der CoronaPandemie so und trifft auch für den Ukraine-Krieg zu. Ich bin mir bewusst, dass sie vorläufig bleiben müssen.

Gefühle machen Politik Gefühle haben einen großen Einfluss auf unser Handeln. Sie dienen als Motivationskraft und stiften in kollektiv geteilter Form Beziehung und Nähe zu anderen Menschen oder dienen der Abgrenzung von feindlichen Gruppen. Gefühle haben die Aufgabe, zu erkennen, was auf uns einwirkt, auszudrücken, was wir empfinden, und zu bewerten, was wir erkannt haben. In der Politik und anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen spielen Gefühle deshalb eine zentrale Rolle: Der affektive Furor, den der Popu21

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lismus entfacht, bündelt Gefühle von ohnmächtiger Wut, blindem Hass, Neid, Verbitterung und Rachewünschen zu Ressentiments, die das soziale Zusammenleben vergiften. Gefühle, die an der menschlichen Verletzbarkeit anknüpfen, wie etwa Besorgnis, Trauer, Mitleid, Empathie und Hoffnung, eröffnen hingegen die Chance auf alternative Perspektiven. In diesem Buch versuche ich am Beispiel aktueller politischer Auseinandersetzungen zu ergründen, wie Gefühle politisches Handeln beeinflussen, und wie mit Gefühlen Politik gemacht wird. Dazu noch einige grundsätzliche Bemerkungen. Die Differenziertheit und Komplexität der inneren Gefühlswelt ist ein charakteristisches Grundmerkmal der menschlichen Spezies. Gefühle sind – neben den kognitiven Fähigkeiten – der neurobiologische Ersatz für die Instinkte bzw. deren Ergänzung. Sie ermöglichen die Orientierung in der mitmenschlichen und kulturellen Umwelt, die sich der Mensch selbst immer wieder neu erschaffen muss. Der Mensch teilt seine Gefühle dem anderen mit, vor allem durch die Mimik, aber auch durch Gestik, Körperhaltung, Tönung und Lautstärke der Stimme sowie viele weitere nonverbale Signale und schließlich auch über die Sprache. Im Laufe der Evolution hat der Mensch ein spezielles Sensorium, ein sehr feines Gespür für die Emotionen anderer Menschen entwickelt – und zwar, indem er seine eigenen Gefühlsreaktionen registriert. Dies geschieht zum allergrößten Teil unbewusst. Die Psychoanalyse hat dafür den Begriff der Gegenübertragung geprägt, aber dieses Phänomen spielt nicht nur in therapeutischen Zusammenhängen, in denen es entdeckt wurde, eine Rolle, sondern ist ein zentraler Steuerungsmechanismus in unser aller Leben. Der Mensch registriert nicht nur seine eigenen Gefühle, sondern er beobachtet auch das Verhalten, die Mimik und den sonstigen Ausdruck seiner Mitmenschen. Er versucht fortlaufend, sich eine Vorstellung davon zu machen, was der andere fühlt, denkt, weiß und wünscht und was er dementsprechend als nächstes tun wird. Diese Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen und seine Emotionen zu lesen, haben Peter Fonagy und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den letzten Jahrzehnten unter dem Begriff der Mentalisierung genauer untersucht (Fonagy et al., 2004; Bateman & Fonagy, 2015a). Mit »mentalisieren« ist gemeint, dass man eigene Vorstellungen davon bildet, durch welche Gefühle, Einstellungen, Wünsche und Überzeugungen das Verhalten des anderen motiviert ist. Diese einzigartige Fähigkeit, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen, hineinzuden22

Gefühle machen Politik

ken und einzufühlen, eröffnet dem Individuum eine innere Welt, in der die äußere Welt der sozialen Beziehungen und die psychische Welt der Mitmenschen repräsentiert ist. Wenn ich mentalisieren kann, muss ich das Verhalten eines anderen Menschen nicht mehr für bare Münze nehmen, sondern die Bedeutung dessen, was der andere sagt und tut, muss von mir interpretiert werden und erschließt sich mir erst, indem ich mich in ihn hineinversetze, um seine Motive zu ergründen. Die Beziehung zum anderen wird dadurch vielgestaltiger, differenzierter und einfühlsamer – und führt nicht zur sofortigen platten Reaktion, sondern eher zu Nachfragen, ob ich mit meinen Vermutungen den anderen auch richtig verstanden habe. Mentalisieren fördert also den kommunikativen Austausch mit anderen, verringert Missverständnisse und eröffnet Konfliktlösungen durch Verständnis und Verständigung. Dass Empathie auch dazu genutzt werden kann, den anderen für eigennützige Interessen zu instrumentalisieren, ist nur eine weitere Facette der anthropologisch gegebenen Einfühlungsfähigkeit  – dies sind die »dunklen Seiten der Empathie« (Breithaupt, 2017). »Empathie beinhaltet zum einen die Fähigkeit, die Gefühle, Gedanken und Absichten eines Mitmenschen zu erkennen« (Roth & Strüber, 2012, S. 15), eine Fähigkeit, die »Theory of Mind« (»Theorie des Geistes«) genannt wird. Zum anderen ist damit »die Fähigkeit zum ›Mitleiden‹, die emotionale Empathie« (ebd.) gemeint. Die Fähigkeit, die Gefühle, Gedanken und Absichten eines Mitmenschen zu erkennen, kann durchaus vorhanden sein, ohne dass die Fähigkeit zum Mitleiden bestünde. »Psychopathen können beispielsweise hervorragend die Gedanken, Wünsche und Ängste ihrer Mitmenschen lesen und für sich nutzen, gehen dabei aber mitleidlos vor […]. Die letztere Fähigkeit ergibt sich jedoch nicht ohne die erstere, denn wer die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Mitmenschen nicht erkennen kann, ist nicht fähig, empathisch auf Zeichen des Leidens und der Not bei ihnen zu reagieren« (ebd.).

Parallel zur mentalisierenden Einfühlung in die Seele anderer entwickelt sich auch die Fähigkeit, die eigenen inneren Gefühle, Affekte und Impulse zu mentalisieren. Das wiederum eröffnet die Chance, die eigenen Gefühlszustände zu modellieren und zu regulieren. Wer seine Affekte mentalisiert, ist ihnen nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert und muss sie nicht eins zu eins in reales Handeln umsetzen. Unsere eigenen Gefühle haben dabei zwei Aufgaben: Zum einen teilen 23

Einleitung

wir dem anderen mithilfe unserer Mimik und all den anderen nonverbalen und verbalen Signalen mit, was uns innerlich bewegt – das ist die Ausdrucksfunktion der Gefühle –, zum anderen können wir mithilfe unserer Gefühle aber auch erfassen, was den Mitmenschen innerlich beschäftigt – das ist die Wahrnehmungs- oder Erkenntnisfunktion unserer Gefühle. Psychosoziale Entwicklungsprozesse, Erziehung und Sozialisation bestehen in einem beträchtlichen Ausmaß im Erwerb der Fähigkeit, Affekte zu regulieren und Gefühle zu mentalisieren – sowohl die eigenen als auch die Gefühle von anderen. Folgt man dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio, dann entfalten die Gefühle ihre »vollständige und andauernde Wirkung« (2000, S. 50) erst, wenn sie bewusst gemacht sind, wenn wir nicht nur Gefühle haben, sondern auch wissen, dass wir sie haben und was sie ausdrücken und bedeuten: »Das Bewusstsein macht Gefühle der Erkenntnis zugänglich und unterstützt damit die innere Wirkung von Emotionen. Es versetzt diese in die Lage, den Denkprozess durch Vermittlung des Fühlens zu durchdringen« (ebd., S. 74). Da Emotionen »untrennbar verbunden [sind] mit der Idee von Gut und Böse« (ebd., S. 72), besteht eine ihrer wesentlichen Funktionen darin, Bewertungen nach moralischen Kriterien vorzunehmen. Demnach basiert das moralische Bewusstsein, über das nur der Mensch verfügt, nicht ausschließlich auf dem Verstand, sondern fundamental auf Gefühlen. Gefühle sind unser ständiger Begleiter. Mehr oder weniger alle Objekte und sozialen Situationen in unserer Umgebung lösen mehr oder weniger starke Emotionen in uns aus. Wir können gar nicht anders, als emotional zu reagieren. Da wir unserer Körperlichkeit nicht entfliehen können und deren Signale unsere emotionale Gestimmtheit unablässig beeinflusst, sind wir auch unseren Emotionen mehr oder weniger passiv ausgeliefert, insbesondere denen, die nicht ins Bewusstsein dringen. Der Philosoph Helmuth Plessner hat eine Unterscheidung zwischen Körperhaben und Leibsein (1970, S. 43), getroffen, die sich unmittelbar auf die Gefühle übertragen lässt. Der Mensch hat einen Körper, indem er ihn beherrscht, gebraucht, inszeniert und instrumentell einsetzt. Man kann aber auch sagen: Der Mensch hat Emotionen, die er beherrschen, gebrauchen, inszenieren und instrumentell einsetzen kann. Jedoch zugleich – und genau genommen primär – ist der Mensch ein Universum von Gefühlen, denen er nicht entfliehen kann. Gefühlen kommt ein Widerfahrnis-Charakter zu. Wir müssen sie in der Regel erst erfahren und wahrgenommen haben, um sie dann verarbeiten und beeinflussen zu können. Und wenn 24

Gefühle machen Politik

Sigmund Freud formulierte »Das Ich ist vor allem ein körperliches« (1923b, S. 253), könnte man auch sagen: »Das Ich ist vor allem ein emotionales.« Wenn ich mich in diesem Buch vorwiegend  – wenn auch nicht ausschließlich – mit negativen Gefühlen beschäftige, gilt es zuvor, ein mögliches Missverständnis ausräumen: Negative bzw. averse Gefühle sind nicht per se schlecht oder böse, genauso wenig wie positive Gefühle an sich immer gut sind. Der Mensch ist aufgrund seiner extremen Abhängigkeit von der Nähe, Anerkennung, Liebe und Zuwendung anderer Menschen, die besonders in den ersten Phasen seines Lebens ins Auge fällt, aber im Grunde das ganze Leben lang andauert, auf positive Gefühle zu anderen Menschen existenziell angewiesen. Positive Gefühle wie Liebe, Mitgefühl, Achtung und Anerkennung dienen der Aufrechterhaltung und Regulierung von Kontakt, Nähe und Kommunikation sowie dem Selbstwertgefühl und der Identität. Averse Gefühle dienen hingegen der Abgrenzung gegen Übergriffigkeit, Vereinnahmung, Dominanz und Instrumentalisierung. Sie beziehen sich also eher auf konfliktträchtige oder gefährliche Situationen. Zur Wahrung unserer Außengrenzen, unserer Souveränität, unserer Unversehrtheit und unserer Identität sind sie aber enorm wichtig. Es gilt also, auch die negativen Gefühle – bei uns selbst und bei anderen – wahrzunehmen, ernstzunehmen, sie aber auch zu mentalisieren, zu regulieren und zu reflektieren und dann die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. In der philosophischen Diskussion über die Bedeutung von Gefühlen wurde seit Aristoteles immer wieder die Position vertreten, dass averse Gefühle wie beispielsweise Neid, Eifersucht, Hochmut, Geiz und Gier schädlich und ethisch verwerflich seien. Die christliche Tugendlehre hat sie gar zu Todsünden erklärt. Die Psychoanalyse kann eine wichtige Differenzierung zu dieser Diskussion beitragen: Sie unterscheidet zwischen »reinen Gefühlen« auf der einen und ihrer mentalisierenden inneren Bearbeitung und den darauffolgenden Handlungen auf der anderen Seite. Gefühle werden unwillkürlich von unserer Psyche generiert, ohne dass unser Wille und unser Bewusstsein darauf Einfluss hätten. Gefühle können und sollten keinen moralischen Kategorien unterworfen werden. Sie sind Signale, die etwas darüber aussagen, wie wir uns selbst und die anderen wahrnehmen. Insofern sollten sie nicht verdrängt, sondern ernstgenommen werden. Anders verhält es sich mit den möglichen Auswirkungen, die unsere Gefühle auf unser Denken und Handeln haben. Unsere Handlungen und unser Denken unterliegen potentiell unserem Bewusstsein und unserer 25

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willkürlichen Kontrolle. Sie können und sollten deshalb auch ethischen Kriterien genügen. Ihre materielle Basis haben Gefühle in der Psyche des Individuums. Gefühle können aber mit anderen geteilt werden, sodass eine mehr oder weniger große Gruppe von Menschen in den gleichen Gefühlszustand gerät, sei es bei einem Fußballspiel, einem Konzert oder in einer sozialen Bewegung. Aber nicht nur bei außergewöhnlichen und aufregenden Situationen, sondern auch bei ganz alltäglichen sozialen Begegnungen stellen sich kollektiv geteilte Gefühle, Stimmungen oder Atmosphären ein, die man beispielsweise als angespannt, gelöst, heiter, bedrückt, ausgelassen, ängstlich usw. charakterisieren kann. In der Philosophie und den Sozialwissenschaften finden solche kollektiv geteilten Gefühlszustände unter dem Stichwort »Atmosphären« zunehmend Beachtung (Böhme, 2013; Schmitz, 2014; Bude, 2016). In der Psychotherapie wird die gezielte Mentalisierung der Gefühle immer stärker als zentrales Agens des therapeutischen Prozesses betrachtet (Plassmann, 2019; Sulz, 2021). Da Gefühle dazu dienen, Beziehung und Nähe zu anderen Menschen herzustellen oder auch begrenzend zu regulieren, ist es nicht verwunderlich, dass Gefühle gleichsam ansteckend sind. Auch können »Gefühlserbschaften« transgenerational weitergegeben werden (Lohl & Moré, 2014). Im ersten Kapitel werden einige der aversen Gefühle in ihrer Funktionsweise explizit dargestellt und daraufhin betrachtet, welche Bedeutung ihnen in kollektiven gesellschaftlichen Prozessen zukommt. Aber auch in den weiteren Überlegungen dieses Buches spielen die Gefühle, ihr Einfluss auf politische Einstellungen, ihr instrumenteller Einsatz zur Beeinflussung politischer Stimmungen, ihre Fähigkeit, kulturelle Bedeutungen zu erkennen, und ihre Fähigkeit, gesellschaftliche Prozesse zu bewerten, eine zentrale Rolle. Hans-Jürgen Wirth, Gießen, im Juli 2022

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1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

Ist der Populismus ein neues Phänomen? Es ist umstritten, ob es sich bei den sozialen Bewegungen und neuen Parteien, die unter dem Etikett des Populismus eingeordnet werden, um ein qualitativ neues Phänomen handelt, das deshalb auch eine neue Bezeichnung verdient und neue Erklärungsansätze erfordert, oder ob es sich im Grunde um eine Fortsetzung oder Neuauflage lange bekannter rechtsradikaler oder rechtsextremer Einstellungen handelt. Zunächst ist bemerkenswert, dass der Populismus etwa zur gleichen Zeit in ganz unterschiedlichen Staaten aufgetreten ist. Es macht einen Unterschied vor allem hinsichtlich der Aushöhlung demokratischer Strukturen und Institutionen, ob eine populistische Bewegung »von unten« entstanden ist, wie beispielsweise in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden, oder ob sie »von oben« initiiert, also von einem politischen Machthaber stimuliert oder gar allererst ins Leben gerufen wurde, um die eigene Machtposition zu stärken, wie bei Viktor Orbán, Wladimir Putin, Jaroslaw Kaczyński und Recep Tayyip Erdoğan, oder ob die Entfachung einer populistischen Bewegung von einer politischen Zentralfigur auf dem Weg zur Macht gezielt eingesetzt wurde, wie bei Donald Trump, oder bei der Durchsetzung politischer Ziele diente, wie beim Brexit. Trotz aller Unterschiede gibt es charakteristische Gemeinsamkeiten des Populismus in den verschiedenen Ländern (Lohl, Brunner & Wirth, 2019). Gemeinsam ist etwa der Hass auf die »Eliten«, denen das »wahre Volk« entgegengesetzt wird. Wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller (2016, S. 42) ausführt, vertreten Populisten eine Vorstellung von Politik, nach der »einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese 27

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

Art von Eliten eigentlich gar nicht zum Volk gehören«. Zudem proklamieren sie einen »moralisch-politischen Alleinvertretungsanspruch« (ebd.), der besagt: Nur wir vertreten das wahre Volk. »Populismus ist also nicht nur anti-elitär, er ist auch anti-pluralistisch« (ebd., S.  44). Populist*innen richten sich aber nicht nur gegen Pluralismus und Eliten, sondern auch gegen die gesellschaftlichen, demokratisch legitimierten Institutionen, denen sie die Legitimität absprechen, sofern sie der Durchsetzung des »wahren Volkswillens« entgegenstehen. Dieser anti-institutionelle Impuls soll – anders als der von Rudi Dutschke und der 68erBewegung proklamierte »lange Marsch durch die Institutionen« – diese nicht verändern, sondern aushöhlen, delegitimieren und letztlich zerstören. Zudem neigen Populisten und Populistinnen zu einer ausgeprägten »Verschwörungsmentalität« (Imhoff & Decker, 2013, S. 123), sind also von Misstrauen und paranoid gefärbten Vorstellungen gesteuert (Heim, 2019). Neben diesen und weiteren ideologisch-politischen Merkmalen zeichnet sich der Populismus durch eine besondere Eigenschaft aus, die in den einschlägigen Analysen meist unterbewertet wird: Die Rede ist von der enormen affektiven Erregung, mit der populistische Akteure ihre Anliegen vortragen. Der affektive Furor aus Verbitterung, Ressentiments, Wut, Hass, Neid, Ekel, Scham und Beschämung, Sarkasmus, Verfolgungsgefühlen, moralischer Empörung, Rachegelüsten und Einfühlungsverweigerung ist das eigentliche motivationale Ferment, das die populistischen Bewegungen antreibt und zusammenhält. Sicherlich spielen Gefühle für alles menschliche Handeln eine zentrale Rolle, aber in politischen Bewegungen kommt ihnen eine besondere Bedeutung als Motiv zur gemeinsamen Aktion zu. Denn gesellschaftliche Missstände führen nicht automatisch dazu, dass Menschen sich zusammenschließen und eine politische Bewegung gründen (Koppetsch, 2018, S. 3). Es bedarf bestimmter Umstände, damit sich bei einer genügend großen Zahl von Menschen zur gleichen Zeit die gleiche heftige Leidenschaft entwickelt, die viele Einzelne antreibt, eine Bewegung zu initiieren oder eine Partei zu gründen (ebd.). Nur leidenschaftliche Gefühle, nur »gemeinsam geteilte Emotionen« (ebd.) bewegen uns innerlich so stark, dass wir uns auch äußerlich in Bewegung setzen und uns mit anderen zu einer politischen Bewegung, einer Protestaktion oder der Gründung einer politischen Partei zusammenschließen (ebd.). Dies gilt nicht nur für Populisten und Populistinnen, sondern für jedwede politische Bewegung. 28

Ist der Populismus ein neues Phänomen?

Auch die Jugend-, Studenten- (und Studentinnen-) und Emanzipationsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre und die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er bis 1990er Jahre waren von starken Emotionen geprägt und motiviert (Wirth, 1984). Die AktivistInnen der damaligen Zeit waren angetrieben von Leitmotiven, die man als »positiv« und »lebensbejahend« bezeichnen kann: Hoffnungen auf Befreiung von Zwang, freudige Erwartung, Lust auf Befriedigung sexueller und sonstiger Bedürfnisse, Neugier auf das Ausleben von Freiheiten und neue Erfahrungen, Experimentierfreude, Spaß an Witz, Humor und Komik, Glücksgefühle beim Erleben von Körperlichkeit, Musik und Tanz, Mitgefühl sowie Leidensfähigkeit. Bereits in den 1970er Jahren hat der US-amerikanische Sozialpsychologe Ronald Inglehart (1977) von »post-materialistischen Wertorientierungen« und Horst-Eberhard Richter (1998 [1974], S. 236) von »antiexpansionistischen Leitmotiven« gesprochen. Die neue Klimabewegung steht ganz in dieser Tradition. Die enorme internationale Resonanz, die Greta Thunberg und die Klimabewegung gefunden haben, zeigt, dass der wind of change nicht einseitig nach rechts weht, sondern dass die gegenwärtige Situation durch eine extreme Polarisierung gekennzeichnet ist, die in gegensätzlichen Wertorientierungen und ebenso gegensätzlichen affektiven Gestimmtheiten zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz dazu sind die gegenwärtigen populistischen Bewegungen von emotionalen Leitmotiven geprägt, die man als »negativ«, »avers« und dem Anderen »feindlich gesonnen« bezeichnen kann: Wut, Hass, Rachsucht, Empörung, Ekel, Neid, Eifersucht, Angst, Ressentiments, Verbitterung, Sarkasmus, Zynismus, Destruktivität, Empathie-Verweigerung und Feindseligkeit gehören zu den charakteristischen Affekten. Die Psychoanalytikerin Karin Zienert-Eilts (2018) spricht von einem »destruktiven Populismus«, der durch »Polarisierungs-, Entdifferenzierungs- und Fragmentierungsprozesse« (ebd., S.  183) gekennzeichnet sei. Eine mehr oder weniger allgemein anerkannte Theorie des Populismus hat sich noch nicht etabliert. Vielmehr bestehen verschiedene, sich teils widersprechende, teils aber auch ergänzende Annäherungsversuche. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, eine kleine Auswahl von Erklärungsansätzen zu diskutieren, um anschließend einige der zentralen Affekte bzw. Affektkonglomerate genauer zu untersuchen. Anhand von Fallbeispielen werden diese erläutert. 29

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

Spannung zwischen Zentrum und Peripherie Der weltweite Prozess zunehmender Urbanisierung schreitet auch in Deutschland unvermindert voran. Vor allem die ländlichen Gebiete in den neuen Bundesländern bluten aus, während in den beliebtesten Städten der Wohnraum immer knapper wird. Zwar hat sich die Dichotomie zwischen Dorf und Stadt in den hochentwickelten Ländern in gewisser Hinsicht abgeschwächt, weil sich die städtisch-industriellen Lebens-, Wirtschafts- und Wohnformen, von den Städten ausgehend, mehr und mehr auch auf dem Land durchgesetzt haben (Bär, 2011); doch haben gerade die populistischen Bewegungen darauf aufmerksam gemacht, wie gravierend die ökonomischen, infrastrukturellen und kulturellen Unterschiede zwischen Stadt und Land nach wie vor sind. So schnitt Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl  2016 in den Staaten des »Rust Belt«, der früher das Herz der amerikanischen Schwerindustrie darstellte, wo inzwischen aber viele Industriearbeiter ihre Stellen verloren haben, besser ab als frühere republikanische Präsidentschaftskandidaten, und vor allem besser als die Demokraten. Insbesondere die dort ansässigen älteren, weißen Männer mit niedrigem Bildungsgrad haben Trump dort zum Wahlsieg verholfen. Beim Brexit war ein ähnliches Phänomen zu beobachten: Besonders die Landbevölkerung votierte mehrheitlich für den Brexit, während man sich in der Metropole London mit der EU verbunden fühlte. Diese gesellschaftliche Spaltung in eine wirtschaftlich prosperierende Finanzmetropole und eine Landbevölkerung, die sich abgehängt fühlt, findet ihren psychologischen Ausdruck im antieuropäischen Ressentiment. Wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2016) in seiner Studie »Im Osten auf Wanderschaft« feststellt, haben die neuen Bundesländer seit dem Mauerfall einen einschneidenden demografischen und strukturellen Wandel durchgemacht. Es hat eine »Nettoabwanderung von 1,8 Millionen überwiegend jungen, qualifizierten Menschen« (ebd., S. 4) stattgefunden, die zusammen mit dem »Geburteneinbruch in der Nachwendezeit« (ebd.) ihre »Spuren in der regionalen Bevölkerungsentwicklung hinterlassen« (ebd.) hat. »Tausende von Unternehmen mussten schließen. Einzelne strukturschwache Regionen haben seither bis zu 40 Prozent ihrer Einwohnerschaft verloren« (ebd.). In den ostdeutschen Städten ist als Folge einer erfolgreichen Städtebauförderung zwar inzwischen wieder ein Zuzug zu verzeichnen, doch die große Mehrheit der länd30

Spannung zwischen Zentrum und Peripherie

lichen Gemeinden hat in gravierendem Ausmaß Bewohner*innen verloren – mit dramatischen Folgen für die Infrastruktur. Bei der Bundestagswahl am 24. September 2017 wurde die AfD mit 12,6 Prozent der Zweitstimmen drittstärkste Kraft im Deutschen Bundestag. Sie ist zudem in allen deutschen Landtagen vertreten. In den neuen Bundesländern, speziell in den ländlich strukturierten Regionen, hat sie die besten Ergebnisse erzielt. »Diese Beobachtung lässt die Vermutung zu, dass die demografische Entwicklung in den weniger verdichteten Räumen auch ein Gefühl der Perspektivlosigkeit mit sich bringt, wodurch Vertrauen in etablierte Parteien zu erodieren droht« (Franz, Fratzscher & Kritikos, 2018, S. 136).

Die »Leipziger Mitte-Studien«, die bereits seit dem Jahr 2000 (Decker & Brähler, 2000) alle zwei Jahre durchgeführt werden, finden seit 2018 (Decker & Brähler, 2018) unter dem Namen »Leipziger AutoritarismusStudie« ihre Fortsetzung. Sie widmen sich insbesondere der Fragestellung, durch welche psychologischen und sozialpsychologischen Merkmale sich die rechtsextremen und autoritären Einstellungen in Deutschland auszeichnen. Die Studie von 2018 kam zu dem Ergebnis, dass rechtsextreme und populistische Einstellungen hauptsächlich durch die Merkmale Autoritarismus, Verschwörungsmentalität, das Gefühl mangelnder Anerkennung als Bürgerin oder Bürger, verweigerte Anerkennung als Kind durch die Eltern und misstrauische Grundhaltung charakterisiert sind (Decker, Yendell & Brähler, 2018, S. 173). »In den neuen Bundesländern sind die autoritären Reaktionen besonders massiv; auch der Wunsch nach einer autoritären Führung ist im Osten offenbar immer drängender geworden« (Decker, Schuler & Brähler, 2018, S. 151). Eine weitere Untersuchung wählt einen interessanten Ansatz, indem sie nicht Einstellungen, sondern rechtsextreme Gewalttaten zum Untersuchungsgegenstand macht (Entorf & Lange, 2019). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Gefahr für Asylsuchende, Opfer von Hasskriminalität zu werden, in Ostdeutschland zehnmal höher ist als in Westdeutschland, obwohl der Anteil von Ausländerinnen und Ausländern an der Bevölkerung in den neuen Bundesländern deutlich geringer ist als im Westen. Zudem komme es zu mehr Hasskriminalität in solchen Gegenden, in denen es schon in der direkten Nachwendezeit häufig zu Übergriffen auf AusländerInnen kam. Die Studie basiert auf allen polizeilich registrierten 31

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

Vorfällen von Hasskriminalität gegen Asylbewerberunterkünfte und ihre Bewohner und Bewohnerinnen für die Jahre 2013 bis 2015. Eine europaweite Studie zu den Hintergründen populistischer Bewegungen hat Andrés Rodríguez-Pose, Professor für Wirtschaftsgeografie an der London School of Economics and Political Science, vorgelegt. Er stellt die empirisch fundierte These auf, dass in den geografischen Orten, die einen wirtschaftlichen Niedergang durchgemacht haben und keinerlei Aussichten besitzen, dass sich das in Zukunft wieder ändern könnte, besonders häufig populistische Parteien gewählt werden. Es handele sich um einen »Racheakt der Orte, um die sich keiner kümmert« (RodríguezPose, 2018, S. 189). Schlechte Entwicklungsaussichten und ein zunehmender Glaube, dass diese Orte »keine Zukunft« (ebd., S. 196) haben, habe viele dieser »Orte, die keine Rolle spielen« (ebd., S. 189), dazu gebracht, gegen die sogenannten »Eliten« zu »revoltieren« (ebd., S.  190). Ausdrücklich betont er, dass es nicht notwendigerweise die ärmsten Regionen seien, in denen die populistische Bewegung den größten Widerhall findet, sondern die Gegenden, die ihrer früheren hohen Bedeutung »nachtrauern«, wie Andreas Ross (2019, S. 8) in einem Kommentar zu dieser Studie formuliert. Ross erwähnt nebenbei auch den Begriff der Verbitterung, ohne jedoch seiner Bedeutung nachzugehen. Bemerkenswert an dieser These ist, dass nicht nur die ökonomische Benachteiligung an sich als ein wesentlicher Faktor angesehen wird, sondern das psychologische Moment hinzukommen muss, dass man einen schmerzlichen Abstieg von einstiger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und damit verbunden auch einen kränkenden Verlust an kultureller Bedeutung und kollektivem sowie individuellem Selbstwertgefühl hinnehmen musste. Doch obwohl Rodríguez-Pose den psychologischen Begriff der Rache im Titel seines Artikels verwendet und ihn auch in seinem Text mehrfach plakativ platziert, wird die psychologische Dimension des Rachemotivs nicht näher ausgeführt. Wie eine Untersuchung aus dem Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) herausfand, sind »Menschen, die ihre eigene gesellschaftliche Gruppe als benachteiligt wahrnehmen,  […] unzufriedener mit der Demokratie als andere, sehen in Migrantinnen und Migranten tendenziell eine Bedrohung und würden eher die AfD wählen« (Bollwerk et al., 2020a, S. 1). Die Autoren fahren fort: »Unsere Analysen zeigen, dass sich insbesondere ältere Menschen mit einem niedrigeren Bildungsgrad in ländlicheren Regionen 32

Die Autoritäre Persönlichkeit

benachteiligt fühlen und das Gefühl haben, der Gesellschaft seien Leute wie sie egal« (ebd.). Das Ergebnis dieser Studie, die auf Interviews mit Vereinen sowie zwei großen Online-Befragungen beruht, lässt sich auf die Formel bringen: Wer sich benachteiligt fühlt, wählt eher AfD (Bollwerk et al., 2020b, S. 1).

Die Autoritäre Persönlichkeit Das Konzept des »Autoritären Charakters« oder der »Autoritären Persönlichkeit« findet einen theoretischen Vorläufer in Wilhelm Reichs Buch Charakteranalyse (1933a), in dem er den Charakterbegriff insbesondere an den Beispielen des Zwangs-, des phallisch-narzisstischen und des masochistischen Charakters herausarbeitet. Die erste differenzierte Analyse des »Autoritären Charakters« nahm Erich Fromm (1936) in seinen sozialpsychologischen »Studien über Autorität und Familie« vor, in denen er den »autoritär-masochistischen Charakter« psychoanalytisch aufschlüsselt und zur Familienstruktur und den gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung setzt. Beide Theoretiker verstanden sich zugleich als Marxisten und Psychoanalytiker und hatten von Anfang an das Ziel, mit ihrem Konzept der Charakterneurose – heute würden wir von »Persönlichkeitsstörung« sprechen – eine Verbindung zwischen innerpsychischen und gesellschaftlichen Fragestellungen herzustellen. Kurz gesagt, ging es ihnen darum, »den Erfolg des Faschismus in Deutschland zu erklären« (Lederer, 1995, S. 33). Als eigentlicher Erfinder des Konzepts des »Autoritären Charakters« wird häufig Theodor W. Adorno angesehen, der mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den 1950er Jahren (Adorno et al., 1950) den Begriff populär machte und eine unübersehbare Fülle von Folgepublikationen auslöste, die bis heute andauern. Sie finden beispielsweise in den Studien von Wilhelm Heitmeyer (2002–2018) über die Deutschen Zustände (Folge 1–10) und über die »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« sowie in den »Leipziger Mitte-Studien« (seit 2018 »Leipziger Autoritarismus-Studien«) von Oliver Decker und Elmar Brähler, Anwendung. In all diesen Untersuchungen wurde immer wieder nachgewiesen, dass stark konservative, rechtsgerichtete, antisemitische, fremdenfeindliche, faschistische, rechtsextremistische und neuerdings auch populistische politische Auffassungen und Haltungen mit einer Kombination von Persönlichkeitseigenschaften eng verbunden sind, die als »Autoritarismus« bezeichnet wird. 33

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

Personen mit einer Autoritären Persönlichkeit oder einem Autoritären Charakter zeichnen sich durch extrem dominantes Verhalten, das gleichzeitig mit einer Bereitschaft zur Unterwerfung unter Ranghöhere verbunden ist, aus. Sie orientieren sich an starken Vaterfiguren, sind konventionellen moralischen Vorstellungen und Lebensauffassungen verpflichtet und neigen dazu, Fremde und Fremdes als bedrohlich zu empfinden. Damit hängt eine Neigung zur Projektion und zu paranoiden Vorstellungen zusammen. Autoritäre sind selbstherrlich, halten sich anderen in intellektueller und moralischer Hinsicht für überlegen; auch wenn sie nicht religiös sind, neigen sie zu unverrückbaren Überzeugungen (Adorno und Kollegen und Kolleginnen sprechen von »Aberglauben« und »Stereotypien«) und hängen einem »wahren Glauben streng und starr an« (Lederer, 1995, S. 37). Die Einstellung zu Sexualität ist konventionell und durch Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Verachtung gegenüber sexuellen Minderheiten geprägt. Wie verschiedene Rechtsextremismus- und Populismus-Studien zeigen, hat das Konzept des Autoritarismus auch heute noch eine hohe Erklärungskraft. Allerdings werden von verschiedenen Autoren und Autorinnen auch Kritik angemeldet bzw. Modifikationen vorgenommen: Für Oliver Decker (2010, S. 40) ist »das Konzept des Autoritären Charakters zugleich veraltet und immer noch gültig«, es müsse »immer wieder aufs Neue bestimmt werden«. Insbesondere die Konzentration auf die Bedeutung des Vaters und der Familie als einzigen Sozialisationsinstanzen müsse heute erweitert werden. Felix Brauner (2018) entfaltet überzeugend, wie eine intersubjektiv modernisierte Psychoanalyse »mit der Mentalisierungstheorie Fonagys als Speerspitze« (ebd., S. 13) in Verbindung mit Axel Honneths Anerkennungstheorie einen neuen Blick auf Fremdenfeindlichkeit und Populismus erlaubt. Andreas Reckwitz (2019a, S. 413) ist der Ansicht, dass sich »der Aufstieg des Rechtspopulismus nicht als schlichte Verlängerung eines traditionellen Rechtsradikalismus begreifen lässt«. Vielmehr sei er »Ausdruck einer grundlegenden Umstrukturierung des westlichen Parteiensystems« (ebd.), das durch die Bildung »nach Authentizität strebender politischer Gruppierungen entstanden ist« (ebd., S. 414). Lütjen (2019) argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn er hervorhebt, dass es sich beim »modernen Rechtspopulismus […] tendenziell eher um eine antiautoritäre, die Individualität betonende Bewegung« handele. Sein Ansatz soll im folgenden Abschnitt näher betrachtet werden. 34

Die Unfähigkeit, zu vertrauen

Die Unfähigkeit, zu vertrauen Der Politikwissenschaftler Torben Lütjen (ebd., S. 6) sieht »die eigentliche Wurzel des modernen Selbstermächtigungs-Populismus [in] der Unfähigkeit zu vertrauen«. Populist*innen misstrauen grundsätzlich allem und jedem, der »Lügenpresse« ebenso wie den Eliten und den etablierten Parteien und Politikern bzw. Politikerinnen. Stattdessen ermächtigen sie sich selbst (»Wir sind das Volk!«) und entwickeln eine »Verschwörungsmentalität«, also eine Weltsicht, die annimmt, was immer in der Welt passiere, sei das Ergebnis eines geheimen Plans, den mächtige Einzelne und ihre Helfershelfer minutiös in die Wirklichkeit umgesetzt hätten (Imhoff & Decker, 2013). Anhänger und Anhängerinnen von Verschwörungstheorien sind extrem misstrauisch. Zurecht verweist Lütjen auf Niklas Luhmann (1968) und dessen berühmte Formulierung, dass Vertrauen einen »Mechanismus zur Reduktion von sozialer Komplexität« darstellt. Wer immer nach dem Lenin zugeschriebenen Motto »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« verfährt, macht sich das Leben extrem kompliziert. Sowohl der alltägliche gesellschaftliche Verkehr der Menschen als auch die abstrakteren und anonymeren gesellschaftlichen Interaktionen funktionieren nicht ohne die Ressource Vertrauen. Eine gesellschaftliche Grundstimmung, die von Misstrauen, Ressentiments, Verschwörungstheorien und paranoiden Verfolgungsängsten geprägt ist, führt zudem zu einer Vergiftung des sozialen Klimas. Von daher mag es sich lohnen, sich näher mit dem Phänomen des Vertrauens und eben auch des Misstrauens zu beschäftigen. Erik Eriksons These von der fundamentalen Bedeutung des »Ur-Vertrauens« hat weit über die Psychoanalyse hinaus Anerkennung gefunden. In seiner Theorie der psychosozialen Entwicklungsstufen spielt die erste und früheste Stufe, die direkt nach der Geburt beginnt, eine grundlegende Rolle für die gesamte weitere Persönlichkeitsentwicklung. Die grundlegende Entwicklungsaufgabe der ersten Lebensjahre besteht darin, ein Gefühl des Ur-Vertrauens zu entwickeln, das die entgegengesetzten Gefühle von Ur-Misstrauen, Angst, Verlassenheit und Verzweiflung in Schach hält, erträglich macht und reguliert. Das Ur-Vertrauen bezeichnet Erikson als »Eckstein der gesunden Persönlichkeit« (Erikson, 1966 [1959], S. 63). Das Ausmaß, in dem diese Entwicklungsaufgabe bewältigt wird, bzw. man an ihr scheitert, beeinflusst die Identitätsbildung und stellt auch eine mehr oder weniger große Belastung für alle später anstehenden Entwick35

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

lungsaufgaben dar. Wenn sich in der frühen Kindheit ein solches »Vertrauen in das Wohlwollen anderer« (Hartmann, 2011, S. 66) herausgebildet hat, wird diese »psychische Ressource« (ebd.) auch in den Beziehungen zu anderen Menschen und in allen Krisensituationen zur Verfügung stehen. Umgekehrt gilt auch, dass ein einmal gebildetes Ur-Misstrauen auch alle späteren Beziehungen und Kontakte zu anderen Menschen prägt und belastet. Es geht darum, die Abwesenheit der Mutter zu akzeptieren, ohne in Panik zu verfallen. So entsteht im Baby ein »Gefühl des Sich-VerlassenDürfens […], und zwar in Bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst« (Erikson, 1966 [1959], S. 62). Vertrauen zu anderen und Vertrauen zu sich selbst, also Selbstvertrauen, entwickelt sich in einem dialektischen Prozess. Beide bedingen und fördern einander – idealerweise. Aber es handelt sich um eine komplexe Wechselwirkung, die auch zu Einseitigkeiten führen kann. Winnicott (1979 [1971], S. 125f.) schildert dazu folgende Situation: Ein Kind könne zwar ohne Liebe ernährt werden, aber eine lieblose oder unpersönliche Fürsorge könne nicht dazu führen, dass es sich autonom entwickele. Wenn im Kind das Gefühl entsteht, es werde nicht wirklich geliebt, sondern nur mechanisch abgefertigt, oder die Mutter oder eine andere primäre Bezugsperson könne sich ihm nur phasenweise wirklich liebevoll zuwenden (weil sie ansonsten zu stark von ihren eigenen Problemen okkupiert ist), kann das Kind mindestens auf zweifache Weise auf diese Situation reagieren. Entweder klammert es sich – aus Misstrauen, sie komme nicht wieder – zu eng an die Mutter und wird übermäßig abhängig von ihrer Anwesenheit. Sein Selbstvertrauen bleibt dann unterentwickelt. Auch der umgekehrte Fall ist möglich: Aus Angst vor einem Zuviel an Abhängigkeit entwickelt das Kind ein Misstrauen gegen die Mutter – und später auch gegen andere Erwachsene – und vertraut stattdessen vorzugsweise auf sich selbst. Es zieht sich dann in eine schizoid-narzisstische Welt zurück und gibt sich narzisstischen Größenfantasien von der eigenen Autonomie und Autarkie hin. Man kann eine solche misstrauische Grundhaltung auch noch bei manchen Erwachsenen beobachten, die lieber alles selbst machen, und das ganz offen damit begründen, dass sie nur dann sicher sein könnten, dass es auch richtig gemacht wird. Auch wenn ein solcher Spruch manchmal mit einer gewissen Ironie daherkommt, ist er doch meist ernst gemeint: Man will sich nicht in die Abhängigkeit des anderen begeben. Einem anderen zu vertrauen, heißt nämlich auch, sich in Abhängigkeit zu begeben, es bedeutet auch, sich verletzlich zu machen, wie der Philosoph Martin Hart36

Die Unfähigkeit, zu vertrauen

mann (2011) in seinem Buch Die Praxis des Vertrauens ausgeführt hat: »Der Wunsch unverletzbar zu sein, der sich gelegentlich in das Kleid der Gleichgültigkeit oder Indifferenz hüllt, kommt dem Wunsch gleich, nicht vertrauen zu müssen« (ebd., S. 58f.). Einen empirischen Beleg für die hier entwickelten Überlegungen über den Zusammenhang zwischen dem in der frühen Kindheit entwickelten Ur-Vertrauen bzw. dem Ur-Misstrauen und den im Erwachsenenleben möglicherweise auftretenden Ressentiments, Verschwörungsfantasien, Misstrauen und populistischen Einstellungen findet sich in der »Leipziger Autoritarismus-Studie« von 2018. Dort wurde der Zusammenhang zwischen verschiedenen Dimensionen der sozialen Anerkennung, die ein Individuum erfährt, und rechtspopulistischen Einstellungen untersucht. Die Autoren differenzieren zwischen der Anerkennung als erwachsener Person, als Bürger und als Bürgerin und als tätiger Mensch einerseits und der als Kind erfahrenen Anerkennung im Elternhaus andererseits (Decker, Yendell & Brähler, 2018, S. 171). Als wesentliche Faktoren, die rechtsextreme Einstellungen bewirken, machen sie neben Autoritarismus und Verschwörungstheorien fehlende Anerkennung als Person, die verweigerte Anerkennung als Kind und geringes Vertrauen in andere Menschen aus. Rechtspopulistische Einstellungen sind offenbar mit einer misstrauischen Grundhaltung zur Welt assoziiert, die sich tendenziell bereits während der Kindheit abgezeichnet hat. Populisten und Populistinnen befinden sich in einer ständigen Bereitschaft, alles, was von etablierten Institutionen der Gesellschaft, vom Establishment, von den Eliten, von denjenigen, die über Macht und Einfluss verfügen, kommt, kritisch zu hinterfragen und misstrauisch nach möglichen Fallstricken, versteckten unlauteren Interessen, Ausbeutungsabsichten und Funktionalisierungsmotiven zu durchleuchten. Weitere Elemente rechtspopulistischer Haltungen sind Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit (Auchter, 2001 [1992]). Auch hier existiert eine Verbindung zu frühkindlichen Prägungen. Die Bindungsforschung kam aufgrund ihrer Beobachtungen zu dem Schluss, dass Kinder, die über ein ausgeprägtes Ur-Vertrauen im Sinne von Erikson, also eine sichere Bindung nach Bowlby (1975 [1969]) verfügen, Fremden gegenüber ein explorierend-neugieriges Verhalten zeigen. Das Auftreten der Fremdenangst ist »vom Verlauf der vorangegangenen Interaktionserfahrungen abhängig. Ein Kind, das Sicherheit und Urvertrauen entwickeln konnte, zeigt keine Frem-

37

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

denangst, sondern vielmehr eine sog. ›Zollinspektion‹ (Brody & Axelrad, 1970), d. h. eine gründliche visuelle und taktile Forschertätigkeit an einem fremden Erwachsenen« (Mertens, 1981, S. 107f.).

Wie Bohleber (1994, S. 385) treffend zusammenfasst, besteht »zwischen Urvertrauen und Fremdenangst […] eine reziproke Beziehung«. Diese Erkenntnisse der psychoanalytischen Bindungsforschung wurden ausschließlich durch die Beobachtung von Kleinkindern in der Interaktion mit ihren Eltern bzw. mit fremden Personen gewonnen. Ob sich diese Zusammenhänge auch in dem Sinne verallgemeinern lassen, dass unsicher gebundene Menschen als Erwachsene eher zu Fremdenfeindlichkeit neigen als sicher gebundene Erwachsene, ist eine offene Frage, deren Antwort aus den Ergebnissen der Bindungsforschung zwar vermutet, aber mit den Mitteln der Bindungsforschung selbst nicht nachgewiesen werden kann. Die sozialwissenschaftliche Studie »Soziale Desintegration und Bindungsstil als Determinanten von Fremdenfeindlichkeit« (Rüssmann, Dierkes & Hill, 2010) hat darüber Aufschlüsse gebracht: Befragt wurde eine Stichprobe von 1779 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Eingesetzt wurde ein speziell entwickelter und standardisierter Fragebogen, mit dessen Hilfe 1. verschiedene Aspekte von Fremdenfeindlichkeit, 2. der Bindungsstil und 3. die soziale Integration erfasst wurden (ebd., S. 287f.). Die soziale Integration bzw. Desintegration bezog sich auf die Bereiche Bildung, Erwerbsleben und materielle Ressourcen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Bindungsstile für das Auftreten von sozialer Integration bzw. Desintegration in hohem Maße bedeutsam sind, und dass der Grad der Desintegration seinerseits die Intensität fremdenfeindlicher Einstellungen bedingt. »Ein unsicherer Bindungsstil führt [also] zu einem Anstieg an sozialer Desintegration und Fremdenfeindlichkeit« (ebd., S. 281). Insbesondere ein ängstlich-vermeidender Bindungsstil war für das Ausmaß der Fremdenfeindlichkeit relevant. Wenn man frühkindliche Prägungen, konflikthafte Situationen oder gar Traumatisierungen mit politischen Haltungen im Erwachsenenalter in Verbindung bringt, muss man sich allerdings klarmachen, dass hier keine linearen Kausalitäten vorliegen. Wie sich in der Kindheit angelegte Prägungen im Erwachsenenalter auswirken, hängt entscheidend davon ab, wie 38

Angst

sie nachträglich psychisch verarbeitet werden. Das Prinzip der Nachträglichkeit (Freud, 1896b) führt zu einer Neuinterpretation und damit auch zu einer Neubewertung zurückliegender Ereignisse. Damit erscheinen aber auch aktuelle Ereignisse in einem neuen Licht. Vor allem aber werden heftige Gefühle, insbesondere solche negativer Art, vorwiegend in der privaten Sphäre ausgedrückt und bleiben im beruflichen und öffentlichen Leben ausgespart. Das Internet hat eine dritte Sphäre geschaffen, in der sich der private Raum mit dem öffentlichen überschneidet und die privatesten Gefühle in einem potenziell grenzenlosen Raum anonym präsentiert werden und eine enorme Resonanz erfahren können (Altmeyer, 2016). Das Aufkommen fremdenfeindlicher Ressentiments in diesem Resonanzraum führt dann wieder zu Rückkoppelungsprozessen beim Individuum, dessen biografisch bedingte paranoide Ängste und Gewaltfantasien getriggert und reaktiviert werden und die dann ihrerseits die gesellschaftliche Polarisierung befeuern.

Angst Angst und Furcht gehören zu den Emotionen, die bei allen Menschen und »in allen Kulturen auftreten und zu allen Zeiten bekannt waren« (Demmerlin & Landweer, 2007, S. 63). Auch die höher entwickelten Tiere verfügen über dieses Reaktionsmuster. Es dient der Warnung vor Gefahren und hat insofern eine unmittelbare Funktion für das Überleben. Angst und Furcht werden häufig unterschieden: Furcht richtet sich auf konkrete Gefahren, auf die mit Vermeidung oder Flucht reagiert werden kann. »Angst ist der Zustand, wenn Letzteres nicht möglich ist. Angst ist unaufgelöste Furcht, ungerichtete Erregung nach der Wahrnehmung einer Bedrohung« (Krause, 2012, S. 200). Häufig wird der Gefühlszustand der Panik als übersteigerte Angst aufgefasst. Das ist nur bedingt zutreffend, denn Panik und Angst gehören zu unterschiedlichen neuropsychologischen Regulierungssystemen. »Panik tritt nicht als Folge von Furcht und/oder Angst auf, sondern als Folge der Aktivierung des Trennungsschmerzes« (ebd.). Das zeigt sich auch in den unterschiedlichen Formen des Copings. Eine typische Reaktion auf Panik »ist forciertes Bindungsverhalten, die andere forcierte Autonomie. Ein Versagen aller Copingformen mündet in den ›distress cry‹« (ebd.). 39

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

Angst ist ein elementarer Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie kommt in den verschiedensten Schattierungen und Intensitätsgraden vor und mischt sich mit anderen Gefühlszuständen. So können sich beispielsweise Schamgefühle durch die hinzutretende Schamangst noch zusätzlich steigern. Menschen sind ganz unterschiedlich anfällig für Ängste oder haben differierende Reaktions- und Umgangsmuster, um Ängste zu bewältigen. Bei milderen Formen der Angst werden wir vielleicht stutzig, beunruhigt oder besorgt. Wir entwickeln böse Vorahnungen, Schreckensbilder steigen in uns auf. Sozial werden wir zu Bedenkenträgern oder gar zur Kassandra. Wenn sich die Ängste auf das eigene Selbst beziehen, fühlen wir uns kleinlaut, scheu, schüchtern, verzagt, beklemmt, verdattert, mutlos, sprachlos, starr vor Schrecken, wie versteinert, vom Donner gerührt. Unser Körper reagiert mit einer Gänsehaut, Unruhe erfasst uns, wir erstarren zur Salzsäule und werden aschfahl im Gesicht. Die Haare stehen uns zu Berge, das Herz fängt an, wie verrückt zu schlagen, der Angstschweiß tritt uns auf die Stirn, das Blut erstarrt in den Adern. Bei extremen Formen der Angst erschaudern wir, verlieren die Fassung, das blanke Entsetzen übermannt uns, wir wenden uns mit Grausen ab, tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erfassen uns. Bestürzung, Furcht und Schrecken verbreiten sich, es entsteht eine generelle Menschenangst, die sich zur Weltangst ausweiten kann. Angst und Furcht spielen in allen Bereichen des individuellen, des sozialen und auch des politischen Lebens eine zentrale Rolle. Angstgefühle werden von anderen Menschen wahrgenommen und können ansteckend wirken. Sie breiten sich in sozialen Gruppen aus und unterfüttern auch politische Diskurse. Ängste können auch manipulativ geschürt werden, um Meinungsbildung, Gruppenprozesse und politische Entscheidungen zu beeinflussen. Das Gefühl der Angst spielt aber auch bei der Wahrnehmung kollektiver Gefahren eine zentrale Rolle. Inflation und drohende Arbeitslosigkeit können ebenso Ängste auslösen wir die Atomkraft, die Stationierung von Atomwaffen, ein Reaktorunfall wie der von Tschernobyl, die Klimakatastrophe, der Ausbruch einer Pandemie oder der Überfall Russlands auf die Ukraine. Sollten auch bei diesen kollektiven Gefahren Ängste ernstgenommen werden? Die Meinungen gehen hier auseinander – auch unter Psychoanalytiker*innen: Die einen meinen, Angst sei generell ein schlechter Ratgeber und führe eher zu irrationalem Verhalten. Dies trifft besonders auf Panik und neurotische Ängste zu, auch auf sehr starke Ängste, die zu einem Erstarren, dem so40

Angst

genannten freezing führen. Auch die Angst vor der Angst führt häufig (allerdings nicht notwendig) zu einer weiteren Steigerung der Angst. Die anderen verweisen auf den »Signalcharakter der Angst« (Freud, 1915a [1914]), mit der wir auf eine Gefahr aufmerksam gemacht werden und die es uns ermöglicht, sie überhaupt als solche zu empfinden und zu erkennen (Auchter, 2020). Freud (1920g, S. 31f.) geht sogar noch einen Schritt weiter und schreibt der von ihm so bezeichneten »Angstbereitschaft« (ebd.) die Funktion zu, die Psyche vor einer traumatischen »Durchbrechung des Reizschutzes« (ebd.) zu bewahren, zumindest diesen abzumildern. Die »Angstbereitschaft« stelle »die letzte Linie des Reizschutzes« (ebd., S. 31) dar. Freud beschreibt hier die psychischen Prozesse, die sich abspielen, wenn die Reaktivierung eines in der Vergangenheit erlittenen Traumas kurz bevorsteht. Wenn man die dann entstehenden Ängste wahrnimmt, ernstnimmt und mentalisierend bearbeitet, kann der Durchbruch des Traumas möglicherweise verhindert oder abgemildert werden. Die Verleugnung der Ängste und ihre Tabuisierung sind jedenfalls kontraproduktiv. Das Gefühl der Angst ist besser handhabbar als die Gefühle, die bei der Reaktivierung eines Traumas aufbrechen. Wenn wir unsere Ängste mit Formulierungen beschreiben wie »Ich habe die Hosen gestrichen voll!« oder »Der Arsch geht mir auf Grundeis!« tritt bereits der Prozess der Mentalisierung ein. Ich distanziere mich von meinen Ängsten, indem ich sie ungeschminkt beschreibe und benenne. Mit der Drastik der Ausdrucksweise mache ich mir selbst Mut nach dem Motto: »Wenn ich solch vulgäre Ausdrücke offen aussprechen kann, kann es um meinen Mut nicht ganz so schlimm bestellt sein.« Ich zeige, dass ich letztlich Herr meiner Ängste und Herr im eigenen Haus bin. Ein Problem bei der Wahrnehmung abstrakter Gefahren besteht darin, dass das menschliche Emotionssystem evolutionsbiologisch primär auf den sozialen Nahbereich und auf sinnlich wahrnehmbare Gefahren ausgelegt, also Gefahren, die wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten können. Abstrakte Gefahren wie das Virus, atomare Strahlung oder das Abschmelzen der Polkappen sind gefühlsmäßig sehr viel schwerer fassbar. Der Philosoph Günter Anders, der sich mit dem Holocaust, mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki und einem drohenden Atomkrieg auseinandergesetzt hat, diagnostiziert aus diesem Grund eine »ApokalypseBlindheit« (Anders, 1987 [1956]), eine Verleugnung der existenziellen Gefahren, denen die Menschheit als ganze ausgesetzt ist. Er bezieht sich auf die Atomkriegsgefahr, seine Überlegungen lassen sich aber unschwer auf die Klimakatastrophe und auch auf die Corona-Pandemie beziehen. 41

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Anders spricht von der »Antiquiertheit des Menschen«, die im Missverhältnis besteht zwischen den menschlichen Möglichkeiten, Produkte herzustellen, die gigantische Destruktionen bewirken können, und der begrenzten Kapazität, sie gefühlsmäßig zu erfassen. Er empfiehlt, dass wir uns als Kollektiv regelrechten systematischen Übungen unterziehen – er spricht von »Exerzitien« (ebd., S. 274) –, die dazu dienen sollen, »das Volumen unserer Vorstellung und unseres Fühlens willentlich zu erweitern« (ebd., S. 273). Da »wir unseren eigenen Produkten und deren Folgen phantasie- und gefühlsmäßig nicht gewachsen sind« (ebd.), sollten wir »die unwillige Phantasie und das faule Gefühl herauslocken« (ebd., S. 275), um so »unseren Gegenwarts-Horizont willentlich zu erweitern« (ebd., S. 282). Wir sollten also, so seine Idee, unseren Fantasie- und Gefühlsraum so erweitern, dass wir die Folgen, beispielsweise der Klimaerwärmung, wirklich – also auch emotional – an uns heranlassen (Chmielewsk, 2019). Nur so kann die ernsthafte Bereitschaft entstehen, wirklich handeln zu wollen. Greta Thunberg und die Aktivistinnen und Aktivisten der Fridays-for-Future-Bewegung handeln entsprechend dieser Vorstellung. Die beiden Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino (2020) argumentieren in ihrem Buch zur Corona-Krise, Philosophie in Echtzeit, ganz ähnlich wie Günter Anders. Sie suchen eine Erklärung dafür, warum die europäischen Staaten, auch Deutschland, erst mit erheblicher Verspätung auf die Pandemie reagiert haben, und verweisen auf eine Bemerkung von Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, vom 20. März 2020: »Wir sind alle in einer Krise, deren Ausmaß ich mir nie hätte vorstellen können« (ebd., S. 42). Das Vorstellungsvermögen des ranghöchsten deutschen Seuchenbekämpfers reichte nicht aus, um sich eine solche Pandemie auszumalen. Mukerji und Mannino führen dieses bemerkenswerte Eingeständnis, diesen »Mangel an Vorstellungskraft« (ebd., S.  43) darauf zurück, dass es psychologisch schwerfällt, eine Krise, die man so noch nie erlebt hat, »kognitiv und emotional vorwegzunehmen« (ebd.). Günter Anders bleibt hochaktuell.

Hass Das Substantiv »Hass« und das Verb »hassen« gehören zu einer Gruppe von Affekten, die unter dem theoretischen Begriff der »Aggression« zusammengefasst werden. Dazu gehören u. a. »Wut«, »Zorn«, »Ärger«, »Ra42

Hass

serei«, »Groll«, »Hader«, »Erbitterung«, »Erzürnung«, »Entrüstung«, »Furor«, »Tobsucht«, »Verachtung«, »Rachsucht«, »Gehässigkeit«, »Bösartigkeit«, »Abscheu«, »Missgunst«, »Feindseligkeit«. Zum Assoziationsraum gehören Begriffe wie »Ekel«, »Neid«, »Hetze«, »Ungerechtigkeit«, »Willkür«, »Gewalt«, »Vergewaltigung«, »Terror«, »Folter«, »Tyrannei«, »Unterdrückung«, »Verfolgung«, »Menschenverachtung«, »Menschenhass«, »Weltverächtung« und »Zynismus«. Metaphorische Redeweisen wie »böses Blut machen«, »sich vergessen«, »den Krieg erklären«, »rot sehen«, »Blut sehen«, »mit Blicken töten«, »Gift und Galle speien«, »jemandem die Pest an den Hals wünschen« oder »jemanden zum Teufel oder in die Hölle schicken«, machen in ihrer Drastik deutlich, dass es sich beim Hass um ein radikales, extrem intensives und destruktives Gefühl handelt. Es tritt vornehmlich in Ausnahmesituationen auf, dürfte aber allen Menschen – auch aus eigenem Erleben – vertraut sein. Das Wort »Hass« kommt schon im Mittelhochdeutschen vor und ist dort mit »feindlich verfolgen«, »feindliche thaten«, »feindselige gesinnung« und mit dem Verb »neiden« verbunden ( J. Grimm & W. Grimm, 1984 [1854], Band  10, S.  546f.). In den Begriffen »hassenswert« und »hassenswürdig« (ebd.) wird zum Ausdruck gebracht, dass sich der affektive Impuls gegen ein Objekt richtet, das einem »zu wider« (ebd.) ist. Vom deutschen Wort »Hass« leitet sich das Adjektiv »hässlich« ab (Kliche, 2010 [2001], S. 28); »[v]om 9. bis weit ins 14. Jh. bedeutet häßlich […] ›aktiv feindselig‹. […] Seit dem 16. Jh. bürgert sich ›häßlich‹ als Gegensatzwort zu ›schön‹ ein« (ebd.). Die Entwicklung des Begriffs »hässlich« geht also in die Richtung, dass ein unschönes, missgestaltetes oder sonstwie abstoßendes Objekt Affekte auslöst, die Missbehagen, Ekel, Schrecken, Abscheu oder auch Angst und Gefühle des Gruseligen und Unheimlichen auslösen. Als ästhetischer Begriff entfaltet »Häßlichkeit« komplexe Bedeutungen und spricht verschiedene Bedeutungsebenen an, die sich durch Ambiguität auszeichnen. In der Romantik findet eine Aufwertung des Hässlichen statt (ebd., S. 41ff.). Das Hässliche kann auch als Kritik am schönen Schein, der als allzu glatt und oberflächlich erlebt wird, verstanden werden. Das Hässliche bringt die unterdrückte Wahrheit zur Sprache, indem Groteskes, Bizarres, Komisches, Lachhaftes und Lächerliches gegen die glatte Oberflächlichkeit und Einförmigkeit des Schönen und Erhabenen in Stellung gebracht werden. Das Hässliche kann authentischer und echter wirken als das gekünstelte Schöne. So hat der Punk eine »Anti-Ästhetik« 43

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(Thiel & Wirth, 1986, S. 152) entwickelt, die das Hässliche als ausdruckstarkes Stilmittel benutzt. Hass wird häufig als »prinzipiell irrational angesehen, mindestens aber als dysfunktional und somit schädlich nicht nur für den Gehassten, sondern auch für den Hassenden selbst. Hass macht unfrei, er bindet den Hassenden in negativer, ihm selbst nicht zuträglicher Weise an den Gehassten« (Demmeling & Landweer, 2007, S. 295).

Allerdings gilt auch bei einem der wohl »intensivsten und zugleich destruktivsten Gefühle, die Menschen empfinden können« (Fuchs, 2021, S. 318), dass es zum natürlichen, anthropologisch gegebenen Gefühlshaushalt des Menschen gehört und somit nicht nur eine destruktive, sondern – in bestimmten Situationen – auch eine positive, dem psychosozialen Leben dienende Funktion haben kann. Auch der Affekt des Hasses stellt ein Instrument dar, um die menschliche Welt auf besondere Weise zu erschließen und eine spezielle Weise des Zugangs zu dieser Welt zu eröffnen (Demmeling & Landweer, 2007, S. 295). Hass kann auch eine angemessene affektive Reaktion auf bestimmte Ereignisse sein. So kann beim Liebespaar nach der Erfahrung von Betrug und Verrat die Liebe unmittelbar in Hass umschlagen. Dieser dient dann dazu, zum einst geliebten Partner, zur einst geliebten Partnerin, eine klare Grenze zu ziehen. Der Hass ist Ausdruck für die Enttäuschung und Kränkung, die man erfahren hat und soll dem oder der anderen zeigen, wie sehr man ihn oder sie verachtet. Hass, der aus getäuschter und enttäuschter Liebe erwächst, befriedigt das Rachebedürfnis, sorgt für eine – wenn auch prekäre – Art von ausgleichender Gerechtigkeit und erhöht – zumindest vorübergehend – das Selbstwertgefühl des betrogenen Partners oder der Partnerin. Der Hass, aber auch das Hässliche, werden mit dem Bösen assoziiert. Dem Hassenden entgleiten die Gesichtszüge. Seine Mimik verzerrt oder versteinert sich. In der »Hässlichkeit der Seele« zeigt sich, dass der Hass nicht nur die Gesichtszüge verunstaltet und den Adressaten des Hasses verstört, sondern auch die Psyche der Hassenden selbst wie ein Gift zersetzt. »Hassverzerrte Züge [machen] hässlich« (Frevert, 2020, S. 167). »Er verzerrt die Züge, die des Gesichts ebenso wie die des Charakters. Schon das Wort klingt wie ein Peitschenknall. Mit einem Hassenden möchte man

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Hass

nichts zu tun haben, denn sein Geifer würde die Beziehung über kurz oder lang vergiften« (ebd., S. 168).

Hass kann nur für kurze Zeit eine Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Bewertungsfunktion haben, beispielsweise indem ein spontan aufsteigendes Hassgefühl als Indiz genommen wird, sich bewusst zu machen, mit welch radikaler Bösartigkeit man es bei anderen zu tun hat. Doch schon der Versuch, Hassgefühle zu nutzen, um sich oder andere zur Selbstverteidigung gegen einen bösartigen Feind zu motivieren, läuft Gefahr, dass sich diese »pure, ungezügelte Leidenschaft« (ebd.) verselbstständigt. Wenn Hass für längere Zeit besteht, ergreift er Besitz vom Denken und Fühlen und schließlich von der Person in ihrer Gesamtheit. Der Hass fällt auf die Hassenden zurück und entfaltet eine selbstdestruktive Dynamik. »Hass ist eine Emotion, für die man sich in den Gegenstand verbohren muss. Während sich der Verachtende mit einer abschätzigen Handbewegung abwenden kann, bindet sich der Hassende geradezu obsessiv an den gehassten Anderen« ( Jensen, 2017, S. 79). Hass wird »als ein besonders radikales Gefühl beschrieben. Wenn wir etwas hassen, tun wir das mit unserer ganzen Person« (ebd., S. 80). Im Hinblick auf das Objekt des Hasses gilt, dass »unser Hass den Anderen in seinem ganzen Wesen« (ebd.) ablehnt und treffen soll. Hass hat deshalb einen totalen, einen radikalen Charakter. Er erfasst die Hassenden in ihrer ganzen Person und prägt die Situation, in der Hass auftritt, in vollständiger Weise, sodass andere Emotionen an den Rand gedrängt werden. »Hass geht in die Tiefe. Er richtet sich gegen das Wesen und den Kern einer anderen Person« (Fuchs, 2018). Während sich Wut unmittelbar auf ein störendes und ärgerliches Ereignis bezieht, handelt es sich beim Hass um eine dauerhafte Einstellung oder Gesinnung. Dies impliziert, dass der Hass mit der »Konsolidierung des Bildes eines bösen Objekts« (Kernberg, 2000, S. 274) einhergeht. Wut ist also ein vorübergehender Affekt, der schnell wieder verrauchen kann, während Hass eine habituelle Einstellung ist. Hass ist getrieben von dem Durst nach Rache und »besteht in der Demütigung, Misshandlung, letztlich in der Vernichtung des Gegners. Ja, tiefster Hass kann den Feind selbst noch über den Tod hinaus verfolgen. In dieser prinzipiellen Unerfüllbarkeit liegt bereits eine radikalisierende Tendenz – der maligne Hass nimmt nicht ab, sondern eher zu […]« (Fuchs, 2021, S. 327f.).

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Deshalb kann der Hass auch »gehegt, genährt und gewissermaßen bis zum Tag der Rache aufgespart werden, an dem sich seine angesammelte Energie mit einem Mal freisetzt« (ebd., S. 328). So kann der Hass zum »strategischen Objekt« werden, das mit Beharrlichkeit und rationaler Planung über lange Zeit verfolgt wird. In der Verbindung von »unbedingtem Vernichtungswillen und kühl-disziplinierter Planung« (ebd.) manifestiert sich eine Haltung, die als »Inbegriff des Bösen« erscheint. Beispiele dafür sind Hitlers Vernichtungskrieg im Osten und der Völkermord an den Juden, aber auch die Tat eines einzelnen Amokläufers. Auch Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist von Hass und Vernichtungswillen geprägt. Ursächlich für die Genese von Hass ist in aller Regel eine lange Vorgeschichte von Demütigungen, Erniedrigungen, Entwertungen und anderen Formen der narzisstischen Kränkung, die die oder der Hassende objektiv oder in seinem oder ihrem subjektiven Erleben erfahren hat. In der Biografie von Menschen, bei denen sich ein maligner Hass entwickelt, spielen frühe Traumatisierungen, die in der Beziehung zu primären Beziehungspersonen erlebt wurden, insbesondere Vernachlässigung, körperliche und seelische Misshandlungen, sexueller Missbrauch, Erleben und Miterleben von körperlicher und sexueller Gewalt, eine zentrale Rolle. Die Erfahrung, verächtlich behandelt zu werden, lächerlich gemacht und entwertet zu werden, führt ebenfalls zu einer reduzierten Fähigkeit, aggressive Affekte zu regulieren. Da die individuelle Identität immer eingebettet ist in die kollektiven Identitäten verschiedener Gruppen, ergibt sich auch im Hinblick auf den Gruppen-Narzissmus die Möglichkeit, sich als Mitglied eines Kollektivs in seinem Selbstwertgefühl entwürdigt und missachtet zu fühlen. Jedoch kann die Identifikation mit dem grandiosen Selbst der Gruppe und mit den kollektiven Idealen auch eine Kompensationsmöglichkeit für ein fragiles narzisstisches Gleichgewicht des Individuums darstellen. Beispielsweise kann das Individuum sich in der Identifikation mit den sportlichen Erfolgen seines Fußballclubs als Fan wertvoll, erfolgreich und anerkannt fühlen. Sein persönlicher Narzissmus wird gestärkt durch die Teilhabe an den kollektiven Erfolgen. Umgekehrt werden Niederlagen und Kränkungen des kollektiven Gruppen-Narzissmus aber auch als gravierende Kränkung erlebt, die starke Gefühle von Entwertung und Hass hervorrufen kann. Wenn der Führer einer Gruppe diese Kränkungen in einem Narrativ aufputscht und manipuliert, kann so eine kollektive Regression einsetzen. Kollektiv aufgeheizt, entfaltet der Hass eine besonders destruktive und selbstdestruktive Wirkung. 46

Scham

Scham Scham ist ein Gefühl, das unmittelbar mit der Selbstbewusstheit des Menschen verbunden ist. Scham hängt davon ab, dass »ein Mensch wirklich selbstreflexiv auf sich selber schauen kann« (Seidler, 2000, S. 625). Scham ist ein selbstreflexives Gefühl. Scham wird meist nur dann empfunden, wenn ein Anderer real präsent ist. Dies ist als Beleg dafür zu verstehen, dass sich die menschliche Subjektivität, die durch Selbstreflexivität gekennzeichnet ist, nur in interpersonalen Beziehungen herausbilden kann. Ein Ergebnis der Vertreibung aus dem Paradies besteht darin, dass Adam und Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben – so ähnlich, aber doch nicht wie Gott – von einem exzentrischen Standpunkt auf sich selbst blicken können. Dabei entdecken sie ihre Nacktheit und bedecken ihre Scham. Der eigenen Nacktheit, Leiblichkeit, Triebhaftigkeit und Sterblichkeit auf der einen und der Differenz zu Gott auf der anderen Seite, bewusst zu werden, evoziert das Gefühl der Scham. Die eigene Unvollkommenheit, Minderwertigkeit, gar Wertlosigkeit wird erst erfahrbar im Vergleich mit eigenen Idealen, mit Gott aber auch im Blick des Anderen. Zugleich mit der Scham kommt der instrumentelle Blick auf die Natur, die sich der Mensch untertan machen soll, sowie der Blick auf die Mitmenschen, die vermeintlich wertvoller oder auch weniger wertvoll sind als wir selbst, in die Welt. Zur passiv zu erleidenden Scham gesellt sich die Beschämung, die wir anderen aktiv zufügen, auch um die eigene Schamangst abzuwehren. Das Gefühl der Scham zügelt die Hybris, den Wunsch allmächtig und gottgleich zu sein ebenso wie die Triebhaftigkeit und die niederen und selbstsüchtigen Motive. Das Gefühl der Scham hält Gefühle, wie Neid, Gier, Eifersucht, Hass und Geltungssucht im Zaum. Wenn sie doch durchbrechen, war die Selbstregulation mit Hilfe der Scham zu schwach oder tritt erst im Nachhinein auf. Scham ist an der Schnittstelle von Selbst und Anderem lokalisiert. Jens Tiedemann (2019 [2019], S. 11) sieht in der Scham den »ultimativen ›intersubjektiven‹ und ›relationalen‹ Affekt«. Sie ist ein »Zeichen unserer tief verwurzelten Verstrickung mit unserer interpersonellen Umgebung« (ebd.). Insofern stellt die Scham »den Ausgangspunkt dafür dar, zu erforschen, wer wir für uns selbst sind und ob dieses Selbst Ablehnung oder Anerkennung von anderen Menschen erfährt« (ebd.). Scham ist eine Emotion, die in der Psychoanalyse aber auch in ande47

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ren Humanwissenschaften lange Zeit viel zu wenig beachtet wurde. Freud sprach von diesem Affekt meist nur in einem Atemzug mit Schuldgefühlen, so als sei das Schamgefühl nur eine Unterkategorie derselben. Es ist das bleibende Verdienst von Léon Wurmser (1981) die zentrale Bedeutung des Schamempfindens erkannt zu haben. In seinem Artikel »Die schwere Last von tausend unbarmherzigen Augen. Zur Psychoanalyse der Scham und der Schamkonflikte« (Wurmser, 1986) hat er eine eindrückliche Formulierung gefunden, um die existenzielle Belastung auszudrücken, die uns zwingt, mit diesem, den Menschen kennzeichnenden Affekt, zu Rande zu kommen. Inzwischen existieren eine ganze Reihe einschlägiger psychoanalytischer Arbeiten zu diesem Thema (Seidler, 1995; Tiedemann, 2022 [2013]; Honegger, 2015; Minow, 2016; Hell, 2021 [2018]). Wenn wir uns schämen, werden wir verletzlich, weil wir uns unserer schwachen Seiten bewusst werden und vor allem weil dies vor den Augen des Anderen geschieht. Umgekehrt ist unsere Verletzlichkeit auch Quelle unserer Scham. Wir schämen uns unserer schwachen und verletzlichen Seiten. Das wird beim Weinen besonders deutlich. »Im Weinen selbst findet meist ein höchst intimer Vorgang statt. Zum einen vereinigen wir uns im Weinen mit dem Verlorenen oder dem verloren geglaubten. Zum anderen treten wir mit dem Weinen in Kontakt mit unserem psychischen Schmerz, unserer Angst, Trauer und Verzweiflung« (Benecke, 2018, S. 10) – unserer Verletzlichkeit. Häufig bedecken wir beim Weinen unser Gesicht, wenden uns ab oder entschuldigen uns beim Anderen für unseren Gefühlsausbruch und Kontrollverlust. Mit unserem Weinen »ziehen wir den anderen gewissermaßen in die Intimität dieses inneren Prozesses mit hinein; wodurch gleichzeitig eine intersubjektive Intimität entsteht. Auch deshalb wird der Blick beim Weinen meist abgewendet« (ebd.), denn mit Blickkontakt würde die intersubjektive Intimität noch zusätzlich gesteigert. Scham ist der Oberbegriff für eine Reihe von Emotionen, zu denen Peinlichkeit, Schüchternheit, Verlegenheit, Befangenheit, Scheu und Gehemmtheit gehören. Diese Begriffe bezeichnen verschiedene Aspekte und Nuancen des Schamgefühls. Wie andere Gefühle tritt auch das Schamgefühl in unterschiedlichen Intensitätsgraden auf und dient im sozialen Verkehr der Menschen miteinander zur Feinabstimmung dessen, was sich in einer bestimmten Situation schickt und was nicht. Auch wenn wir das Schamgefühl subjektiv als einen schmerzhaften, verletzenden gar demütigenden und peinigenden Affekt empfinden, der gegen unseren Willen in uns aufsteigt, wird er gesellschaftlich oft positiv bewertet, weil er etablierte gesellschaftliche Normen 48

Scham

und Machtverhältnisse markiert und festigt. Dass es als schicklich galt, wenn Frauen schüchtern und leicht in Verlegenheit zu bringen waren, galt – und gilt in manchen Kulturen noch immer – als erstrebenswert. Dies dient der Herrschaft der Männer über das weibliche Geschlecht. Emanzipationsbewegungen und Protestbewegungen verstoßen deshalb gezielt gegen etablierte Schamgrenzen, indem sie sich in provokativer Absicht schamlos gebärden. Sozialpsychologisch betrachtet ist Scham ein Affekt, der eng mit dem psychodynamischen Verhältnis zwischen Narzissmus und Macht (Wirth, 2002) verknüpft ist. Scham ist Ausdruck eines mangelhaften oder erniedrigten Selbstwertgefühls angesichts eines anderen, der über mehr Macht verfügt (Neckel, 1991). Der Schamaffekt nimmt die erwartete Demütigung schon vorweg, gleichsam in die eigene Regie des Subjekts, das zwar von dem Schamaffekt überwältigt wird aber doch fühlendes Subjekt bleibt. Wenn wir die Augen schamhaft biederschlagen oder den Blick abwenden, signalisieren wir unsere Unterwerfungsbereitschaft unter die Macht des anderen oder den Machtanspruch sozialer Normen. Umgekehrt festigt die aktiv betriebene Beschämung den eigenen Machtanspruch. Einen anderen lächerlich zu machen, ihn zu beschämen, ist ein Mittel, um die eigene Überlegenheit, die eigene Macht zu demonstrieren oder zu untermauern. Wie aber beschämt man einen anderen Menschen besonders drastisch? Indem man ihn als minderwertig, als verachtenswert, als animalisch und im Extremfall als ekelhaft darstellt. Es existiert also eine enge Verbindung zur Emotion des Ekels. Da der Ekelaffekt auf intensiven körpernahen Prozessen basiert, ist dies eine besonders wirkungsvolle Form einen anderen zu beschämen. Nicht umsonst appellierte der nationalsozialistische Antisemitismus an den Ekelaffekt, indem er die Juden als Ungeziefer, Parasiten, als Brut, als Abschaum etc. darstellte und damit die ganze Palette der Ekelattribute ansprach. Schamlosigkeit kann als Abwehr gegen ein schwaches Selbstwertgefühl und große Angst vor Beschämung entstehen. Statt sich der Gefahr des Beschämtwerdens auszusetzen, geht man dauerhaft in den Modus des Angriffs über. Potenziell immer breit zu sein, jeden anderen aktiv zu beschämen, schütz davor, selbst seinen Schamgefühlen passiv ausgesetzt zu sein. Personen, die durch ihre Aggressivität, Dominanz, Angriffslust und ihren Drang zur Selbstdarstellung hervorstechen, verfügen häufig auch über die Tendenz zur Schamlosigkeit. Klinisch gehören auch Menschen dazu, die als narzisstische oder antisoziale Persönlichkeiten imponieren. Micha Hilgers schreibt dazu: 49

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»Die Existenz oder Verfügbarkeit selbstreflexiver Affekte wie Scham oder Schuld und die damit verbundene Angst […] setzt differenzierte Wahrnehmung des Selbst wie des Gegenübers voraus, die gerade bei antisozialen Persönlichkeiten fehlen. Gefühlskälte, Mangel an Empathie, Schmerzunempfindlichkeit und geringe Ängstlichkeit sowie mangelhafte Gefahrenantizipation führen unter anderem zu Schamlosigkeit, unverschämten und unempathischen Verhaltensweisen« (Hilgers, 2006, S. 40).

Scham und Schamlosigkeit spielen nicht nur im individuellen Erleben, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen bei der Austragung von Konflikten und der Ausbildung von Gruppenidentitäten eine zentrale Rolle. So kann beispielsweise die Niederlage in einem Fußballspiel von den Fans als Beschämung empfunden werden, die wieder ausgeglichen werden soll, indem man die Fans der siegreichen Mannschaft verhöhnt, verprügelt, demütigt und damit beschämt. Auch der soziale und wirtschaftliche Abstieg, der kulturelle Bedeutungsverlust, den soziale Schichten und gesellschaftliche Gruppen im Prozess gesellschaftlichen Wandels durchmachen, wird häufig als Beschämung, Demütigung und Entwertung erlebt, auf die man mit Verbitterung, Ressentiments und politischer Radikalisierung antwortet.

Neid Im biblischen Buch Genesis werden zwei Geschichten erzählt, in denen der Neid bedeutungsvoll ist: Die Schlange, die Eva verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ist neidisch auf die Allwissenheit Gottes. Zugleich zeigt sich in dem Wunsch, Gott gleich zu sein, die menschliche Hybris, also eine narzisstische Anmaßung. Neid hat demnach eine starke narzisstische Komponente: Wer neidisch ist, hat das Gefühl, zu kurz zu kommen und etwas nicht zu erhalten, was ihm eigentlich zustünde, und ist deshalb narzisstisch gekränkt. Die zweite biblische Geschichte, die direkt auf den Sündenfall folgt, ist die von Kain und Abel: Kain, der Ackerbauer, ist neidisch auf seinen jüngeren Bruder Abel, den Hirten, weil Gott dessen Opfergabe vorzieht. Aus Neid und aus narzisstischer Gekränktheit erschlägt Kain seinen Bruder Abel. Der Neid spielt also gleich an zwei zentralen Stellen der alttestamentarischen Menschheitsgeschichte eine unheilvolle, aber entscheidende Rolle. In der christlichen Tradition gehö50

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ren Neid, Trägheit, Geiz, Stolz, Wollust, Völlerei und Zorn zu den sieben Todsünden. Wie Melanie Klein (1962 [1957], S.  226) in ihrem klassischen Text »Neid und Dankbarkeit« ausführt, bezieht sich das Gefühl des Neides darauf, »dass eine andere Person etwas besitzt und genießt, was in den Augen des Neiders ersehnt wird. Der neidische Impuls ist es, diesen Besitz wegzunehmen, an sich zu bringen oder zu verderben«. Bedeutsam sind die Elemente der Missgunst und der Feindseligkeit, die darin zum Ausdruck kommen, dass die Neider*innen für den Fall, dass sie das begehrte Objekt nicht in den eigenen Besitz bringen können, danach streben, es zu »verderben«. Es geht also, wie Mathias Lohmer (2000, S. 483) ausführt, »weniger um den beneideten Besitz […] an sich, sondern um das dem Beneideten unterstellte erhöhte Selbstwertgefühl, das ›Hochgefühl‹, das in der Sicht des Neiders durch die Erfahrung mit dem beneideten Attribut entsteht«. Neidgefühle manifestieren sich leiblich als »Stiche« und »Bisse« und haben einen nagenden und giftigen Charakter (Demmerling & Landweer, 2007, S.  198). Die Redewendung, jemand sei »gelb« oder »starr vor Neid«, bringt den zersetzenden Charakter des Neides, der sich schleichend ausbreitet und die ganze Person okkupieren kann, zum Ausdruck (ebd.). »Der Neidschmerz ist immer ein Schmerz der Selbstachtung, der Schmerz des Mißlingens« (Beland, 2011 [1999], S. 254). Wenn der passiv erlittene Neid aktiv nach außen gewendet wird, kommt die »Zerstörungsabsicht des Neides« (ebd., S. 248) zum Ausdruck. Wenn das begehrte Objekt verdorben, gar vernichtet ist, lässt das quälende Gefühl des Neides nach, wird aber gefolgt von Schuld- und Schamgefühlen und der Angst vor Rache. In der kleinianischen Tradition wird der Neid »vor allen Dingen in seinen destruktiven und pathologischen Formen und Konsequenzen gesehen« (Lohmer, 2000, S. 483). Ich- und selbstpsychologische Konzepte sehen hingegen im Neid auch einen einflussreichen »Entwicklungsmotivator« (ebd.). Neid kann zu Leistungsanstrengungen motivieren. Neid hat auch die Funktion, eigene Ansprüche und Interessen zu verteidigen, um in der Konkurrenz nicht ins Hintertreffen zu geraten. Auch stachelt Neid dazu auf, Ungerechtigkeiten anzuprangern und Maßnahmen zu ergreifen, gerechtere Verhältnisse herzustellen. Die besondere Leistung des Neidgefühls besteht also darin, den Gerechtigkeitssinn zu schärfen und damit zu einem wichtigen »Schrittmacher eines moralischen Bewusstseins« zu werden (Demmerling & Landweer, 2007, S. 196). Wie Rolf Haubl (2012, S. 112) aus Sicht der psychoanalytischen So51

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zialpsychologie ausführt, ist der Gerechtigkeitssinn »die Fähigkeit, eine Verteilung von (materiellen und immateriellen) Gütern als gerecht oder ungerecht zu beurteilen und dafür Gründe anzugeben«. »Gefühlte Ungerechtigkeit« wird als narzisstische Kränkung erlebt. Sie stellt eine hohe psychosoziale Belastung und ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar (ebd., S. 114). Haubl (ebd., S. 116) unterscheidet verschiedene Formen des Umgangs mit Neid und gefühlter Ungerechtigkeit: 1. Beim ehrgeizig-stimulierenden Neid reagiert man mit vermehrter Anstrengung, um mit den beneideten anderen gleichzuziehen oder sie gar zu übertrumpfen. 2. Der bewundernde Neid kann ebenfalls konstruktiv gewendet werden, weil das idealisierte Objekt als Vorbild und Ich-Ideal geschätzt wird. Die Bewunderung kann Ansporn zur Nachahmung werden. 3. Beim empört-rechtenden Neid reagieren die Betroffenen auf die gefühlte Ungerechtigkeit mit moralischer Entrüstung und aggressiv gestimmter Empörung und verweisen dabei auf das Unrecht, das ihnen vermeintlich oder tatsächlich angetan wurde. Wenn im anliegenden Fall tatsächlich reale Ungerechtigkeiten vorliegen, findet der empörtrechtende Neid eine »Verankerung in der Realität« (Mentzos, 1976, S. 127) und ist damit noch schwerer infrage zu stellen. Interaktionell betrachtet, hat die demonstrativ und vehement vorgetragene Empörung die Funktion, mögliche Leidensgenoss*innen emotional anzustecken und zu kollektiver Empörung aufzustacheln, und versucht in Bezug auf Privilegierte, diese einzuschüchtern und in ihnen Schuldund Schamgefühle zu wecken. Die Erwartung, dass diese Wiedergutmachung leisten, kann ein Begleitmotiv sein. 4. Wenn der empört-rechtende Neid weiter aggressiv aufgeladen wird, kann er umschlagen in einen feindselig-schädigenden Neid, dessen Ziel es ist, die Beneideten zu bedrohen, einzuschüchtern, ihnen die begehrten Güter abzunehmen oder sie zu zerstören. Es geht dann gar nicht mehr darum, einen fairen Ausgleich erreichen zu wollen, sondern die Missgunst, die Beneideten zu schädigen, steht im Mittelpunkt des Interesses. In ausgeprägter Form kann sich der feindselig-schädigende Neid so weit steigern, dass die beneideten Personen gewaltsam angegriffen oder gar vernichtet werden, weil dann sichergestellt ist, dass sie keinen ungerechtfertigten Vorteil mehr erzielen können. 5. Der depressiv-lähmende Neid stellt sich ein, wenn eine resignative Stimmung aufkommt, weil man keine Aussicht mehr hat, aus eigener 52

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Anstrengung die begehrten Güter in Besitz zu nehmen. Eine passivdepressive und unterwürfige Haltung kann dann als letzter hilfloser Appell verstanden werden, der oder die Beneidete möge doch freiwillig etwas abgeben. Bei der noch stärker autoaggressiven Variante imponiert der demonstrativ-selbstzerstörerische Impetus, der die anderen emotional aufrütteln, zum Eingreifen motivieren oder Schuldgefühle erzeugen soll. Er kann aber auch Ausdruck von Verbitterung und Rachewünschen sein.

Neid ist nicht nur ein individuelles Gefühl, sondern kann auch kollektiv empfunden werden. Eine Gruppe, ein Kollektiv, eine Partei oder auch eine soziale Bewegung kann das gemeinsame Gefühl entwickeln, dass die Angehörigen der Gruppe nicht das bekommen, was ihren von Rechts wegen zustünde. Die rechtspopulistischen Bewegungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie neidgesteuert sind. Ihr Motto lautet: »Die Flüchtlinge bekommen die materielle und immaterielle Unterstützung und Anerkennung, die eigentlich uns zusteht und die uns verweigert wird.« Der ehemalige US-Präsident Donald Trump erhob den Neid gar zum politischen Leitmotiv, als er propagierte, Amerika werde über den Tisch gezogen, werde unfair behandelt, bekomme nicht genug von dem, was ihm eigentlich zustünde usw. Im Falle der neidgetriebenen Rhetorik von Trump verfielen seine Anhänger*innen allerdings nicht in Verbitterung und Resignation, sondern fühlten sich mit ihrer eigenen Neidproblematik von der Sprachgewalt ihres Präsidenten verstanden. Die gefühlte Ungerechtigkeit auf individueller Ebene wurde kompensiert mit dem Gefühl eines Souveränitätsgewinns auf der kollektiven Ebene der großen Politik und der idealisierten Nation. Trump versprach, sich in der ganzen Welt gegen die ungerechte und unfaire Behandlung aller Amerikanerinnen und Amerikaner zur Wehr zu setzen. Und er löste dieses Versprechen mit rabiaten Mitteln ein, die anzuwenden der Einzelne in seinem Umfeld nicht die Macht und meist auch nicht die Unverfrorenheit und Schamlosigkeit besitzt. Das kollektive Ausagieren von Neid im Rahmen von populistischen Bewegungen kann als eine weitere Strategie aufgefasst werden, um mit Neid fertigzuwerden. Damit gehen häufig paranoide Einstellungen einher. Um an der Opferrolle festhalten zu können, werden soziale Zurückweisungen immer wieder erneut provoziert. So kann man seine gefühlte Ungerechtigkeit weiter kultivieren. Das ewige Opfersein wird mit »masochistischem 53

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Stolz« (Haubl, 2012, S. 117) genossen. Populistische Bewegungen stellen einen »destruktiven Container« (Zienert-Eilts, 2018) dar, mit dessen Hilfe sich der Einzelne über kollektiv geteilte Abwehrstrukturen in eine Gemeinschaft integriert (Brunner, 2016, S. 24).

Ekel Ekel hat eine starke körperliche Fundierung. Wir empfinden Ekel als einen Affekt, der so sehr mit körperlichen Reaktionen verbunden ist, dass man fast geneigt wäre, ihn als einen rein körperlichen, instinkthaften, von Natur aus angelegten Reiz-Reaktions-Mechanismus zu interpretieren, der gleichsam ohne kulturelle Überformung auskommt. Aber schon die Gebrüder Grimm unterscheiden zwischen dem Ekel als einem sinnlichen Widerwillen einerseits, einer körperlichen Abscheu, die sich auf verdorbene oder im Übermaß genossene Speisen und Getränke richten, und dem geistigen Widerwillen, dem Ekel der Seele andererseits. Im Grimm’schen Wörterbuch wird Ekel als »eins der auffallendsten Wörter unserer Sprache« ( J. Grimm & W. Grimm, 1984 [1854], Band 3, S. 394) bezeichnet, das sich insbesondere in der Verwendung als Adjektiv »zu feinen Unterscheidungen« eigne. Mit ihrer Rede von den »feinen Unterscheidungen« nehmen die Brüder Grimm eine Formulierung vorweg, die Pierre Bourdieu (1982) in seiner Theorie der »feinen Unterschiede« auf den Begriff bringen wird. Auch der Philosoph Aurel Kolnai (2007 [1929]) hebt in seiner facettenreichen Phänomenologie des Ekels hervor, dass der Ekel trotz seiner »Leibgebundenheit« (ebd., S. 9) ein Gefühl ist, das in allen Bereichen der menschlichen Psyche eine Rolle spielt und dem beispielsweise als »moralischer Ekel« eine »unersetzliche und legitime ethisch-kognitive Funktion« (ebd., S. 58) zugeschrieben werden muss. Der seelische Ekel ist demnach eine Eigenschaft, die den Menschen auszeichnet. Wir stoßen hier auf das Phänomen, dass die beiden elementaren aversiven und gesellschaftlich verpönten Gefühle Neid und Ekel bei der Ausbildung des moralisch-ethischen Bewusstseins eine tragende Rolle spielen. Dass dem Schuldgefühl und dem Schamgefühl eine ähnliche Funktion zukommt, ist hingegen weithin anerkannt. Im gewaltigen Chor der Gefühle nimmt der Ekel die Stimme der Aversion, der Abneigung, des Sich-Abwendens, des Von-sich-Stoßens und der Kontaktverweigerung ein. Im direkten Kontakt mit unseren Mitmenschen 54

Ekel

übernimmt das Ekelgefühl die Funktion, uns vor unliebsamer, schädlicher und übergriffiger Nähe des anderen zu schützen. Beim Ekel geht es um die Zurückweisung und Ausstoßung des »schlechten Objekts«, das dabei ist, die intime Grenze des Selbst zu verletzen, oder diese bereits überschritten hat. Freud (1905d, S. 50f.) betrachtete den Ekel neben der Scham und der Moral als eine Kraft, die sich der ungehemmten Abfuhr der Libido in den Weg stellt (Kluitmann, 1999). So verhindere der Ekel, dass Mund und After zum Triebziel genitaler Libido werden. Freud, der immer in Ambivalenzen dachte, schloss aus dem starken Widerwillen, der im Ekel zum Ausdruck kommt, auf die Existenz einer mindestens ebenso starken Anziehungskraft. Das anale Interesse des kleinen Kindes an seinen eigenen Ausscheidungen sah Freud als den ursprünglichen Triebwunsch, der durch die Sauberkeitserziehung zur Reaktionsbildung des Ekels führe. In der starken affektiven Erregung des Ekels vermutete er die Manifestation einer Kompromissbildung zwischen der ursprünglichen Schmutzlust und ihrer Abwehr. Insofern betrachtete Freud den Ekel als ein neurotisches Symptom, das in einer Kompromissbildung zwischen Abwehr und dem lustvollen Genuss des Verdrängten besteht. Tatsächlich kann Ekel die Gestalt eines neurotischen Symptoms annehmen, so wie Angst sich zur Angstneurose steigern kann. Doch darf die Essenz des Ekelbegriffs nicht auf ein neurotisches Symptom eingeschränkt werden. Das Gefühl des Ekels hat – ähnlich wie die Angst oder der Neid – eine Signalfunktion. In der Ekelempfindung kann das Subjekt erkennen, dass eine Grenze überschritten wurde. So erging es einer Ärztin, die in der Schlussphase ihrer produktiven Analyse von Ekelgefühlen gegenüber ihrer Großmutter berichtet. Sie erinnert sich, dass sie es als Kind liebte, die langen weißen Haare ihrer Großmutter, die diese als Haarknoten trug, zu kämmen. Das sei eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Aktuell liege die Großmutter im Krankenhaus und äußere wiederholt den Wunsch, die Patientin möge ihr doch die Haare kämmen. Aber die Patientin empfindet einen abgrundtiefen Ekel davor, die Großmutter zu berühren, sie körperlich zu pflegen oder ihr gar die Haare zu kämmen. Ihre Assoziationen führen zu der Erinnerung, wie sehr die Großmutter (väterlicherseits) die Mutter der Patientin unterdrückt und gegängelt habe. Die Patientin assoziiert zu ihrem Ekelgefühl einen ihrer Grundkonflikte, nämlich sich als Kind dafür verantwortlich gefühlt zu haben, die Spannungen zwischen ihren Eltern und die zwischen den Generationen auszugleichen. Sie nahm 55

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als Kind ein Zuviel an körperlicher Nähe zu ihrer Großmutter auf sich, um die Spannungen zwischen den Generationen zu neutralisieren. Dieses Zuviel an intimer Nähe wird ihr jetzt im Ekel bewusst. Ekel ist in den meisten Fällen eine basale Gefühlsreaktion auf eine Situation unliebsamer, unangemessener, illegitimer, missbrauchender Nähe. Dem Ekel kommt also eine wichtige, das Subjekt schützende Warnfunktion zu. Diese Sichtweise ergänzt Freuds Auffassungen um die beziehungsdynamische bzw. relationale Bedeutung des Ekels. Gerade weil es so schwer ist, über eigene Ekelgefühle zu sprechen, sollten Ekeläußerungen von Patientinnen und Patienten in der therapeutischen Situation als wahrscheinlich zutreffende Gefühlsreaktionen ernstgenommen werden. Sie sollten ermutigt werden, weiter über ihre Ekelgefühle zu sprechen. Deutungen im Stile von »Vielleicht fühlen Sie sich ja auch angezogen von dem, was Sie ekelt« missverstehen in aller Regel die emotionale Situation der Patient*innen und können eine pathogene Wirkung haben. Der Ekelaffekt kommt zwar »aus den Tiefen der Eingeweide des Menschen« (Liessmann, 1997, S. 102) und ist ein basaler physiologisch fundierter Affekt, aber der Ekelbegriff kann auch als Metapher, d. h. als Sinnbild, benutzt werden. Beide Seiten sind durchaus miteinander verbunden. Eine andere Patientin, die vor dem Hintergrund von Missbrauchserfahrungen häufig über massive Ekelgefühle spricht, neigt dazu, auch bei relativ harmlosen Konflikten ihre Irritationen und ihr Missfallen mit der Mimik des Ekels auszudrücken. Dabei blickt sie mich an. Sie will wissen, ob ich ihr Ekelgefühl nachvollziehen und teilen kann. Sie benutzt also den mimischen Ausdruck des Ekels als körpergebundene Ausdrucksform für relativ harmlose Unlustgefühle und Missfallensäußerungen. Mit ihr versuche ich herauszufinden, wann sie sich ekelt und wann sie eher Ärger, Enttäuschung oder andere Gefühle empfindet. Sowohl Ekel als auch Scham kommen in passiver als auch in aktiver Form vor: Wir werden von etwas oder jemandem angeekelt oder beschämt, aber wir können auch jemanden anekeln oder beschämen. Das eine ist ein Gefühl, das andere ist eine Handlung, deren Ziel es ist, ein heftiges Gefühl beim anderen hervorzurufen. Das »reine Gefühl« kann nicht unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet werden, weil es uns widerfährt und nicht unserem Willen unterliegt. Die Handlung, andere zu beschämen oder zu verekeln, kann hingegen ethisch bewertet werden. Die Philosophin Martha Nussbaum (2014) sieht in der Verekelung von sozialen Gruppen eine äußerst destruktive politische Strategie, Gruppen von Menschen zu 56

Ekel

entwerten und als ekelerregend darzustellen. Man schreibt ihnen Eigenschaften zu, die Ekel und Abscheu erregen, beispielsweise Schleimigkeit, Klebrigkeit, schlechten Geruch oder Schmutzigkeit. Es handelt sich um ein klassisches antisemitisches Motiv, das »tief verwurzelte, gegen Juden gerichtete ›feindliche Gefühle‹ – mithin Neid, Wut, Ekel, Abscheu, Verachtung« ( Jensen & Schüler-Springorum, 2014, S. 1979) anspricht und dramatisiert. Die demonstrative Inszenierung von Ekelgefühlen gegenüber anderen ist der Versuch, diese so einzuschüchtern und zu entwerten, dass sie sich schämen. Wenn Beschämte dann beginnen, die negativen Zuschreibungen in das eigene Selbstbild zu übernehmen, verwandeln sie sich nach und nach in ekelhafte Ungeheuer, zu denen sie ihre Mitmenschen machen wollen. Wie ein solcher Prozess ablaufen und schließlich zur Selbstverekelung und zum Verlust der menschlichen Identität führen kann, zeigt Kafkas Erzählung »Die Verwandlung« (Kafka, 1995 [1915]). Der Protagonist Gregor Samsa verwandelt sich Schritt für Schritt in ein Insekt, von dem sich der Rest der Familie voll Abscheu abwendet. Scham ist ein Affekt, der im sozialen Verkehr der Menschen miteinander sehr eng mit Narzissmus und Macht (Wirth, 2002) verknüpft ist. Scham ist Ausdruck eines mangelhaften Selbstwertgefühls angesichts eines anderen, der über mehr Macht verfügt. Andere lächerlich zu machen, sie zu beschämen, ist ein Mittel, um die eigene Überlegenheit, die eigene Macht zu demonstrieren oder zu festigen. Wie aber beschämt man einen anderen Menschen besonders wirkungsvoll? Indem man ihn als minderwertig, als verachtenswert, als animalisch und im Extremfall als ekelhaft darstellt. Da der Ekelaffekt auf intensiven körpernahen Prozessen basiert, ist dies eine besonders wirkungsvolle Form, andere zu beschämen. Nicht umsonst appellierte der nationalsozialistische Antisemitismus an den Ekelaffekt, indem er die Juden als Ungeziefer, Parasiten, als Brut, als Abschaum usw. darstellte und damit die ganze Palette der Ekelattribute ansprach. Auch Rechtspopulist*innen, namentlich die AfD, arbeiten systematisch mit der Erzeugung von Ekelgefühlen gegenüber ihren Gegnern. So benutzte AfD-Vize Jörg Meuthen den Begriff »grün-alternativ versifftes Milieu«, um die AnhängerInnen der Grünen und die emanzipatorischen Bewegungen als ekelerregenden Abschaum zu diffamieren. Trump bezeichnete seine Kritikerinnen und Kritiker innerhalb seiner eigenen (republikanischen) Partei als »menschlichen Abschaum«. AfD-Chef Alexander Gauland benutzte ebenfalls einen Begriff, der Ekel erzeugen sollte, als er 57

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im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust von einem »Vogelschiss« sprach. Diese Formulierung, auf die ich im Kapitel über Gauland nochmals ausführlicher zurückkommen werde, ist bösartig. Es ist die anal konnotierte Hinterhältigkeit, die der Aggression den Geruch des Ekelhaften verleiht. Gauland distanziert sich nur scheinbar von Hitler und den Nazis; denn zum einen stellt der Begriff »Vogelschiss« als moralische Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen eine groteske Verharmlosung dar, zum anderen wird die menschenverachtende Strategie, einer Gruppe von Menschen ekelerregende Eigenschaften zu unterstellen und sie damit als Schädlinge und Ungeziefer zu charakterisieren, die bedenkenlos vernichtet werden sollten, in vordergründig flapsiger, tatsächlich aber infamer Weise ins Spiel gebracht. Indem Gauland indirekt eine nationalsozialistische Hassparole zitiert, erinnert er an sie, rehabilitiert er sie und macht sie wieder salonfähig. Soziologisch betrachtet, dienen Ekelgefühle den Eliten dazu, ihre Distanz zu den unteren Schichten zu rechtfertigen und zu festigen. Der Soziologe Pierre Bourdieu (1982) schreibt den »feinen Unterschieden« in Fragen des Geschmacks – des Geschmacks in den Bereichen Essen, Trinken, Kleidung, Musik, Wohnungseinrichtung usw. – eine zentrale Rolle bei der Ausdifferenzierung und Abgrenzung gesellschaftlicher Klassen, Schichten, Kulturen und Subkulturen zu. Dem Ekel kommt dabei eine wichtige steuernde Funktion auf der Affektebene zu, weil das Ekelgefühl – wie schon die Gebrüder Grimm erkannten – die feinsten Geschmacksunterschiede sensibel registriert. Wie Pierre Bourdieu in seiner Theorie über die »feinen Unterschiede« herausgearbeitet hat, ekelt sich die feine Gesellschaft vor der Primitivität der niedrigeren Schichten und festigt so ihr narzisstisches Überlegenheitsgefühl und ihren Herrschaftsanspruch. Das narzisstische Selbstwertgefühl des Individuums, aber auch die narzisstische Gruppenidentität, werden durch die feinen Unterschiede des Geschmacks – und seinen affektiven Wächter, den Ekel – abgesichert. Im Zuge der gesellschaftlichen Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen findet nicht nur eine politische, sondern auch eine Polarisierung auf der Ebene der kollektiv geteilten Emotionen statt. Auf der einen Seite stehen Gruppierungen, für die es als political incorrect gilt, Ekelgefühle gegenüber anderen offen zu zeigen. Als höchste Tugend wird die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten und die Zurückhaltung averser Gefühlsäußerungen aufgefasst. Gefühle wie Ekel und Verachtung zu empfinden und vor allem zu äußern, gilt als extrem verpönt (Krause, 2006). Auf der 58

Verbitterung

anderen Seite verbreitet sich in den sozialen Medien ein Kommunikationsstil, bei dem die gezielte Verekelung und Beschämung zu einem anerkannten Mittel wird, um kulturelle und ästhetische Differenzen zu markieren. Rechtspopulistische Gruppierungen greifen diese Methoden auf und verbinden sie mit der Diffamierung, Verekelung und Beschämung der politischen Gegner*innen und der zu Außenseitern sowie Fremden deklarierten Minderheiten (Haubl & Wirth, 2019). Die Vorstellung, den »Volkskörper« von Ekelhaftem zu säubern, verbindet sich »wie selbstverständlich mit Hass« ( Jensen, 2017, S. 72).

Verbitterung »Das Gefühl der Verbitterung ist jedem Menschen vertraut« (Baumann & Linden, 2015, S. 207), stellen die beiden Autoren in ihrem Artikel »Verbitterungsemotionen und Posttraumatische Verbitterungsstörung« lapidar fest. Verbitterung ist ein Affekt, der sich aus verschiedenen anderen Affekten zusammensetzt. Verbitterung stellt sich häufig als Reaktion auf Ungerechtigkeit, Zurückweisung, Kränkung, Herabwürdigung, Beleidigung oder Vertrauensbruch ein. Verbitterung ist nagend und kann über lange Zeit wirksam sein. In manchen Fällen klingt Verbitterung dennoch wieder ab, in anderen kommt sie immer wieder hoch, wenn ihr Anlass in Erinnerung gerufen wird. Verbitterungsgefühle wirken wie ein schleichendes Gift, das das Wohlbefinden nachhaltig beeinträchtigen und auch die familiären und sonstigen sozialen Beziehungen des Betroffenen grundlegend belasten kann. Als eigenes Krankheitsbild ist die Verbitterungsstörung erst in den letzten Jahren in den Blick geraten (ebd., S. 208). Manche Autoren und Autorinnen sprechen von einer »Posttraumatischen Verbitterungsstörung« als einer Sonderform der Posttraumatischen Belastungsstörung, bei der Verbitterung als Leitsymptom auftritt. Es mag problematisch sein, dem Gefühl der Verbitterung ein eigenständiges Krankheitsbild zuzuschreiben, aber als Symptom verdient diese Emotion Beachtung. Ressentiment und Verbitterung haben eine relativ große Schnittmenge – auf die schon Scheler (1955 [1915], S. 55) hingewiesen hat –, sind aber nicht identisch. Die Verbitterung bezieht sich vornehmlich auf die eigene persönliche Situation, während sich das Ressentiment eher auf allgemeine Verhältnisse bezieht. Der Affekt der Verbitterung hat »bislang in der wis59

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senschaftlichen Forschung vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gefunden« (Baumann & Linden, 2015, S. 208). Das Gefühl der Verbitterung spielt jedoch eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit »Erlebnissen mit sozialer Ungerechtigkeit […], lang andauernder Arbeitslosigkeit […] und schwerwiegenden Lebensereignissen im Rahmen einer Extremtraumatisierung« (ebd.). »Kommt es zum Erleben von Ungerechtigkeiten, so begehren Betroffene zunächst dagegen auf, um sich dann beim Erleben von Erfolglosigkeit passiv zurückzuziehen. Verbitterung geht mit dem Gefühl von erlittenem Unrecht einher, ist mit dem Gefühl der Herabwürdigung, mit Aggression gegen den Verursacher, gleichzeitig aber auch mit dem Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins verbunden und kann sich so nicht nur gegen andere Personen, sondern auch gegen das ›Schicksal‹ wenden« (ebd., S. 209).

Hier besteht eine gewisse Ähnlichkeit zum Hospitalismus-Reaktionsmuster von extrem vernachlässigten Säuglingen, wie sie René Spitz (1974 [1965]) beschrieben hat. Auch hier findet sich eine Abfolge von Protest, Selbstbeschädigung, Resignation und apathischem Rückzug. Sind die Ungerechtigkeiten nicht zu verhindern oder rückgängig zu machen, kommt es häufig zu einer Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst in Form von Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Selbstvorwürfen. Ergibt sich jedoch eine soziale Situation, in der man das eigene Schicksal mit anderen teilen kann und sich in seinem Gefühl des Opferseins zu einem Kollektiv zusammenschließt, kann die Aggression wieder nach außen gegen tatsächliche oder vermeintliche Verursacher der Ungerechtigkeiten gewendet werden. Mit Aktionen, den anderen Ungerechtigkeit zufügen, wird versucht, die Gefühle von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein zu kompensieren. Rechtspopulistische Gruppierungen greifen regelmäßig Verbitterungsgefühle auf, indem sie über die Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen gegenüber der eigenen Gruppe klagen. Anschließend versuchen sie, die Verbitterung in Wut und Empörung zu verwandeln. Als eine Vorform der Verbitterung kann die Verdrossenheit angesehen werden. Die »Politikverdrossenheit« großer Teile der Bevölkerung, die sich in niedriger Wahlbeteiligung ausdrückt, wird schon seit vielen Jahren beklagt. Mit dem Rechtspopulismus hat sie sich nun zur Verbitterung gesteigert und im »Wutbürger« einen gesellschaftlichen Ausdruck gefunden. 60

Verbitterung

In der kollektiv ausgedrückten Wut sollen die Ohnmachtsgefühle überwunden und »Handlungsmacht« (Lehmann, 2019, S. 157) wiedergewonnen werden. Im folgenden Beispiel will ich zeigen, wie sich über Jahre hinweg aus dem Gefühl der Verbitterung ein Ressentiment herausbilden kann, das immer stärker wird, bis es sich schließlich in Ausbrüchen von offenem Hass entlädt. Fallbeispiel: Verbitterung als Nährboden für Ressentiments

Herr  A. ist 65  Jahre alt. Er ist in Westdeutschland aufgewachsen, seine Mutter ist auch dort geboren, der Vater kommt aus der Kasachstan. Ich kenne Herrn A. aus unserer gemeinsamen Zeit in einer Fußballmannschaft. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Er hat als ungelernter Arbeiter in verschiedenen Jobs gearbeitet. Mit 50 Jahren wurde er wegen Rückenbeschwerden und der Insolvenz der Firma in den frühzeitigen Ruhestand geschickt. Seine Rente fällt entsprechend bescheiden aus. Darüber klagt er immer wieder, kann diese Tatsache aber auch mit bitterer Ironie kommentieren: »Mit meinen 3.000 Euro Rente komme ich ganz gut aus!« Hier kommt vermutlich auch ein Gefühl des Neides zum Ausdruck. Auch die Tatsache, dass es mir finanziell und sozial besser geht als ihm, kommentiert er gelegentlich mit scherzhaften Bemerkungen, die aber nicht verletzend sind. Wir haben kein sehr enges, aber doch ein freundschaftliches Verhältnis, das von wechselseitiger Wertschätzung und Akzeptanz geprägt ist. Herr A. ist offen, eine »ehrliche Haut« und sehr hilfsbereit. Nur wenn das Gespräch auf Politik kommt, konnte er sich schon immer leicht erregen, nach dem Motto: »Die da oben lügen und betrügen und kümmern sich einen Dreck um uns hier unten.« Mit dem Erstarken der AfD und mit der Ankunft der Flüchtlinge seit 2015 haben sein Hass und seine Ressentiments gegen Flüchtlinge und MigrantInnen eine enorme Steigerung erfahren. Insbesondere empört ihn, dass der Staat die Flüchtlinge mit finanziellen Mitteln versorgt, die dann für die deutsche Bevölkerung fehlten. Man kann sich mit ihm über diese Themen nicht mehr vernünftig unterhalten. Er gerät schnell außer sich vor Wut, läuft buchstäblich rot an, seine Halsschlagader tritt hervor und er ballt die Fäuste, als wolle er jemanden 61

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erwürgen. Wenn er sich wieder etwas abgeregt hat, kann ich durchaus mit ihm über diesen Erregungszustand sprechen und er sieht ein, dass er es »irgendwie übertreibt«. Aber er kann seinen Hass nicht steuern – seine Affektregulation setzt bei diesem Thema regelmäßig aus. Die Zuspitzung ist allerdings nicht nur durch politische Faktoren ausgelöst worden. Es gibt auch einen persönlich-familiären Hintergrund: Sein ältester Sohn war schon immer ein Sorgenkind, trieb sich in »schlechten Kreisen« herum, trank viel Alkohol und nahm Drogen. Er hat eine uneheliche Tochter – ich nenne sie hier »Natascha«. Nach der Trennung wurde Natascha der Mutter zugesprochen, obwohl diese einen unsteten Lebenswandel führte, angeblich der Prostitution nachging und die Tochter vernachlässigte. Zeitweise lebte Natascha für einige Wochen bei den Großeltern, die sich mit großem Engagement um ihre Enkeltochter kümmerten. Es kommt zum Streit zwischen Nataschas Mutter auf der einen Seite und Nataschas Vater und den Großeltern auf der anderen Seite. Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes stützt die Mutter des Kindes, sodass sie fürs Erste das Sorgerecht behält. Herr A. ist erbost über die Ämter und das Familiengericht. Es zeigen sich deutliche Anzeichen von Verbitterung. Er empfindet es als ungerecht, dass das Jugendamt und das Familiengericht den enormen Einsatz von seiner Frau und ihm nicht anerkennen und die in seinen Augen minderwertige Mutter unterstützen. Er konnte sich früher in ähnlich aufgebrachter Weise über die Ungerechtigkeit des Jugendamtes in Rage reden wie jetzt über die Flüchtlingspolitik. Als Natascha in die Pubertät kommt, eifert sie immer mehr ihrer Mutter nach, indem sie Alkohol trinkt, die Schule schwänzt, nachts nicht nach Hause kommt und sich sexuell aufreizend kleidet und verhält. Ich habe den Eindruck einer Pubertätskrise, die zu entgleisen droht. Das Jugendamt und das Familiengericht sprechen nun doch dem Vater das Sorgerecht zu, wobei die Großeltern in die Betreuung einbezogen werden. Doch auch die Großeltern werden mit Natascha bald nicht mehr fertig. Wann immer sich die Gelegenheit ergibt, geht sie zu einem Treffpunkt, an dem sich jugendliche Migrant*innen und Flüchtlinge versammeln, um zu rauchen, zu trinken und Musik zu hören. Niemand scheint Natascha noch erreichen und leiten zu können. Es wird deshalb eine mehrmonatige stationäre sozialpädagogische Maßnahme in einer Einrichtung für verhaltensauffällige Ju62

Verbitterung

gendliche in die Wege geleitet, die zu einer gewissen Stabilisierung zu führen scheint. Aber Herr  A. ist verbittert und voll von Ressentiments gegenüber »der Merkel«, die die Flüchtlinge reingelassen habe, und gegenüber »den Flüchtlingen, Migranten und Ausländern«, denen er die Schuld dafür gibt, dass das Leben seine Enkeltochter so aus dem Ruder gelaufen ist. Über Natascha ist er auch tief enttäuscht und wirft ihr vor, dass sie undankbar sei und uneinsichtig. Aber er hasst sie nicht, sondern verschiebt den Hass auf Merkel und die Flüchtlinge. Dass die Ursache für Nataschas Schwierigkeiten in ihrer belasteten Kindheit liegen, kann er allenfalls für einen kurzen Moment kognitiv akzeptieren, wendet dann aber sofort ein: »Aber trotzdem.« Politische Ressentiments haben häufig einen sehr persönlichen Hintergrund, der mit der politischen Ebene nur assoziativ verknüpft ist. Man sieht den Ressentiments ihren individuellen Beweggrund nicht an, weil sie mit allgemein verbreiteten Phrasen, Ideologien und Feindbildern begründet werden. Gefühle von Ungerechtigkeit, Machtlosigkeit und des Nichtwertgeschätzt-Werdens können sich über viele Jahre hinweg aufstauen. Hinzu kommen Gefühle von Neid, die »zu den häufigsten Ursachen individuellen und kollektiven Hasses« (Haubl, 2007, S. 63) gehören und die vom Rechtspopulismus systematisch geschürt werden (Lohl, 2017). Bei neuerlich auftretenden Ereignissen, die als ungerecht und entwertend erlebt werden, werden die alten Verbitterungen reaktiviert und erhalten neue Nahrung. Im Fall von Herrn A. addieren sich zur Verbitterung über die unfaire vorzeitige Verrentung und die magere Rente die Gefühle der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit angesichts der Entscheidungen des Jugendamtes und des Familiengerichts. Dass er selbst an der Entwicklung seiner Enkeltochter direkt und indirekt beteiligt war, und insofern eine Mitverantwortung haben könnte, kann er nicht sehen, sondern projiziert die Schuld auf andere, die er hassen kann. Aufschlussreich ist das Verhältnis von individuellen (privaten) und kollektiven (öffentlichen) Ressentiments. So kann auf einer individuell-familiären Ebene aufgrund von Jobverlust, Scheidung, die schiefe Bahn der Kinder usw. das Gefühl entstehen, das Leben sei aus den Fugen geraten. Dieses Gefühl des Kontrollverlusts kann sich aber auch auf die Gesellschaft im Allgemeinen beziehen, auf die Welt des Politischen. Dass dies zwei unabhängige Dimensionen sind, haben die Shell-Jugendstudien immer 63

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wieder gezeigt. Jugendliche können ein pessimistisches Bild von der Gesellschaft haben, in Bezug auf ihre eigene Zukunft aber optimistisch eingestellt sein – und umgekehrt (Hurrelmann, 2006, S. 171). Die zwei voneinander unabhängigen Dimensionen können sich wechselseitig beeinflussen, beispielsweise in dem Sinne, dass das Gefühl des Kontrollverlustes im persönlichen Bereich auf die Politik verschoben und dort bekämpft wird. So können Menschen, die in Bezug auf ihr eigenes Leben das Gefühl des Kontrollverlusts haben, dieses Gefühl auf die Gesellschaft verschieben. Sie beklagen dann den gesellschaftlichen Kontrollverlust und bekämpfen ihn mit dem populistischen Slogan »Take back control!«, der ihnen subjektiv für beide Konfliktebenen eine Lösung zu versprechen scheint.

Ressentiments Feindbilder und Vorurteile gehören zu den von der Sozialpsychologie am meisten untersuchten Sachverhalten. Unter Vorurteilen versteht man vorgefasste negative Einstellungen und Urteile über eine Person, eine soziale Gruppe oder einen Gegenstand, »die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründen«, wie es in Gordon Allports Buch Die Natur des Vorurteils (1971 [1954], S. 23) heißt. Verdichten sich verschiedene charakteristische Vorurteile zu einem Vorurteilssyndrom, so bildet dieses ein Feindbild. Solche Feindbilder richten sich oft gegen nationale, ethische oder religiöse Gruppen. Feindbilder stellen eine Form verzerrter Realitätswahrnehmung dar. Sie sind fest verankert im psychischen System und erweisen sich deshalb häufig als resistent gegenüber neuen Erfahrungen und Aufklärungsversuchen. Allerdings hängt die Starrheit der Feindbilder und die Rigidität, mit der an ihnen festgehalten wird, entscheidend davon ab, welche spezifische Funktion das Feindbild im psychischen Haushalt des Individuums einnimmt und welche Stützung das Feindbild von dem näheren und weiteren sozialen Umfeld und dem politischen Klima der Gesellschaft erfährt. Der Begriff des Vorurteils und die Vorurteilsforschung haben zwar wichtige Erkenntnisse gebracht, verbleiben aber infolge ihres im Kern kognitiven Erklärungsmodells an der Oberfläche und können zutiefst irrationale Ausbrüche von Hass und Gewalt nicht erklären. Der Begriff des Ressentiments betont hingegen die emotionalen und affektiven Beweggründe, die im Unbewussten verankert sind. Aus psychoanalytischer Perspektive ist der Begriff des Ressentiments deshalb vielversprechender. 64

Ressentiments

»Ressentiment« – so heißt es im Historischen Wörterbuch der Philosophie – stammt aus dem Französischen und meint so viel wie »dauerhaft empfinden« und »sich merken«, insbesondere mit Blick auf Empfindungen negativen Inhalts, »weil sich negative Empfindungen dauerhafter einprägen als positive« (Probst, 1980). Der Philosoph Max Scheler (1955 [1915]) knüpft an Friedrich Nietzsche an und beschreibt das Ressentiment als eine Vergiftung des sozialen Klimas, die mit einer »seelischen Selbstvergiftung« (ebd., S. 48f.) einhergeht. Mit der Metapher der Vergiftung soll ausgedrückt werden, dass es sich um einen Prozess handelt, der schleichend verläuft, einige Zeit unbemerkt bleiben kann, aber schließlich in alle Poren des seelischen und auch des sozialen Lebens eindringt. Das Ressentiment unterscheidet sich deutlich vom offenen Wutausbruch, der explosionsartig hervorbricht und in seiner aggressiven Qualität als solcher klar zu erkennen und einzuordnen ist. Im Unterschied dazu verstecken sich beim Ressentiment die aggressiven Qualitäten hinter demonstrativer Biederkeit, Angepasstheit an Konvention, Tradition und reaktionären Haltungen, die sich als Konservatismus, Traditionspflege und Heimatliebe maskieren. Das Ressentiment hat daher einen heimtückischen, schleichend zersetzenden, bösartigen und hinterhältigen Charakter. Personen und Gruppierungen, die Ressentiments pflegen und in die Welt setzen, bedienen sich regelmäßig der Lüge, des Verrats, des Hinterhalts, des unfairen Tricks und der Heimtücke. Und während sie all diese Verhaltensweisen selbst praktizieren, klagen sie die anderen gerade dieses unmoralischen Verhaltens an. Sie inszenieren sich als Opfer der Niederträchtigkeit, die ihr eigenes Handeln charakterisiert. Die Einnahme einer Opferrolle soll bei der eigenen Anhängerschaft und in der Öffentlichkeit den »Eindruck einer moralischen Überlegenheit erzeug[en], um bisher geltende moralische Standards […] aus dem Weg zu räumen« (Heitmeyer, 2018, S. 292). Léon Wurmser ist einer der wenigen Psychoanalytiker, der sich mit dem Ressentiment beschäftigt hat. In seinen beiden Büchern Flucht vor dem Gewissen (1987) und Die zerbrochene Wirklichkeit (1989) untersucht er den Affekt und die Haltung des Ressentiments und führt die folgenden Gruppen von Motivkräften an, aus denen sich der Affekt des Ressentiments zusammensetzt: 1. Sich auf Max Scheler (1955 [1915]) beziehend, führt Wurmser (1989, S. 132) die folgenden aggressiven Wünsche und Gefühle an: 65

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Neid, Eifersucht, Rachsucht, Missgunst, Groll, Scheelsucht, Hämischkeit, Schadenfreude, Verachtung, Hass, Bosheit und – wie ich ergänzen möchte – Verbitterung. Ausgelöst werden diese Gefühle durch eine subjektiv empfundene oder auch real vorhandene Verletzung des Prinzips der Gerechtigkeit. Wurmser betont wiederholt und nachdrücklich – und hier geht er über Scheler hinaus –, dass das Ungerechtigkeitsgefühl von zentraler Bedeutung für das Ressentiment ist. Das Ressentiment bilde »gleichsam ein Gegenstück zur Loyalität, und zwar das Gefühl der verratenen Loyalität. ›Ich habe meinen Teil geleistet und du hast mir den deinen vorenthalten.‹« (Wurmser, 1987, S. 115). Im Zentrum steht ein »Beziehungstrauma von Beschämung und Demütigung« (Wurmser, 2008, S. 963), das in dem Gefühl kulminiert, »im innersten Wesen verraten worden zu sein« (ebd.). Es besteht das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, und die Überzeugung, dass das »Prinzip der Gerechtigkeit« verletzt worden ist. Zugleich hat man den Glauben daran verloren, aus eigener Kraft doch noch Gerechtigkeit erreichen zu können. Es besteht (zumindest anfänglich) das Bedürfnis, die Gefühle von Neid, Rachgier, Schadenfreude, Bosheit, Zynismus und Verbitterung »hinter einer Maske der Unschuld zu verstecken und damit die Notwendigkeit der Täuschung und der Lüge, nicht nur anderen, sondern auch ganz besonders sich selbst gegenüber« (Wurmser, 1989, S. 133). Es existiert die Bereitschaft, das erlittene Unrecht zu verallgemeinern und den Rachewunsch auf andere Gegenstände zu verschieben. Schließlich kann die gesamte Lebenseinstellung vom Ressentiment überschattet werden. Je stärker der Gerechtigkeitsanspruch ausgeprägt ist, umso heftiger ist auch das Rechtsverlagen gegenüber dem anderen. Daraus leiten sich die stark ausgeprägten Affekte der Empörung, der Anklage, der Beschimpfung und Beschämung des anderen ab (Wurmser, 1987, S. 115). Schließlich thematisiert Wurmser auch die kollektive Bedeutung von Ressentiments: »Politische Führer verdanken ihre Überzeugungskraft oft  […] dem geschickten Spiel mit weit verbreiteten, sich oft völlig widersprechenden Ressentiments; ihr eigenes oft spürbar brennendes Ressentiment wird zum magnetisch wirkenden Resonanzinstrument und Ausdruck der volksweit schwelenden und mannigfach begründeten Ressentiments« (ebd., S. 130).

Ressentiments

Der biografische und kulturelle Hintergrund, auf dem sich Ressentiments herausbilden, ist in aller Regel durch Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Demütigung geprägt. Häufig reagieren insbesondere diejenigen Individuen oder Gruppen mit Ressentiments, die einen sozialen oder kulturellen Abstieg durchgemacht haben, weil bei ihnen die Kränkung über ihre derzeitige Lage am schmerzlichsten ist – »[d]ie Verlierer von heute sind häufig die halbwegs Etablierten von gestern« (Nachtwey, 2017, S. 225). Es sind also nicht nur oder vorwiegend die sozioökonomisch deprivierten Gruppen, die sich rechtspopulistisch radikalisieren, sondern diejenigen, die einen sozioökonomischen oder auch kulturellen Statusverlust erlitten haben oder einen solchen in naher Zukunft fürchten. Ehemals relativ privilegierte Gruppen aus der Industriearbeiterschaft und aus gewerbetreibenden Berufen erleiden im Rahmen der Globalisierung und der digitalen Revolution des Arbeitslebens eine ökonomische, soziale und kulturelle Deklassierung, die sie als »Kulturschock« und »Geltungsverlust« (Koppetsch, 2019, S. 143) erleben, der enorm kränkend ist. Dies macht deutlich, warum die Rechtpopulist*innen zu einem erheblichen Teil aus dem traditionellen Kleinbürgertum, das sich in einer Situation des sozialen und kulturellen Abstiegs befindet, Zulauf erhalten. Entwertung, narzisstische Kränkung und erlebte »Handlungsohnmacht« (Lehmann, 2019, S. 157) geben den eigenen Rachegelüsten, dem Bedürfnis, sich über die erfahrene Ungerechtigkeit zu empören, und den Ressentiments immer wieder neue Nahrung. Was man selbst schmerzhaft an Demütigung und Ungerechtigkeit erfahren hat, lässt man nun andere spüren. Das Ressentiment ist ein komplexes Gebilde, das immer mehrere, sehr heftige negative Gefühle umfasst und durch ein Feindbild kognitiv zusammengehalten und gerechtfertigt wird. Das Ressentiment ist also kein »reines« Gefühl wie Ekel, Hass oder Verachtung, sondern ein kognitives Konstrukt, eine Einstellung, eine Haltung, die allerdings durch starke Affekte gekennzeichnet und mit starken negativen Wertungen verbunden ist. Die feindselige Entwertung des anderen ist das eigentliche Ziel des Ressentiments. Der Unterschied zwischen Gefühlen und dem Ressentiment ist folgender: Wie schon in der Einleitung ausgeführt, haben Gefühle (auch negative) eine Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wertungsfunktion. Sie sind ein in gewisser Hinsicht verlässlicher, sensibler und frühzeitiger Indikator für bedeutsame Ereignisse vor allem im Kontakt mit anderen Menschen. Schon lange bevor man eine soziale Situation auf einer kognitiven Ebene verstan67

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den, für sich interpretiert, durchdrungen und vor allem abschließend bewertet hat, sagt mir mein Gefühl, beispielsweise das Gefühl des Ekels oder des Misstrauens, dass hier etwas »faul« ist, auch wenn ich noch nicht genau sagen kann, worauf sich mein Gefühl bezieht. Gefühle haben neben der Wahrnehmungsfunktion auch eine Erkenntnis- und Wertungsfunktion. Sie geben eine erste, sehr schnell verfügbare Einschätzung, wie eine soziale Situation und das Gegenüber einzuschätzen und vor allem auch zu bewerten sind. Eben deshalb achten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten so stark darauf, was sie in der Beziehung zu ihren Patient*innen fühlen. Das Ressentiment funktioniert hingegen geradezu umgekehrt: Ihm kann man keine Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wertungsfunktion zusprechen. Das Ressentiment weiß sozusagen schon vorher, was die dazugehörigen Gefühle zu bedeuten haben, woran sie sich entzünden, und wie das soziale Ereignis, auf die sie sich beziehen, zu bewerten – genauer gesagt – zu entwerten ist. Die Gefühle sind im Ressentiment instrumentalisiert, um die bereits vorgefassten feindseligen Einstellungen und negativen Wertungen zu untermauern und zu rechtfertigen. Ein Mensch, dessen Fühlen und Denken von Ressentiments geprägt ist, ist nicht mehr offen für neue Erfahrungen im sozialen Kontakt, und er verliert zudem den Kontakt zu seiner eigenen seelischen Innenwelt. Er ist »weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selbst ehrlich […]. Seine Seele schielt«, wie Friedrich Nietzsche (1968 [1887]), S. 286) treffend formuliert. Das Ressentiment köchelt gleichsam auf kleiner Flamme jahrelang vor sich hin, mal kocht es hoch, mal kühlt es ab, aber es bleibt immer virulent und entfaltet eine zersetzende Wirkung. Wenn die frühen Beziehungen durch Entwertungen geprägt waren, kann sich eine negative Selbstwahrnehmung herausgebildet haben, die jahrelang halbwegs ausbalanciert war. Kommt plötzlich eine neue Ungerechtigkeitserfahrung hinzu oder spitzt sich eine gesellschaftliche Konfliktlage zu, wird das sadistische Introjekt aus der Latenz befreit und lädt das Ressentiment affektiv auf, um im Ausbruch von Hass und Gewalt zu explodieren.

Brandstifter Alexander Gauland: Ressentiment, Feindseligkeit und Biederkeit Im Folgenden will ich nun am Beispiel des ehemaligen AfD-Chefs Alexander Gauland nachvollziehen, wie Ressentiments und Feindseligkeit 68

Brandstifter Alexander Gauland: Ressentiment, Feindseligkeit und Biederkeit

unter dem Deckmantel der Biederkeit verbreitet werden. Ich unterziehe zunächst seine Äußerungen über den Fußball-Nationalspieler Jérôme Boateng und anschließend einen Ausschnitt aus seiner berüchtigten »Vogelschiss-Rede« und seine anschließende Rechtfertigung einer genaueren Analyse. Dazu werde ich beide Ausschnitte Satz für Satz kommentieren. In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vom 29. Mai 2016 äußerte sich Gauland über den Fußballspieler Boateng folgendermaßen: »Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.«1 Diese Sätze traten einen Sturm der Entrüstung los und bewirkten zahlreiche Kommentare und Diskussionsrunden. Gauland selbst stritt zunächst ab, diese Äußerungen überhaupt getätigt zu haben. In einer Presseerklärung ließ er verkünden, er habe sich »an keiner Stelle über Herrn Boateng geäußert, dessen gelungene Integration und christliches Glaubensbekenntnis mir aus Berichten über ihn bekannt sind«.2 Doch schon am gleichen Tag widersprach er sich in der ARD mit folgenden Worten: »Ich habe nur deutlich gemacht – und dabei mag der Name Boateng gefallen sein, möglicherweise von den FAZ-Kollegen, denn ich kenne mich im Fußball gar nicht aus –, dass es viele gibt, die Fremde in ihrer Nachbarschaft nicht für ideal halten«.3 Und am darauffolgenden Montag versuchte er sich im ZDF damit herauszureden, Boateng sei »das falsche Beispiel« gewesen, er habe nur zeigen wollen, dass Menschen in ihrem »Heimatgefühl nicht von zu vielen Fremdem bedrängt werden wollen«. In der Talkshow bei Anne Will behauptete er schließlich: »Ich wusste auch gar nicht, dass er farbig ist.«4 Erst Beatrix von Storch habe ihm das am Telefon erzählt. Die Dreistigkeit, mit der Gauland behauptet, dass er so wenig Ahnung vom Fußball habe, dass er den Nationalspieler und Weltmeister von 2014 nicht gekannt haben will, ist frappierend und zugleich ein typisches Kennzeichen populistischer Führungsfiguren. Von Trump, Putin und Erdoğan ist die gleiche Unverfrorenheit im Lügen bekannt. Denn dass sich Gau1 https://www.faz.net/aktuell/politik/inlan/afd-vize.gauland-beleidigt-jerome-boateng -14257743.html (16.05.2022). 2 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kommentar-zu-afd-vize-gauland-gegen-na tionalspieler-boateng-a-1094736.html (16.05.2022). 3 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gauland-bestreitet-aussage-ueber-boateng -nicht-mehr-14262293.html (24.05.2021). 4 https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/gauland-bei-anne-will-ich-wusste -nicht-dass-der-farbig-ist/13691962.html (16.05.2022).

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land mit der Fußball-Nationalmannschaft durchaus auskennt, beweist er – ebenfalls bei Anne Will – mit einer Bemerkung über die deutsche Nationalmannschaft von 1954 und 1972.5 In einem anderen Fall des gleichen Interviews weist Anne Will ihm dann nach, dass er lügt. Sie konfrontiert ihn mit seiner Formulierung von der »Kanzler-Diktatorin«. Gauland antwortet ausweichend, diese Formulierung stamme nicht von ihm selbst, sondern von Björn Höcke. Allerdings finde er diesen Begriff gut, »ich habe ihn aber nicht gebraucht«. Wenige Sekunden später beweist Anne Will per Einspieler, dass er den Ausdruck »Kanzler-Diktatorin« benutzt hat. Nun redet sich Gauland heraus, den Satz bloß »wiederholt« zu haben.6 Am Ablauf der Ereignisse im Fall von Gaulands Äußerungen über Boateng kann man seine typische Taktik erkennen: Sie besteht darin, zunächst krasse fremdenfeindliche Aussagen als Provokation in der Öffentlichkeit zu platzieren, um damit mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Wenn dann große Teile der Öffentlichkeit mit Kritik und Entrüstung reagieren, beginnt er ein Rückzugsgefecht, indem er die eigenen Aussagen relativiert, umformuliert, teils zurücknimmt, teils aber auch mit anderen Worten bekräftigt. Die Ausreden werden immer verschwurbelter und die Rückzugsgefechte weichen immer mehr in Allgemeinplätze aus. Fühlt er sich aber in die Enge getrieben, bläst er zum Gegenangriff und bezichtigt seine Gesprächspartner, dass sie ihn unfair behandelten. So wirft er in der Diskussionsrunde bei Anne Will den Journalisten der FAS unfaire Praktiken vor: »Dass Sie mich reingelegt haben, ist doch völlig klar.« Auch sei er davon ausgegangen, dass das Interview, das die beiden Journalisten mit ihm geführt haben, ein »Hintergrundgespräch« gewesen sei, das nicht zur Publikation vorgesehen war. Es habe für ihn deshalb auch keine Veranlassung gegeben, auf einer Autorisierung der wörtlichen Zitate zu bestehen. »Das halte ich für unfair, für zutiefst unfair«, ruft er mit gespielter Empörung aus. Tatsächlich kann keine Rede davon sein, dass er »unfair, zutiefst unfair« behandelt worden wäre. Die FAS-Journalisten Eckart Lohse und Markus Wehner haben das Interview nach den Regeln eines seriösen Journalismus geführt, die dem Polit-Profi und professionellen Journalisten, der Gauland selbst ist, durchaus geläufig sind. Zweifellos gehört es zu den 5 Siehe ebd. 6 Siehe ebd.

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legitimen journalistischen Mitteln, einem Interviewpartner bzw. einer Interviewpartnerin Stellungnahmen zu entlocken, in denen seine oder ihre »wahren«, nämlich emotional und persönlich bedeutsamen Einstellungen zum Ausdruck kommen. Die übliche anschließende Autorisierung des Interviews erlaubt dem oder der Interviewten ggf. eine Rücknahme von Aussagen, hinter denen er bzw. sie nicht stehen will. Gauland bedient sich selbst unfairer und unlauterer Mittel, indem er unglaubwürdige Tatsachenbehauptungen aufstellt, wie die, er habe zum Zeitpunkt des Interviews nicht gewusst, dass Boateng »farbig« (Formulierung von Gauland) sei. Gauland versucht, die Seriosität der Journalisten in Zweifel zu ziehen, und bedient damit das Ressentiment gegen die »Lügenpresse«, ohne allerdings diesen Begriff zu verwenden. Er unterstellt den Journalisten Unfairness und Heimtücke (»Dass Sie mich reingelegt haben, ist doch völlig klar«). Bemerkenswert ist, dass Gauland nicht nur in diesem Fall, sondern auch bei früheren Interviews mit der FAZ7 und auch bei anderen journalistischen Kontakten auf eine Autorisierung von Interviews verzichtete, und zwar auch dann, wenn diese Medien vertreten, die die AfD gerne als »Lügenpresse« diffamiert. Vertrauensseligkeit kann dem wohl nicht zugrunde liegen. Indem Gauland auf das Kontrollmittel der Autorisierung verzichtet, zeigt er nicht, dass er den Journalistinnen und Journalisten vertraut, sondern dass es ihm im Grunde nichts ausmacht oder sogar recht ist, wenn ihm extreme Meinungen und Haltungen zugeschrieben werden. Er spielt ohnehin mit extremen Äußerungen, sucht die Provokation, will die Grenzen des Sagbaren austesten. Angenommen, man würde ihm eine extreme und anstößige Äußerung zuschreiben, die er nicht gemacht hat, hilft ihm das nur dabei, einen Skandal zu erregen. Da er das Gespräch nicht autorisiert hat, kann er sich umso einfacher darauf zurückziehen, die Presse habe ihn mal wieder reingelegt, unfair behandelt, oder gelogen. Dieser Ablauf entspricht der Dynamik des Ressentiments, die von Heimtücke, Lüge, Verrat und hinterhältigen Tricks gekennzeichnet ist. Es scheint Gauland gar nicht peinlich zu sein, dass er sich offenbar selbst widerspricht, dass er lügt, dass er sich in Widersprüche verwickelt, dass er immer neue Versionen seines eigenen Handelns zum Besten gibt. Hauptsache ist, dass er keine Antwort schuldig bleibt. Er nutzt noch das eigene 7 Siehe https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gauland-bestreitet-aussage-ueber-boa teng-nicht-mehr-14262293.html (16.05.2022).

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Rückzugsgefecht, um sich als Opfer der unfairen Machenschaften zu inszenieren, die tatsächlich sein eigenes Handeln bestimmen. Der Medien-Profi Gauland versteht es geschickt, in der Talkshow einen Kampf zu inszenieren, bei dem er in die Position des Opfers, des Benachteiligten, des unfair Behandelten kommt, der sich allerdings mutig und mit auftrumpfender Empörung zur Wehr setzt. Die Zuschauer und Zuschauerinnen sollen sich mit ihm identifizieren – nach dem Motto: »Da ist einer, der die Wahrheit mutig ausspricht, der dafür kämpft, dass ›wir da unten‹ es ›denen da oben‹ mal richtig zeigen.« In der Sendung von Anne Will gab die Zusammensetzung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen Gauland die Möglichkeit, sich als mutigen Einzelkämpfer in Szene zu setzen, der sich mannhaft gegen eine zahlenmäßige Übermacht zur Wehr setzte. Schon diese Situation bot ihm die Chance, den Eindruck herzustellen, dass es hier unfair zugeht, weil ein Einzelner sich gegen eine Mehrheit verteidigen muss. Auf der inhaltlichen Ebene kritisiert Gauland genau diesen Sachverhalt, indem er anklagend ausruft, er sei »zutiefst unfair« behandelt und hereingelegt worden. Die Szene in der Gesprächsrunde und die Darstellung Gaulands, was sich in dem Interview mit den FAS-Journalisten abgespielt hat, bestätigen sich sozusagen wechselseitig. Die Show, die Gauland abzieht, wirkt auf seine Anhänger authentisch. Sein Auftreten bildet das Kontrastprogramm zum typischen Auftreten eines Politikers bzw. einer Politikerin, die aus Vorsicht, nur nichts zu sagen, was voreilig wäre und ihnen später vorgehalten werden könnte, in Sprechblasen oder gewundenen Formulierungen sprechen. Mit diesem Politikertypus können sich viele Menschen nicht (mehr) identifizieren, sie wirken unglaubwürdig, unecht oder gar verlogen, obwohl die gewundenen Formulierungen gerade dem Versuch entspringen, nichts Falsches zu sagen. Paradoxerweise werden dem populistischen Lügner von seiner Anhängerschaft die Lügen als Wahrheit abgenommen. Indem Gauland häufig zitiert, was »die Leute« angeblich denken und sagen, versteckt er sich quasi hinter anderen und hat so immer die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen, wenn er sich beispielsweise fremdenfeindlich vergaloppiert hat nach der Devise: »Man muss doch ernstnehmen, was die Leute sagen. Das ist ja der Fehler der etablierten Parteien und Politiker, dass sie total abgehoben sind und gar nicht wissen, was das einfache Volk denkt.« Mit seiner Formulierung bedient er auch das Ressentiment gegen »die da oben«. 72

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Gauland vermeidet es, über sich selbst zu sprechen, und stellt sich nur als Sprachrohr der benachteiligten und ungehörten »Leute« dar. Er schiebt immer vor, was die Leute denken. So kann er radikaler reden, ohne argumentativ für alles geradestehen zu müssen, was er sagt. Gauland sieht es als seine Aufgabe an, kollektive Ressentiments stellvertretend für seine WählerInnen zu formulieren, in der Öffentlichkeit zu vertreten und sozusagen Feindbild-Schablonen mit Argumenten zu unterfüttern, derer sich andere dann bedienen können. Alexander Gauland ist, was seine politischen Überzeugungen anbelangt, außerordentlich flexibel. Einerseits bestreitet er in einem Gespräch mit dem Journalisten Markus Wehner (2018), dass er sich »im Zuge seiner politischen Karriere immer mehr radikalisiert« hat, vielmehr behauptet er von sich, er wolle weiterhin ein »konservativer Intellektueller«8 sein: »Ich habe keine Selbstradikalisierung durchlaufen. Ich war nie radikal und bin es auch heute nicht. Wenn Sie eine Partei führen, dann entwickelt sich etwas, ohne dass Sie es anstreben, ohne ihr gewolltes Zutun.«9 Andererseits ist Gauland sehr darum bemüht, auch den äußersten rechten Rand in die AfD zu integrieren, die rechtsradikalen Positionen zu rechtfertigen und mehr noch ihre extremen Äußerungen zu bagatellisieren. Gauland ist ein »Meister der Bagatellisierung«10. Er gibt sich als Biedermann (»konservativer Intellektueller«) und ist doch ganz bewusst und gezielt ein demagogischer Brandstifter, etwa wenn er beim Bundeskongress der Jungen Alternative am 02. Juni 2018 während seiner Rede, die als »Vogelschiss-Rede« bekannt wurde, ausführt: »Wir haben eine ruhmreiche Geschichte. Daran hat vorhin Björn Höcke erinnert. Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre. Und nur wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.«11

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Ebd. Ebd. Ebd. https://juergenfritz.com/2018/06/07/vogelschissrede/ (24.05.2022). Gaulands Ausführungen werden dabei immer wieder mit Applaus quittiert.

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Gehen wir Satz für Satz vor: Zunächst beschwört Gauland die »ruhmreiche Geschichte« Deutschlands. Er wiederholt damit eine stereotype Redewendung, die einen zentralen Stellenwert in allen populistischen Bewegungen einnimmt: Die Überhöhung des eigenen Volkes, der eigenen Nation und der eigenen Kultur zum Ideal, das den »kollektiven Narzissmus« – um Adorno (1959a, S. 563) zu zitieren – stärkt (siehe dazu auch Lohl, 2017). Gauland knüpft damit auch an einen Slogan an, den rechtsradikale Skinheads schon in den 1980er Jahren benutzten: »Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein« (Wirth, 1989b). Trumps »Make America great again« liegt die gleiche kollektive Selbstüberhöhung zugrunde. Begriffe wie »Volk«, »Nation« und »Rasse« »laden zur Teilnahme an etwas Großem, Erhabenem, Starkem ein, das die eigene Existenz transzendiert und Anerkennung ohne Ansehen der sozialen Stellung verspricht« (Neckel, 1991, S. 168). Auf diese Form der Selbstbestätigung und Anerkennung sind besonders die Menschen angewiesen, die unter den Gefühlen der Ohnmacht, der Ungerechtigkeit, der Verbitterung und der eigenen Wertlosigkeit leiden. »Volk, Nation und Rasse sind Prinzipien der Selbst- und Fremdbewertung, die auch dann noch gelten können, wenn alle anderen Prinzipien – Geld, Macht, Wissen und Prestige, [befriedigende Intimbeziehungen, H.-J. W.] – schon versagt haben« (ebd., S. 169) oder zu versagen drohen. Für Unterlegene fungieren sie als Identitätsstütze, die umso mehr in den Vordergrund tritt, je weniger andere Quellen der Anerkennung verfügbar erscheinen. »Die Teilhabe am großen überlegenen Kollektiv des einen Volkes verspricht, die Enge und Beschränktheit der eigenen Existenz zu überschreiten. Erhaben strahlt das Kollektiv-Symbol über die selbst empfundene Niedrigkeit der eigenen Verhältnisse hinweg, weshalb es auch gerade dann noch an Faszination gewinnt, wenn die eigenen Lebensumstände immer deprimierender werden« (ebd., S. 161).

Der demonstrative Stolz, ein »Deutscher« zu sein, die Identifikation mit der ruhmreichen tausendjährigen deutschen Geschichte und die Abgrenzung gegenüber den als minderwertig eingestuften Fremden dienen dazu, das eigene beschädigte Selbstwertgefühl zu festigen. Im »Phantasma der Nation« (Bohleber, 1992) erfüllt sich der unbewusste Wusch nach »präambivalenter Verschmelzung« (ebd., S. 689) mit einem idealisierten Objekt. 74

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In seinem zweiten Satz bringt Gauland dann seine Verbundenheit mit dem rechtsextremistischen AfD-Mitglied Björn Höcke, den er gerne als seinen »Freund« zu bezeichnen pflegt, zum Ausdruck. Dann folgt der Satz »Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten zwölf Jahre«, den die ZuhörerInnen mit Applaus quittieren. Das Wort »verdammt« klingt in diesem Zusammenhang schief und unpassend. Was will Gauland mit der Formulierung »die verdammten zwölf Jahre« zum Ausdruck bringen? Das Partizip »verdammt« wird im Deutschen Wörterbuch als ein »Fluchwort« (Paul, 1992, S. 958) charakterisiert. Es wird genauso wie das verwandte Wort »verflucht« »als starker Ausdruck für alles, was einem missfällt« (ebd.) benutzt, wird dann aber auch als ein »Ausdruck der Bewunderung für jemandes Können« (ebd.) gebraucht. Im verwandten Wort »verflixt« wird die Bewunderung ebenfalls ausgedrückt. Ein Fluchwort ist zudem durch einen starken begleitenden Affekt gekennzeichnet, der das Publikum ansprechen und in einen emotionalen Erregungszustand versetzen soll. Und weiter heißt es im Grimm’schen Deutschen Wörterbuch zum verwandten Begriff »verflucht«: »Das, worauf eigentlich ein fluch ruht, daher eigentlich strafbar ist, [wird] als bewundernswert, wegen seiner ungewöhnlichkeit aufgefasst: ein verfluchter kerl, eine verfluchte geschichte, jemand den, etwas das man eigentlich bestrafen sollte worüber man sich wundert wegen seiner außerordentlichkeit; weit verbreitet in der Volkssprache. adverbial, als kräftige, volksthümliche verstärkung« ( J. Grimm & W. Grimm, 1984 [1854], Band 25, S. 344).

Gaulands Formulierung »die verdammten zwölf Jahre« ist also in hohem Maße doppelbödig, schillernd und ambivalent. Der Begriff »verdammt« enthält in sich zwei entgegengesetzte Bedeutungen – ein Phänomen, das Freud (1910e) als »Gegensinn der Urworte« bezeichnet hat. Tatsächlich führt Freud das Wort »verflucht« als Beispiel an: »Im Lateinischen heißt […] sacer heilig und verflucht« (ebd., S. 219). Eine mögliche Interpretation von Gaulands Formulierung von den »verdammten zwölf Jahren« wäre demnach, dass er vordergründig den Nationalsozialismus verurteilt, dass er ihn aber auf einer anderen Ebene »verdammt beeindruckend« findet, vielleicht sogar als bewundernswürdig, als mythologisch bedeutsam, gar als heilig einordnet. Eine weitere Bedeutung von »verdammt« kommt in der Redewendung »Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit« zum Ausdruck. Folgt 75

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man dem Grimm’schen Deutschen Wörterbuch, so ist damit gemeint, dass eine »höhere zwingende gewalt, dazu etwas auferlegt und dessen tragen erzwingt« ( J. Grimm & W. Grimm, 1984 [1854], Band 25, S. 191). Es handelt sich um eine »pflicht zu der man gezwungen wird, zu der keine einrede erlaubt ist« (ebd., S. 193), »gegen die man sich nicht auflehnen kann« (ebd., S. 344), die einem aber unangenehm, lästig, widerlich oder gar ekelerregend ist. Man könnte zunächst denken, dass Gauland die Verbrechen des Nationalsozialismus verurteilt, aber er spricht gar nicht von den Verbrechen, sondern nur neutralisierend von der Zeitspanne der »zwölf Jahre«. Im Grunde geht es ihm nicht um die Verbrechen, die in diesen zwölf Jahren verübt wurden, sondern die zwölf Jahre sind aus seiner Sicht zu verdammen, weil sie das Bild von der »ruhmreichen Geschichte« Deutschlands eintrüben. Das Schlimmste an der Nazi-Zeit sind aus Gaulands Sicht nicht die verübten Verbrechen, sondern die Tatsache, dass diese zwölf Jahre die Deutschen heute immer noch belasten. Bereits in der Formulierung »die verdammten zwölf Jahre« versteckt sich die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen. Das Publikum spürt das und quittiert dies mit Applaus. Der nächste Satz lautet: »Und nur wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten.« Es ist nicht ganz eindeutig, auf welchen Teil der »ruhmreichen Geschichte« sich Gauland beziehen will, um Kraft für die Zukunftsgestaltung zu schöpfen: Sind die »verdammten zwölf Jahre« mit eingeschlossen, und kann man daraus auch Kraft schöpfen? Diese Frage wird unausgesprochen ventiliert und damit die Spannung gesteigert. Worauf will Gauland hinaus? Im nächsten Satz wird die Spannung abermals verstärkt: »Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre.« Gauland zitiert hier eine staatstragende Redewendung, lässt aber völlig offen, was das denn heißen soll. Meint er mit dem Bekenntnis »zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre« eine Form der Vergangenheitsbewältigung, wie sie für das Selbstverständnis der Bundesrepublik kennzeichnend ist, oder sieht er seine Verantwortung darin, diese zwölf Jahre möglichst rasch zu entsorgen? Oder meint er gar, man solle die positiven Seiten dieser zwölf Jahre weiter pflegen und die negativen nicht allzu sehr betonen? Das alles bleibt offen. Mit dem folgenden Satz erreicht die Redesequenz dann ihren rhetorischen Höhepunkt: »Aber liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.« Was 76

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sich in dem Wort »verdammt« bereits ausgedrückt und angekündigt hat, wird in der Verwendung des Wortes »Vogelschiss« noch gesteigert und auf die Spitze getrieben. Dieser vulgäre Begriff evoziert Ekel und damit ein starkes Gefühl. Nun ist ein Vogelschiss zwar etwas eklig, aber man kann ihn mit einem Streich wegwischen. Der Vogelschiss und das leichte Ekelgefühl stehen in einem grotesken Missverhältnis zu dem schier unfassbaren Grauen, das einen erfasst, wenn man an die nationalsozialistischen Gräueltaten, die Millionen von Toten, die Leichenberge in den Konzentrationslagern denkt. Sowohl die nationalsozialistischen Verbrechen als auch das Denken daran sollen durch den Begriff »Vogelschiss« lächerlich gemacht und bagatellisiert werden. Der Gebrauch dieses Begriffs im Zusammenhang mit dem Holocaust ist würdelos, zynisch und bösartig. In einer Stellungnahme zu seiner Vogelschiss-Rede führt Gauland aus: »Ich habe in einer Rede am 2. Juli 2018 vor dem Bundeskongress der Jungen Alternative meine tiefste Verachtung für den Nationalsozialismus mit einem Sprachbild zum Ausdruck gebracht, das für Missverständnis sowie Missdeutungen gesorgt hat. Vogelschiss ist und bleibt für mich der letzte Dreck. Ein natürlicher Auswurf, mit dem ich den Nationalsozialismus verglichen habe. Ich muss aber zur Kenntnis nehmen, dass viele in dem Begriff eine unangemessene Bagatellisierung gesehen haben. Nichts lag mir ferner als einen solchen Eindruck entstehen zu lassen, was sich aus dem übrigen Teil der Rede auch zweifelsfrei ergibt. Die entstandene Wirkung bedaure ich. Niemals war es meine Absicht, die Opfer dieses verbrecherischen Systems zu bagatellisieren oder gar zu verhöhnen.«12

Gaulands Stellungnahme ist heuchlerisch und verlogen: Seine Behauptung, er habe in seiner Rede seine »tiefste Verachtung für den Nationalsozialismus« zum Ausdruck gebracht, trifft nicht zu, denn wie wir gesehen haben, steckt in dem Wort »verdammt« nicht nur die Verurteilung, sondern auch die Bewunderung. Zudem ist ein Vogelschiss ja nichts Verachtenswertes. Er ist vielmehr – wie Gauland selbst sagt – ein »natürlicher Auswurf«. Ein Vorgang in der uns umgebenden Natur kann nicht Gegenstand von Verachtung sein. Ein Vogelschiss kann Ekel erregen, aber die moralische Kategorie der Verachtung ist für einen natürlichen Vorgang unangemessen. Moralische Kate12 https://www.youtube.com/watch?v=bBlVWz-JBwg (16.05.2022).

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gorien können nur an menschliche Handlungen angelegt werden. Indem Gauland die nationalsozialistischen Verbrechen, zu denen man moralisch Stellung nehmen kann und muss, mit einem natürlichen Vorgang gleichsetzt, erklärt er den Nationalsozialismus zu einem Naturereignis, zu dem man keine moralische Stellung nehmen kann. Die Argumente sind logisch und sprachlich schief. Sie sind verlogen und hinterhältig. Sie entspringen ressentimenthaften Einstellungen und sollen Ressentiments beim Publikum evozieren. Die Beteuerung, »nichts lag mir ferner als einen solchen Eindruck [den einer unangemessenen Bagatellisierung, H.-J. W.] entstehen zu lassen, was sich aus dem übrigen Teil der Rede auch zweifelsfrei ergibt«, ist heuchlerisch. Sie wird auch in einem Ton vorgetragen, der das Gefühl vermittelt, dass jemand hier formal seiner Pflicht und Schuldigkeit nachkommt und ohne innere Beteiligung eine Erklärung herunterleiert, zu der ihn der öffentliche Druck genötigt hat. Im letzten Satz wird die Falschheit und Verlogenheit von Gaulands Stellungnahme nochmals in der verqueren und unzutreffenden Formulierung deutlich: »Niemals war es meine Absicht, die Opfer dieses verbrecherischen Systems zu bagatellisieren oder gar zu verhöhnen.« Die schiefe Formulierung von der Bagatellisierung der Opfer lenkt ab von dem, was Gauland nicht thematisieren und eben dadurch bagatellisieren will: die Verbrechen des Nationalsozialismus, die von Deutschen begangen wurden. Gaulands Lügen und Fälschen ist nicht so sehr als ein bewusstes Lügen aufzufassen, bei dem der oder die Betreffende weiß, dass die Tatsachen und deren Bewertung eigentlich ganz anders lauten müssten, als er sie darstellt. Die Form des Fälschens und Lügens, die Gauland praktiziert, kennzeichnet Max Scheler (1955 [1915], S. 110) mit dem Begriff der »organischen Verlogenheit«. Hier erfolgt die Fälschung nicht im vollen Bewusstsein wie bei der gewöhnlichen Lüge, vielmehr erfolgt der ganze Prozess der Darstellung der zur Diskussion stehenden Sachverhalte erfolgt schon von vornherein unter »tendenziösen« (ebd.) Absichten und ist von einem »unwillkürlichen Automatismus« (ebd.) bestimmt. Scheler bringt seine Analyse mit der Formulierung auf den Punkt: »Wer ›verlogen‹ ist, braucht nicht mehr zu lügen!« (ebd.) Er vergisst auch nicht, zu bemerken, dass an der Oberfläche – trotz aller Lügen – häufig die »biederste Gesinnung« (ebd.) zur Schau gestellt wird. Der scheinheiligste Biedermann ist zugleich der demagogischste Brandstifter. 78

Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer

Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer Die Forderung nach Abstinenz und Neutralität der Ärztin oder des Therapeuten in einem basalen Sinn ist Teil der Berufsethik und gilt nicht nur für Psychoanalytikerinnen, Ärzte und Therapeuten aller Art, sondern auch für Pädagoginnen und Akteure anderer helfender Berufe. Im Grunde ist diese Forderung Bestandteil jedweder professionellen Rolle. Professionalität zeichnet sich zum einen durch besondere sachbezogene Kompetenzen und zum anderen durch ein professionelles Selbstverständnis und eine entsprechende Haltung aus, die zwischen Privatem und Sachlichem systematisch trennt. Im Rahmen professioneller Beziehungen, besonders wenn sich diese durch eine starke Asymmetrie und Abhängigkeit auszeichnen, sollte es nicht zu einer Verquickung von professionellen und privaten Beziehungen kommen. Unter privaten Beziehungen sind insbesondere sexuelle, finanzielle und geschäftsmäßige Verbindungen zu verstehen. Aber auch das Kundtun von politischen, religiösen oder weltanschaulichen Auffassungen im Rahmen professioneller Beziehungen verstößt im Allgemeinen gegen das Gebot professioneller Neutralität. Dieses grundlegende Gebot der Neutralität und der Abstinenz gilt für psychotherapeutische Beziehungen in verschärfter Weise, weil hier die psychische Abhängigkeit und Verletzlichkeit besonders ausgeprägt ist und weil die Aufgabe und Zielsetzung der Therapie ja gerade darin besteht, pathogene Erfahrungen von im weitesten Sinne missbräuchlichen Beziehungen zu bearbeiten. Abstinenz im spezifisch psychoanalytischen Sinne stellt ein unverzichtbares Essential psychotherapeutischer Tätigkeit dar. Ursprünglich bezog sich Freuds Empfehlung, »die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden« (1915a [1914], S. 313), allein auf die Patientinnen und Patienten. Diese sollten ihre neurotischen libidinösen Bedürfnisse nicht in der Realität »befriedigen«, genauer gesagt »ausagieren«, sondern die »Libidostauung« (Freud, 1937c, S. 76) sollte dazu führen, dass die unbewussten neurotischen Bedürfnisse in die Übertragung einfließen und damit der psychoanalytischen Bearbeitung zugänglich werden. Wie so viele psychoanalytische Konzepte wandelte sich auch die Bedeutung des Abstinenzbegriffs und erweiterte sich auf die Psychotherapeut*innen. »Unter Berufung auf die Freud’schen Metaphern von der Spiegel- und Chirurgenhaltung des Psychoanalytikers verlangten ›neo79

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klassische‹ Psychoanalytiker (Stone) von ihren Kollegen extreme Zurückhaltung, um dem Patienten die ungestörte Entfaltung seiner Übertragung zu erleichtern« (Körner, 2014, S. 2). Anfang der 1960er Jahre änderte sich mit der von Paula Heimann (1950) angeregten neuen Konzeptualisierung der Gegenübertragung auch das Verständnis von Abstinenz. Joseph Sandler (1976) ermutigte die Psychoanalytikerin, in ihren »Reaktionen bis zu einem gewissen Grad von der klassischen psychoanalytischen Norm ab[zu] weichen« (ebd., S. 301), indem sie in ihren Reaktionen gegenüber dem Patienten bzw. der Patientin eine »›Rollenspiel-Bereitschaft‹ (role-responsiveness)« (ebd., S. 301) erkennen lässt. Analog zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit postuliert Sandler eine das Verhalten des Analytikers oder der Analytikerin betreffende »gleichschwebende Rollenübernahmebereitschaft« (ebd., S. 304). Der Analytiker soll sich von den PatientInnen verwenden lassen und die an sie gerichtete Übertragung teilweise annehmen. Erst wenn Analytiker*innen die auf sie übertragene unbewusste Rollenerwartung teilweise eingehen und das unbewusste Rollenspiel mitspielen, entfaltet sich eine emotional bedeutsame beziehungsdynamische Verwicklung, deren (deutende) Bearbeitung die unbewussten Wurzeln der Übertragungsfantasien in Worte fassen und bewusst machen kann. Das von Sandler entworfene Konzept der spielerischen Rollenübernahme in der Übertragungsbeziehung hatten im Übrigen schon Otto Rank und Sándor Ferenczi entwickelt, als sie von Therapeut*innen forderten: Eine »maßvolle, aber wenn nötig energische Aktivität besteht darin, daß der Arzt es übernimmt, jene Rolle bis zu einem gewissen Grade auch wirklich zu erfüllen, die ihm das Unbewußte des Patienten und seine Fluchttendenzen vorschreiben« (Rank & Ferenczi, 1996 [1924], S. 44). Die Kunst der psychoanalytischen »Handhabung der Übertragung« besteht darin, immer wieder neu eine Balance zu finden zwischen dem Sich-verwenden-Lassen von den Übertragungen der Patientinnen und Patienten und der Begrenzung dieser Dynamik durch ihre Bewusstmachung. Johannes Cremerius (1984) fasst diese Balance prägnant zusammen: »Zu viel Abstinenz – und der Analytiker reduziert sich auf den distanten Beobachter; zu wenig Abstinenz – und der Analytiker inflationiert zum Co-Akteur des neurotischen Prozesses« (ebd., S. 769). Durch den relational turn in der Psychoanalyse hat die Diskussion nochmals einen neuen Aspekt bekommen. Jürgen Körner (2014, S. 4) fasst den Diskussionsstand so zusammen, dass sich »die Abstinenz weniger als Neutralität gegenüber den Übertragungsphantasien des Analysanden zu 80

Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer

zeigen habe«, vielmehr komme es für den Psychoanalytiker darauf an, den »eigenen Übertragungen gegenüber abstinent zu sein, die eigenen unbewußten Beziehungsphantasien zu explorieren und dadurch erst den Dialog mit dem Patienten auch im Hinblick auf das Zusammenspiel unbewußter Beziehungsphantasien zu verstehen und deuten zu können« (ebd., S. 4). Die Abstinenz gegenüber den eigenen Übertragungen gewinnt auch im Zusammenhang mit politischen Polarisierungen, die in die therapeutische Situation hineinschwappen, eine besondere Bedeutung. Abstinenz gegenüber den eigenen Übertragungen bezieht sich eben auch auf das starke, unbewusst motivierte Verlangen, jedweden rechtspopulistischen Äußerungen des Patienten mit Vehemenz und moralischem Rigorismus entgegenzutreten. Fallbeispiel: Populismus in der Therapie

Im Folgenden soll aus der psychotherapeutischen Behandlung eines 62-jährigen Patienten berichtet werden, in der unerwartet populistische Einstellungen virulent werden. Der Patient befindet sich wegen depressiver Verstimmungen schon einige Jahre bei mir in einer einstündigen psychotherapeutischen Behandlung, die kurz vor dem Abschluss steht. Er ist als Pfleger in einem psychiatrischen Krankenhaus tätig. Es ist ein sympathischer Mann, mit dem ich gerne arbeite. Die psychotherapeutische Behandlung ist sehr zufriedenstellend verlaufen. Der Patient hat einen Zeitungsbericht gelesen über die Auseinandersetzung, die das Gießener Horst-Eberhard-Richter-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie, dessen Mitglied ich bin, mit einem seiner Mitglieder wegen dessen AfD-Mitgliedschaft geführt hat. Er eröffnet die Stunde mit der Ankündigung, über dieses Ereignis sprechen zu wollen. Er betrachte die ganze Angelegenheit als eine »Posse«. Allein schon die Wortwahl »Posse« versetzt mich augenblicklich in Alarmbereitschaft. Ich empfinde sie als Entwertung einer Angelegenheit, die mir enorm wichtig ist, und fühle mich persönlich angegriffen und entwertet. Eigentlich wolle er nicht in die Position kommen, die AfD zu verteidigen. Aber er sei doch erstaunt, wie schnell »die Psychoanalytiker« auf abweichende Meinungen mit Ausgrenzung reagierten. Schließlich handele es sich bei der AfD 81

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nicht um die NSDAP. Dann fällt ihm die Bezeichnung »Mahnmal der Schande« für das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein. Diese Formulierung stamme ja ursprünglich nicht von Höcke, sondern von einem englischen Historiker. In gewisser Weise sei diese Formulierung ja sogar zutreffend. Ich habe mich innerlich noch nicht richtig gefangen, sondern muss noch mit dem Gefühl ringen, persönlich auf einer Ebene angegriffen zu sein, auf der ich mich verletzlich fühle. Ich verspüre eine gewisse Rat- und Hilflosigkeit, wie ich denn nun auf diese Provokation reagieren sollte. Es fällt mir schwer, nicht zurückzuschießen. Ich bin mir im Klaren, dass ich vermeiden will, mich mit dem Patienten in eine inhaltliche Konfrontation zu verstricken. Allerdings will ich auch nicht nur passiv zuhören, sondern habe das Gefühl, dem Patienten etwas entgegnen zu wollen. Ich sage, dass man die Formulierung »Mahnmal der Schande« tatsächlich in zweifacher Weise auffassen könne. Es sei aber doch die Frage, ob Höcke das auch so gemeint habe wie der englische Historiker oder eben doch ganz anders. Diese Intervention empfinde ich bereits in dem Moment, als ich sie ausspreche, als eine Ablenkung auf ein Drittes. Ich verschiebe den Konflikt zwischen uns auf einen Konflikt außerhalb. Aber immerhin komme ich auf diese Weise mit ihm ins Gespräch. Der Patient führt nun weiter aus, dass es in unserer Gesellschaft doch einige Tabus gebe, also Themen, über die man nicht offen sprechen könne. Die AfD spreche diese Themen offen an. Das finde er gut. Aber dafür werde die AfD diskriminiert. Er finde es schon ungerecht, dass die Flüchtlinge unkontrolliert ins Land gelassen würden und mehr Unterstützung bekämen als mancher Deutsche, dem es schlecht gehe. Ich sage: »Sie kümmern sich beruflich ja auch um Menschen, die in Not sind. Das könnten andere auch als ungerecht empfinden, die keine solche Unterstützung bekommen.« Er entgegnet: »Das stimmt schon, aber die Flüchtlinge haben nichts beigesteuert zum Sozialsystem, profitierten aber genauso wie Deutsche, die jahrzehntelang malocht haben.« Besonders erbost ihn, dass viele Flüchtlinge ihre Frauen und Kinder allein im Heimatland zurückließen. Das sei von den vielen jungen Männern »unglaublich rücksichtslos und egoistisch«. Ich habe mich inzwischen emotional gefangen. Ich habe nicht mehr das Gefühl des Souveränitätsverlustes, fühle mich auch nicht mehr per82

Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer

sönlich angegriffen. Ich entdecke eine Unstimmigkeit in seiner Argumentation, die mich neugierig macht. Ich sage: »Eigentlich ist es ja so, dass viele junge Männer allein kommen, weil sie von ihren Familien auf die gefährliche Reise geschickt werden, entweder um die Familie später nachzuholen oder aber um Geld nach Hause zu schicken.« »Das ist auch wieder wahr«, sagt der Patient. Dann fällt mir etwas aus der Familienbiografie des Patienten ein: Der Großvater ist direkt nach der Geburt seiner Tochter (der Mutter des Patienten) ausgewandert und hat Frau und Kind allein zurückgelassen. Die Mutter des Patienten hat ihr ganzes Leben darunter gelitten, dass ihr Vater sie verlassen hat. Sie habe aber trotzdem nie schlecht über ihn geredet. Stattdessen hat der Patient stellvertretend für die Mutter eine enorme Wut auf den Großvater empfunden und ihn moralisch verurteilt. Der Großvater sei beruflich erfolgreich gewesen, habe viel Geld verdient und sei Jahre später auf Besuch nach Deutschland zurückgekehrt. Er habe »den großen Max markiert – wie im Film«. Der Großvater habe großspurig verschiedene Familienmitglieder eingeladen, ihn zu besuchen. Er habe seine Einladung aber konsequent ausgeschlagen. Ich sage ihm: »Mir fällt gerade diese Geschichte mit Ihrem Großvater ein: Der hat ja tatsächlich seine Frau und seine Tochter zurückgelassen, um im Ausland Karriere zu machen. Sie haben ihn moralisch immer verurteilt. Das erinnert mich daran, wie Sie jetzt die jungen Männer moralisch verurteilen.« Der Patient kann die Parallele, die ich gezogen habe, sofort annehmen und ist betroffen. Wir sprechen dann nochmals ausführlich über diese ganze Familiengeschichte mit seiner Mutter und dem Großvater und was das alles für ihn bedeutet hat. Wir sprechen auch darüber, dass die Migration des Großvaters und die Motive der Kriegsflüchtlinge ganz unterschiedlich zu bewerten sind. Er betont ausdrücklich, dass er es gut fände, dass ich einen Bogen zu seiner Familie geschlagen habe. In der nächsten Stunde erzählt er von einer Diskussion bei einem Familienfest. Er habe sich darüber geärgert, wie die AfD von verschiedenen Seiten aus niedergemacht worden und ihr die Existenzberechtigung abgesprochen worden sei. Eigentlich fühle er sich unwohl dabei, in die Rolle zu kommen, die AfD verteidigen zu müssen. Um einen Familienzwist zu vermeiden, habe er seinen Ärger runter83

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

geschluckt und nichts dazu gesagt. Er sei froh, dass er bei mir seine Meinung habe aussprechen können. Ich sage: »Mit Ihrer so lässig hingeworfenen Formulierung von der ›Posse‹ haben Sie mich provozieren wollen.« Der Patient hat den von ihm mit Bedacht gewählten Begriff noch voll präsent und gibt lachend zu, dass er mich tatsächlich habe provozieren wollen. Wir machten eine ähnliche Arbeit in einem helfenden Beruf, aber ich hätte im Vergleich zu ihm eine privilegierte Position. Ich sage: »Sie meinen, die da oben sollten eine solche Provokation aushalten können und ich sollte sie auch aushalten können.« Den affektiven Hintergrund für die populistischen Äußerungen des Patienten bildet das Beziehungstrauma, das seine Mutter erlitten hat, als ihr Vater sie und ihre Mutter im Stich ließ. Dieses Trauma hat die Mutter als Depression verarbeitet und die aggressiven Affekte in Form von Enttäuschung, Hass, Verachtung, Empörung, Verbitterung und Rachewünschen transgenerational an ihren Sohn weitergegeben. All diese Affekte haben den Charakter von »entlehnten« Gefühlen im Sinne von Freud (1923b, S. 279). Bei Freud geht es speziell um ein »entlehntes Schuldgefühl«, »das heißt das Ergebnis der Identifizierung mit einer anderen Person, die einmal Objekt einer erotischen Besetzung war. Eine solche Übernahme des Schuldgefühls ist oft der einzige, schwer kenntliche Rest der aufgegebenen Liebesbeziehung« (ebd.). Freuds Überlegungen lassen sich unschwer auf »entlehnte Gefühle« anderer Art übertragen. Der Patient hat sich mit den Affekten seiner Mutter identifiziert und lebt sie stellvertretend für die Mutter aus. Diese Überidentifikation mit den unbewussten Gefühlen seiner Mutter hatte auch die Funktion, eine besondere Nähe, eine Art Nibelungentreue, zu ihr herzustellen, denn er fühlte sich von der Mutter gegenüber dem Bruder immer benachteiligt. Die Entlehnung ihrer Gefühle diente also auch dazu, seinen Neid und seine eigene Kränkung in Schach zu halten. Wahrscheinlich ist es dem Patienten erst in der Schlussphase der Behandlung möglich, das Wagnis einzugehen, einen grundlegenden Dissens mit mir zu thematisieren. Vielleicht will er diese (letzte) Gelegenheit nutzen, in eine aggressive Konfrontation mit mir zu gehen. Er inszeniert die Provokation, indem er meine berufliche Bezugsgruppe angreift und mich auf die Probe stellt, ob ich ihm gegenüber 84

Abstinenz und der Umgang mit populistischen Äußerungen im Behandlungszimmer

mit dem gleichen moralischen Rigorismus antworte, den er lächerlich macht. Der Stil seiner Attacke hat durchaus Merkmale, wie sie für rechtspopulistische Argumentationen typisch sind. Er unterstellt, »die Psychoanalytiker« fühlten sich moralisch überlegen, seien aber in Wahrheit  – ähnlich wie sein Großvater  – aufgeblasene Wichtigtuer. Er selbst sieht sich in der Rolle des zu Unrecht unterdrückten Opfers. Er werde abgekanzelt, nur weil er eine abweichende Meinung vertrete. Die Art, wie er die Formulierung des AfD-Politikers Björn Höcke über das Holocaust-Mahnmal in Berlin als »Mahnmal der Schande« mit gespielter Naivität verharmlost, ist typisch für populistische Argumentationsstrategien. Im ersten Schritt wird ein Tabubruch begangen. Wenn dieser Kritik und Empörung hervorruft, wird zurückgerudert und behauptet, die Aussagen seien ganz anders gemeint gewesen. Man sei wieder einmal Opfer eines überzogenen Moralismus geworden. Auch die stereotype Versicherung, er sein kein Sympathisant der AfD, aber man werde ja wohl noch sagen dürfen, dass man das Existenzrecht der AfD verteidige, reproduziert rechtspopulistische Argumentationsmuster. Die Dynamik unserer Beziehung gewinnt ihre Brisanz aus den aggressiven Affekten, mit denen der Patient sein Anliegen vorträgt: der verächtlichen Formulierung von der »Posse«, der Häme, dem Wunsch, mich lächerlich zu machen, dem Vorwurf der moralisierenden Überheblichkeit, der kaum verhohlenen Sympathie mit rechtsextremistischen Positionen. In unserer Beziehung kommen diese Affekte aber nur gebremst zum Vorschein. Dies hat damit zu tun, dass sowohl der Patient als auch ich so kurz vor Beendigung der Therapie eine mögliche Eskalation vermeiden wollen. Zudem findet die psychotherapeutische Arbeit häufig dort eine Grenze, wo religiöse oder politische Grundüberzeugungen berührt werden. Solche Überzeugungen zu deuten oder zu problematisieren, wird von Patientinnen und Patienten in aller Regel als Übergriff erlebt, weil sie gleichsam zum harten Kern ihrer Identität gehören. Folgt man Freuds »Ratschläge[n] für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung«, so sollte man sich sogar davor hüten, allzu viel »therapeutischen« und auch »erzieherischen Ehrgeiz« (1912e, S. 385) zu entwickeln. Stattdessen empfiehlt Freud, als TherapeutIn »muß man vor allem tolerant sein gegen die Schwäche des Kran85

1 Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus

ken, muß sich bescheiden, […]. Der erzieherische Ehrgeiz ist sowenig zweckmäßig wie der therapeutische« (ebd.). Jedoch erscheint es mir wichtig und richtig, auf die Rollenerwartung des Patienten, seinen Wunsch, mich mit seiner Provokation zu einer Entgegnung herauszufordern, ein Stück weit einzugehen. Er durfte ruhig wahrnehmen, dass ich emotional angefasst war und dass ich seine politischen Einschätzungen nicht teile, aber ich konnte mit etwas Glück doch vermeiden, meine Gegenübertragung in einer Gegenattacke zu agieren. Das Fallbeispiel zeigt, dass populistische Einstellungen und Ressentiments in biografischen Traumata und den Erfahrungen von Verrat, Ungerechtigkeit, Ohnmacht und Entwertung verwurzelt sein können. Im Ressentiment nimmt man Rache für das selbst erlittene Leid. Da die individuelle Identität immer eine besondere Variante der Gruppenidentität darstellt (Erikson, 1966 [1959], S. 17), können auch kollektiv erlittene Erfahrungen von Entwertung, Verrat und Ungerechtigkeit zur Bildung von Ressentiments führen. Wenn sich individuelle Traumata mit dem gekränkten Gruppennarzissmus verknüpfen, ist die Ressentimentbildung besonders zementiert. So oberflächlich, falsch und vorurteilsbeladen populistische Auffassungen oft erscheinen mögen, so emotional bedeutsam und essenziell können die biografischen Traumata, Konflikte und Beziehungskonstellationen sein, aus denen sich ihre psychische Dynamik speist. Die Anerkennung dieser Zusammenhänge könnte helfen, Menschen, die populistische Auffassungen vertreten, mit einer gewissen Neugier und ohne allzu viel Gegenaggression zu begegnen, allerdings auch ohne die Hoffnung, sie allein mit gutem Willen von ihren Überzeugungen abbringen zu können.

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2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

In diesem Kapitel soll am Beispiel des Brexits gezeigt werden, wie sogar eine Entscheidung von historischer Tragweite von kurzfristigen Machtinteressen, dumpfen Ressentiments und Kränkungen des kollektiven Selbstwertgefühls, die durch illusionäre Größenfantasien kompensiert werden sollen, geprägt sein kann. Der Volksentscheid für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union versprach seinen Befürworter*innen einen illusionären Souveränitätsgewinn. Er sollte den gekränkten Nationalstolz und den sozioökonomischen und kulturellen Statusverlust, den Teile der Bevölkerung im Zeichen der Globalisierung erfahren hatten, auf einer kollektiv-psychologischen Ebene kompensieren. Die Brexit-Bewegung weist die typischen Merkmale rechtspopulistischer, fremden- und demokratiefeindlicher Bewegungen auf. Die »erste große Welle rechtspopulistischer Parteien« (Priester, 2012) setzte bereits in den 1970er Jahren in Ländern wie Dänemark, den Niederlanden, Frankreich, Belgien, der Schweiz und Norwegen ein (ebd.). In den 1990er  Jahren kam es zu einer weiteren Welle in Schweden, Finnland, Österreich und Italien. In Deutschland bekam der Rechtspopulismus in Gestalt von PEGIDA und der AfD infolge der Flüchtlingskrise 2015 einen starken Auftrieb. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte er 2016 mit der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten und 2020 mit dem Brexit. Mit dem Volksentscheid Großbritanniens, aus der Europäischen Union auszutreten, wurden historische Fakten geschaffen, die auch nach einem möglichen Stimmungsumschwung nicht ohne Weiteres wieder rückgängig gemacht werden könnten. Auch insofern lohnt der Blick auf dieses Beispiel rechtspopulistischer Politik.

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2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

»Die ganz gemeine Eitelkeit als Berufskrankheit bei Politikern« (Max Weber) David Cameron wird in die Geschichte eingehen als der Premierminister Großbritanniens, der sein Land um eines kleinen partei- und machtpolitischen Vorteils willen in eine gesamtgesellschaftliche Fehlentscheidung historischen Ausmaßes geführt hat. Nur um eine »renitente Minderheit« (Zaschke, 2016) in seiner eigenen Fraktion ruhigzustellen, ging er leichtfertig das Risiko eines Plebiszits über die wegen ihrer Komplexität, ihrer historischen Tragweite und ihrer praktischen Nicht-Revidierbarkeit für einen Volksentscheid völlig ungeeignete Fragestellung ein (Münkler, 2016). Schon seit Jahrzehnten gefielen sich englische Politikerinnen und Politiker und große Teile der britischen Presse darin, Stimmung gegen die Europäische Union zu machen. Auch Cameron war ganz groß darin, Ressentiments gegen »die Eurokraten in Brüssel« zu schüren, um sich selbst zum heldenhaften Kämpfer gegen die »Fremdherrschaft der EU« zu stilisieren. Zugleich nutzte er die auch von ihm selbst angefachte EU-Feindlichkeit, um bei eben dieser EU in erpresserischer Manier Sonderbedingungen für sein Land herauszuschlagen. Es war ein zynisches Spiel, weil Cameron selbst nicht an die boshaften Schmähungen glaubte, die unter einer wachsenden Zahl seiner Landsleute grassierten. Er gab sich der grandiosen Illusion hin, seine Landsleute würden alle seine taktischen Winkelzüge mitmachen, ihm am Ende aber doch bei seinem Votum für den Verbleib in der EU folgen. Zu diesem Zeitpunkt aber war der giftige Geist des Ressentiments schon aus der Flasche entwichen und wurde von Camerons Rivalen um das Amt des Parteivorsitzenden und Premierministers, Boris Johnson, skrupellos befeuert. In besonders aggressiver Weise hatte der Rechtspopulist Nigel Farage schon seit vielen Jahren Ressentiments gegen »Kontinentaleuropa« geschürt. Zur »kritischen Masse« konnte sich die rechtspopulistische Bewegung unter seiner Meinungsführerschaft jedoch erst entwickeln, nachdem die konservativen Politiker Cameron und Johnson die antieuropäische Karte spielten. Ihre Verantwortungslosigkeit ist der eigentliche politische Skandal. Mit der Existenz ausgewiesener Rechtspopulisten wie Nigel Farage müssen Gesellschaften leben – und fertigwerden. Dies gilt solange, wie sie in einer Außenseiterrolle verbleiben. Problematisch wird es, wenn Regierungen rechtspopulistisch agieren. Boris Johnson entspricht dem Typus des »Tricksers, des Spielers und 88

»Die ganz gemeine Eitelkeit als Berufskrankheit bei Politikern« (Max Weber)

Opportunisten« (Zaschke, 2016), des schillernden Narzissten, dem jedes Mittel recht ist, wenn es nur seinen ehrgeizigen Zielen und seinem Machtstreben dient und sein Bedürfnis, im Scheinwerferlicht zu stehen, befriedigt. Chamäleonartig wandelte er sich vom leutseligen, wort- und weltgewandten Bürgermeister Londons zum manipulativen Demagogen, der ganz offen Ressentiments und Hass sät, wider besseres Wissen Lügen verbreitet, Unsicherheit und paranoide Ängste schürt, die er dann mit illusionären Versprechungen beschwichtigt. Kein Mittel der Demagogie und des Ressentiments ist ihm zu billig, um Aufmerksamkeit zu erregen und sich in Szene zu setzen. In seiner Zeit als Korrespondent in Brüssel fiel er dadurch auf, dass er die »unter britischen Korrespondenten beliebte Disziplin des EU-Bashings« (Staun, 2016, S. 55) besonders virtuos beherrschte und dabei weder vor maßlosen Übertreibungen noch vor Unwahrheiten und reinen Erfindungen zurückschreckte. In privaten Gesprächen und in seiner Zeit als Bürgermeister Londons zeigte er sich jedoch keineswegs als fanatischer EU-Gegner. Im Grunde entsprang seine Kritik an der EU nicht tiefen politischen Überzeugungen, sondern seiner »anarchistischen Lust« (ebd.), Krawall und Chaos zu veranstalten und sich damit in den Mittelpunkt zu stellen. Er spielt noch immer den Klassenclown, der scheinbar keine Angst davor hat, dass man auch über ihn lacht, dessen Ziel aber darin besteht, andere zum Opfer von Spott, Hohn und Häme zu machen. Johnson sprang erst auf den Brexit-Zug auf, als dieser Fahrt aufgenommen hatte, und er erkannte, dass ihm dies die Chance bot, sich als Nachfolger Camerons zu profilieren. Nach der Wahl schien es so, als sei Johnson von seinem eigenen Erfolg überrascht – ja vielleicht sogar erschrocken darüber, welch fatale Konsequenzen mit historischer Tragweite er in seinem kindlich-kindischen Übermut angerichtet hatte. Tagelang versteckte er sich vor der Öffentlichkeit und verzichtete dann für alle überraschend darauf, als Kandidat für das Amt des Premierministers anzutreten. (Erst nachdem die britische Premierministerin Theresa May, die als Nachfolgerin für Cameron gewählt wurde, ihre Autorität in den langwierigen und konfliktreichen Vertragsverhandlungen mit der EU verschlissen hatte, griff Johnson nach der Macht.) Auch der Brexit-Gewinner Nigel Farage schmiss den Vorsitz der von ihm mitgegründeten und jahrelang beherrschten UK Independence Party (UKIP) mit der Begründung hin, er habe sein politisches Ziel, das Vereinigte Königreich aus der EU zu führen, erreicht und wolle »nun sein Leben zurück«. 89

2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

Und schließlich Cameron, der das Plebiszit und sein Amt verlor: Er machte sich scheinbar leichten Herzens aus dem Staub, eine Haltung, die er zumindest demonstrativ zur Schau stellte, als er nach seiner offiziellen Rücktrittserklärung, ein kleines Liedchen auf den Lippen, auf die Tür von Downingstreet  10 zuschritt. Er wollte damit wohl demonstrieren, wie wenig das von ihm angerichtete Desaster sein Selbstbewusstsein anfechten könne. Die Politiker Cameron und Johnson handelten in hohem Maße verantwortungslos. Indem Cameron zum kurzfristigen Nutzen seiner eigenen politischen Karriere das Referendum versprach, beging er als Politiker einen Kardinalfehler, den der Soziologe Max Weber als »größte Sünde wider den heiligen Geist seines Berufs« (Weber, 1994 [1919], S. 75) als Politiker bezeichnet hat, nämlich den Machtmissbrauch um des persönlichen Vorteils willen. In seinem berühmten Essay Politik als Beruf (1919) richtet Weber im Zusammenhang mit den negativen Wirkungen der Macht seinen soziologischen Blick auf »einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind […]: die ganz gemeine Eitelkeit« (ebd., S. 74). Er bezeichnet die Eitelkeit als eine »Berufskrankheit« der Politikerinnen und Politiker und gibt – ohne dies direkt auszusprechen – eine Definition von Machtmissbrauch: »Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der ›Sache‹ zu treten« (ebd., S. 75). Max Weber thematisiert hier den engen Zusammenhang zwischen pathologischem Narzissmus und Machtmissbrauch (Wirth, 2002), auch wenn ihm der Begriff des Narzissmus nicht geläufig war. Das Machtstreben und der narzisstische Geltungsdrang verführten die Politiker Cameron und Johnson dazu, das Wohl Großbritanniens leichtfertig aufs Spiel zu setzen, um ihrer persönlichen Eitelkeit zu frönen. Um die »Sache«, die der EUSkepsis tatsächlich zugrunde liegt, nämlich die realen sozioökonomischen Verwerfungen, unter denen die schlechter gebildeten, sozial benachteiligten und älteren Teile der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft leiden, haben sich Cameron und Johnson nicht im Geringsten geschert. Beide entstammen sie der englischen Oberschicht, die sich – anders als auf dem Kontinent – seit Jahrhunderten von gesellschaftlichen Umbrüchen »ungestört auf Privatschulen und Eliteuniversitäten, in Gentleman’s Clubs und auf Wohltätigkeitsveranstaltungen reproduzieren« (Lapido & Bolzen, 2016) kann. Sie sind »typische Kinder des Establishments«, die im »Bewusstsein der privilegierten Herkunft« ein narzisstisch aufgeblasenes Selbstver90

Der Brexit als illusionärer Souveränitätsgewinn

ständnis entwickelt haben, einen Herrschaftsanspruch, der einhergeht mit »ideologischer Wendigkeit, gnadenlosem Wettbewerb, reichlich Spieltrieb und einer gewissen Rücksichtslosigkeit« (ebd.). In ihrer »geradezu selbstmörderischen Bereitschaft aufs Ganze zu gehen« (ebd.) richteten sie einen Scherbenhaufen an, wie er häufig nach den Saufgelagen des ebenso »berüchtigten wie exklusiven« (ebd.) Oxforder Studentenvereins »Bullingdon Club«, dem beide angehörten, zurückblieb.

Der Brexit als illusionärer Souveränitätsgewinn Der Brexit macht viele Menschen in Großbritannien und sogar europaweit so traurig, ratlos und wütend, weil er zutiefst irrational ist. Dieses Gefühl äußert auch der aus Deutschland stammende und in London lebende Psychoanalytiker und Psychiater Wilhelm Skogstad. Nach seiner Beobachtung ist es für die Briten äußerst wichtig, auf allen möglichen Gebieten »weltführend« (Skogstad, 2022) zu sein. Er interpretiert dieses Bedürfnis als »Ausdruck einer omnipotenten Fantasie« (ebd.), mit der das einstige Empire, in dessen »Reich die Sonne nie unterging« (ebd.), auf den Niedergang seiner weltumspannenden Macht reagierte. Mit dem Empire sei »die Idee vom britischen Exzeptionalismus [verbunden], die Vorstellung, Briten seien besser als der Rest der Welt und hätten einen natürlichen Anspruch auf Macht und Reichtum. Mit einem tiefen Gefühl der Überlegenheit blickten viele auf die Einheimischen in den Kolonien herab. Das Weiterbestehen dieser Haltung zeigte sich an den vielen rassistischen Bemerkungen Prinz Philips, oder an so manchen Äußerungen Boris Johnsons« (ebd.).

Die Brexit-Befürworter*innen verkennen die Bedeutung der EU als ein »beispielloses welthistorisches Experiment – ein Bund freiwillig beigetretener Staaten, der sich, wie das Vereinigte Königreich, gemeinschaftlich zur Wahrung von Grundfreiheiten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit und zur Förderung der Menschenrechte verpflichtet« –, so der Historiker Christopher Munro Clark (2016), und setzen dagegen die Illusion von nationaler Souveränität. Der Brexit dient weder dem Wohl Großbritanniens noch dem der Europäischen Union, weder dem Wohl der konservativen Partei noch dem Ansehen Camerons. Den Brexit leichtfertig in Kauf zu nehmen, war destruktiv und selbstdestruktiv zugleich und damit Kennzeichen einer 91

2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

kollektiven Größenfantasie. Auf absehbare Zeit werden alle Beteiligten unter dem Brexit und seinen Folgen wirtschaftlich zu leiden haben. Sogar die erneute Möglichkeit einer Abspaltung Schottlands ist wahrscheinlicher geworden, ein Prozess, der aus Sicht Englands einem historischen Fiasko gleichkäme. Sollte sich Schottland tatsächlich von Großbritannien abspalten, erführe Letzteres keinen Gewinn an Souveränität, der doch angeblich mit dem Brexit angestrebt war, sondern einen schmerzlichen historischen Souveränitätsverlust. Diese Entscheidung, die vor allem vom englischen Volk getragen wurde (die Schottinnen und Schotten waren mehrheitlich für den Verbleib in der EU), beruht weder auf rationalen Argumenten noch auf in sich schlüssigen normativen Wertungen und schon gar nicht auf wirtschaftlichen Interessen. Diese Entscheidung gründet sich allein auf dumpfen Ressentiments, irrationalen Ängsten, paranoiden Annahmen, projektiven Verkennungen der Realität und windschiefen Wertungen. Jene irrationale Entscheidung hat vor allem massenpsychologische Gründe. Sie wirft für die Brexit-BefürworterInnen den psychologischen Gewinn ab, der sich aus der illusionären Hoffnung speist, Freiheit und Autonomie gewonnen und die »Brüsseler Bürokratie« vom Sockel gestoßen zu haben. Sie dient der Bestätigung des Heldenmythos vom unabhängigen, freiheitsliebenden und jeglicher Fremdherrschaft trotzenden Seefahrervolk. Sozialpsychologisch betrachtet, befriedigt der Brexit Ressentiments. Die Brexit-Bewegung wird angestachelt von negativen Affekten wie Rache, Neid, Groll, Feindseligkeit, Misstrauen und Häme. Es nimmt deshalb auch nicht Wunder, dass der Beifall für die britische Entscheidung ausschließlich von Gruppierungen und Personen kam, die selbst mit dem politischen Mittel des Ressentiments hantieren, wie es von den rechtspopulistischen Gruppierungen und von Putin und Trump bekannt ist. Diese haben ein offensichtliches Interesse und auch hämisches Vergnügen daran, die EU zu schwächen und Zwietracht in der europäischen Gemeinschaft zu säen.

Wurzeln des antieuropäischen Ressentiments Das Anti-EU-Ressentiment in England und Wales hat vor allem vier Wurzeln: 1. Während die junge Generation im boomenden Finanz- und Dienstleistungssektor der Weltmetropole London die internationalen und multikulturellen Kontakte als Bereicherung ihres individuellen, kom92

Wurzeln des antieuropäischen Ressentiments

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munikativen und weltoffenen Lebensstils empfindet, hat sich bei der älteren Generation ein Gefühl der Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Entwertung der eigenen Kompetenzen herausgebildet, das sich als Ressentiment gegen die EU ausdrückt und sich auch in den Abstimmungsergebnissen des Referendums spiegelt: 64 Prozent der 18bis 24-Jährigen votierten für den Verbleib in der EU, während nur 24 Prozent dieser Altersgruppe für den Brexit waren. Und auch bei der Altersgruppe der 25- bis 49-Jährigen gab es noch eine Mehrheit von 45 Prozent für den Verbleib, und nur 39 Prozent stimmten für den Austritt. Erst ab dem Alter von 50  Jahren dreht sich das Verhältnis um: Nur 35 Prozent der 50- bis 64-Jährigen entschieden sich für die EU, während 49 Prozent der EU den Rücken kehren wollen. Bei den über 65-Jährigen sind es schließlich 58 Prozent, die für den Brexit sind, und nur 33 Prozent, die der EU die Treue halten wollen. Wie zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien zeigen, treten fremdenfeindliche Ressentiments bei schlechter gebildeten Bevölkerungsgruppen mit geringem Sozialstatus häufiger auf als bei besser gebildeten mit höherem Sozialstatus. Erfahrungen von Ohnmacht und Benachteiligung lösen Gefühle von Ungerechtigkeit aus, die den psychologischen Nährboden für Ressentiments bilden. Unter den Anhängerinnen und Anhängern des Brexits finden sich signifikant häufiger Personen mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Sozialstatus. Ihr Ressentiment richtet sich gegen Migranten, Flüchtlinge und gegen die EU, die angeblich Flüchtlinge nach Großbritannien schleust. Tatsächlich ist die große Zahl von Migrant*innen in Großbritannien aus den ehemaligen Kolonien eingewandert oder als gesuchte Arbeitskräfte aus EU-Ländern, insbesondere aus Polen, angeworben worden. Großbritannien hat von diesen Zuwanderern wirtschaftlich erheblich profitiert, nur hat es die Regierung versäumt, diese Zusammenhänge ihrer Bevölkerung angemessen zu vermitteln. Die Landbevölkerung votierte mehrheitlich für den Brexit, während sich die Metropole London der EU verbunden fühlt. Diese gesellschaftliche Spaltung in eine wirtschaftlich prosperierende Finanzmetropole und eine Landbevölkerung, die sich abgehängt fühlt, findet ihren psychologischen Ausdruck im antieuropäischen Ressentiment. Schließlich spielt auch noch eine kollektive Kränkung des Gruppennarzissmus des englischen Volkes eine nicht zu unterschätzende Rolle. 93

2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

Viele Britinnen und Briten haben sich immer noch nicht vollständig mit der Tatsache abgefunden, dass ihre politische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung als Imperium und Weltmacht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf ein geringes Maß geschrumpft ist. Deshalb haben sie auch erst nach langem Zögern die Aufnahme in die EU beantragt.

Fremdenhass und Autonomieillusionen als Kompensation für gekränkten Nationalstolz Der EU-Beitritt Großbritanniens erfolgte nicht aus emotionaler Begeisterung für die europäische Idee, sondern gehorchte purer wirtschaftlicher Not, da das Commonwealth of Nations stetig zerfiel und sich die ökonomische Lage dramatisch verschlechterte. Dass Charles de Gaulle den Beitrittswunsch der Briten zweimal zurückwies, 1963 und 1967, stellte eine zusätzliche Kränkung des britischen Nationalstolzes dar. Jedenfalls blieb das Verhältnis der Brit*innen zur Europäischen Union immer distanziert, ambivalent, kühl berechnend und von einem Schuss Misstrauen geprägt. Man handelte Sonderkonditionen aus, ohne Rücksicht darauf, ob dies die Idee der europäischen Solidarität gefährden könnte, beanspruchte bei allen sich bietenden Gelegenheiten eine Sonderrolle und verweigerte sich dem Euro. Indem die Briten sich in einer splendid isolation selbstzufrieden einrichteten, werteten sie sich in ihrer eigenen Fantasie narzisstisch auf, mussten aber zur Absicherung dieses illusionären Selbstbildes äußere Feinde aufbauen. Die EU-Skepsis wurde zu einem tragenden Pfeiler des britischen, genauer gesagt des englischen und walisischen Nationalstolzes. Die genannten ungelösten Konfliktfelder des britischen Selbstwertgefühls haben sich unter der eitlen und egozentrischen Führerschaft der Rivalen von Cameron und Johnson zu einer explosiven Stimmung des Ressentiments und der Selbstüberschätzung verdichtet, die im Brexit ihren dramatischen Höhepunkt fand. In den Tagen nach dem Referendum fühlte sich das Ressentiment bestätigt und ermutigt und zeigte sein hässliches Gesicht offen in Fremdenhass und in Gewalt. Die Zahl der rassistisch und fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten stieg rasant an. »Polizeistatistiken zeigten, dass die Zahl rassistisch oder religiös motivierter Übergriffe im Juli um 41 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen sei, teilte 94

Fremdenhass und Autonomieillusionen als Kompensation für gekränkten Nationalstolz

das britische Innenministerium […] mit« (FAZ, 2016). Die Brandstifter beteuerten ihre Unschuld und lehnten jede Verantwortung für das Unheil ab, das sie angerichtet hatten. Die Fremdenfeindlichkeit, die im Zusammenhang mit dem Brexit in Großbritannien entstanden ist, richtet sich auch gegen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die dort schon lange leben: »In Großbritannien hat sich eine neue Form von salonfähiger Fremdenfeindlichkeit etabliert« (Zastiral, 2016). In einem Handeln, das durch Ressentiments geleitet wird, soll Rache ausgeübt werden, die eine Wiederherstellung des verletzten Selbstwertgefühls erlaubt (Scheler, 1915, S. 56). Im Alltagshandeln in der Bevölkerung kommt das handgreiflich zum Ausdruck, auf der Ebene des Regierungshandelns in einer kompromisslosen Verhandlungsstrategie. Man will die Vorteile des europäischen Binnenmarktes mitnehmen, allerdings ohne die damit verbundenen Verpflichtungen zu akzeptieren. Der Wunsch, sich zu rächen, dem anderen zu schaden und sich selbst und den anderen zu demonstrieren, dass man nicht ohnmächtig ist, sondern die anderen machtvoll abstrafen kann, ist so übermächtig, dass die Selbstschädigung verleugnet und kleingeredet wird. Ressentiments gegen Migrantinnen und Flüchtlinge, gegen die Politiker an sich, gegen die Privilegierten, gegen die Eliten, gegen die lebenslustigen Jungen, gegen sexuelle Minderheiten, gegen die Gebildeten, gegen die Bessergestellten usw. sind Phänomene, die sich in vielen Gesellschaften finden und die in den letzten Jahren in allen Ländern der EU, aber auch in den USA, zu einem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen geführt haben. Hier verschaffen sich Gefühle der Enttäuschung, Wut und Ungerechtigkeit Luft, mit denen die Verlierer*innen der Globalisierung auf die Entwertung ihrer traditionellen Lebensgrundlagen und kulturellen Wertorientierungen reagieren. Ressentiments sind jedoch keine adäquate Antwort auf reale gesellschaftliche Konflikte und Ungerechtigkeiten, sondern bieten nur eine massenpsychologisch organisierte psychische Entlastung durch die Verschiebung der angestauten Affekte auf Sündenböcke. Bei allen rechtspopulistischen Bewegungen finden sich typische Feinbilder, die folgende Elemente aufweisen: ➣ Da ist zum einen der Hass auf die Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge, die als Folge der Globalisierung in die westlichen Industriegesellschaften einwandern und als unzivilisiert, fremdartig und feindselig entwertet werden. 95

2 Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments

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Zum anderen ist da der Hass auf »die da oben«, auf die privilegierten Eliten in Politik und Wirtschaft, die nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hätten und auf »die da unten« keinerlei Rücksicht nähmen. Hinzu kommt die komplette Ablehnung der Qualitätsmedien, die ein differenziertes Bild der gesellschaftlichen Realität zeichnen, meist als »Mainstreammedien« verunglimpft. Akzeptiert werden nur Medien, die die eigene populistisch verzerrte Weltsicht bestätigen. Schließlich richtet sich der Hass regelmäßig gegen Homosexuelle und andere sexuelle Minderheiten. Dies gilt auch für rechtspopulistisch motivierte Attacken, die im Zusammenhang mit dem Brexit verübt wurden, obwohl das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU inhaltlich nichts mit der gesellschaftlichen Stellung sexueller Minderheiten zu tun hat. Dieses Phänomen bedarf also einer gesonderten Erklärung. »Die Zahl homophober Angriffe hat sich laut einem Bericht des britischen Guardian nach dem Brexit mehr als verdoppelt. In den drei Monaten nach dem Referendum haben demnach Verbrechen gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) um 147 Prozent zugenommen« (Zeiher, 2016). Der Anstieg von Hassverbrechen gegenüber Mitgliedern der LGBTGemeinde sei sogar »propotional noch höher als bei Verbrechen gegenüber anderen Minderheiten, berichtet der Guardian weiter. Mehr als 3.000 Anklagen wegen Belästigung und Drohung seien der Polizei in der Woche vor und nach dem Referendum gemeldet worden« (ebd.).

Die Brexit-Kampagne, die stark von fremdenfeindlichen Affekten und rassistischen Ressentiments geprägt war, hat auch die Hemmschwelle für homophobe Übergriffe spürbar gesenkt. Rechtspopulistische Ressentiments bilden offenbar ein Syndrom von affektiv aufgeladenen Feindseligkeiten, die durch reaktionäre kulturelle Wertorientierungen unterfüttert sind. Sind die Ressentiments und die dazugehörigen Affekte erst einmal aktiviert, wird das »Hass-Programm« quasi automatisch abgespult, unabhängig davon, ob die Hasstiraden im konkreten Fall überhaupt alle inhaltlich passend sind. Eine angemessene politische Antwort auf die durch die Globalisierung verursachten gesellschaftlichen Verwerfungen muss zum einen die gesellschaftspolitische Frage einer gerechteren Verteilung des Reichtums auf 96

Fremdenhass und Autonomieillusionen als Kompensation für gekränkten Nationalstolz

die politische Agenda setzen, zum anderen bei der sozialstaatlichen Abfederung sozioökonomischer Benachteiligungen großer gesellschaftlicher Gruppen ansetzen. Schließlich darf sie auch die sozialpsychologisch bedeutsame kritisch-aufklärerische Auseinandersetzung mit den Ressentiments nicht vernachlässigen. Eine Politik hingegen, die solche Ressentiments anheizt, um sie für die eigenen machtpolitischen Absichten zu instrumentalisieren, vertieft die Spaltung der Gesellschaft und führt zu destruktiven und selbstdestruktiven Prozessen.

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3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

Netzwerke, böse Drahtzieher, komplexe Komplotte: Verschwörungstheorien haben Konjunktur, sie sind Bestseller – auf dem Buchmarkt, im Kino und im Internet. Im Zusammenhang mit rechtspopulistischen Bewegungen haben sie sich bereits seit einigen Jahren verbreitet, mit der Corona-Pandemie jedoch weiteren rasanten Aufwind bekommen (Altmeyer, 2020). In Deutschland werden Verschwörungserzählungen vor allem von der AfD und ihrem rechtsextremistischen Umfeld vertreten (Wirth, 2019, 2021). Jüngst sind Corona-Leugner*innen und die Querdenken-Bewegung dazugekommen, die sich gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung wenden (Wirth, 2020). Aber auch Regierungen setzen gezielt Verschwörungsideologien in die Welt, um die Gesellschaft zu spalten und ein Klima der Feindseligkeit, des Hasses und des Misstrauens zu erzeugen. Dies gilt für die Internet-Trolle, die von Russland aus gegen westliche Gesellschaften operieren, ebenso wie für den ehemaligen US-Präsidenten Trump, der seine Anhängerinnen und Anhänger während seiner gesamten Amtszeit mit Lügen, Fake News und »alternativen Fakten« für seine Interessen aufstachelt. Den Höhepunkt bildete seine nachweislich falsche Behauptung von der »gestohlenen Wahl«, mit der er seine Anhängerschaft zum Sturm auf das Kapitol aufwiegelte. Im Folgenden soll es darum gehen, die psychologischen, familiendynamischen, gruppendynamischen und massenpsychologischen Hintergründe von Verschwörungsideen näher zu beleuchten. Dabei sollen nicht nur »extreme« Verschwörungsmythen, die auf individueller Ebene den Charakter von Wahnvorstellungen annehmen können, sondern auch »mildere« Formen, die sich beispielsweise in einer gewissen Impfskepsis zeigen können, betrachtet werden. Für das Verständnis von Verschwörungstheorien ist der Begriff des Misstrauens und vice versa der des Vertrauens von zentraler Bedeutung. Es lohnt sich also, die Begriffe des Misstrauens und 99

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

Vertrauens, die bereits im Kapitel über Populismus diskutiert wurden, näher auszuleuchten.

Epistemisches Vertrauen – epistemisches Misstrauen Wie schon ausgeführt, besteht nach Erik Erikson die erste fundamentale Aufgabe des Menschen darin, das Gefühl des Ur-Vertrauens zu entwickeln, das die entgegengesetzten Gefühle von Verlassenheit, Verzweiflung und Ur-Misstrauen in Schach hält. Ausdrücklich betont Erikson, dass »Glaubwürdigkeit« – also eine mentale Eigenschaft – ein zentrales Element von Vertrauen darstellt. »Mit ›Vertrauen‹ meine ich das, was man im Allgemeinen als ein Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens kennt, und zwar in bezug auf die Glaubwürdigkeit anderer wie die Zuverlässigkeit seiner selbst« (Erikson, 1966 [1959], S. 62). Der Grundstein dafür wird bereits in den ersten Lebensjahren gelegt, wenn sich beim Kleinkind ein Gefühl des Ur-Vertrauens in die Liebe, Zuverlässigkeit und eben auch in die Glaubwürdigkeit der zentralen Beziehungspersonen entwickelt. Nur wenn das Kind erlebt, dass es anderen vertrauen kann und dass andere Vertrauen in es setzen, entwickeln sich bei ihm Selbstvertrauen und Weltvertrauen (Hartmann, 2011, S. 66). Das Ur- oder Weltvertrauen ist eine psychosoziale Ressource, auf die das Individuum, aber auch soziale Gemeinschaften in Krisenzeiten zurückgreifen können. Eine Ausdifferenzierung des Begriffspaars »Vertrauen«  – »Misstrauen« haben Peter Fonagy, Kolleginnen und Kollegen (2017) mit dem Konzept des »epistemischen Vertrauens« bzw. des »epistemischen Misstrauens« entwickelt. Epistemisches Vertrauen ist eine besondere Art des Vertrauens, die sich darauf bezieht, ob man einer anderen Person vertraut, dass sie relevante kulturelle Zusammenhänge korrekt erklärt, soziale Sachverhalte beim richtigen Namen nennt und glaubwürdig ist. Die Entwicklung des epistemischen Vertrauens hängt eng zusammen mit Fähigkeiten, die Fonagy mit dem Konzept des Mentalisierens beschreibt. Damit ist das menschliche Vermögen gemeint, sich einerseits in die innere Welt unserer Mitmenschen, in ihre Gefühle, Wünsche, Gedanken, Motive und Befürchtungen hineinzuversetzen, und andererseits auch die eigene innere Welt zu reflektieren, also mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Die Fähigkeit zu mentalisieren, ist grundlegend dafür, wie gut es gelingt, die eigenen Emotionen zu regulieren. Eine ausreichend gute Affektregulation fördert die Ausbildung von epistemischem Vertrauen. 100

Epistemisches Vertrauen – epistemisches Misstrauen

Wenn wir hingegen uns selbst und die innere Welt unserer Mitmenschen nur ungenügend erfassen, kommt es unweigerlich zu Missverständnissen, Kränkungen, Vorwürfen und Selbstvorwürfen, die zu weiteren Komplikationen in den sozialen Beziehungen und im psychischen Erleben führen. Verbleibt die Mentalisierung der Affektivität auf einem niedrigen Niveau, werden die »Reflexionsbemühungen von einem übertrieben argwöhnischen Grundgefühl dominiert« (Brauner, 2020, S. 31), und es kommt zur Entwicklung einer »allgemeinen Geisteshaltung« die sich durch epistemisches Misstrauen auszeichnet. Fonagys Theorie des epistemischen Vertrauens geht davon aus, »dass der menschliche Säugling über eine instinktive Offenheit verfügt, soziales Wissen von seinen besser informierten Bindungspersonen aufzunehmen. Dadurch wird er in die Lage versetzt, von dem komplexen Gebäude menschlichen Wissens, das ihm in seiner unmittelbaren Kultur zur Verfügung steht, zu profitieren. Diese Fähigkeit, soziales Wissen zu lehren und zu lernen, ist die Basis der menschlichen Kultur und der kulturellen Evolution. Die Vorstellung, dass Kinder gegenüber ihren Mitmenschen wahllos leichtgläubig sind, wurde durch zahlreiche Studienergebnisse widerlegt, die zeigen, dass falsche Behauptungen und unglaubwürdige Erklärungen einen sozialen Kommunikator verdächtig machen. Seine Behauptungen über die Welt werden daraufhin mit Skepsis betrachtet. Epistemische Wachsamkeit ist ein notwendiges Instrument zum Schutz vor Fehlinformationen, seien sie auf die böswillige Absicht oder die Inkompetenz des Kommunikators zurückzuführen« (Fonagy et al., 2017; zusammenfassende Übersetzung H.-J. W.).

Viele Dinge, die Kinder lernen müssen, handeln von sozialen Beziehungen und eigenen und fremden mentalen Zuständen. Bei diesen Themen verfügen sie prinzipiell über eigene Maßstäbe der Beurteilung. Kinder haben ein feines Gespür dafür, ob die Mutter sich ihnen offen, liebevoll und interessiert zuwendet, oder ob sie sich nur auf einer oberflächlichen Ebene kümmert, innerlich aber unbeteiligt oder mit anderen Dingen beschäftigt ist. In Situationen, in denen das frühe Umfeld eines Kindes stark von unzuverlässigen und instrumentalisierenden Bindungspersonen bestimmt ist, »wird die Offenheit für Erfahrungen epistemischen Vertrauens problematisch« (ebd.). Wie Fonagys Untersuchungen empirisch belegen, kann es dann für die eigene Entwicklung besser sein, beharrlich wachsam und miss101

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

trauisch zu bleiben und sich vor neuen Erfahrungen zu verschließen. Stattdessen versteift man sich auf die einmal gefundenen Überzeugungen und Ansichten von der Welt und den Menschen. Statt epistemisches Vertrauen entwickelt das Kind »epistemisches Misstrauen als eine gebotene Form der Anpassung« (ebd.). Ein solches epistemische Misstrauen, eine hypersensible Wachsamkeit, meint auch Donald Winnicott, wenn er Kinder schildert, die ängstlich »auf jede Veränderung im Ausdruck der Mutter [achten] und versuchen ihre Stimmung vorauszusagen« (Winnicott, 1979 [1967], S. 130). Solche Kinder lernen schnell vorherzusehen: »Jetzt brauche ich nicht auf Mutters Stimmung zu achten und kann selbst spontan sein; aber gleich kann ihr Gesicht erstarren oder von ihrer Stimmung beherrscht werden, und dann muß ich meine eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um nicht in der Tiefe meines Selbst verletzt zu werden« (ebd.).

Aus solcher Art Beziehungserfahrungen entsteht beim Kind ein »falsches Selbst« (Winnicott, 2001 [1963], S. 182ff.), das von Misstrauen und einer tiefen Verunsicherung geprägt ist. Epistemisches Misstrauen äußert sich in einer übertriebenen Wachsamkeit gegenüber allen Ereignissen in der Umgebung. Es entwickelt sich eine Überinterpretation der Motive anderer Menschen, denen in der Regel böse Absichten unterstellt werden. Epistemisches Misstrauen kann dann die Form einer »Hypermentalisierung« oder »Pseudomentalisierung« (Fonagy et al., 2017) annehmen. Der oder die Betreffende will immer und überall auf das Schlimmste gefasst sein. Misstrauisch überprüft er oder sie ständig die Umgebung nach Hinterhältigkeiten und Betrügereien. Fonagys Ausführungen beziehen sich auf direkte kommunikative Prozesse zwischen Personen. Seine Beschreibungen treffen aber auch auf den Umgang mit gesellschaftlichen Problemlagen und politischen Institutionen zu. Ein typisches Argumentationsmuster ist die Frage nach heimlichen Interessen, die hinter einer beliebigen politischen Maßnahme stecken. Die offizielle Begründung wird auf alle Fälle misstrauisch abgelehnt. Dass Bill Gates nach seinem Ausscheiden bei Microsoft als einer der reichsten Menschen der Welt einen großen Teil seines Vermögens in eine gemeinnützige Stiftung eingebracht hat, weil er – wie manche vermögende Menschen – philanthropische Interessen entwickelt hat, passt nicht in ihr Weltund Menschenbild. Stattdessen sind sie sicher, dass er die Weltherrschaft 102

Epistemisches Vertrauen – epistemisches Misstrauen

anstrebt, die WHO unter seine Kontrolle gebracht hat und im Übrigen durch die von ihm propagierten Impf-Kampagnen noch viel reicher wird. Misstrauen kann sich zu einer habituell eingenommenen Grundhaltung verfestigen, die durch Ur-Misstrauen und ein paranoid gefärbtes Menschenund Weltbild gekennzeichnet ist, das in Verschwörungstheorien eine verfestigte Form findet (Butter, 2018). Aktuelle Beispiele für entsprechende Verschwörungsmentalitäten finden sich in der Querdenken-Bewegung, die mit abstrusen Verschwörungsannahmen, Corona-Verleugnung und Anti-Corona-Demonstrationen in Erscheinung tritt. Im Verein mit rechtsradikalen Gruppierungen versucht die Anhängerschaft dieser Bewegung systematisch grundlegendes Misstrauen gegen alle Informationen, Einschätzungen und Maßnahmen zu sähen, die von »den Eliten«, den »Mainstreammedien«, der Wissenschaft oder der Regierung stammen. Ins Auge fällt die Überzeugungskraft, mit der das Misstrauen gegenüber »denen da oben« vertreten wird. Es scheint, als müssten mögliche Selbstzweifel an der eigenen Position durch die Vehemenz des Misstrauens übertönt werden. Kindheitserfahrungen, die von unzuverlässigen und instrumentalisierenden Bindungspersonen geprägt waren, bewirken auch noch im Erwachsenenalter eine gewisse Anfälligkeit für die Entwicklung einer Verschwörungsmentalität. Dieser Zusammenhang zeigte sich in der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018: Rechtsextreme Einstellungen werden u. a. durch Autoritarismus, Verschwörungsmentalität und das Gefühl, von den Eltern nicht ausreichend erkannt worden zu sein, sowie die Aussage, man könne niemandem vertrauen, beeinflusst (Decker, Yendell & Brähler, 2018, S. 173). Auf diese Studie komme ich weiter unten nochmals zurück. Die Grundhaltung des epistemischen Misstrauens kann sich aber auch noch im Erwachsenenalter herausbilden, wenn man gehäuft die reale oder subjektiv empfundene Erfahrung von Ungerechtigkeit, Unzuverlässigkeit, Instrumentalisierung und des Betrogenseins macht. Solche Erlebnisse sind auch im Erwachsenenalter noch sehr schmerzhaft und narzisstisch kränkend. Wie wir aus der Alterspsychologie wissen, kann die narzisstische Kränkung, auch altern zu müssen und an sozialer Bedeutung zu verlieren, die Ausbildung von epistemischem Misstrauen und Altersstarrsinn begünstigen. Dies könnte erklären, warum es überraschend viele Mediziner gibt (es sind tatsächlich ganz überwiegend Männer im fortgeschrittenen Alter), die sich nicht scheuen, ihre wissenschaftliche und professionelle Reputation aufs Spiel zu setzen, indem sie im Zusammenhang mit der CoronaPandemie mit Verschwörungserzählungen öffentlich aufgetreten sind. 103

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

In einer Krise, wie sie die Corona-Pandemie darstellt, ist Vertrauen von zentraler Bedeutung. Um gut durch eine solche Krise zu kommen, ist es notwendig, einen fragilen Zustand so auszutarieren, dass eine jeweils angemessene Balance gefunden wird zwischen ängstlicher Vorsicht und Besorgnis auf der einen und dem Wunsch nach Normalität und Zuversicht auf der anderen Seite. Es muss abgewogen werden zwischen Gesundheitsgefährdungen und ökonomischen, gesellschaftlichen und psychologischen Nebenwirkungen der getroffenen Maßnahmen. Die Situation ändert sich täglich, die wissenschaftlichen Erkenntnisse entwickeln sich ebenso rasch, die Virologinnen und Virologen äußern zum Teil differierende Auffassungen, was in den Wissenschaften allerdings normal ist. In einer solchen Situation ist es essenziell, dass man Wissenschaftler*innen und Führungsfiguren zutraut und vertraut, dass sie diese Vorgänge kognitiv bewältigen und durchschauen, dass sie der Bevölkerung reinen Wein einschenken und dass sie wohlabgewogene Entscheidungen fällen.

Familiendynamiken in der Corona-Krise Familien sind in der Pandemie starken sozialen und psychischen Belastungen ausgesetzt (Gravelmann, 2020). Wie verschiedene Studien (Schnetzer & Hurrelmann, 2021) zeigen, hat sich die »Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen verschlechtert, Ängstlichkeit und die Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten haben zugenommen« (Ravens-Sieberer et al., 2021, S. 8). Tendenziell neigen Kinder und Jugendliche stärker zu depressiven Zuständen und Stimmungen (ebd.). Zudem hat sich das Gesundheitsverhalten der Kinder während der Pandemie verschlechtert: »Der Medienkonsum ist hoch, ein Fünftel der Kinder treibt keinen Sport und ein Drittel isst mehr Süßigkeiten als vor der COVID-19-Pandemie. Aktuelle internationale Studien weisen in eine ähnliche Richtung« (ebd.). Da auch die Eltern durch finanzielle Sorgen, Arbeitsplatzverlust und Homeoffice gestresst sind (ebd.), kann es nicht verwundern, »dass Streitigkeiten in den Familien zunehmen und öfter eskalieren. In anderen Studien konnte bereits gezeigt werden, dass das Risiko von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung in Krisenzeiten steigt« (ebd.). Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sind »besonders stark von den Auswirkungen der COVID19-Pandemie betroffen« (ebd.). Familien, für die Angst ohnehin ein Leitthema ihres Zusammenle104

Familiendynamiken in der Corona-Krise

bens darstellt, sind durch die Realängste, die von der Pandemie ausgelöst werden, besonders belastet. Der psychosoziale Ausnahmezustand der Pandemie verstärkt latent vorhandene pathologische Beziehungsmuster und aktiviert die eingespielte psychosoziale Abwehr. Horst-Eberhard Richter (2012 [1970]) hat in Patient Familie drei homogen strukturierte Familientypen beschrieben, bei denen die Bewältigung oder – genauer gesagt – die Abwehr von Ängsten im Mittelpunkt steht: die angstneurotische und die paranoide Familie. Der dritte von Richter geschildete Familientyp, die hysterische Familie, zentriert sich um die Abwehr von depressiven Gefühlen und Stimmungen. Bei der angstneurotischen Sanatoriums-Familie steht meist ein Familienmitglied im Zentrum, das von Vereinsamungsängsten, Vernichtungsbefürchtungen, vegetativen Beschwerden und Hypochondrie bestimmt ist. Diese angstneurotische Zentralfigur setzt alle anderen Familienmitglieder unter Druck, sich ihrem risikoarmen, hygienischen und harmoniesüchtigen Lebensstil anzupassen, und verwandelt die Familie in eine Art von »selbstgeschaffenem Sanatorium« (Richter, 1976, S. 15). Sie nutzt die Ausnahmesituation der staatlich verordneten Kontaktbeschränkungen, um die anderen Familienmitglieder überängstlich an sich zu binden und auf das familiäre Schonklima zu verpflichten. Die ganze Familie entwickelt eine Gruppenphobie, die auf die kranke Hauptperson zwar beruhigend wirkt, insgesamt jedoch zu einer »Einschränkung des familiären Gruppen-Ichs« (ebd.) führt. In der Corona-Pandemie steht ein solches angstneurotischphobisches Familiensystem in großer Übereinstimmung mit der Realangst vor dem Virus und der staatlichen Aufforderung, sich möglichst zu Hause im Kreis der Familie aufzuhalten. Die phobische Familienabwehr findet gleichsam eine »Verankerung in der Realität« (Mentzos, 1976, S. 127). Im therapeutischen Alltag konnte man ganz unterschiedliche Reaktionen auf die Aufforderung zur Selbstisolation zu Hause beobachten. Manchen Familien gelang es, den Rückzug in die häusliche Sphäre und die Beschränkung der Kontakte auf die Familie zu nutzen, um die familiären Beziehungen zu stärken. Man genoss die Entschleunigung und entdeckte die Vorzüge der Langsamkeit, die mehr Raum ließ für die Beschäftigung mit sich selbst und den Menschen, mit denen man zusammenlebt (Heim, 2020). Das Tragen von Masken, das Abstandhalten, die Hygienemaßnahmen, das Gebot der Rücksichtnahme, aber insbesondere die Aufforderung zur Selbstisolation zu Hause wirkt auf das seelische Empfinden ganz unter105

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

schiedlich. Bei meinen Patientinnen und Patienten mit einer sozialphobischen Problematik habe ich festgestellt, dass sie sogar eher erleichtert auf die Einschränkung der sozialen Kontakte und die Möglichkeit zu Hause zu bleiben, reagieren. Das gilt generell für Menschen mit Eigenschaften, die Michael Balint (1972 [1959]) in seinem Buch Angstlust und Regression als »oknophil« bezeichnet hat. Sie neigen dazu, sich an gute Objekte anzulehnen und die weite, aber auch gefährliche Welt draußen eher aus der Distanz zu betrachten. Das lässt sich in der Krise perfekt kombinieren: Man richtet es sich im trauten Heim gemütlich ein und sucht die emotionale Erregung virtuell im Netz. Man genießt die Entschleunigung und entdeckt die Vorzüge der Langsamkeit, die mehr Raum lässt für die Beschäftigung mit sich selbst und den Menschen, mit denen man zusammenlebt (Heim, 2020). Man entdeckt und kultiviert die oknophilen Anteile in sich. Auch Kinder konnten es teilweise genießen, länger und intensiver mit den Eltern zu Hause in Beziehung zu sein. Wie die Studie des Deutschen Jugendinstituts »Kindsein in Zeiten von Corona« (Langmeyer et al., 2020, S. 22), die allerdings aus der Anfangsphase der Pandemie stammt (Publikation im Mai 2020), hervorhebt, hat sich in der Analyse »an mehreren Stellen angedeutet, dass die in der Familie gemeinsam verbrachte Zeit durchaus ein Gewinn für Kinder sein kann«. Eine Mehrheit der befragten Eltern (69 Prozent) war der Ansicht, »dass ihre Kinder die Corona-Krise eher gut oder sehr gut bewältigen« (ebd.). Allerdings räumen die Autor*innen selbstkritisch ein, dass ihre Befunde aufgrund der Stichprobengewinnung nicht in Richtung der Gesamtbevölkerung verallgemeinert werden können (ebd., S. 3). Sie gelten nur für sozioökonomisch besser gestellte Familien, die über mehr Platz zu Hause und über ein höheres Bildungsniveau verfügen. Für diese Familien bedeuteten die Ausgangsbeschränkungen – zumindest für eine begrenzte Zeit – die Chance der Intensivierung der familiären Beziehungen. Unter familiendynamischen Aspekten muss allerdings das Risiko betont werden, dass angstneurotische und sozialphobische Tendenzen verstärkt werden. Wenn eine »angstneurotische Zentralfigur« existiert, kann diese die Ausnahmesituation der Kontaktbeschränkung nutzen, um die anderen Familienmitglieder überängstlich an sich zu binden und auf das familiäre Schonklima zu verpflichten. Bei Kindern kann dies zu erhöhter Ängstlichkeit und einem sozialen Rückzug von Gleichaltrigen führen, und stellt damit ein hohes Risiko für ihre psychosoziale Entwicklung dar. Solche Kinder können eine »unbewusste Lebensangst« (Fuchs, 2002, S.  105) 106

Familiendynamiken in der Corona-Krise

entwickeln, indem sie sich auf »die Zeit der Kindheit fixieren und sich weigern, erwachsen und autonom zu werden« (ebd.). Solche familiendynamischen Konstellationen, die sich durch Überängstlichkeit, Anklammerungsbedürfnisse und hypochondrische Ängste auszeichnen, tauchten auch schon bei der HIV-Pandemie als AIDS-Phobie auf (Wirth, 2013). Das »Vertrauen«, das die Familienmitglieder in das phobisch geprägte Weltbild der angstneurotischen Zentralfigur entwickeln, ist gleichsam zu stark und zu einseitig ausgeprägt. Eine Untermauerung dieser ängstlichen Weltsicht wird in der verunsichernden Situation der Pandemie bei den virologischen Expertinnen und Experten gesucht, die ein besonders düsteres Bild der Lage zeichnen und zu besonders scharfen Einschränkungen der sozialen Kontakte außerhalb der Familie raten. Im Extremfall hörte die ganze Familie gemeinsam den populären Corona-Podcast von Christian Drosten und ging kaum noch aus dem Haus. Die angstneurotische Zentralfigur instrumentalisiert die virologischen Warnungen, um die »Einschränkung des familiären Gruppen-Ichs« (Richter, 1976, S. 15) durchzusetzen. Das Vertrauen, von dem hier die Rede ist, ist ein »blindes Vertrauen« (Volkan, 2005), das nicht durch eine gesunde Skepsis, den kritischen Vergleich verschiedener Expertenmeinungen und Selbstvertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit gekennzeichnet ist. Natürlich sagt diese Familiendynamik nichts darüber aus, welche virologische Analyse die Realität am besten trifft, sondern nur über deren funktionalisierende Verwendung innerhalb der Familie. In der paranoiden Festungsfamilie (Richter, 2012 [1970]) herrscht eine hochgradige aggressive Spannung, die durch Übersolidarisierung der Mitglieder und durch die Projektion der Aggression auf gemeinsame äußere Feinde in Schach gehalten werden soll. Die paranoide Weltsicht hält die Familie wie eine Festungsmauer zusammen. Das Freund-Feind-Denken prägt alle Lebensbereiche. In radikalen religiösen Sekten und in anderen durch Fanatismus gekennzeichneten Gruppen sind solche paranoiden Strukturen, sowohl in der Gruppe als auch in den dazugehörigen Familien, weit verbreitet. Da paranoides Denken und Verhalten enorm suggestiv wirken, werden solche paranoiden Strukturen vielfach von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Das Konzept der »transgenerationalen Weitergabe« wurde zwar erst von der Trauma- und der Holocaust-Forschung als solches benannt, ist theoretisch aber bereits in Richters Theorie der »psychosozialen Abwehrmechanismen« (Richter, 1963) differenziert beschrieben. 107

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

Während einer Pandemie wird zum gleichen Zeitpunkt die latent existierende Bereitschaft zu Ängsten aber auch zu paranoiden Einstellungen bei sehr vielen Menschen getriggert. Die Pandemie, ihre möglichen Ursachen und die Fragen nach angemessenen Gegenstrategien sind das beherrschende Thema. Die Sorgen und Ängste der vielen anderen wirken ebenso ansteckend wie die Verfolgungsängste und Verschwörungsnarrative. So kann es in einzelnen Familien, aber auch in sozialen Gruppen, zu einer paranoiden Atmosphäre kommen, die sich massenpsychologisch ausbreitet. Schert in einer Familie ein Mitglied aus der wahnhaften Realitätswahrnehmung aus, droht die Spaltung der Familie. Abweichende Mitglieder werden aus der Kommunikation ausgeschlossen oder man einigt sich darauf, das brisante Streitthema zu tabuisieren. Auch Freundschaften werden durch paranoide Überzeugungen auf eine harte Probe gestellt, wie man in der Corona-Pandemie häufig beobachten konnte oder schmerzhaft selbst erleben musste. Misstrauische oder gar paranoide Vorstellungen können nicht nur Familien, sondern auch kleinere und größere soziale Gruppen erfassen. So kann sich eine gesellschaftliche Stimmung verbreiten, die durch Misstrauen, projektive Feindbilder und die Polarisierung über strittige und emotional aufgeladene Themen gekennzeichnet ist. Auch die öffentliche Diskussion über die Gefährlichkeit des Corona-Virus, die Angemessenheit der einschränkenden Maßnahmen und eine mögliche Impfpflicht schienen von Anfang an durch misstrauische oder gar paranoid aufgeladene Stimmungen getönt. In der hysterischen Theater-Familie findet sich in der Regel ein Mitglied, das an einer histrionischen Störung erkrankt ist. Diese hysterische – oder wie es heute heißt: histrionische – Zentralfigur organisiert die restliche Familie nach ihren Bedürfnissen und bezieht sie als Mitakteure oder aber in der Zuschauerrolle in ihr Theaterspiel ein. Das Theaterhafte des Familienlebens ist das hervorstechende Merkmal der hysterischen Familie. Veranstaltet wird ein großartiges Wechselspiel zwischen Exhibitionismus und Voyeurismus, bei dem es unablässig und einzig und allein um Darstellung und Effekthascherei geht. Nachdenkliche und sachlichere Familienmitglieder werden als »Spielverderber« geächtet und so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich wenigstens als applaudierende Zuschauer*innen in das hysterische Familienensemble einfügen: The show must go on. Glanz und Elend des familiären Show-Ensembles zeigen sich dann, wenn anlässlich einer äußeren Krise die abgewehrte Depression zum Vorschein kommt und die ganze hysterische Dauerinszenierung jäh in sich zusammenbricht. Auch 108

Familiendynamiken in der Corona-Krise

dieses familiäre Abwehrmuster kommt sehr häufig vor, entspricht es doch gesellschaftlich gängigen Idealen, Umgangsformen und Lebensstilen, die uns in den TV-Soaps täglich vorgeführt werden. In der Corona-Krise gerät dieser familiäre Lebensstil unter besonderen Druck, da mit der Einschränkung der sozialen Kontakte der aufgedrehten Zentralfigur die Bühnen verlorengehen. Nicht mehr in Bars und Restaurants, ins Theater, auf Empfänge und zum Shopping gehen zu können, lässt das Gefühl entstehen, aller Möglichkeiten zur Selbstdarstellung und Selbstbestätigung beraubt zu sein. Ohne »Halli Galli«, Party und die Resonanz der Mitakteurinnen und Mitakteure sowie der applaudierenden Zuschauer fühlt sich das Leben grau, einsam und langweilig an. Wenn die hysterische Zentralfigur mit sich allein ist, weiß sie nichts mit ihrem Leben anzufangen. Ihr Bedürfnis nach theatralischen, affektierten und gleichzeitig egozentrischen Auftritten läuft ins Leere. Schmerzlich vermisst sie die stetige Zufuhr von Aufmerksamkeit, Anerkennung, Lob und Trubel. Die soziale Auszeit kann sie nicht genießen und nicht sinnvoll für sich nutzen. Die Möglichkeit, in der Pandemie mehr Zeit mit der Familie zu verbringen oder auch allein zu sich selbst zu finden, ist ihr ein Graus. Dieser weitverbreitete exaltierte Lebensstil stellt eine Form der Depressionsabwehr dar, die in Zeiten des Lockdowns und der Kontaktbeschränkungen in eine als existenziell empfundene Krise gerät. Um die aufsteigenden depressiven Gefühle und Stimmungen zu unterdrücken, bringen viele der Betroffenen ihre Wut über die Einschränkungen vehement zum Ausdruck und finden im öffentlichen Widerspruch eine neue Bühne für ihre Selbstinszenierung. Für Menschen mit einer »philobatischen« Ausrichtung bedeuten die Kontaktbeschränkungen eine erhöhte innere Anspannung. Als »Philobaten« bezeichnet Balint (1972 [1959]) den Gegentypus zum »Oknophilen«. Kennzeichnend für philobatisch orientierte Menschen ist die Neigung, sich mit einer Mischung aus Angst, Wonne und zuversichtlicher Hoffnung einer äußeren Gefahr auszusetzen und diese mit Angstlust (thrill) zu genießen. Der philobatische Mensch hat panische Angst davor, sich auf enge Beziehungen einzulassen, und lebt lieber autonom in den »freundlichen Weiten«, wie dies Balint ausdrückt. Indem er sich in sportlichen, erotischen oder sonstigen Abenteuern dank eigener Kraft und Geschicklichkeit (skills) gegenüber gefährlichen und tückischen Objekten zu behaupten vermag, beweist er seine narzisstische Unversehrtheit und Autonomie. Philobatisch ausgerichtete Personen fühlen sich durch das Tragen der Masken ihrer persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten beraubt. Sie haben 109

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das Gefühl, nicht mehr frei atmen und sprechen zu können. Sie leiden darunter, nicht mehr ihre Cafés, Kneipen und Discos besuchen und dort ihre Kontakte pflegen zu können. Die Vorstellung der Virolog*innen, dass es in den Aerosolen, die wir ausatmen, von Viren, also von »gefährlichen und tückischen Objekten« – um mit Balint zu sprechen – nur so wimmelt, versetzt sie nicht in panische Angst, sondern kann sogar eine Angstlust stimulieren, ein Hochgefühl, mit den gefährlichen Objekten schon fertigwerden zu können. Stattdessen fragen sie sich, ob diese ganze Corona-Krise ein Tanz auf dem Vulkan ist oder aber eine gigantische Inszenierung, über die man nur in ein groteskes Gelächter ausbrechen kann, wie es der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin (1985) als Charakteristikum des mittelalterlichen Karnevals beschreibt. Die Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen werden von den Demonstrantinnen und Demonstranten als grandiose Selbstermächtigung inszeniert: »Take back control!«. Wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev (2020, S. 64f.) in seinem Buch Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert treffend bemerkt, hängt der Erfolg aller Maßnahmen des Staates von der aktiven Unterstützung seiner Bürger ab: »Jedes Individuum, das beschließt, die Politik des ›social Distancing‹ zu unterlaufen, macht es den Staat schwerer, seine Ziele zu erreichen; in diesem Sinn beschränkt ein Notstand zwar die Rechte der Bürger, steigert aber paradoxerweise ihre Macht.« Der Minderheit, die die Gefährlichkeit einer Corona-Infektion leugnet, verharmlost und das Impfen ablehnt, ist es jedenfalls gelungen, den öffentlichen Diskurs nachhaltig zu prägen. Dass die Lust an der Provokation die öffentliche Selbstinszenierung bestimmen kann, zeigt auch das Auftreten der Führungsriege des FC Bayern München, die sich beim Bundesliga-Eröffnungsspiel am 18.  September 2020 eng nebeneinandersitzend und allesamt ohne Mundschutz den sieben Millionen Fernsehzuschauer*innen präsentierte. Die Lust am Regelverstoß und am Tabubruch wird angestrebt, um das Gefühl des Kontrollverlusts und der Freiheitseinschränkung zu kompensieren. Zugleich erregt man öffentliche Aufmerksamkeit, die man narzisstisch genießen kann. Die Demonstrationen, Versammlungen und Reden dramatisieren die Frontstellung gegen die Regierung, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Presse aber auch gegen den Mainstream in der Bevölkerung, und schüren dabei den Affekt der Empörung, den die Rednerinnen und Redner anstacheln und dem das Publikum lautstark Ausdruck gibt. 110

Familiendynamiken in der Corona-Krise

Die gleiche Psychodynamik findet sich auch in intellektuellen Beiträgen von angesehenen SozialwissenschaftlerInnen: Sie lassen, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (2020, S. 199) in einem Diskussionsband zum »Lockdown« (Kleve, Roth & Simon, 2020) kritisch anmerkt, »eine gewisse Sympathie für Verschwörungstheoretiker erkennen«, die man verteidige und deren »Exklusion aus dem »›Mainstream‹« kritisiert werde. In einem Beitrag des Soziologen Steffen Roth (2020, S. 64) in diesem Diskussionsband spricht dieser davon, »gerade Spaziergänge durch die Lustgärten der Verschwörungstheorien« erwiesen sich als »gesundheitsförderlich«. Die Verschwörungstheorien werden als ein Spielplatz für verrückte Ideen betrachtet, auf dem man sich nach Herzenslust austoben kann. Worin besteht für den renommierten Soziologen das Lustvolle an den Verschwörungstheorien? Zum ersten fällt auf, dass er den Terminus »Verschwörungstheorien« kritisch diskutiert und damit eine professionelle Distanz zum Phänomen der Verschwörungserzählungen wahrt. Er will sich nicht mit ihnen gemein machen. Ausdrücklich macht er darauf aufmerksam, dass »der Begriff Theorie vordergründig auf Wissenschaft referenziert« (ebd., S. 63), es sich aber »eher um eine Verschwörungsideologie« (ebd.) handele. Aber er hat Sympathie für sie, scheint eine lustvolle Erregung zu empfinden, wenn er ihre Argumentationsmuster nachvollzieht und sich – diese rechtfertigend – in sie hineindenkt. Es bereitet ihm offenbar sichtliches Vergnügen, den Verschwörungstheoretikern mit seinem soziologischen Scharfsinn und seiner Formulierungskunst Schützenhilfe zu leisten, etwa wenn er wortschöpferisch tätig ist und Formulierungen wie »Gesundheitspropagandaoffensive« erfindet. Auch die Entlarvungslust des Theoretikers kann sich bei diesem Thema staatskritisch (oder gar staatszersetzend?) austoben. Dieser theoretische Spaziergang wird um so lustvoller erlebt, je mehr er nicht im Elfenbeinturm eines soziologischen Oberseminars, sondern sozusagen inmitten einer hochemotionalen gesellschaftlichen Auseinandersetzung stattfindet. Die emotionale Resonanz, die der Theoretiker erfährt, indem er sich einer populistischen Bewegung andient, erlebt er anscheinend so intensiv, dass er sie sogar als »gesundheitsförderlich« einstuft. Für Karl Popper, der den modernen Begriff der Verschwörungstheorie geprägt hat, »ist der Konspirationismus ein Produkt der europäischen Aufklärung, ein typisches Ergebnis der Verweltlichung religiösen Aberglaubens« (Popper, 2003 [1945], S. 112). Es ist also nicht überraschend, 111

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

dass durchaus auch vermeintlich aufklärerisch orientierte und in komplexen Theorien denkende Personen ein Faible für Verschwörungstheorien entwickeln können. Verschwörungstheorien sind ja häufig sehr komplexe, verschachtelte und pseudowissenschaftliche aufgeblasene Konstrukte, die mit ihrer Komplexität und Lückenlosigkeit imponieren.

Intellektuelle Gewährsmänner des Misstrauens: Agamben und Foucault Am 26. Februar 2020, als die Zahl der Infizierten in Italien auf 470 stieg (Cristi, 2020), veröffentlichte der renommierte italienische Philosoph Giorgio Agamben (2020) eine Kolumne mit der Überschrift »Die Erfindung einer Epidemie«. Agamben prangerte »den hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notstand als Reaktion auf eine angebliche CoronaVirus-Epidemie« an. Er warf den Behörden vor, ein Klima des Terrors zu verbreiten und einen Ausnahmezustand zu provozieren. Nach Agamben führt die staatlich erfundene Pandemie zu einer »Militarisierung« der Zivilgesellschaft. Der Staat nutze die grippeähnliche Epidemie als »idealen Vorwand«, um den Ausnahmezustand zum Normalfall zu machen. Der Staat erzeuge eine kollektive Panik, die die Menschen dazu zwingen solle, den Staat auf der Suche nach Schutz zu umarmen. Die größte Gefahr sei nicht das Virus selbst, sondern die Tatsache, dass die politische Klasse diese Situation ausnutzte, um verstärkte Sicherheitsmaßnahmen einzuführen und neue Machttechnologien zu erproben. Dies führe bald zur »Erfindung eines neuen Machtparadigmas«, dem Agamben den bedeutungsschwangeren Namen »pandemische Herrschaft« verleiht. Agambens Auslassungen fanden internationale Resonanz und lösten eine kontroverse Diskussion aus. Seine Thesen wurden zur Blaupause für Corona-Leugnungen, Verschwörungserzählungen und die vehemente Ablehnung aller Corona-Maßnahmen auch in Deutschland. Bei manchen kritischen Stimmen – sowohl von rechts als auch von links – konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Einschränkungen der Grundrechte, die mit den Schutzmaßnahmen zweifellos einhergingen, als willkommener Anlass aufgegriffen wurden, um einen schon lange aufgestauten Groll in einen heiligen Zorn zu verwandeln. Die moralische Empörung über die als Anmaßung empfundenen staatlichen Maßnahmen, die mit der Pflicht zum Maskentragen und zu Kontaktbeschränkungen bis in den privaten Bereich 112

Intellektuelle Gewährsmänner des Misstrauens: Agamben und Foucault

hinein wirkten, knüpfte an populistische Ressentiments an, die ohnehin die öffentlichen Debatten vergiften. Äußerungen wie die von Georgio Agamben wurden auch noch zwei Jahre nach Beginn der Pandemie von einigen Philosoph*innen – wenn auch in weniger radikaler Form – neu aufgewärmt. Solche Rechtfertigungen eines paranoid gefärbten Misstrauens werden von rechtspopulistischen Gruppierungen begrüßt, ja ihr als gerecht empfundener Zorn erhält dadurch einen intellektuellen Glorienschein. Einen ähnlichen Prozess beschreibt der Historiker Uffa Jensen (2017, S. 123) im Hinblick auf die philosophische Rechtfertigung des Zorns als legitimes Mittel der Politik durch Peter Sloterdijk (2016), das von den Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten dankbar aufgegriffen worden sei. Insbesondere die linke Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen beruft sich gerne auf bestimmte Elemente in Foucaults Machttheorie, die er in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Foucault, 1977) ausgeführt hat. Foucault konzipiert Macht als ein alle gesellschaftlichen und psychischen Phänomene durchdringendes und umspannendes Netzwerk. Jeder noch so kleine Teilbereich ist von Machtprozessen durchdrungen. »Innerhalb der Gesellschaft existiert kein machtfreier Raum. Macht ist somit allgegenwärtig, ubiquitär, omnipräsent« (Kneer, 2016 [2012], S. 262). Gerade die Disziplinen, Institutionen und Dienste, die mit dem Anspruch auftreten, den Menschen zu helfen oder sie gar zu befreien und zu emanzipieren, also beispielsweise Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse, Medizin, Sozialarbeit, Kriminologie und Justiz, stellten besonders perfide Technologien der Unterwerfung und Disziplinierung dar. »Diese düstere Vision einer total verwalteten Gesellschaft«, so der Historiker Philipp Sarasin (2020), entwickelte Foucault u. a. am Beispiel der Pest. Aus Angst vor der Pest entwarfen die Behörden des 18. Jahrhunderts das Konzept einer rigorosen Disziplinierung, »die nicht zuletzt der Einübung einer strengen Arbeitsdisziplin und damit dem ›Produktivmachen‹ ihrer Körper diente« (ebd.). »Die frühneuzeitlichen Pest-Reglemente, die er [Foucault, H.-J. W.] zitiert, entwerfen ein System lückenloser Kontrolle aller Grenzen und Übergänge in der Stadt und fordern die strenge Einsperrung der Bürger in ihre Häuser: ›Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung‹« (ebd.).

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3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

Mit Überwachen und Strafen wurde Foucault zu einer »Art Generalreferenz« (Sarasin, 2021) für linke Fundamentalkritik, da er »scharfe Instrumente für die Kritik jener westlichen Gesellschaften [lieferte], die sich, polizeilich aufgerüstet, auf einen Orwellschen ›Big Brother‹-Staat zuzubewegen schienen« (ebd.). In seinem Gefängnis-Buch schreibt Foucault (1977, S. 279) pathetisch: »Wir sind nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten – jeder ein Rädchen.« Wie Sarasin weiter ausführt, kamen Foucault »in der Zwischenzeit Zweifel an seiner doch sehr dunkeln Machttheorie«, und er modifizierte sie mehrfach. »Es erschien ihm zunehmend unplausibel, moderne Gesellschaften nach dem Muster einer großen Disziplinarmaschine zu denken, wie er das in Überwachen und Strafen vorgeschlagen hatte – gerade so, als wären moderne Gesellschaften vollständig überwachte und kontrollierte Pest-Städte« (ebd.). Gleichwohl wird Foucault von verschwörungstheoretisch Orientierten gerade wegen seines düsteren Raunens geschätzt. Sein Konzept von gleichsam unsichtbaren Machtprozessen, die sich unter dem Deckmantel der staatlichen Fürsorge unter der Hand ausbreiten und in alle gesellschaftlichen Verhältnisse eindringen, fügt sich sehr passend ein in die misstrauische bis paranoid gefärbte Skepsis gegenüber jeglicher staatlichen Autorität, wie sie für den Populismus kennzeichnend ist. Foucaults radikalkonstruktivistischer Ansatz hat sich als ein mächtiges Instrument erwiesen, um jegliche Wertorientierungen zu relativieren, sodass seine Theorie auch von der Neuen Rechten missbraucht werden kann, »um ihre ›ethnopluralistische‹ These von der grundsätzlichen Verschiedenheit der ›Kulturen‹ und damit deren wechselseitige Unverträglichkeit zu begründen. Das ist sowohl theoretisch wie politisch das Gegenteil von dem, was Foucault sagte und vertrat, gehört aber zumindest am Rande zur komplexen Geschichte der Rezeption Foucaults« (Sarasin, 2021).

Verschwörungstheoretisch argumentierende Theoretikerinnen und Theoretiker, die sich auf Foucault berufen, zeichnen häufig ein eingängiges, aber monolithisches Bild der sozialen Wirklichkeit, eine kafkaeske Welt, aus der es kein Entrinnen gibt. Gut und Böse sind klar definiert. Die Mächtigen, die Reichen, die Privilegierten, die Eliten, die Wissenschaft, natürlich die Regierung sind die Ursache allen Übels. Auch das Menschenbild, das auf 114

Empirisches zur Verschwörungsmentalität

einer solchen Einschätzung beruht, ist entsprechend ausgerichtet. Man nimmt grundsätzlich an, dass die Menschen, insbesondere diejenigen, die erfolgreich sind oder über Macht, Einfluss und Geld verfügen, insgeheim Böses und Hinterhältiges im Schilde führen. Für diese Weltsicht Foucault zum Kronzeugen zu machen, wird seinem Denken zwar insgesamt nicht gerecht – die skizzierte Verwendung kann sich jedoch auf Foucault selbst berufen, der »sein Werk gelegentlich als einen ›Werkzeugkasten‹ [bezeichnet hat], von dem man mehr oder minder nach eigenem Gutdünken Gebrauch machen könne« (Raffnsøe, Gudmand-Høyer & Thaning, 2011, S. 12).

Empirisches zur Verschwörungsmentalität In den Autoritarismus-Studien zum Rechtextremismus in Deutschland haben Forschungsteams um Oliver Decker und Elmar Brähler (2018) gezeigt, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem in der frühen Kindheit entwickelten Misstrauen und den im Erwachsenenleben auftretenden Ressentiments, Verschwörungsfantasien, misstrauischen und populistischen Einstellungen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass rechtsextreme und populistische Einstellungen hauptsächlich durch die Merkmale Autoritarismus, Verschwörungsmentalität, das Gefühl mangelnder Anerkennung als Bürgerin oder Bürger, verweigerte Anerkennung als Kind durch die Eltern und einer misstrauischen Grundhaltung charakterisiert sind (Decker, Yendell & Brähler, 2018, S. 173). Allerdings halten sie ausdrücklich fest, dass Verschwörungsdenken auch im linken Spektrum beheimatet ist (Imhoff & Decker, 2013, S. 147). Populistische Einstellungen sind demnach mit einer misstrauischen Grundhaltung zur Welt assoziiert, die sich tendenziell bereits während der Kindheit abgezeichnet hat. Eine im Dezember  2020 publizierte Studie des Soziologen Oliver Nachtwey und seines Teams mit dem Titel »Politische Soziologie der Corona-Proteste« (Nachtwey, Schäfer & Frei, 2020) zeigt, dass es sich bei der Bewegung der Querdenkerinnen und Querdenker sowie der Corona-Kritiker*innen »nicht um eine, sondern um mehrere, häufig disparate soziale Gruppen« (ebd., S. 51), handelt. Die Befragungen wurden im Herbst 2020 bei Demonstrationen und Kundgebungen in der Schweiz und in Deutschland durchgeführt, also zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Querdenken-Bewegung. Besonders bemerkenswert ist, dass »es sich nicht um eine 115

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

genuin autoritäre Bewegung [handelt], wie es etwa bei PEGIDA der Fall war« (ebd., S. 52). Auch von den rechtsextremistischen Gruppierungen und den Anhängern der AfD scheinen sich die Querdenkerinnen und Querdenker in verschiedenerlei Hinsicht zu unterscheiden, auch wenn es bei Demonstrationen zu Bündnissen kommt, die Differenzen für außenstehende Beobachter*innen oft nicht erkennbar sind, und die AfD versucht, diese Bewegung für sich zu instrumentalisieren. Die Statements, mit denen eine antisemitische Einstellung gemessen wird, »werden in einem geringeren Masse abgelehnt als in der Leipziger Autoritarismus-Studie […]. Es wird ihnen jedoch auch nicht stark zugestimmt« (ebd., S. 52). Die Autorinnen und Autoren der Studie weisen aber ausdrücklich auf den Umstand hin, dass bei diesem Item auffällig viele der Befragten auf die Antwortkategorie »keine Angabe« ausgewichen sind (ebd.). Dies könnte darauf hindeuten, dass die Ressentiments latent vorhanden sind, auch wenn sie nicht offen geäußert werden. »Sozialstrukturell handelt es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter der Umfrageteilnehmer*innen beträgt 47 Jahre, 31 % haben Abitur, 34 % einen Studienabschluss« (ebd., S. 51). Bei ihren Parteipräferenzen tendieren die Befragten deutlich nach links. Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass etwa ein Drittel der Befragten angab, bei der nächsten Bundestagswahl der AfD ihre Stimme zu geben (ebd.). Offenbar sind sie – durch die Corona-Krise ausgelöst – im Begriff, sich verschwörungsideologisch zu radikalisieren, eine Tendenz, die sich inzwischen verfestigt haben dürfte. Kennzeichnend für die Personen, die an den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen teilnehmen, ist »eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems« (ebd., S. 52) – von den Medien über die Regierung, die Europäische Union bis hin zur Wissenschaft. All diesen Institutionen bringen sie großes Misstrauen entgegen. Umgekehrt sehen sich die Kritikerinnen und Kritiker »in ihrer Abweichung vom Mainstream verkannt und geächtet; gleichzeitig werten sie sich und ihre Expertise im Vergleich zum Mainstream auf« (ebd., S. 65). Eine extrem hohe Übereinstimmung zeigt sich bei den Befragten bei Items, die sich mit den Themen Spiritualität, Anthroposophie, Naturheilkunde und Esoterik beschäftigen. Nahezu 90 Prozent stimmen der Aussage »Unsere Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen« (ebd., S. 33f.), teilweise oder voll und ganz zu. Ähnlich hohe Zustimmungswerte findet die Aussage »Mehr spirituelles und ganzheitli116

Empirisches zur Verschwörungsmentalität

ches Denken würde der Gesellschaft guttun« (ebd.). Die gleiche extrem hohe Zustimmung finden die beiden folgenden Statements: »Alternativmedizin sollte mit Schulmedizin gleichgestellt werden« und »Die Krise zeigt auch, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben« (ebd.). Diese Statements formulieren eine Form der »alternativen« und »grünen« Gesellschaftskritik, die bereits in den 1970er Jahren entstanden ist und ein zentrales Anliegen der grünen Bewegung war, im Zusammenhang mit der Querdenken-Bewegung jedoch eine esoterische, wissenschaftsfeindliche und rationalitätsfeindliche Ausprägung bekommen hat. Die Corona-Pandemie hat eine neuartige Bedrohungslage geschaffen, in der verschiedene gesellschaftlichen Gruppierungen und politische Parteien einige Zeit benötigten, um sich auf die unbekannte Situation einzustellen und eine politische Haltung dazu zu entwickeln, die mit den eigenen Wertorientierungen übereinstimmt. Die AfD verhedderte sich in der neuen Bedrohungslage, weil sie ihre politischen Haltungen nicht aus einer Analyse der tatsächlichen Gefahren entwickelte, sondern sich primär daran orientierte, in Opposition zu den etablierten Parteien und den Expertenmeinungen zu stehen. In der Anfangsphase der Pandemie dramatisierte sie die Gefahren und forderte von der Regierung, drastischere Maßnahmen zu ergreifen. Als sie bemerkte, dass der gesellschaftliche Trend mehrheitlich dahin ging, die Pandemie sehr ernstzunehmen, änderte sie ihre Position und tat sich fortan mit einer radikalen Kritik der einschränkenden Maßnahmen hervor. Mit ihrem hektischen, immer die Konfrontation suchenden und Misstrauen schürenden Politikstil erwies sich die AfD in der Corona-Krise als nicht krisentauglich. Sie sackte deshalb insbesondere in der ersten Phase der Pandemie in der Wählergunst deutlich ab, während die CDU deutlich gewinnen konnte. Nach einiger Zeit erkannte die AfD dann in den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen ihre Chance und sprang zusammen mit ihrem rechtsextremen Umfeld auf diesen Zug auf und versuchte sich an seine Spitze zu setzen. Gleichzeitig katapultierte sich eine kulturelle und gesellschaftliche Strömung, die bislang in politischen Debatten nicht in Erscheinung getreten war, durch die Corona-Krise in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Gemeint sind die Anti-Corona-Demonstrationen, die maßgeblich von Personen getragen werden, die esoterisch, spirituell, anthroposophisch und naturheilkundlich orientiert sind. Teile der alternativen Szene und versprengte Linke sind auch beteiligt. All diese Gruppierungen 117

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

fanden in den Corona-Maßnahmen ein Thema und einen Kristallisationspunkt. Auch wenn diese Milieus schon länger existieren, haben sie sich erst in der Corona-Krise in öffentlich wahrnehmbarer Form artikuliert, als Bewegung konstituiert und mit den Rechtsextremen und den Wutbürgern, die eine dritte Gruppierung bilden, zusammengeschlossen  – zumindest was die Demonstrationen anbelangt. In ihrer Frontstellung gegen den Staat und seine Institutionen, ihrem antiautoritären Gestus und ihrer radikalen Ablehnung aller Corona-Maßnahmen sind sie sich einig. Ich möchte dazu folgende sozialpsychologische These formulieren: Die esoterische, spirituelle, anthroposophische und links-alternative Corona-Leugnung repräsentiert den abgespaltenen irrationalen Anteil der links-grün-alternativen Bewegung. Als die »Fundis« noch eine Fraktion innerhalb der Grünen bildeten, war dieses irrationale, teils esoterische, teils verschwörungsmythische Denken noch in der grünen Partei gebunden. Es wurde dort mehr oder weniger gut integriert, verursachte allerdings enorme Spannungen und kuriose Auseinandersetzungen (Decker, 2020). Seitdem sich die »Realos« durchgesetzt haben und die Grünen sogar für die CDU koalitionstauglich geworden sind, haben die esoterischen, verfolgungsmythischen und »fundamentalistischen« Alternativen keine politische Heimat mehr. Diese Spektren finden in den Anti-Corona-Protesten eine Möglichkeit, sich wieder zu sammeln und auf der politischen Bühne öffentliche Resonanz zu erzeugen. Nicht nur unterliegen gesellschaftliche Ängste einem historischen Wandel, sondern auch die Bewertung der Angst – ob sie ein hilfreiches Signal oder »immer ein schlechter Ratgeber« sei, was man während der Corona-Pandemie häufig hören konnte  – ändert sich im Verlauf gesellschaftlicher Prozesse und erlaubt Rückschlüsse auf den sozialpsychologischen Charakter politischer Akteure. Der Historiker Frank Biess erzählt in seinem Buch Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik (2019) die Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte kollektiver Ängste, die die politischen Debatten und das Selbstverständnis der Westdeutschen und mittelbar auch der Ostdeutschen geprägt haben. Er arbeitet heraus, dass der öffentliche Ausdruck von Emotionen, insbesondere von Angst, ein Charakteristikum der sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren, insbesondere der Friedensbewegung der 1980er Jahre, war. Konservative und rechtsgerichtete Gruppierungen inszenierten sich hingegen als nüchtern und angstfrei. Ihr politisches Auftreten war eher von Angstverleugnung und Angstunter118

Empirisches zur Verschwörungsmentalität

drückung gekennzeichnet. »Die Denunziation der Angst ist nach wie vor insbesondere in der politischen Rechten zu Hause« (Biess, 2020, S. 35), konstatiert der Autor grundsätzlich auch hinsichtlich der Corona-Pandemie. Die Verleumdung der Angst als irrational und unmännlich geht in der Regel einher mit einem heroischen Ideal der Nüchternheit, des Mutes und der Kaltschnäuzigkeit. Einer ähnlichen Fragestellung wie Biess geht der Psychotherapeut und Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer in seinem Buch Angst und Politik. Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen (2022) nach. In seinem sehr persönlichen Rückblick auf die eigene politische Biografie untersucht er, welche Rolle verschiedene Ängste bei den politischen Bewegungen und sozialtherapeutischen Projekten, in die er während seines beruflichen und politischen Lebens involviert war, gespielt haben. Herausgekommen ist dabei eine lebendige und erfahrungsgesättigte sozialpsychologische Betrachtung der psychosozial bedeutsamen Ereignisse der letzten vier Jahrzehnte. In gewisser Weise verfolgt Ottomeyer die gleichen Fragestellungen, die für dieses Buch erkenntnisleitend sind, nämlich den Zusammenhang zwischen der eigenen beruflichen und politischen Entwicklung und ihrem Verwobensein mit den prägenden gesellschaftlichen Ereignissen und Prozessen, zu verstehen. Während der Pandemie ist das historisch neue Phänomen aufgetaucht, dass links-alternative Gruppierungen die Angstgefühle in der Bevölkerung nicht als spontanes Gefühl und als politisches Argument ernst nehmen, wie das in der Nachrüstungsdebatte oder bei Tschernobyl noch der Fall war – sondern als übertriebene Panik abtun. Sie werten im Unterschied zur Angstverleugnung im rechten Milieu die vorhandene ängstliche Besorgnis zwar nicht als unmännlich ab, stellen sie aber als völlig unbegründet dar und führen sie ausschließlich auf eine gezielte manipulative Panikmache der Regierung zurück. Der Bevölkerung wird also nicht zugetraut, dass sie eine eigenständige kognitive und emotionale Einschätzung der Gesundheitslage vornimmt, sondern wird als komplett manipuliert angesehen. Ähnlich wie bei dem verwandten Phänomen der Opfer-Konkurrenz spielt hier eine Konkurrenz der Ängste eine Rolle. Welche Ängste sind realer, welche sind bedrohlicher, wer ist am meisten in Gefahr? Welche Angst ist dringlicher, die vor der Kontrolle und Freiheitseinschränkung durch den Staat oder die vor dem Virus? Entscheidend wäre, eine politische Diskussionskultur zu entwickeln, in der alle Ängste ernst genommen werden können und man zu einer abwägenden Einschätzung kommt, welche Ängste wie zu bewer119

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ten, zu relativieren, politisch ernst zu nehmen sind und welche politischen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden sollten. Bei der Pandemie handelt es sich um eine existenzielle gesundheitliche Bedrohung, die eigentlich alle Berufsgruppen, die für gesundheitliche Gefahren sensibel sind, aktivieren müsste. Das galt beispielsweise für die Friedensbewegung, in der sich die »Internationalen Ärzt*innen zur Verhütung des Atomkrieges – Ärzt*innen in sozialer Verantwortung« (IPPNW) an vorderer Front engagieren. Die Corona-Pandemie aktiviert zwar auch viele Angehörige der Gesundheitsberufe, aber es scheint sich um spezifische Untergruppen zu handeln: ältere männliche Mediziner, die nicht mehr oder nur noch partiell im Beruf stehen, Naturheilmedizinerinnen und -mediziner, Heilpraktiker*innen, PflegerInnen, anthroposophisch orientierte Medizinerinnen und Mediziner sowie Pädagog*innen oder Mitglieder psychotherapeutischer Institute in den neuen Bundesländern. Paradoxerweise findet bei diesen Gruppen eine Aktivierung in die entgegengesetzte Richtung statt: Statt die eigene Angst sensibel wahrzunehmen und sich für den Schutz des Lebens einzusetzen, plädieren sie für einen sorglosen Umgang mit den Gefahren der Pandemie und entwickeln stattdessen starke Ängste im Hinblick auf die staatlichen Schutzmaßnahmen. Sie sind so stark von ihrem anti-institutionellen und antiautoritären Affekt gesteuert, dass sie nur gegen alles opponieren können, was die Regierung unternimmt. Dass hier ein innerer psychologischer Widerspruch vorliegt, zeigt sich auch daran, dass die Corona-Kritik aus dem »alternativen« Lager plötzlich die gleichen Positionen vertritt, wie sie von autoritären und manipulativen Politikern wie Boris Johnson, Jair Messias Bolsonaro und Donald Trump und auch von der AfD vertreten wird, deren Politik von den »Alternativen« ansonsten mehrheitlich abgelehnt wird. Diese unerwartete Reaktion könnte damit zusammenhängen, dass einige Gruppierungen sich schon seit längerer Zeit im Gesundheitswesen benachteiligt, entwertet und in ihrem besonderen »alternativen« Beitrag verkannt fühlen. Das Beispiel der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, die auffallend häufig in der Querdenken-Bewegung aktiv sind, mag das illustrieren. Heilpraktiker*innen verstehen sich und ihr Handeln als Alternative und Gegensatz zur Schulmedizin. Man beruft sich auf die Methoden der Naturheilkunde, der Volksheilkunde und der Alternativmedizin. Eingesetzt werden ausschließlich alternative Heilkundeverfahren. Dabei orientiert man sich an den Idealen der Ganzheitlichkeit und der spirituellen Erfüllung. 120

Empirisches zur Verschwörungsmentalität

Zwar glauben größere Kreise der Bevölkerung an die Wirksamkeit der Naturheilkunde und nehmen ihre Dienste gerne in Anspruch, gleichwohl aber leiden viele Personen, die sie ausüben, unter dem Gefühl, dass ihnen die wirkliche gesellschaftliche Anerkennung verwehrt bleibt. Im öffentlichen Gesundheitswesen nimmt die Naturheilkunde nur eine prekäre Außenseiterposition ein. Aus dieser Randposition hat sich ein Gefühl der Enttäuschung, der Benachteiligung, der Verbitterung und der narzisstischen Kränkung entwickelt, das in den Corona-Protesten ein passendes Ventil gefunden hat. Um die Gefühlslage, die Stimmung und die Weltsicht der QuerdenkenBewegung noch besser zu verstehen, möchte ich im Folgenden eine Auswahl von Fotos betrachten, die bei verschiedenen Corona-Protesten gemacht wurden, und dazu auch aus den teilnehmenden Beobachtungen von Nachtwey, Schäfer und Frei berichten, um so einen Beitrag zu einer »dichten Beschreibung« (Geertz, 1983) der Querdenken-Szene zu leisten.

Abbildung 2: Anti-Corona-Demonstration am 1. August 2020 in Berlin (© laif/Lutz Jäkel)

Das erste Foto zeigt eine Anti-Corona-Veranstaltung am 1. August 2020 in Berlin. Wir sehen musizierende, tanzende und singende Demonstranten, die sich offenbar in einer ausgelassenen, fast könnte man sagen ekstatischen 121

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Stimmung befinden. Die Szene löst Assoziationen an ein Volksfest, an ein alternatives Hippie-Festival oder auch an den mittelalterlichen Karneval aus. Wie der sowjetische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin in seiner Studie über die mittelalterliche Lachkultur herausgearbeitet hat, hatte der mittelalterliche Karneval eine doppelte Funktion: Zum einen sollten die bösen Geister der Natur, insbesondere der Winter, vertrieben werden, zum anderen aber ging es darum, der Lach- und Lustfeindlichkeit des Christentums und der weltlichen Herrschaft eine zeitlich befristete Freiheit abzutrotzen: »Der mittelalterliche Mensch empfand im Lachen besonders scharf den Sieg über die Furcht […] vor allem Geheiligten und Verbotenen […], vor der Macht Gottes und vor der Macht der Menschen, vor den autoritären Geboten und Verboten, vor Tod und Vergeltung im Jenseits, vor der Hölle« (Bachtin, 1985, S. 35).

Mit ihrer Form der »modernen Geisterbeschwörung« (Amlinger  & Nachtwey, 2021, S.  N3) können die Querdenker*innen zwar nicht das Virus selbst vertreiben, wohl aber ihre untergründige Angst vor der Pandemie besänftigen, vor allem aber ihre Angst umlenken und – psychoanalytisch formuliert – »verschieben« auf die Angst vor den bösen und unheimlichen Mächten in Politik, Medien und Wissenschaft, von denen sie sich bevormundet, manipuliert und unterdrückt fühlen. Mit ihrem Protestzug inszenieren sie einen »Tanz auf dem Vulkan«, ein groteskes Gelächter, das die Herrschenden verunsichern und der Lächerlichkeit preisgeben soll. Die psychologische Gefühlslage der Corona-Proteste kann durch die Losung charakterisiert werden: »Wir lassen uns unser Lebensgefühl und unseren Lebensstil nicht von den Herrschenden vorschreiben.« Oder um es mit einem Slogan aus dem subkulturellen Teil der 68er-Bewegung zu sagen: »Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.« Eine solche Einstellung kann mit Erik Erikson (1966 [1959], S. 29) als »Identifikation mit der negativen Identität« bezeichnet werden. Sie ist bei allen Gruppierungen zu beobachten, die sich von der dominierenden gesellschaftlichen oder kulturellen Moral entfernen und sich dafür von der Mehrheit ausgegrenzt und verachtet fühlen. In einer Art von Notwehr identifizieren sie sich mit der »negativen Identität«, die die Mehrheit ihnen zuschreibt. Es ist ein trotziges Verharren in der Gegenidentifikation zum sozial Erwünschten. Diese Form der psychosozialen Abwehr trägt 122

Empirisches zur Verschwörungsmentalität

ihnen jedoch das Problem ein, dass sie in der ihnen teils aufgenötigten, teils freiwillig angenommenen Identität gefangen bleiben und deren Begrenzungen nicht überwinden können. Die Beobachtungen und Interpretationen von Gudrun Brockhaus (2022) gehen in die gleiche Richtung. Wie sie ausführt, ist es ein Kennzeichen der Querdenken-Bewegung, »eine Lizenz zur Lockerung und zum Aussetzen von Über-Ich-Kontrollen [zu erteilen], eine Erlaubnis zu Regression und Entsublimierung«. Die emotionalen Prozesse, die bei den Anti-Corona-Demonstrationen und »Spaziergängen« evoziert werden, »die Lust an der Grenzüberschreitung und die Euphorisierung durch die Erfahrung einer Selbstermächtigung« wirken auch auf die Forscherinnen und Forscher als eine Einladung zur identifikatorischen Teilhabe oder rufen im Gegenteil Reaktionen der Abwehr hervor. »Auf Videos von Corona Spaziergängen kann man ein Gefühl für die Attraktion der Lust am Hass bekommen. Dort sieht man, wie erregte Frauen und Männer – ganz bürgerlichen Aussehens – gewalttätig gegen Polizisten oder Journalisten vorgehen, und kann ihr rauschhaftes Hochgefühl miterleben. Die Hasspolitiker konfrontieren uns mit der Faszinationskraft dieses Gefühls, die auch auf uns wirkt. Aber wir können nicht wie sie die Gewalt als gerechtfertigte Notwehr legitimieren. Gefühle von Neid, dass sie sich die Befriedigung dieser regressiven Bedürfnisse zugestehen, scheinen inakzeptabel. Sie werden abgewehrt und in Verachtung und Abscheu übersetzt« (ebd., S. 623).

Solche und ähnliche Prozesse sind Phänomene, die sich in der Regel bei allen Formen sozialpsychologischer »Aktionsforschung« und »teilnehmender Beobachtung« einstellen, insbesondere wenn es sich um politisch hoch brisante und emotional aufgeladene Themen und Konfliktfelder handelt, wie das bei sozialen Protestbewegungen der Fall ist. Mir ist dieses Phänomen begegnet im Rahmen eines Forschungsprojekts über jugendliche Hausbesetzer und Punks (Reimitz, Thiel & Wirth, 1983). Frappierend ist, wie sich die Faszination an der direkten gewaltsamen Auseinandersetzung mit der Polizei gleichen, auch wenn die Motive, die politische Stoßrichtung und die Wertorientierungen ganz unterschiedliche sind. Auch wir sahen damals die Notwendigkeit, sowohl »Idealisierungen« des Protests als auch dessen »Verdammung« (ebd., S. 12) zu entgehen, um zu einem tieferen Verständnis der Protestmotive zu gelangen. 123

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

Abbildung 3: Demonstrant mit Pestmaske und modifiziertem »Judenstern« (© reuters/Axel Schmidt)

Das zweite Foto zeigt einen Demonstranten, der sich mit einer mittelalterlichen Schnabelmaske, einer sogenannten »Pestmaske«, verkleidet hat. Am Revers trägt er einen »Judenstern« auf dem steht: »jesund«. Es ist eine groteske Kombination unterschiedlichster Versatzstücke, die bei mir verschiedenste Assoziationen und unangenehme Gefühle auslösen. Die Gesamterscheinung vermittelt ein Gefühl der Unheimlichkeit. Die Pest als Geisel der Menschheit wird verknüpft mit den Gasmasken aus dem Ersten Weltkrieg und dem Holocaust. Das Wort »Jude« wird in banalisierender Weise verfremdet zum Wort »jesund«, was das Wort »Jesu« enthält und im Berliner Dialekt das Wort »gesund«. Es ist ein Spiel mit absurden Assoziationen, ein Kalauern, ein Blödeln – also ein psychischer Vorgang, den der Schriftsteller Dieter Wellershoff (1976) als »gewollten Niveauverlust« gekennzeichnet hat. Wellershoff fasst das Blödeln als ein »Kommunikations-Spiel« auf, das auf eine »fortschreitende Chaotisierung der Realität drängt und sich dabei jeder Kontrolle durch verinnerlichte Normen der Vernunft oder des Geschmackes zu entziehen versucht« (ebd., S. 338). Angesichts der behandelten Themen bleibt einem das Lachen, das solche regressiven »Blödeleien« normalerweise auslösen, jedoch im Halse stecken. 124

Empirisches zur Verschwörungsmentalität

Was will der Protagonist der Welt sagen, was will er ausdrücken? Ich fühle mich abgestoßen und schockiert. Ich vermute, dies ist das Ziel der Maskerade. Wer zuschaut, soll schockiert werden. Das Motto könnte lauten: »Nicht ich fürchte mich vor dem lächerlichen Virus, sondern ihr sollt euch vor mir, vor meiner Erscheinung und vor dem Bösen fürchten, mit dem ich euch konfrontiere.« Das Böse, das Unheimliche, das Existenzvernichtende an sich tritt unter dieser Maske auf die Bühne. Der psychosoziale Abwehrmechanismus ist die Verkehrung der passiv erlittenen Angst in die aktive Ängstigung des Anderen. Wollte man einen kreativen Anteil in diesem Mummenschanz sehen, könnte man sagen, dass hier jemand spielerisch die Rolle des Bösen, der existenziellen Bedrohung einnimmt, um den gesellschaftlich Mächtigen einen Spiegel vorzuhalten nach dem Motto: »Solche existenziellen Ängste jagt ihr uns ständig ein mit eurer technisch-wissenschaftlichen Beherrschung der Welt, euren Kriegsspielen und eurer Zerstörung unserer Freiheitsrechte. Diesen lächerlichen Grippevirus nehmt ihr doch nur zum Vorwand, um uns eurer ›pandemischen Herrschaft‹ – von der Georgio Agamben spricht  – zu unterwerfen.« Der entscheidende Unterschied zwischen dem jugendlichen Blödeln und dem zynischen Spiel hasserfüllter Verschwörungstheoretiker besteht darin, dass die Jugendlichen im Bewusstsein handeln, das ihr Blödeln ein harmloses und zweckfreies Spiel ist, während sich im Netz das zynische Spiel mit Fake News und Hass-Botschaften in bitterbösen Ernst verwandelt, der gezielt und instrumentell eingesetzt wird, um andere zu demütigen und zu verletzen. Das dritte Foto zeigt eine Frau mittleren Alters, die sich in deutschen Nationalfarben als Engel mit riesigen weißen Flügeln verkleidet hat. Auf den Flügeln sind Zettel befestigt, auf denen links »Kinderschutzengel« und rechts »Schützt die Kinder« steht. Man kann vermuten, dass sie sich als dieser Schutzengel für die Kinder versteht. Auf dem Kopf hat sie eine Art Krone mit der Aufschrift »Lügenpresse«. Außerdem hält sie zwei Schilder in die Luft, auf denen es vor allem um das Thema Pädophilie geht. Präsentiert wird eine obskure Mischung aus moralisch verwerflichen Handlungen, die tatsächlich stattgefunden haben, Halbwahrheiten und frei erfundenen Unwahrheiten. Das Ganze bildet ein kaum zu entwirrendes Gesamtkunstwerk. Die Protagonistin scheint die Aufmerksamkeit, die ihr der bzw. die Fotografierende schenkt, zu genießen. Unklar bleibt, was die angesprochenen Themen mit der Corona-Thematik zu tun haben. Die Corona-Krise, und speziell eine solche Kundgebung, »scheint eine 125

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

Abbildung 4: Querdenkerin im Engelskostüm (Querdenken-Demonstration in Karlsruhe am 6. Februar 2021) (© IMAGO/Nikolaj Zownir)

gute Möglichkeit zu sein, einmal zu sagen, dass man eigentlich gegen alles ist – gegen die Reichen und Mächtigen, gegen die Wissenschaft, die Schulmedizin, die Justiz und Polizei« (Nachtwey, Schäfer & Frei, 2020, S. 60), aber auch gegen »die Antifa« und gegen Pädophilie. Wie Nachtwey, Schäfer und Frei feststellen, schweift die Kritik »deshalb auch oft ab, schnell ist man bei 9/11 und zieht Parallelen zum Nationalsozialismus. Wichtiger als die Darstellung der Kritik ist die Selbstdarstellung als Kritiker:in. Hier findet sich das genuin romantische Motiv der mutigen, heldenhaft-standfesten Widerstandskämpfer:innen, die bereit sind, Opfer zu bringen« (ebd.).

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Psychodynamik der Impfskepsis

Die Selbstinszenierung als Opfer ist ein zentraler psychosozialer Abwehrmechanismus, der eine komplexe Funktion hat. Er bietet die Chance, sich selbst in einem »ehrenvollen Akt der Selbstaufopferung« (ebd., S. 57) zu inszenieren und sich in diesem Zuge von der profanen Restgesellschaft der angepassten »Schlafschafe« als etwas Besonderes abzuheben. Zugleich ist es ein Vorwurf an die Gegenseite, die einen zum Opfer gemacht hat. Die Spaltung in nur gute und nur böse Objekte wird unterstützt. Noch komfortabler wird die Rolle des Opfers, wenn man sich zur Rolle des Schutzengels für jedwede Opfer von Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit emporschwingen kann, wie es die Querdenkerin im Engelskostüm offenbar versucht. Während die Politik versucht, Schutzregeln durchzusetzen, sieht sie sich als Schutzengel, der über solch profanen Dingen wie Mund-Nasen-Schutz schwebt. So wie viele Gläubige religiöser Sekten die Corona-Schutzregeln der Regierungen missachten, lassen sich auch die Querdenken-Bewegung und ihr Umfeld von einem ad hoc neu erfundenen synkretistischen Aberglauben verführen, der darin besteht, die Gefahr des Corona-Virus zu leugnen und stattdessen die Idee von einer Weltverschwörung zu konstruieren.

Psychodynamik der Impfskepsis Querdenker*innen und Verschwörungsgläubige haben eine misstrauische bis paranoide Weltsicht. Sie stellen zwar nur eine sehr kleine Minderheit dar, beeinflussen den öffentlichen Diskurs aber in erheblichem Maße, indem sie ein Klima des Misstrauens und eine grundsätzlich staatsfeindliche Stimmung befördern. Misstrauisch-paranoide Stimmungen sind enorm ansteckend (Heiland, 2020) und können sich massenpsychologisch schnell ausbreiten. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die oft abstrusen Auffassungen der Querdenker und Querdenkerinnen in vollem Umfang geteilt werden. Wohl aber finden einzelne, von Misstrauen und Ressentiment geprägte Elemente von Verschwörungsvorstellungen auch in weiteren Kreisen Zustimmung. Dies betrifft insbesondere die ablehnende und misstrauische Einstellung in Bezug auf das Impfen. Mit Blick auf die Impfskepsis manifestieren sich kollektiv geteilte Gefühle des Misstrauens und einer Skepsis gegenüber Wissenschaft und Rationalität. Betrachten wir dazu das Beispiel des Fußballers Joshua Kimmich, der sich einer Impfung verweigerte, obwohl er deshalb bei wichtigen Spielen 127

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

nicht aufgestellt wurde. In einem TV-Interview erklärte der Fußballstar, dass es »sehr gut möglich« sei, dass er sich in Zukunft impfen lasse, er aber »persönlich noch ein paar Bedenken« habe, »gerade, was fehlende Langzeitstudien angeht«. Der 26-jährige Bayern-Profi distanzierte sich in dem Interview von der Bewegung der »Corona-Leugner oder Impfgegner«, äußerte aber auch Verständnis für eine impfskeptische Haltung, da es eben auch Menschen gebe, die aus verschiedenen Gründen Bedenken hätten, »auch das sollte man respektieren, vor allem, so lange man sich an die Maßnahmen hält«. Er finde es schade, dass es in der öffentlichen Diskussion »nur noch geimpft oder nicht geimpft« gebe (siehe dazu Tagesschau, 2021). Joshua Kimmichs Haltung ist durchaus legitim. Seine Impfskepsis ist zudem nicht kategorisch, sondern hat einen abwägenden Charakter. Das Spektakel, das der serbische Tennis-Star Novak Djokovic (und seine Familie) um seine Impfverweigerung veranstaltete, ist ungleich problematischer. Gleichwohl lässt sich am Beispiel von Kimmich zeigen, dass die allgemeine Verbreitung von impfskeptischen Stimmungen auch den Einzelnen anfällig macht und in einen Sog hineinziehen kann. Die Impfskepsis tritt auch bei einigen Spitzensportler*innen auf, die ansonsten auf medizinischen Rat hören. Warum lassen sich manche von ihnen nicht impfen? Sportlerinnen und Sportler verkörpern den Traum der Unverletzlichkeit, letztlich der Unsterblichkeit. Das wird sogar so formuliert, etwa wenn man davon spricht, dass diese sich durch einen herausragenden Sieg »unsterblich gemacht« hätten. Manche pflegen entsprechend die irrationale Grandiositätsfantasie, ihre körperliche Fitness schütze sie vor Krankheit, Infektionen und Hinfälligkeit. Erlaubte oder ggf. auch nichterlaubte Mittel zur Leistungssteigerung einzunehmen, untermauert bei manchen Spitzensportlern die Illusion von Unverletzlichkeit und Stärke, da dies die weitere Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit unterstützt. Impfbedürftig zu sein, setzt hingegen voraus, sich als vulnerabel zu betrachten. Die Erwähnung der »vulnerablen Gruppen«, der Alten, der Kranken und der Pflegebedürftigen mag auf Spitzensportler*innen abschreckend wirken. Ihr grandioses Selbstbild mag ihnen sagen, dass sie mit diesen Gruppen absolut nichts gemein und deshalb auch keine Impfung nötig haben. Insbesondere in der ersten Phase der Pandemie wurde sogar von verschiedenen Regierungen die Strategie der Bagatellisierung und Verharmlosung offensiv vertreten. Sozialpsychologisch ist die Verleugnung von Gesundheitsgefahren vor dem Hintergrund eines männlichen Stärke- und 128

Psychodynamik der Impfskepsis

Machokults zu verstehen. Er wird insbesondere von Donald Trump und dem brasilianischen Regierungschef Jair Messias Bolsonaro auch im persönlichen Auftreten demonstrativ kultiviert und geht einher mit einer Diffamierung von ängstlich-sorgenvoll, »hysterischen« Agierenden als »Weicheiern« und »Feiglingen«. Bolsonaros COVID-19-Erkrankung verlief harmlos, sodass er sie als Bestätigung seiner Auffassung, es handele sich nur um ein »Grippchen«, das durchtrainierten Männern wie ihm nichts anhaben könne, verkaufen konnte. Auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump infizierte sich im Oktober 2020 mit dem Corona-Virus und erkrankte schwer. Wie die Washington Post berichtete, war er viel kränker, als er sich in der Öffentlichkeit inszenierte, revidierte seine öffentlichen Äußerungen zur Pandemie aber nicht. Von ihrer Anhängerschaft werden diese Politiker als Heldenfiguren idealisiert, weil man hofft, in der Identifikation mit ihnen zu eigener illusionärer Stärke zu gelangen. Diese Haltung befeuerte die Ausbreitung der Pandemie in diesen Ländern. In den USA und in Brasilien kam es 2020 zu einem rasanten Anstieg der Infektionen und Todesfälle. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die Trump angeblich wieder great gemacht hat, und die über das kostspieligste Gesundheitssystem der Welt verfügen, wiesen die weltweit höchsten Infektions- und Todeszahlen auf. In Interviews mit dem Watergate-Journalisten Bob Woodward gab Trump sogar selbst zu, die Pandemie absichtlich verharmlost zu haben, um keine Panik zu erzeugen (Steffens, 2020). Eine Studie, in der die Übersterblichkeit in 42 Industrie- und Schwellenländern verglichen wurde, kam zu dem Ergebnis, dass in populistisch geführten Ländern die Übersterblichkeit bei 18 Prozent, in nicht-populistisch regierten Ländern nur bei acht Prozent lag (Bayerlein et al., 2021). In der Politik versuchen viele Akteure, sich ein sportliches Image zu geben. Im Sport richtet sich die eigene Aufmerksamkeit vollständig auf die körperliche Verfassung. Profisportlerinnen und Profisportler befinden sich im ständigen Austausch mit Physiotherapeut*innen sowie Sportmedizinern. Gleichwohl gibt es auch unter SportlerInnen Impfskepsis. Der Philosoph Wolfram Eilenberger sieht in der fantasierten Unantastbarkeit die Ursache ihrer Impfskepsis: »Der Sportler verkörpert den Traum der Unantastbarkeit, den wir alle hegen. Und ebendiese Illusion zerstört er als Geimpfter und ebenfalls als Impfbedürftiger. Im Sportler konzentriert sich die Sehnsucht nach dem ge-

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3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

sunden – auch unantastbaren – gegen alle Fährnisse und Angriffe immunisierten Leib. […] Ein impfender Sportler gesteht ein, nicht bereits ›immun‹ zu sein« (Eilenberger, 2021, zit. n. Kalwa & Meltzer, 2021, S. 30).

Der Begriff der Unantastbarkeit verweist auf das historisch bekannte Tabu, den Körper des absoluten Herrschers zu berühren. Im Hofzeremoniell war genau festgelegt, wer den Kaiser in welcher Form körperlich berühren durfte. Dem Kaiser die Füße oder gar die Brust küssen zu dürfen, war die höchste Ehrerbietung, die der Kaiser einem Untertanen erlauben konnte. Die Spitzensportlerin bzw. der Spitzensportler betrachtet seinen oder ihren eigenen Körper als größtes Kapital. Das Motto könnte lauten: »Mein Körper ist mir heilig und damit ist er unantastbar.« Bei manchen männlichen Adoleszenten wird körperliche Berührung als ehrverletzend empfunden. »Fass mich ja nicht an!«, heißt es da. Hingegen erlaubt es ihr Ehrenkodex durchaus, Frauen, das »schwache Geschlecht«, zu »begrabschen«. Allgemein werden körperliche Berührungen, denen man nicht ausdrücklich zugestimmt hat, in aller Regel als Übergriff, als Verletzung der Intimsphäre, als Missachtung der eigenen Autonomie, als Angriff auf die körperliche Integrität, als Herrschaftsgeste und als Angriff auf die Autonomie des Köper-Selbst erlebt und verstanden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch Emanzipationsbewegungen wie die #MeToo-Bewegung und die schon ältere Bewegung für die Legalisierung von Abtreibungen (»Mein Bauch gehört mir!«) sensibel auf Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und die Entscheidungsgewalt über den eigenen Körper reagieren. Das Bewusstsein für das Recht auf körperliche Autonomie, Selbstbestimmung und Unversehrtheit ist also auch Kennzeichen emanzipatorischer Bewegungen. Eine relativ harmlose Szene mag dies illustrieren: In einer Talkshow im Jahr 1991 verbat sich der Schauspieler und Sänger Herbert Grönemeyer, dass die damalige Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Hanna-Renate Laurien, mehrfach gönnerhaft ihre Hand auf seinen Arm legte. Hier war es ein Mann, der sich von der Herrschaftsgeste einer mächtigen Frau bedrängt, vielleicht auch erniedrigt, sicher aber unangenehm berührt fühlte. Und dieser Mann setzte sich zur Wehr und nahm in Kauf, dass die angenehme Plauder-Atmosphäre durch dieses sehr persönliche und direkte Sich-Verwahren gegen einen Übergriff gestört wurde. Doch wie unterscheidet sich der emanzipatorische Kampf für körperliche Selbstbestimmung vom irrationalen Kampf von Personen, die sich auf eine Impfgegnerschaft eingeschworen haben? Emanzipatorische Bewe130

Psychodynamik der Impfskepsis

gungen beziehen sich auf objektive Fakten. Sie vertrauen auf wissenschaftliche Erkenntnisse und stellen sich einem kritischen Dialog. Sie spalten die Welt nicht in »gut« und »böse«, sondern lassen Differenzierungen und eine kontroverse Diskussion zu. Irrationale Bewegungen leugnen objektive Fakten, glauben an Verschwörungstheorien und verbreiten Fake News. Sie halten an ihren extremistischen Überzeugungen fest, auch wenn sie deren selbstschädigende Auswirkungen am eigenen Leib erfahren haben. So geben viele Menschen, die Corona verleugnen, ihre Überzeugungen auch dann nicht auf, wenn sie schwer erkranken, weil mit diesen Überzeugungen ihr gesamtes Weltbild verbunden ist. Ihre Einstellungen zur Pandemie zu revidieren, würde ihr ressentimentgeladenes Welt- und Menschenbild, das ein stabilisierender Bestandteil ihrer Persönlichkeitsorganisation ist, infrage stellen. Mit der dringlich gemachten Impfempfehlung wird dieser als problembelastet oder gar als traumatisch empfundene thematische Komplex von Berührung, Autonomie, grandiosem Selbstbild und Unterwerfungsangst getriggert. Einige Menschen reagieren darauf affektgesteuert, gleichsam allergisch. Folgende Zusammenhänge spielen hier eine Rolle: 1. Ängste, die durch die objektiv gegebene existenzielle Bedrohung durch Klimaerwärmung und Pandemie ausgelöst werden, werden durch ein kollektiv geteiltes Paranoid abgewehrt. Man verschiebt die angstauslösende Gefahr auf ein anderes Objekt, mit dessen Bösartigkeit man vertraut zu sein scheint, weil man es schon so lange bekämpft. Statt vor dem Virus Angst zu haben, fürchtet man die Verfolgung durch den Staat. 2. Die Aufforderung, sich einer Maßnahme zu unterziehen, die gleichzeitig 85 Prozent der Bevölkerung durchlaufen soll, wird als Unterwerfung erlebt und stellt eine narzisstische Kränkung des grandiosen Selbstbildes von Autonomie, Individualität und Singularität dar. Folgt man dem Soziologen Andreas Reckwitz (2019a), besteht die psychokulturelle Aufgabe des heutigen Subjekts darin, Singularität, d. h. Einzigartigkeit, zu entwickeln. Wenn ich mich darin fügen soll, gleichzeitig etwas zu tun, was Millionen andere Menschen tun, dann ist das aber eher ein Beweis meiner Gewöhnlichkeit. Es erscheint viel attraktiver, meine Singularität damit unter Beweis zu stellen, dass ich mich als impfskeptische Person, die für die Freiheit kämpft, inszeniere. Die Kritik, die sie erfahren, erleben sie als Auszeichnung, weil sie offenbar den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen (Körner, 2020, S. 391). 131

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

3.

Ressentiments und Verschwörungstheorien existieren nicht nur im rechten, sondern auch im linken Spektrum bzw. sogar milieuübergreifend in der gesamten Gesellschaft. Gerade im linken Spektrum gibt es jedoch eine habituell verfestigte Einstellung, man müsse dem Staat, der Politik, der Regierung stets mit größtem Misstrauen begegnen. Man könnte fast meinen, manchen komme die Corona-Krise gerade recht, um den Staat für seine Maßnahmen mal wieder so richtig kritisieren zu können und dafür viel Beifall zu erhalten, auch wenn der häufig von der falschen Seite kommt.

Magisches Denken und die Fähigkeit zur Besorgnis Die COVID-19-Pandemie hat die ganze Welt erfasst und bedroht jedes einzelne Individuum. Der objektive Grad der gesundheitlichen Gefahr ist unterschiedlich und auch das subjektive Empfinden der Bedrohung unterscheidet sich stark. Aber niemand kann der Konfrontation mit der Existenz des Virus ausweichen, auch wenn man in ganz unterschiedlicher Weise damit umgeht. Eine automatisch ablaufende psychische Reaktion auf eine solche Gefahr ist die Emotion der Angst. Menschen unterscheiden sich allerdings darin, wie stark sie sich durch äußere Bedrohungen ängstigen lassen und über welche psychischen und sozialen Kompetenzen sie verfügen, mit Angst umzugehen. Wie klinische Beobachtungen zeigen, stößt die Bedrohung durch Corona Ängste, Fantasien und Traumata an, die ganz andere Ursachen haben. Die real begründete Angst vor einer Ansteckung wird dann zusätzlich affektiv aufgeladen und nimmt irrationale Züge an. Um diese überwältigende Angst zu bändigen, können Abwehrmechanismen eingesetzt werden, wie beispielsweise die Verschiebung der Angst auf andere Objekte. Man hat dann weniger oder keine Angst vor Corona, aber umso mehr vor den staatlich verordneten Maßnahmen oder der Impfung. Es existiert jedoch noch ein anderes sozialpsychologisch wirkmächtiges, aber häufig unterschätztes Phänomen: Solche Krisen bringen unsere Idiosynkrasien überdeutlich zum Vorschein. Wir alle verfügen über Idiosynkrasien, über Eigentümlichkeiten, über Merkwürdigkeiten in unserem Verhalten, über Überempfindlichkeiten in unseren Wahrnehmungen und Empfindungen, die für unsere Persönlichkeit und auch für die sozialen Gruppen und Milieus, denen wir uns zugehörig fühlen, charakteristisch 132

Magisches Denken und die Fähigkeit zur Besorgnis

sind. Diese Eigentümlichkeiten dienen der psychischen Stabilisierung, indem sie besänftigende Antworten auf verunsichernde Fragen geben. Sie haben die Aufgabe, unser subjektives Gefühl der Sicherheit und Autonomie zu schützen. Abergläubische Auffassungen, besondere Ernährungsgewohnheiten, esoterische Überzeugungen, ritualisierte Gewohnheiten und der Glaube an übernatürliche Kräfte, die man magisch bannen kann, vermitteln uns das Gefühl, dass uns die alltäglichen Widrigkeiten des Lebens nichts anhaben können, dass wir die Widrigkeiten des Lebens mit solchen Ritualen unter Kontrolle bringen können. Dieses magische Denken fällt im Alltag kaum auf, weil es jede*r für sich praktiziert und weil man sich im Allgemeinen nicht dafür rechtfertigen muss. Es besteht eine gesellschaftliche Toleranz gegenüber solchen abergläubischen Praktiken auch dann, wenn sie wissenschaftlichen Auffassungen widersprechen. So sie überhaupt offen geäußert oder praktiziert werden, fallen sie in den intimen Bereich der freien Persönlichkeitsentfaltung und der Freiheit der Religionsausübung. Wie vergleichende religionssoziologische Studien zeigen, gibt es in der westeuropäischen und auch in der bundesdeutschen Bevölkerung eine »beachtliche Minderheit von etwa 20–30 % […], die sich zu magischen Glaubensformen, zum Glauben an die Wirksamkeit von Glücksbringern, Horoskopen oder auch an Zukunftsvoraussagen hingezogen fühlt. Etwa ebenso viele geben an, an die Reinkarnation zu glauben, also daran, in diese Welt noch einmal wiedergeboren zu werden. Im kontinentalen Westeuropa liegt auch der Glaube an übernatürliche Heilkräfte kaum über dem Niveau von 20–30 %. Anders verhält es sich mit dem Interesse an Spiritualität. Dieses ist weiter verbreitet« (Pollack & Rosta, 2022, S. 87f.).

In Zeiten der Pandemie wächst der subjektive Bedarf an Angst und Verunsicherung reduzierenden Praktiken und Überzeugungen für viele Menschen enorm, während gleichzeitig die gesundheitspolitische Notwendigkeit besteht, sich an wissenschaftlich fundiertem Wissen zu orientieren. Automatisch greifen viele Menschen auf ihre esoterischen und abergläubischen Weltanschauungen zurück, geraten damit aber in das Kreuzfeuer gesundheitspolitischer Debatten und Maßnahmen. Plötzlich wird sichtbar, wie viel magisches, abergläubisches, esoterisches, ideologisches und irrationales Denken in der Gesellschaft verbreitet ist, sonst aber weitgehend im – teilweise uns selbst – Verborgenen bleibt. Gleichzeitig hat sich bei der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung die wissenschaftliche untermau133

3 Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste – Verschwörungstheorien in der Corona-Krise

erte Überzeugung durchgesetzt, mit welchem individuellen Verhalten man dem Virus am besten begegnet: erstens durch Reduktion der Kontakte und zweitens durch das Impfen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat diese Sichtweise akzeptiert und praktiziert sie auch. Dass es vielen Bürgerinnen und Bürgern so schwerfällt, eine solidarische, d. h. nicht ego-zentrierte und zugleich rationale Grundhaltung zur Pandemie zu entwickeln, die von der »Fähigkeit zur Besorgnis« (Winnicott, 2001 [1963]) ebenso geprägt ist wie von Gelassenheit, hängt u. a. mit der »Risikostruktur« (Reckwitz, 2020b) zusammen, die für COVID19 charakteristisch ist. Für eine große Mehrheit der Infizierten stellt das Virus – statistisch betrachtet – keine Lebensgefahr dar, für die Gruppe der Älteren und Vorerkrankten ist eine Infektion jedoch hochriskant, und für die Gesellschaft besteht bei einer zu schnellen Ausbreitung der Pandemie die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems. Jeder Einzelne sollte alle drei Aspekte im Auge haben: Es geht um die Sorge um das eigene Wohl, die Sorge für das Wohl der Menschen in unserem Nahbereich und schließlich auch um die Verantwortung für das gesamtgesellschaftliche Wohl. Diese drei Aspekte gehören zusammen; die Sorge um sie sollte in einer ausgewogenen Balance gehalten werden. Selbstfürsorge und Fremdfürsorge können durch das gleiche Verhalten erzielt werden: sich impfen zu lassen. Nur wer auch ein Stück Angst um die eigene Gesundheit hat, weiß um seine Verletzlichkeit und kann auf dieser Basis auch das Mitgefühl und das Verantwortungsgefühl entwickeln, dass er zum Wohle der Gemeinschaft viele Einschränkungen nicht nur murrend hinnehmen, sondern auch aktiv und mitdenkend praktizieren sollte. Umgekehrt erhöht sich die Motivation, alles zu tun, um andere nicht in Gefahr zu bringen, wenn man weiß, dass die anderen sich auch zum Schutz der Gemeinschaft und damit meiner eigenen Gesundheit einsetzen. Dies wird in einer Gesellschaft besser gelingen, in der ein hohes Maß an Solidarität, Vertrauen und Mitgefühl herrscht, als in einer Gesellschaft, die durch Spaltungen, Misstrauen und Verschwörungsdenken geprägt ist.

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4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

Der Film Das radikal Böse Auch mehr als 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft sind diese historische Periode, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen noch immer bestimmende, immer wiederkehrende Themen der deutschen Zeitgeschichte. Mit seinem Dokumentar- und Lehrfilm Das radikal Böse von 2014 hat der Filmregisseur und Drehbuchautor Stefan Ruzowitzky einen neuen Zugang zur Thematik insgesamt gewählt. Sein Film beschäftigt sich mit den systematischen Erschießungen von zwei Millionen jüdischen Zivilisten durch Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei während des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa. Der Film geht Fragen nach wie: ➣ Wie werden aus ganz normalen jungen Männern Massenmörder? ➣ Warum töten ehrbare Familienväter Tag für Tag Frauen, Kinder und Babys? ➣ Was haben sie dabei empfunden? ➣ Haben sich mache geweigert, teilzunehmen? ➣ Hat sie die »Arbeit des Tötens« seelisch beeinträchtigt? Der Film ist ausdrücklich an psychoanalytischen Überlegungen orientiert, auch wenn vor allem Ergebnisse aus der experimentellen Psychologie (z. B. das Konformitätsexperiment von Asch, das Milgram-Experiment und das Stanford-Prison-Experiment) dargestellt werden. Interviewt werden verschiedene Expert*innen, etwa der Historiker Christopher Browning, der Psychiater, Psychoanalytiker und Psychohistoriker Robert Jay Lifton, der katholische Priester Patrick Desbois und der Militärpsychologe Dave Grossmann. Der Film ist nicht nur inhaltlich wichtig, sondern auch für die psychoanalytische Theoriebildung interessant. Kann man das radikal Böse 135

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

psychoanalytisch erklären, wenn doch die Täter »ganz normal« waren und scheinbar keine psychopathologischen Besonderheiten aufwiesen? Oder muss man es ausschließlich oder doch überwiegend sozialpsychologisch erklären, beispielsweise als Ergebnis von Gruppenkonformität?

Das Rätsel des Bösen Obwohl keine Periode der Menschheitsgeschichte so eingehend dokumentiert, von verschiedenen Wissenschaften untersucht und mit den Mitteln von Literatur, Film und Kunst durchleuchtet wurde, sind die bedrückendsten Fragen noch immer nicht zufriedenstellend beantwortet worden: Wie konnte es geschehen, dass Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, aus allen Berufen, ja, selbst Ärztinnen und Ärzte, die sich einem besonderen humanitären Ethos verpflichtet fühlen, zu MassenmörderInnen werden? Zwei Erklärungsansätze stehen sich scheinbar unvermittelbar gegenüber: Der eine geht von dem spontanen Empfinden aus, dass die Grausamkeiten, denen sich das KZ-Personal und die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und der Wehrmacht schuldig machten, nur von psychopathologisch deformierten Tätern ausgeübt werden konnten, da ein »normaler« und psychisch halbwegs gesunder Mensch zu solchen »unmenschlichen« Handlungen schlechterdings nicht fähig sei. Diese Einschätzung kann sich auf Erfahrungen aus der Arbeit mit Schwerkriminellen berufen, die wegen Mord, Vergewaltigung oder anderer Gewaltverbrechen verurteilt wurden. Diese Personen weisen in aller Regel Borderline-Störungen, antisoziale Persönlichkeitsstörungen oder andere schwere Charakterpathologien auf, und in ihren Biografien finden sich fast ausnahmslos schwerwiegende Traumata (Rettenberger & Briken, 2017). Dem steht ein Ansatz gegenüber, der die nationalsozialistischen Massenmörder*innen als »ganz normale Menschen« ansieht. Für diese Sichtweise spricht die Beobachtung, dass die meisten Nazi-Täter vor und während ihrer Tätigkeit als KZ-Schergen »ganz normale Männer und Frauen, gutmütige Familienväter und harmlose Durchschnittsmenschen« (Welzer, 2005) waren und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus keinerlei Schwierigkeiten hatten, sich wieder in das Leben der Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Insbesondere bei den Nazi-Ärzten, die Lifton (1986) untersucht hat, finden sich viele, die später glänzende Karrieren als geachtete Ärzte absolvierten. 136

Die Banalität des Bösen

Die Banalität des Bösen Die prominenteste Vertreterin der Normalitätsthese ist Hannah Arendt, die 1961 in Jerusalem als Beobachterin am Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann teilnahm, der als Hauptverantwortlicher für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa angesehen wurde. In ihrem Bericht Eichmann in Jerusalem prägte sie die berühmt gewordene Formulierung von der »Banalität des Bösen«. Sie schreibt: »Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind« (Arendt, 1986 [1964], S. 326). Auch Lifton kommt in seiner umfangreichen Studie über Ärzte im Dritten Reich zu dem Ergebnis, dass die Nazi-Ärzte »keineswegs die dämonischen Figuren waren – sadistisch, fanatisch und mordgierig« (Lifton, 1986, S. 3) –, für die sie oft genug gehalten worden sind. Der Sozialpsychologe Harald Welzer (2005) hat die Normalitätsthese in sehr dezidierter Weise wieder aufgegriffen und ist der Frage nachgegangen, »wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder« werden konnten. Einen wesentlichen Grund sieht Welzer darin, dass die Täterinnen und Täter fähig waren, »sich selbst als Opfer einer Aufgabe wahrzunehmen, die ihnen die historischen Umstände zu diktieren schienen« (ebd., S. 12). Die Massenmörder zerbrachen nicht an ihrem Tun, weil sie gemäß der »Tötungsmoral des Nationalsozialismus« (ebd., S. 37) die Aufgabe des Tötens zu ihrer Pflicht machten, zu ihrer Arbeit, der sie routinemäßig nachkamen. Sie töteten für »das übergeordnete Wohl der Volksgemeinschaft« (ebd.). Im Namen einer höheren Moral identifizierten sie sich mit dieser schweren Aufgabe und fühlten sich geradezu genötigt, etwaige persönliche Skrupel und ihre Abscheu gegenüber den Tötungshandlungen zu überwinden. Sie hatten deshalb nicht das Gefühl, unmoralisch zu sein, sondern handelten nur nach einer anderen, sogar einer »höheren« Moral, die strengere Anforderungen an sie richtete. Ihr Selbstverständnis entspricht dem eines anonym bleibenden Scharfrichters, der seine Arbeit des Tötens berufsmäßig, d. h. gesellschaftlich legitimiert ausübten. Auch Ernst Jüngers berühmte Kennzeichnung des Soldaten als »Arbeiter des Krieges« (zit. n. Neitzel & Welzer, 2011, S. 36) interpretiert den Vorgang der massenhaften Tötung von Menschen als ein normales und normkonformes Verhalten, das dem »Referenzrahmen Krieg« (ebd.) angemessen erscheint. Für diese betont sachlich-distanzierte Haltung zum Handwerk des 137

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

Tötens kann im Kontext von verbrecherischen Kriegen die »Funktionslust an der Zerstörung eine ganz außerordentlich große Rolle [spielen], und zwar unabhängig davon, ob die Handelnden die Wahnideen des Nationalsozialismus teilten« (Krause, 2012, S. 199) oder pathologische Persönlichkeitsanteile aufweisen. Es ist gerade das Fehlen auffälliger Persönlichkeitsmerkmale bei den Nazi-Tätern, das als Charakteristikum hervorgehoben wird. So betont Welzer (2005, S. 13), dass die Nazi-Täterinnen und -Täter »nicht in epidemiologisch auffälliger Weise an Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzuständen und dergleichen zu leiden hatten – übrigens ganz im Unterschied zu den Überlebenden unter den Opfern«. Auch Lifton (1986, S. 9) unterstreicht die ihn besonders irritierende Tatsache, dass sich unter den von ihm interviewten Nazi-Ärzten kein einziger befand, der »zu einer klaren moralischen Bewertung dessen kam, was er getan hatte und wovon er ein Teil gewesen war«. Die Interviewten berichteten zwar »mit erstaunlicher Offenheit« über das, was sie erlebt und getan hatten, verhielten sich dabei »aber nahezu wie unbeteiligte Dritte« (ebd.). In seiner Untersuchung der Täter des Völkermordes in Ruanda berichtet Jean Hatzfeld (2004) über das gleiche Phänomen. Er war schockiert von der emotionalen Distanz und Sachlichkeit, mit der die Täter ihre Untaten darstellten, die sie als »Arbeit des Tötens« bezeichneten. Scheinbar objektiv schilderten sie die von ihnen begangenen Morde, ihre Menschenjagd in den Sümpfen, ihre sadistischen Quälereien, ihre Vergewaltigungen und ihre Plünderungen. Allerdings spielten sich ihre Schilderungen häufig in der dritten Person ab. Der Konkretismus der Täterberichte wirkt merkwürdig nüchtern, sachlich distanziert, abgespalten vom emotionalen Erleben. Was ihre Taten in ihnen auslösten, was sie dabei empfanden, wenn sie ihre Nachbar*innen mit der Machete zerstückelten, blieb ausgespart. Ihr eigenes emotionales Erleben spielte praktisch keine Rolle. Auch bei diesen Tätern fand Hatzfeld keine tiefe Reue oder Schuldgefühle, allenfalls oberflächliche Lippenbekenntnisse, die von der Hoffnung getragen wurden, dadurch Vorteile zu ergattern. Eine empirische Basis findet die Normalitätsthese auch in den ausführlichen psychologischen Begutachtungen mithilfe psychologischer Tests (u. a. mit dem Rorschach-Test), Interviews und Beobachtungen, die im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse mit den dort angeklagten NaziTäterinnen und Nazi-Tätern durchgeführt wurden (El-Hai, 2014; Gilbert, 1962). Aus all diesen Untersuchungen ergab sich, dass die Täter wider 138

Die Pathologie des Bösen

alle Erwartungen (fast) keine psychologischen Auffälligkeiten aufwiesen. Stattdessen wird erneut die »Unauffälligkeit der Täterinnen und Täter« besonders hervorgehoben. 1961 sagte ein Gutachter beim Prozess in Jerusalem über Adolf Eichmann, dass dieser »völlig normal« sei, und er fügte hinzu: »[N]ormaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe« (zit. n. Welzer, 2005, S. 9; siehe dazu auch Goldberg, 1996, S. 146). Unter beziehungsdynamischen Gesichtspunkten wäre freilich zu fragen, ob die Bemerkung dieses Gutachters über die auffällige Unauffälligkeit Eichmanns – die zu äußern ihm offenbar ein Bedürfnis war – nicht als Hinweis auf eine Charakter-Psychopathologie Eichmanns verstanden werden kann, die sich nur unter dem Deckmantel der Normalität versteckte. Dieser Verdacht wird durch den Umstand bestärkt, dass die beiden USAmerikaner, der Militärpsychiater Douglas Kelley und der Militärpsychologe Gustave Gillbert, die beide mit der Betreuung und Begutachtung der in Nürnberg Angeklagten NS-Größen betraut waren, zu unterschiedlichen Einschätzungen kamen. Beide Autoren heben zügellosen Ehrgeiz, emotionale Kälte, Machthunger und Zynismus als auffällige Eigenschaften der NS-Repräsentanten hervor. Doch Kelley wertet diese Merkmale als eine gleichsam durchschnittlich zu erwartende Durchsetzungsfähigkeit: »Sie waren wie jeder andere aggressive, gerissene, ehrgeizige und rücksichtslose Geschäftsmann – nur dass ihr Geschäft der Aufbau einer Weltmacht war« (Kelley, zit. n. El-Hai, 2014, S. 189). Gilbert hingegen schreibt, »dass er einige der in Nürnberg Angeklagten nicht für normal und schon gar nicht für gewöhnlich halte, sondern für Psychopathen mit einer ganz eigenen Persönlichkeitsstruktur« (ebd., 2014, S. 224).

Die Pathologie des Bösen Weitgehend unbestritten ist die These, dass im Rahmen eines Völkermords häufig einzelne psychopathologische Figuren wichtige Führungsrollen übernehmen. Diese haben in der Regel in ihrer individuellen Biografie schwere Traumatisierungen oder narzisstische Kränkungen erlitten, und es gelingt ihnen, ihre individuelle Pathologie mit einer ideologischen Mission und ihrer politischen Führungsrolle zu verknüpfen. Hitlers Charakterpathologie war schon verschiedentlich Gegenstand psychoanalytischer Untersuchungen (Stierlin, 1975; Kornbichler, 1994; Redlich, 2016 [2002]; Victor, 1998; Vinnai, 2004). 139

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

Der Historiker Peter Longerich kommt in seinen historischen Studien über Goebbels (2008), Himmler (2010) und Hitler (2015) zu dem Schluss, dass man die Motive und die Persönlichkeit dieser Figuren nicht verstehen könne, ohne auf den Begriff des Narzissmus zurückzugreifen. Goebbels erfülle »alle wesentlichen Kriterien […], die nach dem heutigen Stand der Psychoanalyse eine narzißtisch gestörte Persönlichkeit charakterisieren« (Longerich, 2010, S. 12). Als hervorstechende Merkmale nennt er: »Sucht nach Anerkennung […], Selbstüberschätzung, rastlose Arbeitswut, bedingungslose Unterwerfung unter ein Idol, Geringschätzung anderer menschlicher Beziehungen und die Bereitschaft, sich im Interesse der eigenen Sache über allgemein anerkannte moralische Normen hinwegzusetzen« (ebd.). Über Hitler schreibt er, dass es sich um einen »offensichtlich gehemmten Menschen« (Longerich, 2015, S. 89) gehandelt habe, der sein persönliches und berufliches Scheitern, seine »Gefühlsarmut und innere Leere« dadurch kompensiert habe, dass er sich in einer »Mischung aus nackter Betroffenheit, rasender Wut und megalomaner Realitätsverweigerung« in einen Rausch der Selbstüberhöhung hineingesteigert habe, der die Massen faszinierte und mitriss. In meiner Studie über Slobodan Milošević (Wirth, 2002) habe ich zu zeigen versucht, wie die individuelle Pathologie von Milošević sowie die Traumatisierungen, die er und seine Familie erleiden mussten, sich mit dem kollektiven Trauma des serbischen Volkes verknüpften und seine von Hass, kaltem Machtstreben, Zerstörung und Selbstzerstörung gekennzeichnete Politik bestimmt haben. Charakteristisch für diese pathologischen Führerfiguren ist es, sich als Vater- bzw. Führerfigur im Sinne von Freuds Massenpsychologie aufzubauen und ihre individuelle Pathologie mit den kollektiven Traumata der Großgruppe zu verflechten (Volkan, 1999, 2005). Auch Welzer als expliziter Verfechter der Normalitätsthese gesteht nebenbei zu, dass zumindest einzelne Nazi-Täterfiguren psychopathologische Charakteristika aufweisen. So bezeichnet er Kurt Franz, den Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka, als einen »ausgewiesenen Sadisten« (Welzer, 2005, S. 30), und schreibt über zwei weitere Fälle dieses Typus, die er allerdings als »Ausnahmen« einordnet: Unter den »Polizeibatallionsangehörigen an den Erschießungsgruben« und unter dem »Wachpersonal in den Lagern findet man nur ausnahmsweise sadistische Persönlichkeiten, etwa vom Schlage […] Amon Göths, Kommandant des

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Die Pathologie des Bösen

durch Steven Spielberg berühmt gewordenen Lagers Plaszow, der zum persönlichen Vergnügen Häftlinge von der Veranda seiner Villa aus zu erschießen pflegte« (ebd., S. 11).

Otto Kernberg (1985) hat das klinische Bild der diabolisch wirkenden sadistischen Persönlichkeit mit dem Begriff des »malignen Narzissmus« beschrieben. Diese Patientengruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein rein instrumentelles Verhältnis zu ihren Mitmenschen hat. Solche Personen betrachten ihre Mitmenschen ausschließlich unter dem Aspekt, wie sie diese für ihre eigenen Interessen, Motive und Bedürfnisse funktionalisieren können. Auf gefühlsmäßige Bindungen zu anderen Menschen lassen sie sich nicht oder nur zum Schein ein. Ihre Beziehungen zu anderen, zu sich selbst und zur Welt sind einzig und allein unter dem Aspekt der Macht organisiert, weil sie nichts so sehr fürchten, wie in emotionale Abhängigkeit von einem anderen Menschen zu geraten. »Lust an Grausamkeit, sadistische sexuelle Perversionen« (ebd., S. 371), die nie nachlassende Sucht nach Anerkennung, der Drang nach Größe und Einmaligkeit, der Mangel an Empathie, paranoide Fantasien und die größenwahnsinnigen Fantasien über die eigene Rolle sowie die Bereitschaft, sich einem anderen, als »größer« Erkannten bedingungslos unterzuordnen, und schließlich Schübe tiefer Depression immer dann, wenn die erwarteten Erfolge sich nicht einstellen, gehören zum typischen Bild dieser Figuren. Indem sie andere töten oder töten lassen, foltern und mit Vernichtung bedrohen, verschaffen sie sich das »Gefühl des Triumphes über die Angst vor Schmerz und Tod« und die unbewusste Fantasie, »den Tod zu beherrschen« (ebd.). Der Historiker Ludwig Quidde hatte bereits 1894 in seiner Studie Caligula am Beispiel des römischen Cäsarenwahnsinns ein Porträt solcher von Macht besessener narzisstischer Figuren gezeichnet, das tiefe Einblicke in die Psychologie des Machtrausches erlaubt: »Größenwahn, gesteigert bis zur Selbstvergötterung, Missachtung jeder gesetzlichen Schranke und aller Rechte fremder Individualitäten, ziel- und sinnlose Grausamkeit« (Quidde, 1977 [1894], S. 67) nennt er als die auffälligsten Symptome. Die gruppendynamische Bedeutung solcher Führungsfiguren als Ich-Ideal der Untergebenen und der anfänglich noch zögerlichen Mitläuferfiguren kann kaum überschätzt werden (Wirth, 2002). Hinzu kommen gewöhnliche Kriminelle und professionelle Mörderinnen und Mörder, die von den strategischen Planungsstäben des Genozids gezielt als ausführende Organe und als Wach- und Aufsichtspersonal ein141

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

gesetzt wurden. Sie erhielten in den Konzentrationslagern freie Bahn, um ihren Sadismus, ihre Machtgelüste und perversen Bestrebungen ungehindert auszuleben, ja sie wurden geradezu ermuntert, dies zu tun. Individuelle Charakterpathologien hatten also durchaus einen erheblichen Einfluss auf das, was in den Konzentrationslagern und bei Erschießungskommandos geschah, und auch die psychologisch »normalen« Mitglieder solcher Kommandos konnten sich dem Gruppenzwang meist nicht entziehen. Eine andere Maßnahme bestand darin, Unterprivilegierte und »Halbgebildete« (Lifton, 1986, S. 598f.), die sich benachteiligt fühlten, mit relativ großer persönlicher Macht und Verfügungsgewalt über Häftlinge auszustatten und ideologisch aufzuhetzen. Die unter Nazis so häufige »profunde Halbbildung« (ebd.) ermöglichte diesen die »kritiklose Identifizierung mit falschen und windschiefen Ideologien« (ebd.). Der Halbgebildete ist nach Adorno (1959b, S. 117) »gereizt und böse«, weil er »unbewußt« um die Deformation seines eigenen Denkens weiß. »Halbbildung selber aber ist die Sphäre des Ressentiments« (ebd.). Diese Personen wiesen vielleicht keine schweren kindlichen Traumata und Psychopathologien auf, aber man konnte an bereits vorhandene Ressentiments anknüpfen, diese steigern und ihnen als Ziel die jüdische Bevölkerung als Sündenbock anbieten. Bei diesen Personengruppen konnten sich ein Judenhass und ein Sadismus entwickeln, der durchaus auch biografisch motiviert war, auch wenn er nicht auf frühkindlichen Traumatisierungen fußte. Solche Personen konnten nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ihren Judenhass und ihren Sadismus recht leicht wieder ablegen, weil er nicht so tief in der Psyche verankert war, wie das beispielsweise beim perversen Sadismus straffällig gewordener Personen der Fall ist.

Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Autoritärer Charakter Im Folgenden sollen zwei theoretische Konzepte diskutiert werden, die in unterschiedlichen theoretischen, historischen und klinischen Zusammenhängen entstanden sind, sich aber gleichwohl ergänzen und wechselseitig bestätigen. Das Konzept der Antisozialen Persönlichkeitsstörung stellt eine Präzisierung des malignen Narzissmus dar und umfasst zudem Störungsbilder, die früher unter den Begriffen »Psychopathie«, »Soziopathie« und »sa142

Antisoziale Persönlichkeitsstörung und Autoritärer Charakter

distische Persönlichkeit« beschrieben wurden (Dulz et al., 2017). Otto Kernberg (1985, S. 404) schreibt über »die echte antisoziale Persönlichkeit«, sie mache »den Eindruck, als identifiziere sie sich mit einer primitiven, rücksichtslosen, vollkommen amoralischen Macht, die nur durch die Manifestation ungemilderter Aggression Befriedigung erlangt und weder Rationalisierung ihres Verhaltens noch Bindung an irgendeinen konsistenten Wert außer der Ausübung solcher Macht braucht«.

Wenn solche Menschen in die Situation kommen, dass sie über ein hohes Maß an realer Macht über andere Menschen verfügen, kommt es zu einer Potenzierung der Destruktivität. Das höchste Ausmaß an Destruktivität entwickelt sich, wenn in einem verbrecherischen und menschenverachtenden System die offen sadistisch Kriminellen planmäßig mit Machtbefugnissen über Leben und Tod anderer Menschen ausgestattet werden und institutionell beauftragt werden, ihre sadistischen Impulse ungehemmt auszuleben. Peter Fonagy und Anthony Bateman haben mit dem Konzept der Mentalisierung einen neuen Blick auf Menschen mit antisozialen Tendenzen geworfen. Danach fühlen sich Personen mit einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung zu sozialen Beziehungen hingezogen, die durch »rigide, vorhersehbare und durchorganisierte Interaktionen und Hierarchien, die auf dem Respekt vor Höherrangigen beruhen« (Bateman & Fonagy, 2015b, S. 338), charakterisiert sind, weil sie dort »auf leicht vorhersehbare Weise interagieren können, selbst wenn solche Interaktionen eingeschränkt und inflexibel bleiben« (ebd.). Auch wenn sich die Einstellungen der antisozialen Persönlichkeit zu anderen grundsätzlich durch Egozentrik und Rücksichtslosigkeit auszeichnet, können diese Personen »starke Loyalität zu jemandem entwickeln, dessen Verhalten [ihrem] eigenen zu entsprechen scheint, und sich mit ihm identifizieren« (ebd.). Viele Personen mit einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung »haben das Gefühl, nur von einer Handvoll Menschen verstanden zu werden; diese weisen gewöhnlich ähnliche antisoziale Tendenzen auf und können eine enorme emotionale Bedeutung erlangen« (ebd.). Die Beziehungsdynamik, die Bateman und Fonagy hier beschreiben, entspricht in wesentlichen Zügen den Merkmalen des Autoritären Charakters, wie er von Erich Fromm (1936) und Max Horkheimer und Mitarbei143

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

tern (1936) als »Autoritäre Persönlichkeit« beschrieben und empirisch untersucht wurde. Danach zeichnet sich der Autoritäre Charakter durch Unterwürfigkeit gegenüber Autoritätsfiguren, Destruktivität, Zerstörungslust und starren Konformismus aus. Teils nimmt die Autoritäre Persönlichkeit eine »komplementär-narzisstische Position« (Willi, 1975) ein, indem sie sich machtvollen Autoritäten bewundernd unterwirft, teils strebt sie aber auch danach, andere zu demütigen und gefügig zu machen, um dadurch ihr eigenes Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Die Begriffe »Autoritärer Charakter« und »Antisoziale Persönlichkeitsstörung« haben sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen gebildet: Die Forschungen von Fromm, Horkheimer und Adorno entwickelten sich während des Aufstiegs des Nationalsozialismus und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA fortgesetzt, um die erschreckende gesellschaftliche Attraktivität des Antisemitismus, der nationalsozialistischen Ideologie und des destruktiven Führers Adolf Hitler besser zu verstehen. Große Teile der Bevölkerung in Deutschland (aber auch in den USA) entsprachen diesem autoritären Bild. Der Begriff der Antisozialen Persönlichkeitsstörung wurde hingegen in klinischen Zusammenhängen kreiert, um eine relativ kleine Gruppe extrem schwer gestörter psychiatrischer Patientinnen und Patienten sowie Insass*innen von Gefängnissen diagnostisch zu bezeichnen und ihre Behandlung zu konzeptualisieren. Die sozialpsychologischen Konstrukte »Autoritärer Charakter«, »Sozialcharakter« und »Gesellschaftscharakter« (Fromm, 1976) zielen auf eine kollektive Ebene, die sich aus politischen Einstellungen und Meinungen, gesellschaftlichen Ideologien, Vorurteilen und Feindbildern zusammensetzt und mit kollektiven historischen Kränkungen und Traumatisierungen des kollektiven Selbstwertgefühls zusammenbringt. Das klinische Konstrukt »Antisoziale Persönlichkeitsstörung« nimmt die intrapsychischen, die beziehungs- und bindungsdynamischen Prozesse sowie die lebensgeschichtlichen Traumata in den Blick. Die Prozesse auf beiden Ebenen weisen gewisse Parallelen auf. Zudem ergänzen sie sich und verzahnen sich miteinander (Wirth, 2017). Einerseits weisen nur relativ wenige Personen, die man sozialpsychologisch dem Autoritären Charakter zuordnen würde, eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne auf, andererseits fühlen sich relativ viele Personen, die an einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung leiden, dem Denken des Autoritären Charakters verbunden. Weil ihnen das Denken in Hierarchien, Unterordnung, Konformität und Demütigung so vertraut ist und 144

Schließt die Normalitätsthese die Pathologiethese aus?

ihnen psychische Stabilität verleiht, nehmen sie oft eine Führungsposition in autoritären Gruppierungen ein. Zentrale Führungspersonen des Nationalsozialismus, wie Hitler, Goebbels und Himmler, scheinen durch einen malignen Narzissmus und eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung gekennzeichnet zu sein.

Schließt die Normalitätsthese die Pathologiethese aus? Meine These ist, dass sich der absolute Gegensatz zwischen Normalitätsthese und Pathologiethese aufheben, zumindest aber relativieren lässt, und zwar unter zwei Gesichtspunkten: 1. Die narzisstisch gestörte Führungsfigur meidet nicht nur emotionale Bindungen an andere Menschen, sondern hält auch zu den eigenen politischen Überzeugungen emotionale Distanz, auch wenn sie sich nach außen hin als noch so emotionaler Verfechter bzw. Verfechterin einer Ideologie darstellt. Letztlich ist ihr sogar die eigene fanatisch vertretene Ideologie nur Mittel zum Zweck der eigenen Machterweiterung. Die narzisstisch gestörte Herrscherfigur ist ein Zyniker der Macht, der den eigenen Fanatismus in strategischer Absicht pflegt. Deshalb findet man bei den NS-Führungsfiguren auf allen Hierarchieebenen häufig das überraschende Phänomen eines nur gering ausgeprägten Judenhasses. Diese Nazis hatten ein funktionales Verhältnis zum Antisemitismus, den sie zwar dem einfachen Volk voll emotionaler Überzeugungskraft vermittelten, für sich selbst jedoch offenließen, ob sie all die Lügen, die sie verbreiteten, selbst glauben wollten oder es ihnen genügte, wenn die anderen das taten. Sie sind letztlich auch nicht so sehr von sexuellen, aggressiven oder sonstigen Emotionen und Bedürfnissen getrieben, sondern eher von der Angst vor Abhängigkeit, vor Selbstverlust, vor Auflösung und Tod. Diesen Ängsten versuchen sie zu begegnen, indem sie andere unterjochen, Macht ausüben und sich so ihre eigenen Größenfantasien bestätigen. Narzisstische Persönlichkeiten streben deshalb nach Macht, und tatsächlich findet man in Führungspositionen auch häufig ebensolche Persönlichkeiten. Da sie zu allem ein emotional distanziertes, instrumentelles Verhältnis haben, fällt es ihnen leicht, sich gesellschaftlich anzupassen. Die zitierten Befunde über die auffällige Unauffälligkeit Eichmanns und anderer Genozid-Täter sind 145

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

zwar als korrekte Beschreibung von Phänomenen ernstzunehmen, können aber als typisches Merkmal einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung interpretiert werden (H. Freyberger & H. J. Freyberger, 2007). Diese auffällige Unauffälligkeit ist Kennzeichen einer Störung, die man als »Normopathie« bezeichnen kann. Ein Detailbefund aus der Re-Analyse der Rorschach-Tests der in Nürnberg angeklagten NS-Größen durch Barry Ritzler (1978, S. 352) ergab, dass fünf der 16 untersuchten Personen Chamäleons in den Rorschach-Tafeln zu identifizieren meinten – was in anderen Rorschach-Stichproben höchst selten vorkommt (ebd.; siehe dazu auch Welzer, 2005, S. 10). Der Mangel an Einfühlung in ihre Opfer und das Ausbleiben von Schuld- und Schamgefühlen sind eben kein Zeichen ihrer psychischen Gesundheit, sondern gehören zu den typischen Charakteristika der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Das »lähmende Entsetzen« der Zuhörer des Eichmann-Prozesses deutet die Psychoanalytikerin Nele Reuleaux (2006, S. 91) in ihrer Studie über Nationalsozialistische Täter als Reaktion auf »das Fehlen jeglicher Empathiefähigkeit gegenüber den Opfern« (ebd.), und schreibt dies Eichmanns »malignem Narzissmus« zu, der sich durch eine »Fassade der kalten Grandiosität« auszeichne. »Die Zuhörer nehmen selbstverständlich mehr wahr als das gesprochene Wort, vor allem eben die nicht vorhandene Gefühlsregung, in der sich zumindest eine Spur von Schuldeingeständnis und Selbstreflexion finden ließe. Dieses Nicht-Vorhandensein selbstreflexiver, emotionaler Vorgänge, das schließlich auch bei allen Tätern im Auschwitz-Prozess als prägnanteste Gemeinsamkeit erkennbar ist, kann als Ausdrucksform des nach wie vor bestehenden grandiosen Selbst bezeichnet werden, das in keiner Weise brüchig geworden ist. Ganz im Gegenteil hat die große Aufmerksamkeit, mit der sich Eichmann zugewandt wurde, gerade dieses grandiose Selbst nur gefestigt« (Reuleaux, 2006, S. 91).

2.

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Dieser Punkt bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen einer individuellen Ebene der Identitätsbildung, der Traumatisierung und Psychopathologie einerseits und einer kollektiven Ebene der Identitätsbildung, der kollektiven Traumata und der daraus folgenden kollektiven Psychopathologie andererseits. Betrachten wir zunächst den theoretisch einfacheren Fall, bei dem

Schließt die Normalitätsthese die Pathologiethese aus?

eine biografisch begründete individuelle Psychopathologie zugrunde liegt. Der Verursachungszusammenhang ist bei diesem Typus folgender: Aufgrund traumatischer Gewalterfahrungen in der Kindheit entwickeln sich paranoide Befürchtungen, chronische Destruktivität und Selbstdestruktivität. Um diese Impulse zu beherrschen, bedient sich das traumatisierte Individuum der gesellschaftlich angebotenen fanatischen Ideologie, um seine eigenen aggressiven Impulse nach außen zu verlagern und im Sinne einer »psychosozialen Abwehr« (Richter, 1963) »in der Realität zu verankern« (Mentzos, 1976, S. 127). Der fanatische Glaube entlastet das Individuum von selbstdestruktiven Impulsen und festigt zugleich seine Größenfantasien, indem andere entwertet und zu Sündenböcken degradiert werden. Die treibende Kraft bei diesem Typus des »essenziellen Fanatismus« ist eine biografisch bedingte Psychopathologie, die sich einen gesellschaftlichen Rahmen sucht, um sich ungehindert austoben zu können. Betrachten wir nun den theoretisch schwierigeren Fall, bei dem keine individuelle Traumatisierung vorliegt, das Individuum aber trotzdem von kollektiven Ressentiments, Ideologien und Fantasmen affiziert wird. Kollektive Wir-Identitäten bauen sich ja nicht allein über rationale Überzeugungen und Ansichten auf, sondern konstituieren sich ganz wesentlich über »geteilte Gefühle« (Hondrich, 2006). Solche gemeinsamen Gefühle bestehen auch aus Gefühlskonflikten, Ressentiments, Kränkungen des Gruppennarzissmus und kollektiven Traumata. Hier verläuft der Verursachungszusammenhang schematisch etwa so: Weil sich das Individuum, dem Konformitätsdruck folgend, mit der Stimmung seiner sozialen Bezugsgruppe und mit den Autoritäten einig wissen will, schließt es sich dem gesellschaftlich vorgegebenen Fanatismus an und wird auf diese Weise selbst ein mehr oder weniger überzeugter Fanatiker oder eine überzeugte Fanatikerin. Als Folge des Fanatismus entwickelt es sekundär Symptome einer narzisstischen Störung, die mit Grandiositätsfantasien und Reinheitsvorstellungen einhergehen. Man kann hier von einem »abgeleiteten« oder »induzierten Fanatismus« und einer daraus resultierenden »abgeleiteten« oder »induzierten narzisstischen Störung« sprechen. Diese ist nicht in frühkindlichen Traumata und Fehlentwicklungen begründet und kann deshalb relativ rasch wieder abgelegt werden, wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben. 147

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

Maligner Narzissmus und Großgruppenidentität Lifton (1986) führt verschiedene psychische Mechanismen an, die die Nazi-Ärzte befähigten, ihr grauenvolles Werk zu verrichten und zugleich in der Welt außerhalb des Konzentrationslagers normal zu funktionieren. Als zentral beschreibt er den Vorgang der »Doppelung«, bei dem sich das Selbst in zwei unabhängig voneinander funktionierende Ganzheiten teilt: Den einen Teil nennt er das »frühere Selbst«, den anderen das »Auschwitz-Selbst«. Letzteres ist mit der nationalsozialistischen Grandiositätsfantasie von der Überlegenheit der arischen Rasse identifiziert und sieht es als seine heilige Aufgabe an, das »lebensunwerte Leben« zu vernichten. »Das Auschwitz-Selbst schwankte zwischen dem Gefühl omnipotenter Kontrolle über das Leben und Sterben der Gefangenen und dem scheinbar entgegengesetzten Gefühl, ein machtloses Rädchen in einer riesigen, von unsichtbaren anderen kontrollierten Maschinerie zu sein« (ebd., S. 536). Der bis zur Selbstvergötterung gesteigerte Narzissmus, die Vorstellung, Herrscher über Leben und Tod zu sein, lieferte die psychische Grundlage dafür, jede gesetzliche Schranke und alle Rechte fremder Individuen missachten zu können. Die Frage ist, was man unter Liftons Begriff der »Doppelung« verstehen will. Handelt es sich um einen Prozess, den wir psychoanalytisch als »Spaltung« bezeichnen, also um einen, wie Kernberg (1985, S. 32–36) ausführt, »primitiven Abwehrmechanismus«, der Kennzeichen einer schweren Charakterpathologie ist? Oder handelt es sich vielmehr um ein Phänomen, das die Soziologie mit dem Begriff der Rolle zu fassen sucht. Soziologisch betrachtet, sieht sich jedes Individuum in den verschiedenen Bereichen seines sozialen Lebens einerseits mit einem Set von Rollenerwartungen konfrontiert, denen es gerecht werden soll, und verfügt andererseits über mehr oder weniger große Spiel- und Handlungsfreiräume, um die verschiedenen Rollen individuell auszugestalten. In der Familie verhält man sich anders als in einer Freizeitgruppe und dort wieder anders als im Beruf. Mit solchen wechselnden Rollenerwartungen flexibel umgehen zu können, wird tendenziell eher als ein Zeichen von Ich-Stärke, Ambiguitätstoleranz und sicherer Identität angesehen. Unter den Bedingungen einer »totalen Institution« nimmt die Identitätsbildung jedoch einen besonderen Verlauf. Die totale Institution erzwingt in einem ersten Schritt eine totale Unterordnung und eine Entwertung des individuellen Selbstwertgefühls. In einem zweiten Schritt wird 148

Maligner Narzissmus und Großgruppenidentität

dem entwerteten Individuum dann die Möglichkeit der Selbsterhöhung angeboten, unter der Bedingung, dass es sich mit den Werten und Normen der herrschenden Institution und ihrem Führer identifiziert. Dieser Prozess korrumpiert das Über-Ich und führt zu einer narzisstischen Aufblähung. Diese Korrumpierung erfolgt durch die Identifikation mit einem narzisstischen Gruppen-Ich und der Auserwähltheit und Höherwertigkeit der eigenen Bezugsgruppe. Die Kritik- und Reflexionsfähigkeit des Individuums wird außer Kraft gesetzt. Der kategorische Imperativ kann dann nicht mehr befolgt werden, d. h., das Nachdenken über die Hintergründe und Folgen der eigenen Handlungen kann nicht stattfinden und die willentliche Entscheidung für oder gegen das Böse kann nicht mehr getroffen werden. Stattdessen berauscht man sich an der fantasierten sowie der realen Macht, die dem Individuum nun verliehen wird. Einer von Liftons Interviewpartnern meinte, die Nazi-Ärzte hätten »über eine Macht verfügt, die größer war als die römischer Kaiser« (Lifton, 1986, S. 536). Nach Erich Fromm (1964, S. 201) entwickeln absolutistische Herrscher eine »besondere Art des Narzissmus«, die in dem Versuch besteht, die menschliche Ohnmacht zu verneinen und zu verleugnen. Absolute Macht, Macht über Leben und Tod zu haben, ist eine gleichsam göttliche Macht. Sie stimuliert absolute Größenfantasien. Täter, die einen Völkermord ausführen, befinden sich in einer Position, die der von absolutistischen, gottähnlichen Herrschern gleicht. Die Möglichkeit, über Leben und Tod zu bestimmen, ließ bei den Mörderinnen und Mördern die Vorstellung entstehen, durch die »Vorsehung« – die Hitler gerne beschwor –, ein über alle Menschen erhobenes Wesen zu sein. Diese Allmachtsfantasie hat Horst-Eberhard Richter (2005 [1979]) als »Gotteskomplex« beschrieben. Der mörderische Sadismus entspringt nicht einer sexuellen Lust, sondern einem tiefen Gefühl des Verlorenseins, des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht, der Todesangst. Der Versuch, dieser existenziellen Vernichtungsangst zu begegnen, indem man absolute Kontrolle über ein anderes lebendes Wesen ausübt, entspringt der unbewussten Illusion, dadurch die Angst vor Schmerz und Ohnmacht beherrschen zu können und letztlich auch über den Tod zu triumphieren. Diese Entwicklung beginnt mit »einer wirklichen oder bloß symbolischen Todeserfahrung durch Krieg oder ein kollektives kulturelles Trauma« (Lifton, 1986, S. 607). Ein solches kollektives Trauma durchlebten die Deutschen mit dem Ersten Weltkrieg. Die traumatischen Er149

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

lebnisse in den Schützengräben und unter den »Stahlgewittern«, das Massensterben und die bleibenden Verstümmelungen, die anschließenden Hungerjahre und die Wirtschaftskrise erschütterten das kollektive Urvertrauen der Menschen. Den Versailler Vertrag empfanden viele als große narzisstische Kränkung. Die Deutschen fühlten sich in ihrer kollektiven Identität gedemütigt und traumatisiert. Der verlorene Krieg und vor allem der paranoid als »Dolchstoß« empfundene Versailler Friede wurden zum »gewählten kollektiven Trauma« im Sinne Volkans (1999). Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und allgemeine gesellschaftliche Spannungen erschütterten zusätzlich das kollektive Urvertrauen der Menschen, und sie ersetzten dieses durch das »blinde Vertrauen« (Volkan, 2005) in den Führer. Der kollektive Teil ihrer Identität, den Volkan (ebd.) als »Großgruppenidentität« bezeichnet, identifizierte sich als Ausweg mit den fanatischen Heilsversprechungen des Nationalsozialismus. In Shakespeares Macbeth heißt es: »Let’s make us med’cines of our great revenge, to cure this deadly grief.« Statt über die erlittenen Traumata und Ohnmachtserfahrungen in einem langwierigen Prozess zu trauern, wurde die Befreiung durch Rache in einer »einzigen katastrophischen Tat« (Haas, 2002, S. 305) gesucht. Im Zuge einer kollektiven Regression identifizierten sich die Deutschen nach dem Muster von Freuds Massenpsychologie mit ihren sadistischen Vorgesetzen, dem nationalsozialistischen System und letztlich mit ihrem Führer Adolf Hitler und wurden so zu ihren mörderischen Taten fähig. »Die kollektive Phantasie der Auserwähltheit des deutschen Volkes befriedigte religiös-mystische Erlösungssehnsüchte und trat zugleich in Vernichtungskonkurrenz zum jüdischen Volk« (Buchholz, 2003, S. 248). Damit wurde auch das pathologische nationalsozialistische Größenselbst, das von Aggression, Fanatismus und Fantasien von Reinheit und Auserwähltsein durchsetzt war und das sein Vorbild im malignen Narzissmus Adolf Hitlers fand, Teil der kollektiven Identität eines und einer jeden Einzelnen. Auf diese Weise nahmen auch diejenigen Täter, Anhängerinnen und Anhänger sowie Mitläufer*innen des nationalsozialistischen Systems, die sich von ihrer individuellen psychischen Struktur her nicht durch Sadismus und malignen Narzissmus auszeichneten, sondern – um es mit Welzer (2005) zu formulieren – »ganz normale Männer, gutmütige Familienväter und harmlose Durchschnittsmenschen« waren, das pathologische nationalsozialistische Größenselbst in sich auf –, doch ohne dessen gewahr zu werden, weil es der herrschenden Norm entsprach. 150

Ist Völkermord ein Ausdruck des Todestriebes?

Ist Völkermord ein Ausdruck des Todestriebes? Der Holocaust, die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien, der Völkermord an den Tutsi in Ruanda, Baschar Hafiz al-Assads Krieg gegen das eigene Volk und Wladimir Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine haben uns vor Augen geführt, wie schwer es »der Menschenart« fällt – so könnte man mit Sigmund Freud (1930a [1929], S. 506) formulieren –, des »menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstriebs Herr zu werden«. Mit seiner Todestrieb-Theorie postuliert Freud nicht nur eine Veranlagung des Menschen zur tödlichen Aggression gegen seine Artgenossinnen und Artgenossen, sondern darüber hinaus einen inneren Drang zur Selbstvernichtung, eine Art Todessehnsucht, eine – um mit Søren Kierkegaard (1984 [1849]) zu sprechen – »Krankheit zum Tode«, eine Tendenz allen (menschlichen) Lebens, in den anorganischen Zustand zurückzukehren. Freuds Hypothese vom Aggressions-, Selbstvernichtungs- und/oder Todestrieb darf allerdings nicht verkürzt als monokausale Interpretation destruktiven Handelns verstanden werden, so als wären Völkermorde mit dem Hinweis auf die aggressiv-destruktive Triebnatur des Menschen schon »auf den Begriff gebracht«, erklärt oder verstanden. Vielmehr besteht die theoretische Leistung dieser Hypothese allein darin, darauf zu insistieren, dass die Möglichkeit zur Destruktivität in jedem Menschen vorhanden ist. Völkermord ist keineswegs von »unvorstellbarer« Grausamkeit. Wie wir seit den verschiedenen Genoziden wissen, ist das destruktive Potenzial des Menschen überall verbreitet: Grundsätzlich ist der Mensch zu jeder Grausamkeit fähig, die sich die menschliche Fantasie ausmalen kann. Wie weit der Einzelne oder auch Kollektive von solchen destruktiven Impulsen bedrängt werden und ob destruktive Fantasien in die Tat umgesetzt werden oder im Reich der Fantasie bleiben, hängt allerdings von vielen weiteren, komplex miteinander verwobenen Bedingungen ab, für die jeweils soziound psychodynamische Zusammenhänge aufzuzeigen sind. Aus dieser Sicht hat die Todestrieb-Hypothese als Ursachentheorie nur einen sehr begrenzten Erklärungswert, da sie nur die allgemeine anthropologische Tatsache benennt, dass der Mensch über das Potenzial zur Destruktivität und zur Selbstdestruktivität verfügt. Um diese anthropologische Tatsache zu benennen, bedürfte es allerdings nicht der voraussetzungsvollen und theoretisch folgenreichen Annahme eines Triebes, der periodisch nach Abfuhr und Befriedigung verlangt. 151

4 Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz

Der Begriff des »radikal Bösen« wurde 1792 von Immanuel Kant geprägt, um eine besondere Form des »natürlichen Hangs des Menschen zum Bösen« (Kant, 1792, S. 29, zit. n. Dierse, 2007) zu bezeichnen. Wie der Philosoph Ulrich Dierse (2007) erläutert, spricht Kant »von einem ›Hang‹ und nicht von der ›Anlage‹ zum Bösen, um zu verdeutlichen, dass das moralisch Böse vom Menschen selbst verschuldet ist und seiner Freiheit zugerechnet werden muß. Das Böse gründet nicht in einem ›Naturtriebe‹ oder der ›Sinnlichkeit unserer Natur‹.«

Es ist nicht ein Aggressionstrieb oder gar ein Todestrieb oder sonstige dunklen Triebmächte, die uns zum Bösen treiben. Das Böse ist in der Welt, weil wir als Menschen über die Freiheit der Entscheidung verfügen. Wir können uns aus unbewussten, konflikthaften oder pathologischen Gründen aber auch in vollem Bewusstsein für das Böse entscheiden, so wie wir uns auch für das Gute entscheiden können. Völkermord ist auch nicht »bestialisch« im ursprünglichen Sinn des Wortes »Bestie« (»wildes Tier«, »Unmensch«); es kennzeichnet vielmehr das Gattungswesen Mensch. Viele Tierarten verfügen über eine instinktgesteuerte Tötungshemmung gegenüber Artgenossen, die dafür sorgt, dass die regelmäßigen Kämpfe um Reviere und Weibchen in der Regel nicht tödlich enden. Allerdings ist auch bei vielen Tierarten das Töten von Artgenossen weit verbreitet. Wie der Primatenforscher Lennart Pyritz (2011) ausführt, »ist das Töten von Artgenossen also ein stammesgeschichtlich altes, im Tierreich weit verbreitetes Verhalten, das unter anderem die Ernährung unter schwierigen Umweltbedingungen gewährleisten und den eigenen Fortpflanzungserfolg optimieren kann. Das massenhafte Töten fremder Artgenossen unter Einsatz von Waffen bleibt allerdings dem Menschen vorbehalten – ein zweifelhaftes Alleinstellungsmerkmal.«

Eine weitere aggressive Möglichkeit, die dem Menschen vorbehalten ist, stellt die Selbsttötung dar. Tiere sind weder in der Lage, unter den Angehörigen ihrer eigenen Art ein Massaker anzurichten, noch können sie Suizid begehen oder gar ihre ganze Art in einem Akt der kollektiven Selbstzerstörung auslöschen. Das Potenzial zum monströsen Verbrechen wie zur Selbstvernichtung stellt einen fundamentalen Bestandteil der conditio 152

Ist Völkermord ein Ausdruck des Todestriebes?

humana dar, ja es ist geradezu ein Unterscheidungsmerkmal im Verhältnis zum Tier. Der Begriff »Bestie« ist also im Grunde eine Projektion unserer eigenen Destruktivität auf das Tier. Im Laufe der Evolution des Menschen hat die Verhaltenssteuerung über die Instinkte enorm abgenommen. Der Soziologe und Philosoph Arnold Gehlen (1956) bezeichnet den Menschen deshalb als »Mängelwesen«, das »in keine spezielle Umwelt instinktsicher eingepaßt« (Safranski, 1997, S. 185) ist. Diese reduzierte Steuerung durch Instinkte betrifft die Sexualität, die Aggression und viele weitere Verhaltensbereiche. Was dem Menschen an Instinktsteuerung fehlt, muss er durch andere Mechanismen ersetzen. Nach Gehlen haben die gesellschaftlichen Institutionen diese Steuerung übernommen. Ich möchte Gehlens Konzept dahingehend erweitern, dass es die Sprache, die kulturellen Systeme und die Gesellschaft insgesamt sind, die diese äußere Verhaltenssteuerung übernehmen. Aus einer etwas anderen Perspektive könnte aber auch gesagt werden, dass der Mensch sich seine eigene Umwelt, gleichsam seine eigene ökologische Nische geschaffen hat: die menschliche Kultur. Die Umwelt des Menschen, an die er sich anpassen und mit der er zurechtkommen muss, ist also nicht nur die äußere Natur, also das Klima, die Geografie usw., sondern die Gesellschaft, die Kultur und die unmittelbaren Mitmenschen. Zur Orientierung in dieser mitmenschlichen Umwelt hat die Evolution ein spezielles Instrumentarium geschaffen, das erstens aus der Intelligenz und zweitens den Gefühlen besteht. Letztere sind entwicklungsgeschichtlich deutlich älter. Die Differenziertheit und Komplexität der inneren Gefühlswelt unterscheiden den Menschen grundlegend vom Tier. Die Gefühle und ihre psychische Bearbeitung durch Prozesse der Mentalisierung sind der neurobiologische Ersatz für die Instinkte und ermöglichen die Orientierung in der mitmenschlichen und kulturellen Umwelt, die sich der Mensch selbst immer wieder neu erschaffen muss. Der Umstand, dass der Mensch nur in begrenztem Umfang von Instinkten gesteuert ist, bringt die Möglichkeit zur Freiheit, Kreativität und freien Willensentscheidung hervor – und somit auch die Möglichkeit, sich für das Böse entscheiden zu können. Die menschliche Freiheit besteht gerade darin, zwischen dem Guten und dem Bösen wählen zu können, aber auch wählen zu müssen. Wir können das eine nicht haben, ohne das andere in Kauf zu nehmen: »Das Böse ist darum das Risiko und der Preis der Freiheit« (ebd., S. 193), es ist wie das Gute ein elementarer Bestandteil der menschlichen Existenz. 153

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« – zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik

Aus der psychoanalytischen Praxis ist bekannt, dass die emotionale und geistige Auseinandersetzung mit den verdrängten Konflikten und den traumatischen Ereignissen aus der Lebensgeschichte ein erfolgversprechender Weg ist, um den Wiederholungszwang aufzulösen, der dazu führt, die alten Konflikte in neuer Konstellation immer wieder zu reproduzieren. Ich möchte in diesem Kapitel der Frage nachgehen, ob solche Prozesse der Bewusstwerdung, der Erinnerungsarbeit, der Trauerarbeit, der Integration dissoziierter Selbst-Anteile oder der Affektregulation – also alles Prozesse, die aus der psychoanalytischen Arbeit mit einzelnen Patientinnen und Patienten so wohlvertraut sind – auch auf der kollektiven Ebene einer Großgruppe, bestimmter Teile der Bevölkerung oder gar einer ganzen Gesellschaft genauso oder doch in vergleichbarer Weise funktionieren können. Dazu unternehme ich aus Sicht der psychoanalytischen Sozialpsychologie einen Streifzug durch die psychopolitische Geschichte der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich kann ich dabei nur exemplarisch vorgehen. Zwangsläufig ist dieser Rückblick auch ein Gang durch meine eigene Biografie.

Zwischen Rechtspopulismus und »Willkommenskultur« Spätestens seit der spektakulären Entscheidung der Bundesregierung unter Angela Merkel vom 4. September 2015, die Grenzen für tausende Flüchtlinge, die sich auf der Balkanroute ansammelten, zu öffnen, stand Deutschland – ja, stand Europa – im Zeichen der »Flüchtlingskrise«. Bundeskanzlerin Merkel deklarierte diesen Schritt als zeitlich befristete Ausnahme, um einer humanitären Notlage Herr zu werden. Die Reaktionen in der deutschen Bevölkerung, aber auch die der europäischen Nachbarländer waren 155

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

geteilt: Auf der einen Seite haben rechtspopulistische und islamfeindliche Gruppierungen wie PEGIDA und die AfD enormen Auftrieb bekommen und zur Verbreitung fremdenfeindlicher, autoritärer und rechtsextremer Einstellungen geführt. Diese reichen bis in die Mitte der Gesellschaft (Decker, Kiess & Brähler, 2016; Decker & Brähler 2018). Dieses Reaktionsmuster ist nicht typisch deutsch, sondern findet sich in vielen Gesellschaften und hat zusammen mit dem Brexit und der Wahl von Donald Trump zu historischen Verwerfungen geführt. Auf der anderen Seite empfingen sowohl der überwiegende Teil der Bevölkerung als auch die Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel die flüchtende Zivilbevölkerung aus Syrien und dem Irak mit offenen Armen – zumindest mit Aufnahmebereitschaft – und übernahmen ungeachtet der damit verbundenen Kosten und der erwartbaren politischen Konflikte eine humanitäre Verantwortung. In der Bevölkerung entwickelte sich spontan eine Hilfsbereitschaft, die den Namen »Willkommenskultur« erhielt. Das ehrenamtliche Engagement unzähliger Helferinnen und Helfer blieb auch in den folgenden Jahren im Kern ungebrochen, auch wenn es heute nicht mehr so sichtbar in den Eingangshallen der Bahnhöfe platziert ist. Bei der Aufnahme der geflüchteten Menschen aus der Ukraine 2022 knüpfte man an diese Erfahrungen an und es entfaltete sich eine ähnliche Hilfsbereitschaft. Wie kaum ein anderes Thema hat die Konfrontation mit dem Fremden das Potenzial zur radikalen Polarisierung. Die einen erleben die Fremden, speziell wenn sie scheinbar unkontrolliert und massenhaft ins eigene Land strömen, als Bedrohung der eigenen Identität, der eigenen Kultur, des eigenen Wohlstandes. Die anderen bekennen sich zur humanitären Verantwortung einer freien demokratischen und auch wohlhabenden Gesellschaft, verfolgten und mit Folter und Tod bedrohten Menschen Schutz zu gewähren. Manche sehen in den Fremden und im Umgang mit ihnen sogar die Chance zu einer Bereicherung der eigenen Kultur. Andere Länder reagierten auf die deutsche »Willkommenskultur« teils mit Unverständnis, teils mit Bewunderung und Anerkennung, teils aber auch mit Spott, Verachtung und Vorwürfen. Hier wiederholte sich ein Reaktionsmuster, wie es auch schon beim deutschen Umgang mit den Reaktorkatastrophen von Tschernobyl (Wirth, 1986) und Fukushima (Wirth, 2011) aufgetreten war. Kommentatorinnen und Kommentatoren finden häufig in der »Last der deutschen Vergangenheit« einen Erklärungsansatz und machen eine übersteigerte Kultur der Schuldgefühle für diese typisch deutschen Empfindsamkeiten verantwortlich. 156

Das vierfache Trauma des Zweiten Weltkrieges

Diese Interpretation möchte ich im Folgenden näher ausführen, aber in wesentlichen Punkten modifizieren und damit einen anderen Akzent setzen. Dazu unternehme ich aus Sicht der psychoanalytischen Sozialpsychologie einen Streifzug durch die psychopolitische Geschichte der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich kann ich dabei nur exemplarisch vorgehen und einige Streiflichter setzen. Meine Ausgangsthese lautet: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist auch nach über 70 Jahren noch immer das beherrschende zeitgeschichtliche Thema der Bundesrepublik. Es vergeht kein Tag, an dem nicht im Fernsehen und in Zeitungen an Ereignisse der Nazi-Zeit erinnert wird. Eine derartig intensive selbstkritische Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit des eigenen Volkes ist – meines Wissens – beispiellos. Sie kann insofern als gelungen bezeichnet werden, als sie zur Entwicklung einer besonderen Sensibilität im Hinblick auf den Umgang mit existenziellen Gefährdungen geführt hat. Diese These, die mit anderen Akzenten auch von Aleida Assmann (2013, 2017) und von Susan Neiman (2020) diskutiert wird, werde ich im Folgenden näher ausführen. Zweifellos gibt es auch immer die Gegentendenzen am anderen Ende des politischen Spektrums, die einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollen oder gar in ihrer Restauration Zuflucht suchen. In diesem Text soll es jedoch vor allem um die deutsche Sensibilität gehen.

Das vierfache Trauma des Zweiten Weltkrieges Der Zweite Weltkrieg stellt eine historische Zäsur dar, an die sich eine neue machtpolitische Aufteilung der Welt, der »Kalte Krieg«, aber auch eine Phase ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwungs anschloss. Auch in sozialpsychologischer Hinsicht hatte der Zweite Weltkrieg tiefgreifende Auswirkungen. Nicht nur die Verlierer des Krieges, Deutschland und Japan und in etwas geringerem Maße auch Italien, sondern auch die Siegermächte wurden vom Zweiten Weltkrieg und den Geschehnissen, die mit ihm in Zusammenhang stehen, schockiert und auf einer kollektiven Ebene traumatisiert, und zwar in vierfacher Hinsicht: 1. Die Tatsache, dass nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ein zweiter, noch verheerenderer Weltkrieg ausbrechen konnte, stellte für das Selbstverständnis der gesamten Menschheit eine traumatische Tatsache dar. Der Historiker Keith Lowe (2014 [2012]) hat in 157

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

2.

3.

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seinem Buch Der wilde Kontinent noch einmal das schier unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung, der Entleerung ganzer Landstriche, der unbegreiflichen Zahl von 35 bis 40 Millionen Toten als Folgen des Zeiten Weltkrieges dargestellt. Krieg gehört zum Erfahrungsschatz der Menschheit, aber dieser Krieg übertraf alles bisher Dagewesene. Noch während des Zweiten Weltkrieges wurde unter Federführung der USA mit der Gründung der Vereinten Nationen begonnen. Von den vier Traumata, die hier zur Diskussion stehen, führte das des Zweiten Weltkrieges immerhin zu dem Versuch, konstruktive Konsequenzen zu ziehen. Der Holocaust stellt einen fundamentalen »Zivilisationsbruch« (Diner, 1988) dar. Der Schock, den er auslöste, war so groß, dass die Tatsache der Shoa nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel und auf der ganzen Welt verleugnet wurde. Nur so ist das merkwürdige Phänomen zu verstehen, dass sowohl Opfer als auch Täter und auch distanzierte Dritte die Tatsache des Holocaust jahrzehntelang verleugneten und »derealisierten« (Mitscherlich  & MitscherlichNielsen, 1967, S. 35). So berichteten jüdische Psychoanalytiker*innen, die vor dem Nationalsozialismus nach New York emigriert waren, dass von ihren Patientinnen und Patienten, die Überlebende des Holocaust waren, keine(r) von den schrecklichen Erlebnissen in den Konzentrationslagern erzählte. Wenn sie dies ausnahmsweise doch taten, nahmen ihre (meist jüdischen) Psychoanalytiker diese Schilderungen nicht als reale Tatsachen ernst, sondern interpretierten sie als Ausdruck neurotischer Kindheitserlebnisse um (Wirth & Haland-Wirth, 2003). In der deutschen Öffentlichkeit kam es erst Ende der 1960er und in einem zweiten Anlauf ab Anfang der 1980er Jahre zu einer wirklich tiefergehenden, nämlich zugleich kognitiven und emotionalen Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus, und zwar sowohl auf individuell-familiärer als auch auf öffentlich-kollektiver Ebene. Der Abwurf der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki ist die dritte historische Zäsur. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ereignis für die Japanerinnen und Japaner die Bedeutung eines enormen kollektiven Traumas hat. Die Bombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki stellen jedoch nicht nur für die unmittelbar beteiligten Nationen, für die Amerikaner und die Japaner*innen, ein traumatisches Ereignis dar, sondern für die ganze Welt. Die grundlegende

Das vierfache Trauma des Zweiten Weltkrieges

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traumatische Wirkung der Atombombe besteht in der schockartigen Konfrontation mit der Tatsache, dass der Mensch sich als Gattungswesen selbst auslöschen kann und dass dies keine ganz unwahrscheinliche Möglichkeit ist. Bereits vor dem absehbaren Ende des Zweiten Weltkriegs vereinbarten die Alliierten eine neue Festlegung der Staatsgrenzen, in deren Folge es zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung u. a. aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn kam. Etwa 12 bis 15 Millionen Deutsche verloren nach dem Ende des Krieges ihre Heimat. Die Vertreibungen, Deportationen und Internierungen gingen mit schweren Verbrechen – Vergewaltigungen, Konfiszierung von Eigentum, Raub und Gewalt – einher. In der historischen Forschung ist man sich heute darüber einig, dass es sich bei der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, die von den Siegern geplant und systematisch umgesetzt wurde, um massive und massenhafte Menschenrechtsverletzungen gehandelt hat (Kossert, 2008; Douglas, 2012; Lowe, 2014 [2012]). Die individuell und kollektiv durchlittenen traumatischen Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, Gewalt, Heimatverlust und feindseliger Aufnahme in der neuen Heimat stellen für Millionen Deutsche ein Trauma dar, das sowohl Individuen und ihre Familien als auch das politische Klima in beiden Teilen Deutschlands nachhaltig prägten.

Wir haben es also mit einer vierfachen, historisch völlig neuen Form kollektiver Traumatisierung zu tun (Kühner, 2007, 2008). Zwar sind die einzelnen Nationen und Bevölkerungsgruppen auf unterschiedliche Weise von diesem kollektiven Trauma betroffen, die einen als Opfer, die anderen als Täter, wieder andere als Befreier*innen, als Retter oder als unbeteiligte ZuschauerInnen oder auch in einer Kombination dieser verschiedenen Rollen. Doch ungeachtet dieser unterschiedlichen Rollen, dieser unterschiedlichen Positionen von Nähe und Distanz zum kollektiven traumatischen Geschehen, sind jedoch alle gleichermaßen von der Wucht des kollektiven Traumas überwältigt. Otto Kernberg (2002) betont ausdrücklich, dass nicht nur die Gewalt, die man am eigenen Leib erlebt, traumatisierend wirken kann, sondern auch und gerade die Gewalt, deren Zeugin oder Zeuge man wird. Auch individuelle Traumata tragen das Potenzial in sich, nicht nur das unmittelbare Opfer zu traumatisieren, sondern zugleich auch nahestehende Menschen mit in den Traumatisierungsprozess einzubezie159

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

hen. Jedes individuelle Trauma ist potenziell ein kollektives Trauma in dem Sinne, dass es auch andere Menschen trifft. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Menschen nicht als voneinander Isolierte zu denken sind, zum anderen damit, dass das Trauma per definitionem ein durchschlagender Prozess ist, dessen Wucht nicht nur das Individuum aus der Bahn wirft, sondern eben auch die soziale Umwelt, das Kollektiv nicht unberührt lässt. Ein kollektives Trauma von monströsem Ausmaß hat eine solche traumatisierende Durchschlagskraft, dass sich ein Individuum, das zu diesem Kollektiv gehört, seiner Wirkung nicht entziehen kann. Der Holocaust ist das extreme Beispiel für ein solches Trauma, das nicht nur unzählige Einzelne und ihre Familien traumatisiert hat, sondern auch diejenigen, die überlebt haben, diejenigen, die rechtzeitig emigrieren konnten, diejenigen, die immer in Sicherheit lebten, ja selbst die nächsten Generationen, die noch nicht geboren waren, als der Holocaust stattfand (Wirth, 2007).

Die Unfähigkeit zu trauern und die Atombegeisterung als weltweite kollektive Abwehr In ihrem oft zitierten Buch Die Unfähigkeit zu trauern haben Margarete und Alexander Mitscherlich 1967 eine sozialpsychoanalytische Analyse der deutschen Nachkriegsgesellschaft vorgelegt.1 Eigentlich, so argumentieren die Mitscherlichs, hätte man als kollektive psychische Reaktion der Deutschen auf den Nationalsozialismus und den 1 Bemerkenswert ist die Wirkungsgeschichte dieses Buches (siehe dazu Wirth, 2009). Die beiden Mitscherlichs firmierten zusammen als Autoren, Alexander stand aber in der öffentlichen Präsentation und Rezeption eindeutig im Vordergrund. Allerdings machte Margarete nach seinem Tod 1982 eine bemerkenswerte öffentliche Karriere als feministische Psychoanalytikerin bzw. psychoanalytische Feministin. In enger Kooperation und Freundschaft mit Alice Schwarzer engagierte sie sich publikumswirksam in der Frauenbewegung, schrieb Bestseller über Weiblichkeit und wirkte in Talkshows und in der Zeitschrift Emma mit. Margarete Mitscherlich ist ein interessantes Beispiel für die enge Verflechtung und wechselseitige Beeinflussung von Psychoanalyse und Emanzipationsbewegungen, die aus der 68er-Bewegung hervorgegangen sind, in diesem Fall die Frauenbewegung. Margarete Mitscherlich mischte sich u. a. mit ihrem Buch Die friedfertige Frau (1985) in die feministische Diskussion ein, brachte mit großer Lust an der Provokation psychoanalytische Argumente vor (etwa das von der nur »angelernten« weiblichen Friedfertigkeit) und warb mit ihrer direkten Art für die Sache der Frauenbewegung.

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Die Unfähigkeit zu trauern und die Atombegeisterung als weltweite kollektive Abwehr

Holocaust tiefe Trauer, Melancholie und Depressionen erwarten können. Tatsächlich zeigte sich bei den Deutschen jedoch eine »Unfähigkeit zu trauern«. Die zu erwartende Melancholie, die Trauer, die Reue, die Schamund Schuldgefühle blieben aus und wurden durch eine »kollektive Verleugnung der Vergangenheit« abgewehrt. »Keine Experimente« (so der zentrale Wahlslogan der CDU im Wahlkampf  1957), nur nichts Fremdes und Verunsicherndes an sich heranlassen  – so lautete die Devise jener Jahre. Für die 68er war das Versagen der gesellschaftlichen wie der väterlichen Autoritäten in der Zeit des Nationalsozialismus ein maßgebliches Motiv, den etablierten Autoritäten zu misstrauen und gegen sie aufzubegehren. Mit dieser Argumentation konnten sie sich auf die Mitscherlichs und ihre psychoanalytischen Gesellschaftsanalysen berufen. Erst der Nachkriegsgeneration war es möglich, zu empfinden, dass der Zweite Weltkrieg »ein Gefühl der Verletzlich- Abbildung 5: CDU-Wahlplakat 1957 (Archiv für Christlich-Demokratische Politik keit«  – so der Historiker [ACDP], Konrad-Adenauer-Stiftung, Künstler: Eli Zaretzky (2006 [2004], Paul Aigner im Auftrag der CDU-BundesgeS.  174)  – bewirkt hatte, für schäftsstelle Bonn) die die Psychoanalyse Worte fand und theoretische Einsichten bereithielt. Die Formulierung der Mitscherlichs von der »Unfähigkeit zu trauern« traf auf einer unbewussten Ebene dieses Gefühl der Verletzlichkeit und konnte auf der bewussten Ebene sowohl als Argument, aber auch als argumentative Waffe in der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, die noch mit der Nazi-Zeit verstrickt war, herangezogen werden. Die deutsche Bevölkerung stürzte sich in den Wiederaufbau, der allein 161

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

»Mut zur Zukunft«, Optimismus und tatkräftiges Anpacken zu erfordern schien. Aber auch für mögliche zukünftige Gefahren eines Atomkrieges – so möchte ich die Mitscherlichs ergänzen  – ließ diese Abwehrhaltung keinen Raum. Für die Deutschen hätte die Bewusstwerdung der atomaren Vernichtungsgefahr zumal eine Konfrontation mit den gerade selbst praktizierten Vernichtungsfeldzügen gegen andere Völker vorausgesetzt. So verdrängten die Deutschen beides: die vergangene Nazizeit ebenso wie die gegenwärtige und zukünftige atomare Gefahr. Die Deutschen stabilisierten ihr politisches Bewusstsein durch die kritiklose Unterwerfung unter die Führerschaft Amerikas und durch den Glauben an die von den USA vorexerzierte wirtschaftliche Expansion. Diese sozialpsychologische Beschreibung trifft in wesentlichen Punkten nicht nur die psychologische Befindlichkeit der Deutschen, sondern beschreibt auch zutreffend die Befindlichkeit anderer Nationen, die den Holocaust und die atomare Katastrophe von Hiroshima und Nagasaki nach dem gleichen Muster verleugneten. Dabei spielte der illusionäre Glaube an die sogenannte »friedliche Nutzung der Atomkraft« eine ganz zentrale Rolle. Das Abwehrmuster gab der wissenschaftliche Wegbereiter der Atombombe, Albert Einstein, vor. Einstein litt unter enormen Schuldgefühlen, dass er den Präsidenten der USA persönlich zum Bau der Atombombe aufgefordert hatte, und wurde zum Pazifisten und vehementen Gegner der atomaren Aufrüstung (Neffe, 2005). Er warnte unermüdlich vor der »entfesselten Macht des Atoms«, plädierte aber stattdessen für die sogenannte »friedliche Nutzung der Atomkraft«. Einstein selbst und fast alle seiner wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen und mit ihnen die Regierungen und die Öffentlichkeit erträumten sich vom »ewigen Feuer der Atomenergie« eine unerschöpfliche Quelle zuverlässiger, sauberer, billiger und umweltfreundlicher Energie. Mit unendlicher und billiger Energie könnte jede Wüste in fruchtbares Land und die ganze Erde in einen blühenden Garten Eden verwandelt werden. Solche regressiven, primärnarzisstischen Erlösungs- und Verschmelzungsfantasien bestimmten in den 1950er und 1960er Jahren sehr deutlich die Vorstellungen von der friedlichen Nutzung der Atomkraft. Auch die sozialistischen Gesellschaften hielten unbeirrbar an der Atomkraft fest, weil sie ihnen als Wegbereiter ins kommunistische Paradies erschien. Der Traum von der friedlichen Nutzung der Atomkraft sei die »Integrationsideologie der fünfziger Jahre«, schreibt der Historiker Joachim Radkau (1990) in seinem Buch Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirt162

Die Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre

schaft 1945–1975. Die Euphorie für die »friedliche Nutzung« der Atomspaltung hatte sozialpsychologisch die Funktion, nicht nur das atomare Trauma von Hiroshima und Nagasaki ungeschehen zu machen, sondern auch unter die Schrecken des Zweiten Weltkriegs einen Schlussstrich zu ziehen und optimistisch in die Zukunft zu schauen.

Die Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre Während die 1950er Jahre ganz im Zeichen der Unfähigkeit zu trauern und der Idealisierung der Nukleartechnik standen, kam es im Laufe der 1960er Jahre mit den weltweiten jugendlichen Protestbewegungen auch in Deutschland zu einem Konflikt zwischen der Abwehrhaltung der älteren und dem expressiven und experimentierfreudigen Lebensstil der jungen Generation (Wirth, 1984). Die Protestbewegung hatte zwei Flügel, die anfangs noch stark durchmischt waren: Da war zum einen die Subkultur der Hippies, die eine ganz neue, schöpferische Gegenwelt begründeten. Sie entwickelten alternative Formen des Zusammenlebens in Wohngemeinschaften und Kommunen, interessierten sich für natürliche Lebensweisen und suchten ein neues Verhältnis zur Natur, zur eigenen Innerlichkeit und zwischen den Geschlechtern (ebd.). Diese neue Lebenseinstellung charakterisierte Horst-Eberhard Richter (1998 [1974], S. 236) als »anti-expansionistisch« und setzte sie in Gegensatz zum grenzenlosen Expansionsdrang der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft. Tatsächlich kritisierten die Hippies damals schon die zunehmende Technifizierung aller Lebensbereiche, die Großtechnologien wie Raumfahrt und Atomkraft und natürlich den Vietnamkrieg. Die Hippies wurden zur Avantgarde einer neuen kulturellen Wertorientierung, die der amerikanische Sozialpsychologe Ronald Inglehart (1977) als »post-materialistisch« bezeichnete und die eine frappierende Ähnlichkeit mit der Wertorientierung der in dieser Zeit stark expandierenden Berufsgruppe der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psychoanalytiker*innen, Psychologen und anderer psychosozialer Schulen aufwies. Beide gesellschaftliche Gruppierungen, Hippies und Psychos, brachten den »Psychoboom« der 70er Jahre hervor (Wirth, 1979). Der Historiker Maik Tändler (2016) spricht deshalb auch von den 70er Jahren als dem »therapeutischen Jahrzehnt«. Wenn der Historiker Gerd Koenen (2002) vom gleichen Zeitraum als dem »roten Jahrzehnt« spricht, bezieht er sich 163

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

auf den zweiten, explizit politischen Strang der Protestbewegungen. Wie der damals begonnene Wandel von der industriellen Moderne zur postindustriellen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft sich heute darstellt, diskutiert Reckwitz (2019a, 2019b) unter dem Begriff der Singularitäten. Der intellektuell und politisch motivierte Teil der 68er-Bewegung, d. h. die Studentenbewegung im engeren Sinne, entdeckte »die beiden großen kritischen Theorien des 19. Jahrhunderts« (Dahmer, 1973, S. 22), die Psychoanalyse und den Marxismus, und brachte die kultur- und gesellschaftskritischen Implikationen der Psychoanalyse in die öffentliche Diskussion. Freuds kulturkritische Schriften waren weitgehend in Vergessenheit geraten, wurden selbst in Fachkreisen nicht mehr diskutiert. Die Schriften von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die schon in den 1930er  Jahren Psychoanalyse für eine gesellschaftsverändernde Praxis nutzbar machen wollten, wie die von Wilhelm Reich, Otto Fenichel und Siegfried Bernfeld, waren im Buchhandel nicht mehr verfügbar; die 68er fertigten deshalb Raubdrucke von Die Funktion des Orgasmus (Reich, 1965 [1927]), Das Buch vom Es (Georg Groddeck, 1923), Der Einbruch der Sexualmoral (Reich, 1932), Charakteranalyse (Reich 1933a), Massenpsychologie des Faschismus (Reich, 1933b) usw. an. Die von den 68ern initiierten sozialen Reformprojekte erweiterten den Anwendungsbereich der Psychoanalyse, und die politische Kritik beförderte das Selbstverständnis der Psychoanalyse als kritische Sozialwissenschaft (Wirth, 1980). Theoretisch konnte man anknüpfen an die Vermittlungsversuche zwischen Psychoanalyse und Soziologie, zwischen Psychoanalyse und Marxismus, die insbesondere in der soziologischen und philosophischen Theorie der Frankfurter Schule bereits eine Tradition hatten. Ihren Ursprung hatte diese Bewegung in den Studentenprotesten, die im Rahmen der Civil-Rights-Bewegung an der kalifornischen Universität Berkeley entstanden waren. Zwar entwickelte sich in allen westlichen Industrienationen in den 60er und 70er Jahren eine eigenständige Jugendkultur, und die meisten Impulse kamen ursprünglich aus den USA, doch in Deutschland waren die Generationskonflikte besonders heftig und hatten besonders nachhaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft. In keinem anderen Land entwickelte sich aus der 68er-Bewegung eine so einflussreiche neue Partei wie die der Grünen. In keinem anderen Land stieg ein Exponent der 68er-Generation bis in höchste Staatsämter auf, wie 164

Die Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre

das bei Joschka Fischer der Fall war. In keinem anderen Land konnte die grüne Partei zweimal Regierungsverantwortung übernehmen. Die Intensität und Nachhaltigkeit dieser Generationskonflikte in Deutschland lassen sich vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit verstehen (Wirth, 2001). Am Vietnamkrieg, dessen Problematik die Flakhelfer-Generation nicht wahrzunehmen bereit, weil sie mit dem Retter und ehemaligen Feind Amerika überidentifiziert war, entzündete sich eine tiefgreifende Auseinandersetzung der Jugend mit großen Teilen der älteren Generation, »die sich dadurch in ihrem mühsam wieder aufgebauten Selbstwertgefühl zentral angegriffen fühlte« (Mitscherlich-Nielsen, 1984 [1979], S. 21f.). Zugleich löste diese Kritik der Student*innen erstmalig eine öffentliche, kontroverse und emotional bedeutsame Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit aus. Im Protest gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner klagte die junge Generation unbewusst auch die Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration an. »Erst bei genauerem Hinsehen war […] zu erkennen, daß es die verschwiegenen Schuldthemen aus der Vergangenheit waren, die sich mit den aktuellen Feindbildern vermischten. Im Haßbild der in Vietnam wütenden USA steckte das Schulderbe des barbarischen Nazi-Krieges. Der Autoritarismus, von dem man sich überall verfolgt glaubte, enthielt in der Projektion die Züge des Hitler-Totalitarismus« (Richter, 2003 [1995], S. 152).

So lässt sich jedenfalls die Schärfe der Auseinandersetzungen über den Krieg in Vietnam erklären, die außerhalb Amerikas nur in Deutschland einen solch unversöhnlichen Charakter annahmen. Die Studentinnen und Studenten fühlten eine moralische Verpflichtung, gerade als Bürger Deutschlands, das den Zweiten Weltkrieg verschuldet und unter dem Banner des Antikommunismus Russland überfallen hatte, nun gegen einen neuen antikommunistischen Kreuzzug Stellung zu beziehen. Der Loyalitätskonflikt, in dem sich die Deutschen mit ihrem Befreier Amerika befanden, wurde aufgelöst durch eine Spaltung der Ambivalenz in Richtung beider Generationen. Die ältere Generation stärkte ihr lädiertes Selbstbewusstsein durch eine Überidentifikation mit Amerika und erlaubte sich deshalb keine Kritik am Krieg der Amerikaner, zumal sie auf diese Weise den alten Antikommunismus weiter pflegen konnte, und das, obwohl sie den amerikanischen Lebensstil zutiefst ablehnte. Die junge Generation übernahm hingegen die 165

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andere Seite der Ambivalenz, nämlich die Aufgabe, moralische Lehren aus der nationalsozialistischen Katastrophe zu ziehen und einen Angriffskrieg im Zeichen des Antikommunismus abzulehnen. Sie suchte in der Gegenidentifikation mit dem Vietcong und mit Mao der belasteten Tradition zu entkommen. Über den Versuch von Teilen der 68er-Generation, der nationalsozialistischen Vergangenheit durch ideologische Radikalisierung, die bis zu terroristischer Gewalt gehen konnte, etwas anderes entgegenzusetzen, führte Norbert Elias anlässlich der Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises an ihn im Jahre 1977 – der bleiernen Zeit des RAF-Terrorismus – aus: »Für viele Menschen der jüngeren Generation bedeutete das Bekenntnis zum Marxismus und in extremen Fällen zum terroristischen Anarchismus im Grunde auch einen Versuch, sich und Deutschland von dem Fluch des Nationalsozialismus zu reinigen. Sie spürten den Fluch. Es half nichts, wenn sie sagten: Aber wir waren ja noch nicht einmal geboren, wir hatten nie etwas mit der Hitlerei zu tun. Ob jung oder alt, das wunde Wir-Bild deutscher Menschen blieb belastet durch die Erinnerung. Die Ereignisse von 1968 in Deutschland lassen sich gewiß nicht auf den Nenner einer einzelnen Erklärung bringen. Ein ganzer Komplex von Faktoren spielte hier eine Rolle. Aber die Hingabe an den Marxismus hatte für manche Studenten unter anderem auch die Funktion eines Schutzmittels; sie half jungen Menschen, sich vor sich selbst und vor der ganzen Welt von dem Stigma der Gaskammern zu reinigen, mit dem der Name der Deutschen belastet war. Es wäre nicht undenkbar, daß dieses Bemühen um Reinigung von dem Fluch, an dem viele jungen Menschen nicht ganz zu Unrecht ihren Vätern, dem deutschen Bürgertum, schuld geben, auch bei der gegenwärtigen Welle der Gewalt eine Rolle spielt« (Elias, 1977, S. 61ff.).

Gleichzeitig war die junge Generation vom amerikanischen way of life durchaus begeistert, kamen doch eine hedonistische Lebenseinstellung, die Bluejeans, der Jazz, die Beatniks und die Hippies aus den USA. Auf kultureller Ebene fühlte sich die junge Generation von der amerikanischen Kultur angesprochen, lehnte aber die aggressive imperialistische Politik der USA ab. Bei der älteren Generation war es umgekehrt. Zu diesem Zeitpunkt kam noch kein wirklich offenes Gespräch zwischen den Generationen zustande. Die ältere Generation fühlte sich angegriffen und in ihrer neu aufgebauten Identität verunsichert und reagierte 166

»Mehr Demokratie wagen«

mit einer defensiven und aggressiven Abwehrhaltung. Die Protestgeneration ihrerseits kam über ein aggressives Attackieren und moralisches Anklagen nicht hinaus. Ihre Kritik blieb distanziert, moralisierend, scharf und über weite Strecken selbstgerecht – und verhinderte so ein offenes Gespräch. Alles in allem wurde in dieser Zeit aber ein jahrzehntelanger Prozess der Auseinandersetzung, der Trauerarbeit und der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in Gang gesetzt, der die Bundesrepublik bis zum heutigen Tage prägen sollte. Was sich hier auf kollektiver Ebene ereignete, hat Freud mit seiner programmatischen Formulierung »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« (Freud, 1914g) beschrieben. Diese von verschiedenen Generationen und unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen getragene Entwicklung stellt einen mühsamen Prozess kollektiver Verständigung und Selbstverständigung dar. Er hatte Höhen und Tiefen, war gekennzeichnet durch Rückschläge und aufwühlende neue Einsichten. In gewisser Weise gehört auch der Terrorismus der RAF in diesen Zusammenhang, denn dieser wurde anfänglich von idealistischen Menschen mit überwiegend protestantischer Herkunft getragen, die glaubten, den unterlassenen Widerstand ihrer Eltern gegen den Nationalsozialismus unter Einsatz und Aufopferung ihres eigenen Lebens nachholen zu müssen (Wirth, 2001, 2002).

»Mehr Demokratie wagen« Auch auf der höchsten Ebene der bundesrepublikanischen Politik standen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die Zeichen auf gesellschaftspolitischem Wandel, auf »inneren Reformen« und der neuen Ostpolitik. Die Wahl des SPD-Justizministers Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten und vor allem die von Willy Brandt zum Bundeskanzler, der sein Amt 1969 unter dem Motto »Mehr Demokratie wagen« antrat, signalisierten »einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel« (Glaser, 1989, S. 91). Künstler*innen, Intellektuelle, SchriftstellerInnen, Publizisten sowie große Teile der rebellierenden Jugend ließen sich von der Reformstimmung begeistern und mitziehen. Auch der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter engagierte sich für Brandt und konnte ihn dafür gewinnen, dass er die sogenannte »Psychiatrie-Enquete« und die Reform der Psychiatrie in besonderer Weise unterstützte. Nebenbei sei erwähnt, dass Willy Brandt auch über 167

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Psychoanalyse gut informiert war, stand er doch mit Wilhelm Reich im gemeinsamen Exil in Norwegen in einem intensiven Austausch (Richter, 2005 [1985]). Die große historische Leistung von Willy Brandt und seiner Regierung war die Aussöhnung mit der Sowjetunion und mit Polen. Gegen den erbitterten Widerstand der Vertriebenenverbände und der CDU/CSU verfolgte die sozialliberale Regierung eine Entspannungspolitik mit dem Osten und handelte mit Moskau und mit Warschau Verträge aus, die eine »Normalisierung der Beziehungen«, einen wechselseitigen Gewaltverzicht und die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zum Inhalt hatten. Psychoanalytisch betrachtet, kam in diesen Verträgen zum Ausdruck, dass die Bundesrepublik bereit war, die politischen Realitäten anzuerkennen, die mit dem Zusammenbruch und der militärischen Niederlage des nationalsozialistischen Staates historisch entstanden waren. Hinzu kam der schmerzhafte Verzicht auf die illusionäre Hoffnung, die verlorenen Besitzansprüche doch noch geltend machen zu können. Diese Trauerarbeit war insbesondere für die Vertriebenen und ihre Verbände ein höchst schwieriger Prozess, in den sich auch Wut, Verzweiflung und Verbitterung mischten. Der Trauerprozess wurde wesentlich befördert durch Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes, mit dem er die große moralische Schuld der Deutschen bekannte und zugleich um Verzeihung bat.

Stationen der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit In einer sozialpsychoanalytischen Geschichte der Bundesrepublik müsste man die einzelnen Etappen und Stationen dieses Prozesses beschreiben, bei dem immer wieder die Traumata des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust, der Atombombe und der Vertreibung in ihrer Verflochtenheit erinnert, inszeniert und in Diskussionen durchgearbeitet wurden (Peisker, 2005). Wann immer existenzielle Fragen, Bedrohungsgefühle, Angst vor Krieg, Gewalt, Vertreibung, Flucht, Destruktion und Zerstörung thematisiert werden, werden auf einer unbewussten Ebene automatisch auch die traumatischen Ereignisse aus der deutschen Vergangenheit mit aktiviert und beeinflussen den Prozess der Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen Fragen. In aller Kürze will ich einige der Stationen nennen: In den 1970er Jahren kam es zu einer Spaltung der 68er-Bewegung in einen politisch168

Stationen der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit

dogmatischen und einen eher pragmatischen Teil, der in der Alternativund der Ökologiebewegung seinen Ausdruck fand, die dann im Laufe der 70er Jahre die Partei der Grünen hervorbrachten. Mit Beginn der 1980er Jahre machten sich insbesondere in der Jugend zunehmend skeptischere Einstellungen breit. Wie die Shell-Jugendstudien von 1981 und 1985 zeigten, empfanden viele Jugendliche ihre Zukunftsaussichten als unheimlich, bedrückend und düster ( Jugendwerk der Deutschen Shell, 1981, 1985). In der No-Future-Stimmung der Jugend drängte sich die Fantasie von einer sich selbst zerstörenden Gesellschaft ins Bewusstsein. Dieser Prozess ließ gleichzeitig die unterdrückten Erinnerungen an die Nazi-Zeit wieder aufleben. Der Nationalsozialismus fand mehr und mehr Eingang in die öffentliche Diskussion. Eine qualitative Veränderung in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit wurde symptomatisch deutlich an der Art und Weise, wie 1979 die Fernsehserie Holocaust aufgenommen wurde. Hunderttausende verfolgten die Serie gebannt und wurden emotional aufgewühlt wie bislang noch durch keinen Versuch der »Vergangenheitsbewältigung«. Diese Öffnung ist ohne die fast gleichzeitige Bewusstwerdung der Atomkriegsgefahr und die Entstehung der Friedensbewegung nicht zu verstehen. Nur zögernd, auf Umwegen und immer wieder zurückschreckend ist es den Menschen gelungen, sich der bedrohlichsten aller aktuellen Gefahren zu nähern und sie sich bewusst einzugestehen, und dieser Bewusstwerdungsprozess bewirkte, dass sich die Menschen auch mit den Schrecken ihrer Vergangenheit auseinandersetzten. Umgekehrt lockerte die emotionale Öffnung für das verstörende Thema Holocaust auch die Verdrängung eines anderen Schreckens, nämlich den der Atomkriegsgefahr. Dieser Prozess kann als »langsame Aufhebung einer Verdrängung«  – wie das der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim (1982) einmal formuliert hat – bezeichnet werden, die sich sowohl bei vielen Einzelnen als auch auf kollektiver Ebene entwickelte. Auch Horst-Eberhard Richter sprach im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er Jahre erstmals öffentlich über seine Erinnerungen an die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs und seine eigenen schrecklichen Kriegserlebnisse. Er prägte das Motto »Erinnern hilft Vorbeugen«. Die von ihm mitbegründete »Internationale Vereinigung der Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges« (IPPNW) stellte ihre Kampagne unter dieses Motto. Richter wollte die Beschäftigung mit der NS-Zeit verbinden mit dem Kampf gegen das Wettrüsten. Sein Gedanke war, dass die 169

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Erinnerung an die deutschen Verbrechen die wichtigste Voraussetzung sei, um den Willen zur Abrüstung glaubhaft vertreten zu können. Umgekehrt gilt aber auch, dass das aktive Eintreten für die Abschaffung der Atomwaffen nahezu zwangsläufig zu einer Konfrontation mit der Nazi-Zeit führte. Mit seinem Konzept »Erinnern hilft Vorbeugen« knüpfte Richter an die berühmte Zeitdiagnose der Mitscherlichs von der Unfähigkeit zu trauern an. Richter verwandelte diese eher anklagende Feststellung aber in ein psychosoziales Konzept, das aktives politisches Handeln ermöglichte. Damit folgte er durchaus einem originär psychoanalytischen Gedanken: Die erinnernde Bearbeitung der traumatischen Vergangenheit kann Individuum und Gemeinschaft von dem Zwang befreien, die alten Traumata wiederholen zu müssen, und kann neue Denk- und Handlungsräume eröffnen. Diese unbewältigte Vergangenheit drängte immer wieder aus dem Unbewussten an die Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens und führte dort zu handfesten Skandalen wie bei der aufgedeckten Nazi-Vergangenheit von Ministerpräsident Hans Filbinger, zu Helmut Kohls missverständlicher Formulierung von der »Gnade der späten Geburt«, seinem Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg (zusammen mit Ronald Reagan), zum Streit um das Fassbinder-Stück Der Müll, die Stadt und der Tod, zu Diskussionen um Helmut Kohls Gorbatschow-Goebbels-Vergleich, zu öffentlichen Debatten wie dem Historiker-Streit, der Goldhagen-Debatte oder der mehrjährigen Diskussion um das Holocaust-Mahnmal in Berlin, zu peinlichen Fehlleistungen wie bei der Jenninger-Affäre, zur Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung, dem Eklat über die antisemitischen Äußerungen Martin Walsers bei seiner Friedenspreisrede und zu der sich daran anschließenden Walser-Bubis-Debatte. Auch das späte Geständnis von Günter Grass, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, und die Kontroverse um sein israelkritisches Gedicht gehören in diese Reihe. Aber auch verschiedene Berufsgruppen untersuchten das Verhalten ihrer Standesvertreter sowie der Standesorganisationen während der NaziZeit, was regelmäßig mit heftigsten emotionalen Auseinandersetzungen verbunden war – bei den Psychoanalytiker*innen ebenso wie bei den Medizinerinnen und Medizinern, Lehrern, Juristen, Theologinnen und Theologen, Geograf*innen sowie HistorikerInnen. Schließlich haben sich sogar Ministerien wie das Auswärtige Amt und das Justizministerium von Historikern durchleuchten lassen. Sogar große Firmen beauftragten jene Wissenschaftler*innen damit, ihre Geschichte während der Nazi-Zeit zu erforschen und publik zu machen. 170

Im Schatten von Tschernobyl

Auch die unzähligen regionalen Gruppen, die sich überall bildeten, um die Geschichte der Judenverfolgung in ihrer Stadt, in ihrem Dorf, zu dokumentieren oder mit Stolpersteinen sichtbar zu machen, gehören in diesen Zusammenhang. Schließlich wurde darüber hinaus in vielen Familien thematisiert, wie sich die ältere Generation während der Nazi-Zeit verhalten hatte. Ebenso kam es in psychotherapeutischen Behandlungen immer häufiger dazu, dass Patientinnen und Patienten nach dem Tod ihrer Eltern anhand von Unterlagen damit konfrontiert wurden, wie stark diese in die NaziVerbrechen involviert waren. Schlagartig wurde ihnen bewusst, wie sehr sie dieses gut gehütete Familiengeheimnis immer erahnt und wie sehr sie die Geheimhaltung und Tabuisierung belastet hatten. Auch die Nachwirkungen eines von der nationalsozialistischen Ideologie geprägten Erziehungs- und Bindungsstils, wie er in dem Erziehungsratgeber von Johanna Haarer (1934) auch noch die frühkindliche Mutter-KindBeziehung bis in die 1950er Jahre beeinflusste, konnte nun thematisiert werden (Benz, 1988; Chamberlain, 2016 [1997]; Brockhaus, 2008). Offenbar ist die Bearbeitung eines kollektiven Traumas vom Ausmaß des Holocausts ähnlich mühevoll wie der psychoanalytische Prozess, wie er aus der Arbeit mit schwer traumatisierten Patientinnen und Patienten bekannt ist. Hier wie dort kommt es regelmäßig zu Rückfällen und zu einer Wiederkehr des Verdrängten, bei der die alten Symptome erneut auftreten. Wenn Sigmund Freud (1937c) davon spricht, dass die »endliche Analyse«, die allein aus pragmatischen Gründen irgendwann einmal abgeschlossen werden müsse, durch die »unendliche Analyse« ergänzt werden müsse, so trifft diese Überlegung auch und gerade auf die Bearbeitung kollektiver Traumata zu. Die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ist eine Aufgabe, die grundsätzlich nicht abgeschlossen werden kann. Sie erfordert eine »unendliche Analyse«, da sie zur deutschen Geschichte gehört und damit Teil der kollektiven Identität der Deutschen ist.

Im Schatten von Tschernobyl Am 26. April 1986 ereignete sich in Tschernobyl eine Katastrophe, die die Anti-AKW-Bewegung seit Jahren als Schreckensbild an die Wand gemalt hatte und die von den Verfechtern der Atomenergie als zu vernachlässigendes »Restrisiko« heruntergespielt worden war. In den nächsten Tagen 171

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bescherte der Ostwind der Bundesrepublik nicht nur schönes Wetter, sondern auch eine radioaktive Wolke, die am 30. April das Bundesgebiet erreichte. An diesem Tag konzentrierte sich die Berichterstattung noch ganz auf die Vorgänge in der Sowjetunion. Es wurde jedoch von Stunde zu Stunde spürbarer: Ein katastrophales Geschehen vollzog sich und verbreitete Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung. Parallel zur Ausbreitung dieser Angst setzte in Bonn die Beschwichtigungsrhetorik ein (Wirth, 1990). Am Abend des 30. April verkündete Bundesinnenminister Zimmermann: »Eine Gefährdung der Bürger in der Bundesrepublik ist absolut auszuschließen.« Das Atomkraftwerk ist schließlich, so begründete er, 2.000 Kilometer entfernt. Allen Bagatellisierungsversuchen zum Trotz griff eine Welle der Angst in der Bevölkerung um sich. In vielen Städten kam es in den folgenden Wochen spontan zu Kundgebungen, Protestversammlungen, Informationsveranstaltungen, Kinder- und Großdemonstrationen. Der GAU beherrschte wochenlang die Medien, die öffentliche Diskussion und die Gespräche in den Familien. Ganz anders reagierte man in Frankreich und England. Die Franzosen beispielsweise bedauerten ihre deutschen Nachbarn mitleidig als hypersensible Angsthasen. Ähnlich ging es mit »le Waldsterben«, das von den Franzosen als deutsches Fantasieprodukt belächelt wurde. Im Ausland wurde der Begriff der »German Angst« populär (Wirth, 1986). Der Zeithistoriker Walter Laqueur (1985) bringt die erhöhte Angstbereitschaft der Deutschen mit dem Trauma des Nationalsozialismus und der dadurch gestörten nationalen Identität der heutigen Deutschen in Verbindung. In der Tat reagieren gerade Menschen, die an unverarbeiteten traumatischen Ereignissen aus ihrer früheren Lebensgeschichte leiden, besonders empfindlich, wenn sie aktuellen Bedrohungen ausgesetzt sind. Häufig entsteht bei ihnen dann ein Gefühl des Ausgeliefertseins und des Unheimlichen, wenn eine akute Bedrohung sie an die längst überwunden geglaubte Situation erinnert. »Dies Unheimliche«  – so schreibt Freud (1919h, S. 254) – »ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.« Dies gilt nicht nur für die individuelle Lebensgeschichte, sondern auch für das kollektive Unbewusste. Es sind das nationalsozialistische Trauma und die ungeheure Schuld, für die Vernichtung der europäischen Juden und indirekt auch für die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki verantwortlich zu sein, die im Verborgenen bleiben sollten und die nun durch den GAU von Tschernobyl angerührt 172

Die Entdeckung der Kriegskindheiten aus dem Zweiten Weltkrieg

wurden. Die assoziative Verbindung zwischen beiden Komplexen stellt sich u. a. über die fundamentalen Existenzängste her. Die Drohung mit totaler Vernichtung oder einer irreparablen Schädigung des Lebens löste gerade bei den Deutschen Erinnerungen an die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« aus. So berichteten verschiedene Psychotherapeut*innen, dass einige ihrer Patientinnen und Patienten auf den Reaktorunfall mit Angstträumen und lebhaften Erinnerungen an Kriegserlebnisse reagierten (Massing, 1986; Richter, 1986).

Die Entdeckung der Kriegskindheiten aus dem Zweiten Weltkrieg Um die Jahrtausendwende herum wurde in der Bearbeitung der Vergangenheit ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Generation derjenigen, die in ihrer Kindheit und Jugend den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgesetzt waren, thematisierte erstmals öffentlich ihre leidvollen Erlebnisse. Maßgeblich angestoßen wurde diese Diskussion von dem Kasseler Psychoanalytiker Hartmut Radebold (2004, 2013), der den psychosozialen, psychosomatischen und transgenerationalen Folgen von Vaterlosigkeit und kriegsbedingten Traumatisierungen nachging. Es folgten zahlreiche interdisziplinäre Kongresse, wissenschaftliche Studien und Publikationen (Schlesinger-Kipp, 2012). Die Journalistin Sabine Bode verbuchte mit ihren populären Büchern über Kriegskinder (Bode, 2014), Kriegsenkel (Bode, 2012) und Nachkriegskinder (Bode, 2013) einen erstaunlichen Publikumserfolg. Wie konnte es geschehen, dass dieses Thema so viele Jahre unter Verschluss gehalten wurde, bis sich gleichsam die Schleusen öffneten und sich das Bedürfnis vieler Menschen Bahn brach, über ihre jahrelang verborgen gehaltenen und vergessen geglaubten Erlebnisse zu sprechen? Durfte in Deutschland über das selbst erlittene Leid nicht gesprochen werden, weil die Auseinandersetzung über das Leid, das man anderen zugefügt hatte, so ganz im Vordergrund zu stehen hatte? Diese Frage lässt sich eindrucksvoll mit Alexander Mitscherlichs Buch Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963) beantworten. Knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schreibt Mitscherlich ein Buch über Vaterlosigkeit, in dem die Stichworte »Krieg«, »Nationalsozialismus« und »Judenvernichtung« nicht vorkommen. Als er die Formu173

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lierung vom »unsichtbaren Vater« erläutert, betont er (ebd., S. 180) sogar ausdrücklich, dass er dabei nicht »an den verlorenen Vater im Sinne des physischen Verlustes« denke, auch nicht an den »Vater, den der Krieg getötet hat, der in Scheidung oder Niezustandekommen der Ehe verlorengeht« (ebd.), sondern allein den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des traditionellen Vaterbildes im Auge habe. Indem Mitscherlich ganz allgemein vom Krieg spricht, »entwirklicht« (Mitscherlich & Mitscherlich-Nielsen, 1967, S. 44) er – um die eigene Wortwahl des Autorenpaares zu gebrauchen – in einem ersten Schritt die Schrecken des Zweiten Weltkrieges zum abstrakten historischen Ereignis. In einem zweiten Schritt verharmlost er das schockierende Erlebnis, indem er den kriegsbedingten traumatischen Vaterverlust mit dem Verlust des Vaters »durch Scheidung oder Niezustandekommen der Ehe« in eine Reihe stellt. Deutlicher kann man kaum ausdrücken, dass man über die Väter, die im Zweiten Weltkrieg geblieben oder als gebrochene Männer zurückgekommen sind, nicht sprechen will. Warum thematisieren die Mitscherlichs nicht den realen Verlust der Väter, die im Krieg gefallen waren? Ein Grund ist darin zu suchen, dass er in diesem Fall den Deutschen eine Opferposition hätte zusprechen müssen, die er doch ausschließlich in ihrer Rolle als Täter, als Mitläuferinnen und Mitläufer anklagen wollte. Aufgrund seiner zeitlichen Nähe zum Nationalsozialismus konnte Mitscherlich diese Art der Einfühlung in die Opfer-Anteile des Täter-Volkes noch nicht aufbringen. Zu bedrückend war noch die Nähe zu den Schrecken der NS-Zeit. Erst mit der Jahrtausendwende wurde es möglich, über die traumatischen Erlebnisse und Verluste, die die deutsche nicht-jüdische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg erleiden musste, öffentlich zu sprechen. Bis dahin war dieser Aspekt der NS-Zeit mit einem Tabu belegt und musste dem Gedenken an die Holocaust-Opfer den Vortritt lassen. Auch die Ausführungen der Mitscherlichs machten da keine Ausnahme. Ihr Aufruf zur Trauerarbeit bezog die Trauer um das eigene Leid der deutschen nicht-jüdischen Bevölkerung nicht mit ein. Sie erkannten nicht die entscheidende Bedeutung des Erlebens von Trauer um eigenes Leid als Bestandteil eines vollständigen Trauerprozesses, in dem sowohl eigenes als auch fremdes Leid, sowohl passiv erlittenes als auch aktiv verursachtes Leid, betrauert werden (Wirth, 2009). In diesem Zusammenhang muss auch das Schicksal der Vertriebenen genannt werden, deren Leid keine angemessene Beachtung im gesellschaftlichen Leben fand und deshalb dem revanchistischen Diskurs überlassen wurde (Kossert, 2008). 174

Im Schatten von Fukushima

Im Schatten von Fukushima Am 11. März 2011 löste ein Erdbeben eine Kernschmelze in drei Reaktorblöcken des Kernkraftwerks in Fukushima aus. Große Mengen radioaktiven Materials konnten entweichen, etwa doppelt so viel wie in Tschernobyl. Die deutsche Bevölkerung regierte dieses Mal nicht mit akuten Ängsten – dafür war Fukushima wirklich zu weit weg –, aber eben doch in der Sache sehr entschieden, indem sie bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bremen den Grünen zu einem Wahlsieg verhalfen und CDU und FDP abstraften. Die Bundesregierung reagierte dieses Mal ganz anders als 25 Jahre zuvor. Damals wurde vonseiten der Regierung bagatellisiert, abgewiegelt und beschwichtigt und den protestierenden Teilen der Bevölkerung Hysterie unterstellt. Dieses Mal entschied Bundeskanzlerin Merkel innerhalb weniger Tage, die gerade beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zu überprüfen und für drei Monate auszusetzen sowie zusätzlich die ältesten Meiler zumindest für diese Zeit abzuschalten. Mit diesem Ausstiegsszenario steht die Bundesrepublik Deutschland einzigartig in der Welt dar. Deutschlands Sonderweg wird von manchen scharf kritisiert und von anderen als deutsche Marotte belächelt. In Amerika spricht man schon lange von der »German Angst«, in Frankreich betont man die französische Verwurzelung im rationalen Denken der Aufklärung, während den Deutschen romantische Realitätsverkennung unterstellt wird. Die Risikoforscherinnen und Risikoforscher sprechen vom deutschen »Alarmismus« und die Kernkraftbefürworter von Hysterie, übertriebener Panikmache und übersteigerter Ängstlichkeit der Deutschen. Ich schlage hingegen eine alternative Interpretation vor: Die Reaktionen der Deutschen, wie sie sich nach Fukushima in ihrem Wahlverhalten ausdrückten, sind nicht mit Angst zu beschreiben; vielmehr zeigt sich hier ein Phänomen, das der Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott (2001 [1963], S. 93ff.) als »Fähigkeit zur Besorgnis« bezeichnet hat. Er beschreibt diese Fähigkeit zur Besorgnis als eine Kompetenz und Haltung, mit der sich Eltern um ihre Kinder kümmern. Man könnte »Besorgnis« aber noch weiter fassen als eine menschliche Grundhaltung, die sich zwar primär auf den Nachwuchs, die Familie und die engere Umgebung richtet, die grundsätzlich aber auch gegenüber allen Mitmenschen, Tieren, der Natur und gegenüber der Umwelt eingenommen werden kann. Die Fähigkeit zur Besorgnis ist eine Mischung aus Fürsorge und dem 175

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Bemühen, Gefahren abzuwenden und für Wohlergehen zu sorgen. Es ist eine Mischung aus Ängstlichkeit, Verantwortungsgefühl und liebevoller Zuwendung. Die Besorgnis kann sich auch auf das eigene Selbst richten und nimmt dann die Gestalt der Selbstfürsorge an. Sie kann sich auch auf nachfolgende Generationen richten, wie das bei der Sorge über die Endlagerung des atomaren Mülls der Fall ist.

Vergangenheitsbewältigung in Japan und Westdeutschland Um den spezifisch deutschen Umgang mit der eigenen Vergangenheit besser zu verstehen, ist ein Vergleich mit Japan aufschlussreich. Die beiden Hauptverantwortlichen für den Zweiten Weltkrieg, Deutschland und Japan, erlebten den Krieg als ein kollektives Trauma ungeheuren Ausmaßes. Traumatisierend wirkte die totale Niederlage, der Verlust der megalomanen Größenfantasien, die Millionen von Toten des eigenen Volkes, aber auch die bestialischen Handlungen, die an anderen Völkern und im Falle Deutschlands außerdem an den jüdischen Mitgliedern des eigenen Volkes begangen wurden. Beide Länder wurden zudem hart bestraft: Japan durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, Deutschland durch seine Teilung in zwei verfeindete Staaten. Auch nach Kriegsende weist das Schicksal von Westdeutschland und Japan große Ähnlichkeiten auf. Beide suchten engen wirtschaftlichen und politischen Anschluss an die USA und die westliche Welt und erlebten daraufhin einen »spektakulären wirtschaftlichen Wiederaufstieg« (Radkau, 2011, S. 219). Beide verpflichteten sich in ihren Verfassungen auf eine rein defensive Ausrichtung ihres Militärs und verzichteten explizit auf atomare Bewaffnung. Bei so vielen Ähnlichkeiten fallen aber auch die Unterschiede ins Auge: Bis heute existiert in Japan weder eine gesellschaftlich verankerte »Erinnerungskultur« für die Opfer von Hiroshima und Nagasaki noch eine breite selbstkritische Auseinandersetzung mit den japanischen Kriegsverbrechen, speziell mit denen, die an der chinesischen Zivilbevölkerung begangen wurden (Buruma, 1994). Während es in Tokio »nur ein kleines, verstecktes und wenig besuchtes Mahnmal für die Opfer der Atomwaffen« (Radkau, 2011, S. 220) gibt, wurde das deutsche Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen Berlins unweit des Parlaments platziert und wird täglich von Hunderten von Menschen besucht. 176

Vergangenheitsbewältigung in der DDR und in Westdeutschland

Zu den bemerkenswerten Unterschieden zwischen Deutschland und Japan gehört auch der Umstand, dass Japan radikal auf die Kernkraft als Energiequelle setzt und es keine nennenswerte gesellschaftliche Kontroverse über die friedliche Nutzung der Kernenergie gibt. Wie der Historiker Joachim Radkau in seiner »Weltgeschichte der Ökologie« ausdrücklich anmerkt, ist dies »aus mehreren Gründen sehr merkwürdig: Japan ist das erste und bislang einzige Opfer der Atomwaffen. […] Die japanischen Ebenen sind überdies noch weit dichter besiedelt als die Bundesrepublik: Entsprechend höher ist das ›Restrisiko‹ der Kerntechnik. Nicht genug damit, ist Japan eines der erdbebenreichsten Länder der Welt« (ebd., S. 219f.).

In Bezug auf Deutschland stellt Radkau nachdrücklich heraus, dass »selbst bei weltweiten systematischen Vergleichen der Anti-AKW-Bewegungen immer wieder herauskam, dass die Bundesrepublik in diesem Punkt der große Ausreißer ist und eine konkurrenzlose Spitzenposition einnimmt. […] Singulär ist auch die Zähigkeit, mit der sich diese Bewegung über Jahrzehnte hielt und auch den Generationenwechsel und das abnehmende Interesse der Medien überdauerte« (ebd., S. 211).

Vergangenheitsbewältigung in der DDR und in Westdeutschland Mit der friedlichen Revolution in der DDR wurde die Nazi-Zeit nochmals auf ganz neue Weise aktuell. Zum einen wurde mit der wiedererlangten Einheit Deutschlands die historische Bestrafung der Deutschen für die Verbrechen der Nationalsozialisten beendet. Dies wurde von den meisten Menschen in Ost und West als große Erleichterung und Freude erlebt. Manche empfanden aber zumindest ambivalente Gefühle, war doch die historische Schuld, die Deutschland auf sich geladen hatte, so einmalig und so monströs, dass die dauerhafte Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands nur angemessen erschien. Die Dynamik dieser sich widersprechenden Haltungen bildete den mehr oder weniger unbewussten emotionalen Hintergrund für manche öffentlich ausgetragenen Kontroversen, etwa über Martin Walsers Formulierung von »Auschwitz als Moralkeule«, 177

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die er in seiner Dankesrede am 11. November 1998 für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche provozierend vortrug (Walser, 1998). Mit dem Vereinigungsprozess wurden aber noch andere Ähnlichkeiten und auch gravierende Unterschiede zwischen Deutschland Ost und Deutschland West hinsichtlich des Umgangs mit der Nazi-Vergangenheit deutlich. Direkt nach 1945 lief die »Bewältigung« der nationalsozialistischen Vergangenheit in der DDR und in der Bundesrepublik – trotz aller Unterschiede – nach einem ganz ähnlichen sozialpsychologischen Muster ab: Die Bundesrepublik stabilisierte ihr politisches Selbstwertgefühl durch die kritiklose Unterwerfung unter die Führerschaft Amerikas, so wie sich auf der anderen Seite die politische Führung der DDR und Teile der Bevölkerung in analoger Weise eine neue sozialistische PseudoIdentität zulegten, indem sie sich der UdSSR als »sozialistischem Bruderstaat« andienten. Die Überidentifikation mit den ursprünglichen Gegnern Amerika bzw. Sowjetunion entlastete von Schuldgefühlen und half den Deutschen in beiden Teilen, die gemeinsame NS-Vergangenheit zu verleugnen. In einem zweiten Schritt glaubte man in der DDR, von der nationalsozialistischen Schuld bereits dadurch gereinigt zu sein, dass man den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhob und gleichsam für sich pachtete. Aus der projektiv verzerrten Sicht der DDR-Führung galt es, neofaschistische Tendenzen allein in der Bundesrepublik zu bekämpfen. Weil die DDR keine wirklichen Anstrengungen zu einer offenen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe unternahm, blieb sie anfällig für das totalitäre und terroristische System des Stalinismus. In Gestalt der Stasi setzte sich die Tradition des Faschismus undurchschaut fort. Aus einer Position westdeutscher Arroganz könnte man argumentieren, allein die Bevölkerung der ehemaligen DDR habe die Aufgabe, sowohl das Stasi-Unrecht als auch nachholend die Nazi-Verbrechen aufzuarbeiten. Das verkennt aber, dass die Bevölkerung der DDR das ungleich schwerere Los gezogen hatte. In materieller Hinsicht leisten die alten Bundesländer in gewissem Sinne »Ausgleichszahlungen«. Aber wie sieht es in psychologischer Hinsicht damit aus? Müsste der Westen etwas von der psychologischen Last des Ostens mittragen? Der Buchtitel des Beststellers Integriert doch erstmal uns! (Köpping, 2018) geht in diese Richtung. Aufschlussreich ist auch, wie man in Deutschland Ost auf den GAU in Tschernobyl reagierte. Radkau schreibt: 178

Das deutsche Trauma der Vertreibung

»In der DDR begegnete man nach Tschernobyl selbst bei solchen Intellektuellen, die über die ostdeutschen Zustände tief frustriert waren, einer Irritation über die westdeutsche Erregung: Hierzulande ersticke man fast am Braunkohlequalm; man wäre froh, stattdessen mehr Kernkraftwerke zu haben; die Art, wie die Protestler in Westdeutschland außer Rand und Band gerieten, sei typisch für ein Luxusland« (2011, S. 222).

Das deutsche Trauma der Vertreibung Die Zwangsumsiedlung und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Osteuropa stellt »die größte Vertreibung der europäischen Geschichte« (Wolfrum, 2017, S. 165) dar. Die Sowjetunion verleibte sich große Teile Polens ein, das für diesen Gebietsverlust dadurch entschädigt wurde, dass »alle Gebiete östlich der Oder und der Neiße einschließlich der historischen deutschen Länder Pommern, Ost-Brandenburg, Ober- und Unterschlesien sowie der Großteil von Ostpreußen (mit Ausnahme des Teils, den sich die Sowjetunion einverleibt hatte) und Danzigs an Polen fielen. Diese Gebiete waren seit Jahrhunderten deutsch und hatten eine fast ausschließlich deutsche Bevölkerung – nach amtlichen Zahlen mehr als 11 Millionen Menschen« (Lowe, 2014 [2012], S. 288).

Nachdem Hitler den angeblichen Schutz der deutschen Minderheit in anderen Ländern als Rechtfertigung für Militärinterventionen benutzt hatte, wollte Polen nicht zulassen, dass die deutsche Bevölkerung weiterhin in den Gebieten leben sollte, die nun polnischem Staatsgebiet zugeschlagen wurden. Mit dem Potsdamer Abkommen wurde die Vertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und allen osteuropäischen Ländern legitimiert. Die Siegermächte billigten eine »Überführung« derjenigen Deutschen »in ordnungsgemäßer und humaner Weise«, die nach der Massenflucht, die in den letzten Wochen des Krieges einsetzte, noch in den osteuropäischen Ländern verblieben waren. Von »human« konnte allerdings keine Rede sein (Wolfrum, 2017, S. 165). Vielmehr kam es zu »wilden Vertreibungen«, die von Exzessen der Rache und der Gewalt begleitet waren, bei denen nach Schätzungen zwei Millionen Menschen ihr Leben verloren. Die New York Times bezeichnete die Potsdamer Vereinbarung als die »unmenschlichste Entscheidung, die jemals von Regierungen 179

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

gefällt wurde, die sich die Verteidigung der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben haben« (zit. n. Lowe, 2014 [2012], S. 291). Die Vertriebenenverbände brachten das offensichtliche Unrecht der Vertreibung nachdrücklich und nachhaltig in die politische Debatte ein. In ihre Forderungen nach Wiedergutmachung und Entschädigung mischten sich aber auch revisionistische und revanchistische Töne, sodass die Art und Weise, wie sie die Interessen der Vertriebenen vertraten – insbesondere seit der Versöhnungspolitik unter Willy Brandt –, mit dem Gedanken der Aussöhnung in Konflikt geriet. Während die wirtschaftliche Integration der Vertriebenen durch das Lastenausgleichsgesetz von 1952 und durch Wohnungsbauprogramme von staatlicher Seite unterstützt wurde und im Laufe der Jahrzehnte auch weitgehend gelang, wurde das Trauma der Vertreibung nur sehr unzulänglich bearbeitet. Viele Vertriebene konnten sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass die alte Heimat unwiederbringlich verloren war. Ihre politischen Vertreterinnen und Vertreter im Bund der Vertriebenen und in den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und der Schlesier*innen bestärkten sie in der illusionären Hoffnung, man könne zu den Grenzen von 1937 zurückkehren. Allerdings war die Ablehnung der neuen Grenzen »bis weit in die 1950er Jahre ein Wahlversprechen aller Parteien, um die Vertriebenen als Wählergruppe zu gewinnen« (Fischer & Lorenz, 2015, S. 86). Sogar die oppositionelle SPD vertrat diese Auffassung. Erst mit der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt, der von der Aufbruchstimmung der rebellierenden Jugend getragen wurde, änderte sich diese Grundhaltung. Verschiedene Gründe waren dafür verantwortlich, dass bei den Vertriebenen kein vollständiger und produktiver Trauerprozess in Gang kam. Vor allem versteifte sich die Führungsriege der Vertriebenen auf das politische Ziel, die verlorene Heimat doch wieder in Besitz nehmen, also die Vertreibung wieder rückgängig machen zu können. Psychologisch betrachtet, weigerte man sich, die Endgültigkeit des Verlustes als Realität anzuerkennen. Dies ist aber die zentrale Bedingung für einen produktiven Trauerprozess. Stattdessen kam es bei einem großen Teil der Vertriebenen zu einer »prolongierten Trauer« (Volkan & Zintl, 2016), die nicht abgeschlossen werden konnte, weil das verlorene Objekt nicht aufgegeben wurde. Die Trauer ging in Depression über und führte zu einem emotionalen und sozialen Rückzug in die subkulturelle Welt der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften, in denen man die alten Bräuche pflegen und den Verlust der Heimat beweinen konnte. Äußere Anpassung an die Imperative der 180

Das deutsche Trauma der Vertreibung

Leistungsgesellschaft und Rückzug in die abgekapselte innere Welt, die von Wehmut, Verlustgefühlen und Melancholie bestimmt waren, klafften auseinander. Von der Mehrheitsgesellschaft fühlten sich die Vertriebenen nicht verstanden. Das Thema Flucht und Vertreibung in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg war beispielsweise in den Spiel- und Dokumentarfilmen »stark unterrepräsentiert, auch wenn ca.  16  Prozent der Bevölkerung ganz Westdeutschlands über einen Flucht- oder Vertreibungshintergrund verfügten« (Ast, 2012). In einem der wenigen Spielfilme, die sich in den 1950er Jahren doch mit dieser Thematik beschäftigten (Grün ist die Heide) erklärt die coole Reiterin Nora, sie habe sich »einen kugelsicheren Panzer ums Herz gelegt« und es binde sie »nichts mehr in der sogenannten Heimat« (ebd.). In diesen Formulierungen wird eine Bewältigungsstrategie deutlich, deren Kennzeichen darin besteht, alles zu vermeiden, was an die traumatischen Erfahrungen erinnern könnte. Die gesellschaftliche Außenseiterstellung der Vertriebenen wurde dadurch verstärkt, dass die Vertriebenenverbände dem Gedanken der Versöhnung skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, weil sie die neuen Grenzen nicht akzeptieren wollten und konnten. Sie richteten sich in der Rolle des unverstandenen Opfers ein und traten in Konkurrenz zu anderen Opfergruppen. Diese Haltung ergänzte sich mit Versuchen, selbst erlittenes Unrecht gegen das Unrecht, das der Nationalsozialismus angerichtet hatten, aufzurechnen. Solche Argumentationszirkel sind jedoch gleichzeitig destruktiv und selbstdestruktiv. Zu einer produktiven Entwicklung kommt es erst, wenn all die Gefühle von Verletzung, Demütigung, Leid und Schmerz, Minderwertigkeit, aber auch Hass, Ressentiment und Rache trauernd durchgearbeitet werden und man auf diese Weise von ihnen Abstand gewinnt. Die Selbstdefinition als Opfer erlaubte auch eine projektive Schuldabwehr. Auf politisch-ideologischer Ebene wurde diese Haltung ergänzt durch Antikommunismus und Revanchismus, wie er von den Vertriebenenverbänden und vom rechten Rand der CDU/CSU vertreten wurde. Allerdings fanden die Vertriebenen bei ihrer Ankunft nicht immer freundliche Aufnahme und Hilfsbereitschaft, sondern stießen häufig auf Ausgrenzung, Ablehnung und offene Feindseligkeit. Auch zehn Jahre nach Kriegsende existierten immer noch rund 3.000  Vertriebenenlager (Fischer & Lorenz, 2015, S. 85), die häufig als »Russensiedlungen« oder »Polackenlager« tituliert wurden. Die angestammte Bevölkerung konkurrierte um Wohnungen und Arbeitsplätze und wollte durch das offen sichtbare Elend der Geflüchteten und Vertriebenen nicht an das Elend er181

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

innert werden, das man gerade hinter sich lassen wollte. Wie der Historiker Andreas Kossert (2008) in seinem Standardwerk über die deutschen Flüchtlinge Kalte Heimat ausführt, blieb bei vielen Vertriebenen jahrzehntelang »eine innere Unbehaustheit« bestehen, die transgenerational weitergegeben wurde. Verstörend waren einerseits der Verlust der Heimat und andererseits die Kälte der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft (Kossert & Florin, 2015). Die Ablehnung ist zudem auf die NS-Propaganda zurückzuführen, die nach dem 8. Mai 1945 weiterwirkte; so sagt Kossert im Interview mit Christiane Florin Folgendes: »Menschen aus dem Osten galten als minderwertig, es gab vielfach antislawische Ressentiments, weshalb die Vertriebenen oft als ›Polacken‹ diffamiert wurden. Erst im Rückblick wurde verklärend gesagt: Es kamen Deutsche zu Deutschen. Tatsächlich aber galten Ostpreußen zum Beispiel im Rheinland oder in Bayern durchaus als Fremde. Es kam zu einem cultural clash, denn trotz gemeinsamer Nationalität und christlicher Religion war die deutsche Gesellschaft sehr regional definiert« (ebd.).

Als Bundeskanzler Willy Brandt 1970 mit den Ostverträgen die OderNeiße-Linie als Polens Westgrenze anerkannte, reagierten die Vertriebenenverbände mit Empörung, weil sie sich verraten fühlten. Ihre Politik, die bis dahin von der illusionären Hoffnung bestimmt war, wieder in die verlorenen Gebiete zurückkehren zu können, sah sich aber im Laufe der Jahre gezwungen, sich der Realität des endgültigen Heimatverlustes zu stellen. Teile der Vertriebenen, insbesondere die jüngere Generation, fingen an, sich mit der unabweisbaren Realität anzufreunden. Das ermöglichte ihnen, sich auch dem Gedanken der Versöhnung zu öffnen. Andere Gruppierungen innerhalb der Vertriebenen blieben der starren Abwehrhaltung verhaftet und konnten sich nur zu einem »Lavieren zwischen Mäßigung und Radikalität« (Fischer & Lorenz, 2015, S. 85) durchringen, gerieten mit dieser Haltung aber »immer mehr ins gesellschaftliche Abseits« (ebd., S. 86). Da sich in der Bundesrepublik die anfängliche »Unfähigkeit zu trauern« im Laufe der Jahre in eine besonders ausgeprägte Bereitschaft, sich mit der Vergangenheit selbstkritisch auseinanderzusetzen, gewandelt hatte, entstand über die Parteigrenzen hinweg ein breiter gesellschaftliche Konsens, dass die ehemaligen deutschen Ostgebiete für immer verloren sind. Während innerhalb der Vertriebenenverbände die starren revanchisti182

Deutsche »Willkommenskultur«

schen Haltungen aufgeweicht wurden, wuchs in der übrigen Gesellschaft die Bereitschaft, dem leidvollen Schicksal der Vertriebenen mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu schenken. Etwa mit der Jahrtausendwende wurde in zahlreichen historischen Büchern, in Berichten von Zeitzeugen und in Fernsehsendungen das Schicksal der Vertriebenen dargestellt und zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Anteilnahme und Debatte. So schildert der zweiteilige ARD-Film Die Flucht (2007, Regie: Kai Wessel) in emotional ergreifender Weise einen Flüchtlingstreck über das Kurische Haff. Die Erstausstrahlung im März 2007 erreichte 13 Millionen Zuschauer und wurde zum erfolgreichsten ARD-Film der vorangegangenen zehn Jahre (Ast, 2012). Die Gleichzeitigkeit von fachhistorischer Bearbeitung und populärer zeitgeschichtlicher Präsentation setzte einen gesellschaftlichen Diskussionsprozess in Gang, der zu einer veränderten Einstellung gegenüber der Thematik der Vertreibung führte. Die Gesellschaft entwickelte Empathie für das Leid der Vertriebenen und lernte anzuerkennen, dass diese Bevölkerungsgruppe besonders hart unter den Folgen des verlorenen Krieges zu leiden hatte. In dieser Hinsicht besteht zwischen den Vertriebenen und der Bevölkerung der DDR eine Parallele, während die Westdeutschen zweifellos am besten davongekommen waren. Vor dem Hintergrund dieser kollektiven historischen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung und vor allem aufgrund der intensiven kollektiven Bearbeitung dieser Erfahrungen haben die Deutschen eine feinfühligere Beziehung zu diesen Themen entwickelt als andere Nationen, die diese kollektiven Erfahrungen nicht durchmachen mussten (Kossert & Florin, 2015). Tatsächlich finden sich unter den ehrenamtlichen Helfern in der Flüchtlingsarbeit viele Menschen, die selbst fliehen mussten, vertrieben wurden und schwere Traumatisierungen durchmachen mussten. Ihre eigenen lebensgeschichtlichen und familiären Erfahrungen bilden den motivationalen Hintergrund für ihr Engagement in der Arbeit mit Flüchtlingen.

Deutsche »Willkommenskultur« Die Bereitschaft der Deutschen, auf existenzielle Krisen und katastrophale Notlagen mit einer besonderen Sensibilität und der Fähigkeit zur Besorgnis zu reagieren, zeigt sich auch in der »Flüchtlingskrise«. Die Bundesregierung hat sich darauf eingestellt, dass auf viele Jahre hinaus die Integration der Flüchtlinge in die bundesrepublikanische Gesellschaft von staatlicher Seite 183

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

erhebliche Anstrengungen erfordern wird, und die deutsche Bevölkerung scheint mehrheitlich bereit zu sein, die Flüchtlinge aufzunehmen, sich um sie zu kümmern und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Nachdem sich in den Jahren 2015 und 2016 zehntausende freiwillige Helferinnen und Helfer in der Flüchtlingsarbeit engagiert hatten, konnte sich die Hilfe inzwischen professionalisieren und wird von ehrenamtlichen Helfer*innen sowie Wohlfahrtseinrichtungen gemeinsam getragen. Das neue soziale Engagement hat Menschen jeden Alters und aller gesellschaftlichen Gruppierungen erfasst, auch wenn Frauen und junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen deutlich überrepräsentiert sind (Karakayali & Kleist, 2015). In einer Gesellschaft, der man – mit einem gewissen Recht – häufig nachsagt, dass sie vornehmlich egozentrische Wertvorstellungen und Zielsetzungen präferiere, ist diese humanitäre Hilfsbereitschaft ein bemerkenswertes Phänomen. Eine gängige Interpretation besagt nun, dieses auffallende soziale Engagement in Deutschland sei auf einen Schuldkomplex in Bezug auf die Nazi-Vergangenheit, also auf ein problematisches oder gar pathologisches Schuldgefühl, zurückzuführen. Vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren erscheint die deutsche Bereitschaft, sich mit der eigenen Vergangenheit selbstkritisch auseinanderzusetzen, als übertrieben. Man könnte auch von einem übersteigerten »Gutmenschentum« sprechen. Diese Interpretation wird schon seit Jahrzehnten von vielen politischen Kommentator*innen und auch von Historikern vorgetragen. In letzter Zeit hat sich die AfD diese Argumentation in zugespitzter und polemischer Weise zu eigen gemacht. Eine Gesellschaft, die eine solche Form der Erinnerungskultur praktiziere, – so argumentieren AfD-Sprecher – sei ganz einfach krank. In diesem Sinne argumentiert beispielsweise die deutschstämmige dänische Autorin Janne Teller, die deutsche Vorfahren hat. »Das unsichtbare Gewicht fehlgelaufener Geschichte«, so Janne Teller (2016, S. 13), habe »das moderne Deutschland und die Menschen dort« tief geprägt und »dieses besondere deutsche Schuldgefühl samt dem zugehörigen Bedürfnis nach Sühne nicht bloß in der nationalen Identität […], sondern in jedem einzelnen Aspekt des alltäglichen Lebens in Deutschland verwurzelt«. Voller Anerkennung schildert die dänische Autorin die »Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, geschichtliche Verantwortung zu übernehmen«, und hebt dies von vielen anderen Nationen positiv ab. »Keine andere Nation empfindet solche Scham über vergangene Untaten.« »Jede neue Generation scheint sich abermals die Frage stellen zu müssen: Wie gehen wir mit dieser historischen Schuld um?« 184

Deutsche »Willkommenskultur«

Die deutsche Bereitschaft, sich mit der eigenen Vergangenheit selbstkritisch auseinanderzusetzen, erscheint Teller aber sogar »zu viel«. Sie vermeidet allerdings den Begriff »Schuldkomplex«. Stattdessen fragt sie sich, »wozu denn all diese fortgesetzte Schuld, Sühne und Rechenschaft gut ist«, und kommt zu dem Ergebnis, dass es eben dieses Schuldgefühl sei, das die Deutschen zu ihrer außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft in der Flüchtlingskrise motiviert habe. Die sozialpsychoanalytische Argumentation, die ich hier entwickelt habe, zielt zwar auch darauf ab, dass die jahrzehntelange Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit ein psychokulturelles Klima geschaffen hat, in dem ein besonders intensives Engagement in der Friedensbewegung, der Frauenbewegung, der Ökologiebewegung, der Anti-Atomkraftbewegung und jetzt auch in der sozialen Bewegung für die Integration der Flüchtlinge möglich wurde. Dieses Engagement resultiert jedoch nicht direkt und nicht allein aus Schuld- und Schamgefühlen. Gefühle von Schuld und Scham, von Reue und dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung spielen in diesem Prozess zwar eine Rolle, sind aber bearbeitet, integriert und dadurch auf eine reifere Stufe der seelischen Entwicklung gehoben. Bei Scham und Schuld handelt es sich zwar um notwendige, aber doch um negative Affekte, die durch Strafangst und Angst vor Beschämung gekennzeichnet sind und mit einer Herabsetzung des Selbstgefühls einhergehen. Die »Fähigkeit zur Besorgnis« zeichnet sich hingegen durch seelische und soziale Reife aus. Winnicott schreibt dazu: »Das Wort ›Besorgnis‹ (concern) wird verwendet, um auf positive Weise ein Phänomen zu bezeichnen, dass auf negative Weise durch das Wort ›Schuldgefühl‹ (guilt) bezeichnet wird. […] Besorgnis setzt weitere Integration und weiteres Wachstum voraus; sie steht positiv in Beziehung zum Verantwortungsgefühl des Individuums […]. Besorgnis bezeichnet den Umstand, daß das Individuum sich um etwas bekümmert, […] daß es Verantwortung fühlt und übernimmt« (Winnicott, 2001 [1963], S. 93).

Die Menschen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren, handeln mehrheitlich nicht aus einem pathologischen Schuldkomplex, sie agieren nicht ein durch unbewältigte Scham- und Schuldgefühle gesteuertes Helfersyndrom aus, vielmehr haben sie vor dem Hintergrund der langjährigen Auseinandersetzung mit Fremdenhass, Rassenwahn, Gewalt und Kriegshetze 185

5 Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur« …

in der eigenen Geschichte eine erhöhte Sensibilität für Unrecht und eine fürsorgliche Empathie für notleidende, verfolgte und gedemütigte Menschen entwickelt, die sie kollektiv in die Lage versetzt haben, sowohl eine »Streitkultur« als auch eine »Erinnerungskultur«, aber eben auch eine »Willkommenskultur« zu entwickeln.

Wie geht es mir mit meinem eigenen Text? Die Hauptthese, die ich in diesem Kapitel vertrete, beschäftigt mich schon seit Tschernobyl, also seit 1986. Ich habe meinen damaligen Text mehrfach fortgeschrieben, aktualisiert und ergänzt, sobald wieder ein neues Ereignis auftrat, das meine These bestätigt hat. Ich bin also davon überzeugt, dass sie im Kern zutrifft. Trotzdem frage ich mich, wie es mir mit meinem eigenen Text geht. Ist er selbstgerecht? Oberlehrerhaft? Bin ich gar stolz darauf, Deutscher zu sein, weil wir unsere Vergangenheit so gut bewältigt haben? Eigentlich habe ich als Deutscher und speziell als Angehöriger einer Generation, die von den Jugend- und Protestbewegungen der 1960er Jahre, von der 68er-Studentenbewegung und von den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre geprägt wurde, ein Problem damit, stolz auf die deutsche Nation zu sein. Der Missbrauch des Patriotismus durch die Nazi-Ideologie vom Herrenmenschen hat die Idee des Nationalstolzes für die Deutschen auf Dauer vergiftet. Zudem haben die Rechten die Parole »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« für sich gepachtet. Hinzukommt, dass Stolz im Zusammenhang mit dieser Thematik eine falsche Kategorie, ein unpassendes Gefühl ist. Die Vorstellung, »Vergangenheitsbewältigungs-Weltmeister« zu sein, ist in sich widersprüchlich. Man kann nicht stolz darauf sein, dass die Deutschen die schreckliche Vergangenheit so gut bearbeitet haben, ohne an die Verbrechen zu denken, die der Grund dafür sind, dass eine solch intensive Form der Vergangenheitsbearbeitung überhaupt notwendig ist. Grundsätzlich besteht immer die Möglichkeit, dass psychologische Theorien zu Zwecken der ideologischen Rechtfertigung oder der psychischen Stabilisierung – psychoanalytisch gesprochen: zu Abwehrzwecken – missbraucht werden. Besonders naheliegend ist in diesem Fall die Gefahr der Selbstgerechtigkeit, der Überheblichkeit und der Oberlehrerhaftigkeit. Die Deutschen müssen die Gefahr, dass sie selbstgerecht und überheblich und von anderen als moralisierend wahrgenommen werden, sehen und sie 186

Politische Konsequenzen

ernstnehmen. Diese mögliche Entgleisung bzw. der Missbrauch des Vergangenheitsdiskurses muss beachtet werden, kann aber kein Argument sein, diesen Diskurs nicht zu führen und nicht über ihn nachzudenken. Es wäre sicherlich weniger konfliktbehaftet, wenn ein Nicht-Deutscher oder eine Nicht-Deutsche den Deutschen eine relativ gut gelungene Vergangenheitsbearbeitung attestieren würde. Er würde sich nicht dem Verdacht aussetzen, in eigener Sache zu reden. Allerdings muss der Wahrheitsgehalt einer psychologischen Theorie zunächst unabhängig davon geprüft werden, wer sie aufgestellt hat. Erst wenn man die Fehler einer Theorie nachgewiesen hat, kann der zweite Schritt der Ideologiekritik darin bestehen, die bewussten oder unbewussten Interessen zu erkunden, die zu der Fehleinschätzung geführt haben. Ich verstehe meine Interpretation nicht als beruhigende Selbstvergewisserung »für uns Deutsche«, dass wir die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung zufriedenstellend erledigt hätten, sondern als Erkenntnis, dass die Beschäftigung mit der unheilvollen Vergangenheit erstens auch in Zukunft weiter bestehen bleiben wird und dass diese Aufgabe zweitens nicht nur eine schwere Last ist, sondern auch zu einer zunehmenden Sensibilisierung für andere Fragen und Probleme führen kann und eine Bereicherung der Weltsicht darstellt. Der jahrelange Prozess kollektiver Selbstaufklärung verläuft nach ähnlichen Mustern und mit vergleichbaren Folgen wie ein individueller psychoanalytischer Psychotherapieprozess. Hier wie dort ist zwar psychisch stark belastende »Arbeit« (Trauerarbeit, Beziehungsarbeit, Selbstkritik, Selbstreflexion) notwendig, diese führt aber zu einer größeren inneren Freiheit und zu einem Mehr an psychischer Produktivität und kultureller Kreativität.

Politische Konsequenzen Was folgt aus den bisherigen Überlegungen für die kollektive Identität der Deutschen, für die deutsche Politik und für die Rolle, die Deutschland in Europa spielen kann und sollte? Auf kollektiver Ebene hat sich in Deutschland eine historisch völlig neue Form der »Erinnerungskultur« und der kollektiven Identitätsbildung entwickelt. Traditionelle Formen kollektiver Identität beruhen – um mit dem Psychoanalytiker und Konfliktforscher Vamik Volkan (1999) zu sprechen – auf der Glorifizierung nationaler Ruhmestaten oder der Mythenbildungen 187

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über heldenhaftes Opfer- und Märtyrertum. Der Versuch, die Untaten des eigenen Volkes als Realität anzuerkennen, im Bewusstsein zu halten, zu betrauern und in die gegenwärtige kollektive Identität zu integrieren, ist ein anspruchsvoller psychosozialer Prozess (Haubl & Wirth, 2019). Konservative Politikerinnen und Politiker sowie Kommentator*innen haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder das mangelnde Nationalbewusstsein der Deutschen beklagt. Auch wenn sie durchaus dafür waren, die NS-Zeit aufzuarbeiten, empfanden sie doch die Intensität und den Umfang, in dem dies geschah, als übertrieben und als Gefahr für das Selbstbewusstsein der Deutschen als Nation. So fühlten sich manche von einem »verklemmten deutschen Selbsthaß« – so der Schriftsteller Botho Strauß (1993) in einem SPIEGEL-Essay – gedemütigt oder von Martin Walsers »Moralkeule Auschwitz« niedergeknüppelt. Zudem mache es der Mangel an Nationalstolz deutschen Politikerinnen und Politikern schwer, sich in der Europäischen Union, aber auch auf der Bühne der Weltpolitik, das Gehör zu verschaffen, das der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Bedeutung Deutschlands angemessen wäre. Aber stellt nicht umgekehrt gerade das selbstkritisch gebrochene Nationalgefühl – von dem auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum 9. November 2018 sprach – eine Stärke Deutschlands dar, die für seinen Einfluss in der Europäischen Union eine gute Ausgangsbasis bildet? Europa leidet ja nicht an einem Mangel an nationalem Selbstbehauptungswillen, sondern ganz im Gegenteil an einem Zuviel an nationalen Egoismen und einem Zuwenig an europäischer Identität, wie das im Umgang mit der »Flüchtlingskrise« wieder besonders deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Der Historiker Herfried Münkler charakterisiert die Rolle Deutschlands in Europa als »Macht in der Mitte« (2015a). Durch die Osterweiterung der EU liegt Deutschland geografisch nun tatsächlich in der Mitte Europas. Als erfolgreichste Wirtschaftsmacht in Europa und aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Schwäche Frankreichs und Italiens und nach dem Brexit kommt Deutschland eine Führungsrolle in der EU zu. Deutschland ist unter der Kanzlerschaft Angela Merkels mehr und mehr in diese Führungsrolle hineingeschubst worden, aber auch in sie hineingewachsen. Nicht von allen europäischen Partnern wird dies ambivalenzfrei für gut befunden. So tauchten beispielsweise in Griechenland als Reaktion auf die harten Verhandlungen über eine Lösung der griechischen Finanzkrise herbe antideutsche Ressentiments auf. Angela Merkel wurde auf Pla188

Politische Konsequenzen

katen mit Hitlerbärtchen dargestellt. Man kann aber wohl die Behauptung wagen, dass ohne die jahrzehntelange selbstkritische Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit die Vorbehalte gegen Deutschlands Führungsrolle in der EU noch sehr viel größer wären, als das jetzt der Fall ist. Münkler (ebd., S.  176) sieht in der »historischen Verwundbarkeit Deutschlands  […] kein Handicap, sondern eine Voraussetzung für die Akzeptanz einer deutschen Führungsrolle in Europa.« Die »spezifisch deutsche Verwundbarkeit« (ebd.), die in der deutschen Vergangenheit begründet ist, macht es für die anderen europäischen Staaten überhaupt erst akzeptabel, dass Deutschland eine Führungsrolle in der EU übernimmt: »Auf einen politisch unverwundbaren Akteur als europäische Zentralmacht hätten sich die anderen Mitgliedstaaten vermutlich sehr viel weniger eingelassen, weil sie dann befürchtet hätten, in eine ›Hegemonie ohne Ausgang‹ hineinzugeraten. Es ist die verwundbare und in ihrer eigenen Selbstwahrnehmung auch tatsächlich verwundete Macht, die in Europa mit den Aufgaben einer Macht in der Mitte betraut werden konnte, ohne dass sich sogleich, wie man das sonst aus der europäischen Geschichte kennt, antihegemoniale Koalitionen gegen sie gebildet hätten, die ihre Stellung zu untergraben suchten und ihr Handeln bei jeder sich bietenden Gelegenheit konterkarierten. Auch und gerade in Anbetracht der europäischen Geschichte wollen die Mitgliedsländer der Europäischen Union nur einen verwundbaren Hegemon akzeptieren, einen, den sie notfalls bremsen zu können glauben. Und ein Hegemon, der um seine Verwundbarkeit weiß und sie auf Schritt und Tritt spürt, wird in der Regel auch nicht als Hegemon auftreten« (ebd., S. 177).

Die traumatischen Erfahrungen, die Deutschland im »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm, 1995 [1994]) gesammelt, und die, die es mit der psychokulturellen und psychopolitischen Bearbeitung dieser traumatischen Erfahrungen gemacht hat, stellen sozialpsychologisch betrachtet eine gute Ausgangsbasis dar, um sich für die Integration Europas engagiert und glaubwürdig einzusetzen. Eine besondere Sensibilität, die auch immer mit einer besonderen Vulnerabilität einhergeht, eine Empfänglichkeit für existenzielle Gefährdungen, wie sie die Atomkraft, die Rüstungsspirale, der Klimawandel, die generelle Gefährdung der Umwelt und die »Flüchtlingskrise« darstellen, zu entwickeln, könnte ein Beitrag dazu sein, der Idee einer stärkeren Integration Europas wieder mehr emotionale, moralische und intellektuelle Substanz und Anziehungskraft zu verleihen. 189

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

»Kalte« und »heiße« Kulturen Der Ethnologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat in den 1960er  Jahren die Unterscheidung zwischen »kalten« und »heißen« Kulturen getroffen. Sie wurde vielfach aufgegriffen, u. a. von dem Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim (1982a, 1982b) und dem Ägyptologen Jan Assmann (2018). In »kalten« Kulturen spielt die Tradition die zentrale Rolle. Es existiert nur ein Gesellschaftscharakter, der unverändert von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Diese Gesellschaften ändern sich im Lauf der Geschichte nur wenig. »Kalte« Gesellschaften haben kulturelle Praktiken institutionalisiert, die »dem Eindringen der Geschichte Widerstand leisten« (ebd., S. 120), die also geschichtlichen Wandel verhindern oder zumindest ausbremsen wollen. Gesellschaften müssen nicht in Gänze »kalt« oder »heiß« sein (ebd., S. 121). Vielmehr können »kalte« und »heiße« Subsysteme existieren, sowie Perioden mit mehr oder weniger Entwicklung und Veränderung. Erdheim (1982a) spricht in diesem Zusammenhang von »heißen Quellen« (ebd., S. 290) und »Kühlsystemen« (ebd.), mit denen gesellschaftliche Veränderungen dynamisiert oder aber abgebremst werden. Initiationsriten stellen ein zentrales Instrument dar, um den »kulturtypischen Ablauf der Adoleszenz« (ebd.) und damit den gesellschaftlichen Erneuerungsprozess zu steuern. In »kalten« Gesellschaften herrscht ein Typus der Adoleszenz vor, der mit rigiden Initiationsriten die psychischen Strukturen der Jugendlichen auf den herrschenden Gesellschaftscharakter »einfriert«. Erdheim (ebd., S. 284ff.) spricht deshalb von der »eingefrorenen Adoleszenz« als einem charakteristischen Kennzeichen »kalter« Gesellschaften. »Heiße« Kulturen sind hingegen durch einen stetigen und raschen 191

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

Wandel gekennzeichnet. Dies benötigt psychische Strukturen, die flexibel sind, um sich neuen Gegebenheiten problemlos anpassen oder auch die Veränderung voranzutreiben. Die Adoleszenz verlängert sich in Richtung zweier Seiten: Zum einen wird die Kindheit verkürzt, zum anderen dehnt sich die Adoleszenz bis ins frühe Erwachsenenalter aus, sodass man heute von der »Postadoleszenz« spricht, die bis ins dritte Lebensjahrzehnt reichen kann. Rigide Initiationsriten verlieren an Bedeutung, da sowohl die individuellen Persönlichkeitsstrukturen als auch der Gesellschaftscharakter sich durch ein hohes Maß an Flexibilität auszeichnen und auch auszeichnen sollen. Die Phase der Adoleszenz wird für Individuum und die gesamte Gesellschaft zu einem Experimentierfeld, in dem neue Lebensstile und Verhaltensweisen, neue Formen der Partnerbeziehung, der sexuellen Identitätsfindung und der Berufsbiografien erprobt werden können. Die Jugend wird zum Vorreiter gesellschaftlichen Wandels, indem sie neue Identitätsentwürfe durchlebt und durchleidet (Wirth, 1984). Diese neuen Lebenskonzepte und die damit einhergehenden Krisen und Konflikte werden dann einige Zeit später gesellschaftliches Allgemeingut und fließen in den dominierenden Gesellschaftscharakter ein. Extreme Beispiele für »kalte« Kulturen sind Indigene im Amazonasgebiet, die versuchen, sich den Einflüssen der Moderne weitgehend zu entziehen. Extreme Beispiele für »heiße« Kulturen sind die USA und Europa. »Als eine ›heiße‹ Periode der westlichen Gesellschaft kann die Moderne gelten, die in der westlichen Welt im späten 18. Jahrhundert […] einsetzte und ganz im Zeichen des Fortschritts, das heißt der ›Modernisierung‹, stand« (Assmann, 2018, S. 121). Viele Kulturen beispielsweise in Asien, Ost-Europa und im arabischen Raum liegen irgendwo dazwischen. Globalisierung und Digitalisierung führen unweigerlich dazu, dass sie sich in Teilen dynamisieren und zu »heißen« Kulturen werden. Dies trifft zumindest auf spezielle Gruppen und gesellschaftliche Subsysteme zu. Andere Teile bleiben jedoch »kalt« bzw. relativ »kühl«. Notwendigerweise kommt es zu starken Spannungen in diesen Gesellschaften, die dadurch gelöst, – mit Erdheim könnte man sagen – »eingefroren« werden, indem die gesamte Gesellschaft, d. h. auch die an sich »heißen« und dynamisierten Bevölkerungsgruppen auf die kulturelle Tradition, Religion und nationalistische Ideologien eingeschworen werden. Diese Elemente aus der traditionalen »kalten« Kultur sind sozusagen die Garanten dafür, dass die internen Spannungen zwischen den »heißen«, dynamisierten Bevölkerungsgruppen und den »kalten«, traditionsorientierten Gruppen nicht explodieren. 192

»Kalte« und »heiße« Kulturen

Ein anderes instruktives Beispiel ist die DDR: Sie war in gewisser Weise eine relativ »kühle« Gesellschaft, die versucht hat, sich dem sozialen Wandel, der weltweit durch die Globalisierung in Gang gesetzt wurde, zu entziehen. Allerdings konnten die DDR und alle Gesellschaften des real existierenden Sozialismus letztlich nicht verhindern, dass die »Hitze« des ökonomischen und eben auch des sozialpsychologischen Wandels, der die westlichen Industrienationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs mit zunehmender Beschleunigung erfasste, auch auf ihre Bevölkerungen übergriff. Es ist kein Zufall, dass die jugendkulturell geprägte Beat-, Rock- und PopMusik dabei als Medium eine zentrale Übermittlerrolle spielte. Ein weiteres Beispiel für eine »heiße Option« im Umgang mit der Vergangenheit stellt Alexander Gaulands »Vogelschiss-Rede« dar. Mit seinem Plädoyer, die zwölf Jahre der NS-Herrschaft als einen »Vogelschiss« im Vergleich zu den »tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« zu betrachten, hat er eine »kalte« Option gewählt, deren Ziel es ist, die tausendjährige Geschichte zu zementieren und eine Neubewertung von Vergangenheit zu unterbinden. Damit hat Gauland jedoch »wider Willen noch einmal deutlich gemacht, wie entscheidend und in einer gar nicht mehr wegzudenkenden Weise die auf NS-Zeit und Holocaust basierende deutsche Erinnerungskultur zum Kern des Selbst- und Fremdbilds der Bundesrepublik geworden ist, so dass eine ›Alternative‹, die das Rad zurückdrehen und zu geschichtsloser tausendjähriger Größe zurückkehren will, mit Deutschland nichts mehr zu tun hat und sich in ein gesellschaftliches Abseits stellt. Wir leben in einer ›heißen‹ Gesellschaft,  […] die die verabscheuungswürdigste Periode ihrer Geschichte verinnerlicht hat, um sie, ganz im Sinne von Lévi-Strauss’ Definition, ›zum Motor ihrer Entwicklung zu machen‹ und deren Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren. Dieses Ziel speist sich aus der Erinnerung an eine geschichtliche Periode, in der im Interesse eines militanten Nationalismus die Menschenrechte und mit ihnen Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit in einer bis dahin unbekannten und nie für möglich gehaltenen Weise mit Füßen getreten wurden. Einen solchen Schritt, anstelle einer besonders glorreichen Epoche der Vergangenheit oder auch einer besonderen Leidensgeschichte (wie im Fall von Israel) eine allgemein negativ konnotierte Periode zum Kernstück nationaler Geschichtspolitik zu machen, hat es in der Geschichte bis dahin noch nicht gegeben, ebenso wenig wie es Verbrechen dieses Ausmaßes bislang gegeben hatte« (Assmann, 2018, S. 122).

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

So grob die Unterscheidung zwischen »kalten« und »warmen« Kulturen auf den ersten Blick erscheinen mag, so sehr hat sie einen intuitiven Erklärungswert und liefert Anhaltspunkte für eine erste Sondierung des Themas. In den folgenden Abschnitten mache ich einen Sprung in die Empirie und werde untersuchen, ob sich mit ihrer Hilfe die Frage nach den sozialpsychologischen Hintergründen zentraler gesellschaftspolitischer Polarisierungen, die sich im Rechtspopulismus ausdrücken, weiter erhellen lässt. Dazu werde ich zwei soziokulturelle Milieus, die sich im gesellschaftspolitischen Diskurs polarisiert gegenüberstehen, miteinander vergleichen: die Anhängerschaft der AfD und der Grünen.

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen In der Parteienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland nehmen die AfD und die Grünen extreme Gegenpositionen ein. Dies kommt beispielsweise dadurch zum Ausdruck, dass niemand die antisemitischen, fremdenfeindlichen, autoritären und rechtsextremistischen Äußerungen und Haltungen der AfD so entschieden ablehnt wie die Wählerschaft von Bündnis 90/Die Grünen. Umgekehrt sehen die Leitungsfiguren der AfD ihre Hauptgegnerschaft in den Grünen und ihren politischen Programmen, ihren lebensweltlichen Wertorientierungen und in den von ihnen propagierten und praktizierten Lebensstilen. Da sich die AfD mit allen Parteien anlegt und umgekehrt auch alle Parteien die Programmatik, den Politikstil und vor allem die Verankerung der AfD im rechtsextremen, antisemitischen und fremdenfeindlichen Milieu mehr oder weniger vehement ablehnen, kann leicht übersehen werden, dass die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen der AfD und den Grünen ausgetragen wird. Hier prallen zwei entgegengesetzte soziale Milieus mit ihren jeweils spezifischen Wertesystemen, Lebensauffassungen, Lebensstilen, Welt-, Geschichts- und Menschenbildern aufeinander. Diese Entgegensetzung zeichnet sich in den Parteiprogrammen, im Schlagabtausch zwischen den Repräsentant*innen und im öffentlichen Diskurs über die beiden Parteien ab. Dass auch die Wählerschaften der beiden Parteien wenig Gemeinsamkeiten haben, zeigt sich in den Wahlanalysen der Wählerwanderung. Bei der Bundestagswahl 2017 fand eine erhebliche Verschiebung zwischen den Par194

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teien statt, die der AfD den Einzug in den Bundestag bescherte. Die AfD verzeichnete die meisten Stimmengewinne aus der Gruppe der Nichtwähler und Nichtwählerinnen, konnte aber auch von den anderen Parteien ganz erhebliche Stimmengewinne verbuchen. Die geringste Wählerwanderung fand von den Grünen zur AfD statt (ARD, 2017; Infratest dimap, 2017; Statista, 2020b). Das soziale Milieu, aus dem sich die grüne Wählerschaft rekrutiert, ist für die populistischen Lockrufe der AfD offenbar nur wenig empfänglich. Im Folgenden werde ich die Daten und statistischen Analysen interpretieren, die einer repräsentativen Befragung der deutschsprachigen Wohnbevölkerung zum körperlichen und geistigen Wohlbefinden (Projektleitung: Elmar Brähler und Jörg M. Fegert) entstammen und in dem Artikel »Die Parteien und das Wählerherz« (Yendell et al., 2020) dargestellt wurden. »Dabei handelt es sich um eine Befragung von zufällig ausgewählten deutschsprachigen Personen ab 14  Jahren, die im Zeitraum von November  2017 bis Februar 2018 durchgeführt wurde« (ebd., S. 345). Der Datensatz umfasst die Angaben von 2.531 Personen. Bei den Interviews wurden verschiedene Fragebögen zu rechtsextremen Einstellungen, Autoritarismus, Narzissmus und Wahlpräferenz benutzt. Die Fragestellung, die ich bearbeitet habe, beinhaltet einen Vergleich von Anhängern der Grünen mit denen der AfD.1 Parteipräferenz und Nettoeinkommen

Wie aus Abbildung 6 hervorgeht, haben »über ein Drittel der Wähler (39 %), die zur Wahl gehen wollen, aber sich noch nicht für eine Partei entschieden haben, ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000  Euro« (ebd., S. 346). »Etwa genauso so groß ist der Anteil unter denjenigen, die noch nicht wissen, ob sie zur Wahl gehen (Unentschlossene und Nichtwähler*innen) (jeweils ca. 36 %)« (ebd.). Die Anhängerschaft der AfD liegt im Mittelfeld. Etwa 24 % der AfD-Wählerschaft hat ein Nettoeinkommen unter 1.000 Euro. »Die Gruppe ist unter den Wähler*innen der Grünen mit einem Anteil von knapp 22 % am kleinsten« (ebd.). Die Differenz zwischen den beiden Gruppen ist aber nicht auffallend groß. Diese Ergebnisse bestätigen Zweifel an der gelegentlich vertretenen These, dass sich die Wählerschaft der AfD aus den ökonomischen Modernisierungsverliererinnen und -verlierern rekrutiert. 1 Alle Grafiken sind dem Artikel von Yendell et al. (2020) entnommen. Ich danke den Autor*innen für die freundliche Genehmigung.

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Abbildung 6: Parteipräferenz und Nettoeinkommen (unter 1.000 Euro) (Yendell et al., 2020, S. 346)

»Betrachtet man die Wähler*innen, die über ein Nettoeinkommen von mehr als 2.500 Euro verfügen […], stellt sich heraus, dass diese Gruppe unter […] den Wähler*innen der Grünen vergleichsweise groß ist (16 %)« (ebd.), nur noch übertroffen von den der FDP mit knapp 20 %. Auch hier liegt die Wählerschaft der AfD im Mittelfeld. Knapp 11 % verfügt über ein Nettoeinkommen von mehr als 2.500 Euro (Abbildung 7).

Abbildung 7: Parteipräferenz und Nettoeinkommen (über 2.500 Euro) (Yendell et al., 2020, S. 347)

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

Insgesamt bestätigen diese Ergebnisse die Vermutung, dass die Grünen eher zu den ökonomischen Modernisierungsgewinnern zählen, während sich bei der Wählerschaft der AfD in dieser Hinsicht kein prägnantes Bild ergibt. Parteipräferenz und Arbeitslosigkeit

Hinsichtlich der Arbeitslosigkeit nimmt die Wählerschaft von AfD und Grünen polarisierte Positionen ein (Abbildung 8). Die Anhänger und Anhängerinnen der AfD befinden sich – zumindest zum Teil – in einer prekären ökonomischen Situation. Bei ihnen liegt die Arbeitslosigkeit bei 9,6 % und ist damit sogar höher als bei den Nichtwählerinnen und Nichtwählern und den Unentschlossenen, die ansonsten bei verschiedenen Fragestellungen ihren prekären gesellschaftlichen Status erkennen lassen. Man kann von daher vermuten, dass sich zumindest ein Teil der AfD-Wähler als Opfer einer ökonomischen Entwicklung verstehen, von der sie sich benachteiligt fühlen.

Abbildung 8: Parteipräferenz und Arbeitslosigkeit (Yendell et al., 2020, S. 347)

Die Wählerinnen und Wähler der Grünen befinden sich hinsichtlich der Arbeitslosigkeit am entgegengesetzten Pol: Nur 1,8 % sind arbeitslos. Sie sind Teil der neuen Mittelschicht, die von den expandierenden wirtschaftlichen Feldern der Digitalwirtschaft, der High-Tech-Industrie der Wissensökonomie 197

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und der Dienstleistungen besonders profitiert. Die Grünen repräsentieren die ökonomischen Akteure der Transformation von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Ökonomie, die wesentlich auf Wissen, Digitalisierung, Globalisierung, Vernetzung, Kreativität, komplexen Dienstleistungen und ständiger technischer und kultureller Innovation beruht. Parteipräferenz und Konfession

Der Bevölkerungsanteil, der einer der beiden großen christlichen Konfessionen angehört, ist bei der Wählerschaft der CDU/CSU mit 79,4 % am höchsten, gefolgt von SPD mit 76,8 % und Grüne 71,4 %. Auffallend ist, dass die Wählerschaft von Die Linke nur zu 44,6 % und die der AfD nur zu 51,2 % konfessionell gebunden sind. Der Anteil der Konfessionslosen ist bei der AfD mit 42,2 % fast doppelt so groß wie bei den Grünen mit 22,2 % (Abbildung 9).

Abbildung 9: Parteipräferenz und Konfession (Yendell et al., 2020, S. 350)

Dieser Befund ist überraschend. Er erklärt sich zu einem Teil damit, dass die Anhängerschaft der AfD in den neuen Bundesländern sehr viel stärker vertreten ist. Die Konfessionsbindung war schon vor der Wende 198

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schwach, machte aber auch danach noch einen weiteren Bedeutungsverlust durch. Wie das Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Universität Münster in seinen umfangreichen Studien konstatiert, mussten die Kirchen in den neuen Bundesländern nach der Wende einen erheblichen »Vertrauensund Reputationsverlust« hinnehmen, der darin begründet zu sein scheint, »dass die Kirchen, die vor 1989 Anwalt der politischen und sozialen Interessen des Volkes waren, mit einem Schlag auf der Gegenseite zu stehen kamen. Mit dem nach 1989 einsetzenden Institutionentransfer von West nach Ost wurde die Kirche trotz ihrer teilweise harschen Kritik an den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, die man außerhalb der Kirche offenbar kaum zur Kenntnis nahm, auf einmal als eine westliche Institution und damit als eine Art Siegerinstitution wahrgenommen, nicht mehr jedoch als Vertreterin der Interessen der Bevölkerung. Während alle Institutionen und Organisationen der DDR untergingen, gewannen die ostdeutschen Kirchen an Bedeutung. […] Die massive öffentliche Präsenz der Kirchen in der ersten Zeit nach der Wende sowie ihre durch westliche Unterstützung gesicherte finanzielle Potenz dürften den Kirchen so insgesamt eher geschadet als genützt haben. Durch ihre öffentliche Sichtbarkeit, ihre wirtschaftliche Kraft und die ihnen plötzlich zugewachsene politische Autorität erhielten die Kirchen in der Wahrnehmung der Bevölkerung eine Staatsnähe, die sie den Menschen entfremdete. So paradox es klingen mag: Gerade die evangelische Kirche Ostdeutschlands, die die Nähe zum Volk gesucht hatte und dem Staat so kritisch gegenübergestanden hatte wie keine andere Kirche in der deutschen Geschichte zuvor, wurde nun wieder als Herrschaftskirche und nicht als Kirche des Volkes wahrgenommen. So verlor sie all jene Sympathien, die sie sich vorher durch ihr unangepasstes Verhalten erworben hatte« (Pollack & Rosta, 2022, S. 322).

Man kann aus dieser religionssoziologischen Einschätzung schlussfolgern, dass die vergleichsweise geringe konfessionelle Bindung von großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung ebenso wie eines Großteils der AfD-Wählerschaft auf den gleichen sozialpsychologischen Umstand zurückgeführt werden kann, nämlich auf das Ressentiment gegen die Kirchen als etablierte, angesehene und staatstragende Institutionen der Gesellschaft. Auch die populistische Bewegung »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) dürfte nicht von einer positiven Bin199

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dung an die christlichen Religionsgemeinschaften getragen, sondern vom Ressentiment gegen den Islam bestimmt sein. Gesellschaftliche und sozialpsychologische Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland

Die beschriebenen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse hat Reckwitz (2019a) unter dem Stichwort »Singularitäten« beschrieben. Er benennt mit diesem Begriff das zentrale Merkmal, das den tiefgreifenden Strukturwandel von der industriellen Moderne zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft charakterisiert. Die Industriegesellschaft ist charakterisiert durch »technische, kognitive und normative Rationalisierung« (ebd., S. 34f.), »Formalisierung« (ebd.) und eine »soziale Logik des Allgemeinen« (ebd., S. 37). Das gesellschaftliche Ziel ist »eine effiziente Ordnung und die Eliminierung des Überflüssigen. Die Modellsubjekte einer solchen technizistischen Gesellschaft sind der Techniker und der Ingenieur« (ebd., S. 43). Das Persönlichkeitsideal ist die »sozial angepasste Persönlichkeit« (ebd., S. 38) – und es ist männlich. Die postindustrielle Dienstleistungs-, Wissens- und Konsumgesellschaft zeichnet sich hingegen durch »postmaterialistische Orientierungen« (ebd., S. 104), die Entwicklung von »Humankapital« (ebd., S. 215) und eine soziale Logik des Besonderen, des Singulären, aus. Das gesellschaftliche Ziel ist die »Fabrikation von kulturellen Einzigartigkeiten« (ebd., S. 105), die »positive Affizierung« (ebd., S. 121) und Lebensqualität versprechen. Das Persönlichkeitsideal ist das authentische, sich selbst verwirklichende Subjekt, das an seinem »unverwechselbaren Profil« (ebd., S. 107), also an seiner Singularität, arbeitet, um sich auf den »Attraktivitätsmärkten« (ebd.) zu behaupten. Dieses Persönlichkeitsideal bietet sowohl Männern als auch Frauen Entfaltungsmöglichkeiten. In der DDR bestanden gänzlich andere soziale Strukturen, und sowohl die ökonomische als auch die sozialpsychologische Entwicklung nahm einen anderen Verlauf. In der Aufbauphase der DDR entwickelten die politischen Machthaber gezielt ein »sozialistisches Establishment«, das aus »loyalen, staats- und parteitreuen Personen« (Hofmann, 2020) bestand. Dieses verlieh dem sozialistischen System eine hohe Stabilität, legte sich »in den späten Jahren der DDR [jedoch, H.-J. W.] wie eine Bleiplatte über die traditionellen Lebenswelten« (ebd.). 200

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

Doch obwohl sich die Führung der DDR alle Mühe gab, die Bevölkerung und insbesondere die Jugend vor den »zersetzenden« Einflüssen aus dem Westen zu schützen, nahm die Bevölkerung regen Anteil an der Entstehung von neuen Konsumgewohnheiten, sich auflockernden Lebensstilen und Umgangsformen sowie der Musik, die diese »Lockerungsübungen« begleitete oder auch zuallererst in Gang setzte. Bereits Anfang der 1960er Jahre drang die »Beat-Musik«, von London ausgehend, auch bis in die Ohren der DDR-Jugend und setzte ihre Körper und ihren Affekthaushalt in Bewegung. Alle offiziellen Verbote, West-Medien zu hören und zu sehen, konnten letztlich nicht verhindern, dass die Bevölkerung der DDR indirekt an allen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen im Westen beobachtend, mitfühlend, sich identifizierend, aber auch sich davon distanzierend teilnahm. Die Ost-Berliner Psychoanalytikerin Annette Simon (2000) beschreibt die damalige Zeit aus ihrer Erinnerung: »Die Achtundsechziger der DDR sind genau wie ihre Schwestern und Brüder im Westen geprägt von der Musik dieser Zeit und dem Lebensgefühl, das sie transportierte. Auch die antiautoritären Gedanken und Haltungen schwappten in jeder Weise über die Grenze – über die Medien aller Art« (ebd., S. 9).

Die Autorin weist aber auch auf die Unterschiede zwischen Ost und West hin: »Die Achtundsechziger der DDR hatten es viel schwerer, sich dem lustvollen Strom der Rebellion euphorisch zu überlassen. Ihnen stand eine ganz andere autoritäre Staatsgewalt gegenüber« (ebd., S. 10). Die offiziellen Kommentierungen der neuen Jugendkultur waren teils abwertend und diffamierend, teils säuerlich-verklemmt. So legte die politische Führung der DDR generell größten Wert auf »die Anwendung minutiöser Sprachregelungen« (Mrozek, 2019, S. 565). Die Sprache war »hoch politisiert« (ebd.). Entsprechend empfindlich und scharf reagierten die Verantwortlichen auf die »Internationalisierung der Jugendsprache« (ebd., S. 566), die zusammen mit der Beat-, Rock- und Pop-Musik und der Entfaltung einer jugendspezifischen Kultur auch von den Jugendlichen in der DDR mit Begeisterung aufgenommen wurde. Internationale »jugendsprachliche Neologismen [wurden] in der DDR-Tagespresse als ›Sprache der Faschisten‹ diffamiert« (ebd., S.  566). »Dieser Rigorismus«, mit dem die witzige, spielerische und kreative Jugendsprache entwertet und 201

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bekämpft wurde, »war kein ostdeutsches Spezifikum« (ebd.), sondern fand sich auch im Westen. Dort spielte sich der Konflikt hauptsächlich als Auseinandersetzung zwischen den Generationen ab, im Osten handelte es sich vor allem auch um eine politische Konfrontation. Das komplette Unverständnis der ostdeutschen Führungskader für diese neuen Lebensbedürfnisse, die mit politischen Einstellungen zunächst nichts zu tun hatten, führte bei Teilen der Bevölkerung, vor allem bei den Jüngeren, zu einer von Skepsis geprägten Einstellung gegenüber dem politischen System und zum emotionalen Rückzug in die »Nischen«, die als Rückzugsorte kultureller Selbstbestimmung fungierten (Reis, 2018). »Dennoch entwickelten sich seit den 1970er Jahren auch in der DDR moderne Lebenswelten. Im Gefolge der wachsenden internationalen Anerkennung, des Empfangs westdeutscher Massenmedien und der Honeckerschen Sozialpolitik erhielt die DDR trotz aller Einschränkungen Anschluss an den Massenkonsum, den – freilich auf ›Bruderstaaten‹ beschränkten – Massentourismus und an die westliche Massen- und Musikkultur. Wer in dieser Zeit sozialisiert worden ist, konnte auch in der DDR an der Modernisierung der Lebenswelten teilnehmen. Neue soziale Milieus entstanden, die sich aber schwer etablieren, geschweige denn aufsteigen konnten. Diese musik- und bildungsorientierten bzw. subkulturellen Lebensstile verband deshalb auch kaum noch etwas mit der DDR. Entweder sie pflegten in privaten Nischen ihre Neigungen oder sie versuchten, ein alternatives Gegenmilieu in der DDR aufzubauen, oft unter dem Dach der Kirche« (Hofmann, 2020).

Wie Hofmann weiter ausführt, kamen »die Akteure der friedlichen Revolution von 1989/90 im Wesentlichen aus diesen blockierten, neuen sozialen Milieus«. Da waren zum einen die politisch Aktiven aus dem »linksalternative[n] Milieu« (ebd.), das man auch als »Bürgerrechtlermilieu« (ebd.) bezeichnen könnte, aus dem später Bündnis 90 hervorging. Und da war zum anderen das »hedonistische«, also »genussorientierte, nicht auf Askese ausgerichtete Arbeitermilieu« (ebd.), das zwar nicht politisch motiviert war, aber »den größten Anteil an Antragstellern auf Ausreise aus der DDR« (ebd.) stellte und mit seiner Abstimmung mit den Füßen wesentlich zum Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus beitrug. »Aber auch in den traditionellen sozialen Lagen der Arbeiter und Angestellten wird in den 1980er Jahren mit dem sichtbaren Niedergang der Industrie

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und der Städte das Arrangement mit dem System vielfach aufgekündigt, und selbst im sozialistischen Establishment melden sich jetzt Reformer« (ebd.).

An dieser Gemengelage wird deutlich, dass auch für die DDR am Wandel von der Industriegesellschaft (auf die sich das sozialistische Gesellschaftskonzept ideologisch eingeschworen hatte) zur Dienstleistungs-, Wissensund Konsumgesellschaft kein Weg vorbei führte. Die DDR und die anderen sozialistischen Staaten versuchten so lange wie irgend möglich, die technischen und ökonomischen Prozesse der Globalisierung, der Digitalisierung, der Dienstleistungs- und Konsumentenorientierung zu ignorieren und die kulturellen Prozesse der Individualisierung, der Ästhetisierung, der Kulturalisierung, kurz: der Singularisierung, zu unterdrücken oder kaltzustellen. An dieser Unfähigkeit, den gesellschaftlichen Wandel zu akzeptieren und dann aktiv zu gestalten, scheiterten schließlich alle sozialistischen Staaten im sowjetischen Machtbereich. Welche zentrale Rolle Bildung und Wissen dabei spielen, zeigt der Zusammenhang zwischen Parteipräferenz und Abitur. Parteipräferenz und Abitur

Der extrem hohe Anteil an Abiturienten und Abiturientinnen unter den Wählern und Wählerinnen der Grünen von 40 % (Abbildung 10) weist sie als die gesellschaftliche Gruppierung aus, die zu den Protagonist*innen der Bildungsexpansion gehören, die in den 1950er Jahren einsetzte, seit den 1970er Jahren richtig Fahrt aufnahm und deren Ende noch nicht abzusehen ist (Geißler, 2014). Die Wähler der AfD weisen mit 15,7 % – zusammen mit den Nichtwählern und Nichtwählerinnen (14,9 %) und den Unentschlossenen (13,1 %) – den geringsten Anteil an Personen mit Abitur auf. Bei den AfDWählern und -Wählerinnen spielen sowohl die Altersstruktur als auch das Geschlecht eine verstärkende Rolle. Unter ihnen sind die Älteren und die Männer deutlich stärker vertreten als bei den Grünen. Die Tatsache, dass die AfD-Wähler*innen die höchste Arbeitslosenquote aufweisen, aber gleichwohl hinsichtlich des Nettoeinkommens im Mittelfeld liegen, weist darauf hin, dass sie nicht hauptsächlich in der Unterschicht und den ökonomisch extrem benachteiligten Schichten der Gesellschaft beheimatet sind. Die Daten legen nahe, dass es in der Wäh203

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Abbildung 10: Parteipräferenz und Abitur (Yendell et al., 2020, S. 349)

lerschaft der AfD neben den Arbeitslosen und prekär Beschäftigten eine andere Gruppierung gibt, die eher zu den ökonomisch durchschnittlich oder gut gestellten Einkommensgruppen gehört. Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn man die Berufe der Personen betrachtet, die die AfD in der Öffentlichkeit repräsentieren. Zu ihnen gehören Professoren und Professorinnen, beamtete Lehrer und mindestens ein pensionierter Staatssekretär. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Parteifunktionär*innen und ihre Wählerschaft bei den meisten Parteien nicht den gleichen gesellschaftlichen Gruppierungen angehören. Folgt man der soziologischen Analyse von Reckwitz (2019a, 2019b), so entstammen die Wähler und Wählerinnen der AfD einer sozialen Gruppierung, die er als »alte Mittelklasse« bezeichnet. In der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky, 1965) der Nachkriegszeit war »diese Mittelklasse sozial und kulturell gewissermaßen alternativlos, sie war der unumstrittene Träger der gesellschaftlichen Hegemonie« (Reckwitz, 2019b, S. 87). Im Zuge der Transformation von der industriellen Moderne zur postindustriellen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft hat die alte Mittelklasse ihre dominierende Stellung verloren und gerät gegenüber der »neuen Mittelklasse auf subtile Weise ins Hintertreffen« (ebd., S. 88). Die Einkommen der alten Mittelklasse stagnieren, während die der durchweg akademisch ausgebildeten neuen Mittelkasse steigen. Hinzu kommt, 204

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

dass die kulturellen Werte der alten Mittelklasse, die auf Konventionalismus, Konformität, Ordnung und das Streben nach sozialer Normalität ausgerichtet waren, zunehmend als veraltet und entwertet erlebt werden. Die Protestwahl richtet sich auch gegen den als unverschuldet empfundenen sozialen Abstieg und den kulturellen Bedeutungsverlust (Reckwitz, 2019b; Koppetsch, 2019). Parteipräferenz und Geschlecht

In der Wählerschaft der AfD ist der Anteil der Männer mit 63,3 % so hoch wie in keiner der anderen Vergleichsgruppen (Abbildung 11). Mit einem Anteil von nur 36,7 % wird die AfD deutlich seltener von Frauen gewählt als alle anderen Parteien. Man kann die AfD als »Männerpartei« charakterisieren. Wie sich noch zeigen wird, drückt sich das auch in ihrem psychologischen Profil aus. In der Wählerschaft aller anderen Parteien ist der Anteil der Frauen höher als der der Männer, wobei das Geschlechterverhältnis bei der Union fast ausgeglichen ist, der Frauenanteil bei der FDP mit 59,8 % und bei den Grünen mit 58,5 % am höchsten ausfällt.2 Vor diesem Hintergrund kann man Bündnis 90/Die Grünen als eine Partei bezeichnen, die sich die Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen nicht nur auf die Fahnen geschrieben hat, sondern in ihrer Personalpolitik praktisch umsetzt, und der es auch gelingt, viele Frauen als Wählerinnen anzusprechen. Der Einfluss der Frauenbewegung, die in den 1970er und 1980er Jahren die Parteigründung und programmatische Ausrichtung der Grünen wesentlich mitgeprägt hat, ist also nach wie vor ausschlaggebend. Wie sich das im psychologischen Profil der Partei und ihrer Wählerschaft ausdrückt, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der letzten Jahrzehnte haben die Geschlechterordnung in dramatischer Weise verändert. Im 2 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie sich Männer und Frauen im Deutschen Bundestag bei den einzelnen Parteien verteilen (Kürschners Volkshandbuch, 2020, Stand: Juli 2019). Im Durchschnitt beträgt der Frauenanteil im Deutschen Bundestag 31,2 %. Frauen sind also im Deutschen Bundestag deutlich unterrepräsentiert. Der Frauenanteil unter den Abgeordneten ist nur bei Bündnis 90/Die Grünen (Frauen: 58,2 %, Männer: 41,8 %), gefolgt von den Linken (Frauen: 53,5 %, Männer: 46,4 %), höher als der Anteil der männlichen Abgeordneten.

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Abbildung 11: Parteipräferenz und Geschlecht (Yendell et al., 2020, S. 348)

Westen hat die Erwerbstätigkeit der Frauen erheblich zugenommen, und vor allem haben »die Frauen überdurchschnittlich von der Bildungsexpansion profitiert« (Reckwitz, 2019b, S. 111). Diese setzte im Westen ab 1970, im Osten etwa ab 1990 ein. Wie die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen, ist die Zahl der weiblichen Hochschulabsolventen in Deutschland höher als die der männlichen. In manchen Fächergruppen, beispielsweise in den Geistes- und Kulturwissenschaften, der Psychologie, der Medizin und der sozialen Arbeit, stellen sie sogar die überwiegende Mehrheit der Studierenden (Statista, 2019; Statistisches Bundesamt, 2020). Dass sich diese Veränderungen im Bildungsniveau auch im Selbstbild und im Selbstwertgefühl der Frauen niederschlagen, haben wir bereits in einer früheren Studie (Brähler & Wirth, 1991) gezeigt, die sich mit den Veränderungen im psychologischen Selbstbild von Männern und Frauen im Zeitraum von 1975 bis 1989 beschäftigt. Damals haben wir unsere Ergebnisse, die sich allerdings nur auf die alten Bundesländer bezogen, wie folgt zusammengefasst: »1975 waren die Frauen mit hoher Bildung am depressivsten von allen Gruppen. 1989 ist diese Gruppe um 2,5 Prozentpunkte hypomanischer ge-

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worden. Die Frauen mit hoher Bildung haben sich also extrem verändert. Sie sind dominanter, eigensinniger, selbstbewusster und weniger depressiv geworden. Man könnte sie als die ›psychologischen Gewinnerinnen der Bildungsexpansion‹ bezeichnen« (ebd., S. 93).

Dass sie gleichwohl in vielen familiären Konstellationen auch heute noch stärker für Haushalt und Kinderbetreuung zuständig sind als ihre männlichen Partner, führt zu einer Doppelbelastung, die in vielen Studien festgestellt wurde (Peuckert, 2019, S. 383ff.). Mit dieser Doppelbelastung geht u. a. einher, dass in den Führungsetagen, beispielsweise in großen Konzernen oder auch auf der Ebene der Professoren, Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert sind. Und weiter heißt es in unserer damaligen Studie: »Die Männer mit hohem Bildungsgrad sind zwar auch etwas hypomanischer geworden, jedoch nur sehr geringfügig. In umgekehrter Richtung hingegen haben sich die Frauen und die Männer mit niedrigem Bildungsgrad entwickelt. Hier sind es aber insbesondere die schlechter gebildeten Männer, die sehr viel depressiver geworden sind. Faßt man alle Befunde zusammen, kann man die Männer mit niedrigem Bildungsgrad als die ›psychologischen Verlierer der Bildungsexpansion‹ bezeichnen« (Brähler & Wirth, 1991, S. 93).

In einer repräsentativen Erhebung im Sommer 1989, deren Durchführung fast zeitgleich mit der Wende 1989 in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin-West lief, wurde die psychologische Selbsteinschätzung der Bundesdeutschen ermittelt. Aufgrund dieser Daten hat Elmar Brähler (2000 [1995]) ein Selbstporträt der Wählerschaft der Grünen entworfen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Grünen-Wählerinnen als die »selbsternannte Avantgarde des Eigensinns« (ebd., S. 27) darstellen. Im Vergleich mit dem Durchschnitt der weiblichen Bevölkerung vermitteln sie »das Selbstporträt von starken, dominanten, tatkräftigen Frauen, die sich durchsetzen können und dabei auch fähig sind, lässig der Geselligkeit zu frönen. […] Und sie bedienen sich der Gestik und Mimik in starkem Maße. Im Selbstporträt der Grünen-Wählerinnen wird vieles über Bord geworfen, was in unserer Gesellschaft zum Rollenklischee der Frauen gehört, die ja fügsam, brav und ehrlich alle Arbeiten verrichten sollen« (ebd., S. 31).

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Die männlichen Sympathisanten der Grünen haben im Vergleich zum Durchschnitt der männlichen Bevölkerung den Eindruck, »sich besonders häufig über innere Probleme Gedanken zu machen, sich eher bedrückt zu fühlen, sich häufig Selbstvorwürfe zu machen« und einer Partnerin »viel Liebe schenken zu können« (ebd., S. 29). »Die Grünen-Wähler stellen sich damit eher als selbstreflexiv dar, sie bemühen sich und sind dabei leicht depressiv. Sie vermitteln den Eindruck, daß sie trotz aller Anstrengungen für den anderen das Gefühl haben, nicht genug zu tun. Sie leiden an der Welt« (ebd.).

Der Autor hebt noch eine Geschlechtsdifferenz hervor, die bei den Grünen besonders auffällt, die aber in der Durchschnittsbevölkerung nicht existiert: »Die Männer fühlen sich geduldiger als die Frauen« (ebd., S. 32). Die grünen Männer haben also Eigenschaften entwickelt und angenommen, die traditionell eher der weiblichen Rolle zugeschrieben werden, nämlich Selbstreflexivität, Nachdenklichkeit und Leidensfähigkeit. Soziologische und sozialpsychologische Analyse gehen davon aus, dass Dank der erfolgreichen Frauenemanzipation die früher als typisch »weiblich« geltenden Eigenschaften wie Expressivität, Emotionalität, Kommunikationsfreudigkeit, emotionale Kompetenz und Fürsorglichkeit, eine stärkere gesellschaftliche Relevanz, Anerkennung und Verbreitung gefunden haben – und zwar sowohl bei Frauen als auch bei Männern (Reckwitz, 2019b, S. 111). Horst-Eberhard Richter (1998 [1974], S. 51f.) hat bereits in den 1970er Jahren die These vertreten, es sei »unerlässlich«, dass »›weibliche‹ Aspekte verändernd in diverse gesellschaftliche Bereiche eindringen, die bislang ausschließlich nach dem ›Männlichkeits-Stereotyp‹ geprägt sind. Die Slogans von Lebensqualität und Humanisierungspolitik können sich nur dann mit entsprechendem Sinn füllen, wenn die Werte der Kommunikation, der zwischenmenschlichen Solidarität und der emotionellen Selbstbefreiung durchgesetzt werden, die bislang vor allem von den Frauen getragen werden. Eine einseitig an dem herkömmlichen Männlichkeits-Stereotyp haftende Politik beharrt auf den Prinzipien von Stärke, Macht und Expansionismus. Was die von Männlichkeits-Ideologie bestimmte Politik nie trifft, ist die eigentliche Bereicherung des sozialen Lebens nach innen, die an emotionellen Werten orientierte Umformung«.

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Und auf die Zukunft gerichtet, gibt Richter seiner Hoffnung Ausdruck: »Einen echten Fortschritt verheißt also nur eine Entwicklung, die auf breiter Ebene auch zu einer Änderung des männlichen Selbstverständnisses führt. Es bleibt nur die Hoffnung übrig, daß auch in den Männern selbst jene neuen Bedürfnisse und Leitbilder an Boden gewinnen, die auf eine eigene Veränderung dringen und neue Orientierungspunkte setzen« (ebd., S. 53).

Richters Hoffnungen haben sich – wenn auch nur partiell – erfüllt: Die als »weiblich« bezeichneten Eigenschaften sind zugleich diejenigen Eigenschaften und Fähigkeiten, die in der postindustriellen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, speziell bei den personenbezogenen Dienstleitungen, also in der Pädagogik, der Medizin, der Psychotherapie, Beratung, Betreuung und Pflege, gefragt und elementar notwendig sind. Diese Eigenschaften sind gesellschaftlich deutlich aufgewertet worden, haben sich bei den Männern aber gleichwohl nicht so stark verbreitet wie bei den Frauen. Die personenbezogenen Dienstleistungen waren und sind eine Domäne der Frauen, aber immerhin konnten die Frauen auch in denjenigen helfenden Berufen reüssieren, die ein hohes Prestige genießen und ein relativ gutes Einkommen garantieren und früher von den Männern dominiert wurden, wie der Beruf der Ärztin und der Psychotherapeutin. Auch in der Kreativwirtschaft und in den Bereichen Marketing, PR und Vertrieb, im Journalismus, in der Verlags- und Buchbranche spielen diese Eigenschaften eine zentrale Rolle. Die Wissens- und Dienstleistungsberufe bilden die neue Mittelklasse, die zum ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zentrum der postindustriellen Gesellschaft aufgestiegen ist und dabei auch einen gesellschaftlichen Wertewandel in Gang gesetzt hat. Der US-amerikanische Sozialpsychologe Ronald Inglehart (1977) hat von »post-materialistischen Wertorientierungen«, Alan Gartner und Frank Riessman (1978 [1974]) vom »neuen Ethos der personenbezogenen Dienstleistungsgesellschaft« und Horst-Eberhard Richter (1998 [1974], S. 236) von »anti-expansionistischen Leitmotiven« gesprochen. Die Lebensführung und die Wertorientierung dieser neuen Mittelklasse sind durch das Streben nach »erfolgreicher Selbstentfaltung« (Reckwitz, 2019b, S. 92) gekennzeichnet. »Die Gleichberechtigung der Geschlechter prägt diese Lebensform stärker als alle anderen« (ebd., S. 91). In den alten Bundesländern sind die Grünen die Vorhut dieser kulturellen und gesell209

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schaftlichen Entwicklung. Sie sind aus den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er Jahre hervorgegangen, denen es neben gesellschaftspolitischen immer auch zentral um die persönliche Befreiung und Emanzipation ging. Zu ihnen gehörten unter anderen die Frauen-, die Lesben- und SchwulenBewegung, die Ökologie-, die Anti-Atomkraft- und die Friedensbewegung, aber auch die Alternativbewegung und die Bewegung der psychosozialen Initiativ- und Selbsthilfegruppen, die auf den psychosozialen Bereich einen nachhaltigen Einfluss ausüben. Demgegenüber war und ist die alte Mittelklasse von »familialistischen und traditionalen Geschlechtsrollen geprägt« (Reckwitz, 2019b, S. 113). Ihre Angehörigen empfinden die gesellschaftliche Dominanz der »liberalisierten Geschlechterordnung als eine mehr oder minder subtile Entwertung der eigenen, althergebrachten Vorstellungen von Männern, Frauen und Familien« (ebd.). Von der rechtspopulistischen Bewegung fühlen sich insbesondere die Männer ermutigt, ihren Ängsten, Aversionen und Ressentiments gegenüber der »Unordnung«, die in den Geschlechterbeziehungen Einzug gehalten hat, Ausdruck zu verleihen. Insbesondere die Bewegung der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*-, intergeschlechtlichen und queeren Menschen (LGBTQ) wirkt tief verunsichernd und abstoßend auf Männer, die ihren psychischen Halt in der Identifikation mit traditionellen Männlichkeitsmustern, männerbündischen Vereinigungen, die mit Misogynie und Homophobie einhergehen, suchen. Ein verbindendes Element aller autoritär-populistischer Bewegungen bildet die kulturelle Überhöhung von Männlichkeit, die häufig mit Frauenverachtung und Homophobie einhergeht (Weiß, 2017, S. 237; Leggewie, 2016, S. 141f.), eine Merkmalskombination, die bereits in den 1990er Jahren für die Gruppe der rechtsradikalen Skinheads kennzeichnend war (Wirth, 1989b). Die Frauen der alten Mittelklasse, die weiterhin einer traditionellen Identität verhaftet sind, haben ebenfalls einen Prestigeverlust erlitten, weil »nur« Hausfrau und Mutter sein heute nicht mehr viel gelten (Reckwitz, 2019b, S.  113). Im Unterschied zu den gekränkten Männern haben sie sich jedoch (noch) kaum dem Rechtspopulismus angeschlossen, sondern verharren (noch) in einer indifferenten Position. Sie wählen mehrheitlich nicht die AfD, sondern bleiben weiter in der Gruppe der Nichtwählerinnen und der Unentschlossenen. Dementsprechend bilden bei dem Merkmal Geschlecht nicht die Grünen den Gegenpol zur AfD, sondern die Gruppe der Nichtwähler und Nichtwählerinnen, der Unentschlossenen, und derjenigen, die nicht wissen, wen sie wählen sollen. Der Frauenanteil 210

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

ist bei diesen Gruppierungen besonders hoch und liegt bei 61,1 bis 71,4 %. Die entgegengesetzte Position zwischen indifferenten Wählern und Wählerinnen und AfD-Wählern bei der Geschlechtszugehörigkeit ist insofern ein auffälliges Merkmal, als diese beiden Gruppen bei verschiedenen anderen Merkmalen (hohe Arbeitslosigkeit, kein Abitur, Autoritarismus) eine auffallende Ähnlichkeit aufweisen. Der AfD ist es in den vergangenen Jahren gelungen, für die Männer aus dem Lager der indifferenten Wähler ein attraktives Angebot anzubieten – für die Frauen hingegen nicht. Offenbar spricht das betont aggressive, ressentimentgeladene, fremden- und frauenfeindliche Programm und Auftreten der AfD und der mit ihr assoziierten Organisationen und Bewegungen eher traditionelle Männlichkeitsbilder an (Wirth, 2019a). Gesellschaftliche und sozialpsychologische Aspekte der Geschlechterrollen in der DDR

Sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der DDR galten Ehe und Familie als »Keimzelle« der Gesellschaft. In der DDR sprach man von einem »Grundkollektiv der sozialistischen Gesellschaft« (Peukert, 2019, S. 5). »Dabei war die Sozialpolitik in der DDR insgesamt stärker auf die Förderung der Familie (einschließlich der Alleinerziehenden), die Sozialpolitik der Bundesrepublik hingegen stärker auf die Förderung der Institution Ehe ausgerichtet« (ebd.). Ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Gesellschaftsordnungen betraf »das Verhältnis zwischen Familie und Staat. In der Bundesrepublik besteht eine rechtliche Verpflichtung von Staat und Gesellschaft, die Familie zu fördern« (ebd.), während gleichzeitig der private Raum der Familie geschützt ist und der Staat nur äußerst beschränkte direkte Einflussmöglichkeiten oder Zugriffsrechte besitzt, beispielsweise wenn es um eine Kindeswohlgefährdung geht. »In der DDR wurden die Autonomie und Privatheit der Familie hingegen nur sehr eingeschränkt anerkannt« (ebd.). »Die Verfassung der DDR postulierte in Artikel 20 die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie die vollständige Integration der Frauen in den sozialistischen Arbeitsprozess: Männer und Frauen hatten danach sowohl ein Recht auf als auch eine Pflicht zur Arbeit« (Döge, 2008, S. 37). Die Gleichberechtigung der Frauen in Schule, Ausbildung und Erwerbsleben war eine »Emanzipation von oben«, die sich »paternalistisch-autoritär« (Peukert, 2019, S. 6) vollzog. 211

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

»Sie wurde von Männern gesteuert und war dem öffentlichen Diskurs entzogen (Geißler, 2014). Sie war ideologisch, politisch und ökonomisch motiviert. Ideologisch war die Pflicht zur Erwerbstätigkeit begründet im marxistisch-leninistischen Selbstverständnis von der Entfaltung der Persönlichkeit und der Emanzipation der Frau. Politisch versuchte man, die Frauen durch ihre Gleichstellung für das sozialistische System zu motivieren, und aus ökonomischer Sicht wurden Frauen dringend als Arbeitskräfte für die Wirtschaft benötigt. Entsprechend verfolgte die DDR das Ziel der simultanen Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familientätigkeit der Frau und wies – auch im internationalen Vergleich – extrem hohe Erwerbsquoten von verheirateten Müttern und von Müttern mit Kleinkindern von über 90 % auf« (ebd., S. 6f.).

Dessen ungeachtet war das Geschlechterverhältnis in der DDR durch massive Ungleichwertigkeiten gekennzeichnet. »Zwar wurde die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie durch den Aufbau eines flächendeckenden Netzes staatlicher Kinderbetreuungseinrichtungen für die berufstätigen Frauen massiv erleichtert, aber Kinderbetreuung und Familienarbeit blieben weiterhin eine Frauenangelegenheit. […] Geschlechterpolitik in der DDR richtete sich an die ›Frau als Mutter‹« (Döge, 2008, S. 37). »Die fast ausschließlich an Frauen adressierten Regelungen zur Erleichterung der gleichzeitigen Verbindung von Familien- und Berufsarbeit schrieben traditionelle Rollenzuweisungen fest und trugen zur Zementierung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung bei. Sie sollten es Frauen ermöglichen, die vielfältigen und ambivalenten Anforderungen in Beruf und Familie zu erfüllen, ohne Männer stärker in Familientätigkeiten einzubeziehen« (Trappe, 1995, S. 212).

Während in der DDR die Gleichberechtigung der Frauen staatlich verordnet wurde, ging die Initiative in der alten Bundesrepublik von den Frauen selbst aus und fand in der Frauenbewegung ihren deutlichsten Ausdruck. Es handelte sich im Westen also um eine »Emanzipation von unten« (Geißler, 2014). Dort war »der Kampf um Gleichberechtigung vorrangig auf der Ebene des Bewusstseins erfolgreich – eine tatsächliche Umverteilung von Macht, Arbeit und Finanzen zwischen den Geschlechtern fand 212

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

nur ansatzweise statt« (Peuckert, 2019, S. 7). Im Osten war es umgekehrt: Die Gleichberechtigung wurde praktisch durchgesetzt, blieb aber – da sie nicht erkämpft wurde – »ohne tiefgreifende Veränderungen auf der Ebene des Bewusstseins« (ebd.). Der flächendeckende Ausbau der institutionellen Kinderbetreuung in Krippen, Kindergärten und Schulhorten sollte die Eltern, vor allem die Frauen, finanziell und zeitlich entlasten, um sie für die Berufsarbeit freizustellen. Eine gerechtere Verteilung der Arbeit und Verantwortung für die täglichen häuslichen Pflichten war aber weder gesellschaftlich erwünscht, noch entwickelten sich bei den Frauen und Männern spontan Bedürfnisse danach (ebd.). Die Wählerschaft der AfD: autoritär, unterwürfig, konventionell

In einer Reihe gesellschaftspolitisch hochbrisanter und aktueller Fragen nehmen die Wählerinnen und Wähler der Grünen und die der AfD entgegengesetzte Positionen ein: In gewisser Weise begründet die AfD sogar ihre Entstehung und ihre Existenzberechtigung damit, dass die öffentliche Meinung, die Medien, ja sogar die gegenwärtige Regierungskoalition von der »grün-alternativen Meinungsdiktatur« bestimmt seien. Grüne und AfD repräsentieren diametral entgegengesetzte politische Zielsetzungen und weltanschauliche Wertorientierungen. Diese Polarität spiegelt sich auch in den Ergebnissen der AutoritarismusSkala (Abbildungen 12–21) wider. Die Autoritarismus-Skala (Beierlein et al., 2014) setzt sich aus neun Items zusammen, die folgende Subdimensionen enthält: Autoritäre Aggression (»durch Autoritäten sanktionierte generelle Aggression gegenüber Anderen«), autoritäre Unterwürfigkeit (»Unterwürfigkeit unter etablierte Autoritäten und generelle Akzeptanz ihrer Aussagen und Handlungen«) und Konventionalismus (»starkes Befolgen etablierter gesellschaftlicher Konventionen«). Autoritarismus ist das, oder zumindest eines der zentralen Merkmale, nach denen sich AfD-Wähler und Wählerinnen und diejenigen der Grünen unterscheiden – ja maximal polarisieren. Nicht nur bei der Gesamtskala Autoritarismus, sondern auch bei allen Einzelskalen nehmen AfD und Grüne die Extrempole ein. Bei allen Skalen zeigt sich das gleiche Bild (Abbildungen 13–21). Diese sehr entschiedene Stellungnahme der Wählerschaft beider Parteien zeigt, dass es sich um weltan213

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

schauliche Grundsätze handelt, die fest im Selbst- und Weltbild und in der Gruppenidentität verankert sind (Abbildung 12). Im Vergleich zur Wählerschaft der anderen Parteien ist die Wählerschaft der AfD extrem autoritär (ebd.), befürwortet »gesellschaftliche Härte gegen Außenseiter und Nichtstuer« (Abbildung  13), ist der Meinung,

Abbildung 12: Parteipräferenz und Autoritarismus; Durchschnittswerte der Gesamtskala Autoritarismus (Yendell et al., 2020, S. 351)

Abbildung 13: Autoritarismus-Item 1 (»Autoritäre Aggression«) (ebd., S. 352)

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

»Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind« (Abbildung 14), ist dafür, »gesellschaftliche Regeln ohne Mitleid durchzusetzen« (Abbildung 15), wünscht sich »eine starke Führungsperson, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können« (Abbildung 16), ist der Ansicht, »Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersonen überlassen« (Abbildung 17),

Abbildung 14: Autoritarismus-Item 2 (»Autoritäre Aggression«) (ebd.)

Abbildung 15: Autoritarismus-Item 3 (»Autoritäre Aggression«) (ebd., S. 353)

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

findet, »wir sollten dankbar sein für führende Köpfe, die uns genau sagen, was wir tun können« (Abbildung 18), plädiert dafür, »Traditionen unbedingt zu pflegen und aufrecht zu erhalten« (Abbildung 19), vertritt den Standpunkt, »bewährte Verhaltensweisen sollten nicht infrage gestellt werden« (Abbildung 20) und ist der Auffassung, »es ist immer das Beste, Dinge in der üblichen Art und Weise zu machen« (Abbildung 21). Das sind weder im Hinblick auf die AfD noch hinsichtlich der Grünen

Abbildung 16: Autoritarismus-Item 4 (»Unterwürfigkeit«) (ebd.)

Abbildung 17: Autoritarismus-Item 5 (»Unterwürfigkeit«) (ebd., S. 354)

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

überraschende Ergebnisse. Allenfalls erstaunt, mit welch großer Deutlichkeit sich dieses Merkmal bei allen einschlägigen Items abbildet. In diesen Einstellungen kommt zum einen eine starke Identifikation mit autoritärer Aggression (Abbildungen 12–15), und zum anderen ein Verlangen nach Unterwürfigkeit (Abbildungen 16–18) zum Ausdruck. Dies entspricht Erich Fromms Beschreibung des Autoritären Charakters. Beides zusammen lässt sich psychoanalytisch als eine Identifikation mit

Abbildung 18: Autoritarismus-Item 6 (»Unterwürfigkeit«) (ebd.)

Abbildung 19: Autoritarismus-Item 7 (»Konventionalismus«) (ebd., S. 355)

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

dem Aggressor interpretieren, die als kollektive psychosoziale Abwehr (Richter, 1963; Mentzos, 1976) fungiert. Die Demütigungen, Entwertungen und narzisstischen Kränkungen, die man einst selbst erleiden musste oder auch jetzt noch erleidet, fügt man nun anderen zu. Abgewehrt werden Gefühle von Schwäche, Versagensangst und Depression, die man nun andere erleiden lässt. Diese Interpretation nimmt an, dass auf unbewusster Ebene ein kollektiver Konflikt, eine kollektive traumatische Erfahrung oder

Abbildung 20: Autoritarismus-Item 8 (»Konventionalismus«) (ebd.)

Abbildung 21: Autoritarismus-Item 9 (»Konventionalismus«) (ebd., S. 356)

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

eine gemeinsam empfundene narzisstische Kränkung besteht. Diese narzisstische Kränkung kann verschiedene Wurzeln haben, beispielsweise auf der Entwertung früherer kultureller und gesellschaftlicher Bedeutung im Zuge der skizzierten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse beruhen. Für Teile der ostdeutschen Bevölkerung kann der »Anschluss« an die Bundesrepublik als Entwertung der DDR-Identität empfunden werden. Man stemmt sich gegen die narzisstische Entwertung durch eine masochistische Unterwerfung unter eine aggressiv-autoritäre Ideologie, die neues Selbstbewusstsein verspricht und zugleich die Abfuhr von Minderwertigkeitsgefühlen, Hass sowie destruktiven und selbstdestruktiven Impulsen auf Sündenböcke erlaubt. In einem ersten Schritt dieser Sündenbock-Praktik (Richter, 1963) werden eigene aggressive, destruktive und als böse oder schlecht empfundene Selbstanteile auf äußere Feindbilder, Außenseiterfiguren sowie Fremde projiziert, die dann in einem zweiten Schritt dafür bestraft werden sollen. Dies dient auch der Externalisierung von Selbstbestrafungstendenzen. Im stark ausgeprägten Konventionalismus der AfD-Wählerschaft (Abbildungen 19–21) kommt der Wunsch zum Ausdruck, durch die Identifikation mit Tradition, Konvention und dem, was als normal und vertraut empfunden wird, ein Gefühl der Sicherheit und des Aufgehobenseins zu erlangen. Die unbedingte Pflege und Aufrechterhaltung von Traditionen vermittelt die Vorstellung von Heimatverbundenheit und soll zugleich die Angst vor Neuem, Unbekanntem, Fremdem in Schach halten. Die starke Betonung des Konventionellen enthält eine aggressive Komponente, die sich feindlich gegen die Zumutungen alles Fremden richtet, beinhaltet aber unverkennbar auch eine ängstliche Seite, bei der man sich angesichts der Dynamisierung aller Lebensbereiche in der beschleunigten Moderne (Rosa, 2005) in die heimelige Nische des Althergebrachten flüchtet. Dieses sozialpsychologische Profil der Wählerschaft der AfD findet seine Bestätigung in den Ergebnissen der verschiedenen Leipziger Autoritarismus-Studien (Decker, Kiess & Brähler, 2015, 2016; Decker & Brähler, 2018; Schuler et al., 2020), aber auch in den »Mitte«-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (Zick & Küpper, 2015) und der Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer (2018), der das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in die Diskussion eingebracht hat. Nach dem übereinstimmenden Bild, das diese Studien von der Wählerschaft der AfD zeichnen, ist diese durch folgende Einstellungen charakterisiert: Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Verharmlosung des Na219

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

tionalsozialismus, Akzeptanz der Gewalt durch Andere, Verschwörungsmentalität, Chauvinismus, Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Wählerschaft der Grünen: tolerant, autoritätskritisch, unkonventionell

Das Bild, das die Wählerschaft von Bündnis  90/Die Grünen von sich zeichnet, steht dem der AfD-Wählerschaft diametral gegenüber. Im Vergleich zur Wählerschaft der anderen Parteien ist die Wählerschaft von Bündnis 90/Die Grünen extrem autoritätskritisch eingestellt (Abbildung 12). Sie lehnt »gesellschaftliche Härte gegen Außenseiter und Nichtstuer« am entschiedensten ab (Abbildung 13) und widerspricht vehement der Meinung, »Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind« (Abbildung 14). Sie weist auch die Auffassung zurück, man solle »gesellschaftliche Regeln ohne Mitleid durchsetzen« (Abbildung 15) und hält auch nichts von der Idee, eine »starke Führungsperson sei notwendig, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können« (Abbildung 16). Die Grünen-Wählerschaft verwahrt sich auch gegen die Auffassung, »Menschen sollten wichtige Entscheidungen in der Gesellschaft Führungspersonen überlassen« (Abbildung 17), oder gar »dankbar sein für führende Köpfe, die uns genau sagen, was wir tun können« (Abbildung 18). In diesen Einstellungen kommt zum einen eine entschiedene Absage an alle Formen autoritärer Aggression (Abbildungen 12–15) zum Ausdruck, und zum anderen eine ebenso entschiedene Ablehnung von Unterwürfigkeit und kritikloser Akzeptanz gesellschaftlicher Regeln und des Machtanspruchs starker Führungspersonen (Abbildungen 16–18). Beides zusammen lässt sich psychoanalytisch als Ausdruck eines kollektiven Selbstbewusstseins und eines Gefühls kollektiver Wirkmächtigkeit interpretieren. In der entschiedenen Ablehnung, »gesellschaftliche Härte gegen Außenseiter und Nichtstuer« zu praktizieren, und der ebenso deutlichen Ablehnung, »Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind«, zeigt sich ein klares Bekenntnis zum hohen Stellenwert, den sie der Toleranz beimessen. Es ist sozusagen kein Wunder, dass sich die Polarisierung zwischen der AfD und den Grünen genau an den gleichen neuralgischen Punkten ent220

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

zündet wie damals der Konflikt zwischen der älteren Generation und der Generation der Stones-Fans, der Hippies, der jungen Erwachsenen, die unter der Bezeichnung »68er-Generation« zusammengefasst werden. Die Wählerschaft von Bündnis 90/Die Grünen steht in der Tradition der Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre und auch der friedlichen Revolution, die den Zusammenbruch der DDR bewirkte. Ursprünglich befanden sich diese Bewegungen in einer ohnmächtigen Oppositionsrolle gegen die Übermacht des »Systems«, im Westen des paternalistisch-autoritären Kapitalismus der »formierten« Nachkriegsgesellschaft, im Osten des autoritär-bürokratischen Sozialismus. Die oppositionellen Gruppen und Bewegungen wurden allerdings in beiden Gesellschaften vom Bewusstsein getragen, für eine bessere Welt zu kämpfen. Inzwischen hat sich die Welt zwar keineswegs so verändert, dass sie den damaligen Utopien entsprechen würde, aber die heutigen Wertvorstellungen, Lebensstile, Umgangsformen, der kulturelle Habitus im Sinne Pierre Bourdieus (1982) und der gesellschaftlich dominierende Sozialcharakter im Sinne Erich Fromms (2019 [1970]) sind wesentlich durch diese sozialen Bewegungen und ihre Protagonisten und Protagonistinnen geprägt worden. Als Folge des Übergangs von einer industriellen Mangelwirtschaft in eine Überfluss- und Konsumgesellschaft entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Industrienationen eine eigenständige Jugendkultur, die zum kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Vorreiter gesellschaftlicher Neuerungen und Umbrüche wurde. In dem Maße, in dem der stetige Konsum von Waren und Dienstleistungen ins Zentrum des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens rückte, verlor die alte patriarchalische und autoritäre Charakterformation, die auf die Tugenden Ordnung, Sparsamkeit und autoritäre Orientierung setzte, ihre gesellschaftliche und sozialpsychologische Funktionalität. In der Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft waren zunehmend andere Charaktereigenschaften wie Flexibilität, Konsumfreudigkeit, Hedonismus und permanente Lern- und Innovationsbereitschaft gefragt. Der Autoritäre Charakter, wie ihn Erich Fromm (1936) als Erster beschrieben hatte und wie er daran anschließend von Theodor W. Adorno und seinen Mitarbeitern in ihrem Buch über den Autoritären Charakter (1950) weiter ausgeführt wurde, konnte zunehmend durch einen »Gesellschaftscharakter« ersetzt werden, den Fromm (1947) mit dem Begriff der »Marketing-Orientierung« charakterisierte. Dieser gesellschaftliche Wandel bildete den sozialpsychologischen Hintergrund für die weltweiten Jugend-, Protest- und Emanzipationsbewe221

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

gungen der 1960er bis 1980er  Jahre (Wirth, 1984). In allen westlichen Industriegesellschaften geriet im Laufe der 1960er Jahre die autoritäre Gefühlspanzerung der älteren Generation in Konflikt mit dem expressiven, hedonistischen und experimentierfreudigen Lebensstil der jungen Generation. Die einstigen Jugend- und Protestkulturen und die Werte, die sie repräsentierten, machten in der gesellschaftlichen Wertschätzung einen enormen Aufstieg durch und prämierten Eigenschaften wie Unkonventionalität, Flexibilität, Lernbereitschaft, Bildung und Experimentierfreude. Die postindustrielle Gesellschaft hat diese Impulse aufgegriffen und als »Kulturgenerator« (Assmann, 2000, S. 14) sowohl in der Wissens-, Digital-, Kreativ- und Dienstleistungs-Ökonomie als auch in der Umgestaltung des kulturellen Lebens, beispielsweise der Ästhetisierung des Alltags, genutzt. Es ist kein Zufall, dass der »Psychoboom« und der gesellschaftliche Bedeutungszuwachs der personenbezogenen Dienstleistungen (Gartner  & Riessmann, 1978 [1974]) und damit auch der Aufstieg der Psychoanalyse in den 1960 Jahren in den USA und in den 1970er Jahren auch in der Bundesrepublik zeitlich und sozialpsychologisch mit der Hippie-Bewegung verknüpft ist. Den Hippies ging es um Werte wie Authentizität, eine befreite Sexualität, egalitäre Umgangsformen, eine Erziehung, die den emotionalen und sozialen Bedürfnissen von Kindern Rechnung trägt, die kreative Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, ein unverkrampfteres, spontaneres, emotionaleres und authentischeres Verhältnis zur eigenen psychischen Innenwelt, zur Sexualität, zur eigenen Körperlichkeit und zu anderen Menschen. Die Hippies wurden zur Avantgarde einer neuen kulturellen Wertorientierung, die von den amerikanischen Sozialpsychologen Milton Rokeach und Ronald Inglehart als »post-materialistisch« bezeichnet wurde. Rokeach (1973) und Inglehart (1977) führten bereits in den 1970er Jahren empirische sozialpsychologische Studien durch, in denen sie die Wertorientierung verschiedener sozialer Gruppierungen miteinander verglichen. Ein Ergebnis war, dass eine ausgeprägte postmaterialistische Wertorientierung sowohl bei Hippies als auch bei »Psychos« auftrat, die sie von allen anderen Gruppen unterschied (Wirth, 1979). Der Historiker Maik Tändler (2016) spricht von den 1970er Jahren als dem »therapeutischen Jahrzehnt«, um den »Psychoboom« dieser Zeit zu charakterisieren. Auch er sieht eine enge Verbindung zwischen dem neuen gesellschaftlichen Interesse an der Psyche und den Motiven der alternativen Jugendbewegungen. Die Wählerschaft von Bündnis  90/Die Grünen entspricht mit ihrer Ablehnung des Konventionalismus genau diesem Habitus. Die Orientie222

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

rung an Konventionen, Traditionen und eingefahrenen Routinen steht bei ihnen nicht hoch im Kurs (Abbildungen 19–21). Sie sprechen sich dagegen aus, »Traditionen unbedingt zu pflegen und aufrecht zu erhalten« (Abbildung 19), lehnen den Standpunkt ab, »bewährte Verhaltensweisen sollten nicht infrage gestellt werden« (Abbildung 20), und widersprechen der Auffassung, es sei »immer das Beste, Dinge in der üblichen Art und Weise zu machen« (Abbildung 21). In Westdeutschland wurde die Modernisierungsdynamik überlagert und verstärkt durch die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Generationskonflikte waren deshalb besonders heftig und hatten besonders nachhaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft (Wirth, 2019b). In Westdeutschland hatten sich die traditionellen paternalistischen und autoritären Strukturen, Figuren und Instanzen durch die schuldhafte Verstrickung in das NS-System desavouiert und wurden von der protestierenden Jugend deshalb vehement und nachhaltig kritisiert. In der DDR glaubte man hingegen, von der nationalsozialistischen Schuld bereits dadurch gereinigt zu sein, dass man den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhob und gleichsam für sich pachtete. Aus der projektiv verzerrten Sicht der DDR-Führung und großen Teilen der Bevölkerung galt es, neofaschistische Tendenzen allein in der Bundesrepublik zu bekämpfen. Weil die DDR keine wirklichen Anstrengungen zu einer offenen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Erbe unternahm, blieb sie anfällig für das totalitäre und terroristische System des Stalinismus. In Gestalt der Stasi setzte sich die Tradition des Faschismus unbemerkt fort. Die DDR ersparte sich die aufwühlenden Auseinandersetzungen über die nationalsozialistische Vergangenheit, die im Westen immer wieder zu heftigen Debatten mit enormen emotionalen individuellen und gesellschaftlichen Erschütterungen führte. Man denke beispielsweise an Helmut Kohls Gorbatschow-Goebbels-Vergleich, den Historiker-Streit, die Goldhagen-Debatte, die mehrjährige Diskussion um das Holocaust-Mahnmal, die Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung, die Walser-Bubis-Debatte und das späte Geständnis von Günter Grass, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein. Das grün-alternative Milieu, aus dem sich die Wählerschaft der Grünen rekrutiert, hatte in diesen Auseinandersetzungen eine aktive Rolle. Dementsprechend entschieden wendet sich die Wählerschaft der Grünen gegen rechtsextreme Einstellungen (Schuler et al., 2020). Neben der sehr hohen Ablehnung einer rechtsautoritären Diktatur (ebd., S. 254) zeigt sich auch eine klare Stellungnahme gegen Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit 223

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

(ebd., S. 255). Ebenso eindeutig ist die Zurückweisung jeglicher Formen der Verharmlosung des Nationalsozialismus und des Antisemitismus (ebd., S. 256). Die Relativierung der Shoa durch die Aussage »Es macht mich wütend, dass die Vertreibung der Deutschen und die Bombardierung deutscher Städte immer als kleinere Verbrechen angesehen werden« (ebd., S. 262), wird von den Grünen am deutlichsten abgelehnt. Auch die Aussage »Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer« (ebd., S. 261), findet in der Grünen-Wählerschaft die geringste Zustimmung. Ein »linker Antisemitismus«, der sich hinter einer israelkritischen Haltung versteckt, ist in der Wählerschaft der Grünen nicht nachweisbar, tritt aber bei der Wählerschaft der Linken deutlich hervor. Die Linke rangiert hier dicht hinter der AfD. Die eigene Gewaltbereitschaft wird von der Grünen-Wählerschaft genauso deutlich verneint wie die Akzeptanz der Gewalt durch andere (ebd., S. 265). Es gibt keine andere Wählergruppe, unter denen Muslimfeindschaft und die Abwertung von Asylsuchenden häufiger abgelehnt werden als von der Wählerschaft der Grünen (ebd., S. 258f.). Insgesamt ergibt sich das Bild einer extremen Polarisierung zwischen der Wählerschaft der AfD und der der Grünen. Nur bei der Dimension Verschwörungsmentalität weist das Bild, das die Grünen-Wähler und -Wählerinnen von sich zeichnen, eine gewisse Inkonsistenz auf. Zwar lehnen sie die Aussage »Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden« (ebd., S.  263), am häufigsten ab, wahrscheinlich weil sie Verschwörungstheorien, wie sie häufig von Rechtspopulist*innen verbreitet werden, ablehnen, doch befinden sie sich bei den beiden Aussagen »Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben« (ebd.) und »Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte« (ebd., S. 264), nur im Mittelfeld. Sie lehnen diese Aussagen zwar mehrheitlich ab, sind in ihrer Ablehnung aber weniger entschieden als die Wählerschaft anderer Parteien. In dieser Abweichung von dem ansonsten so eindeutigen Bild und an der inhaltlichen Inkonsistenz bei dieser Fragestellung zeigt sich womöglich ein unaufgearbeitetes tiefsitzendes Misstrauen gegenüber staatlicher Machtausübung sowie eine Altlast kapitalismuskritischer Theoriebildung, die noch heute nachwirkt. »Den Kapitalismus«, »das internationale Finanzkapital«, »den Neoliberalismus«, »das kapitalistische System«, »den militärisch-industriellen Komplex« für alle Übel dieser 224

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

Welt verantwortlich zu machen, mag einen rationalen Kern haben, nimmt aber in den alltäglichen Versuchen, sich einen Reim auf die politischen Ereignisse zu machen, häufig den Charakter einer Verschwörungstheorie an. Wie die Daten belegen, ist die Wählerschaft der Grünen sehr weitgehend immun gegenüber »autoritären Versuchungen« (Heitmeyer, 2018). Dieses Bild wird allerdings etwas getrübt durch eine gewisse Schwäche für verschwörungstheoretische Fantasien. Dies zeigt sich auch in der aktuellen Corona-Krise, in der Verschwörungsfantasien enorm befeuert werden und quer durch alle politischen Lager Anhänger finden. Narzissmus – eine Gemeinsamkeit von AfD und Grünen?

Nachdem in den bisherigen Ausführungen die markanten Unterschiede zwischen den Wählern und Wählerinnen der AfD und denen der Grünen dargestellt wurden, ist es überraschend, dass es auch ein Merkmalcluster gibt, bei dem die Unterschiede weniger markant sind oder gar Ähnlichkeiten der Profile auftreten. Dies ist bei der Narzissmus-Skala der Fall (Abbildung 22). Sie ist eine Kurzversion des »Narcissistic Admiration and Rivalry Questionnaire« (NARQ-S), die die Subdimensionen Rivalry (»Rivalität«) und Admiration (»Bewunderung«) enthält (Leckelt et al., 2018; Back et al., 2013).

Abbildung 22: Parteipräferenz und Narzissmus (Yendell et al., 2020, S. 357).

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

»Der Begriff Admiration umschreibt die psychologische Strategie, zur Erhöhung des Selbstwerts bewundert zu werden, und der Begriff Rivalry umschreibt die Strategie, sich aus Gründen des Selbstschutzes gegen andere Menschen durchzusetzen. Hinter beiden Dimensionen steckt das Ziel, die Vorstellung eines grandiosen Selbst zu bewahren« (Yendell et al., 2020, S. 346).

Abbildung 23: Narzissmus-Item 1 (»Rivalry«) (Yendell et al., 2020, S. 358)

Abbildung 24: Narzissmus-Item 2 (»Admiration«) (ebd.)

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

Auf der Gesamtskala Narzissmus weist die Wählerschaft der AfD die höchsten Werte auf, gefolgt von den Linken und den Nichtwählern und Nichtwählerinnen; danach kommen bereits die Grünen. Die niedrigsten Narzissmus-Werte weisen die Gruppen »Weiß nicht, welche Partei« und die SPD-Wähler*innen auf. Beim Item »Ich reagiere genervt, wenn eine andere Person mir die

Abbildung 25: Narzissmus-Item 3 (»Rivalry«) (ebd., S. 359)

Abbildung 26: Narzissmus-Item 4 (»Admiration«) (ebd.)

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

Schau stiehlt«, zeigen Linke, AfD und Grüne die höchsten Werte (Abbildung 23). Der Aussage »Ich habe es verdient, als große Persönlichkeit angesehen zu werden« stimmen die Wähler und Wählerinnen der Linken und der AfD am häufigsten zu, während die der Grünen im Mittelfeld rangieren (Abbildung 24). Den Wunsch »Ich will, dass meine Konkurrenten scheitern« können die Wähler der AfD und der Linken am häufigsten bei

Abbildung 27: Narzissmus-Item 5 (»Admiration«) (ebd., S. 360)

Abbildung 28: Narzissmus-Item 6 (»Rivalry«) (ebd.)

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

sich entdecken. Auch hier befinden sich die Grünen im Mittelfeld (Abbildung 25). Der Feststellung »Ich ziehe viel Kraft daraus, eine ganz besondere Person zu sein«, stimmen AfD und Grüne am häufigsten zu (Abbildung  26). Das gleiche Bild ergibt sich bei dem Item »Mit meinen besonderen Beiträgen schaffe ich es, im Mittelpunkt zu stehen.« Auch hier rangieren AfD und Grüne an der Spitze (Abbildung 27). Beim Statement »Die meisten Menschen sind ziemliche Versager« zeigt sich wieder das von der Autoritarismus-Skala vertraute Bild: Die Wählerschaft der AfD ist am häufigsten dieser Ansicht, während die Grünen am entgegengesetzten Ende des Spektrums angesiedelt sind, dabei aber noch von der Gruppe »Weiß nicht, welche Partei« übertroffen werden (Abbildung 28). Zusammenfassend kann man festhalten, dass die AfD (und die Linken) durchweg die höchsten Narzissmus-Werte aufweisen. Die Grünen bilden aber nicht wie beim Autoritarismus den absoluten Gegenpol, sondern liegen mal im Mittelfeld, mal weisen sie zusammen mit der AfD die höchsten Narzissmus-Werte auf. Zwei theoretische Konzepte des Narzissmus

Welche Erklärungsansätze gibt es für diese Ergebnisse? Betrachten wir dazu zunächst die theoretischen Konzepte des Narzissmus. Es existieren zwei unterschiedliche Theorien zur psychosozialen Entstehung des Narzissmus. Die psychoanalytische Theorie der narzisstischen Störung geht davon aus, dass ein überdurchschnittlich ausgeprägter Narzissmus als Kompensationsleistung für verborgene Minderwertigkeitsgefühle und für erlittene Entwertungen und Kränkungen anzusehen ist. Narzisstisch gekränkte Personen machen sich größer als sie sind, um damit ihre schmachvoll erlebte Entwertung und die daraus resultierenden Kleinheits- und Minderwertigkeitsgefühle auszugleichen (Doering, Hartmann  & Kernberg, 2021). Sie suchen deshalb gesellschaftliche Positionen, die Macht, Ansehen und Aufmerksamkeit versprechen (Wirth, 2002). Bei einer halbwegs gelungenen Kompensation der ursprünglichen narzisstischen Kränkung gelingt es den Betreffenden, eine überwiegend positive Resonanz zu erzeugen. Liegt eine besonders traumatische Kränkung zugrunde, kann es dazu kommen, dass sich die Betreffenden darauf kaprizieren, eine heftige negative Resonanz hervorzurufen, weil auch die Ablehnung, gar Feindschaft, die ihnen entgegenschlägt, als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass sie gese229

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

hen werden, dass sie die Anderen zwingen können, ihnen Aufmerksamkeit zu widmen. Nach dem Motto »Viel Feind, viel Ehr« suchen sie das Entsetzen, gar die nackte Angst in den Augen des anderen, um sich ihrer Wirkmächtigkeit zu versichern. Das martialische, gewalttätige und provozierende Auftreten mancher Skinhead-Gruppen entspricht diesem psychodynamischen Muster (Wirth, 1989b). Der zweite theoretische Ansatz ist ebenfalls psychoanalytisch orientiert. Er ist von der Bindungs- und Säuglingsforschung beeinflusst und sieht in einem gesunden Narzissmus ein zentrales Element der reifen Persönlichkeit. Entwicklungspsychologisch betrachtet, bildet sich ein gesunder Narzissmus heraus, wenn das Selbstgefühl und das Selbstwertgefühl durch Liebe und Anerkennung bestätigt – oder genauer: überhaupt erst konstituiert werden. Danach bezeichnet Narzissmus eine besondere Form des Selbstbezugs, der über die Resonanz mit dem anderen vermittelt wird (Altmeyer, 2019). Die Subjektwerdung beginnt bereits mit dem intensiven Dialog zwischen Mutter und Kind, bei dem »der emotionale Gesichtsausdruck der Mutter« zum »wirksamsten visuellen Stimulus« (Schore, 2009 [2003], S. 31) für das Baby wird. Der von Freud (1914c) postulierte »primäre Narzissmus« des Kindes ist kein autistischer, symbiotischer, passiver Zustand, sondern von allem Anfang an auf intersubjektive Resonanz angelegt. Heute weiß man, dass Heinz Kohuts (1971, S. 142) Formulierung vom »Glanz im Auge der Mutter«, auf dem sich das Selbstgefühl des Säuglings aufbaut, mehr als eine Metapher ist. Dieses wechselseitige affektive Spiegeln, dieses Sich-aufeinander-Einlassen stellt das Muster der grundsätzlich kommunikativen Existenzweise des Menschen dar. Diese Erkenntnis verbindet die psychoanalytische Säuglingsforschung mit der Philosophie der kommunikativen Anerkennung, wie sie Habermas (1981) und Honneth (2010) entwickelt haben. Erziehungsstile, die einem solchen psychologischen Verständnis entsprechen, verbreiteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in den USA. Sie waren Teil eines tiefgreifenden sozialpsychologischen Transformationsprozesses, bei dem die bis dahin vorherrschende autoritäre Charakterorientierung (Fromm, 1936, 1947) abgelöst wurde durch eine vorwiegend narzisstische Charakterorientierung, die sowohl Individuen als auch Gruppen betrifft (Funk, 2020, S. 108). Auch Gruppen können eine Gruppenidentität entwickeln, die durch narzisstische Wertvorstellungen und Ziele gekennzeichnet ist. Natürlich ist die narzisstische Orientierung 230

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

des heute dominierenden Sozialcharakters nicht frei von Konflikten, Fehlentwicklungen und Pathologien. Dieses sozialpsychologische Konzept ist auch nicht gleichzusetzen mit dem idealtypischen Konstrukt eines gesunden Narzissmus, wie es unter Bezugnahme auf die psychoanalytische Bindungstheorie skizziert wurde. So wird die zunehmende gesellschaftliche Dominanz narzisstischer Orientierung von der kulturpsychologischen Zeitdiagnose auch ganz überwiegend kritisch gesehen (Lasch, 1979; Richter, 2002; Twenge & Campell, 2010). Gleichwohl kann idealtypisch zwischen zwei Narzissmus-Konzepten unterschieden werden: Beim Typus des narzisstisch Gekränkten verbindet sich das Gefühl narzisstischer Grandiosität mit negativen Gefühlen wie Geringschätzung, Verachtung, Missgunst, Neid und Ressentiment gegenüber Schwächeren und Unterlegenen. Das narzisstische Gefühl, anderen überlegen zu sein, dient der Abwehr von tiefen Selbstzweifeln, Kränkungen des Selbstwertgefühls und der Angst von weiterem sozialen Abstieg und kulturellem Bedeutungsverlust. Ressentiments und Hass gegen andere gehören essenziell zu diesem Typus des Narzissmus. Beim Typus der narzisstischen Selbstverwirklichung besteht vor dem Hintergrund der biografisch-familiären Entwicklung und aufgrund der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Berufsgruppen, die im Trend der ökonomischen Entwicklung liegen, ein mehr oder weniger stabiles narzisstisches Selbstwertgefühl. Bei Individuen, deren Wertorientierungen sich an narzisstischen Zielen der persönlichen Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung orientieren, besteht zwar auch eine gewisse Neigung zu Rivalität und zur Überbetonung der eigenen Leistungen und dem Wunsch von anderen bewundert zu werden, aber diese Einstellungen sind weniger aggressiv und paranoid aufgeladen. AfD – Partei der narzisstisch Gekränkten

Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Narzissmus-Werte der Grünen und der AfD, so zeigt sich, dass AfD und Grüne auf der Unterskala Bewunderung (Admiration) zusammen mit den Wählern und Wählerinnen der Linken die höchsten Werte aufweisen (Abbildungen 25–27). Diese drei Gruppierungen stimmen der Aussage »Mit meinen besonderen Beiträgen schaffe ich es, im Mittelpunkt zu stehen« (Abbildung 27) am meisten zu. Auch sagen sie von sich, dass sie »besonders viel Kraft daraus 231

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

ziehen, eine ganz besondere Person zu sein« (Abbildung 26). Die Wähler*innen der AfD (und der Linken) sind zudem besonders davon überzeugt, dass sie »es verdient haben, als große Persönlichkeit angesehen zu werden« (Abbildung 24). Hier nehmen die Grünen nur eine mittlere Position ein. Alle drei Gruppierungen legen offenbar besonders starken Wert darauf, von anderen Anerkennung oder gar Bewunderung zu erhalten und betrachten dies als angemessene Bestätigung ihres grandiosen Selbstbildes. Nimmt man nun die Unterskala Rivalität (Rivalry) hinzu, spezifiziert sich das Bild (Abbildungen 23, 25, 28). Die Wähler der AfD, gefolgt von denen der Linken, rivalisieren sehr stark mit anderen Menschen. Die Rivalität hat weniger einen spielerischen Charakter, sondern ist von Neid und Missgunst geprägt. So wollen die Wähler und Wählerinnen der AfD und der Linken, dass »meine Konkurrenten scheitern« (Abbildung 25) und »reagieren genervt, wenn eine andere Person mir die Schau stiehlt« (Abbildung 23). Insbesondere beim Item »Die meisten Menschen sind ziemliche Versager« kommt der aggressiv-entwertende Charakter ihrer narzisstischen Rivalität deutlich zum Ausdruck (Abbildung 28). Die Wählerschaft der AfD (und der Linken) entspricht dem Typus des narzisstisch Gekränkten, der einen kulturellen Bedeutungsverlust und einen sozialen Entwertungsprozess durchgemacht hat. Um diese tiefe Kränkung zu kompensieren und abzuwehren, entwickelt sich ein autoritäres, fremdenfeindliches und von Ressentiments geprägtes Weltbild. Man muss den eigenen schmerzlichen Verlust von gesellschaftlicher Anerkennung, die Verunsicherung des Selbstwertgefühls, die Auflösung seiner kulturellen Identität nicht so stark spüren, wenn man den Schmerz und die Trauer, die eigentlich angemessen wären, in hasserfüllte Verachtung verwandelt, mit der man andere straft. Man fügt diversen Außenfeinden die Erniedrigungen zu, die man selbst tatsächlich oder vermeintlich erlitten hat. Als Sündenböcke werden bevorzugt solche sozialen Gruppen ausgewählt, die sich als Fremde, als Minderheiten, oder als Asylsuchende in einer schwachen Position befinden, oder die aus den verschiedensten Gründen eine besondere Vulnerabilität aufweisen. So werden Behinderte ebenso zur Zielscheibe von Ressentiments und aggressiven Attacken wie Juden und Jüdinnen oder Menschen, die einen fremdländischen Eindruck machen. Die Sündenbocksuche knüpft zudem an den historisch tradierten Antisemitismus und Rassismus an und kann sich auf diese Weise Bestätigung und gleichsam historische Unterstützung und Argumentationshilfe verschaffen (Decker & Brähler, 2021). 232

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

Was die Wählerschaft anbelangt, steht die AfD in der Tradition der NPD, die in den 1960er Jahren in einigen Landesparlamenten vertreten war, dann aber in der politischen Bedeutungslosigkeit versank, und in der Nachfolge der Republikaner, die 1989 ins Europäische Parlament und ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen konnten, nach der Wiedervereinigung aber bald keine große Rolle mehr spielten. Das psychologische Profil, das damals in zwei Studien von der Wählerschaft dieser beiden Parteien gewonnen wurde, gleicht in einigen charakteristischen Punkten so deutlich der Wählerschaft der AfD, dass man sagen kann, es handelt sich um das gleiche soziale Milieu und die gleichen sozialpsychologischen Muster. In der Studie von Horst-Eberhard Richter und Dieter Beckmann (1968) »Zur Psychologie des deutschen Rechtsradikalismus. Eine repräsentative Testanalyse von NPD-Wählern«, die damals im SPIEGEL veröffentlicht wurde, wird der typische NPD-Wähler als Mensch geschildert, der sich durch seine »Ichbezogenheit«, eine »großartige Selbsteinschätzung« und »unkritische Größenideen« (ebd., S. 281) auszeichnet. In seinen sozialen Beziehungen neigt er zu »kämpferischen Verstrickungen« und der Erwartung, »von anderen eher für minderwertig als für wertvoll gehalten zu werden« (ebd., S. 280). Die Autoren betonen, dass sich das Programm der NPD »in wichtigen Zügen wie eine kollektive Vergrößerung des Selbstportraits des einzelnen NPD-Wählers liest: Kein selbstkritischer Gedanke regt dazu an, eigenes Verschulden und eigene Fehlhandlungen anzuerkennen und daraus zu lernen. Nur äußeres Ungemach trübt das kollektive Selbstbild. […] Das Parteiprogramm entwirft also ein ähnlich düsteres Umweltverhältnis für das Kollektiv wie der typische NPD-Wähler für seine Person: Misstrauen und Vorwürfe herrschen vor. Nicht Hoffnungen auf kooperative Verbundenheit, sondern Tendenzen nach eigensinniger Abschirmung prägen das außenpolitische Konzept. ›Widerstand gegen den Ungeist der Anpassung, des Verzichts und der Unterwerfung‹ wird kategorisch gefordert. Dem eigenen Unbehagen wird eine vorwurfsvolle Abreaktion nach außen gebahnt. Dazu weiß man sich als unschuldiges Opfer der ›Siegermächte‹ legitimiert. Man will die Partei sein, welche den gebeugten, entmachteten Deutschen ihre zu Unrecht beeinträchtigte Selbstachtung zurückgibt. Bei der Schwarzweiß-Aufteilung der Welt in die bösen Unterdrückermächte einerseits und die guten Unterdrückten andererseits […] wird Deutschland auf der Seite der armen Opfer genannt« (ebd., S. 282f.).

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

Die zweite Studie von Elmar Brähler und Horst-Eberhard Richter (2000 [1995b]), »Selbstkonzept von Republikaner-Wählern 1989«, zeichnet ein ähnliches psychologisches Bild. Der typische Wähler bzw. die typische Wählerin der Republikaner zeichnet sich durch eine »Tendenz zu narzisstischer kämpferischer Selbstdurchsetzung« (ebd., S. 21) und »eine besondere Tendenz zum Misstrauen« (ebd., S. 23) aus. Vom Durchschnitt der westdeutschen Männer heben sich die männlichen Republikaner-Wähler dadurch ab, dass sie »vorne an sein« und »andere beherrschen« wollen. Zudem sind sie bestrebt, »ihren Willen ungeachtet dadurch heraufbeschworener Konflikte durchzusetzen« und »gestehen sich noch weniger zu, fürsorgliches Mitgefühl zu entwickeln« als der Durchschnitt der westdeutschen Männer. So betonen sie »vergleichsweise am krassesten, dass sie andere übertreffen wollen, dominieren müssen, eigenwillig sind, sich häufig in Auseinandersetzungen verwickeln und sich um andere weniger Sorgen machen« (ebd., S. 22). Zusammenfassend bescheinigen ihnen die Autoren, dass sich die Wählerschaft der Republikaner durch »ihre auftrumpfenden ressentimenthaften Größenideen« (ebd., S. 24). auszeichnet. Ausdrücklich weisen die Autoren darauf hin, dass ihre repräsentativen Längsschnittstudien, die sie seit 1968 durchführen, ergeben haben, dass seit Mitte der 1970er  Jahre ein Trend in Richtung »mehr narzisstische Ellbogenmentalität und weniger soziale Rücksichtnahme« (Brähler & Richter, 2000 [1995a], S. 12) besteht, der nur von der Wählerschaft der Republikaner besonders stark vertreten wird. In Anbetracht der weltweiten rechtspopulistischen Bewegungen kann man der damaligen Diagnose eine erstaunliche Vorhersagekraft bescheinigen. Andreas Reckwitz greift bei seiner soziologischen Analyse der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu Begrifflichkeiten, die an psychoanalytische Theorien, insbesondere Narzissmus-Theorien anknüpfen. Er sieht eine Gemeinsamkeit aller rechtspopulistischen, nationalistischen und auch religiös fundamentalistischen Gruppierungen darin, »dass sie überwiegend von Bevölkerungsgruppen getragen werden, die sich im Zuge der Transformation von der industriellen Moderne zur postindustriellen Gesellschaft der Singularitäten als Modernisierungsverlierer wahrnehmen. In sozialstruktureller Begrifflichkeit handelt es sich insbesondere um Teile der neuen Unterklasse und der alten Mittelklasse. Die Hyperkultur und ihr Kosmopolitismus sind für sie eine Sache der ›Eliten‹, die kollektiven Identitätsbewegungen hingegen das Medium, in dem die Deklassierten,

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Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

die Entwerteten und Gekränkten, die in ihrer Wahrnehmung zu Unrecht um sozialen Status und kulturellen Einfluss Betrogenen sich sammeln. Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühle gehen in diesem spätmodernen Kulturessenzialismus eine ungewöhnliche Verbindung ein: Die sich unterlegen Fühlenden versuchen sich über eine kollektive Identität Überlegenheit zuzuschreiben und zu sichern« (Reckwitz, 2019b, S. 46, Kursivierung H.-J. W.).

Als ein weiterer Einflussfaktor kommt in Deutschland die Situation der Bevölkerung in den neuen Bundesländern hinzu. Wie die verschiedenen Wahlergebnisse der letzten Jahre immer wieder gezeigt haben, verfügt die AfD (und auch Die Linke) in den neuen Bundesländern über eine besonders starke Wählerbasis. Der gesellschaftliche Entwertungsprozess, den die alte Mittelschicht durchlaufen musste, wird im Falle der neuen Bundesländer zusätzlich verstärkt durch eine kollektive Kränkung des ostdeutschen Großgruppen-Narzissmus. Mit Vamik Volkan (1999) kann man davon sprechen, dass Teile der ostdeutschen Bevölkerung den Zusammenbruch der DDR mit all seinen persönlichen, kollektiven, politischen und psychosozialen Verwerfungen als »gewähltes Trauma« verarbeitet haben. Volkan meint damit einen massenpsychologischen Prozess, bei dem Großgruppen und Nationen versuchen, ihre gemeinsame Identität dadurch zu festigen, dass sie eine Situation, in der die Gruppe schwere Verluste oder demütigende Verletzungen hinnehmen musste und sich als Opfer fühlte, als gemeinsamen Bezugspunkt ihrer Gruppenidentität auswählt. Im Falle der Bevölkerung der DDR führt dies dazu, dass der Verlust der zwar einengenden, aber doch Sicherheit vermittelnden staatlichen Fürsorge so verarbeitet wird, dass man das Regime des real existierenden Sozialismus nostalgisch verklärt und die gegenwärtige kapitalistische Realität als kalt, elitär und ungerecht entwertet. Diese Flucht in die Opfer-Identität war bereits im Selbstverständnis der DDR-Führung angelegt. Wie die ostdeutsche Psychoanalytikerin Annette Simon (2019, S. 37) schreibt, schuf die Führung der DDR nach 1945 einen Mythos, demzufolge »die DDR aus dem Anti-Faschismus geboren worden sei. Diese Saga entfaltete eine ungeheuer starke Wirkung – bis in die einzelne Familie hinein –, weil sie umfassende Schuldentlastung von den deutschen Verbrechen bot. Diese Schuldentlastung wurde von den Deutschen Ost, die gar nicht unschuldiger waren als die Deutschen West, ergriffen und nach und nach sogar

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6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

geglaubt. Die Identifikation mit den Antifaschisten und später auch mit der DDR bot den ungeheuren Vorteil, nun scheinbar auf der richtigen Seite zu stehen, auf der Seite des Widerstands und damit auch der Opfer. Alles, was aber nach 1945 an psychischen Dispositionen, an Anfälligkeit für Unterordnung, autoritäres Denken, Verachtung des Fremden und Schwachen weiterhin da war, wurde außer in der Kunst und Literatur nicht gesellschaftlich durchgearbeitet, öffentlich schon gar nicht«.

Bei der Bevölkerung der neuen Bundesländer war also die Anfälligkeit für einen aggressiven Autoritarismus schon durch die DDR-Sozialisation gebahnt und findet deshalb eine höhere Zustimmung als in den alten Bundesländern. Nach der Maueröffnung nahm die Abwanderungsbewegung von Ost nach West dramatisch an Fahrt auf und hatte eine negative Auslese zur Folge: Die Älteren mit schlechterer Bildung und pessimistischer Einstellung sind geblieben, die jungen, dynamischen und gut gebildeten mit Unternehmungslust haben sich in den Westen abgesetzt. Die Grünen – Partei der erfolgreichen Selbstverwirklichung

Betrachten wir nun nochmals die Narzissmus-Werte der Wählerschaft der Grünen genauer: Auf der Gesamtskala Narzissmus zeigt sich bei den Grünen zwar kein so hoher Wert wie bei der Wählerschaft von AfD und Linken, aber die Werte liegen doch knapp hinter diesen beiden Gruppen und vor allen anderen Parteien und Gruppen. Bei den Items »Ich ziehe viel Kraft daraus, eine ganz besondere Person zu sein« (Abbildung 26), und »Mit meinen besonderen Beiträgen schaffe ich es, im Mittelpunkt zu stehen (Abbildung 27), rangiert die Wählerschaft der Grünen im oberen Drittel des Feldes. Beide Items gehören zur Unterskala Bewunderung (Admiration). Beim dritten Statement, das zu dieser Skala gehört, »Ich habe es verdient, als große Persönlichkeit angesehen zu werden« (Abbildung 24), liegen die Wähler und Wählerinnen der Grünen nur im Mittelfeld. Man kann vermuten, dass die Formulierung »als große Persönlichkeit angesehen zu werden« für viele etwas zu dick aufgetragen war. Hätte es geheißen, »als besondere Persönlichkeit angesehen zu werden«, hätten vermutlich ebenso viele zugestimmt wie dem Item »Ich ziehe viel Kraft daraus, eine ganz besondere Person zu sein«. Die beiden Items 21 und 22, bei denen die Besonderheit stark betont 236

Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen

wird, messen eine Eigenschaft, die Reckwitz (2019a) als »Singularitäten« bezeichnet. Wie der Autor ausführt, strebt das spätmoderne Subjekt danach, »ein bloß instrumentelles, zweckrationales und emotionsloses Weltverhältnis hinter sich zu lassen und die Objekte, Subjekte, Orte, Ereignisse und Kollektive zu ästhetisieren, zu hermeneutisieren, zu ethisieren, zu ludifizieren, um aus ihnen affektive Befriedigung zu beziehen. Diese Kulturalisierung ging einher mit einer Entstandardisierung und Singularisierung: der besondere Mensch als Indiviuduum, das besondere Ding (Handwerk, Kunstwerk), der besondere Ort, das besondere Ereignis sind ihre Zielmarken« (ebd., S. 286).

Die Gedanken der Selbstverwirklichung, der Selbstentfaltung, der Selbsterfahrung und des Selbstwachstums sind Leitmotive, die die Emanzipations-, Jugend- und Protestbewegungen und zeitgleich die psychosozialen Berufe und ihre »aktiven Konsumenten« (Gartner  & Riessman, 1978 [1974]) seit den1960er Jahren entwickelten. Ihre gemeinsamen postmaterialistischen Wertorientierungen sickerten danach in die »Kultur der Spätmoderne und ihrer neuen Mittelklasse« (ebd., S. 290) ein. Das von dieser Kultur geprägte Subjekt »setzt sich hier als befähigt und berechtigt zur Selbstverwirklichung voraus; es sieht sich als Ort von Potenzialen und nimmt für sich gewissermaßen ein moralisches Recht in Anspruch, sich so zu entfalten, wie es ihm in seiner Besonderheit entspricht. Mit diesem Berechtigungsbewusstsein ist ein entsprechend hohes Selbstwertgefühl verbunden: Das spätmoderne Subjekt spricht sich selbst einen Wert als Individuum zu, vor dessen Hintergrund die Legitimität der freien Entfaltung dieses Selbst überhaupt nicht in Zweifel steht, ja sozusagen natürlich zu sein scheint« (ebd., S. 290f.).

Wenn man nun die Unterskala Rivalität (Rivalry) betrachtet (Abbildungen 23, 25, 28), ergibt sich eine weitere Differenzierung: Die Wählerschaft der Grünen liegt bei dem Item »Ich reagiere genervt, wenn eine andere Person mir die Schau stiehlt« (Abbildung 23) im oberen Drittel des Feldes hinter den Linken und der AfD. Beim Statement »Ich will, dass meine Konkurrenten scheitern« (Abbildung 25) stimmen schon sehr viel weniger Wählerinnen und Wähler der Grünen zu; sie liegen in der unteren Hälfte des Feldes. 237

6 AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder

Die Wähler*innen der Grünen rivalisieren also durchaus mit anderen Menschen, es handelt sich jedoch nicht um eine Rivalität auf Biegen und Brechen. Ihre Rivalität hat einen spielerischen Charakter und bleibt positiv, nach Resonanz suchend auf die Mitmenschen bezogen. Ihr Hang zur Selbstverwirklichung ist nicht nur nach innen gerichtet, sondern findet vor den Augen der Mitmenschen statt und soll von diesen auch entsprechend goutiert werden: »Das ist die paradoxe Struktur einer performativen Selbstverwirklichung, also einer Darstellung von Selbstverwirklichung vor einem sozialen Publikum, um von dort als ›attraktives Leben‹ anerkannt zu werden« (Reckwitz, 2019a, S. 305). Die Innenorientierung in Gestalt der Selbstverwirklichung soll mit der Außenorientierung in Gestalt des Prestiges verknüpft werden. Die Wählerschaft der Grünen will bei den Mitmenschen gut ankommen, fühlt sich dafür auch gut gerüstet und hat es nicht nötig, in eine aggressiv-entwertende Rivalität mit anderen zu treten. Eine solche Einstellung widerspricht zudem ihren auf Kommunikation, Verständigung, Verständnis und Solidarität ausgerichteten Orientierungen. Entsprechend lehnen sie das Statement »Die meisten Menschen sind ziemliche Versager« sehr häufig ab (Abbildung 28). Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Narzissmus der Grünen dem Typus der narzisstischen Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung entspricht. Er ist ein Ergebnis der »Selbstverwirklichungsrevolution« Reckwitz’ (2019b, S. 151), die von den Jugend-, Studenten- und Emanzipationsbewegungen in den 1960er bis 1980er  Jahren ausgelöst wurde und zu einer tiefgreifenden kulturellen und sozialpsychologischen Transformation auch in den Strukturen des Sozialcharakters führte. Die Menschen- und Weltbilder der Wählerschaft von AfD und Grünen stehen sich so diametral gegenüber. Das zeigt sich in der politischen Auseinandersetzung, spiegelt sich aber auch in den Daten wider.

Bilanz und Ausblick Das Menschenbild der AfD-Anhängerschaft ist rückwärtsgewandt und von Ressentiments, rassistischen Stereotypien und Menschenfeindlichkeit geprägt. Diese moralisch verwerflichen Auffassungen sind psychologisch verwurzelt sowohl in individuellen als auch in kollektiven narzisstischen Kränkungen. Das Menschenbild der Grünen-Anhängerschaft ist zukunftsorientiert und von humanistischen Werten wie Solidarität, Emanzipation 238

Bilanz und Ausblick

und Selbstverwirklichung geprägt. Diese moralisch wertvollen Auffassungen sind psychologisch verwurzelt sowohl in individuellen als auch in kollektiven Erfahrungen von narzisstischer Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung. Dieses narzisstisch gefestigte Selbst und das moralisch stabile Selbstbild, das sich an einem ethischen Menschenbild orientiert, ist jedoch kein Freibrief für eine übersteigerte narzisstische Selbstgewissheit und Selbstidealisierung. Die narzisstische Verführung, sich gegenüber populistischen Vereinfachungen moralisch, intellektuell und psychologisch überlegen zu fühlen, stellt gerade in einer Situation gesellschaftlicher Polarisierungen eine enorme Gefahr dar, die Spaltung der Gesellschaft noch zu vertiefen. Ihr kann nur durch die Bereitschaft zur Selbstkritik und zum Dialog begegnet werden. Werfen wir auf dem Hintergrund dieser Ausführungen noch einen Blick auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021: Obwohl der Anteil der über 60-Jährigen an der wahlberechtigten Bevölkerung so hoch war wie noch nie, ist es den beiden Parteien, die vor allem von den 18- bis 24-Jährigen gewählt wurden, nämlich Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, gelungen, die Meinungsführerschaft zu übernehmen. Aus dieser sozialpsychologischen Konstellation speist sich der Elan, mit dem sich die Ampel-Koalition zur Regierungsübernahme zusammenfand. Sie eröffnet der jungen Generation die historische Chance, die Geschicke der Bundesrepublik in eine neue Richtung zu lenken. Das Motto der neuen Regierung »Fortschritt wagen«, das an Willy Brandts »Demokratie wagen« erinnert, weckt Hoffnungen. Ob das neue Bündnis diesen Impuls zur gesellschaftlichen Erneuerung in Realpolitik überführen kann, wird die Zukunft zeigen.

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7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

»Die Pandemie zeigt uns: Ja, wir sind verwundbar. Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Aber das war ein Irrtum.« Diese Sätze stammen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus seiner Fernsehansprache am 11. April 2020 zur aktuellen Lage in der Corona-Pandemie. Mit ganz ähnlichen Worten hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits am 18. März 2020 geäußert: »Das ist, was eine Epidemie uns zeigt: wie verwundbar wir alle sind, wie abhängig von dem rücksichtsvollen Verhalten anderer, aber damit eben auch: wie wir durch gemeinsames Handeln uns schützen und gegenseitig stärken können.« Beide heben hervor, dass die Pandemie zu einem neuen Bewusstsein von der menschlichen Verletzlichkeit, Verwundbarkeit und Vulnerabilität geführt habe. Handelt es sich wirklich um eine neue Einsicht oder um eine politische Phrase, die morgen wieder vergessen ist? Es ist bemerkenswert, dass auch renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie den Begriff der Vulnerabilität benutzen, allerdings ohne ihn weiter auszuführen. Ich nenne als Beispiel Herfried Münkler (2020, S. 304), der in seinem Artikel »Corona-Pandemie und Geopolitik« schreibt, dass in »einer globalisierten Welt« eine »tatsächliche Verwundbarkeit durch Pandemien« vorläge. Reckwitz (2020b, S. 249) führt aus, dass man den Gedanken der Resilienz ebenso wie den der Verletzlichkeit vom Individuum auf die kollektive Ebene übertragen könne: »Die spätmoderne Gesellschaft erweist sich seit 2010 infolge der genannten multiplen Risikokonstellationen als eine gesteigert vulnerable Gesellschaft.« Diese Zitate mögen genügen, um eine intensivere Beschäftigung mit dem Begriff der Vulnerabilität zu rechtfertigen. Ich werde im Folgenden versuchen, den Begriff der Vulnerabilität von verschiedenen wissenschaft241

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

lichen Disziplinen aus zu beleuchten, um zu prüfen, was er zu einem besseren Verständnis der gegenwärtigen Krisen, in der sich Individuum und Gesellschaft derzeit befinden, beitragen kann und wie diese Krisen unser Menschenbild und unseren Blick auf die Gesellschaft verändern.

»Vulnerabilität« und »Trauma« Der Begriff »Vulnerabilität« kommt aus dem Lateinischen, vulnus heißt »Wunde«, vulnerare meint »verwunden«. »Vulnerabilität« bedeutet also »Verwundbarkeit« oder »Verletzbarkeit«. Etwa seit den 1980er Jahren hat dieser Begriff in verschiedene Wissenschaften Eingang gefunden, insbesondere in die Katastrophen- und Risikoforschung (Katastrophennetz, 2012; Felgentreff, 2014). In den Sozial- und Kulturwissenschaften existiert eine ganze Reihe von Theorien (Stöhr et al., 2019), in denen die Verletzlichkeit des Menschen und seiner sozialen Systeme zum Thema gemacht wird – ohne allerdings unbedingt den Begriff zu erwähnen oder ins Zentrum der Argumentation zu stellen. Beispielsweise beschreibt der Soziologe Erving Goffman (1963) die Anfälligkeit der Identität für Beschädigungen durch Stigmatisierung. Der Philosoph Emmanuel Levinas (2007) entwirft eine Ethik der Verantwortung angesichts der Vulnerabilität des Antlitzes, und auch in den Auseinandersetzungen um die Verletzung der Menschenrechte ist Vulnerabilität ein zentraler Bezugspunkt (Stöhr et al., 2019, S. 1). Auch in der Diskussion um die Rechte sexueller Minderheiten spielt der Aspekt der Vulnerabilität eine zentrale Rolle. Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie ging es zentral darum, die »vulnerablen Gruppen« zu schützen. In die Psychoanalyse hat der Begriff der Vulnerabilität praktisch (noch) keinen Eingang gefunden, allerdings wird der Sachverhalt der seelischen Verletzungen dort mit einem anderen Begriff thematisiert, nämlich dem des Traumas. »Trauma« kommt aus dem Griechischen und heißt »Wunde«, bezeichnet also den gleichen Sachverhalt wie »Vulnerabilität«. Dass es nicht nur körperliche Verwundungen gibt, sondern auch seelische Wunden, haben Philosophie und Dichtung schon seit Jahrtausenden gewusst, aber erst Sigmund Freud hat diese Tatsache systematisch wissenschaftlich erforscht und zum Ausgangspunkt seiner psychologischen Theorie der Persönlichkeit und der menschlichen Entwicklung gemacht. 242

»Vulnerabilität« und »Trauma«

Doch was sind die Unterschiede zwischen »Vulnerabilität« und »Trauma«, so wie diese Begriffe im wissenschaftlichen Diskurs gebraucht werden? Ein »Trauma« ist ein schockartiges, außergewöhnliches Ereignis, das die psychischen Verarbeitungskapazitäten überfordert. Es hat in der Regel gravierende und langwierige Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und die psychische und körperliche Gesundheit. Viele psychische Krankheiten und Störungen sind auf massive Traumata, die häufig in der Kindheit stattgefunden haben, zurückzuführen. Aber auch dem Erwachsenen können noch Ereignisse von traumatischer Qualität widerfahren, etwa als Folge von Gewalt, Katastrophen, Unfällen, Verlust, Verlassenheit, Vernachlässigung, Krankheit und Tod. Gleichwohl sind Traumata eher seltene Ereignisse, die nicht allen Menschen widerfahren, im Unterschied zu neurotischen Konflikten und Identitätskrisen (Erikson, 1966 [1959]), die alle Menschen während aller Lebensphasen mehr oder weniger intensiv durchmachen. »Vulnerabilität« bezeichnet hingegen einen länger andauernden Zustand der erhöhten Irritierbarkeit, Gefährdung, Durchlässigkeit, Empfindlichkeit, Empfindsamkeit und Sensibilität, der das Risiko erhöht, tatsächlich ein Trauma zu erfahren. Das Trauma ist eine Grenzsituation des Lebens, Verletzlichkeit ist hingegen eine »permanente Möglichkeit des Daseins« (Pugliese, 2017, S. 360). »Vulnerabilität ist eine Daseinsstruktur. Sie ist aus der menschlichen Existenz genauso wenig wegzudenken wie reale Verletzungserfahrungen« (Flaßpöhler, 2021, S. 207). Es ist bemerkenswert, dass die beiden Begriffe nicht wirklich zusammengedacht und diskutiert werden. Der Trauma-Begriff hat in den letzten Jahrzehnten eine zentrale Bedeutung für die Psychotherapie erlangt. Die Zahl der Publikationen dazu ist kaum noch überschaubar. Neben der Psychoanalyse beschäftigt sich sogar die neue wissenschaftliche Disziplin der Psychotraumatologie (Seidler, Freyberger & Maercker, 2015) mit der Thematik. Auch im öffentlichen Diskurs hat das Trauma eine erstaunliche Popularität erfahren. Manche Kritikerinnen und Kritiker meinen sogar, der Trauma-Begriff werde geradezu inflationär benutzt (Quindeau, 2019; Flaßpöhler, 2021, S. 207). Vulnerabilität ist als psychologisches Konzept hingegen theoretisch noch kaum entwickelt (Stöhr et al., 2019). Der Begriff »Trauma« benennt eine Verletzung, die bereits stattgefunden hat. »Vulnerabilität« bezeichnet hingegen die potentielle Möglichkeit, verletzt oder traumatisiert zu 243

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

werden. Der entsprechende Begriff im psychoanalytischen Theoriezusammenhang müsste »Traumatisierbarkeit« heißen. Davon ist in der Psychoanalyse aber nur ganz selten die Rede. Es wäre aber eine Bereicherung der psychoanalytischen Perspektive, nicht nur von »Traumata«, die bereits geschehen sind, zu sprechen, sondern auch von der »Traumatisierbarkeit« oder »Traumadisposition« (Reemtsma, 2008, S. 99), die in verschiedenen Lebensphasen und biografischen, kulturellen und gesellschaftlichen Situationen höher ist als in anderen. In diesem Zusammenhang muss auch das Phänomen der »Resilienz« erwähnt werden (Wunsch, 2013). Es handelt sich um einen komplementären Begriff sowohl zu »Vulnerabilität« als auch zu »Trauma«. »Resilienz« kommt aus dem Lateinischen (resilire) und bedeutet »zurückspringen« oder »abprallen«. Es bezeichnet die Fähigkeit von Individuen und sozialen Systemen, Stress, körperliche, psychische und psychosoziale Erkrankungen, ungünstige Umweltbedingungen und traumatische Ereignisse so zu verarbeiten, dass die körperliche und seelische Gesundheit oder auch die Funktionstüchtigkeit von technischen und organisatorischen Abläufen rasch wiederhergestellt wird. Resilienz wird meist positiv bewertet. Dass diese Bewertung nicht ganz unproblematisch ist, werde ich später noch ausführlicher diskutieren. Hier mag der Hinweis genügen, dass das Ziel von Resilienz im reibungslosen Funktionieren besteht. Das mag für technische Abläufe angemessen, kann aber für psychische, kulturelle und gesellschaftliche Prozesse kein verbindlicher Maßstab sein. In psychosozialen Zusammenhängen kann »Sand im Getriebe« – um eine technische Metapher in einem nicht-technischen Zusammenhang zu gebrauchen – Zeichen einer emanzipatorischen Absicht sein. »Trauma« bezeichnet einen negativ bewerteten Sachverhalt, denn Traumata führen regelmäßig zu psychischen Krankheiten und Störungen. »Traumatisierbarkeit« und »Vulnerabilität« thematisieren hingegen Sachverhalte, die bewertungsoffen sind oder deren Bewertung nicht unmittelbar auf der Hand liegt. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, enthalten sie sowohl Risiken als auch Chancen. Die Bewertungsoffenheit des Begriffs »Vulnerabilität« aufzuzeigen, ist ein Anliegen meiner Ausführungen.

Vulnerabilität als Charakteristikum des Lebendigen Ich beginne mit einigen grundsätzlichen Überlegungen. Dabei orientiere mich an Freuds sehr fruchtbaren Vorgehensweise, psychische Vorgänge 244

Die Frühgeburtlichkeit des Menschen

eng an biologische und körperliche Funktionen und Gegebenheiten anzulehnen. So beziehen sich die psychosexuellen Entwicklungsphasen der Oralität, Analität und Genitalität unmittelbar auf körperliche Zonen und Funktionen. Alles Leben, ob pflanzliches, tierisches oder menschliches, ist verletzlich. Jede menschliche und tierische Zelle wird von einer Zellmembran umschlossen, die sie gegen andere Zellen oder gegen den extrazellulären Raum abgrenzt. Sie ist in beide Richtungen selektiv permeabel, um benötigte Stoffe in die Zelle eintreten zu lassen oder Abbauprodukte aus dem Zellinneren hinauszubefördern. Durchlässigkeit, Fragilität und damit Verletzlichkeit sind Grundeigenschaft des Lebens. Vulnerabilität gehört zu den basalen facts of life. Diesen Begriff prägte der Psychoanalytiker Roger Ernle Money-Kyrle (1971), um die unabänderlichen Grundtatsachen der menschlichen Spezies, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, zu benennen. Sie können nicht abgeschafft werden, aber die Kulturen finden unterschiedliche Weisen des Umgangs damit. Alle Lebewesen durchlaufen einen Entwicklungsprozess von der Geburt bis zum Stadium der Reife, der mit einem frühen noch unfertigen und damit verletzlichen Entwicklungsstadium beginnt. Gegen Ende des Lebens nimmt die Verletzlichkeit wieder zu. Vulnerabilität ist eine biologische Tatsache, die alles Lebendige auszeichnet. Meine These ist, dass die Vulnerabilität des Menschen besonders ausgeprägt ist. Sie bezieht sich sowohl auf seinen Körper, seine Psyche, seine sozialen Beziehungen und seine kulturellen Werke und gesellschaftlichen Organisationsformen. Betrachten wir zunächst die Vulnerabilität des Körpers. Diese möchte ich an zwei Aspekten verfolgen: der Frühgeburtlichkeit und der nackten Haut des Menschen.

Die Frühgeburtlichkeit des Menschen Wie der Schweizer Biologe und Anthropologe Adolf Portmann ausgeführt hat, erreicht der Mensch erst ein Jahr nach seiner Geburt die körperliche Reife, die andere Säugetiere, auch die Menschenaffen, bereits bei der Geburt aufweisen. Der Mensch kommt sozusagen ein Jahr zu früh zur Welt. Portmann (1941) spricht deshalb von der »physiologischen Frühgeburt« des Menschen. Der Psychoanalytiker und Pränatalpsychologe 245

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

Ludwig Janus (1998) spricht in Anlehnung an Portmann von der »Frühgeburtlichkeit« des Menschen. Einerseits ist der Schädel des menschlichen Fötus durch das große Gehirn sehr umfangreich und andererseits ist der Geburtskanal durch den aufrechten Gang relativ eng. Deshalb muss der menschliche Fötus relativ früh geboren werden. Dieser Umstand macht auf der einen Seite das Baby extrem empfindlich und störanfällig, und führt auf der anderen Seite dazu, dass die Mutter-Kind-Beziehung, die Familie und indirekt auch die Gesellschaft und die Kultur die Entwicklung von Anfang an sehr stark prägen und formen. Die Frühgeburtlichkeit geht einher mit einer »Instinktarmut«, die bereits die Philosophen Max Scheler (2005 [1928]) und Arnold Gehlen (1963) betont haben. Das Verhalten des Menschen ist nur in vergleichsweise geringem Umfang durch angeborene Reiz-Reaktions-Muster festgelegt. Umso mehr wird er durch die Einflussnahme durch enge Bezugspersonen, aber im weiteren Sinne auch durch Einflüsse der Kultur geprägt. Die hohe Lernfähigkeit und Plastizität der menschlichen Psyche, des Gehirns, und die Anpassungsfähigkeit an historisch sich verändernde Umstände und Anforderungen sind die Voraussetzungen für die Entwicklung der typisch menschlichen kulturellen Leistungen, wie sie in Sprache, Wissenschaft, Kunst, Musik und Literatur zum Ausdruck kommen. Freud hat bereits 1926, also 15 Jahre vor Portmann, in seiner Schrift Hemmung, Symptom und Angst (Freud, 1926d [1925]), die sich kritisch mit Otto Ranks Geburtstrauma-Theorie (Rank, 1998 [1924]) beschäftigt, die extreme Hilflosigkeit des Menschen als Folge seiner Frühgeburtlichkeit ausdrücklich benannt: »Der biologische [Faktor] ist die lang hingezogene Hilflosigkeit und Abhängigkeit des kleinen Menschenkindes. Die Intrauterinexistenz des Menschen erscheint gegen die meisten Tiere relativ verkürzt; es wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. Dadurch wird der Einfluß der realen Außenwelt verstärkt, die Differenzierung des Ichs vom Es frühzeitig gefördert, und die Gefahren der Außenwelt in ihrer Bedeutung erhöht und der Wert des Objekts [vor allem der Mutter, H.-J. W.], das allein gegen diese Gefahren schützen und das verlorene Intrauterinleben ersetzen kann, enorm gesteigert. Dies biologische Moment stellt also die ersten Gefahrensituationen her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird« (Freud, 1926d [1925], S. 186).

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Die Frühgeburtlichkeit des Menschen

»Intrauterinleben und erste Kindheit sind weit mehr ein Kontinuum, als uns die auffällige Caesur des Geburtsaktes glauben läßt. Das psychische Mutterobjekt ersetzt dem Kinde die biologische Fötalsituation« (ebd., S. 169).

Der Geburtsakt selbst ist beim Menschen ein höchst anspruchsvoller, anstrengender und dramatischer Vorgang, der mit einer hohen Verletzlichkeit einhergeht. Mutter und Baby können leicht zu Schaden kommen. Sowohl die Müttersterblichkeit als auch die Kindersterblichkeit war und ist in vielen Kulturen sehr hoch und hat erst durch die moderne Medizin und die Gesundheitssysteme abgenommen. Die Institution der Geburtshilfe existiert aber in allen Kulturen. Die Geburt ist auch bei anderen Säugetieren ein dramatischer Akt, wird aber vom Muttertier ohne fremde Hilfe vollbracht. Hilfestellungen von anderen Mitgliedern einer Herde beziehen sich auf das Neugeborene und die Mutter, aber nicht auf den Geburtsakt selbst. Beispielsweise scharen sich Elefanten um ein gebärendes Muttertier und helfen dem Neugeborenen dabei, auf die Füße zu kommen. Bei der menschlichen Geburt ist die Gebärende auf Hilfe durch Dritte angewiesen. Dieses Phänomen, das als »Geburtsdilemma« bekannt ist, ist »nicht einfach eine kulturelle Errungenschaft des Menschen, sondern ein aus der Spezifik der Anatomie abgeleiteter, notwendiger Ein- und Zu-griff, und die Geburt letztlich auch ein Handwerk« (Stöhr, 2020, S. 50). Vielleicht war es die Dramatik der menschlichen Geburt, die den FreudSchüler Otto Rank dazu bewogen hat, von einem »Trauma der Geburt« (Rank, (1998 [1924]) zu sprechen. Diese These ist bei Freud und innerhalb der psychoanalytischen Bewegung überwiegend auf Ablehnung gestoßen. In dieser Kontroverse ( Janus & Wirth, 2005; Wirth, 2015) wird u. a. gegen Rank eingewandt, die Charakterisierung der Geburt als Trauma pathologisiere einen natürlichen Vorgang und setze die gesamte menschliche Entwicklung unter negative Vorzeichen. Ich will die Argumente dieser Kontroverse hier nicht weiter ausführen, meine aber, dass sie sich auflösen lässt, wenn man die Geburt nicht als Trauma auffasst, sondern unter dem Aspekt der Vulnerabilität betrachtet. Die Tatsache der Frühgeburtlichkeit des Menschen stellt demnach eine erhöhte Vulnerabilität oder Traumatisierbarkeit dar, auch unabhängig davon, wie traumatisch eine konkrete Geburt tatsächlich ablaufen mag. Diese kleine Bedeutungsverschiebung löst die erbittert geführte Kontroverse in Wohlgefallen auf und zeigt, wie sinnvoll es ist, zwischen Trauma und Vulnerabilität zu unterscheiden. Freilich hat diese erhöhte Verletzlichkeit, Schutz- und Hilfsbedürftigkeit 247

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

weitreichende Folgen für die psychosoziale Entwicklung des Menschen, die Freud in dem soeben zitierten Abschnitt thematisiert. Freud sieht nämlich das Bedürfnis, geliebt zu werden, als eine Folgewirkung der frühen Schutzund Hilfsbedürftigkeit des Menschen an. Mütterliche Liebe und Fürsorge bilden einen Ersatz für die frühe Austreibung aus dem Mutterleib. Das Bedürfnis, geliebt zu werden, Aufmerksamkeit und Anerkennung zu finden und in sozialen Beziehungen aufgehoben zu sein, bleibt das ganze Leben über erhalten, ja es gehört zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen. Hinzuzufügen wäre noch das komplementäre Bedürfnis zu lieben, das zunächst vor allem aufseiten der Mutter notwendig ist. Winnicott (2001 [1963]) spricht von der »Fähigkeit zur Besorgnis«. Der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Daniel Stern (1998) nennt dies »Mutterschaftskonstellation«. Er meint damit die seelische Re- und Neuorganisation, die Mütter – und in spezifischer Weise auch Väter – vor, während und nach der Geburt ihres Kindes vornehmen, um sich auf die neue familiäre Situation und auf die besondere Bedürftigkeit und die Erfahrungswelt ihres Babys einzustellen. Sie entwickeln die Fähigkeit zum attunement, zum Mitschwingen mit den wechselnden emotionalen Zuständen des Babys. Der Neuropsychoanalytiker Mark Solms (2021) betont, dass das Bedürfnis, für andere, insbesondere den Nachwuchs und hilfsbedürftige und vulnerable Individuen der gleichen Art zu sorgen, eines von sieben Grundbedürfnissen ist, die die biologisch angelegte Triebstruktur des Menschen, aber auch die anderer Säugetiere, auszeichnet. Das Bedürfnis nach Liebe sowohl in ihrer passiven als auch in ihrer aktiven Form stellt eine anthropologische Eigenschaft des Menschen dar, die sich aus seiner Frühgeburtlichkeit und Vulnerabilität ergibt, da so am besten garantiert werden kann, dass ein Leben lang die notwendige Zufuhr an liebevoller Zuwendung, kommunikativer Resonanz und Anerkennung gewährleistet ist. Mir erscheint es bemerkenswert, dass Freud in seinen oben zitierten Ausführungen ausdrücklich »das Bedürfnis, geliebt zu werden« hervorhebt und damit zumindest implizit eine Unterscheidung zwischen Liebe und Sexualität trifft. Die Liebe resultiert offenbar primär aus der Frühgeburtlichkeit und Resonanzbedürftigkeit des Menschen, die Sexualität aus dem Trieb zur Fortpflanzung. Freud vertritt hier eine Sichtweise, der später von der Bindungstheorie, die auch aus der Psychoanalyse hervorgegangen ist, vertreten wurde. Die 248

Liebe und Sexualität

Bindungstheorie stellt das Sicherheitsbedürfnis des Kleinkindes in den Mittelpunkt. In der Eltern-Kind-Beziehung ist demnach Sicherheit und nicht Sexualität das zentrale Thema (Holmes, 2012, S. 151). Hier spielt ein ganzer Komplex von Gefühlen, die auf die Beziehung zum anderen gerichtet sind, eine tragende Rolle: Liebe, Zärtlichkeit, Bedürfnis nach Anerkennung und Resonanz, Verlangen nach körperlicher und emotionaler Nähe, Sympathie, Mitgefühl, Einfühlung und Mitleid. Alle diese Gefühle sind sowohl in passiver als auch aktiver Form vorhanden: Man hat Sehnsucht, geliebt zu werden, zugleich aber auch das Bedürfnis, andere zu lieben. Beides ergänzt und spiegelt sich wechselseitig und führt so zu einer wechselseitigen Verstärkung der emotionalen Beziehung.

Liebe und Sexualität Die Frage, was grundlegender sei, die Sexualität oder das Bindungs- bzw. Beziehungsstreben, wird unterschiedlich beantwortet. Die Psychoanalyse in der Tradition Freuds sieht in der Sexualität das primäre Motivationssystem und vertritt die Ansicht, dass sich das nicht-erotische Beziehungsgeschehen sozusagen auf die Sexualität aufpfropft. Umgekehrt gehen der schottische Psychoanalytiker William Ronald Dodds Fairbairn (2007) und auch die Bindungstheoretiker*innen davon aus, dass der Mensch primär objekt-suchend und erst sekundär trieb-suchend ist, dass sich also die Sexualität an das Bindungs- und Beziehungsbedürfnis ankoppelt. Inzwischen sind die meisten Autorinnen und Autoren der Ansicht, dass Sexualität und Bindung zwei unterschiedliche Motivationssysteme darstellen, die sich zwar wechselseitig beeinflussen aber auch eine grundsätzliche Unabhängigkeit voneinander aufweisen. Sexualität kann auch ohne Bindungswünsche mit einer Partnerin oder einem Partner gelebt werden, manchmal sogar leidenschaftlicher und sinnlicher, als wenn sie durch Bindungsgefühle eingebunden und gebremst wird. Und umgekehrt können innige Bindungsbeziehungen bestehen, ohne dass sexuelle Bedürfnisse eine Rolle spielen. Beim sich liebenden Paar kommen diese beiden elementaren Motivationssysteme idealerweise zusammen. Das verbindende Element bildet die Zärtlichkeit. Zärtlichkeit hat sowohl eine körperliche als auch eine psychische Bedeutung. Sie stellt eine Antwort auf die existenzielle Verletzlichkeit dar. Die nicht-sexuelle Zärtlichkeit ist in der Eltern-Kind-Beziehung 249

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

von fundamentaler Bedeutung für eine gesunde Entwicklung des Babys. Zärtlichkeit beflügelt aber auch die Lust zwischen sexuellen Partnern. Dass manche Menschen sexuelle Lust ohne Zärtlichkeit bevorzugen  – einer meiner Patienten sagte, dass er »Blümchensex« ziemlich langweilig finde –, hängt damit zusammen, dass Zärtlichkeit an die eigene Verletzlichkeit und an frühe, peinigend erlebte Abhängigkeit und unerfüllte Zärtlichkeitsbedürfnisse erinnert und deshalb ängstlich gemieden wird. Sexualitätssystem und Bindungs- bzw. Beziehungssystem verstärken und unterstützen sich wechselseitig: Die menschliche Sexualität, die ja keine Paarungszeit kennt, sondern einen kontinuierlichen immer vorhandenen Bedürfnisdruck erzeugt, dient nicht nur der Fortpflanzung, sondern auch der Bindung an und der Beziehung zu andere(n) Menschen.

Die Verwundbarkeit der nackten Haut Nach der Frühgeburtlichkeit möchte ich mich nun einem anderen Aspekt der körperlich-biologischen Vulnerabilität des Menschen zuwenden: seiner nackten Haut. Die Verwundbarkeit des menschlichen Körpers wird an der Nacktheit der Haut besonders sinnfällig. Schon Freud (1923b) hat in seinem Text Das Ich und das Es auf die Bedeutung der Haut als Oberfläche des Körpers und als Wahrnehmungsorgan sowohl für innere als auch für von außen kommende Empfindungen hingewiesen: »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche« (ebd., S. 253). Und weiter heißt es da: »Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können. Er wird wie ein anderes Objekt gesehen, ergibt aber dem Getast zweierlei Empfindungen, von denen die eine einer inneren Wahrnehmung gleichkommen kann« (ebd., S. 253).

Die Haut stellt eine Grenze zur Außenwelt dar. Sie ist zugleich eine »psychische Hülle« (Brosig  & Gieler, 2016), die beispielsweise psychische Verletzungen lindern kann, wenn sie zärtlich berührt wird. Sie fungiert dann als Haut-Ich, wie der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu (1996) in seinem gleichnamigen Buch ausgeführt hat. Die empfindsame 250

Die Verwundbarkeit der nackten Haut

menschliche Haut wird jedoch zusätzlich zur Projektionsfläche für innere Gefühlsbewegungen, beispielsweise wenn sie vor Scham errötet oder vor Angst und Schrecken erbleicht. Das innere Gefühl der Scham verstärkt sich noch durch das Erröten, auch weil es anderen den inneren Gefühlszustand verrät. Die Haut hat also auch eine kommunikative Bedeutung im Kontakt mit anderen Menschen. Die Haut ist zudem ein »psychosomatisch reagierendes Organ« (Gieler, 1995, S. 65), auf dem sich Störungen des »Körpererlebens« (Brähler, 1995 [1986]) als psychosomatisch bedingte Hautkrankheiten manifestieren. Hartmut Rosa (2016) spricht in seiner Resonanz-Theorie der Haut eine zentrale Bedeutung für die »körperliche Weltbeziehung« (ebd., S. 83ff.) zu. Er sieht in der Haut »ein doppelseitig sensibles und buchstäblich atmendes und antwortendes Resonanzorgan, das die Beziehung zwischen Leib und Welt einerseits und zwischen Person und Leib andererseits vermittelt und zum Ausdruck bringt« (ebd., S. 90). Wenn wir etwa umgangssprachlich sagen, »jemand könne nun einmal nicht aus seiner Haut, dann meinen wir damit, dass er die tief habitualisierte Art und Weise, in der er der Welt und den Dingen, Menschen und Widerfahrnissen darin begegnet und in der er sie nimmt und deutet und dann auf sie reagiert, nicht einfach willentlich verändern kann (ebd., S. 91).

Ähnlich ist es, »wenn wir feststellen, dass jemand sich wohl in seiner Haut fühlt, [dann] gilt unsere Aufmerksamkeit nicht der Haut als körperlichem Organ, sondern dem gelebten Weltverhältnis« (ebd.). Die Haut ist im wörtlichen und im metaphorischen Sinn ein Beziehungsorgan, das unsere Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt vermittelt und ausdrückt. Ein haarloses Gesicht taucht in der Evolution schon bei den Menschenaffen auf. Der Verlust der Gesichtsbehaarung geht bei den Affen damit einher, dass die Oberlippe nicht mehr – wie bei den meisten Säugetieren – fest mit dem Gaumen verwachsen ist (McNeill, 2001, S. 31), sondern sich hin- und herbewegen kann. »So kann das Gesicht rasch hintereinander seine Gestalt immer wieder verändern. Und jede neue Gestalt kann ein Signal mit einer bestimmten Bedeutung sein. Das Gesicht wird somit ausdrucksstärker. Da die Signale aber gut

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7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

sichtbar sein müssen, weicht das Fell zurück. Unsere Gesichter sind nackt, damit andere in ihnen lesen können« (ebd.).

Auch andere Säugetiere besitzen die Fähigkeit, mit dem Gesicht Signale zu senden, beispielsweise durch ein Blecken der Zähne eine Drohung zu signalisieren. Aber ein unbehaartes Gesicht erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten ganz beträchtlich, »lässt die Botschaften klarer werden, subtiler und mannigfaltiger« (ebd., S. 32). Der evolutionäre Vorteil des unbehaarten Gesichts liegt auf der Hand. Er hebt den kommunikativen Austausch mit Artgenossen auf ein weitaus höheres Niveau. Wie die Säuglingsforschung gezeigt hat, funktioniert eine differenzierte und variationsreiche Kommunikation zwischen Mutter und Säugling schon lange vor der Entwicklung der Sprachfähigkeit. Dabei kommt es auf das Zusammenspiel an zwischen mimischem Ausdruck und der Fähigkeit, die Mimik des anderen zu »lesen« (Fonagy et al., 2004; Stern, 1992; Rasting, 2008). Das menschliche Gesicht ist ein Spiegel seiner Seele, speziell seiner Gefühle. Es ist so sehr auf Kommunikation und Mitteilung ausgelegt, dass sich immer eine Mimik auf unserem Gesicht zeigt. Das Gesicht zeigt eine freudige, eine freundliche, eine traurige, eine aggressive, eine angeekelte, eine gelangweilte, eine verächtliche Mimik, um nur einige mögliche Gesichtsausdrücke zu nennen (Ekmann, 1988; Krause, 1993). Dem menschlichen Gesicht ist es unmöglich, nicht zu kommunizieren, um die berühmte Formulierung von Paul Watzlawick zu zitieren. Ein ausdrucksloses Gesicht zu machen, ein »Pokerface« aufzusetzen, wirkt schnell maskenhaft und ist zudem meist nicht lange durchzuhalten (Bänninger-Huber, 1996). Mit der Haarlosigkeit des Gesichts hat die menschliche Evolution das Risiko der größeren Verletzlichkeit in Kauf genommen, um eine intensivere Kommunikation mit Artgenossen zu ermöglichen.

Warum der Homo sapiens seine Körperbehaarung fast vollständig verloren hat Während die nächsten genetischen Verwandten des Menschen, die Menschenaffen, ein Fell besitzen und die meisten anderen Tiere durch Schuppen, Hornpanzer, eine dicke, widerstandfähige Haut oder ein Federkleid vor schädlichen Umwelteinflüssen geschützt sind, ist die enorm empfindliche menschliche Haut den Einflüssen von Wind und Wetter, Hitze 252

Warum der Homo sapiens seine Körperbehaarung fast vollständig verloren hat

und Kälte, rauen, scharfen und dornigen Pflanzen und den Attacken von Feinden fast schutzlos ausgeliefert. Diesen enormen Nachteilen in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Natur und natürlichen Feinden müssen weit größere evolutionäre Vorteile gegenüberstehen. Die Evolutionsbiologie führt als einziges Argument die zahlreichen Schweißdrüsen an, die auf der nackten Haut eine sehr effiziente Temperaturregulierung und damit eine hohe Dauerbelastung auch unter heißen klimatischen Bedingungen ermöglichen ( Jablonski, 2006, 2010). Tatsächlich gibt es kein Säugetier, »das so lange Strecken am Stück im Dauerlauf zurücklegen kann« (Krause & Trappe, 2021, S. 81). Die »evolutionäre Anpassung an den Dauerlauf – in keiner Gangart ist das energieeffizienter als auf zwei Beinen« (ebd., S. 80) – hatte bei den Vorfahren des Homo sapiens, dem Homo erectus, neben dem aufrechten Gang zur Voraussetzung, dass die Erwärmung des Körpers effizient abgeführt werden konnte. Die Fähigkeit zur Hetzjagd eröffnete die Möglichkeit, auch größere Tiere zu erlegen und Fleisch als besonders eiweißhaltige Nahrung zur Hauptnahrungsquelle zu machen. Die Begründung für die Felllosigkeit des Menschen sieht die Evolutionsbiologie in der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur. Ebenso grundlegend für die menschliche Evolution ist jedoch die Bedeutung körperlicher Veränderungen für den Kontakt und die Beziehung zu den Mitmenschen, denn die Gemeinschaftsbildung ist die Voraussetzung zur Entstehung von Sprache und der einzigartigen menschlichen Kultur. Aus psychologischer Sicht stellt die nackte, weiche, empfindliche, empfindsame und reizsensible Haut des Menschen ein Organ dar, das den kommunikativen, emotionalen und sinnlichen Austausch mit den Mitmenschen exponentiell steigert. Wie wir heute durch zahlreiche Untersuchungen wissen, hat der emotionale, spielerisch-kommunikative und körperlich-zärtliche Austausch zwischen Eltern und ihrem Baby einen nachhaltigen und tiefgehenden Einfluss auf die psychische, kognitive und körperliche Entwicklung des Kleinkindes. Zu den Pionierinnen und Pionieren dieser Thematik in Psychoanalyse und Bindungsforschung gehören unter anderen René Spitz, Margaret Mahler, John Bowlby, Donald Winnicott, Daniel Stern, Allan Schore, Karin und Klaus Grossmann, Mary Target und Peter Fonagy. Neurobiologische Studien zeigen, dass Hautkontakt die seelische Reifung und das Gehirnwachstum befördert (Cozolino, 2007). Wie Studien mit frühgeborenen und normalgeborenen Säuglin253

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

gen zeigen, wirkt sich Körperkontakt »positiv auf die Gesundheit, die Schmerz- und Stressempfindlichkeit, die Schlaf-Wach-Regulation und die längerfristige körperliche und geistige Entwicklung« ( Jansen  & Streit, 2015, S. 15) aus. Auch entwicklungspsychologische und neurobiologische Studien belegen die Bedeutung körperlicher Nähe in den frühen Lebensmonaten. »Babys, die nach der Geburt Hautkontakt mit ihrer Mutter hatten, sind auch noch Stunden später wärmer als Babys, die von der Mutter getrennt in einem beheizten Babybettchen untergebracht wurden. Doch nicht nur das Baby profitiert vom Kontakt nach der Geburt, auch der Effekt auf die Eltern ist messbar: Das Hormon Oxytocin, das sogenannte Bindungshormon, wird besonders während des Hautkontakts mit dem Baby und beim Stillen ausgeschüttet. So wird ein Grundstein für eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind gelegt« (Böhme, 2019, S. 14f.). »Der frühe Hautkontakt zwischen Eltern und Babys setzt eine ganze Kaskade von positiven Folgen in Gang. Bereits in den 1970er Jahren fanden Forscher, dass auch auf längere Sicht die Beziehung zwischen Müttern und ihren Kindern besser ist, wenn direkt nach der Geburt Hautkontakt möglich war« (ebd., S. 15).

Deshalb hat die »Känguru-Methode« in der Neugeborenenmedizin zunehmend Anerkennung und Verbreitung gefunden. Dabei wird das Neugeborene Haut an Haut auf den Oberkörper der Mutter gelegt und anschließend ein ausschließliches Stillen angestrebt (Streit, 2015). Nach einer großangelegten internationalen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2021) konnte die Sterberate von Frühgeborenen mit frühem Hautkontakt um ein Viertel gesenkt werden. Die Anwendung dieser Methode könnte in den Ländern des globalen Südens die Säuglingssterblichkeit erheblich reduzieren. Andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen: »Mütter, denen diese frühe Berührung ihrer Babys erlaubt wurde, stillten eher, erfolgreicher und länger. Gestillte Kinder wiederum haben ein stärkeres Immunsystem, neigen seltener zu Autoimmunkrankheiten und haben im Durchschnitt sogar einen leicht höheren IQ als ungestillte Kinder« (Böhme, 2019, S. 15).

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Zärtlichkeit und Sexualität

»Die Folgen der frühen Berührung zwischen Mutter und Baby sind lang anhaltend. Kinder, die für ein bis zwei Stunden nach der Geburt Hautkontakt erfahren hatten, sind mit einem Jahr weniger schnell frustriert und können sich selbst besser beruhigen als Kinder, denen dies nicht ermöglicht worden war. Für Frühchen zeigt sich der Vorteil von regelmäßigem Hautkontakt sogar noch ganze zehn Jahre später! Diese Kinder haben bessere kognitive Fähigkeiten, sind weniger schnell gestresst und schlafen besser als die Vergleichsgruppe« (ebd., S. 16). »Der frühe körperliche Kontakt zwischen Eltern und Babys scheint, zumindest für Säugetiere, universal wichtig zu sein. Hunde und Katzen lecken ihre neugeborenen Jungen intensiv, Pferde beschnuppern und stupsen ihre Fohlen. Auch Rattenmamas lecken ihre Jungen ausgiebig. Spannend ist, dass die Regelmäßigkeit der mütterlichen Zuwendung das Verhalten der erwachsenen Ratten beeinflusst: Ratten, die weniger Mutterliebe in Form von Lecken und Säubern erfahren haben, sind als erwachsene Ratten ängstlicher und leichter gestresst als die Vergleichsgruppe der vielbeleckten Rattenbabys« (ebd.).

Ähnliche Ergebnisse referieren auch Gerhard Roth und Nicole Strüber (2012, S. 12). Insbesondere in der frühen Entwicklung stellt der Hautkontakt bei Säugetieren eine lebenswichtige Voraussetzung dar. Wie der US-amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Harry Frederick Harlow (1905–1981) mit seinen Experimenten an Rhesusaffen gezeigt hat, erleiden Affenbabys, die an einer Drahtmutter aufgezogen werden, gravierende Einbußen ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung (Blum, 2022 [2010]). In seiner Versuchsreihe bot Harlow isolierten Rhesusaffenbabys eine DrahtAttrappe mit Milchflasche und eine weiche Stoffattrappe zur Wahl. »Die Jungtiere klammerten sich stets an die kuschelige Attrappe und suchten die Drahtattrappe nur zum Trinken auf, wobei sie möglichst versuchten, Kontakt zur Stoffattrappe zu halten« (Blum, 2003).

Zärtlichkeit und Sexualität Die Fundamentaltheologin und Philosophin Isabella Guanzini hat sich in ihrem Buch Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht (2019) mit der 255

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Philosophiegeschichte der Zärtlichkeit beschäftigt. In der nationalsozialistischen Ideologie sieht sie eine »Erziehung zur Härte und Unempfindlichkeit«, deren Ziel es war, »einen psychologischen Panzer zu bilden, um sich jeder möglichen Angst oder Furcht zu widersetzen« (ebd., S. 87). »Die systematische Verdrängung der Zärtlichkeit aus der Grammatik des Lebens erzeugt ein mangendes Gespür für die Qualität des Lebens« (ebd., S. 90). Zärtlichkeit betrachtet sie als »eine Kraft, die auf die allzu strengen und selbstreferentiellen Bahnen von Individuen einwirken kann, die zu stark auf sich selbst konzentriert sind, um sie für eine andere Dimension des Gemeinschaftssinns zu erwecken. Die Zärtlichkeit macht uns weicher, entgegenkommender und zugänglich für Begegnungen: sie ist das clinamen unserer Hartherzigkeit und bewirkt, dass wir uns dem anderen zuneigen« (ebd., S. 92f.).

Das »gegenseitige Berühren, Weichwerden, Zärtlichkeit empfinden« (ebd., S. 119) stelle eine Art dar, »die Welt wahrzunehmen und zu sehen« (ebd., S.  118). Es gelte, die »Sprache der ursprünglichen Zärtlichkeit« (ebd., S. 119), mit der wir auf die Welt gekommen sind weiter zu kultivieren, um »unsere gemeinsame Verletzlichkeit spürbar zu machen« (ebd., S. 97). »Nur aus der Zärtlichkeit als besonderem Gespür für die Anzeichen der Verletzlichkeit kann Liebe für den anderen entstehen. Die unbestreitbare Verbindung zwischen Liebe und Zärtlichkeit, die für die erotische Erfahrung oder die mütterliche Liebe wesentlich ist, verweist vor allem auf die Möglichkeit der ›Zuneigung‹ zum anderen: sich dem anderen ohne jede aggressive oder beleidigende Absicht im grundlegenden Bewusstsein des gemeinsamen Mangels zu nähern. Um dem Bösen zu widerstehen, ist ein weiches Wesen vonnöten« (ebd., S. 100).

Sensitivität und Sensibilität der nackten Haut stellen nicht nur in der Kleinkindphase eine enorme Steigerung der Sinneswahrnehmung und der Oberflächensensibilität dar, sondern spielen auch für die zärtlichen und die sexuellen Beziehungen von Erwachsenen eine zentrale Rolle. Zärtlichkeit ist – vor allem bei Säugetieren – die Antwort auf die Verletzlichkeit der Haut. Man kann auch umgekehrt sagen, dass die Durchlässigkeit und Sensitivität der Haut die evolutionäre Funktion haben, den zärtlichen 256

Zärtlichkeit und Sexualität

und lustvollen Körper- und Hautkontakt zwischen den Mitgliedern einer Spezies zu intensivieren und damit ihre kommunikativen Beziehungen untereinander zu stärken. Der kommunikative Austausch führt zu einer Stärkung des Gruppenzusammenhalts und hebt gleichzeitig auch die mentalen, emotionalen und sozialen Möglichkeiten und Kompetenzen der Individuen auf eine höhere Stufe. Neurobiologisch formuliert, stimuliert der intensivierte Haut- und Körperkontakt die Entwicklung der neuronalen Struktur und des Gehirns. Bei Affen kann zärtliche Zuwendung in Form von Fellpflege einen sexuellen Kontakt anbahnen und die Bereitschaft des Weibchens erhöhen, sexuellen Verkehr zuzulassen. Beim Menschen führt das außerordentliche Empfindungspotenzial der menschlichen Haut zu einer enormen Steigerung des sexuellen Lust- und Empfindungsvermögens. Im Grunde wird der gesamte menschliche Körper sexualisiert. Die menschliche Sexualität dient nicht nur der Fortpflanzung (häufig wird diese eher gefürchtet als erwünscht), sondern auch dem Lustgewinn und der Vertiefung der sozialen Beziehung der beiden Partner miteinander. Beim Menschen hat sich die Sexualität von der Fortpflanzung ein Stück weit entkoppelt. Diese Entkoppelung haben Menschen verschiedenster Kulturen von jeher gezielt angestrebt: durch Techniken der Empfängnisverhütung, durch Sexualpraktiken, bei denen eine Fortpflanzung nicht möglich ist und neuerdings mit Hilfe von Techniken der Reproduktionsmedizin. Die sexuelle Lustempfindung kann von den Genitalien auf andere Körperregionen, insbesondere auf das größte Organ des Menschen, die Haut, verschoben oder erweitert werden. Indem die menschliche Sexualität auch nicht mehr auf bestimmte Jahres- und Brunftzeiten begrenzt ist, sondern während des ganzen Jahres und über die ganze Lebensspanne virulent bleibt, bekommt sie für die psychische Innenwelt und das soziale Miteinander eine zentrale Bedeutung. Die Sexualität wird gleichsam verflüssigt, dringt in alle Poren des psychischen und sozialen Lebens ein, umfließt und beeinflusst alle Lebensäußerungen. Sexualität ist im menschlichen Leben omnipräsent. Diese umfassende Bedeutung der Sexualität für das seelische und soziale Leben des Menschen hat Freud mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Der Mensch ist nicht nur ein »ultrasoziales Wesen«  – wie der Verhaltensforscher Michael Tomasello (2021) formuliert  –, sondern auch ein ultrasexuelles Wesen. Die infantile Sexualität hat bereits bei Kindern eine strukturbildende Funktion für die Psyche. Die menschliche Sexualität 257

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

dient nicht nur der Fortpflanzung, sondern ist eine Triebkraft, die die Entwicklung der seelischen Innenwelt vorantreibt und die eine kontinuierliche und pausenlose Auseinandersetzung mit der Thematik Sexualität erfordert. Dies gilt für die eigenen sexuellen Fantasien, für die sexuellen Fantasien von anderen und auch für die realen sexuellen Beziehungen. Zwar gibt es auch im menschlichen Lebenszyklus Zeiten, in denen die Sexualität drängender erlebt wird, doch stellt ihr grundsätzliches Vorhandensein über die gesamte Lebensspanne eine enorme Anforderung sowohl an das psychische als auch an das soziale Leben dar. Der ständig vorhandene sexuelle Triebdruck verlangt eine Integration der Sexualität in das psychische Erleben, aber auch in die Beziehungen. Der Mensch muss sozusagen von Kindesbeinen an und während seines ganzen Lebens damit fertigwerden, seine sexuell-sinnlichen Bedürfnisse zu integrieren und so zu formen, dass sie zu seinen sozialen Beziehungen passen. Diese Aufgabe stellt enorme Anforderungen an Individuum und soziale Gemeinschaft, an der sowohl das einzelne Subjekt aber auch die Paar- und Familienbeziehungen scheitern können. Die sexuelle Konstitution des Menschen bedingt eine psychische und psychosoziale Vulnerabilität, die dazu führt, dass sexuellen Konflikten eine so große Bedeutung bei der Genese psychischer Krankheiten und psychosozialer Beziehungsstörungen zukommt. Die Triebkraft der Sexualität stellt dem Individuum aber auch ein schier unerschöpfliches Energiereservoir zur Verfügung, um seine Fantasiewelt zu entwickeln, die Beziehungen zu anderen zu gestalten und seine Körperlichkeit und seine psychosozialen Potenziale zu entfalten. Freud hat diese anthropologische Eigenschaft des Menschen mit dem Konzept der Sublimierung thematisiert. Der Vorteil der Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung besteht darin, diese sehr mächtige Triebkraft auch für andere Zwecke dienstbar gemacht werden kann, d. h., die sexuelle Energie in kreative, kulturelle und soziale Leistungen zu sublimieren. »Menschen leben nicht nur, sondern sie führen ihr Leben, und damit formen sie sich selbst, d. h. sie gestalten durch ihre Entscheidungen und Handlungen ihre eigene Entwicklung« (Fuchs, 2020, S. 101). Auf die Sexualität bezogen heißt das: Die Menschen werden in ihrem Sexualleben nicht nur triebhaft gesteuert, sondern sie führen ihr sexuelles Leben und ihre Liebesbeziehungen und formen damit auch den Sexualtrieb selbst, d. h., sie verleihen durch ihre Entscheidungen und Handlungen ihrer Sexualität eine ganz persönliche Gestalt. Diese Gestaltgebung geht heute so weit, dass auch das eigene Geschlecht selbst konstruiert werden kann. 258

Psychische Vulnerabilität

Diese enorme Gestaltungsfreiheit ist jedoch mit einer Flexibilität, Offenheit und Fragilität verbunden, die notwendigerweise auch eine besondere Vulnerabilität mit sich bringt. Da die menschliche Sexualität nicht genetisch durch starre Reiz-Reaktions-Muster festgelegt ist, sondern durch biografische und kulturelle Einflüsse ihre individuelle Gestalt gewinnt und auch durch willentliche Entscheidungen der Subjekte geformt wird, kann es unter bestimmten Bedingungen zu Widersprüchen, Konflikten, Überforderungen, Dekompensationen und schließlich auch zu psychischen Krankheiten kommen (ebd.). Da auch die Vorstellungen an eine erfüllte Sexualität selbst gesetzt werden, kann man leicht an den eigenen Ansprüchen scheitern. Das Spektrum der psychischen Störungen, der konflikthaften Beziehungskonstellationen und der Leidenszustände, die vor einem sexuellen Hintergrund entstehen, ist weit gefächert. Es reicht von Perversionen über sexuelle Funktionsstörungen, unglückliche Liebesbeziehungen bis hin zum »ganz normalen Chaos der Liebe«, um einen Buchtitel von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (1990) zu zitieren. Der ungeheure Energieüberschuss, der Zuwachs an Lust und Erlebnisqualitäten, der mit der spezifisch menschlichen Sexualität einhergeht, eröffnet also enorme Entwicklungsmöglichkeiten und einen schier unbegrenzten Erfahrungs- und Erlebnisraum, enthält jedoch auch das Risiko der Überforderung, des Scheiterns und damit der Verletzlichkeit.

Psychische Vulnerabilität Die Hilflosigkeit des menschlichen Säuglings, sein elementares Angewiesensein auf Zuwendung und seine körperlich Kontaktoffenheit, die in der nackten, empfindsamen Haut ihre Grundlage hat, geht einher mit einer seelischen Offenheit für zwischenmenschliche Beziehungen. Die von Daniel Stern (1992, 1998) und anderen Säuglingsforscherinnen und Säuglingsforschern beschriebene Affektabstimmung, das Sich-aufeinander-Einschwingen (attunement) führt zur Entwicklung der Fähigkeiten der Einfühlung, der Empathie und des Mitgefühls zwischen Mutter und Baby. Parallel zur mentalisierenden Einfühlung in die Seele anderer entwickelt sich auch die Fähigkeit, die eigenen inneren Gefühle, Affekte und Impulse zu mentalisieren (Fonagy et al., 2004). Das wiederum eröffnet die Chance, die eigenen Gefühlszustände zu modellieren und zu regulieren. Wer seine 259

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

Affekte mentalisiert, ist ihnen nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert und muss sie nicht eins zu eins in reales Handeln umsetzen. Aus dieser wechselseitigen Bezogenheit zwischen Mutter und Kind bildet sich ein Merkmal heraus, das man als charakteristisch für die menschliche Spezies bezeichnen kann: das Selbstbewusstsein, d. h. die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken und das eigene Fühlen, Denken und Tun aus einer gewissen Distanz zu betrachten, einzuordnen und damit zu bewerten. Wie schon in der Einleitung ausgeführt, entfalten Gefühle ihre »vollständige und andauernde Wirkung« (Damasio, 2004, S.  50) erst dann, wenn wir nicht nur Gefühle haben, sondern auch wissen, dass wir sie haben und was sie ausdrücken und bedeuten. »Das Bewusstsein macht Gefühle der Erkenntnis zugänglich und unterstützt damit die innere Wirkung von Emotionen. Es versetzt diese in die Lage, den Denkprozess durch Vermittlung des Fühlens zu durchdringen« (ebd., S. 74). Eine der wesentlichen Funktionen von Gefühlen besteht darin, moralische Bewertungen, also die Unterscheidung zwischen »gut« und »böse« vorzunehmen. Das für den Menschen charakteristische moralische Bewusstsein beruht nicht nur auf dem Verstand, sondern auch auf Gefühlen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir uns unserer Gefühle im Einzelnen immer bewusst wären oder bewusst sein könnten oder wüssten, was sie zu bedeuten haben. Viele Gefühle sind uns gänzlich unbewusst (Benecke & Brauner, 2017) oder sie werden nur verschwommen und undeutlich wahrgenommen. Der psychoanalytisch-psychotherapeutische Prozess dreht sich in einem zentralen Aspekt darum, die Wahrnehmung der eigenen Gefühle zu schärfen und sich über die Bedeutung dieser dann bewusst wahrgenommenen Gefühle im Klaren zu werden. Die entwicklungspsychologischen Grundlagen für die Herausbildung des menschlichen Selbst und die Fähigkeit zur Selbstreflexion wurden erst durch die Bindungs- und Säuglingsforschung herausgearbeitet. Das Ergebnis dieser Entwicklung, nämlich die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Distanzierung von sich selbst, bildeten allerdings schon seit Jahrtausenden den Dreh- und Angelpunkt der Philosophie, deren zentrales Thema das Nachdenken des Menschen über sich selbst und sein Verhältnis zur Welt darstellt. Gleichwohl möchte ich ausdrücklich betonen, dass Selbstreflexion und die Distanzierung vom eigenen Selbst keine spezifischen Leistungen sind, die Philosoph*innen sowie besonders reflektierten Menschen vorbehalten 260

Psychische Vulnerabilität

wäre, sondern es handelt sich um elementare seelische Vorgänge, zu denen jeder Mensch in der Lage – man könnte auch sagen, zu denen der Mensch verdammt ist. Der Akt der Selbstdistanzierung ist kein rein kognitiver Vorgang. Vielmehr sind in seinem Vollzug kognitive und emotionale Prozesse miteinander verwoben. Der Selbstbezug und damit die Distanzierung von sich selbst ist sogar in einigen Gefühlen unmittelbar verankert. Im Gefühl der Scham blickt das Selbst mit den Augen von anderen auf sich selbst. Es fühlt und imaginiert die Blicke der anderen und fühlt sich erniedrigt und gedemütigt. Im Gefühl der Schuld blickt das eigene Gewissen auf das Selbst und macht ihm Vorwürfe. Im Stolz blickt das narzisstische Größenselbst auf das Selbst und zollt ihm Bewunderung. Man könnte bei diesen Gefühlen von »selbstbezogenen« oder »selbstreflexiven Emotionen« (Fuchs, 2020, S.  104) sprechen. Bei anderen Gefühlen existiert zumindest eine selbstbezogene Variante. Beispielsweise kann man Angst vor seinen eigenen aggressiven oder sexuellen Impulsen haben, man kann Selbstekel verspüren, oder man kann sich selbst für bestimmte Eigenschaften hassen oder verachten. Auch Menschen, die aufgrund ihrer mangelhaft entwickelten Mentalisierungsfähigkeit nicht in der Lage sind, ihre eigenen Emotionen und psychischen Zustände angemessen zu reflektieren und mentalisierend zu verarbeiten, müssen mit der anthropologischen Tatsache der Selbstbezüglichkeit der Psyche umgehen. Sie sind gerade ihren selbstbezogenen Gefühlen besonders hilflos ausgeliefert. Sie fühlen sich leicht von Schamgefühlen überflutet, leiden unter irrationalen Schuldgefühlen, ekeln sich vor ihrem eigenen Körper und flüchten sich zur Abwehr all dieser Gefühlskonflikte in narzisstische Selbstüberhöhung. Man kann also sagen: Das menschliche Selbstbewusstsein, die »exzentrische Positionalität«, von der der Philosoph Helmuth Plessner (1975 [1928]) spricht, also die Fähigkeit aus einer Metaposition auf sich selbst und die Welt zu blicken, macht die Besonderheit der menschlichen Spezies aus und ermöglicht ihr die besonderen kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen, stellt aber zugleich die Bedingungen für die besondere Vulnerabilität des Menschen dar. Mit dem Selbstbewusstsein, der Selbstreflexion und der Selbstregulation kommt nicht nur ein positiver Selbstbezug, sondern auch ein selbstkritischer, ein negativer Selbstbezug in die Welt. Selbstzweifel, Selbstbestrafung, Selbsttäuschung, Selbstüberhöhung, Selbsthass, Selbstverletzung 261

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

und Selbstmord werden zu einer Möglichkeit, sich zum eigenen Selbst zu verhalten. Das Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein eröffnet also auch ein ganzes Spektrum an Vulnerabilitäten. Hinzu kommt, dass der Selbstbezug die Selbststeuerung und Selbstbestimmung und damit die Freiheit des Willens und der eigenen Entscheidung ermöglicht, jedoch kann diese auch eine zum Bösen, zur Destruktion und zur Selbstdestruktion sein. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs spricht von einer »existenziellen Vulnerabilität« (Fuchs, 2020, S. 100) des Menschen, die er in einer »besondere[n] Empfindlichkeit für die Konflikte und Widersprüche der Existenz« (ebd.) begründet sieht. Diese existenzielle Vulnerabilität macht ihn »anfällig für bestimmte Situationen, nämlich Grenzsituationen, in denen diese Widersprüche unabweisbar werden und zur Dekompensation und schließlich zur Erkrankung führen« (ebd., S. 101). Eine solche Grenzsituation stellt auch der Tod dar. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit begründet eine existenzielle Vulnerabilität von zentraler Bedeutung. Das Bewusstsein von der Unausweichlichkeit des Todes – sowohl des eigenen Todes als auch des Todes des und der anderen – und die Angst vor dem Tod müssen als ein anthropologisches Charakteristikum des Menschen angesehen werden, das ganz erheblichen Einfluss auf unser bewusstes und unbewusstes Seelenleben und unsere Lebenseinstellungen hat (Unruh, Moeslein-Teising & Walz-Pawlita, 2018). Von Kindheit an über die ganze Spanne des Lebens hinweg trägt das Wissen um den Tod entscheidend zu unserer psychischen Entwicklung bei und wirkt als existenzielle Herausforderung für die Gestaltung und Weiterentwicklung der psychischen Welt des Menschen (Grieser, 2018). Dieses Wissen um die (eigene) Sterblichkeit kann eine bewusstere Lebensführung erlauben, stellt aber auch eine Verletzbarkeit dar, weil die Frage nach dem Sinn des Lebens aufgeworfen wird, die zu Depression und Verzweiflung führen kann. »Mit dem Todesbewusstsein eröffnet sich das Feld vielfältiger existenzieller Ängste, und die Sorge um das eigene Leben wird, wie Heidegger zeigte, zur grundlegenden Daseinsstruktur« (ebd., S. 103). Auch Jan Assmann (2000, S. 14) sieht im Bewusstsein des eigenen Todes einen Faktor, der die Verletzbarkeit des Menschen begründet, die jedoch auch zur Quelle von Kreativität werden kann. Indem das Wissen um die Unausweichlichkeit des eigenen Todes mit Sinn ausgestattet wird, wird es zu einem »Kultur-Generator ersten Ranges« (ebd.). »Ein wichtiger Teil unseres Handelns, und gerade der kulturell relevante Teil, Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Wohltätigkeit, entspringt dem Unsterblichkeitstrieb, 262

Vulnerabilität, Vertrauen und Resonanz

dem Trieb, die Grenzen des Ich und der Lebenszeit zu transzendieren« (ebd., S. 14f.). Die psychische Vulnerabilität wird auch durch averse Gefühle wie Scham, Neid und Eifersucht erhöht. Diese Affekte stellen eine narzisstische Kränkung dar, weil sie überfallartig über uns kommen, sich der bewussten Kontrolle unseres Ichs entziehen und negative Gefühle gegenüber anderen aber auch gegenüber dem eigenen Selbst erzeugen. Die Gefühle der Eifersucht oder auch des Neides gehen über eine reine Konkurrenzdynamik hinaus, weil auch der Selbstbezug hergestellt und der Selbstwert infrage gestellt wird. Unabhängig davon, ob man sich in der Konkurrenz durchsetzt oder nicht, tauchen Fragen nach dem negativen (seltener nach dem positiven) Selbstbezug auf: Warum kommt die Eifersucht so unkontrollierbar über mich? Bin ich so wenig wert, dass der andere mehr geliebt wird als ich? Warum bin ich (vom Schicksal oder von wem auch immer) so ungerecht behandelt worden, dass der andere mehr Erfolge erzielen konnte als ich? Bin ich tatsächlich so großartig, nur weil ich mich immer durchsetze? Der entwertende Selbstbezug wird in diesen Emotionen immer mitgedacht und mitgefühlt und führt oft erst dadurch zur dramatisch empfundenen Verletzung.

Vulnerabilität, Vertrauen und Resonanz Mit dem Begriff der Vulnerabilität können nicht nur individuelle Phänomene beschrieben werden, sondern er ist auch auf kulturelle, ästhetische, gesellschaftliche und politische Fragenstellungen anwendbar. Als Einstieg beginne ich mit einem Zitat von Jan Philipp Reemtsma aus seinem Buch Vertrauen und Gewalt (2008). Seine Vita ist so bemerkenswert, dass ich sie kurz erwähnen möchte. Jan Philipp Reemtsma ist Literatur- und Sozialwissenschaftler. Er stammt aus der Familie des Zigarettenfabrikanten Reemtsma. Er brachte einen Großteil seines Vermögens in eine Stiftung ein, die zahlreiche kulturelle und sozialwissenschaftliche Projekte fördert. Unter anderem finanziert er das Hamburger Institut für Sozialforschung. 1996 wurde er Opfer einer Entführung. Gegen Zahlung eines Lösegelds von 30 Millionen D-Mark wurde er freigelassen. Seine Erfahrungen während der Verschleppung und Gefangenschaft schildert er in seinem Buch Im Keller (1998). Er hat sich theoretisch mit politisch, gesellschaftlich und persönlich motivierter Gewalt beschäftigt und er hat sie persönlich erfahren. 263

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

In seinem Buch Vertrauen und Gewalt schreibt er: »Unser Ideal von Zivilisation bringt eine dünnere Haut mit sich, anders gesagt: Es gehört zu den Zivilisationsleistungen, die Traumadisposition zu erhöhen« (2008, S. 99). Wenig später fährt er fort, es sei geradezu »ein Ziel des Zivilisationsprozesses, uns alle immer leichter traumatisierbar zu machen« (ebd., S. 136). Der Satz »Es ist ›ein Ziel des Zivilisationsprozesses, uns alle immer leichter traumatisierbar zu machen‹« klingt zunächst irritierend, sogar rätselhaft, entspricht aber ganz den von mir entwickelten Überlegung. Reemtsma spricht von der »dünneren Haut« und meint den Begriff metaphorisch. Ich hatte Haut wörtlich genommen, die metaphorische Bedeutung aber nicht ausgeschlossen. Er spricht von »Traumadisposition« und »Traumatisierbarkeit«, ich spreche von »Vulnerabilität«, »Verletzbarkeit« und »Verletzlichkeit«. Wenn es »ein Ziel des Zivilisationsprozesses [ist], uns alle immer leichter traumatisierbar zu machen«, so kann damit keinesfalls gemeint sein, dass die Häufigkeit oder der Schweregrad von Traumata erhöht werden sollte. Im Gegenteil: Ein elementares Ziel des Zivilisationsprozesses besteht ja gerade darin, die Gefahr von Traumatisierungen zu verringern. Wir treffen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene unablässig Maßnahmen, um Gefahren abzuwehren, uns zu schützen, unsere Widerstandsfähigkeit und unsere Wiederherstellungskapazitäten zu erhöhen, wenn wir durch Belastungen aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Ebendies meint der Begriff der Resilienz. Reemtsma meint sicher nicht, es sei ein Ziel des Zivilisationsprozesses, die individuelle und gesellschaftliche Resilienz zu schwächen. Doch wie lässt sich die Irritation, die Reemtsmas Formulierung auslöst, auflösen? Vulnerabilität wird in der technisch orientierten Resilienz- und Vulnerabilitätsforschung, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Umwelt- und Katastrophenschutz, einseitig als negativ und Resilienz als einseitig positiv aufgefasst. Im Programm einer Tagung über »Katastrophenmanagement« heißt es lapidar: »Die Verwundbarkeit der Gesellschaft verringern und deren Widerstandsfähigkeit gegenüber Katastrophen stärken, ist zur normativen Leitlinie im Katastrophenmanagement geworden« (Katastrophennetz, 2012). Nun unterscheidet der Philosoph Martin Hartmann in seinem Buch Die Praxis des Vertrauens (2011) zwischen zwei Typen der Verletzbarkeit: 264

Vulnerabilität, Vertrauen und Resonanz

»Auf der einen Seite gibt es Verletzbarkeiten, denen wir unabhängig von unserem Vertrauen oder Misstrauen ausgesetzt sind; die Luft etwa, die uns umgibt, gewinnt ihren potentiell gesundheitsgefährdenden Charakter nicht dadurch, dass wir ihr Vertrauen entgegenbringen; Gebäude können einstürzen, ob wir ihnen trauen oder nicht; anonyme andere können uns unabhängig von unseren Einstellungen ihnen gegenüber Schaden zufügen oder eben nicht. Der zweite Typ der Verletzbarkeit hat demgegenüber einen anderen Charakter, da er allein auf der Basis unseres Vertrauens überhaupt virulent wird. Dabei kommen Verletzbarkeiten ins Spiel, die wir gewähren, die wir einräumen, die wir durch unser Verhalten erst möglich machen« (ebd., S. 105f.).

Die Vulnerabilitäten, die dabei ins Spiel kommen, entstehen erst dadurch, dass wir uns anderen gegenüber öffnen, einen Vertrauensvorschuss gewähren und auf Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen verzichten. Reemtsmas Satz, es sei »ein Ziel des Zivilisationsprozesses, uns alle immer leichter traumatisierbar zu machen«, lässt sich so verstehen, dass es ihm darum geht, in der direkten Beziehung zwischen Menschen die Disposition, die Empfänglichkeit für Traumatisierungen und damit die Vulnerabilität zu erhöhen, weil dies die unvermeidbare Kehrseite einer erhöhten Sensibilität, einer größeren Offenheit gegenüber anderen und einer größeren Durchlässigkeit im Hinblick auf die Gefühle, die man anderen von sich zeigt, bedeutet. Ein Ziel des Zivilisationsprozesses besteht nämlich darin, menschliches Zusammenleben weniger auf Mechanismen der Machtausübung, der instrumentellen Verfügbarmachung, der Gewalt zu gründen, sondern mehr auf Prozesse des Vertrauens und der Resonanz zu setzen. Wenn man dem anderen Vertrauen schenkt, räumt man ihm die Möglichkeit ein, dieses Vertrauen zu enttäuschen und einen selbst zu verletzen. Vertrauen setzt also die Akzeptanz von Verletzbarkeit voraus. »Die Verletzbarkeiten zu akzeptieren, die durch Vertrauen erst geschaffen werden, heißt, sie als reale Möglichkeit in Kauf zu nehmen und nicht zu verleugnen« (ebd., S. 103). Die Akzeptanz dieser Verletzbarkeit »ist im Akt des Vertrauens impliziert« (ebd., S. 104). Auch Rosa sieht eine enge Verbindung zwischen »Vertrauen« und »Verletzbarkeit« und setzt sie in Beziehung zu seinem zentralen Begriff der Resonanz. In seinem Resonanz-Buch (2016) schreibt er: Resonanzbeziehungen setzen voraus, »dass sich die Subjekte dem betreffenden Weltausschnitt gegenüber vertrauensvoll öffnen« (ebd., S.  693). Resonanz 265

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

»geht unvermeidlich einher mit einem hohen Maß an Verletzbarkeit. Wer bereit ist, sich berühren zu lassen, nimmt in Kauf, verletzt zu werden. Weltvertrauen ist daher eine entscheidende Voraussetzung für die Ausbildung von […] Resonanz« (ebd.). »Wer sich aber unverletzlich macht, wird oder bleibt resonanzunfähig, er oder sie lässt sich vielleicht stimulieren aber gewiss nicht berühren« (Rosa, 2020, S. 89). Alle Techniken der Lebensführung und der Weltbewältigung, die darauf abzielen, sich selbst unverletzbar zu machen, sich abzusichern, sich in eine Festung zurückzuziehen und sich eine Rüstung anzulegen, haben zur Folge, dass ein solchermaßen eingemauertes Selbst keine Resonanzerfahrungen mehr machen kann. Wenn wir möglichen oder erwartbaren Verletzungen vorbeugen wollen, »drosseln wir als Schutzmaßnahme nahezu unwillkürlich unsere Resonanzbereitschaft und schalten in einen Modus stummer Weltbeziehung« (Rosa, 2016, S. 643) um. Auch Fuchs (2020) konstatiert, dass Verletzlichkeit zwei Seiten hat. Sie ist Bedingung des Menschseins und enthält gleichzeitig auch »den Keim einer Entfremdung und Selbstwidersprochenheit, nämlich zwischen Trieben und Triebkontrolle, zwischen Leib und Körper, zwischen Selbst und Anderen« (ebd., S. 111) in sich. Zivilisatorische Prozesse, die primär und ausschließlich auf die Erhöhung von Resilienz, Widerstandsfähigkeit und Verfügbarkeit zielen, folgen einer instrumentellen Vernunft, die dazu dient, die Erfahrungen von Unverfügbarkeit, Ohnmacht und Unsicherheit zu vermeiden. Psychoanalytisch gesprochen, festigen solche Maßnahmen mehr oder weniger starre Abwehrstrukturen, die vor der existenziellen Vulnerabilität schützen sollen. Doch insbesondere in Grenzsituationen werden »alle bisherigen Sinngehäuse und Abwehrformen fragwürdig und konfrontieren den Menschen mit den unauflösbaren Antinomien der conditio humana. Die Widersprüche und Zumutungen des Daseins lassen sich dann nicht mehr verleugnen und werden zu Anlässen für schwere psychische Krisen oder Erkrankungen« (Fuchs, 2020, S. 111).

Psychotherapie als eine spezielle Kultur- und Zivilisationstechnik, aber auch pädagogische, ästhetische oder soziale Initiativen, die sich auf die kommunikative Struktur menschlicher Beziehungen einlassen und sich nicht auf eine instrumentelle Logik beschränken, sondern das Risiko eingehen, dem anderen einen Vertrauensvorschuss zu schenken und die eigene 266

Vulnerabilität, Vertrauen und Resonanz

Verletzlichkeit willentlich zu erhöhen, ergreifen damit die Chancen resonanter Welt-Beziehungen. In letzter Konsequenz muss das immer wieder neu versucht werden, auch wenn zuvor Vertrauen enttäuscht wurde. Ich habe in diesem Kapitel einige Begriffe diskutiert, die aufeinander bezogen sind: »Trauma«, »Resilienz«, »Vulnerabilität«, »Sensibilität«, »Vertrauen« und »Resonanz«. Ich will sie hier nochmals kurz resümieren, um ihre Bedeutung in der Abgrenzung und wechselseitigen Bezogenheit herauszuarbeiten. »Trauma« meint eine körperliche, psychische und psychosoziale Verletzung, die bereits stattgefunden hat. Die Fähigkeit der »Resilienz« kann dabei helfen, das Trauma so zu verarbeiten, dass es nicht zu einer dauerhaften psychischen Beeinträchtigung oder Schädigung kommt. Resilienz als Schutzfaktor und als Krisen-, Trauma- und Lebensbewältigungskompetenz stellt eine körperliche, psychische und psychosoziale Ressource dar. »Vulnerabilität« oder »Verletzlichkeit« bezeichnet eine Disposition, eine fundamentale Eigenschaft des Lebens, die im Rahmen der conditio humana besonders stark ausgeprägt ist. Vulnerabilität erhöht die Gefahr von Traumatisierungen; diese müssen aber nicht zwangsläufig eintreten. »Resilienz« ist ein allgemeiner Begriff für verschiedene Faktoren, Strategien und Kompetenzen, die dazu beitragen, dass trotz ungünstiger Lebensumstände keine psychischen Störungen oder körperlichen Erkrankungen auftreten. Wie die Resilienzforschung zeigt, gehören sichere Bindung, Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft, stabile familiäre Beziehungen und Selbstvertrauen zu den resilienzförderlichen Faktoren (Berndt, 2015, S. 66ff.). Wenn ein stabiles Selbst- und Weltvertrauen besteht, kann man anderen leichter Vertrauen schenken und damit das Risiko eigener Verletzungen eingehen. Wenn geschenktes Vertrauen mit Vertrauen erwidert wird, stellen sich Resonanzbeziehungen her. »Resilienz« und »Vulnerabilität« sind dialektisch aufeinander bezogen. Resilienz meint Widerstandsfestigkeit, die mit Selbstermächtigung (Empowerment), Selbstvertrauen und der Zuversicht, die Belastungen meistern zu können, einhergeht. Wenn diese Haltung übersteigert wird, geht sie mit Unempfindlichkeit, mangelnder Sensibilität und Einfühlung in die eigene Gefühlswelt und die anderer Menschen einher. Man schaltet um in einen Modus stummer Weltbeziehung. Vulnerabilität hingegen geht mit Schutzlosigkeit, der Offenheit für äußere und innere Reize einher und ermöglicht so Empfänglichkeit, Empfindsamkeit, Sensibilität und Einfühlung. Doch auch hier gibt es ein Zuviel: Wenn die Durchlässigkeit zu groß 267

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

ist, führt die übersteigerte Empfindsamkeit zu Irritation, Sentimentalität und dem Verschwimmen von Ich-Grenzen. Die damit einhergehenden Prozesse werden im nächsten Abschnitt behandelt.

»Dialektik der Sensibilität« (Andreas Reckwitz) Die Entwicklung von Sensibilität, Einfühlung und Empathie stellt eine Möglichkeit dar, um mit der Disposition der Verletzlichkeit umzugehen. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich das Entwicklungspotenzial der Vulnerabilität betont, das in der Herausbildung von Sensibilität liegt. Das war zunächst im basalen physiologisch-psychologischen, also auch im Sinne der Sensitivität gemeint. Beispielsweise ermöglicht die Verletzlichkeit der menschlichen Haut eine Intensivierung des Tastsinns für von außen kommende Reize (z. B. Zärtlichkeit) und eine Steigerung der Ausdrucksmöglichkeiten für von innen andrängende Emotionen und Impulse (z. B. Schamröte). »Sensibilität« im erweiterten psychosozialen und psychokulturellen Sinne hat aber noch einen viel weiteren Bedeutungshorizont. »Sensibilität« ist in der Philosophie, Psychologie und den Literaturund Kulturwissenschaften ein Begriff, mit dem die psychische, kulturelle und ästhetische Empfänglichkeit für Wünsche, Gefühle, Stimmungen oder Atmosphären bezeichnet wird. Diese Empfänglichkeit kann ein ganzes Spektrum von Sensibilitäten umfassen, die von der basalen Empfindungsfähigkeit, Empfindlichkeit, Empfindsamkeit und Feinfühligkeit über Anteilnahme, Sympathie, Berührtwerden und Empathie bis hin zu Sentimentalität, Weltschmerz, Melancholie, Gefühlsüberschwang, Rührseligkeit und Kitsch reichen. So erwartet man, dass psychotherapeutisch oder beratend Tätige besonders sensibel und feinfühlig auf die emotionale Gestimmtheit ihrer Patientinnen und Patienten eingestellt sind; Künstler*innen könnten sensibel auf neue Trends in der Ästhetik reagieren und ein Orchester kann mit einer melancholischen Melodie das Publikum in eine melancholische Stimmung versetzen. Historisch gehen die Begriffe »Sensibilität« oder »Empfindsamkeit« auf eine mentalitäts- und literaturgeschichtliche Bewegung zurück, die sich im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Aufklärung entwickelt hat (Metzler Lexikon Literatur, 2007, S. 187). Ihr Ziel war es, die »kalte« Rationalität des aufgeklärten Verstandes zu ergänzen um den Wärmestrom 268

»Dialektik der Sensibilität« (Andreas Reckwitz)

der Gefühle. »Kopf« und »Herz« sollten durch die »Aufwertung der menschlichen Sensibilität« (ebd.) in ein harmonisches Verhältnis gebracht werden. Besondere Wertschätzung wurde »sozialen und ›tugendhaften‹ Gefühlen wie Freundschaft, Sympathie, Liebe und Mitleid« (ebd.) zugesprochen, denen man in lebensweltlichen Kommunikations- und Umgangsformen, in öffentlich geführten Briefwechseln, Briefromanen und tragischen Liebesromanen Ausdruck verlieh. Doch schon bald entwickelte sich eine ausgeprägte Kritik am exaltierten Empfindsamkeitskult. Die »neue Sensibilität« wurde »in die Nähe pathologischer Phänomene wie Melancholie, Hypochondrie und Hysterie gerückt« (ebd., S. 188) und in die Zuständigkeit der neu entwickelten »weltlichen Seelsorge« (Freud, 1927a, S. 293), der Psychoanalyse, verwiesen. »Das zur Mode gewordene Phänomen der Empfindsamkeit« (Fontius, 2010 [2001]) wurde als »Gefühlsüberschwang oder Rührseligkeit« kritisiert und mit dem Begriff »Sentimentalität« bezeichnet. Noch heute werden die Empfindsamen häufig als »die Rührseligen und Gefühlsduseligen, denen es an Klarheit und Vernunft fehlt« abgewertet, wie Reckwitz (2019c, S. 56) in seinem Artikel »Dialektik der Sensibilität« anmerkt. Das bedeutet aber auch, dass das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen instrumenteller, »kalter« und »objektivierender« Vernunft einerseits und kommunikativer, »warmer« und subjektiver Sensibilität andererseits in der modernen Gesellschaft unvermindert fortbesteht. Man muss sogar davon ausgehen, dass sich die Intensität der Spannung noch verstärkt, da der weltweite Siegeszug der tiefgreifenden Rationalisierung, den Max Weber als »Entzauberung der Welt« charakterisiert hat, und der mit Globalisierung, Digitalisierung, Standardisierung, Optimierung und Effizienz im Wesentlichen auf den Prinzipien der instrumentellen Vernunft beruht, mit ungebremster Energie weiter fortschreitet. Gleichzeitig aber haben sich die Bedürfnisse der Menschen im Zuge der Freizeit- und Konsumkultur und motiviert durch die Aufwertung von Kommunikation, flexibleren Beziehungs- und Lebensformen, Erziehung, Bildung und emanzipatorischen Bedürfnissen eindeutig in Richtung einer kulturellen Aufwertung von Sensibilität, Empfindsamkeit und Subjektivität entwickelt. Reckwitz empfiehlt deshalb, sich nicht darüber »hinwegzutäuschen, wie wirkungsmächtig in der Kultur der Moderne das ist, was man die Sensibilisierung des Subjekts nennen kann« (ebd.). Sie habe »in der Spätmoderne seit den 1980er-Jahren einen Höhepunkt erreicht« (ebd.). Mittlerweile müsse man sich fragen, ob sie sich inzwischen »gegen sich selbst kehrt« (ebd.). Reckwitz vertritt die These: 269

7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

»Die Sensibilisierung des Subjekts war und ist zunächst ein fortschrittlicher Prozess – mittlerweile droht er aber destruktiv zu wirken. Ähnlich wie Adorno und Horkheimer von einer ›Dialektik der Aufklärung‹ sprachen, kann man eine Dialektik der Sensibilisierung beobachten: Die Sensibilisierung hat in der Gegenwartsgesellschaft einen Punkt erreicht, an dem sie riskiert, den Subjekten und dem Raum des Sozialen zu schaden – und dies nicht durch eine bloße ›Übersensibilisierung‹, sondern durch eine widersprüchliche Kultur der Sensibilität, die versucht, Negativität und Ambivalenz auszuschließen« (ebd.).

Das ursprüngliche und eigentliche Ziel der Sensibilisierung des Subjekts, die vor allem von den emanzipatorischen sozialen Bewegungen, von Kunst, Ästhetik und Ethik, aber auch von den verschiedenen Formen der Psychotherapie und den Praktiken der Lebenskunst vorangetrieben wurde, besteht darin, das Subjekt systematisch darin zu trainieren, »seine Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit immer mehr zu differenzieren, sie immer komplexer werden zu lassen« (ebd., S. 57). Die immer weiter gesteigerte Sensibilisierung beispielsweise in ethischen Fragen kann dazu führen, dass die Anforderungen, sich auch im Alltag mit höchster ethischer Sensibilität korrekt zu verhalten, von vielen Menschen nicht mehr verstanden, nachvollzogen geschweige denn praktiziert werden kann. Inzwischen befleißigt sich zwar (fast) jede Politikerin und jeder Politiker, die »lieben Bürgerinnen und Bürger« anzusprechen (insoweit war die Gender-Sensibilisierung erfolgreich und wurde kulturell akzeptiert), doch die weitere Steigerung zur Queer-Gender-Sensibilität in der gesprochenen und geschriebenen Sprache wird nur in Subkulturen und an den Universitäten praktiziert, stößt aber in großen Teilen der Bevölkerung auf Unverständnis und Ablehnung. Bevölkerungsgruppen, die diese Hyper-Sensibilisierung nicht mitmachen können, weil sie die psychokulturellen Kompetenzen in ihrer Biografie nicht erworben haben oder in Bezug auf diese Entwicklung nicht mitgehen wollen, weil sie nicht ihren Wertmaßstäben und Prioritäten entspricht, können leicht das Gefühl entwickeln, kulturell abgehängt, entwertet und moralisch als minderwertig betrachtet zu werden. Die trotzige Entwicklung von rechtspopulistischen Ressentiments ist häufig die Folge. Der ursprünglich emanzipatorische Impuls der Sensibilisierung des Subjekts schlägt dialektisch in sein Gegenteil um. Die Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins Svenja Flaßpöhler (2021) bringt in ihrem Buch Sensibel. Über moderne Empfind270

»Dialektik der Sensibilität« (Andreas Reckwitz)

lichkeit und die Grenzen des Zumutbaren noch einen weiteren Aspekt ins Spiel. Unter Bezugnahme auf Reckwitz und Rosa führt sie aus, dass die gesellschaftliche Wertschätzung von Sensibilität »das Symptom einer beschleunigten, individualisierten, spätmodernen Welt« (ebd., S. 171) ist. »Dieser Welt mit ihren Steigerungslogiken, Reizen und sozialen Ansprüchen wohnt nicht nur eine Überforderungstendenz inne, die zu Dünnhäutigkeit und nervlicher Anspannung führt, sondern auch ein Ideal, dass hochsensible Menschen geradezu paradigmatisch erfüllen: Was zunehmend zählt, ist eine Einzigartigkeit, die sich aus einem sensiblen Welt- und Selbstverhältnis speist« (ebd.).

Flaßpöhler weist unter Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche und Fritz Breithaupt (Die dunkle Seite der Empathie [2017]) darauf hin, »dass es eben auch ein Zuviel an Einfühlung geben kann. So sehr ist man beim anderen, bei dessen Sicht der Dinge, dass die Einfühlung letztlich gar keinen Erkenntnisgewinn mehr bringt« (ebd., S. 161f.). Beziehungsdynamisch betrachtet, kann es sich in diesem Fall beispielsweise um eine überängstliche, harmoniesüchtige Beziehungsstruktur, in der sich mindestens einer der Beteiligten nur ungenügend abgrenzen kann, handeln. In dem Moment, in dem die Dialektik der Sensibilität ins Irrationale, ins Destruktive und Selbstdestruktive umschlägt, macht sie sich angreifbar und wird von den rechtspopulistischen Bewegungen denunziert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Gendersensible Äußerungen werden höhnisch parodiert. Dies gilt für Argumente, aber auch für Emotionen. Beispielsweise war moralische Empörung jahrzehntelang ein demonstrativ inszenierter Affekt, der bevorzugt von linken und alternativen Protestbewegungen gezeigt wurde. Er hatte die Funktion, sich selbst zu motivieren, die Bewegung zu mobilisieren und der Gesellschaft das Signal zu senden: »Macht euch auf etwas gefasst!« Noch 2011 erlebte die Streitschrift von Stéphane Hessel Empört Euch! eine enorme Resonanz in der linken Bewegung und weit darüber hinaus.1 Mit dem Erstarken der rechtspopulistischen Bewegungen etwa seit 1 Stéphane Frédéric Hessel (1917–2013) war ein französischer Diplomat, Lyriker, Essayist und politischer Aktivist. Er kämpfte für die Résistance und überlebte das KZ Buchenwald. Sein Essay Empört Euch! erregte große Aufmerksamkeit und wurde allein in Frankreich über zwei Millionen Exemplare verkauft und in mehr als 40 Sprachen übersetzt.

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7 Das neue Bewusstsein der Verletzlichkeit

Mitte der 2000er  Jahre gelang es diesen, den Affekt der Empörung mit den eigenen politischen Auffassungen zu verbinden und in gewisser Weise zu kapern. Das rechte Milieu vollführt eine Art von Mimikry, indem es den antiautoritären Habitus der 68er-Bewegung (die 68er lehnten sich gegen »das Establishment«, die Rechtspopulisten gegen »die Eliten« auf ) oder die Slogans der DDR-Bürgerrechtsbewegung (»Wir sind das Volk!«) imitiert. Die Strategie dieser Form der »politischen Mimikry« hat der Politologe Ivan Krastev als charakteristisches Merkmal von Putins Politik gegenüber den westlichen Demokratien ausgemacht. Es gehe bei dieser »entlarvenden Nachahmung« (Krastev & Holmes, 2019, S. 184ff.) darum, den Westen der Lächerlichkeit preiszugeben und seine Doppelmoral und Verlogenheit zu demonstrieren. Die Rechtspopulist*innen haben sich diese Strategie von Russland abgeschaut bzw. instinktiv übernommen. Das Motto könnte lauten: »Wir sind genauso in der Lage den enorm aufgeheizten Affekt der Empörung in Szene zu setzen, wie es die Eliten in ihrer arroganten und überdrehten ethischen Sensibilität tun. Nur sind unsere Argumente für die ›einfachen Leute‹ viel besser nachvollziehbar.«

Verletzlichkeit und kollektive Verantwortung Der französische Philosoph Marc Crépon (2014) sieht im Bewusstsein der Vulnerabilität eine »unabwendbare Dimension des ganzen menschlichen Lebens«, das alle »Menschen über kulturelle oder religiöse Differenzen hinweg verbindet« und »ein Gefühl der Weltzugehörigkeit« hervorbringt. Die weltweite Corona-Pandemie, die Erderwärmung und die menschlichen Tragödien, deren Zeuge wir beispielsweise in Syrien, in Afghanistan und in der Ukraine sind, bringen auf unterschiedliche Weise die Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz zum Bewusstsein. Bei all diesen Bedrohungen und Katastrophen wird deutlich, dass Verletzlichkeit nicht gleichmäßig verteilt ist, sondern in aller Regel die Länder des globalen Südens und die ärmeren und benachteiligten Gruppen innerhalb von Gesellschaften den Bedrohungen schutzloser ausgeliefert sind als die Länder des globalen Nordens und ihre privilegierten Schichten. Gleichwohl bleibt die anthropologische Tatsache der Vulnerabilität aller Menschen bestehen. Zudem bewirken die Prozesse der Globalisierung, dass die zentralen Bedrohungen, denen wir uns heute gegenübersehen, insbesondere terroristische Gewalt, die Gefahr eines Atomkrieges, konventionelle Kriege und die 272

Bilanz

Klimakatastrophe alle und jeden Einzelnen treffen können. Die Welt ist so sehr miteinander vernetzt, dass die Verletzungen in einem Teil der Welt zwangsläufig auch Auswirkungen in anderen, weit entfernten Regionen haben. Weder terroristische Gewalt noch atomare Strahlung oder die Erderwärmung machen an staatlichen Grenzen halt.

Bilanz Die Konsultation ausgewählter soziologischer und philosophischer Autorinnen und Autoren im letzten Abschnitt hat gezeigt, dass auch die Nachbarwissenschaften der Psychoanalyse der Vulnerabilität des Menschen eine zentrale Bedeutung in ihrem Menschenbild einräumen. Im Angesicht von existenziellen Bedrohungen erweisen sich auch die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Prozesse als fragil, störanfällig und verwundbar. Psychische Verletzbarkeit und Sensibilität für die eigene psychische Innenwelt und für die emotionalen, kognitiven und motivationalen Zustände anderer Menschen sind zwei Seiten einer Medaille. Die menschliche Fähigkeit, Empathie, Mitgefühl, Sympathie und Mitleid für andere zu empfinden und vertrauensvolle Beziehungen zu entwickeln, ist nur auf der Basis der Zusammengehörigkeit von Vulnerabilität und Sensibilität denkbar. Wir können uns umso sensibler in andere Menschen einfühlen, je mehr wir einen Zugang zu unserer eigenen Verletzlichkeit haben und auf die Vulnerabilität der anderen resonant reagieren. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene gilt, dass die Wandlungsfähigkeit menschlicher Gemeinschaften die Möglichkeit eröffnet, die weltweite Krise zu nutzen, um das zukünftige Zusammenleben auf neue Weise zu gestalten. Basis könnte die Erfahrung sein, dass wir aufgrund der anthropologischen Verletzlichkeit eine kollektive Verantwortung füreinander haben.

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8 Zeitenwende

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner vielbeachteten Rede am Sonntag, den 27. Februar 2022, in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages den von Russland völkerrechtswidrig begonnenen Krieg gegen die Ukraine als eine »Zeitenwende« charakterisiert und damit ungeteilte Zustimmung erfahren. Dieser kriegerische Überfall bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, ja eine weltweite Erschütterung der internationalen Ordnung. Die Zeitenwende wird sich nicht auf einen höheren Etat für die Bundeswehr beschränken, sondern in verschiedenen Politikfeldern zu einem Hinterfragen der bisherigen Konzepte, zu einem Politikwechsel und auch zu einem grundlegenden Mentalitätswandel in der Bevölkerung führen. Neben den wirtschaftlichen und militärischen Auswirkungen sind auch gravierende psychologische und sozialpsychologische Konsequenzen zu erwarten bzw. bereits eingetreten. Wird es zu einer Wiederauflage der überwunden geglaubten Feindbilder zwischen Deutschen und Russen kommen? Kehren militaristische Mentalitäten zurück? Oder beschränken wir uns auf humanitäre Hilfe für geflüchtete ukrainische Frauen, Kinder und Alte, halten uns aber ansonsten vornehm zurück? Als der Krieg begann, war ich gerade damit beschäftigt, meine Arbeit an diesem Buch zu beenden. Die emotionale Erschütterung, die der brutale Angriffskrieg Putins bei mir auslöste, veranlasste mich dazu, ein zusätzliches Kapitel zu schreiben. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich mit all den Fragen auseinanderzusetzen, die die aufwühlenden Nachrichten und die hitzigen öffentlichen und privaten Diskussionen aufwarfen, zumal der Krieg zentrale Themen berührt, die in diesem Buch behandelt werden. Natürlich ist die Frage berechtigt, ob es möglich ist, ein solches Ereignis angemessen zu analysieren, wenn man noch mittendrin steckt. Es fehlt die zeitliche Distanz und damit mag auch die emotionale Verwicklung noch 275

8 Zeitenwende

zu intensiv sein, um zu einer treffenden Analyse zu gelangen. Allerdings ist das die Situation für jeden Politiker und jeden politisch interessierten Menschen. Man muss sich inmitten des dramatischen Geschehens eine Bild der Lage machen und Konzepte entwickeln, wie es einzuordnen ist und welche Schlüsse für das politische Handeln daraus gezogen werden können. Der Historiker, der weit zurückliegende Ereignisse betrachtet, ist da in einer komfortableren Situation, zumal er weiß, wie »die Sache ausgegangen ist«. Ich werde deshalb – trotz der Bedenken – den Versuch unternehmen, Putins Krieg gegen die Ukraine und die sozialpsychologischen Folgen dieser Zeitenwende zu kommentieren und zu reflektieren. Der Vorläufigkeit meiner Überlegungen bin ich mir bewusst.

Neues Leitbild »Wehrhafter Friede« Wie eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (Köcher, 2022) eindrücklich zeigt, hat der Ukraine-Krieg die Stimmung der Deutschen hinsichtlich zentraler politischer Fragen, insbesondere was die Haltung zu Russland und zur Friedens- und Abrüstungspolitik anbelangt, dramatisch verändert. Renate Köcher, Leiterin des Instituts, gibt in ihrem Bericht »Neues Leitbild ›Wehrhafter Friede‹« (2022) nicht nur eine Momentaufnahme der aktuellen Stimmung, sondern zeichnet anhand der jahrzehntelangen Studien des Allensbacher Instituts auf, welche Entwicklung und welchen Umschwung die politische Stimmung in Deutschland seit Beginn der 1980er Jahre genommen hat. Sie beginnt ihren Text mit folgendem Rückblick: »Es ist heute kaum noch vorstellbar, in welchem Ausmaß die Friedensbewegung in den 80er-Jahren die Gesellschaft mobilisierte und veränderte. In Europa und auch Amerika demonstrierten damals Hunderttausende gegen Nachrüstung und Atomwaffen. Im Oktober 1981 demonstrierten in Bonn 350 000 Menschen, 1982 erlebte New York mit einer Million die größte Demonstration; fast zeitgleich demonstrierten 500 000 in Bonn anlässlich des Staatsbesuches des damaligen Präsidenten Reagan. Die Friedensbewegung veränderte Politik und Gesellschaft. Das Parteienspektrum erweiterte sich durch das mit der Friedensbewegung eng verbundene Wachstum der Grünen, gleichzeitig vollzog die SPD eine Kehrtwende ihrer Sicherheitspolitik. Helmut Kohl kam im Rückblick immer wieder

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Neues Leitbild »Wehrhafter Friede«

darauf zu sprechen, dass er von einem Hubschrauber aus die protestierenden Massen im Bonner Hofgarten sah und sich fragte, ob es sein könne, dass sich derart viele irrten, die sich gegen die von ihm verfochtene Nachrüstung wandten. Die Bevölkerung identifizierte sich zunehmend mit der Friedensbewegung, insbesondere die junge Generation: 1984 unterstützten 54 Prozent der Westdeutschen, 67 Prozent der unter 30-Jährigen die Friedensbewegung. Die in dieser Zeit fortgeführten Trendreihen des Allensbacher Instituts zeigen, dass sich die Überzeugung, dass Vorleistungen bei der Abrüstung den Weg zu dauerhaftem Frieden ebnen würden, über die 80er-Jahre hinweg kontinuierlich ausbreitete: ›Bei der Abrüstung kann es nur einen Fortschritt geben, wenn eine Seite einmal damit anfängt. Das wäre ein Vertrauensbeweis, den die andere Seite nicht außer Acht lassen kann. Das würde wirklich zu Frieden und Entspannung führen‹ – diesem Credo stimmten 1981 33 Prozent der Westdeutschen zu, 1985 47 Prozent, 1989 59 Prozent. Unter den Anhängen der Grünen gab es einen noch weitgehenderen Konsens: 77 Prozent votierten für Vorleistungen bei der Abrüstung, nur 11 Prozent waren dagegen. Dagegen nahm die Sorge, sich durch Abrüstung auszuliefern und erpressbar zu machen, kontinuierlich ab. Zu Beginn der 80er-Jahre teilten noch 46 Prozent der Westdeutschen diese Sorge, am Ende der 80er-Jahre nur noch 26 Prozent. Zu diesem Zeitpunkt war auch nur noch eine Minderheit überzeugt, dass Abschreckung durch eigene militärische Schlagkraft ein Sicherheitsgarant sein kann. 38 Prozent der Westdeutschen erschien das damals plausibel, sechs Prozent Anhängern der Grünen« (ebd., S. 8).

Im neuen Leitbild, das das Allensbacher Institut für die deutsche Bevölkerung im Mai 2022 erhoben hat, ist schon ein wesentlicher Teil der Zeitenwende enthalten, die Olaf Scholz in seiner Rede als Realität benannt und als zu bewältigende Aufgabe gefordert hat. Wie die Allensbacher Studie zeigt, sind wir bereits mittendrin in diesem psychopolitischen Mentalitätswandel. Die Charakterisierung »Wehrhafter Friede« meint, dass man grundsätzlich eine friedensorientierte politische Haltung vertritt, die auf Ausgleich, Verständigung, Annäherung und Kooperation ausgerichtet ist, dass diese friedenspolitische Grundhaltung jedoch nicht auf illusionären Vorstellungen von der Friedfertigkeit der Gegenseite beruht, sondern aus einer Position der Stärke – durchaus auch in militärischer Hinsicht – erfolgen sollte. 277

8 Zeitenwende

In gewisser Weise baute schon der Erfolg in den Verhandlungen mit Gorbatschow auf zwei Säulen auf: Hier ging es zum einen um die Bereitschaft des Westens, auf die Stationierung der russischen Mittelstreckenraketen mit der Stationierung der amerikanischen Cruise-Missiles (Marschflugkörper) zu antworten, und zudem deutlich zu machen, dass der Westen bereit wäre, die wirtschaftlichen Mittel aufzubringen, einen weiteren Rüstungswettlauf zu gewinnen; die andere Säule war das Erstarken der Friedensbewegung in Amerika und in Europa – und insbesondere in Deutschland – sowie die Verbreitung einer friedensbewegten Mentalität, die große Teile der Bevölkerung erfasste und in der Partei der Grünen und der SPD eine feste Verankerung fand. Rückblickend könnte man sagen, dass es sich damals um eine Art Doppelstrategie gehandelt hat. Allerdings lag dem keine strategische Planung zugrunde, denn die Protagonisten dieser beiden Positionen bekämpften sich erbittert. Gleichwohl spricht vieles für die Annahme, dass die deutsche Politik, die schließlich zur deutschen Vereinigung führte, nur deshalb erfolgreich war, weil beide Positionen politisches Gewicht besaßen und in ihrer Kombination Gorbatschow so beeindruckt haben, dass er der deutschen Vereinigung zustimmte. Wahrscheinlich hätte eine ausschließlich friedensbewegte Politik Gorbatschow nicht dazu gebracht, der deutschen Vereinigung zuzustimmen und die Sowjetunion aufzulösen, wäre da nicht die enorme wirtschaftliche Not in der Sowjetunion gewesen und die Aussichtslosigkeit, ein weiteres Wettrüsten mit dem Westen ökonomisch durchhalten zu können. Umgekehrt ist es Gorbatschow aber wahrscheinlich leichter gefallen, aus dem Wettrüsten auszusteigen und den Deutschen die Vereinigung zu schenken, weil er den Eindruck hatte, dass von Deutschland und dem deutschen Volk, dass ihm einen so warmen Empfang bereitet hatte, keine militärische Aggression mehr ausgehen würde. In gewisser Weise beinhaltet die politische Stimmung, die Köcher durch das neue Leitbild »Wehrhafter Friede« charakterisiert, die Kombination der beiden Einstellungen, die aber nicht mehr separiert auf zwei Lager vertreten werden, sondern in einer Haltung integriert sind. Die neue Friedensorientierung gründet auf einer Position der Stärke, des Selbstbewusstseins und der relativen Unabhängigkeit. Die politische Forderung und die Bereitschaft, der Ukraine wirkungsvolle militärische Güter, auch »schwere Waffen«, zu liefern, ist nicht als Anzeichen eines neuen deutschen Militarismus zu verstehen. Dafür gibt es weder in politischen Äußerungen noch in den empirisch ermittelten Stim278

Neues Leitbild »Wehrhafter Friede«

mungsbildern in der Bevölkerung irgendwelche Anzeichen. Militaristische Stimmungen sind in Deutschland nicht in Sicht. »Die Bevölkerung ist alles andere als bellizistisch gestimmt« (ebd.), fasst Köcher diesen Befund zusammen. In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn »überwogen in Deutschland Schock und Sorge, dass das Land in den Krieg hineingezogen werden könnte« (ebd.). Unvermittelt trat auch die Angst vor Atomwaffen wieder auf: »68 Prozent waren sehr besorgt, dass Russland Atomwaffen einsetzen könnte« (ebd.). Aber die Stimmung in der Bevölkerung sei heute völlig anders als in den 80er Jahren, betont Köcher. Heute sei die Mehrheit der Überzeugung, dass die nationale Sicherheit durch »eigene militärische Stärke« garantiert werden sollte: »Statt 38 Prozent wie 1989 sind heute 62 Prozent der Westdeutschen überzeugt, dass einem Angriff durch Russland am besten durch Abschreckung vorgebeugt werden kann, durch Stärkung der eigenen militärischen Schlagkraft« (ebd.), aber all das bedeute nicht, »dass die Bevölkerung Frieden und Friedenssicherung heute geringere Bedeutung beimisst« (ebd.). Bei der vergleichenden Interpretation zwischen den politischen Stimmungen und Ängsten in den 80er Jahren und heute ist zu beachten, dass sich die Ängste damals fast ausschließlich auf die Gefahr eines Atomkrieges zwischen den Supermächten USA und UdSSR bezogen. Die Möglichkeit, dass Russland Deutschland mit konventionellen Waffen angreifen könnte, lag außerhalb der Vorstellung. Die Deutschen hatten Angst vor der atomaren Rüstungsspirale und der Gefahr, dass durch Missverständnisse ein alles vernichtender Atomkrieg ausgelöst werden könnte. Den mehrfachen Overkill, über den beide Seiten verfügten, empfand man als gänzlich irrational. Die Entscheidung, ob es im Ernstfall zu einem atomaren Schlagabtausch kommen würde, lag zudem völlig außerhalb deutscher Entscheidungsgewalt, obwohl Deutschland das Hauptschlachtfeld eines solchen atomaren Krieges gewesen wäre. Man fürchtete die amerikanischen Atomraketen gleichermaßen wie die russischen. Auch aus diesem Umstand leitete sich eine amerikakritische, teils gar antiamerikanische Stimmung ab. Einer der Vorschläge, den die Friedenbewegung damals machte, bestand darin, dass eine Seite – und das sollte die militärisch stärkere sein, also die USA – einen ersten einseitigen Abrüstungsschritt machen sollte, um die andere Seite moralisch und psychologisch zu motivieren, das gleiche zu tun. Mit den psychologischen Erkenntnissen über die Dynamik von Vertrauensbildung lässt sich ein solches Vorgehen durchaus schlüssig begründen. 279

8 Zeitenwende

Im Jahr  2022 ist die militärisch-politische Situation eine gänzlich andere: Putins Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist moralisch eindeutig einzuordnen. Dieser Krieg ist völlig einseitig vom Zaun gebrochen, er ist durch nichts gerechtfertigt, er ist moralisch nicht zu rechtfertigen, weshalb Putin infame Lügen erfindet, um eine Scheinbegründung zu präsentieren. Viele Kriege in der Welt gehen auf zwei oder mehr Konfliktparteien zurück, die durch einen längeren Konfliktverlauf miteinander verstrickt sind. Dabei haben sich in der Regel beide Seiten ins Unrecht gesetzt, so dass es oft schwer ist, von einem halbwegs neutralen Standpunkt aus festzustellen, wer die Hauptverantwortung für die Eskalation trägt. Davon unterscheidet sich dieser Krieg. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine liegt in der ausschließlichen Verantwortung Putins. Der Alleinherrscher Putin ist persönlich verantwortlich für diesen Krieg. Das überfallene Land, die Ukraine, hat keinen ernstzunehmenden Anlass gegeben, der diesen Vernichtungsfeldzug rechtfertigen könnte. Die offiziellen Begründungen, die Russland verkündet, beispielsweise diejenige, dass in der Ukraine von ukrainischen Faschisten ein Genozid an der russischen Bevölkerung verübt werde, stellt eine haltlose Verleumdung dar. Vielmehr hat Putin seit 2008 in Georgien, dem ersten Tschetschenienkrieg (1994–1996), dem zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009), mit der Annexion der Krim (2014) und anschließend mit seiner militärischen Unterstützung prorussischer Separatisten im Donbass eine militärische Eskalation planmäßig und einseitig vorangetrieben. Die Europäische Union, insbesondere Deutschland, ist Putins Aggression nur halbherzig entgegengetreten. Vielmehr hielt man weiter an einer friedenspolitisch orientierten Politik fest. Insbesondere Deutschland praktizierte in den letzten Jahrzehnten konsequent die Strategie, einen einseitigen Vertrauensvorschuss zu gewähren, indem man sich in eine enorme Abhängigkeit von russischem Öl und Gas begab. Dies geschah auch in der Hoffnung, Putin würde ebenfalls mit Vertrauensbildung reagieren. Der Vertrauensvorschuss, den die deutsche Regierung Putin entgegengebracht hat, folgte im Prinzip der psychologischen Logik von Vertrauensbildung. Als aber das Ziel eines stetigen Ausbaus wechselseitiger Vertrauensbildung von Putin immer wieder enttäuscht wurde, schlug Deutschlands Vertrauen – so sieht es jedenfalls rückblickend aus – in Vertrauensseligkeit und Naivität um. Deutschland hätte nicht an der naiven Illusion festhalten dürfen, Putin könne sich doch noch zu einem kooperativen Partner entwickeln. Putins Krieg hat in der deutschen Politik, speziell in der Sozialdemokratie, zu einer harten Landung in der Realität geführt. 280

Neues Leitbild »Wehrhafter Friede«

Die Vertreter der deutschen Wirtschaft hatten nachdrücklich bei Angela Merkel interveniert, um die billigen Rohstofflieferungen aus Russland langfristig zu sichern, und setzten sich gegenüber den Sicherheitsberatern, die zur Vorsicht geraten hatten, durch – so lautet jedenfalls die Darstellung von Christoph Heusgen, dem ehemaligen außen- und sicherheitspolitischen Berater der Bundeskanzlerin. Die Regierung unter Führung von Merkel stufte die Bedenken als zweitrangig ein. Die SPD mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel wollte ihre Wirtschaftskompetenz unter Beweis stellen und folgte zudem einer naiven Russland-Verbundenheit. Während die sozialdemokratische Haltung zu Putin durch eine nostalgische Russland-Verbundenheit gekennzeichnet zu sein schien, hat Angela Merkel offenbar ein grundlegendes Misstrauen Putin gegenüber behalten. Dazu hatte sie durch den persönlichen Umgang mit ihm allen Grund. Man rufe sich nur die Szene in Erinnerung, als Putin mit Merkel vor laufenden Kameras im Kaminzimmer posierte und seine Labradorhündin Koni frei herumlaufen ließ, wohl wissend, dass Angela Merkel eine besondere Angst vor Hunden nachgesagt wurde. Angela Merkel stand diese Situation tapfer durch, Putin schien sie sadistisch zu genießen: Er beobachtete die Szene aufmerksam, bemühte sich, keine Miene zu verziehen, aber sein Gesicht ließ ein genüssliches Grinsen erahnen. Sein linker Fuß verriet seine innere Anspannung: Er dehnte ihn bis zur Schmerzgrenze, so wie man es tut, wenn man eine Spannung nicht offen zum Ausdruck bringen will, aber doch nach einer unauffälligen Möglichkeit sucht, sie körperlich abzuführen. Angela Merkel, die als Schülerin in der DDR einen Preis für ihre Russischkenntnisse erhalten und die Sowjetunion intensiv bereist hat, dürfte sich über Putins Charakter und die Wahl seiner politischen Machtmittel keine Illusionen gemacht haben. Ihr Festhalten an der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland und an der Pipeline Nordstream 2 ist allem Anschein nach auf den massiven Druck zurückzuführen, den die deutsche Wirtschaft ausübte, um Deutschland weiter den Zugang zu billiger Energie zu sichern (Bollmann, 2022, S. 20). Die hohe Abhängigkeit Deutschlands von fossiler Energie aus Russland war durchaus bekannt und führte 2016 sogar zu einer Debatte im Bundestag. Allein die Grünen wiesen in dieser Bundestagsdebatte nachdrücklich auf die Abhängigkeit von Moskau hin und setzten sich für eine Diversifizierung, insbesondere durch den Ausbau der Solar- und Windkraftanlagen, ein. Annalena Baerbock trat in der Bundestagsdebatte als engagierte Rednerin auf. 281

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Diese gesamte Entwicklung spiegelt sich im Jahr 2022 im Meinungsbild der deutschen Bevölkerung wider: »Die Hoffnung, dass einseitige Vorleistungen bei der Abrüstung Erfolg versprechend sind, ist von 77 auf 35 Prozent geschrumpft« (Bollmann, 2022). Im »Sicherheitsreport 2022«, einer Umfrage, die vom Centrum für Strategie und Höhere Führung in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach erstellt wurde, wird auf die wachsenden Sorgen der deutschen Bevölkerung über militärische Bedrohungen verwiesen: »62 Prozent der Bundesbürger befürchten, dass die Lage weltweit immer unberechenbarer wird. 37 Prozent der Bevölkerung machen sich gar große Sorgen, dass Deutschland in militärische Konflikte hineingezogen werden könnte. Das Gefühl von militärischen Konflikten persönlich bedroht zu sein, war 2021 mit 10  Prozent auf einem Tiefpunkt. Anfang  2022 ist es deutlich angestiegen: 21  Prozent der Deutschen fühlen sich durch Krieg und militärische Auseinandersetzungen bedroht. Insbesondere Russland und China werden immer mehr als Staaten gesehen, die den Weltfrieden gefährden. Die Überzeugung, dass von Russland große Gefahren ausgehen, ist binnen eines Jahres von 32 auf 66 Prozent angestiegen, die Einschätzung von China als Sicherheitsrisiko von 46 auf 60 Prozent« (Centrum für Strategie und Höhere Führung, 2022).

Für »besonders bemerkenswert« hält Köcher den Sinneswandel, den die Grünen seit den 1970er  Jahren durchlaufen haben. Man hätte vor dem Hintergrund der friedensbewegten Vergangenheit der Grünen ja annehmen können, dass sowohl die Partei als auch ihre Anhängerschaft die militärische Unterstützung der Ukraine sowie die Stärkung der Bundeswehr ablehnen und für eine Appeasement-Politik gegenüber Russland eintreten würden. »Tatsächlich versammeln sich jedoch die große Mehrheit der Anhänger hinter dem Kurs ihrer führenden Politiker, und die Grundhaltung zur Abschreckung durch eigene militärische Stärke und zur Abrüstung haben sich in keiner politischen Gruppierung vergleichbar verändert wie bei den Grünen. 1989 waren nur sechs Prozent der westdeutschen Anhänger der Grünen überzeugt, dass wirksame Abschreckung die beste Verteidigung ist, heute sind es 62 Prozent. Die Hoffnung, dass einseitige Vorleistungen bei der Abrüstung Erfolg versprechend sind, ist von 77 auf 35 Prozent geschrumpft« (Köcher, 2022).

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Neues Leitbild »Wehrhafter Friede«

Bemerkenswert ist, wie unterschiedlich die Bevölkerung in Ost und West reagiert: »Während die große Mehrheit im Westen Abschreckung durch eigene militärische Stärke für geboten hält, teilen nur 30 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung diese Auffassung. 58 Prozent der Westdeutschen votieren für eine Verstärkung der NATO-Truppen, dagegen nur 29 Prozent der Ostdeutschen; fast die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung spricht sich dagegen aus, in Westdeutschland nur 17 Prozent« (ebd.). »Zwar ist auch in Ostdeutschland unter dem Eindruck des Krieges der Rückhalt für die Mitgliedschaft in der NATO signifikant gewachsen, bleibt aber nach wie vor weit hinter dem Rückhalt in Westdeutschland zurück: 91  Prozent der Westdeutschen, 62  Prozent der Ostdeutschen halten es für wichtig, dass Deutschland zum Schutz seiner eigenen Sicherheit NATO-Mitglied ist. Wenn als Alternative Neutralität und Rückzug aus militärischen Bündnissen zur Diskussion gestellt wird, ist das Meinungsbild in Westdeutschland eindeutig, in Ostdeutschland dagegen völlig gespalten: während die große Mehrheit der Westdeutschen diese Option für Deutschland ausschließt, teilen 38 Prozent der Ostdeutschen diese Position; 37 Prozent votieren dagegen für Rückzug und Neutralität« (ebd.).

Die Ostdeutschen stehen »jeglichem militärischen Engagement kritischer gegenüber« (ebd.) als die Westdeutschen. Dies könnte mit der unterschiedlichen politischen Bedeutung, die dem friedenspolitischen Engagement in Ost- und West-Deutschland zukam, zusammenhängen. In der alten Bundesrepublik entsprang die Friedensbewegung basisdemokratischen Initiativen von »unten«, die auf heftige Ablehnung vonseiten der etablierten Parteien stieß. Sowohl Helmut Schmidt als auch Helmut Kohl lehnten die Friedensbewegung als politische Tagträumerei ab. In der DDR existierten zum einen innerhalb der Bürgerrechtsbewegung friedenpolitische Gruppen, zum anderen aber versuchte die Regierung der DDR die westdeutsche Friedensbewegung für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren und zu unterwandern. Die friedenspolitischen Botschaften, die von »oben« aus der DDR verkündet wurden, waren scheinheilig und auf einem Auge blind. Sie zielten nicht darauf, einen wechselseitigen Prozess der Vertrauensbildung in Gang zu setzen. Vielmehr sollten sie dazu bei283

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tragen, die westdeutsche Friedensbewegung einseitig gegen die Regierung der Bundesrepublik und die der USA in Stellung zu bringen. Das gelang ihnen zwar nur in begrenztem Ausmaß, weil die meisten friedenspolitischen Gruppen die Anbiederungs- und Unterwanderungsversuche der DKP durchschauten und ablehnten, aber von außen betrachtet konnte es so scheinen, als hätten die Friedensbewegung und die DDR-Regierung die gleichen Ansichten und Ziele. Im Hinblick auf die eigene Bevölkerung stiftete diese vergiftete friedenspolitische Rhetorik der DDR-Regierung einige Konfusion, die durchaus beabsichtigt war. Vielen Menschen in der DDR mochte es so erscheinen, als sprächen die Regierung der DDR, die Bürgerrechtsbewegung und die westliche Friedensbewegung mit einer Stimme gegen eine vermeintlich aggressive Politik der westdeutschen Regierung. Die dadurch ausgelöste Konfusion mag noch heute dazu beitragen, dass sich die Bevölkerung in Ostdeutschland nicht richtig entscheiden kann, wie sie sich zum Krieg gegen die Ukraine positionieren will, während die WestBevölkerung Angesichts der neuen Bedrohungslage einen politischen Lernprozess durchmacht. Dies kommt insbesondere bei der Unterstützung für die Ukraine zum Ausdruck: »55 Prozent der Westdeutschen, aber nur 21 Prozent der Ostdeutschen befürworten Waffenlieferungen an die Ukraine« (ebd.). Die Lieferung schwerer Waffen wird im Westen kontrovers diskutiert, im Osten jedoch »von der überwältigenden Mehrheit abgelehnt« (ebd.). Dabei ist besonders bemerkenswert, dass »für Ostdeutsche auch eine große Rolle [spielt], dass Russland involviert ist. Nach wie vor wird Russland – wie auch die USA – in Ostdeutschland anders gesehen als in Westdeutschland« (ebd.). Für die Mehrheit im Osten Deutschlands ist es von großer Bedeutung, so rasch wie möglich wieder gute Beziehungen zu Russland zu etablieren, eine Forderung, die die Mehrheit in Westdeutschland zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollziehen kann. Die unterschiedlichen historischen Prägungen sind nach wie vor wirksam« (ebd.). Die Sympathien, die Teile der ostdeutschen Bevölkerung für Russland, für das untergegangene System der DDR und für eine rechtspopulistische Weltsicht empfinden, geht einher mit einer entsprechenden Antipathie gegenüber den USA, dem westlichen Modell liberaler Demokratie, und einer ablehnenden Haltung gegenüber dem liberalen und freiheitlichen Wertekanon. Diese Merkmale bilden einen zusammenhängenden Komplex. Dieser stimmt überein mit einer nostalgischen Idealisierung der 284

Neues Leitbild »Wehrhafter Friede«

guten alten sozialistischen Zeit, in der man zwar weniger politische und persönliche Freiheiten hatte, aber die Welt noch in geordneten Bahnen zu verlaufen schien. Zudem dürfte eine noch immer fortwirkende Überidentifikation der Ostdeutschen mit dem großen Bruder Russland nachwirken, die ich im Kapitel »Von der ›Unfähigkeit zu trauern‹ bis zur ›Willkommenskultur‹ – zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik« beschrieben habe. Die Hauptrolle dürfte aber spielen, dass man sich mit seinen Wertvorstellungen, seinen psychokulturellen Kompetenzen und Bedürfnissen von den westlich geprägten Lebenszusammenhängen nicht angenommen fühlt. Man hat das Gefühl, mit seinen traditionellen Wertvorstellungen, mit dem Tempo der Veränderung, der Flexibilität und Mobilität, die einem abverlangt werden, und der psychosozialen Anforderung, sich selbst ständig neu erfinden zu müssen, nicht zu Rande kommt. Interessant sind bei der Frage nach der Positionierung gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine »die übereinstimmenden Reaktionen der Anhänger der AfD und der Linken: Sie stimmen – anders als die Anhänger aller anderen Parteien  – mehrheitlich für Rückzug und Neutralität« (ebd.). Wie bereits dargestellt, bilden die Grünen in dieser Frage den Gegenpol, insofern sie am entschiedensten eine harte Haltung gegenüber Russland und unbedingte Solidarität mit der Ukraine vertreten. Hier zeigt sich also wieder das gleiche Bild, das ich schon im Kapitel über AfD und Grüne geschildert habe: AfD und Grüne nehmen im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Diskurs entgegengesetzte Positionen ein. Die Befunde der Leipziger Autoritarismus-Studien und der Umfrage des Allensbach-Instituts bestätigen sich wechselseitig. Das ist auch insofern von hohem Interesse, als es sich um zwei ganz unterschiedliche wissenschaftliche Untersuchungsansätze handelt, die zudem noch unterschiedliche Fragestellungen behandeln. In der Leipziger Studie spielte die Haltung zu Russland überhaupt keine Rolle. Umso interessanter ist es, dass beide Studien die Anhängerschaft von Grünen und AfD in entgegengesetzten psychokulturellen Lagern sehen. Im Übrigen stimmen auch die Ergebnisse der beiden Studien im Hinblick auf die Position der Linken überein. Die Linken haben aus Gründen ihrer sozialistischen Tradition und den damit zusammenhängenden Wertvorstellungen bei einzelnen Themen – längst nicht bei allen – Berührungspunkte mit der AfD. Das betrifft insbesondere ihre Haltung zu Russland und zur ehemaligen DDR. 285

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Die Grünen zwischen Pazifismus und Wehrhaftigkeit Die Grünen haben sich bereits in der Zeit des Kosovo-Krieges von einer friedensbewegten, überwiegend pazifistischen Partei zu einer mit dem Leitbild »wehrhafte Friedenspolitik« gewandelt. In der rotgrünen Koalition mit Gerhard Schröder als Kanzler und Joschka Fischer als Außenminister ging es damals um die Frage, ob sich Deutschland an einem NATO-Einsatz gegen die von Serbien betriebenen ethnischen Säuberungen, Ermordungen und Vertreibungen der Kosovo-Albaner beteiligen sollte. Im UN-Sicherheitsrat scheiterte ein entsprechender Antrag am Veto Russlands und Chinas. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen in Bielefeld 1999 kam es zu einer dramatischen, lautstarken und sogar handgreiflichen Auseinandersetzung um die Zustimmung der Grünen zur Beteiligung der Bundeswehr am NATO-Einsatz im Kosovo-Krieg. Joschka Fischer setzte sich in einer hochemotionalen Rede, die er als »die wichtigste politische Rede in meinem Leben« bezeichnete, für die Beteiligung deutscher Truppen ein. In seinen politischen Erinnerungen Die rot-grünen Jahre (Fischer, 2007) schildert er die Atmosphäre der Bundesdelegiertenkonferenz in der Bielefelder Seidensticker-Halle als »extrem aufgeladen, ja hasserfüllt« (ebd., S. 222). Am Haupteingang der Halle musste die Polizei den Zugang für die Delegierten freiräumen. Es war »der erste Parteitag der Grünen unter Polizeischutz« (ebd.). Noch vor seiner Rede, schon auf dem Podium sitzend, traf ihn »ein mit voller Wucht und sehr zielgenau geworfener Farbbeutel« (ebd.) am Ohr, der ein »geplatztes Trommelfell« (ebd., S. 227) zur Folge hatte. Wie er im Rückblick schreibt, »kochte ich innerlich vor Wut«. Sein »großer innerer Zorn« (ebd., S. 223) sollte ihm bei seiner Wut- und BrandRede durchaus nützlich sein. Als er im rot verschmierten Jackett ans Rednerpult trat, schlugen ihm »ohrenbetäubender Lärm von Zwischenrufen und Trillerpfeifen« und Sprechchöre entgegen: »Mörder, Kriegshetzer, Verbrecher« (ebd.). Er beginnt seine Rede mit folgenden Worten: »Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gegner, geliebte Gegner, ein halbes Jahr sind wir jetzt hier in der Bundesregierung – ja, ich habe nur darauf gewartet: Kriegshetzer. Hier spricht ein Kriegshetzer und Herrn Milošević schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor« (ebd.).

Bereits mit der Anrede »liebe Gegner, geliebte Gegner« schlägt er einen besonderen Ton an, in dem sich Ironie mit dem Bekenntnis zum gemein286

Die Grünen zwischen Pazifismus und Wehrhaftigkeit

samen grünen Projekt verbinden. Fischer bekennt sich mit dieser Formulierung dazu, dass er seine innerparteilichen Gegner, die pazifistischen Linke, zu denen unter anderen Claudia Roth, Jürgen Trittin, Hans-Christian Ströbele und Bärbel Hühn gehören, als Gegner*innen ansieht, mit denen er sich in einer Art Hass-Liebe verbunden sieht. Er erinnert daran, dass solche dramatischen Grundsatzdiskussionen allen in der grünen Partei vertraut sind, dass sie zur grünen Diskussionskultur gehören, die aber letztlich nicht dazu führen darf, unfähig zu werden, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Seine Annahme, dass die Ironie in diesem Sinne verstanden wird, appelliert an die Fähigkeit der Delegierten, eine Metaposition zu der Debatte einzunehmen, die gerade so heftig geführt wird. Der kurze Verweis auf die Beteiligung der Grünen an der Bundesregierung, die erst ein halbes Jahr währt, soll den Realitätssinn der Delegierten ansprechen und allen ins Bewusstsein rufen, um was es geht: Es ging nämlich nicht um die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg, denn diese Entscheidung stand nicht in der Macht des Parteitages. »Wohl aber würde er über die Zukunft von Rot-Grün zu entscheiden haben. Gerhard Schröder würde durch ein negatives Votum als Kanzler nicht stürzen, die rot-grüne Koalition allerdings damit beendet sein und durch eine Große Koalition abgelöst werden« (ebd., S. 221). Im zweiten Satz packt Fischer den Stier frontal bei den Hörnern: »[J]a, ich habe nur darauf gewartet: Kriegshetzer. Hier spricht ein Kriegshetzer und Herrn Milošević schlagt ihr demnächst für den Friedensnobelpreis vor.« Er macht deutlich, dass er Herr der Lage ist, denn er hat auf die Diffamierungen, die ihm entgegengeschleudert werden, »nur gewartet«. Indem er sich selbst als Kriegshetzer bezeichnet, kündigt er an, dass er sich nicht vor aggressiven persönlichen Angriffen scheut und keiner harten Auseinandersetzung ausweicht. Der Sarkasmus, mit dem er seinen Gegnern unterstellt, dass sie »demnächst Herrn Milošević für den Friedensnobelpreis vorschlagen«, macht mit einem Satz die Absurdität der gegen ihn und seine Position vorgebrachten Argumente sichtbar. Die leichte Ironie in der Anrede »geliebte Gegner« wird zur beißenden Ironie, zum sarkastischen Spott gesteigert. Mit der Redefigur der Ironie und des Sarkasmus in eine höchst kontroverse und moralisch und emotional aufgeladene Diskussion zu starten, ist eine eher ungewöhnliche Strategie. Sie ist nur verständlich im Zusammenhang mit dem schonungslosen Umgangsstil, der nicht nur für die grüne Partei, sondern für große Teile der politischen Linken in der damaligen Zeit 287

8 Zeitenwende

charakteristisch war. Er war Ausdruck des Wunsches nach radikaler Offenheit, klaren Bekenntnissen zu den eigenen politischen und moralischen Überzeugungen, der Ablehnung von faulen Kompromissen und verdruckster Unentschiedenheit, wie sie den politischen Umgangsstil sonst häufig kennzeichnen. Zugleich, und das ist ein entscheidendes Element, setzt dies aber die Fähigkeit und den Willen zur Selbstreflexion voraus und appelliert daran, selbstkritisch über Forderungen nachzudenken, die sich einem übersteigerten Moralismus verpflichtet fühlen, tatsächlich aber vor allem dazu dienen, sich selbst die Hände nicht schmutzig machen zu wollen. Aus dem weiteren Teil seiner Rede sollen hier nur noch zwei Abschnitte betrachtet werden, in denen Fischer moralisch-ethische Grundsätze formuliert, die sich umstandslos auf Putins Krieg gegen die Ukraine übertragen lassen: »Auschwitz ist für mich unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus! Beides gehört bei mir zusammen« (ebd., S. 225).

Der Grundsatz »Nie wieder Krieg!« muss ergänzt und damit auch relativiert werden durch den Grundsatz »Nie wieder Auschwitz!«. Diese Lehre haben sich Bündnis 90/Die Grünen schon 1999 in der Auseinandersetzung um den Kosovo-Krieg erarbeitet. Im Falle eines ungerechtfertigten Angriffs- und Vernichtungskrieges, wie ihn Putin gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, ist Gegenwehr gerechtfertigt und geboten. Hier sei noch eine weitere Stelle aus Fischers Rede zitiert, bei der sich eine Parallele zu Putins Krieg aufdrängt: »Diese Politik ist in einem doppelten Sinne verbrecherisch. Ein ganzes Volk zum Kriegsziel zu nehmen, zu vertreiben durch Terror, durch Unterdrückung, durch Vergewaltigung, durch Ermordung, und gleichzeitig die Nachbarstaaten zu destabilisieren: dies bezeichne ich als eine verbrecherische Politik. […] Milošević darf sich nicht durchsetzen« (ebd., S. 226).

Es geht hier zum einen um die Legitimation von militärischer Gegengewalt, zum anderen aber auch um die Charakterisierung einer Politik, die man in einem moralischen, juristischen und völkerrechtlichen Sinn als »Verbrechen« bezeichnen muss. Sie trifft auf Milošević in gleicher Weise zu wie auf Putin. 288

Warum den Grünen Waffenlieferungen leichter fallen als der SPD

Warum den Grünen Waffenlieferungen leichter fallen als der SPD Es fiel Olaf Scholz und Teilen der SPD erkennbar schwer, die Zeitenwende, die Putin einseitig herbeigeführt und die Scholz als neue Realität benannt und anerkannt hatte, nun auch geistig, psychologisch und im politischen Handeln nachzuvollziehen. Erstaunlicherweise taten sich die Grünen in dieser Frage leichter. Wie kann man das verstehen? Beide Parteien stehen in einer von der Friedensbewegung geprägten Tradition. Die grüne Partei ist sogar unmittelbar aus den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, und ihren tragenden Pfeilern, der Ökologie- und der Friedensbewegung, hervorgegangen. Beide Parteien messen der selbstkritischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Aussöhnung mit den osteuropäischen Ländern eine zentrale Bedeutung zu. Insofern wäre zu erwarten, dass es beiden Parteien in gleichem Ausmaß schwer bzw. leicht fallen müsste, der Neuausrichtung der Sicherheitspolitik zuzustimmen. Es muss gravierende sozialpsychologische Gründe geben, warum sich die Sozialdemokraten in dieser Frage schwerer tun und es den Grünen leichter fällt, die neuen Realitäten zu akzeptieren. Was die Austragung von zwischenstaatlichen Konflikten anbelangt, folgt die friedenspolitische Ausrichtung der Grünen grundsätzlichen Überlegungen und Überzeugungen, die nicht nach bestimmten Staaten spezifiziert. Es besteht kein besonderes Verpflichtungsgefühl gegenüber Russland. In der SPD existiert hingegen eine lange Tradition, sich – trotz aller Differenzen – mit der Idee des Sozialismus und mit dem real existierenden Sozialismus solidarisch verbunden zu fühlen bzw. eine Annäherung zu suchen. Der linke Flügel der SPD vertrat und vertritt teilweise noch immer theoretische Konzepte, die auf einer marxistischen Gesellschaftsanalyse beruhen. In der Sozialistischen Internationalen war man auch ideologisch verbunden. Diese gehört zwar ebenso der Vergangenheit an, wie sich die russische Gesellschaft von Sozialismus verabschiedet hat, aber es existiert in der gesamten Linken und auch im linken Flügel der SPD noch immer ein nostalgisches Gefühl der Verbundenheit. Man hatte in grauer Vorzeit mal gemeinsame Ideale. Das verbindet, auch wenn schon der damalige Sozialismus der UdSSR nichts mit sozialistischen Idealen zu tun hatte. Die Grünen stehen in einer anderen politischen Tradition. Eine ihrer Wurzeln liegt in der undogmatischen Linken. Joschka Fischer und Daniel 289

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Cohn-Bendit kamen aus der Frankfurter Sponti-Szene. Eine andere Fraktion, der Jürgen Trittin zugrechnet werden kann, kam aus den maoistischen K-Gruppen. Beide Strömungen lehnten den real existierenden Sozialismus der UdSSR und der DDR sowie deren westdeutsche Stellvertreterpartei, die DKP, entschieden ab. Beide Fraktionen (Spontis und ehemalige KGruppen-Aktivisten) engagierten sich bei den Grünen, weil sie das Scheitern ihrer bisherigen Politik erkannt hatten und einen ganz neuen Politikansatz suchten. Zwar brachten sie ihre politischen Grundüberzeugungen, Wertorientierungen und Erfahrungen in die grüne Partei ein, aber sie versuchten nicht, die Grünen zu unterwandern und für ihre Parteiorganisation im Hintergrund zu funktionalisieren. Die »Genossen« der DKP hingegen versuchten – mit mehr oder weniger Erfolg – die Neuen Sozialen Bewegungen, insbesondere die Friedensbewegung, zu unterwandern und zu instrumentalisieren. Das gelang ihnen teilweise. Zu einem anderen Teil wurde diese Strategie durchschaut, und viele friedenspolitische Initiativen grenzten sich gegen diese Unterwanderungs- und Vereinnahmungsversuche ab. Die DKP vertrat die Theorie vom »Staatsmonopolistischen Kapitalismus« (»Stamokap«), der auch bei den Jusos und der linken Sozialdemokratie zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger fand. Es findet teilweise bis heute in der Sozialdemokratie eine theoretische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse Zustimmung, wie sie von sozialistischen und kommunistischen Organisationen vertreten wird. Mit der Kapitalismuskritik eng verwoben ist ein Ressentiment gegen den »US-Imperialismus«, das reflexartig zur Geltung kommt, wenn an Russland Kritik geübt wird. Sogar Putins verbrecherischer und völkerrechtswidriger Überfall auf die Ukraine ruft stereotyp die Relativierung hervor, die USA und die NATO hätten für ihren Krieg gegen Milošević auch das Völkerrecht gebrochen, weil sie nicht über ein Mandat des UN-Sicherheitsrats verfügten. Dieses war seinerzeit am Veto Russlands und Chinas gescheitert. Mit diesem Argument soll Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine verharmlost, zumindest aber relativiert werden, obwohl er von einer überwältigenden Mehrheit der Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilt wurde. Der entsprechende Beschluss im Sicherheitsrat scheiterte am Veto Russlands und der Enthaltung Chinas. Die Grünen hingegen berufen sich auf libertäre und anarchistische Wurzeln. Freiheit und Menschenrechte hatten und haben für sie höchste Bedeutung. Die SPD hingegen präferierte die Aussöhnung mit Russland 290

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vor den Menschen- und Freiheitsrechten. Egon Bahr (2013) sagte ausdrücklich: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.« Dementsprechend kümmerte sich die SPD kaum um die polnische SolidarnośćBewegung, weil dies ihrer Annäherungspolitik mit den polnischen Machthabern und auch denen in der DDR in die Quere hätte kommen können. Die kommunistische Führung in Polen und in der DDR sollte nicht den Eindruck gewinnen, dass sich die deutschen Sozialdemokraten in innerpolitische Angelegenheiten eines Nachbarlandes einmischten und eine demokratische Basis-Bewegung gegen die Regierung unterstützten. Die Grünen stehen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen und ihrer basisdemokratischen Tradition eher auf der Seite von Freiheitsbewegungen »von unten«, wie sie die polnische Solidarność-Bewegung und die ukrainische Maidan-Bewegung darstellen, als dass sie versuchen würden, Verständnis für Machthaber zu entwickeln, um diese milde zu stimmen und nicht zu Gegenreaktionen zu provozieren. Aus sozialdemokratischer Sicht ist die Vereinigung Deutschlands das Ergebnis der Ostpolitik von Willy Brandt, also Ergebnis einer staatspolitischen Strategie. Die SPD ist Russland immer noch dafür dankbar, dass Gorbatschow die deutsche Einheit nicht verhindert (was Putin an seiner Stelle ohne Zweifel getan hätte), sondern ermöglicht hat. Aus grüner Sicht sieht man im Fall der Mauer den Erfolg der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, mit der man sympathisierte und sogar so eng kooperierte, dass man sie in den Parteinamen »Bündnis 90/Die Grünen« aufnahm. Die Grünen fühlen sich Bürgerrechtsbewegungen, wie sie im ersten und zweiten Maidan in der Ukraine stattgefunden haben, mehr verbunden als ordnungspolitischen Strategien, die auf die Interessen der russischen Regierung Rücksicht nehmen. Vor diesem historischen Hintergrund fühlen sich Teile der Sozialdemokratie auch nach dem brutalen Angriffskrieg Putins noch immer Russland verbunden, auch wenn die SPD diesen Krieg einhellig verurteilt. Ein weiterer sozialpsychologischer Hintergrund für die Unterschiede zwischen Grünen und SPD hängt mit der selbstkritischen Auseinandersetzung beider Parteien mit ihrer eigenen Geschichte zusammen. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen »Fundis« und »Realos«, die oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit gingen, haben die Grünen einen Selbstreflexionsprozess durchlaufen, der es ihnen ermöglicht hat, den Hypermoralismus des Fundamentalismus zu hinterfragen und zu einem Gutteil zu 291

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überwinden. Die Grünen sind weiterhin eine friedenpolitische Partei. Ihr Wertekanon ist »postheroisch« im Sinne von Herfried Münkler (2015b). Postheroische Gesellschaften erinnern »sich daran, dass sie mal heroisch war[en], dass sie heroische Kriege – oder was sie dafür gehalten [haben] – geführt [haben] und die […] Verabschiedung davon als einen Lernprozess beschreib[en]«. Dementsprechend präferieren die Grünen eine politische Ethik, die Frieden, Völkerverständigung, aber auch die Rechte von Frauen, sexuellen und sonstigen Minderheiten und die Menschenrechte höher bewertet als militärische und ökonomische Machterweiterung. Aber sie haben ihre einstige Schwachstelle, den moralisierenden Fundamentalismus, überwunden. Deshalb können sie sich auf die neue politische Realität eines kriegslüsternen Putin leichter einstellen. Sie sind postheroisch, aber gleichwohl wehrhaft. Die SPD hat in ihrer langen Zeit als Regierungspartei nicht die Gelegenheit und Kraft gefunden, einen innerparteilichen Klärungsprozess zu initiieren, in dem die verschiedenen Grundströmungen ihre Positionen hätten klären können. Man kann den Eindruck gewinnen, die einzige Gemeinsamkeit, auf die sich alle Fraktionen innerhalb der SPD einigen können, sei die Idealisierung von Willy Brandt. So beruhigend und anheimelnd eine solch Lichtgestalt erscheinen mag, so problematisch ist ihre Glorifizierung, weil sie eine Scheinsicherheit vortäuscht, die realitätsfern ist. Die Idealisierung von Brandt hat eine ähnliche psychologische Funktion wie der einstige moralische Fundamentalismus der Grünen. Beide psychologischen Strategien schaffen das angenehme, aber trügerische Selbstbild, auf der Seite des moralisch Guten zu stehen. Die historischen Verdienste von Brandt und Bahr bestehen unzweifelhaft, aber im Zuge ihrer wertorientierten und pragmatischen Politik haben sie mehr oder weniger faule Kompromisse geschlossen, um die Machthaber in den einst realsozialistischen Staaten nicht vor den Kopf zu stoßen. Im Aussöhnungsprozess mit Polen haben sie die Solidarność-Bewegung links liegen lassen, und dem Aussöhnungsprozess mit Russland ist die Ukraine zum Opfer gefallen. Viele der damaligen Kompromisse mögen notwendig gewesen sein, um zum politischen Erfolg zu gelangen, ihre unreflektierte Fortschreibung in die Gegenwart und Zukunft führt jedoch in die Irre. Dies im Rückblick zu erkennen, ist die Voraussetzung dafür, zu Entscheidungen zu kommen, die der heutigen Realität angemessen sind. Der Historiker Timothy Snyder (2022b) hat nachdrücklich darauf hin292

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gewiesen, dass die Ukraine im Rahmen der deutschen Versöhnungspolitik vernachlässigt, genauer gesagt, vollständig ausgeblendet wurde. Russen und Deutsche waren sich darin einig, dass »die Russen […] als die Hauptopfer des Krieges (nach den Juden) verstanden werden« (ebd., S. 54) sollten. Russland verstand es geschickt – so Snyder –, die eigene Nation sowohl als Sieger als auch als Hauptleidtragenden des Krieges in den Mittelpunkt zu rücken und die beteiligten Sowjetrepubliken, insbesondere die Ukraine, dabei zu vergessen. Dabei hatte die Ukraine die Hauptlast zu tragen. Im Zweiten Weltkrieg starben »in der Sowjetukraine mehr Zivilisten […] als in Sowjetrussland. Wie auch mehr ukrainische Soldaten im Kampf gegen Deutschland fielen als Amerikaner, Briten und Franzosen zusammen« (Snyder, 2022b, S.  53). Aber das Schicksal der Ukraine spielte im Aussöhnungsprozess zwischen Deutschland und der Sowjetunion auf beiden Seiten keine Rolle. »Die Ukraine war unsichtbar. Unausgesprochen bestand eine Voraussetzung der Ostpolitik darin, nicht über die Ukraine zu sprechen, dem eigentlich zentralen Thema der Erinnerungspolitik. Das Land hatte in den Dreißigerund Vierzigerjahren unter einer doppelten Kolonialisierung gelitten, die sowohl von Moskau als auch von Berlin betrieben worden war. Die Annäherung zwischen Moskau und Bonn in den Siebziger- und Achtzigerjahren verstärkte das Schweigen darüber« (ebd.).

Russland spielte geschickt auf der Klaviatur deutscher Schuldgefühle und bewirkte damit, dass die Deutschen nicht wagten, die Komplizenschaft zwischen Stalin und Hitler, die vor allem zu Lasten von Polen und der Ukraine ging, zu thematisieren. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt – nach den Unterzeichnern »Molotow-Ribbentrop-Pakt« genannt – wird auch als »Hitler-Stalin-Pakt« bezeichnet. Er wurde kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet. Stalin sicherte Hitler die sowjetische Neutralität für den vorbereiteten Angriff auf Polen und den Fall eines möglichen Kriegseintritts der Westmächte zu. In einem geheimen Zusatzprotokoll vereinbarten die beiden Diktatoren, dass große Teile Polens sowie Litauen der deutschen Interessensphäre zufallen sollten und Ostpolen, Finnland, Estland, Lettland und Bessarabien der sowjetischen. Wie Snyder hervorhebt, war diese »Allianz zwischen Nazis und Sowjets« (ebd., S. 52) nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion tabuisiert. »Breschnew [leugnete] die Existenz des Molotow-Ribbentrop-Pakts« 293

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(ebd.), der »die Welt im wahrsten Sinne des Wortes veränderte« (ebd., S. 53). Snyder vermutet: »Vielleicht hätten die Diskussionen über die deutsche Energieabhängigkeit von Russland eine andere Wendung genommen, wenn der Pakt in der gemeinsam gestalteten Erinnerungspolitik Berlins und Moskaus öfter eine Rolle gespielt hätte« (ebd., S. 53).

Blick zurück – die Zeitenwende von 1989 Um die Zeitenwende, die mit Putins Krieg angebrochen ist, sozialpsychologisch einzuordnen, ist es hilfreich, sich an die Zeitenwende zu erinnern, die in den Jahren der deutschen Vereinigung stattfand. Sie hatte eine gänzlich andere Stoßrichtung. Ihr Charakter war durch eine Annäherung zwischen Ost und West, den Abbau von Feindbildern und neue Formen des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs gekennzeichnet. Russland und Deutschland waren an zentralen Positionen involviert. Eine neue Ära der Kooperation zwischen den verfeindeten Blöcken schien möglich. Für zahlreiche Staaten und Völker, die zuvor unter der diktatorischen Macht der von Russland dominierten Sowjetunion zu leiden hatten, bedeutete diese Zeitenwende politische Freiheit, nationale Selbstbestimmung, Demokratie und für den Einzelnen erhöhte Chancen auf mehr Wohlstand und ein selbstbestimmtes Leben – nicht zuletzt für die Bevölkerung der DDR. Mit dem Auftritt Michail Gorbatschows auf der weltpolitischen Bühne begann ein neues politisches Zeitalter. Auch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist ohne Gorbatschows Politik des »Neuen Denkens« nicht vorstellbar. Die Politik der Entspannung, der Annäherung und Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihren östlichen Nachbarn begann bereits mit Willy Brandts Ost-Politik in den 1970er Jahren gegen den erbitterten Widerstand der konservativen Kräfte. Die Entspannung zwischen Ost und West machte zu guter Letzt auch die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands möglich. Die deutsch-deutsche Vereinigung ist erstens das Verdienst der Basis- und der Fluchtbewegung in der DDR, zweitens eine späte Folge von Willy Brandts Ost-Politik, die die Oppositionsbewegung in der DDR ermöglichte und ermutigte, und drittens ein Geschenk Gorbatschows, der sich einerseits der wirtschaftlichen Schwäche der Sowjetunion bewusst war und der sich andererseits durch die Friedensbewegung im Westen bestärkt fühlte, eine neue vertrauensvolle Kooperation mit dem Westen zu suchen. Die ganze Welt, insbesondere die 294

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Deutschen, und schließlich auch Helmut Kohl – der die Gunst der Stunde geschickt zu nutzten wusste – wurden die glücklichen Nutznießer der Prozesse, die Gorbatschows Politik in Gang gesetzt hatte. Gleichwohl wurden alle davon überrascht, wie schnell und wie weitgehend die Zugeständnisse der Sowjetunion an die Bundesrepublik waren. Vielen Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR, denen der Vereinigungszug viel zu schnell raste, wie beispielsweise Oskar Lafontaine, setzten gar ihre Hoffnungen darauf, dass die Sowjetunion das Tempo der Vereinigung abbremsen könnte. Tatsächlich aber waren die Befürchtungen vor einem vereinten Groß-Deutschland bei manch anderen europäischen Nachbarn viel stärker als in der Sowjetunion. In Frankreich und insbesondere in Großbritannien wurden Stimmen laut, die davor warnten, von einem vereinten Deutschland könne erneut eine Gefahr für den Weltfrieden ausgehen, zumindest aber könne es seine wirtschaftliche Potenz machtpolitisch ausspielen (Lehmann, 1996). Im Sommer 1989 – noch vor der Deutschen Einheit – kam Gorbatschow gemeinsam mit seiner Frau Raisa zum Staatbesuch in die Bundesrepublik. Die beiden wurden von der Bevölkerung der Bundesrepublik gefeiert wie Popstars. In der Sowjetunion wurde Gorbatschow hingegen später als Totengräber der Sowjetunion angesehen, eine Einschätzung, die Putin noch heute vertritt. Während dieser Zeit, zwischen 1988 und 1992, war ich an einem sozialpsychologischen Forschungsprojekt beteiligt, das Horst-Eberhard Richter, maßgeblicher Initiator der deutschen Friedensbewegung, im Rahmen der Initiative »Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkrieges« (IPPNW) ins Leben gerufen hatte. Gemeinsam mit der PsychologieProfessorin Galina Andreeva und dem Psychologen Leonid Gozman1, beide tätig an der Lomonosov-Staatsuniversität in Moskau, befragten wir 1.000 Moskauer und 1.450 Gießener Studierende nach ihren Ansichten über sich selbst, über das Verhältnis zum eigenen und zum anderen Land und auch danach, wie wichtig ihnen die Erinnerungen an die Stalin- und Hitler-Zeit waren. Die Ergebnisse dieser Studie legten wir im Buch Russen 1 Leonid Gozman verfasste wenig später das Buch Von den Schrecken der Freiheit. Die Russen – ein Psychogramm (1993). Er reflektiert dort die psychologischen Folgen des Zusammenbruchs der sowjetischen Diktatur, und wie schwer es für die russische Bevölkerung war, mit der neuen ungewohnten Freiheit zurechtzukommen. Später ging er in die Politik und wurde russischer Oppositionspolitiker.

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und Deutsche (Richter, 1990) und in verschiedenen Artikeln (Wirth & Schürhoff, 1990, 1992; Richter & Wirth, 1991) vor. Als wichtigstes Ergebnis unserer Studie hielten wir damals fest, dass die alten Feindbilder zwischen Russ*innen und Deutschen nicht mehr existierten. In beiden befragten Populationen gab es kein Misstrauen, keinen Hass und keine Rachegefühle mehr, sondern das Verhältnis zum anderen Land war durch Neugier und hoffnungsvolle Erwartungen geprägt. Diesen Befund brachten wir im Untertitel unseres Buches zum Ausdruck: »Alte Feindbilder weichen neuen Hoffnungen«. Zudem war eine deutlich überwiegende Mehrheit in beiden Ländern (mehr als 80 Prozent der Befragten) der Ansicht, die Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit sei eine wichtige Aufgabe – und zwar sowohl für das eigene als auch für das andere Land. In der deutschen Stichprobe hatten diejenigen, die für eine stärkere Auseinandersetzung mit der Hitler-Zeit plädierten, ein erheblich positiveres Bild von der Sowjetunion als Studierende, denen die Aufarbeitung der Nazi-Zeit nicht so wichtig war. Die Ergebnisse unserer Studie bestätigten also die psychoanalytische These über den Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und dem Abbau von Feindbildern: Je wichtiger den deutschen Studierenden die Auseinandersetzung mit der Hitler-Zeit war, um so weniger war ihre Einstellung zur Sowjetunion von Feindschaft bestimmt. Der friedenspolitische Slogan »Erinnern hilft vorbeugen« wurde also empirisch bestätigt. In dem Maße, in dem wir uns mit unseren eigenen aggressiven, bösen und dunklen Seiten in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen, schwindet auch die Notwendigkeit, ein paranoides Weltbild aufzubauen, das nur ein »Reich des Guten« und ein »Reich des Bösen« kennt.2 Mit der Abnahme von Spaltungstendenzen wächst die emotionale und geistige Freiheit, auch die früheren politischen Gegner interessant, gar sympathisch und bedeutsam für die eigene Entwicklung zu empfinden: Je stärker man sich mit der HitlerZeit auseinandersetzte, umso sympathischer fand man die Politik der Sow2 Die Rede vom »Reich des Guten« und dem »Reich des Bösen« stammt vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, der von 1981 bis 1989 Präsident der Vereinigten Staaten war. George W. Bush knüpfte an diese Tradition an, als er am 29. Januar 2002 in einer Rede zur Lage der Nation im Hinblick auf den 11. September 2001 von der »Achse des Bösen« (Axis of Evil) sprach. Er beschuldigte Nordkorea, den Iran und den Irak, Terroristen zu unterstützen und Massenvernichtungswaffen zu entwickeln.

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jetunion und umso mehr glaubte man, dass es für unser eigenes Land von großer Bedeutung ist, wie sich die Verhältnisse in der Sowjetunion zukünftig entwickeln werden. Die selbstkritische Beschäftigung mit der eigenen geschichtlichen Vergangenheit ging demnach einher mit dem Gefühl einer globalen, grenz- und systemüberschreitenden Verbundenheit der Menschen, dem Schrumpfen von Misstrauen und dem Schwinden paranoider Feindbilder. Die Bereitschaft, bedrückende Erinnerungen aufzuarbeiten, erwies sich als wichtige Bedingung dafür, die »seelische Krankheit Friedlosigkeit« (von Weizsäcker, 1967) zu überwinden. Auch wenn sich unsere Studie nur auf die Teilpopulation der Studierenden bezog, erfasste sie doch eine Stimmung, die für größere Teile der Bevölkerung der Bundesrepublik charakteristisch war. Auch in der Sowjetunion existierte in bestimmten Kreisen, deren Größe und Einfluss schwer zu beurteilen ist, das Bedürfnis, sich mit den Verbrechen der Stalin-Zeit kritisch auseinanderzusetzen. In der Aufbruchstimmung von Perestroika und Glasnost wurde 1988 die Menschenrechtsorganisation Memorial International mit Sitz in Moskau gegründet, deren Aufgabe die Aufarbeitung der historischen Wahrheit über die politischen Repressionen in der Sowjetunion ist. In der Regierungszeit von Gorbatschow entwickelte sich ein gesellschaftliches Interesse, sich mit den dunklen Seiten der sowjetischen und russischen Geschichte, insbesondere der Stalin-Zeit, zu beschäftigen. Diese Entwicklung setzte sich auch noch unter Boris Jelzin fort. Unter Putins Herrschaft wurde diese Auseinandersetzung mit der Stalin-Zeit jedoch schrittweise immer mehr unterbunden und machte schließlich sogar einer Stalin-Verehrung Platz. Einer Befragung des unabhängigen russischen Meinungsforschungszentrums, des Lewada-Instituts, aus dem Jahr 2019 zufolge, »stehen 51 Prozent der Russen Stalin positiv gegenüber. Gerade einmal 14 Prozent [verbinden] negative Assoziationen mit Stalin« (Mitteldeutscher Rundfunk [MDR], 2019). Wie der MDR zeigte, wurde Stalin 2017 zum »größten russischen Helden aller Zeiten« (ebd.) gewählt. Der russische Historiker Nikita Petrow, stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial und Forscher über Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste während der Stalinzeit, sagte in einem Interview mit dem MDR, dass »die staatliche Propaganda in letzter Zeit versucht, ein heroisierendes und strahlendes Bild von Stalin zu zeichnen. Ihn als großen Sieger im Krieg darzustellen. Diese Propaganda ist sehr aufdringlich und überall präsent« (ebd.). Unmittelbar nach dem Beginn 297

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des Überfalls auf die Ukraine verbot das oberste Gericht Russlands Memorial International. Die lange Ära der Versöhnung und der Entwicklung von kooperativen Beziehungen, die mit Willy Brandts Ostpolitik begann und die – wenn man so will  – bis zu Nordstream  2 reicht, ist von Deutschland konsequent weiterverfolgt, von Putin hingegen einseitig beendet worden. Sie als »komplett gescheitert« zu bezeichnen, wäre gleichwohl zu einseitig. Willy Brandts Politik der Aussöhnung wandte sich ja nicht nur an die Sowjetunion, sondern an alle osteuropäischen Länder, die unter der nationalsozialistischen Aggression zu leiden hatten. Diese Politik der Aussöhnung mit Polen, den baltischen Staaten, Tschechien, der Slowakei und mit der Sowjetunion (die sich allerdings auf deren russischen Teil beschränkte und die Ukraine ausblendete) hat den Frieden in Europa für Jahrzehnte gesichert und zumindest mit einigen Staaten auf ein festes Fundament gestellt. Die Versöhnungspolitik war die unverzichtbare Voraussetzung, sowohl für den Eintritt osteuropäischer Länder in die EU und die NATO als auch für die deutsche Wiedervereinigung. Die Hoffnung auf eine Zeitenwende in den Ost-West-Beziehungen, die durch Aussöhnung, Annäherung und Austausch gekennzeichnet war, erfüllte sich für Deutschland mit der Wiedervereinigung. Diese bewirkte eine gleichsam »ewige« Dankbarkeit gegenüber Gorbatschow und Russland, ohne deren Zustimmung dieser Prozess einer »friedlichen Revolution« nicht hätte stattfinden können. Aber auch für die sowjetische Seite brach eine Zeitenwende an, die allerdings holprig verlief.

Die Auflösung der UdSSR als kollektive narzisstische Kränkung Beim historischen Treffen des Warschauer Paktes am 7. Juli 1989 in Bukarest gab die Sowjetunion offiziell die Breschnew-Doktrin auf. Diese hatte den Staaten des Warschauer Pakts nur eine begrenzte Souveränität zugebilligt. Von nun an war es jedem Land freigestellt, selbst zu entscheiden, wie es sich entwickeln, wie es seine Beziehungen zu anderen Staaten gestalten und welchen Bündnissen es sich anschließen wollte. Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow setzte sich auch im Verhältnis Russlands zu den Staaten des Warschauer Pakts für ein »Neues Denken« ein, das durch das Selbstbestimmungsrecht der Staaten gekennzeichnet war. 298

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Zustimmung erhielt er von Ungarn und Polen, wo sich erste reformpolitische Veränderungen ankündigt hatten. Die DDR hingegen verhielt sich gegenüber Gorbatschows Vorstellungen ablehnend. Das Abgrenzungsbedürfnis der DDR-Regierung gegenüber der »BRD« und ihre Angst vor einer feindlichen Übernahme waren zu groß. Allerdings brachte Gorbatschow die DDR-Führung mit Glasnost und Perestroika in arge Verlegenheit, denn einerseits fürchtete man dort Glasnost und Perestroika wie der Teufel das Weihwasser, und andererseits galt doch alles, was vom großen sowjetischen Bruder kam, als vorbildlich. Die Oppositionsbewegung in der DDR konnte deshalb eine alte Losung der DDR-Ideologen ironisch ummünzen auf die neue Situation: »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen.« Die Oppositionsbewegung in der DDR wurde durch Gorbatschows Politik der Öffnung ermutigt. Der sowjetische Präsident war in der Bundesrepublik und bei der Bevölkerung der DDR plötzlich beliebter war als in der Führungsriege der DDR. Alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Paktes – mit Ausnahme Russlands – waren erleichtert über die neuen Möglichkeiten der nationalen eigenstaatlichen Selbstbestimmung und darüber, das Joch des sozialistischen Zwangssystems und der russischen Vorherrschaft abgeschüttelt zu haben. Wirtschaftlich organisierten sich alle Staaten nach kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Prinzipien neu, was teilweise zu heftigen sozio-ökonomischen Verwerfungen, der Herausbildung von Oligarchien und krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich führte. Polen, die baltischen Staaten, Tschechien und die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien suchten wirtschaftlichen Anschluss an die Europäische Union und militärischen Schutz bei der NATO. Die ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken und Vasallenstaaten hatten es in gewisser Weise einfacher als Russland, sich vom Stalinismus zu befreien, mit dem sie sich zwar teilweise identifizierten, identifizieren mussten, weil sie Teil des sowjetischen Reiches waren, den sie aber zu einem anderen Teil auch als russische Fremdherrschaft auffassten und froh waren, ihn nach dem Zerfall der Sowjetunion abschütteln zu können. Die Auflösung der Sowjetunion ging in Russland mit einem Zerfall staatlicher Strukturen und einer schweren Wirtschaftskrise einher. In Deutschland wurden Spenden gesammelt für die Hunger leidende russische Bevölkerung. Boris Jelzin, der einen Putsch sowjetischer Militärs verhinderte, übernahm die Macht von Gorbatschow. Er erwies sich jedoch bald als unfähig, das Chaos zu bändigen, und verfiel immer mehr dem Al299

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kohol. Er suchte selbst nach einem Nachfolger und wurde in dem KGB-Offizier Wladimir Wladimirowitsch Putin fündig, der nach seiner Tätigkeit als KGB-Agent in Dresden und einer Zwischenstation in der Petersburger Stadtverwaltung 1999 in das Amt des russischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Am 31. Dezember 1999 trat Jelzin überraschend von seinem Amt zurück. Am 26.  März 2000 wurde Putin im ersten Wahlgang mit 52,9 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Russlands gewählt. Anders als seinem Vorgänger Jelzin gelang es Putin in den folgenden Jahren, die Wirtschaft Russlands zu stabilisieren. Als er 2001 auf Deutsch im Bundestag sprach, konnte er die meisten Abgeordneten von seinen kooperativen Absichten überzeugen. »Putin-Kritiker« sind – jedenfalls in der Rückschau  – überzeugt, dass er die Abgeordneten mit großem Geschick täuschte. »Putin-Versteher« nehmen diese Rede als Beleg für seine ursprünglich hehren Absichten, die der Westen nur hätte aufgreifen müssen. Jedenfalls offenbarte er bereits in den folgenden Jahren eine Weltsicht, die seinen heutigen Auffassungen entspricht. Zunehmend fühlt er sich und sein Land von Feinden umzingelt, in die Enge getrieben und verfolgt. Dementsprechend wurden sowohl seine Rhetorik als auch seine politischen und militärischen Handlungen zunehmend aggressiver und feindseliger, und von der Vorstellung geprägt, der Westen wolle ihn einkreisen, verfolgen, vernichten. Er fühlt sich gedemütigt und gekränkt, etwa als am 8.  Januar 1992 US-Präsident George H. W. Bush stolz vor dem Kongress verkündete, Amerika habe den Kalten Krieg gewonnen (»By the grace of God we won the Cold War«). In die gleiche Richtung ging Barack Obamas verächtliche Bemerkung, Russland sei keine Groß-, sondern nur eine Regionalmacht. Beide Auslassungen waren äußerst fahrlässig und unklug, weil sie Putins Nationalstolz gekränkt haben. In dieser Gekränktheit konnte er sich einig wissen mit der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung. Solche Demütigungen wiegen dann besonders schwer, wenn sie wahr oder teilweise wahr sind. Wer schon am Boden liegt, wird noch mit Hohn und Spott gedemütigt – und sinnt auf Rache. Russlands Cyberangriffe auf die US-Wahlen 2016, die Trumps Wahl mindestens begünstigten, können als Rachefeldzug interpretiert werden, mit dem Putin die USA und auch Obama persönlich treffen wollte. Die Bundesrepublik hat solche Kränkungen Russlands freilich nicht mitgemacht. Im Gegenteil: Deutschlands Entgegenkommen, sein Festhalten an guten Beziehungen zu Russland, wurde sowohl von der CDU als auch von der SPD praktisch bis zum Krieg gegen die Ukraine konsequent durchgehal300

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ten – trotz der vielstimmigen Kritik, von Polen, den baltischen Staaten, der EU und von den USA. In manchen Kreisen der deutschen Linken wurde die deutsche Treue zu Russland als eine Art von Kompensation für eine USamerikanische Arroganz betrachtet. Diese Einstellung wurde noch dadurch bestärkt, dass man sich vom Rechtspopulisten Trump schon gar nicht vorschreiben lassen wollte, ob man Nordstream 2 bauen dürfe. Zusammen mit Gazprom wurde der Plan einer Stiftung ausgeheckt, der Trumps Sanktionen umgehen sollte. Verständnis für Putin, Ressentiments gegen die USA, Abscheu gegen Trump und wirtschaftliche Interessen in Bezug auf billiges Gas bildeten ein schwer zu entwirrendes Konglomerat. Narzisstische Kränkungen von traumatischer Qualität, die psychisch nicht verarbeitet werden, sondern weiter schwelen, führen zur Bildung von Ressentiments, Rachewünschen und Gewaltfantasien. Dies gilt für Individuen ebenso wie für soziale Gruppen und kulturelle Gemeinschaften. Zudem münden sie unweigerlich in die Wiederholung der erlittenen Traumata und Kränkungen. Dieser gleichsam automatisch ablaufende Prozess ist in der Psychoanalyse und der Traumatherapie gut bekannt und wird seit Sigmund Freud als »Wiederholungszwang« bezeichnet. Traumatisierte Patientinnen und Patienten stehen unter einem inneren Drang, sich wieder in soziale Situationen zu begeben oder diese herzustellen, die der ursprünglichen traumatischen Situation gleichen. Dies geschieht mit dem Bedürfnis, dieses Mal einen besseren Ausweg aus der traumatischen Beziehungskonstellation zu finden. Wenn die traumatische Erfahrung darin besteht, gedemütigt und erniedrigt worden zu sein, kann die Erlösungsfantasie darin liegen, dieses Mal über alle bösen Mächte zu triumphieren und den früheren Peiniger oder eine Stellvertreterfigur zu vernichten. Die psychischen Prozesse, die dabei ablaufen, sind jedoch von einem widersprüchlichen Gemisch aus Rachewünschen und Vernichtungsangst, Hass auf die Feinde und Selbsthass, grandioser Siegesgewissheit gepaart mit Selbstzweifeln, Selbstüberschätzung und Versagensängsten bestimmt. Unter diesem Gefühlschaos leidet die rationale Beurteilung der Realität. Kräfteverhältnisse werden falsch eingeschätzt. Alle Wertmaßstäbe geraten durcheinander. Übergeordnete Prioritäten geraten aus dem Blickfeld. Das gesamte Leben ordnet sich nur noch diesem einen Ziel unter. Der Rachefeldzug wird zur alles beherrschenden fixen Idee. Eine paranoide Weltsicht übernimmt die Regie. So etwa kann man sich den Ablauf der Wiederkehr des Verdrängten vorstellen. Betrachten wir nun diese Prozesse auf der kollektiven Ebene. 301

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Putin hat immer wieder ausgeführt, dass er den Zerfall der Sowjetunion für die größte geopolitische Katastrophe des 20.  Jahrhunderts hält, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden politischen und militärischen Mittel wieder rückgängig machen will. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums hat Putin – und mit ihm ein nicht unerheblicher Teil der Eliten und der Bevölkerung – als ungeheure Kränkung des Großgruppen-Narzissmus erlebt. Der Politikwissenschaftler Richard Ned Lebow hat in seinem Buch Why Nations Fight: Past and Future Motives for War (2010) alle zwischenstaatlichen Kriege seit 1648 untersucht und kommt zu dem Ergebnis: »Die meisten Kriege sind das Resultat von Kränkungen. Er sagt, Nationen seien, wie einzelne Menschen, vom Streben nach Anerkennung motiviert. So lasse sich auch der gegenwärtige Krieg in der Ukraine verstehen« (Schilliger, 2022).

Neben handfesten materiellen Interessen, Großmachtfantasien politischer Führer und geopolitischen Strategien können auch kollektive Krängungen des nationalen Großgruppen-Narzissmus ursächlich an der Entstehung von Kriegen beteiligt sein. Meist dürfte ein Geflecht von Gründen zum Ausbruch eines Krieges führen. Als gesichert kann man aber annehmen, dass politische Führer, die die Absicht haben, einen Krieg zu führen, Narrative konstruieren und propagandistisch vermitteln, in denen Kränkungen des Nationalgefühls thematisiert werden. Häufig greifen sie dabei auf historisch weit zurückliegende Ereignisse zurück. Diese Erzählungen habe in der Regel folgende Struktur: Die eigene Nation ist verraten und betrogen worden, den Feinden gehe es darum, das eigene Volk zu entwerten, auszubeuten, zu betrügen, zu verraten. Das lasse man sich aber nicht gefallen und sehe sich deshalb gezwungen, »zurückzuschießen«. Der Gegner habe angegriffen, man selbst greife nur zur Gegenwehr (Hitlers berüchtigte Lüge über seinen Angriff auf Polen: »Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!«).

Die Verleugnung kollektiver Traumata führt zu ihrer Wiederkehr Wenn das Trauma auf Gewalterfahrungen beruht, besteht eines der Reaktionsmuster darin, die passiv erlebte Gewalt nun internen oder externen 302

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe

Feinden aktiv zuzufügen. Da die russische Gesellschaft nur wenig Anstrengungen unternommen hat, die grassierende Gewalt unter Stalins Terrorherrschaft psychisch und gesellschaftlich zu verarbeiten, muss es nicht verwundern, dass die Erziehung, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und die alltäglichen Formen der Konfliktaustragung durch Gewalt gekennzeichnet sind. In der russischen Gesellschaft gilt generell das Recht des Stärkeren (Ryklin, 2006). Besonders massiv sind die Praktiken brutaler Gewaltausübung in der Hierarchie und den Ausbildungsverhältnissen des Militärs verankert (Medwedew, 2022). Schikane, Demütigungen und gezielt sadistisches Verhalten von Vorgesetzten gegenüber den Rekruten sind an der Tagesordnung. Todesfälle durch ungeklärte Unfälle und Suizide unter jungen Rekruten habe ein epidemisches Ausmaß. Hinzu kommt, dass »die russische Armee […] seit Jahrhunderten ein wanderndes Gefängnis [ist], in dem die Ärmsten der Armen dienen«, sagte der Historiker Jörg Baberowski (2022) in einem Interview. »Jede Familie in Russland, die es sich erlauben kann, zahlt Bestechungsgelder, damit die Söhne nicht zum Wehrdienst eingezogen werden. Im Grunde dienen in Russlands Armee Bauern, arme Menschen und Angehörige ethnischer Minoritäten, die sich ihrer Rekrutierung nicht widersetzen können« (ebd.). Die sadistische Gewalt, die die Soldaten am eigenen Leib erfahren haben, führt zu einem aufgestauten Hass, der bei nächster Gelegenheit an wehrlosen Opfern ausagiert wird. Die Gräueltaten in Butscha und anderen von russischen Truppen besetzten Gebieten sind ein Ergebnis dieser systemimmanenten Gewalt. Im Unterschied zu westlichen Armeen haben »die russischen Streitkräfte […] keine institutionelle Kultur entwickelt, die die Verluste unter der Zivilbevölkerung minimieren würde: In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt« (Medwedew, 2022).

Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe Auch die Massaker an Zivilisten und die sexuelle Gewalt, die von russischen Soldaten im Butscha verübt wurden, gehören in diesen Zusammenhang. Kurz vor Kriegsbeginn – Putin hatte sich schon insgeheim für den Krieg entschieden – reisten westliche politische Führer reihenweise nach Moskau, um Putin noch von seinen Plänen abzubringen. Im Rahmen des Besuchs von Emmanuel Macron im Kreml zitierte Putin nach einem Be303

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richt der FAZ (Holm, 2022) folgenden Satz aus einem russischen Lied: »Ob es dir gefällt oder nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne.« Diese Vergewaltigungsdrohung galt der Ukraine. Sie sollte die Ukraine einschüchtern und ihr ihre Ohnmacht drastisch vor Augen führen. Dass Putin seine militärische Gewaltandrohung gegen die Ukraine zusätzlich mit einer sexuellen Vergewaltigungsfantasie auflud, verrät sein hochemotionales Involviertsein. Damit wurde sein machtpolitischer Anspruch affektiv unterfüttert und mit einem sadistischen Impuls emotional aufgeheizt. Der Vorfall zeigt zudem symptomatisch, wie stark eine vulgäre und von Gewalt faszinierte Sprache das Denken der russischen Elite bis hin zu Putin vergiftet hat. Der Assoziationsraum, den Putin mit dieser Bemerkung eröffnete, ist beängstigend und sollte auch so wirken. Die absolute Verfügungsgewalt über einen anderen Menschen ausüben zu können, ermöglicht das hemmungslose Ausleben sexueller Bedürfnisse und lässt den Soldaten freie Hand, Rache zu üben und gewalttätige Allmachtsfantasien hemmungslos auszuleben. Sexuelle Gewalt wird aber auch kriegsstrategisch eingesetzt, um die Feinde zu demütigen, zu erniedrigen, ihre Ohnmacht zu demonstrieren, ihren Selbstwert und ihre Identität zu zerstören. Im Rahmen von Kriegshandlungen kommt es nicht selten zu sexueller Gewalt. Solche sexuellen Gewaltexzesse finden in der Regel auf der Ebene der einfachen Soldaten statt. Sie sind international geächtet und verstoßen gegen das Kriegsrecht. Dass ein politischer Führer vom Range Putins eine solche sadistische Fantasie ausspricht, ist ungewöhnlich und eben deshalb charakteristisch. Putin ist offenbar bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Er kennt keine Skrupel bei seinem Plan, die ukrainische Kultur auszulöschen. Die Ukraine zu vergewaltigen, würde bedeuten, die kollektive Identität der ukrainischen Nation zu erniedrigen, zu demütigen, zu foltern – und das alles mit dem Ziel, ihre Existenzgrundlage zu zerstören. Eine solchermaßen traumatisierte Identität wäre anschließend machtlos gegen ihre Unterwerfung unter die Herrschaft des russischen Staates und die Eingliederung in die russische Kultur und Identität. Putin hat erklärt, dass er der Ukraine als eigenständigem Staat und auch der ukrainischen Sprache und Kultur keine Existenzberechtigung zubilligt. In pseudowissenschaftlichen historischen Ausführungen, die bis zum mittelalterlichen altostslawisches Großreich Kiewer Rus zurückreichen, rechtfertigt er seine Auffassung, dass die ukrainische Kultur in der russischen aufgehen müsse. 304

»Gewählte Traumata« und »gewählte Ruhmesblätter«

Auch Soldaten demokratischer Staaten üben im Zusammenhang mit Kriegen sexualisierte Gewalt aus. Es handelt sich aber um Ausnahmen, die weder von der militärischen noch der politischen Führung gebilligt werden. Beispielsweise wurden die Täterinnen und Täter von Abu Ghraib vor ein Militärgericht gestellt und verurteilt. Ganz anders Putin: Er stachelte seine Soldaten durch seine Vergewaltigungsfantasie an und zeichnete die an den Gräueltaten in Butscha beteiligten Soldaten anschließend für ihre »Tapferkeit und Einsatzbereitschaft« aus. Dieser Zynismus war seine demonstrative Antwort auf die internationale Empörung und Betroffenheit nach Bekanntwerden der Gräueltaten. Wie der russische Politikwissenschafter, Historiker und Journalist Sergei Medwedew (2022) schreibt, ist die Gewalt der sowjetischen Gesellschaft inhärent: »Diese Gewalt ist der russischen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode für eine Gesellschaft geworden, die auf Hierarchie und Unterwerfung gründet, auf dem Wegnehmen und Aufteilen von Ressourcen, in dem die rohe Gewalt über der Moral steht und die Macht über dem Gesetz. Diese Ordnung wird gebilligt durch das Verhalten der regierenden Schicht, die das einfache Volk mit ihren Blaulicht-Limousinen zu Tode fährt, die immer ungestraft davonkommt; sie wird beglaubigt durch die Reden von Präsident Putin, der lehrt, dass man ›die Schwachen haut‹ und man ›als Erster zuschlagen muss‹, und dafür tosenden Applaus erntet.«

»Gewählte Traumata« und »gewählte Ruhmesblätter« Auf der kollektiven Ebene einer Gruppe, einer Großgruppe oder einer Nation kann die Weitergabe traumatischer Gewalt eine Form annehmen, die der Psychoanalytiker und Konfliktforscher Vamik Volkan (1999) als »gewähltes Trauma« bezeichnet. Die Gruppe wählt als gemeinsamen Bezugspunkt ihrer »Gruppenidentität« (Erikson, 1966 [1959], S. 12) eine Situation, in der sie »schwere Verluste« oder »demütigende Verletzungen« hinnehmen musste und sich »hilflos und als Opfer fühlte« (Volkan, 1999, S. 73). Wenn die vorangegangenen Generationen unfähig waren, die erlittenen Verletzungen und Traumata zu verarbeiten, geben sie diese Erfahrungen an die nächste Generation weiter. Diese bekommt den Auftrag, 305

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die erlittenen narzisstischen Verletzungen des Selbstwertgefühls und die Demütigungen wiedergutmachen oder auch zu rächen. Um das »gewählte Trauma« herum wird ein Opfermythos konstruiert, der die gestorbenen Helden zu Märtyrern verklärt, die ihr Leben für die Gemeinschaft geopfert hätten. Es geht darum, sich kollektiv als Opfer zu inszenieren, denn dies ruft Gefühle der Empörung, des Hasses, der Rache wach und ist die beste Rechtfertigung für die eigene Aggression. Reale historische Ereignisse werden mit mythischen Bedeutungen aufgeladen, die die Gruppenidentität stärken sollen. »Gewählte Traumata sind mit nachhaltigen Erfahrungen von Verlusten und Gefühlen der Demütigung, der Rache und des Hasses verbunden« (ebd., S.  74), die bei den Gruppenmitgliedern eine hohe emotionale und symbolische Bedeutung für das Gemeinschaftserleben bekommen. »Gewählte Traumata« werden häufig mit »gewählten Ruhmesblättern« verbunden, denn die Gemeinschaft hat nicht nur Verluste und Niederlagen erlitten, sondern häufig auch teuer erkaufte Siege errungen oder hofft darauf, diese Siege in der Zukunft erzielen zu können. Am 9. Mai begeht Russland traditionell das Ende des »Großen Vaterländischen Kriegs«, wie der Zweite Weltkrieg in Russland heißt. Mit dieser Sprachregelung bezeichnet Russland die Zeitspanne nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bis zur Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945. Die im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarte Neutralität im Falle eines Krieges und die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte Aufteilung Osteuropas zwischen Russland und Deutschland (unterzeichnet am 24.  August 1939) machte erst den Weg frei für den deutschen Angriff auf Polen, der am 1. September 1939 erfolgte. Insofern trage die Sowjetunion eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – so der russische Historiker Nikita Petrow. Dieses perfide Bündnis zwischen Hitler und Stalin ist in Russland tabuisiert. Die Sprachregelung vom »Großen Vaterländischen Krieg« dient auch dazu, diese Komplizenschaft zu verleugnen und Russland als unschuldiges Opfer darzustellen. Dieses Narrativ fungiert zugleich als Ablenkung von stalinistischem Terror. Militärparaden aus Anlass des »Großen Vaterländischen Krieg« auf dem Roten Platz in Moskau können auf eine lange Tradition zurückblicken. In der Sowjetunion fielen diese Paraden allerdings wesentlich bescheidener aus und fanden überhaupt nur viermal statt: 1945, 1965, 1985 und 1990. In der Sowjetunion feierte man in erster Linie die »Große Sozialistische Oktoberrevolution«. Erst unter Putin wurde der Sieg im 306

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»Großen Vaterländischen Krieg« ab 1995 jährlich gefeiert und nahm immer bombastischer Formen an, während Putin die »Große Sozialistische Oktoberrevolution« in der Versenkung verschwinden ließ. Er knüpft lieber an die historische Größe Russlands im Zarenreich an. Jedes Jahr marschieren Tausende Soldaten im Gleichschritt über den Roten Platz und präsentieren einem Millionenpublikum die neuste Militärtechnik. Die kollektivpsychologische Funktion solcher Feiertage bezeichnet Volkan (1999, S.  70) als »gewählte Ruhmesblätter«. Sie dienen dazu, »gemeinsame Erfolgs- und Triumphgefühle« (ebd.) hervorzurufen und grandiose Vorstellungen von Macht, Bedeutung und Unbesiegbarkeit zu entfachen. Sie dienen der Demonstration von Gemeinsamkeit zwischen allen Individuen und der Verbundenheit zwischen der Masse und ihrem Führer, wie dies Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921c) dargestellt hat. Zudem ermöglichen sie die Teilhabe der »einfachen Leute« an der Glorie der Nation und ihres Präsidenten und stellen insofern eine identitätsstiftende Veranstaltung dar. Der Präsident, der die Parade abnimmt und an sich vorbeiziehen lässt, sonnt sich im Glorienschein. Unverzichtbar ist eine historische Erzählung, in der auf weit zurückliegende patriotisch aufgeladene Erinnerungsorte zurückgegriffen, die mit weiteren heroischen Ereignissen verbunden wird, um schließlich die Gegenwart in einem bestimmten Licht erscheinen zu lassen, die dem politischen Herrscher politisch zu Pass kommt. Der Gründungsmythos von Putins Russland stellt den »Sieg über den Faschismus« im »Großen Vaterländischen Krieg« in den Mittelpunkt des nationalistischen Narrativs. Anlässlich des 77. Jahrestages des Sieges Russlands über Nazi-Deutschland gedachte Präsident Putin auch am 9. Mai 2022 bei einer pompösen Feierlichkeit der im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten. Wirkliche Erfolgsmeldungen über seinen als »Spezialoperation« verharmlosten Vernichtungskrieg gegen die Ukraine konnte er jedoch nicht vermelden. Aber er redet über die Gefallenen von damals und die russischen Soldaten, die gerade in der Ukraine ihr Leben verlieren. Die ARDKorrespondentin für Russland, Ina Ruck, schildert in einem Twitter-Post ihre Eindrücke: »Putin ehrt die Gefallenen – plötzlich wird klar: er redet nicht über damals, sondern heute. Verspricht Hilfen für jede Familie eines Gefallenen. Dann geht es wieder über die Gefallenen von damals. Geschickte Vermischung. Am Ende sagt er: Auf Russland! Auf den Sieg!« Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das Volkan (1999, S. 92) als »Zeitkollaps« bezeichnet. Die starken Emotionen, die mit der 307

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nostalgisch verklärten Opferbereitschaft (»gewähltes Trauma«) und den grandiosen Triumphgefühlen, die mit dem damaligen Sieg über NaziDeutschland verbunden sind (»gewählte Ruhmesblätter«), werden reaktiviert und auf den aktuellen Krieg gegen die Ukraine übertragen. Im emotionalen Empfinden ist es so, als hätte der »Große Vaterländische Krieg« gerade erst stattgefunden und finde seine konsequente Fortsetzung im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Der zeitliche Abstand und damit die völlige Unterschiedlichkeit der beiden Situationen sind wie aufgehoben. Damals wurde die Sowjetunion von einer fremden Macht überfallen, heute überfällt Russland das ukrainische Brudervolk. Der Historiker Saul Friedländer (1986 [1982], S. 44) beobachtete ein ähnliches Phänomen. Er spricht im Hinblick auf den Nationalsozialismus von einer »mythischen Aufhebung der Zeit«. Die Zeit aufheben zu wollen, bedeutet, Differenzen und damit Realitäten zu verleugnen. Ein Zusammenbruch des Zeitempfindens tritt auch bei der Reaktivierung lange zurückliegender Traumata auf. Im Gefühlserleben werden Schock, Entsetzen und Angst des damaligen Traumas so heftig lebendig, als würde es gerade stattfinden. Die damit einhergehende Realitätsverkennung ist im Falle eines individuellen Traumas als pathologisches Symptom zu werten, im Falle einer politischen Inszenierung als gewolltes Ergebnis. Mit der Zelebrierung des »Großen Vaterländischen Krieges« und dem Glorienschein, der mit dem Opferstatus der damals Gefallenen verbunden ist, wird zugleich an die Opferbereitschaft der heutigen Mütter und Väter appelliert, die ihre Söhne im barbarischen Krieg gegen das ukrainische Brudervolk zu opfern bereit sein sollen. Im historischen Rückblick auf die damaligen Opfer wird auch das gegenwärtige Sterben der Soldaten nostalgisch verkitscht. Kitsch und Tod – so der Titel von Friedländers Buch – gehen eine unheimliche Verbindung ein. »Dies also sind die Züge des zum Opfer bereiten Helden«, wie sie nicht nur die Faschisten, sondern auch Putin beschwört: »Er ist ein reines Wesen, umstrahlt von religiösem Glanz, verwurzelt im Reich der ewigen Werte und treu bis in den Tod« (ebd., S. 28). Kitsch und Tod gehören ebenso zusammen wie Tod und Nostalgie, denn Putins pseudohistorischem Mythos vom Ursprung der russischen Seele liegt eine tiefe »Sehnsucht nach dem Vergangenen« (ebd., S. 33), eine Sehnsucht nach »der verlorenen Welt der Prämoderne« (ebd.) zugrunde. Sogar das religiöse Moment, das Friedländer diagnostiziert, spielt in Putins Kriegsrhetorik eine zentrale Rolle, denn er lässt sich 308

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seinen Krieg vom russisch-orthodoxen Moskauer Patriarchen Kyrill I. absegnen. Statt Friedensbotschaften predigt dieses Kirchenoberhaupt Loyalität zum Kriegsherrn und Hass auf die westlichen Lebensformen, insbesondere die Homosexualität. Die Journalistin und Publizistin Caroline Fetscher (2022) fasst die hier dargestellt Dynamik prägnant zusammen: »Darin und dahinter scheint das Echo auf Russlands traumatischer, in weiten Teilen unverarbeiteter, nicht betrauerter Geschichte. Abgewehrtes, abgespaltenes traumatisches Material wird umgestülpt in reinen, lückenlosen Heroismus, wie Putin ihn jetzt im gigantischen Zeitkollaps zum Kampf gegen vermeintliche ›ukrainische Neonazis‹ und einen nicht existenten ›Genozid‹ aktiviert. Unschwer lässt sich Putins ›Imperium der Lügen‹ als Projektion dechiffrieren, als sein eigener, aus Lügen geborener Neoimperialismus, der aus dem Steinbruch der Vergangenheit beliebige Skulpturen schlägt.«

Die Aufforderung des Historikers Baberowski (2022), »[m]an muss die Kränkung über das verloren gegangene Imperium ernst nehmen«, enthält einen wichtigen Gesichtspunkt, droht aber gewissermaßen auf die Selbstrechtfertigung Putins hereinzufallen. Ja, man muss diese Kränkung ernstnehmen, weil sie Putins Selbstdarstellung entspricht, aber einfühlendes Verständnis, gar Mitleid wären fehl am Platze. Wohl haben Nationen ein ursprüngliches Recht auf eigenständige Existenz, aber es gibt kein ursprüngliches Recht auf imperiale Größe. Nationen können auch dann internationale Anerkennung erlangen und ihre Bevölkerung kann auch dann ein zufriedenes Leben führen, wenn sie nicht (mehr) über imperiale Größe verfügen. Russland und seine Führungselite haben es versäumt, über den weltpolitischen Bedeutungsverlust Russlands zu trauern, ihn zu akzeptieren und diese neue Realität für die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses zu nutzen. Russland hätte mit seinem »kulturellen Kapital«, über das es schon aufgrund seiner jahrhundertealten Tradition verfügt, den Grundstein einer neuen russischen Identität legen können, statt einseitig auf die Ausbeutung seiner Bodenschätze, die Expansion seines Militärs zu setzen und imperialen Größenfantasien nachzujagen. Der tiefere Hintergrund für die Misere Russlands ist seine nicht-aufgearbeitete Gewaltgeschichte, die im Stalinismus ihren traurigen Höhepunkt fand und die jetzt im Putinismus ihre Fortsetzung findet. 309

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Selenskyj als psychologisches Gegenmodell zu Putin Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, seit Mai 2019 Präsident der Ukraine, reagierte auf Putins Vergewaltigungsfantasie gegenüber der Ukraine, indem er kommentierte, die Ukraine sei zwar tatsächlich »schön«, aber der Ausdruck »meine« aus Putins Mund sei doch leicht übertrieben. Was aber das Dulden betreffe, so sei sein Land tatsächlich geduldig, so Selenskyj. Darin liege seine Weisheit, weshalb es auf Provokationen auch nicht mit Gleichem antworte. Dieser verbale Schlagabtausch fand kurz vor Kriegsbeginn statt, zeigt aber etwas von Selenskyjs Psychologie, von der er sich auch nach Kriegsbeginn etwas bewahren konnte. Selenskyjs Reaktion war lässig, schlagfertig und humorvoll. Wenn man Humor mit Sigmund Freud als Fähigkeit des Ichs begreift, sich auch in scheinbar ausweglosen Situationen nicht den Schneid, den Lebensmut, das Selbstbewusstsein, die Lust am Leben und die spielerische Leichtigkeit abkaufen zu lassen, so weist Selenskyjs Reaktion diese Qualitäten auf. Freud schreibt über den Humor: »Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes […]. Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narzißmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, daß ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahe gehen können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind« (Freud, 1927d, S. 385).

Freuds Beispiel: Der Verbrecher, der am Montag zum Galgen geführt wird, äußert: »Na, die Woche fängt ja gut an« (Freud, 1905c, S. 261). Gerade das offene Eingeständnis der eigenen Sterblichkeit und Verletzlichkeit ermöglicht eine Leichtigkeit des Seins. Obwohl Krieg, Terror, Tod und Vergewaltigung drohen, verliert Selenskyj nicht seinen Überlebenswillen und seinen Mut, sondern demonstriert, dass Putins Drohungen ihm nur Anlass zu einer schlagfertigen und selbstbewussten Replik sind. Heroismus alter Prägung beruht auf der todesmutigen Verleugnung von Verletzlichkeit und Sterblichkeit. Er sucht maximale Resilienz und umgibt sich mit einem Schutzpanzer. Die Panzerung macht den Heroen jedoch 310

Ausblick

unempfindlich für eigene Gefühle und Bedürfnisse und unsensibel in der Beziehung mit anderen Menschen. Postheroische Helden hingegen akzeptieren ihre eigene Vulnerabilität. Sie haben eine selbstironische Distanz zu ihrer Heldenrolle und müssen nicht verheimlichen, dass sie auch schwache, ängstliche und verletzliche Seiten haben. Ihre eigentliche Stärke liegt in ihrer inneren Haltung, ihren Überzeugungen, ihrer Identifikation mit humanen Werten. Diese können auch nicht  – zumindest nicht so leicht  – durch äußere Gewalt zerstört werden. Das merken auch die Feinde und zielen mit extremen Formen von Gewalt, Folter, sexualisierter Gewalt, Gewalt gegen Kinder, Frauen und Alte darauf, diesen Identitätskern zu zerstören.

Ausblick Der Krieg, der dem ukrainischen Volk aufgezwungen wurde, wird – unabhängig von seinem Ausgang – tiefe individuelle, familiäre und kollektive Traumatisierungen hinterlassen  – auf beiden Seiten. Auch Russland erleidet enorme Verluste, sowohl an Menschenleben und durch wirtschaftlichen Schaden als auch durch die Zerrüttung des gesellschaftlichen Bewusstseins und der politischen Kultur. Putins verbrecherischer Krieg und seine zynischen Lügengebäude vergiften das gesellschaftliche Leben in Russland. Mit seinen nationalistischen Großmachtfantasien versucht er, eine verklärte mythische Vergangenheit wiederzubeleben, die keine realistischen Zukunftsperspektiven eröffnen kann. Putin fügt seinem eigenen Volk ein kollektives Trauma zu und bürdet ihm eine kollektive Schuld auf, an dem es noch viele Generationen wird tragen müssen. Da der Krieg auf dem Territorium der Ukraine ausgefochten wird, sind dort die unmittelbaren Verheerungen ungleich größer als in Russland. Diese individuellen, familiären und kollektiven Traumatisierungen werden noch zahlreiche Generationen belasten. Es könnte aber sein, dass sich das ukrainische Volk in einem sozialpsychologischen Sinn als widerstandfähiger, resilienter und zukunftsfähiger erweist als das russische, weil es für das eigene Überleben in Selbstbestimmung und nicht für die Vernichtung fremden Lebens kämpft, weil es die Moral auf seiner Seite weiß und weil es von der Hoffnung auf eine positiv besetzte Zukunft getragen wird.

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Literatur

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Literatur Wirth, H.-J. (2021). Der affektive Furor des Populismus. Zur Psychoanalyse des Ressentiments. Jahrb Psychoanal, 82(2), 17–42. https://doi.org/10.30820/0075-2363-2021 -2-17 Wirth, H.-J. & Haland-Wirth, T. (2003). Emigration, Biographie und Psychoanalyse. Emigrierte PsychoanalytikerInnen in Amerika. In K.-J. Bruder (Hrsg.), »Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben«. Psychoanalyse und Biographieforschung (S. 221–258). Gießen: Psychosozial-Verlag. Wirth, H.-J. & Schürhoff, R. (1990). Russische und deutsche Studentinnen. Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 37(11), 1009–1014. Wirth, H.-J. & Schürhoff, R. (1992). Die Last der totalitären Vergangenheit. Ergebnisse einer vergleichenden Studie über die Aussöhnung von Russen und Deutschen. Widersprüche, 42, 68–78. Wolfrum, E. (2017). Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett-Cotta. Wunsch, A. (2013). Mit mehr Selbst zum stabilen ICH! Resilienz als Basis der Persönlichkeitsbildung. Berlin, Heidelberg: Springer. Wurmser, L. (1987). Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen. Berlin, Heidelberg: Springer. Wurmser, L. (1989). Die zerbrochene Wirklichkeit. Psychoanalyse als das Studium von Konflikt und Komplementarität. Berlin, Heidelberg: Springer. Wurmser, L. (2008). Schmach, Rache, Ressentiment und Verzeihung. Psyche – Z Psychoanal, 62(9–10), 962–989. Yendell, A., Brähler, E., Witt, A., Fegert, J. M., Allroggen, M. & Decker, O. (2020). Die Parteien und das Wählerherz 2018. In A. Heller, O. Decker & E. Brähler (Hrsg.), Prekärer Zusammenhalt. Die Bedrohung des demokratischen Miteinanders in Deutschland (S. 345–362). Gießen: Psychosozial-Verlag. Zaretzky, E. (2006 [2004]). Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. Wien: Zsolnay. Zaschke, C. (2016, 16. August). Großbritannien. Nichts ist besser. SZ, 188, S. 4. Zastiral, S. (2016, 26. Juli). »Geht zurück in euer verf***tes Land. ZEIT ONLINE. https:// www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-07/grossbritannien-fremdenfeindlichkeit-brexit-rechtspopulismus (27.03.2022). Zeiher, C. (2016, 9. Oktober). Homophobe Angriffe seit Brexit verdoppelt. ZEIT ONLINE. https://www.zeit.de/gesellschaft/2016-10/grossbritannien-angriffe-homophobie -brexit-hassverbrechen-anstieg (27.03.2022). Zick, A. & Küpper, B. (Hrsg.). (2015). Wut, Verachtung, Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn: Dietz. Zienert-Eilts, K. (2018). Populismus als destruktiver Container. Eine psychoanalytische Perspektive auf die Gesellschaft. Jahrb Psychoanal, 77, 175–188.

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Textnachweise

Einleitung: Unveröffentlichter und für dieses Buch verfasster Beitrag. Kapitel 1: Überarbeitete Fassung von Wirth, H.-J. (2020). Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus. In G. Heinemann (Hrsg.), Facetten der Gewalt. Reinszenierung und Transformation von Gewalterfahrung (S. 221–254). Gießen: Psychosozial-Verlag. Eingegangen ist außerdem: Wirth, H.-J. (2021). Der affektive Furor des Populismus. Zur Psychoanalyse des Ressentiments. Jahrbuch der Psychoanalyse, 82(2), 17–42. https://doi.org/10.30820/0075-2363-2021-2-17 Kapitel 2: Überarbeitete Fassung von Wirth, H.-J. (2016). Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments. Ein aktueller Kommentar aus der Sicht der Politischen Psychologie. psychosozial, 145(3), 139–146. Kapitel 3: Ursprüngliche Fassung für Hessel, F., Chakkarath, P. & Luy, M. (Hrsg.). (2022). Verschwörungsdenken. Zwischen Populärkultur und politischer Mobilisierung. Gießen: Psychosozial-Verlag. Eingegangen sind außerdem: »Wir sind noch nicht in der Phase der Aufmunterung«. Interview von Jana Simon mit Hans-Jürgen Wirth. ZEIT ONLINE. https://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2020-03/isolationcoronavirus-angst-trauma-psychoanalyse-hans-juergen-wirth (21.07.2022); sowie Wirth, H.-J. (2020). Die Corona-Pandemie als Herausforderung für Psyche und Gesellschaft. Überlegungen aus Sicht der psychoanalytischen Sozialpsychologie (Online-Vortrag im Rahmen der Web-basierten Fachveranstaltung der DGPT mit dem Titel »Psychoanalyse in Zeiten von Corona – Dynamik einer Bedrohung in Gesellschaft und Behandlungspraxis« am 25. September 2020). Publiziert in: Mitgliederrundschreiben der DGPT 3/2020, S. 15–25. Kapitel 4: Überarbeitete Fassung von Wirth, H.-J. (2021 [2018]). Das radikal Böse als Bestandteil der menschlichen Existenz. Psychoanalytische und kulturpsychoanalytische Erkundungen. In U. Lamparter, G. Amelung, A. Boll-Klatt & A. Sadjiroen (Hrsg.), Die dünne Kruste der Zivilisation. Beiträge zu einer Psychoanalyse der Gewalt (S. 55–75). Gießen: Psychosozial-Verlag. Kapitel 5: Überarbeitete Fassung von Wirth, H.-J. (2019). Von der »Unfähigkeit zu trauern« bis zur »Willkommenskultur. In R.  Haubl  & H.-J. Wirth (Hrsg.), Grenzerfahrungen. Migration, Flucht, Vertreibung und die deutschen Verhältnisse (S. 127–158). Gießen: Psychosozial-Verlag. Kapitel 6: Überarbeitete Fassung von Wirth, H.-J. (2020). AfD und Grüne: Konträre Welt- und Menschenbilder. Empirische Daten und sozialpsychologische Interpretationen. In A. Heller, O. Decker & E. Brähler (Hrsg.), Prekärer Zusammenhalt. Die

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Textnachweise Bedrohung des demokratischen Miteinanders in Deutschland (S. 273–308). Gießen: Psychosozial-Verlag. Kapitel 7: Ursprüngliche Fassung für: Burghardt, D. & Krebs, M. (Hrsg.). (2022). Verletzungspotenziale. Kritische Studien zur Vulnerabilität im Neoliberalismus. Gießen: Psychosozial-Verlag. Kapitel 8: Unveröffentlichter Beitrag. Eingegangen sind zwei Interviews aus dem Tagesspiegel und dem Gießener Anzeiger: Warum Atomwaffen für Putin eine Option sein könnten: »Seine Selbstdestruktivität schließt Suizid ein«. Interview von Armin Lehmann mit Hans-Jürgen Wirth (2022, 7. März). Der Tagesspiegel, 24827, S. 4. https://plus.tagesspiegel.de/gesellschaft/warum-atomwaffen-fur-putin-eine-option-sind-seine-selbstdestruktivitat-schliesst-suizid-ein-414610.html (21.07.2022); »Putin ist bei Sinnen«. Interview von Björn Gauges mit Hans-Jürgen Wirth (2022, 18. März). Gießener Anzeiger, 63, S. 22. https://www.giessener-anzeiger.de/stadt -giessen/putin-ist-bei-sinnen-91418197.html (21.07.2022).

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Psychosozial-Verlag Ayline Heller, Oliver Decker, Elmar Brähler (Hg.)

Prekärer Zusammenhalt

Die Bedrohung des demokratischen Miteinanders in Deutschland

Im Dialog zwischen Theorie und empirischer Analyse vermessen die Autor_innen das Feld neuer und alter Bruchlinien im demokratischen Diskurs, zeigen die Ambivalenzen des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf und nehmen dabei insbesondere rechtspopulistische und rechtsextreme Denkmuster in den Blick. Indem die Autor_innen die fragile Annäherung von Ost und West und die gegenwärtig viel beschworenen Gefahren für die Demokratie auf diese Weise zusammendenken, ermöglichen sie die fundierte Bestandsaufnahme einer prekär gewordenen Solidarität.

2020 · 362 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3050-4

Die Demokratie in Deutschland steht unter Druck: Soziale und kulturelle Ungleichheit, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sowie von vielen Seiten infrage gestellte demokratische Grundwerte machen es notwendig, Vereinigungs- und Integrationsprozesse nach 1989 von Neuem zu beleuchten.

Mit Beiträgen von Marc Allroggen, Laura Beckmann, Hendrik Berth, Manfred Beutel, Elmar Brähler, Johanna Brückner, Oliver Decker, Jörg M. Fegert, Daniel Gloris, Ayline Heller, Johannes Kiess, Sören Kliem, Yvonne Krieg, Dominic Kudlacek, Lars Rensmann, Peter Schmidt, Silke Schmidt, Julia Schuler, Yve StöbelRichter, Ana Nanette Tibubos, Wolf Wagner, Stefan Weick, Hans-Jürgen Wirth, Andreas Witt, Alexander Yendell, Markus Zenger und Carolin-Theresa Ziemer

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

Psychosozial-Verlag Klaus Ottomeyer

Angst und Politik

Sozialpsychologische Betrachtungen zum Umgang mit Bedrohungen

Wider das böse Spiel mit der Angst.

2022 · 268 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3146-4

Ob Anti-Atomkriegsbewegung in den 1980er Jahren, Corona-, Klima- oder Flüchtlingskrise etc. – alle verbindet eine Mobilisierung von Angst. Realistische Angst, jedoch auch neurotisch-paranoide Angst, unter deren Dominanz eine gefährliche Drift zu Autoritarismus, Machismo und cäsaristischen Bewegungen zu konstatieren ist. Wie geht man politisch, wie gehen wir damit um? Klaus Ottomeyer tritt im Anschluss an Freud für eine Unterscheidung von Real-, Gewissens- und neurotischer Angst ein. Unter dieser Prämisse bespricht er zeithistorische »Wellen der Angst« und entwirrt ihre Angstgeflechte, um politischem Missbrauch, Rechtspopulismus und -extremismus Tür und Tor zu schließen. Diesen hält er gelungene Beispiele des Widerstands und der Verteidigung unserer Demokratie entgegen.

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

Psychosozial-Verlag Hans-Jürgen Wirth

Narzissmus und Macht

Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik

2011 · 440 Seiten Broschur · 5. Aufl. 2015 ISBN 978-3-8379-2152-6 Gesellschaftliche Macht übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Personen aus, die an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Karrierebesessenheit, ungezügelte Selbstbezogenheit, Siegermentalität und Größenfantasien sind Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit

den Weg an die Schaltstellen ökonomischer oder politischer Macht ebnen. Indem sich diese Personen vorzugsweise mit Ja-Sagern, Bewunderern und gewitzten Manipulatoren umge en, ersch en sie sich w r eine Bestätigung ihres Selbstbildes, untergraben aber ihre Selbstwahrnehmung und verfestigen ihren illusionären und von Feindbildern geprägten Weltbezug. Fremdenhass und Gewalt gegen Sündenböcke zu schüren, gehört zu den bevorzugten Herrschaftstechniken narzisstisch gestörter Führer. Geblendet von seinen eigenen Größen- und Allmachtsfantasien verliert der Narzisst den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität und muss letztlich scheitern. Eng verknüpft mit dem Realitätsverlust ist die Abkehr von den Normen, Werten und Idealen, denen die Führungsperson eigentlich erpflichtet ist cht esessenheit, Skrupellosigkeit und Zynismus können bei einem narzisstischen Despoten bis zur brutalen Menschenverachtung führen. Mit Hilfe detaillierter Fallstudien – Uwe Barschel, Helmut Kohl, Joschka Fischer und Slobodan Milosevic – analysiert der Autor ie erflechtungen wischen er in i i uellen Psychopathologie und den ethnischen, religi sen un ulturellen entit ts onfli ten der umgebenden Gruppe.

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

Psychosozial-Verlag Rolf Haubl, Hans-Jürgen Wirth (Hg.)

Grenzerfahrungen

Migration, Flucht, Vertreibung und die deutschen Verhältnisse

2019 · 338 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2861-7

Spätestens seit der spektakulären Entscheidung der Bundesregierung unter Angela Merkel vom 4. September 2015, die Grenzen für Tausende Flüchtlinge, die sich auf der Balkanroute ansammelten, zu öffnen, steht Deutschland – ja, steht Europa – im Zeichen der Flüchtlingskrise. Mit dem vorliegenden Sam-

melband reagieren die Herausgeber darauf. Die Beiträgerinnen und Beiträger nähern sich der Thematik unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen geht es um die praktische Arbeit mit Geflüchteten und um die Probleme, die dabei auftauchen: Was können PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen und andere HelferInnen für die Geflüchteten tun? Welche Probleme stellen sich? Welche Rolle spielt das Engagement der ehrenamtlichen HelferInnen? Wie können komplexe Versorgungskonzepte aussehen? Der zweite Schwerpunkt dreht sich um Fragen nach den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Dimensionen der Flüchtlingskrise: Welche Prozesse werden in der deutschen Gesellschaft ausgelöst oder verstärkt? Wie reagieren Politik, Bevölkerung, Medien und einzelne gesellschaftliche Gruppierungen? Welche latent vorhandenen Ressentiments und antidemokratischen Einstellungen werden verstärkt oder finden einen Kristallisationspunkt? Wie ist die »Willkommenskultur« in Deutschland zu verstehen? Wie reagieren andere Gesellschaften in Europa und wie sind die Unterschiede zu erklären?

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de