Nationalistische Politik und Ressentiments: Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart 9783737001526, 9783847101529

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Nationalistische Politik und Ressentiments: Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart
 9783737001526, 9783847101529

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Johannes Frackowiak (Hg.) Nationalistische Politik und Ressentiments Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart

Berichte und Studien Nr. 64 herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.

Johannes Frackowiak (Hg.)

Nationalistische Politik und Ressentiments Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Plakat der Deutschnationalen Volkspartei anlässlich der Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung 1919 (siehe Beitrag Mike Schmeitzner)

1. Aufl. 2013 © 2013, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-8471-0152-9

Inhaltsverzeichnis

Johannes Frackowiak Nationalismus und Ressentiments – Deutsche und Polen. Eine Einführung I.

7

Preußens Polen im Fokus des deutschen Reichsnationalismus (1871–1918/19)

21

Christoph Kleßmann / Johannes Frackowiak Die Polenpolitik des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918

23

Uwe Müller Wirtschaftliche Maßnahmen der Polenpolitik in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs

39

Mike Schmeitzner Deutsche Polenpolitik am Ende? Alfred Herrmann, der Deutsche Volksrat und die Nationalitätenkämpfe in Posen 1918/19

63

II. Deutschland und Polen in der Zwischenkriegszeit: Nationalismus und nationale Identitäten (1918–1939)

105

Krzysztof Kawalec Einfluss und Bedeutung des Nationalismus im Entstehungsprozess der Zweiten Polnischen Republik nach 1918

107

Andrzej Michalczyk Migrationsprozesse und nationale Integration im polnischen Teil Oberschlesiens zwischen den Weltkriegen

129

Torsten Lorenz Der deutsch-polnische Optantenstreit und das Zerbrechen der übernationalen Kooperation. Migration und Kommunalpolitik in Międzychód ( Birnbaum ) nach dem Ersten Weltkrieg

147

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Inhaltsverzeichnis

III. (Vorläufiger) Triumph des ethnischen Nationalismus: NS-»Volkstumspolitik« und ethnische Säuberungen (1939–1949) Markus Roth Die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Polen 1939–1945. Grundlagen – Akteure – Handlungsspielräume

167

Johannes Frackowiak Die »Deutsche Volksliste« als Instrument der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten Polens 1939–1945

181

Piotr Madajczyk Auf der Suche nach den Ursachen der ethnischen Säuberungen in Polen nach 1945

221

IV. Nationalistische Politik und nationalistisches Gedankengut im kommunistischen Polen (1945–1989)

V.

165

239

Elżbieta Opiłowska Die Aneignung des fremden Raumes. Nationalistische Politik in den polnischen Nord- und Westgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg

241

Klaus Bachmann Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen nach 1956 im Lichte von Meinungsumfragen

257

Nationalistisches Denken in den deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989

285

Tytus Jaskułowski Ressentiments im deutsch-polnischen Verhältnis seit 1989. Mythos oder Wirklichkeit?

287

VI. Anhang Abkürzungsverzeichnis Personenverzeichnis Autorinnen und Autoren

305 307 309 313

Johannes Frackowiak Nationalismus und Ressentiments – Deutsche und Polen. Eine Einführung

Das deutsch - polnische Verhältnis ist in den vergangenen Jahren einige Male durch Störmanöver beeinträchtigt worden, die meist aus dem nationalkonservativen politischen Spektrum Polens, aber auch aus dem Umfeld des Bundes der Vertriebenen ( BdV ) kamen. In diesem Zusammenhang soll an die von der PiS Regierung in der Frage der in Deutschland lebenden Polen lancierte Debatte um den deutsch - polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 erinnert werden. Dazu kam später der Hinweis auf die Rechtsunwirksamkeit der Verordnung Hermann Görings von 1940 zur Auflösung der Organisationen der polnischen Minderheit im Deutschen Reich, der eine antideutsche Stimmung fördern sollte. Auch der »Fall Tusk« – die im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfs 2005 erfolgte Instrumentalisierung des angeblichen Dienstes des Großvaters des heutigen Ministerpräsidenten in der Wehrmacht – sprach in dieser Hinsicht Bände. Alle diese Vorgänge illustrieren die große Bedeutung, die der Geschichtspolitik in Polen insbesondere in Bezug auf die deutsch - polnischen Beziehungen zukommt. Die wiederholten, freilich nur zum Teil erfolgreichen Appelle an Ressentiments gegenüber dem westlichen Nachbarn verweisen auf die immer noch existierende Möglichkeit, die aus der schwierigen gemeinsamen Vergangenheit der beiden Völker herrührenden Belastungen in Polen und Deutschland sowohl innen - als auch außenpolitisch auszunutzen. Befördert wurden derartige Tendenzen allerdings auch von deutscher, wenn auch nicht - offizieller Seite. Hier muss vor allem das Agieren des BdV und seiner Vorsitzenden Erika Steinbach im Zusammenhang mit der geplanten Errichtung eines »Zentrums gegen Vertreibungen« Erwähnung finden. Das gehäufte Auftreten historischer Reminiszenzen mit nationalistischer Einfärbung in aktuell - politischen Zusammenhängen war für das Hannah - Arendt Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden ( HAIT ) Anlass, am 16./17. September 2011 in Dresden einen internationalen Workshop durchzuführen. Historiker und Politikwissenschaftler aus Deutschland, Polen und Tschechien thematisierten den Einfluss von Nationalismus und nationalistischer Poli-

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tik auf die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen. Darüber hinaus war von Interesse, ob längerfristig wirkende nationalistische Einstellungen in der Bevölkerung Polens aktuell noch eine Rolle spielen und demgemäß den Hintergrund für eine Politik abgeben können, die gegebenenfalls – wie im Falle der PiS - Regierung unter Jarosław Kaczyński – antideutsche Ressentiments bedient. Der hier vorgelegte Sammelband basiert im Wesentlichen auf dem genannten Workshop. Die Frage der Definition von Nationen ist durchaus komplex. Bis zum heutigen Tage ist keiner der diesbezüglich zahlreichen Vorschläge von der Forschung allgemein anerkannt worden. Im Hinblick auf die umfangreiche Literatur zum Thema Nationen und Nationalismus – vor allem auf die Arbeiten von Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm1 – sei hier die Quintessenz aus Gellners Forschungen erwähnt : »Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt.«2 Damit geht die Nation keineswegs dem Nationalismus voraus, wie von den Nationalisten in der Regel selbst erklärt, wenngleich ein Nationalismusforscher wie Anthony D. Smith die Nation nicht zur Gänze als ein bloßes Konstrukt und eine Erscheinung der Moderne betrachtet, sondern den Nationen einen ethnischen Kern zubilligt, um den herum diese errichtet worden seien. Damit vertritt er in der Frage nach dem Ursprung der Nationen eine mittlere Position zwischen einer essentialistischen, »primordialen« Sicht einerseits und einer konstruktivistischen Auffassung andererseits.3 M. Rainer Lepsius betrachtet die Nation als »eine gedachte Ordnung, eine kulturell definierte Vorstellung, die eine Kollektivität von Menschen als eine Einheit bestimmt«. Die Art dieser Einheit ergebe sich aus den Kriterien für die Bestimmung der nationalen Kollektivität in der Ordnungsvorstellung der Nation. Dies könnten ethnische, kulturelle oder Kriterien staatsbürgerlicher Rechtsstellung sein. Aus der Unterschiedlichkeit der Arten von Nationen, die sich aus der Unterschiedlichkeit von deren Eigenschaften ergäbe, zieht Lepsius das Fazit : »Die Nation ist daher keineswegs eine naturwüchsige und eindeutige Ordnung des sozialen Lebens, sie ist über die Zeit veränderlich und an die realen Machtkonstellationen der geschichtlichen Entwicklung anpassungsfähig.«4 Nationalismen haben in der Regel die Herstellung und Aufrechterhaltung eines souveränen Nationalstaats, bei dem oft ethnische und politische Grenzen 1

2 3 4

Beispielhaft Ernest Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991; ders., Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999; Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, 2. Auflage Frankfurt a. M. 2005; Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, erw. Auflage Frankfurt a. M. 2004. Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 87. Vgl. Anthony D. Smith, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986; ders., National Identity, London 1991. M. Rainer Lepsius, Nation und Nationalismus in Deutschland. In : ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1988, S. 232–246, hier 233.

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identisch sein sollen, zum Ziel, und erstreben eine bewusste Identifizierung und Solidarisierung aller Mitglieder mit der Nation. Der hier in Rede stehende deutsche Nationalismus nahm bereits ab den 1880er, verstärkt ab den 1890er Jahren in seiner antijüdischen und antipolnischen Ausrichtung einen dezidiert ethnisch- exklusiven, völkischen Charakter an.5 In dieser Form wurde er für die preußisch - deutsche Polenpolitik im preußischen Teilungsgebiet der früheren polnischen Adelsrepublik bis 1918 immer stärker handlungsleitend. Die Nation wurde dabei als eine quasi bereits »ewig« bestehende Gemeinschaft begriffen, zu der man nur durch Abstammung gehören konnte. Zu der – zumindest im Hinblick auf die Polen – zunächst »nur« ethnischen trat zunehmend eine »rassische« Differenz, die auch in der Ideologie des Nationalsozialismus, der 1933 in Deutschland die Macht übernahm, eine wichtige Rolle spielte. Nach dem Überfall des NS - Regimes auf Polen 1939 schlug sich diese Sichtweise in dessen Besatzungspolitik vor Ort nieder. Der Nationalsozialismus stellt damit als ein ins »Rassische« übersteigerter und insofern ins Biologische gewendeter Nationalismus ein Extrembeispiel für einen exklusiven Nationalismus dar, der unter gleichzeitiger Überhöhung der eigenen Nation auf die Abgrenzung von anderen Nationen zielt, die in der Regel als nicht gleichwertig betrachtet werden.6 Diese Politik der Exklusion anderer Nationen und »Rassen« führte in der Endkonsequenz zu ethnischer Säuberung und Völkermord. Etwas anders verhält es sich mit dem ebenfalls im Blickpunkt befindlichen polnischen Nationalismus. Dieser trat in verschiedenen Formen auf, die sich teilweise überlappten und zu jeweils verschiedenen Zeiten die Überhand in der (staatlichen ) Politik gewannen.7 Während der Teilungszeit dominierte zunächst ein inklusiver, auf die Integration aller Teilgruppen der Nation in die nationale Gemeinschaft gerichteter Risorgimento - Nationalismus, der auch im heutigen Polen, als »Patriotismus« apostrophiert, positiv besetzt ist. Dem wird der während des Ersten Weltkriegs stark an Einfluss gewinnende, negativ konnotierte exklusive Nationalismus Roman Dmowskis und seiner Narodowa Demokracja (Nationaldemokratie, Endecja ) gegenübergestellt, der die polnische Nation ethnisch - kulturell definierte und auf einen vorzugsweise ethnographisch polnischen Staat abstellte. Letztlich war aber im Polen der Zwischenkriegszeit die von Józef Piłsudski vertretene, aus der Staatstradition der 1795 untergegangenen Rzeczpospolita Obojga Narodów ( Republik der Beiden Völker – gemeint sind das König5 6

7

Vgl. Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001. Vgl. Sven Oliver Müller, Nationalismus in der deutschen Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. In : Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 2005, S. 9–100, hier 46–52. Siehe die Beiträge von Krzysztof Kawalec und Klaus Bachmann in diesem Band. Letzterer spricht von vier Typen des Nationalismus in Polen.

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reich Polen und das Großfürstentum Litauen ) herrührende, gegenüber Minderheiten offenere, auf einen Staatspatriotismus abstellende »jagiellonische« Konzeption politisch erfolgreicher. Eine starke Verengung hin zu einem ethnozentrischen Nationalismus erfolgte erst während und letztlich infolge des Zweiten Weltkriegs, als sowohl die Bevölkerung Polens immer mehr in ethnischen Kategorien dachte als auch die ab 1945 herrschenden Kommunisten Versatzstücke des ursprünglichen Konzepts der Nationaldemokratie mit dem Ziel der ideologischen Untermauerung ihrer Herrschaft übernahmen. Sowohl ethnozentrisch wie auch »piastisch« geprägte Vorstellungen dieser Art legitimierten die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates bei gleichzeitiger Vertreibung der deutschen und ukrainischen Bevölkerung vom Territorium Nachkriegspolens. Beide Nationalismen, sowohl der deutsche als auch der polnische, stellen in ihrer Interdependenz den geradezu klassischen Fall interagierender oder gar verflochtener Nationalismen dar. Nicht von ungefähr ist die Gründung des kleindeutschen Kaiserreichs unter Preußens Führung 1870/71 der chronologische Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes, der fünf Perioden des deutsch polnischen Verhältnisses in den Blick nimmt. Eine Folge der Reichsgründung war das Aufkommen eines deutschen Reichsnationalismus, der das in Preußen bisher vorherrschende Paradigma eines auf den König hin orientierten Staatspatriotismus ersetzte, bei dem die Muttersprache keine Rolle spielte. Letzteres hatte den zahlreichen im preußischen Staatsverband lebenden Polen zumindest theoretisch immer noch ermöglicht, loyal zum Monarchen zu stehen, ungeachtet aller Probleme, die das Verhältnis des preußischen Staates zu seinen polnischsprachigen Bewohnern bis dahin bereits mit sich gebracht hatte. Ab 1871 sollten sich die Polen hingegen in einen deutschen Nationalstaat integrieren, was bei ihnen die Vorstellung der eigenen nationalen Verschiedenheit verstärkte und der polnischen Nationalbewegung Auftrieb gab. Der erste hier zu betrachtende Zeitraum ist demnach mit der Existenzdauer des wilhelminischen Kaiserreichs (1871–1918) identisch. Das Verhältnis zwischen den Deutschen und den im Reichsverband lebenden Polen war in dieser Periode asymmetrisch, insofern es ein Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten war. Letztere verfügten zwar theoretisch gemäß der Reichsverfassung von 1871 über teildemokratische Mitwirkungsrechte, konnten aber beispielsweise über die polnischen Abgeordneten im Deutschen Reichstag de facto keinen Einfluss auf das Handeln der jeweiligen preußisch - deutschen Regierungen ausüben. Im Vordergrund stehen in den drei Beiträgen dieses Teils ( von Christoph Kleßmann / Johannes Frackowiak, Uwe Müller, Mike Schmeitzner ) die gegen die Polen gerichtete Germanisierungspolitik zunächst während der Kanzlerschaft Bismarcks, später die verschärfte Ausgrenzungspolitik unter Wilhelm II., die polnischerseits unter dem Begriff »Hakatismus« – nach den Anfangsbuchstaben der Gründer des Deutschen Ostmarkenvereins Hansemann,

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Kennemann und Tiedemann – sprichwörtlich wurde. Die Ausgrenzung der polnischen Bevölkerung gipfelte in dem Sprachenparagraphen des 1908 erlassenen Reichsvereinsgesetzes, das »mit seiner Ausnahmeregelung gegenüber nationalen Minderheiten sozialpsychologisch jene Politik« der Nationalsozialisten vorbereitete, die »zur Aussonderung politischer und nationaler Minderheiten aus der ›Volksgemeinschaft‹ führte«.8 Beachtung findet der Mitte der 1880er Jahre erfolgte Paradigmenwechsel Bismarcks von einem noch vorrangig durch die preußische Staatsraison geprägten Politikansatz zu einem verstärkt exklusiv - nationalistischen Vorgehen in Bezug auf die preußischen Polen. Eine wichtige Rolle spielten ab sofort Maßnahmen wie die Polenausweisung und der Erlass eines Ansiedlungsgesetzes, die auch wirtschaftlich motiviert waren. Damit wurde nicht nur das polenpolitische Instrumentarium erweitert, sondern eine grundlegende Veränderung des Ziels vorgenommen : An die Stelle der bisher versuchten »Germanisierung« der polnischen Bevölkerung trat die Schwächung von deren ökonomischer Position, während das Ziel ihrer Assimilation oder zumindest Akkulturation faktisch aufgegeben wurde. Allerdings führten gerade die wirtschaftlichen Maßnahmen der preußischen Regierung zu einer Verstärkung national - polnischer Bestrebungen, beispielsweise zur Intensivierung der sogenannten »organischen Arbeit«. In der Endkonsequenz wurde demnach eher die Polonisierung bisher national indifferenter bzw. desinteressierter Teile der Landbevölkerung als deren Germanisierung erreicht. Alle aktiven ökonomischen Maßnahmen Preußen - Deutschlands zugunsten einer auch »Hebungspolitik« genannten »Förderung des Deutschtums« im Osten, verfehlten letztlich das angestrebte Ziel einer dauerhaften Stabilisierung oder sogar Steigerung des deutschen Bevölkerungsanteils in den preußischen Ostprovinzen. Dies lässt sich am Scheitern der Ansiedlungspolitik, aber auch im Hinblick auf die kaum vorhandene Lenkungswirkung beispielsweise des sogenannten Dispositionsfonds für die Oberpräsidenten der Provinzen und der »Ostmarkenzulage« nachvollziehen. Sowohl die Verfolgung einzelwirtschaftlicher Interessen als auch der Versuch, den Nutzen wirtschafts - und kulturpolitischer Maßnahmen auf den deutschen Bevölkerungsteil zu begrenzen, beeinträchtigten die Effizienz dieser Politik massiv. Die deutschen Reichsnationalisten (»Hakatisten«) konnten in dem ab Mitte der 1890er Jahre von preußisch - deutscher Seite stark forcierten »Kampf um Sprache und Land« keinen Sieg verbuchen. Vielmehr kam es 1918, nach dem für Deutschland verlorenen Ersten Weltkrieg, zum »Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik«, zumindest aus einer bestimmten, im linksliberalen Milieu zu verortenden Sicht. Anhand der Biographie des während des Ersten Weltkriegs und kurz danach in Posen wirkenden Historikers Alfred Herrmann, der an der Jahres8

Diethelm Blecking, Die Geschichte der Nationalpolnischen Turnorganisation »Sokół« im Deutschen Reich 1884–1939, 2. Auflage Münster 1990, S. 141.

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wende 1918/19 Vorsitzender des dortigen Deutschen Volksrates und 1919/20 für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei ( DDP ) Mitglied der Deutschen Nationalversammlung war, lassen sich die Konflikte innerhalb der deutschen Bevölkerungsminorität in Stadt und Provinz Posen hinsichtlich einer nun unausweichlich gewordenen Veränderung des Umgangs mit dem polnischen Bevölkerungsteil verfolgen. Herrmann, der seit 1913 als Professor an der Posener »Königlichen Akademie« tätig war und in dieser Funktion als akademischer Multiplikator zur »Hebung des Deutschtums« wirkte, vertrat bis Ende 1918 gegenüber den Polen den status quo. Unter dem Zwang der Verhältnisse unterlag seine Auffassung einer Wandlung, indem er, um die Provinz Posen nach dem Großpolnischen Aufstand an der Jahreswende 1918/19 in ihrer Gesamtheit oder zu großen Teilen für Deutschland zu retten, nunmehr ein Konzept der nationalen Parität zwischen Polen und Deutschen verfocht. Dabei warb er, die Kräfteverhältnisse richtig einschätzend, zugunsten des deutschen Bevölkerungsteils auch um die Posener Juden, die er der deutschen Kultur zurechnete. Ob eine frühe und stetige Politik entsprechend diesem paritätischen Ansatz nach 1918 den Boden für eine nationale Autonomie der Deutschen oder Polen hätte bereiten können, ist schwer zu beantworten. Dennoch stand dieser Entwurf in deutlichem Kontrast zu den Auffassungen der »Hakatisten« aus dem Deutschen Ostmarkenverein. Für deren Sichtweise auf die Polen steht exemplarisch die bereits völkisch - rassistisch aufgeladene Auffassung des Nationalliberalen August Beuermann. Der Kreisschulinspekteur in Fraustadt ( Provinz Posen ) und Herausgeber einer »Landeskunde Preußens« postulierte gegenüber der Nationalversammlung, die Provinz Posen sei mehrheitlich deutsch, weil dort »Massen des Deutschtums in der polnischen Flut als Kulturdünger aufgegangen« seien. Sein Plädoyer dafür, dieses »verborgene deutsche Volkstum« mittels einer völkischen »Durchprüfung« erneut aufzufinden, mutet wie eine Vorwegnahme jener Dinge an, die 20 Jahre später in den vom nationalsozialistischen »Dritten Reich« besetzten Teilen Polens in Form des Verfahrens der Deutschen Volksliste Realität werden sollten. 1939 fanden sich die »rechten Leute« dafür, von denen Beuermann 1919 gesprochen hatte. Insofern zieht sich eine Traditionslinie vom »Hakatismus« bis zum Nationalsozialismus. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass vor allem die wirtschaftlichen Maßnahmen der preußischen Polenpolitik Vorbildwirkung für den Umgang der Nationalsozialisten mit der polnischen Bevölkerung zwischen 1939 und 1945 entfalteten. So vertrat Adolf Hitler bereits in »Mein Kampf« unter Bezugnahme auf die frühere preußische Polenpolitik die Auffassung, dass »Germanisation nur am Boden vorgenommen werden [ könne ] und niemals an Menschen«.9 Eine solche Germanisierung des Bodens wurde nach 1939 in Form einer Verschlechterung des ökonomischen Status der polnischsprachigen Bevölkerung 9

Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1939, S. 428.

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bzw. deren Vertreibung und der parallel dazu erfolgten Neuansiedlung sogenannter Volksdeutscher praktiziert. Die zweite hier zu diskutierende Periode umfasst die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ( Beiträge von Krzysztof Kawalec, Andrzej Michalczyk und Torsten Lorenz ). An Deutschlands Ostgrenze existierte nun ein polnischer Nachbarstaat, dem Deutschland 1919 einen Teil der preußischen Ostprovinzen hatte abtreten müssen. Damit entstand auf der europäischen politischen Szenerie ein eher symmetrisch zu nennendes Verhältnis zwischen den beiden Nationen. Da dies insbesondere von der durch die Gebietsabtretungen betroffenen deutschen Bevölkerung nicht ohne Weiteres hingenommen wurde, aber auch polnische Nationalisten den Anschluss von deutschen Territorien an Polen wünschten, kam es in den ersten Jahren nach 1918 zur heftigen Kollision beider Nationalismen wie beispielsweise bei dem erwähnten Kampf um die Provinz Posen 1918/19 wie auch dem Konflikt um Oberschlesien, der mit den drei polnischen Aufständen von 1919, 1920 und 1921 einherging. Lag das Schwergewicht im ersten Teil des Bandes auf der nationalistischen Politik der deutschen Seite, wird nunmehr vor allem die Rolle des polnischen Nationalismus im Prozess der Gründung und Ausgestaltung des unabhängigen polnischen Staates hinterfragt. In den Blickpunkt rücken dementsprechend zunächst die auf einen ethnischen Nationalismus und damit auf ein unabhängiges Polen auf vorzugsweise ethnographisch polnischem Gebiet gerichteten Vorstellungen von Roman Dmowski und der Nationaldemokratie hinsichtlich der Gestaltung des neuen Staates. Im Hinblick auf die deutsch - polnische Grenze gingen deren Forderungen vor allem in Schlesien und Ostpreußen ( Masuren ) aufgrund der von Dmowski postulierten Polonität der Oberschlesier und Masuren deutlich über die frühere polnische Grenzlinie vor der ersten Teilung von 1772 hinaus. Damit kontrastierten die Vorstellungen, die Józef Piłsudski und seine Anhänger, vor allem im Umkreis der mit der Polnischen Sozialistischen Partei verbundenen radikalen Intellektuellen, vom Aufbau und den Grenzen des zukünftigen polnischen Staates hatten. Piłsudski selbst stand einer kulturell - ethnischen Definition des Polentums fern. Sein Denken war vielmehr auf die Grenzen der polnischen Adelsrepublik ( Rzeczpospolita) von 1772 fokussiert. Innerhalb dieser Grenzen sollte ein polnischer Kernstaat eine Föderation mit den nördlichen und östlichen Nachbarvölkern, z. B. den Litauern und Ukrainern, eingehen. Diese föderativen Visionen scheiterten freilich an der Realität. Ungeachtet dessen, dass Piłsudski die Macht innehatte, entsprach die Grenzlinie des wiedererstandenen Polen aufgrund der außenpolitischen Rahmenbedingungen und der Realität nach dem polnisch - sowjetischen Krieg letztendlich eher den Vorstellungen Dmowskis und der Nationaldemokraten und des von ihnen dominierten Polnischen Nationalkomitees in Paris. Gegenüber dem besiegten Deutschland konnte Piłsudski in der Realität keine andere Politik als die Entente betreiben. Die Annahme von territorialen

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»Geschenken« an der deutsch - polnischen Grenze führte in der Praxis zur politischen Anlehnung Polens an die westlichen Staaten, darunter vor allem an Frankreich. Dieser Standpunkt fand große Unterstützung in der polnischen öffentlichen Meinung, auch unter den Anhängern Piłsudskis, die sich damit der Auffassung der Nationaldemokraten immer mehr annäherten. Bei der Betonung des Konfliktaspekts der polnisch - deutschen Nachbarschaft überboten sich beide Lager gegenseitig. Die Aktivitäten der polnischen Regierung hinsichtlich einer Verschiebung der polnischen Westgrenze zuungunsten Deutschlands trugen, auch wenn sie nach Auffassung von Krzysztof Kawalec vorrangig eine Reaktion auf die Aufstände in Großpolen 1918/19 und Schlesien 1919/20 darstellten, »zu einer unnachgiebigen Politik bei, die vollendete Tatsachen schuf und die Strategie des polnischen Staates für den gesamten Zeitraum zwischen den Kriegen vorherbestimmte«. Im Gefolge der Gebietsabtretungen Deutschlands an Polen nach dem Ersten Weltkrieg kam es u. a. in der polnischen Wojewodschaft Schlesien, die den größten Teil des oberschlesischen Kohlenreviers umfasste, zu Nationalisierungsprozessen auf regionaler und lokaler Ebene. Ursache dafür war ein Elitenaustausch, bei dem polnische Zuwanderer die nach Deutschland abgewanderten Beamten und Angestellten aus Verwaltung, Post, Bahn und Armee wie auch aus den ehemals durch den preußischen Fiskus kontrollierten Industriebetrieben, darüber hinaus ebenso Richter, Rechtsanwälte und Lehrer ersetzten. Die Neuankömmlinge waren zum Teil polnisch - national orientierte Emigranten aus dem bei Deutschland verbliebenen Teil Oberschlesiens, mehrheitlich aber kamen sie aus Galizien. Diese Migrationsbewegungen wurden weniger durch wirtschaftliche Faktoren angestoßen, sondern erfolgten gemäß der Bedürfnisse des polnischen Staates, und zwar in gesellschaftliche Bereiche, auf die der Staat Zugriff hatte. Besagte Zuwanderungs - und Abwanderungsbewegungen wirkten sich auf die gesellschaftliche Integration im polnischen Teil Oberschlesiens aus und bargen Konfliktpotential, da ein Teil der Zugewanderten einen selbstbewussten polnischen Nationalismus mitbrachte, der schnell in eine radikale, antideutsche Haltung münden konnte. Auf lokaler Ebene brachte dies beträchtliche Probleme mit sich, wie sich an zwei Fallbeispielen für nationale Integrationsprozesse aus den 1930er Jahren zeigt. Gravierende Auswirkungen hatte die infolge des Versailler Vertrages erfolgte Abtretung großer Teile der Provinzen Posen und Westpreußen an Polen für die dort verbliebene deutschsprachige Bevölkerung. Der Friedensvertrag räumte diesem Personenkreis das Recht ein, innerhalb einer begrenzten Zeitspanne für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren. Diese Möglichkeit wurde von einem großen Teil der deutschen Bewohner genutzt, die nicht polnische Staatsbürger werden wollten. Der polnische Staat forcierte allerdings, wie sich an dem Optionsgeschehen in der nahe der Grenze zu Deutschland gelegenen, vor 1918/19 zur

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Provinz Posen gehörenden Kleinstadt Międzychód ( Birnbaum ) zeigen lässt, die Entscheidung der deutschsprachigen Bevölkerung in diese Richtung. Als Katalysator diente die angesichts des polnisch - sowjetischen Krieges bewusst eingesetzte Drohung mit der Einziehung deutscher Männer zum polnischen Militär. Vor dem Hintergrund des sogenannten »Optantenkrieges« 1925, der ein Resultat des Streits zwischen Polen und Deutschland über die Konsequenzen aus den Optionen war, kam es unter der polnischen Bevölkerung Międzychóds zu einer Aufwallung nationaler Emotionen, in deren Folge radikale polnische Kräfte den bis dahin praktizierten Kompromiss in der Stadtregierung aufkündigten. Inhalt dieses Kompromisses war es gewesen, dass die Deutschen – wenngleich unterprivilegiert – an dieser partizipierten. Die Optionen stellten zwar nur eine Episode in der deutsch - polnischen Beziehungsgeschichte dar, dennoch waren sie ein Abschnitt der steigenden Fieberkurve im deutsch - polnischen Verhältnis, ein Moment der Eskalation, welcher bedeutende Nachwirkungen hatte : Für Międzychód markierten sie den weitgehenden Ausschluss der Deutschen von der Mitbestimmung ihrer eigenen lokalen Angelegenheiten, leiteten zugleich aber auch eine Phase der Entspannung ein, da sie zur Klärung der Verhältnisse beitrugen. Den absoluten Tiefpunkt der gemeinsamen deutsch - polnischen Geschichte bildeten die Jahre von 1939 bis etwa 1949, denen der dritte Teil des Bandes gewidmet ist ( Beiträge von Markus Roth, Johannes Frackowiak und Piotr Madajczyk ). Dieser Zeitraum beinhaltete die Zerschlagung des polnischen Staates durch das »Dritte Reich« und Stalins Sowjetunion 1939, die anschließende Okkupation Polens durch das NS - Regime bis 1944/45 sowie die auf dessen Niederlage im Zweiten Weltkrieg folgende, fast vollständige Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten jenseits von Oder und Lausitzer Neiße, die die Alliierten Polen im Potsdamer Abkommen als Kompensation für seine an die Sowjetunion verlorenen Ostgebiete zugesprochen hatten. Diese Ereignisse kann man mit Fug und Recht als den – glücklicherweise nur temporären – Triumph des ethnischen Nationalismus in der Geschichte der beiderseitigen Beziehungen bezeichnen. Seit dem Überfall auf Polen zielte die NS - Besatzungspolitik in ihrer gesamten Härte und Brutalität auf dessen Vernichtung und die Beseitigung der Existenzgrundlagen des polnischen Volkes. Diesem Zweck diente die von Anfang an durchgeführte Erschießung Tausender Lehrer, Ärzte, Pfarrer, Rechtsanwälte, Politiker, kurz gesagt aller Repräsentanten der polnischen Elite, derer man habhaft wurde. Die Zivilverwaltung, die die Militärverwaltung ablöste, war auf das Gegensatzpaar »Herrenmenschen – Untermenschen« ausgerichtet. Es handelte sich um ein völkisches Apartheidregime mit einer strikten rassischen Hierarchie, auf deren höchster Stufe die deutschen Besatzer, auf deren unterster Stufe aber die Juden standen. Von dieser Stratifikation waren alle Lebensbereiche betroffen. Die Funktionsweise der deutschen Besatzungspolitik in Polen – das Ineinandergreifen von ideologischer Vorprägung, weitgefassten Vorgaben und Blanko-

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schecks »von oben« und ein institutioneller Rahmen, der die Macht verleiht und Freiheit lässt zu einer praktischen Politik mit weitreichenden Folgen – lässt sich exemplarisch an den Kreis - und Stadthauptleuten im Generalgouvernement zeigen. Für die Umsetzung der radikal antipolnischen und antijüdischen Politik wurden in diesen Funktionen Männer benötigt, die dazu fähig und willens waren. Deren relativ große Handlungsspielräume vor Ort in den Kreisen werden an Hand zweier wichtiger Politikfelder beleuchtet : der »Judenpolitik« und der Ausbeutung der Landwirtschaft. Die Nationalsozialisten beabsichtigten, die von ihnen annektierten Gebiete Polens mittels ethnischer Säuberung, d. h. der vollständigen Vertreibung der polnischen und jüdischen Bevölkerung, sowie der Neuansiedlung von aus anderen Staaten Ost - und Südosteuropas »heimgekehrten« Volksdeutschen vollständig zu germanisieren. Als die Erreichung dieses Zieles im Zuge der Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion in immer weitere Ferne rückte, mussten sich die Nationalsozialisten – zumindest vorläufig – statt der von ihnen angestrebten territorialen Trennungslinie zwischen Deutschen innerhalb und Nicht - Deutschen außerhalb der annektierten Territorien mit einer völkisch - rassischen Trennungslinie innerhalb dieser Gebiete abfinden. Die Volkstumsideologen des NS, allen voran Heinrich Himmler und der SS - Komplex, schufen für die Trennung von deutscher und »fremdvölkischer« Bevölkerung 1941 die sogenannte »Deutsche Volksliste« nach einem Vorbild, das im Reichsgau Wartheland bereits seit Ende 1939 Anwendung fand. Die Bewohner der »eingegliederten Ostgebiete« sollten gemäß ihrer Nähe zum Deutschtum nach bestimmten Kriterien wie Abstammung, »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« sowie »rassische Eignung« in verschiedene Kategorien dieser »Volksliste« eingeordnet werden. Diesem Verfahren sollte aus Sicht des Reichsführers - SS Heinrich Himmler das »rassisch« motivierte Postulat zugrundeliegen, wonach »kein deutsches Blut fremdem Volkstum nutzbar gemacht« werden sollte. Die Entscheidungsfindung erfolgte in der Praxis teilweise nach anderen Kriterien, z. B. wirtschaftlichen Erfordernissen der Besatzungspolitik. In der Regel wurde so entschieden, dass das Ergebnis den maximalen Nutzen für das NS - Regime brachte, und zwar hinsichtlich der Ausbeutung und Ausplünderung der annektierten Gebiete sowie der Entfernung von wirklichen und mutmaßlichen Feinden des Nationalsozialismus aus diesen Territorien. Eine gewisse Entwicklung weg von der Ideologie hin zum Pragmatismus fand nach der Wende des Krieges statt, die spätestens mit dem Fall von Stalingrad Anfang 1943 manifest wurde. Hierfür sprechen die ab etwa diesem Zeitpunkt verfolgten Pläne der Volkstumsideologen um Heinrich Himmler zur weiteren Ausdifferenzierung der »Hierarchie des Rassismus« zugunsten von loyalen Polen und »Halbjuden«. Davon unabhängig lässt sich am Beispiel der Reichsgaue Danzig - Westpreußen und Wartheland zeigen, dass sich die Germanisierungspolitik ihrer jeweiligen Gauleiter nicht nur rein praktisch, sondern auch im ideologi-

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schen Ansatz unterschied, indem der Erstere einen eher inklusiven, der Letztere einen stark exklusiven Kurs verfolgte. Nach der Niederlage Deutschlands kam es erneut zu ethnischen Säuberungen: Dieses Mal wurden mehrere Millionen Deutsche aus den infolge des Potsdamer Abkommens zu Polen gekommenen früheren deutschen Ostgebieten vertrieben, aber auch Ukrainer, die westlich der neuen polnischen Ostgrenze an Bug und San verblieben waren. In einer stark vereinfachten, aber nicht unbedingt zutreffenden Sicht könnten diese Vorgänge, die das deutsch - polnische Verhältnis zumindest in bestimmten Kreisen der bundesdeutschen Bevölkerung bis heute belasten, als bloße Vergeltung für die Brutalität der NS - Besatzungsherrschaft interpretiert und als Folge der von Stalin initiierten und von den Alliierten abgesegneten Westverschiebung Polens betrachtet werden. Allerdings hatte der Zweite Weltkrieg selbst dahingehend großen Einfluss auf Staat und Gesellschaft Polens, dass sich die Vorstellung von der polnischen Nation und von den Kriterien der Zugehörigkeit zu dieser auch infolge der alltäglich erlebten Gewalt hin zu einer stark ethnozentrischen Sichtweise veränderte und ein Denken in Kategorien einer nationalen Schicksalsgemeinschaft zu dominieren begann. Die Grenzen der Nation wurden dabei enger gezogen, die nationale Gemeinschaft sollte auch unter der neuen Fremdherrschaft nach 1945 eine Stütze für die Individuen und die Gesellschaft darstellen. Das betraf nicht nur das Verhältnis zu den Deutschen, sondern zu allen auf polnischem Gebiet lebenden Minderheiten. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine Deformation in der Entwicklung der polnischen Nation. Diese Vermutung äußert jedenfalls Piotr Madajczyk. Die neue, kommunistisch dominierte Regierung instrumentierte die Nationalitätenprobleme, um sich in den Augen der polnischen Bevölkerung eine Legitimation zu verschaffen, was zu der Parole »Ein starkes Polen ohne nationale Minderheiten« führte. Auf der individuellen Ebene jedoch lässt sich an Fallbeispielen aus dem oberschlesischen Kreis Kędzierzyn ( Cosel ) zeigen, wie sich ideologische Kriterien mit materiellen und persönlichen Interessen vermischten. Nationale Argumentationsmuster wurden von Individuen teilweise vordergründig benutzt, um eigene Probleme und Misserfolge zu bemänteln. Mitunter sahen die Akteure die Verwendung solcher Argumente auch in einer nur um materielle Güter geführten Auseinandersetzung als legitim an. In einem vierten Teil, der den Zeitraum zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der kommunistischen Herrschaft beinhaltet, wenden sich die Beiträge von Elżbieta Opiłowska und Klaus Bachmann der Nutzung nationaler Legitimationsmuster bzw. der Existenz nationalistischen Gedankenguts in der seit 1945 kommunistisch beherrschten Republik ( seit 1952 Volksrepublik ) Polen zu. Wie bereits erwähnt, spielten die polnischen Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg die »nationale Karte«, um ihre Herrschaft legitimatorisch zu festigen. Dies war insbesondere in den neuen Nord - und Westgebieten Polens der

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Fall, denn dort war es außerdem nötig, die neu angesiedelte, durchaus heterogene Bevölkerung untereinander und in den nun von ihr bewohnten Raum zu integrieren. Neben einer starken antideutschen Propaganda, die erst mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages zwischen Polen und der Bundesrepublik 1970 zunehmend wirkungsloser wurde, diente dem die Absicht, diese neuen Gebiete in der Öffentlichkeit als Teil der polnischen Geschichte und Staatstradition darzustellen. Diese Behauptung beruhte aber nur bei wenigen größeren Städten wie etwa Danzig auf einer realen historischen Basis. Für den überwiegenden Teil der von Deutschland übernommenen Territorien jedoch musste eine solche Zugehörigkeit quasi »erfunden« werden, ein geradezu klassisches Beispiel für eine »Erfindung von Traditionen« im Sinne Eric Hobsbawms.10 Als Vehikel fungierte der Mythos von den »Wiedergewonnenen Gebieten«, der mit dem Piasten - Mythos verbunden wurde, indem von einer »Rückkehr der Piasten - Länder« zum Mutterland die Rede war. Das »Copyright« auf den Terminus »wiedergewonnen« kommt dabei nicht ausschließlich den kommunistischen Machthabern und den mit der »Westforschung« befassten Wissenschaftlern Polens zu, sondern es zeigen sich möglicherweise Interdependenzen zwischen polnischer »Westforschung« und der deutschen »Ostforschung« aus der Zeit des Nationalsozialismus. Letztere hatte unter Bezug auf die 1939 eroberten Gebiete Westpolens bereits von »wiedergewonnenem deutschen Land« gesprochen, was die Reziprozität beider Ansätze deutlich vor Augen führt und eine gegenseitige Beeinflussung durchaus nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt. Der Nationalismus war Ende der 1940er Jahre für die kommunistische Führung Polens zur Absicherung ihrer Herrschaft unverzichtbar. Parallel dazu gab es, wie bereits ausgeführt, auch in der Bevölkerung aufgrund der erst wenig zurückliegenden negativen Erfahrungen aus dem Krieg ein gerütteltes Maß an nationalistischen Einstellungen. Mit sozialwissenschaftlichen Mitteln lassen sich solche Denkmuster erst ab etwa 1956 in groben Zügen fassen. In den Umfragen, die das im Zuge des »Tauwetters« Ende der 1950er Jahre entstandene »Zentrum zur Erforschung der Öffentlichen Meinung« durchführte, spielte Nationalismus zwar nur eine untergeordnete Rolle. Einige der Umfragen liefern jedoch auch Material für Rückschlüsse auf den Gehalt und die Entwicklung nationalistischer Einstellungen. Dies betraf u. a. das Verhältnis der Befragten zu anderen Völkern, die Definition von staatlicher und nationaler Zugehörigkeit und jener zu Minderheiten. Weitere diesbezügliche Themen waren die Einstellung zur Toleranz sowie – als eine wichtige Komponente nationalistischer Haltungen – die Bereitschaft, Opfer für die nationale Gemeinschaft zu bringen, darunter die Bereitschaft, im

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Vgl. Eric Hobsbawm, Introduction : Inventing Traditions. In : ders./ Terence Ranger ( Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1–14.

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Rahmen des Militärdienstes das eigene Leben einzusetzen. Die Auswertung dieser Umfragen bis in die 1980er Jahre belegt, dass das historisch gewachsene offenere und staatsbürgerlich definierte Verständnis von Nation, das nicht auf Abstammung, sondern dem Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen beruht, dennoch in der polnischen Gesellschaft überdauert hat. Dies erfolgte ungeachtet dessen, dass die kommunistische Führung vor allem in für sie krisenhaften Zeiten gern die Karte des ethnozentrierten Nationalismus ausspielte, so bei den antijüdischen Aktionen Ende der 1960er Jahre. Auch 1981, bei der Errichtung der Militärdiktatur zur Rettung des angeblich in Gefahr befindlichen Vaterlands, wurde das nationale Motiv stark in den Vordergrund gestellt. Das empirische Material jedenfalls lässt spätestens für die 1970er und 1980er Jahre den Schluss zu, dass die oben erwähnte, während des Zweiten Weltkriegs möglicherweise erfolgte Deformation in der Entwicklung der polnischen Nation sich zu diesem Zeitpunkt im Bewusstsein der Bevölkerung nicht mehr widerspiegelte. Der fünfte und letzte Teil des Sammelbandes ist dem deutsch - polnischen Verhältnis seit dem Fall des »eisernen Vorhangs« 1989 gewidmet ( Beitrag von Tytus Jaskułowski ). Die völlig neue Situation im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen nach dem »Verschwinden« der DDR und die Existenz zahlreicher Probleme ( endgültige Grenzanerkennung, Entschädigungs - und Vermögensfragen ) ließen erwarten, dass Ressentiments im beiderseitigen Verhältnis sehr schnell wieder an Bedeutung zunehmen würden. Entgegen dem vor allem zu Zeiten der PiSRegierung unter Jarosław Kaczyński vorherrschenden medialen Eindruck spielen allerdings antideutsche Ressentiments in der polnischen Bevölkerung aktuell keine Rolle mehr. Vielmehr handelte es sich bei den Versuchen einer Reaktivierung derartigen Gedankenguts durch polnische Politiker – insbesondere aus dem nationalkonservativen Lager – lediglich um Instrumentalisierungen. Seit der Abwahl von Jarosław Kaczyński und dem Amtsantritt von Donald Tusk als Regierungschef 2007 hat sich auch hier die Situation geändert. Zwar nutzt die nun nicht mehr in der Regierung befindliche PiS weiterhin Ressentiments, allerdings in abgeschwächter Form und seit dem Flugzeugunglück von Smolensk 2010 verstärkt mit einer antirussischen Stoßrichtung. Die Beziehungen auf Regierungsebene zwischen Deutschland und Polen können allerdings seitdem als störungsfrei angesehen werden. Auch um den BdV mit seiner Vorsitzenden Erika Steinbach, auf deren wirklich oder vermeintlich antipolnisches Agieren vor allem in der Erinnerungspolitik sowie der Frage von Entschädigungen sich die Nationalkonservativen in Polen seit 1998 immer kapriziert hatten, ist es nach mehreren Niederlagen vor internationalen Gerichten bei Entschädigungsklagen gegen Polen ruhiger geworden. Wichtig ist – und das kann hier zugleich als Fazit gezogen werden –, dass die Menschen beider Länder sich kennen und schätzen lernen sowie zusammenarbeiten wollen. Umfragen aus dem Jahr 2011 bestätigen eine derartige positive

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Entwicklung.11 Hinsichtlich des Einflusses von deutschem und polnischem Nationalismus in unserem Untersuchungszeitraum lässt sich bilanzierend feststellen, dass ungeachtet der Wirkmächtigkeit, die ( ethnische ) Nationalismen in den beiderseitigen Beziehungen bis 1945 und teilweise darüber hinaus, und das bis hin zu mörderischer Gewalt entfalten konnten, diese Nationalismen heute keine Basis mehr für das Regierungshandeln beider Länder darstellen. Geblieben sind vor allem von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, die in Deutschland relativ schwach, in Polen etwas stärker sind, gepflegte Ressentiments gegenüber dem Nachbarn. Mit Recht sagt dazu Tytus Jaskułowski : »Solange aber die Bürgerkontakte stark sind, werden die Ressentiments die Tagespolitik nie entscheidend belasten können.« Danken möchte ich an dieser Stelle dem Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung, das die Durchführung des Workshops und das Erscheinen des Sammelbandes finanziell ermöglichte. Meine Kollegen Mike Schmeitzner und Tytus Jaskułowski vom HAIT standen mir mit Rat und Tat sowohl bei der Vorbereitung des Workshops als auch des hier vorgelegten Sammelbandes zur Seite. Für notwendige Übersetzungsarbeiten danke ich ganz herzlich Karl - Heinz Frackowiak ( Flöha ). Ohne den zeitintensiven Einsatz unseres Publikationsteams unter Leitung von Walter Heidenreich ( HAIT ) wäre der Band allerdings nicht zur Druckreife gelangt. Deshalb gilt mein Dank ihm und Frau Christine Lehmann.

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Siehe Beitrag von Tytus Jaskułowski.

I. Preußens Polen im Fokus des deutschen Reichsnationalismus (1871–1918/19)

Christoph Kleßmann / Johannes Frackowiak Die Polenpolitik des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918

Nachstehender Beitrag zielt auf eine kurze inhaltliche und historiographische tour d’horizon zur preußisch - deutschen Politik im Osten zwischen der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 und dessen mitsamt dem preußischen Königtum erfolgten Untergang, der 1918 – nicht zufällig – mit der Wiederentstehung eines unabhängigen polnischen Staates einherging. Es geht folglich um einen Überblick über das deutsch - polnische Verhältnis während eines Zeitabschnitts, dessen Kenntnis für das Verständnis der auch nach dem Ende des Kaiserreichs fortwirkenden gegenseitigen Ressentiments sowie der gegeneinander gerichteten, teilweise extrem gewaltsamen Politik zwischen Deutschland und Polen im 20. Jahrhundert grundlegend und unabdingbar ist. Dabei sollen nicht die Maßnahmen und Entwicklungsetappen der staatlichen Politik im Einzelnen nachgezeichnet, sondern es soll – unter Rückgriff bis auf die Polendebatte der Frankfurter Paulskirche – eher ein Beitrag zu den zeitgenössischen und historiographischen Positionen in Bezug auf diese Politik angedeutet werden. Dieser fungiert demnach als eine Hinführung zum übergreifenden Thema des deutschen und polnischen Nationalismus von 1871 bis zur Gegenwart, vor allem im Hinblick auf spätere, teilweise erschreckende Kontinuitäten im Umgang Deutscher mit dem benachbarten polnischen Staat und Volk. In den Blick genommen wird im Anschluss auch die polnische Migration aus den preußischen Ostprovinzen in die Industriegebiete Mittel - und Westdeutschlands, die im Hinblick auf das Ausmaß der Radikalisierung der antipolnischen Politik des preußisch - deutschen Staates einen nicht zu unterschätzenden Faktor darstellte.

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1. Preußisch - deutsche Polenpolitik : Zeitgenössische und historiographische Positionen Polen spielte seit den Teilungen durch Preußen, Österreich und Russland Ende des 18. Jahrhunderts zwar immer eine Rolle in den Diskussionen um die Einheit und die Grenzen Deutschlands, aber erst mit der Revolution von 1848, als sich die Möglichkeit eines deutschen Nationalstaats abzeichnete, kam es gewissermaßen zum Schwur. Ähnlich wie die beiden Väter des späteren »wissenschaftlichen Sozialismus« vertraten auch die Repräsentanten der radikalen Demokraten im Frankfurter Vorparlament und in der Paulskirche die alte Tradition der Polenfreundschaft von 1830. Sie forderten, die Teilungen Polens »für ein schmachvolles Unrecht« zu erklären und an der »Wiederherstellung eines freien Polen mitzuwirken«, unterlagen mit diesem Wunsch jedoch in der Schlussabstimmung der Nationalversammlung.1 Diese Traditionslinie verschwand in den folgenden Jahrzehnten zwar nie vollständig und behielt in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung ihre Bedeutung; sehr viel geschichtsmächtiger aber wurde die nationale Linie im Liberalismus, wie sie im Parlament vor allem der Berliner Schriftsteller und Abgeordnete Wilhelm Jordan mit Nachdruck vertrat. Er schlug in seiner Rede, die zu einer der berühmtesten der Paulskirche wurde, eine Tonlage an, die fortan für mehr als 100 Jahre nicht mehr aus der öffentlichen Diskussion verschwand.2 Der »gesunde Volksegoismus«, den Jordan beschwor, bereitete den Boden für eine bestimmte Vorstellung vom »deutschen Osten«. Sie bezog sich zunächst vor allem auf die angeblichen und tatsächlichen kulturellen Leistungen der Deutschen. Später erfand man darauf aufbauend einen »deutschen Volksboden«, dessen Grenzen sich gegebenenfalls immer weiter nach Osten ausdehnen ließen.3 Gregor Thum hat den interessanten und überzeugenden Versuch unternommen, die deutsch - polnische Grenze als »dynamische Ostgrenze« mit der amerikanischen Frontier zu vergleichen. In beiden Fällen war deren Funktion nicht die Begrenzung, sondern die Entgrenzung des Herrschaftsraumes. »In den Debatten der Paulskirche hat sich eine Wahrnehmung vom spezifischen Charakter der deutschen Ostgrenze als einer dynamischen Grenze etabliert, die das deutsche politische Denken ein Jahrhundert lang gefangen hielt. Bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus übte der Mythos von einer deutschen Frontier im Osten erhebliche Wirkungen auf die konservativ - nationalistischen Kreise der deutschen 1 2 3

Vgl. Günter Wollstein, Das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977, S. 165. Zur Rede Jordans vgl. ebd., S. 146–150. Vgl. Christoph Kleßmann / Robert Traba, Kresy und Deutscher Osten. Vom Glauben an die historische Mission – oder Wo liegt Arkadien ? In : Hans Henning Hahn / Robert Traba ( Hg.), Deutsch - Polnische Erinnerungsorte, Band 3 : Parallelen, Paderborn 2012, S. 37–70, hier 56 f.

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Gesellschaft aus, und er vermochte im Gewand der zivilisatorischen Mission gegenüber einem als rückständig markierten Osten immer auch Teile der politischen Linken zu mobilisieren.«4 Zwei herausragende intellektuelle Vertreter der nationalen und kulturnationalistischen Position und der Vorstellung einer so verstandenen »dynamischen Ostgrenze« waren in der zweiten Hälfte und am Ende des 19. Jahrhunderts der Historiker und politische Publizist Heinrich von Treitschke (1834–1896) und der Soziologe Max Weber (1864–1920). Bei aller Differenz in den inhaltlichen Details und trotz des erheblichen Altersunterschieds verband beide das anfänglich entschiedene Plädoyer für eine deutsche Großmachtstellung und entschlossene Methoden der Durchsetzung deutscher Interessen im Osten. Historische Legitimationsfiguren flankierten diese Position. Im »Ostmarkenverein« ( gegründet 1894 in Posen ) und im »Alldeutschen Verband« ( gegründet 1891) fanden wichtige Teile dieses politischen Denkens ihren institutionellen Niederschlag.5 Preußische und polnische Geschichte waren seit den Teilungen auf besondere Weise verflochten. Preußen galt als »Staat ohne Nation« und Polen war seit den Teilungen eine Nation ohne Staat. Gerade das konservative Preußen, dessen Repräsentant Bismarck anfangs war, hatte ohne Zweifel übernationale Elemente in seinem Selbstverständnis, die auch in seiner Polenpolitik eine Rolle spielten. Historiker wie Hans Rothfels haben das besonders nachdrücklich betont.6 Die Reichsgründung 1870/71 wurde hier dann aber zu einem einschneidenden Datum : Aus den polnischen Untertanen des preußischen Königs wurden Bewohner eines Staates, der sich als Nationalstaat begriff und die Polen zur Minderheit machte.7 Die nationalstaatliche Einigung Deutschlands unter Führung Preußens, so Roland Baier, »zog eine vom Nationalstaatsprinzip bestimmte deutsche Polenpolitik nach sich. Preußen als Hegemonialstaat des Deutschen Reiches erfuhr eine Veränderung des Wesenskerns seiner Staatlichkeit. Preußens traditionelle konfessions - und nationalpolitische Toleranz ging ihm als Vormacht des Reiches verloren.« Es wurde zum »Vollstrecker einer nationalstaatlich orientierten Politik«.8 Die Geschichte der in Preußen / Deutschland lebenden Polen ist primär von einer Entwicklung geprägt, die Klaus Zernack als »negative Polenpolitik« 4

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Gregor Thum, Eine deutsche Frontier ? Die deutsch - polnische Grenze und die Ideen von 1848. In : Karoline Gil / Christian Pletzing ( Hg.), Granica. Die deutsch - polnische Grenze vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, München 2010, S. 19–38. Vgl. Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007. Vgl. Hans Rothfels, Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 1960. Vgl. Roland Baier, Der deutsche Osten als soziale Frage. Eine Studie zur preußischen und deutschen Siedlungs - und Polenpolitik in den Ostprovinzen während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Köln 1980, S. 2. Ebd., S. 7.

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bezeichnet hat und die umgekehrt vom Bemühen der Polen gekennzeichnet war, dieser Politik entschlossenen Widerstand entgegenzusetzen und ihrerseits die Nation zu bewahren. Zernack : »Preußen gerierte sich mehr und mehr zum Schrittmacher einer deutschen Einheit, die mit dem Fortbestand der preußischen Monarchie auf die permanente Geteiltheit Polens gegründet sein sollte. Dafür zahlte Preußen mit einem hohen Preis, nämlich mit dem Wecken breiter sozialer Widerstandskräfte gegen das preußisch - deutsche Teilungsregime. Einen kräftigeren Schub hat der moderne polnische Nationalismus kaum je empfangen.« Zernack geht noch weiter und wandelt Friedrich Engels’ Diktum von den Totengräbern der 1848er Revolutionen als ihren gleichzeitigen Testamentsvollstreckern auf Preußen ab : »Dieser Totengräber schaufelte seit 1871 mit seiner Polenpolitik langsam sein eigenes Grab.«9 Diese preußische Polenpolitik ist nach Zernack von der deutschen Gesellschaft und Wissenschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kaum ernsthaft problematisiert worden. Wegen der territorialen Integrität Preußens wurde den Polen bis zum Ersten Weltkrieg der Anspruch auf einen eigenen Staat bestritten. Umgekehrt entstand aus dieser Konstellation in Polen ein durchgehend negatives Preußenbild.10 Dass der Beginn des Bismarck’schen Kulturkampfes und die Verschärfung der preußischen Polenpolitik zeitlich ( in den 1870er Jahren ) zusammenfielen, war kein Zufall. Beides reflektierte diesen Wandel von einer primär etatistischen zu einer nationalstaatlichen Politik, welche die Polen nun noch massiver und konsequenter zu spüren bekamen als zuvor. Dieser Wandel bestimmte zunehmend Bismarcks Polenpolitik. Nicht nur seine beiden berühmten Polenreden vom Januar 1886, sondern auch seine biologistisch und darwinistisch gefärbten internen Äußerungen belegen das. Die Polen verstünden ihre Zugehörigkeit zum preußischen Staat nur »auf vierundzwanzigstündige Kündigung«, erklärte er im Landtag, daher sei der Versuch ein Fehler gewesen, insbesondere den polnischen Adel für die preußische Staatsidee zu gewinnen. Fatal war dann insbesondere das daraus abgeleitete staatliche Notwehrrecht, das die Gleichheit vor dem Gesetz in wichtigen Punkten wie der Siedlungspolitik aufhob. Die Resonanz im parteipolitischen Umfeld mag die Äußerung des Abgeordneten Wilhelm Freiherr von Hammerstein von der Konservativen Partei in der Debatte zum Ansiedlungsgesetz verdeutlichen. Dieser erklärte, er erkenne »vollkommen das Recht Deutschlands an, Polen zu germanisieren«, denn die »nationale Einheitlichkeit« sei unzweifelhaft die wichtigste Basis Deutschlands. Vergeblich wies der Zentrumsabgeordnete Ludwig Windthorst darauf hin, das Gesetz bedeute »die Proklamie9 10

Klaus Zernack, Preußen. In : Andreas Lawaty / Hubert Orłowski ( Hg.), Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik, München 2003, S. 159–165, hier 160. Ebd., S. 161.

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rung eines vollständigen Ausnahmezustandes«, es wurde mit der satten Mehrheit von 214 gegen 120 Stimmen angenommen.11 Das Argument, es handle sich bei diesem Gesetz ( und anderen Initiativen ) um eine defensive Maßnahme, ist als charakteristische Einstellung nicht nur von den konservativen und liberalen Zeitgenossen, sondern auch von Teilen der Historiographie weitgehend übernommen worden.12 Neben den öffentlichen Reden sind Bismarcks rabiate interne Äußerungen zu erwähnen. Hier hat vor allem Hans - Ulrich Wehler frühzeitig gegen ein geglättetes Bismarck - Bild polemisiert. So redete Bismarck gelegentlich über den polnischen Adel als Trichine, die man loswerden müsse. In einem Brief an seine Schwester hieß es 1861 : »Haut doch die Polen, dass sie am Leben verzagen. Ich habe alles Mitgefühl mit ihrer Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes tun, als sie auszurotten; der Wolf kann auch nichts dafür, dass er von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann.«13 Selbst wenn man die Vokabel »ausrotten« in diesem Zusammenhang nicht zum Nennwert nehmen muss, zeigt diese darwinistisch gefärbte Äußerung, dass zu einer nachdrücklichen Betonung und Verklärung des preußischen Etatismus bei Bismarck kein Anlass besteht. Nach Bismarck gab es mit Leo von Caprivi zwischen 1890 und 1894 eine kurze Phase der Entspannung. Diese ist insofern von Interesse, als sich damit eine nicht von vornherein und dauerhaft gegebene völlige Verhärtung und Perspektivlosigkeit diskutieren ließe. Danach schwenkte jedoch die Politik verschärft auf die alte Bismarck’sche Linie ein. Reichskanzler von Bülow erklärte 1904 zur Ostmarkenpolitik : »Wir leben nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern wir leben auf dieser harten Erde, wo es heißt, Hammer oder Amboss sein. Wir können nicht dulden, dass die Wurzel preußischer Kraft verdorrt und dass unser Volkstum überflutet und verdrängt wird.«14 Nicht nur das Bild vom Hammer und Amboss, sondern auch die Metapher von der Überschwemmung durch die ( slawische ) Flut waren charakteristisch für das damalige nationale Milieu. Die weitere Verhärtung im späten Kaiserreich hat dazu geführt, dass es für irgendwelche Kompromisslösungen, wenn es sie denn gab, zu spät wurde, dass die halbherzigen und allzu durchsichtigen Versuche von 1916, ein von Deutschland abhängiges Königreich Polen ins Leben zu rufen, auf wenig Resonanz stießen und dass schließlich die scharfen inneren Spannungen nach 1919 in das

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Zit. nach Baier, Osten, S. 13. So auch von Horst Jablonowski. Siehe unten. Zit. nach Hans - Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 3 : Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, 2. Auflage München 2006, S. 962. Zit. nach Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 127.

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außerordentlich prekäre außenpolitische Verhältnis zwischen Polen und der Weimarer Republik umschlugen. Zur allgemeinen Interpretation der preußisch - deutschen Polenpolitik soll nun noch der Blick auf einige wichtige wissenschaftliche Arbeiten erfolgen : Zunächst auf Martin Broszat als einen der frühesten Bearbeiter des Themas, auf Richard Blanke und William Hagen, die beide auch eingehend die polnische Literatur ausgewertet haben, sowie auf die epischen Großmeister der Geschichte des 19. Jahrhunderts, darunter Thomas Nipperdey, Heinrich August Winkler und Hans - Ulrich Wehler. Von Interesse ist nicht nur die Sichtweise der deutschen (und amerikanischen ) Historiographie, sondern auch der Blickwinkel der polnischen Geschichtswissenschaft. Deshalb soll die Aufmerksamkeit auf die Arbeiten von Lech Trzeciakowski, einem der besten Kenner der preußischen Polenpolitik, sowie von Andrzej Chwalba, der vor wenigen Jahren eine bedeutende Monographie zur Geschichte Polens während der Teilungen verfasst hat, gelenkt werden. Martin Broszat, der 1961 die erste gründliche Untersuchung der NS - Besatzungspolitik in Polen vorlegte, publizierte 1963 einen (1972 in erweiterter Neuauflage erschienenen ) breiten Überblick über 200 Jahre deutscher Polenpolitik. Broszats politischer Impetus wird im Vorwort deutlich : »Die geschichtliche Intonierung des heutigen Verhältnisses zwischen beiden Nationen stammt nicht aus Mittelalter und Barock, sondern aus dem Zeitalter nationaler und nationalistischer Geschichte, das mit den polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts eingeleitet wurde und 1945 in der Zerstörung und Zwangsstillegung deutsch - polnischer Nachbarschaft endete.« Die kritische Darstellung der Beziehungsgeschichte sollte dazu beitragen, den »Bann der Taubheit und Stagnation« zu lösen.15 Das ist durchaus in Grenzen gelungen. Interessant und wohl symptomatisch für die Schwierigkeiten eines solchen Paradigmenwechsels auf diesem Feld ist freilich auch die Reaktion der professionellen Ostforschung. In einer sehr ausführlichen Rezension in der Historischen Zeitschrift formulierte der konservative Bonner Historiker Horst Jablonowski 1964 eine scharfe, zum Teil herablassende Kritik. Sie war zwar in einigen Einzelheiten durchaus berechtigt. Charakteristisch aber ist vor allem, dass sie in eben diesen Einzelheiten stecken blieb und gar nicht bis zu grundsätzlichen Fragen, etwa der nach fatalen Kontinuitäten, vorstieß. Bestimmend blieb bei Jablonowski das alte, schon zeitgenössisch verwandte Abwehrargument : Der preußische Staat musste das Recht haben, »sich mit der Verschiebung der Nationalitätenverhältnisse [...] zuungunsten des Deutschtums [...] auseinanderzusetzen« und war »bis zu einem gewissen Grade von der Notwendigkeit bestimmt [...], die staatliche Position im Osten zu sichern«.16 15 16

Broszat, Zweihundert Jahre, S. 7 f. Horst Jablonowski, Rezension von: Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963. In : HZ, 198 (1964), S. 397–406, hier 401 f.

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Eine radikal andere Perspektive nehmen die beiden amerikanischen Historiker Richard Blanke und William Hagen ein. Es geht Blanke um die »polnische Dimension in der deutschen Geschichte« und er behandelt besonders ausführlich die »Versöhnungsära« unter Caprivi gewissermaßen als potentielle Alternative.17 Hagen, der die gesamte Zeit von der ersten Teilung bis 1914 darstellt, versteht die Ostmarkenpolitik als Teil der sozialimperialistischen Strategie der inneren Herrschaftssicherung und betont explizit die Kontinuitätsperspektive : »Hitler brachte die Ernte der preußischen Nationalitätenpolitik ein.«18 Heinrich August Winklers Thema ist zwar »der lange Weg nach Westen«, aber da er eine »deutsche Geschichte« schreibt, müsste auch deren schwieriger Teil im Osten vorkommen. Das ist jedoch nur sehr eingeschränkt der Fall. Und dies scheint auch symptomatisch für eine bestimmte öffentliche und historiographische Wahrnehmung. So kommt z. B. Polen im Abschnitt über die Ära Bismarck in Manfred Görtemakers deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert überhaupt nicht vor.19 Auch in Lothar Galls großer Bismarck - Biographie spielt die Polenpolitik eine ziemlich marginale Rolle.20 Eineinhalb Seiten widmet Winkler der damaligen Zielsetzung der Förderung des Deutschtums im Osten des Reiches und der Germanisierung des Bodens als nationaler Aufgabe. In seinem Urteil allerdings ist er deutlich und zitiert zustimmend Wehlers Kritik hinsichtlich der fatalen und konfliktverschärfenden Wirkungen des Geschäftssprachen - und des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1876/77. Winkler betont auch die rassistische Beimischung im »Volkstumskampf« von Germanen und Slawen und sieht hinsichtlich der rassischen Vorurteile im deutsch - polnischen Verhältnis Parallelen zum Antisemitismus.21 Hans - Ulrich Wehler behandelt wie Winkler die Polen im Zusammenhang der Nationalitätenpolitik zusammen mit Elsässern und Dänen, geht aber ausführlicher und dezidiert kritisch mit der preußisch - deutschen Polenpolitik ins Gericht. Die Ausweisung von rund 48 000 Polen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit 1885/86 ist für ihn der Auftakt einer neuen »Ostmarkenpolitik«, die den Kampf um den Boden in den Mittelpunkt rückte. Dass die Ansiedlungskommission de facto als Instrument einer gewaltigen Entschuldung des deutschen Großgrundbesitzes funktionierte, ist schon zeitgenössisch konstatiert und als »lukrativer Patriotismus« verspottet worden.

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Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire (1871–1900), New York 1981. William Hagen, Germans, Poles and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, 1772– 1914, Chicago 1980. Manfred Görtemaker, Deutschland im 19. Jahrhundert. Entwicklungslinien, 3. Auflage Opladen 1989. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin ( West ) 1980. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Band 1 : Deutsche Geschichte 1806– 1933, München 2000, S. 252 f.

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Härter allerdings traf die Polen – und das galt dann auch für die Polonia in Mittel - und Westdeutschland sowie in Berlin – das Sprachenrecht, das 1908 mit dem Sprachenparagraphen des Reichsvereinsgesetzes Grundrechte von der Nationalitätenstatistik abhängig machte, die ihrerseits hochgradig politisiert war. Gleichwohl sorgte, das betont auch Wehler, das Oberverwaltungsgericht immer noch für Urteile, die sich an der Sicherung der Grundrechte orientierten. Wehlers Fazit schränkt dann aber ein : »Dennoch rückt die Polenpolitik im späten Kaiserreich nur dann in eine angemessene historische Perspektive, wenn man nicht allein jene restlichen rechtsstaatlichen Sicherungen hervorhebt, wie das auf deutscher Seite immer wieder geschehen ist. Vielmehr muss man sich das ganze Ausmaß der antipolnischen Germanisierungspolitik vergegenwärtigen, dessen der radikalisierte Reichsnationalismus im Sprachen - , Schul - und Agrarrecht, im Gerichtswesen und Verkehr mit der Verwaltung fähig war. Nur dann erfasst man die zahllosen Schikanen und zunehmenden Härten, die unverhüllte Erbitterung und ungemilderte Animosität, die den Nationalitätenkampf vor 1914 kennzeichneten und der Folgezeit ihr böses Erbe mitgaben.«22 Thomas Nipperdey stellt sehr ausführlich, aber auch sehr ausgewogen und abwägend die Motive, Erscheinungsformen, Hintergründe und Folgen der Polenpolitik dar. Er spitzt seine Darstellung auf die Frage nach der Unvermeidlichkeit oder Vermeidbarkeit des nationalen Konflikts zu. Seine Antwort : »Die Konfrontationspolitik – Repression und Germanisierung – war nicht unvermeidlich. Die Polen waren keine deutschen Patrioten, aber deshalb waren sie keine Revolutionäre, die Preußen oder das Reich sprengen wollten. Ein polnisches Staatswesen war nur von einer gänzlichen Veränderung der europäischen Verhältnisse zu erhoffen – die war unabsehbar.23 Was sie wollten, war zuerst : Rechtsgleichheit und kulturelle Autonomie. Das hatte auch Befürworter unter den Deutschen [...]. Und auf der anderen Seite : Die chauvinistische Intensivierung des polnischen Nationalismus, die Verdrängung der konservativen, potentiellen Ausgleichspolitiker, hätte auch eine andere polenfreundliche Schul - und Bodenpolitik auf die Dauer nicht verhindern können – das war eine strukturelle Tendenz der gesellschaftlich - politischen Entwicklung. Freilich, Geschwindigkeit und Intensität waren nicht vorbestimmt.« Die Unlösbarkeit des Konflikts zeigen auch die Beispiele Österreich und Irland. Insofern lautet Nipperdeys etwas salomonisches, aber diskussionswürdiges Fazit : »Auch mit schier unlösbaren ( und insofern tragischen ) Nationalkonflikten konnte man anders umgehen.«24

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Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Band 3, S. 1070 f., hier 1071. Hier gibt es deutliche Parallelen zur deutschen Wiedervereinigung, an die auch nur nachträglich so viele geglaubt haben wollen. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 2 : Machtstaat vor der Demokratie, 2. Auflage München 1993, S. 278 f.

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Peter Walkenhorst schließlich betont in seiner Untersuchung zum radikalen Nationalismus im Deutschen Kaiserreich, dass die Vorstellungen der radikalen Nationalisten – u. a. des Deutschen Ostmarkenvereins und des Alldeutschen Verbandes – zur Lösung der »polnischen Frage« in der Kontinuität der Bismarck’schen Polenpolitik standen, deren zentrale Prinzipien und Methoden sie übernahmen. Da auch die preußische Regierung nach dem Zwischenspiel der »Ära Caprivi« zu dieser Politik zurückkehrte, bestand eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Regierung und »nationalen Verbänden«. Walkenhorst übernimmt Hans Mommsens in einem anderen Zusammenhang geprägten Begriff der »kumulativen Radikalisierung« und spricht von der »Dynamik einer fortschreitenden Radikalisierung«. Denn die immer massivere Diskriminierung der Polen in vielen Bereichen kam dem Eingeständnis gleich, dass die bis dato angewandten Methoden nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatten. Insofern stand man vor der Alternative, das Scheitern einzugestehen oder radikalere Methoden anzuwenden. In der Verschiebung des Feindbildes von politisch sozialen zu ethnisch - kulturellen Kategorien sieht Walkenhorst eine entscheidende Voraussetzung für die allmähliche »Akzeptanz und Ausbreitung radikalnationalistischer Deutungsmuster«.25 In der polnischen Historiographie spielt die preußische Polenpolitik natürlich ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle. Der Posener Historiker Lech Trzeciakowski veröffentlichte seit den 1960er Jahren eine Reihe von Arbeiten zum preußisch - polnischen Verhältnis, deren wichtigste hier kurz erwähnt werden sollen. So wandte er sich bereits 1970 in monographischer Form dem Thema Kulturkampf zu und legte wenig später einen Band zur Geschichte des preußischen Teilungsgebietes zwischen 1850 und 1918 vor. Ganz der preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts widmete er sich in seiner 2009 erschienenen und damit höchst aktuellen Bismarck - Biographie, in der die Polenpolitik des »eisernen Kanzlers« verständlicherweise nur einen Teilaspekt, wenn auch einen wichtigen, darstellt.26 Trzeciakowski expliziert – anknüpfend an Friedrich Meinecke – darin die Fragestellung nach einer sich in den Gestalten Bismarcks, Wilhelms II. und Adolf Hitlers personifizierenden Kontinuitätslinie in der deutschen Geschichte. Bei der Antwort darauf unterscheidet er zwei Aspekte : Zum einen fände sich schwerlich eine in der Persönlichkeit begründete Verbindung zwischen der Politik Bismarcks und jener Hitlers. Andererseits griffen während Bismarcks Zeit »solche Erscheinungen Platz wie der übertriebene Militarismus, Nationalismus, die Ver-

25 26

Walkenhorst, Nation, S. 263. Vgl. Lech Trzeciakowski, Kulturkampf w zaborze Pruskim, Poznań 1970 ( englisch : The Kulturkampf in Prussian Poland, New York 1990); ders., Pod pruskim zaborem 1850–1918, Warszawa 1973; ders., Otto von Bismarck, Wrocław 2009.

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folgung nationaler Minderheiten, Xenophobie, aggressive Außenpolitik, die den Nährboden für die nationalsozialistische Ideologie bilden würden«.27 Auch wenn Trzeciakowski Bismarcks Kulturkampf nicht primär – wie von Bismarck post festum selbst behauptet – als »überwiegend bestimmt durch seine polnische Seite«28 ansieht, sondern ihn als einen Bestandteil des Kampfes gegen die partikularistischen Feinde des neugeschaffenen Deutschen Reiches einordnet, auch wenn er die Radikalisierung von Bismarcks Polenpolitik und die verstärkte Germanisierung der besetzten Gebiete ab 1885/86 vorrangig durch außenpolitische Erwägungen – durch die Furcht vor einem Krieg mit Russland, der sich zunächst im preußischen Teilungsgebiet Polens abspielen würde, sowie im Hinblick auf die Verbesserung der Bündnisfähigkeit mit Österreich, wenn dieses die »polnische Karte« spiele – motiviert sieht, attestiert er Bismarck, dass »seine Polenfeindschaft krankhafte Ausmaße anzunehmen begann« (»jego antypolskość przybierać zaczęła chorobliwe rozmiary«).29 Lech Trzeciakowski konstatiert im Hinblick auf die Polenpolitik Bismarcks – im Übrigen auch auf jene seiner Nachfolger mit Ausnahme Caprivis, die die Lösung der polnischen Frage in einer Eskalation der Politik Bismarcks gesehen hätten – einen Misserfolg, vor allem auf dem Feld der Ansiedlungs - und Kolonisationspolitik im Teilungsgebiet. Zur Einschätzung von Bismarcks Bedeutung übernimmt er einen – durchaus polnisch - nationalistischen Geist atmenden – Vergleich des Historikers Józef Feldman, den dieser in seinem 1938 erstmals erschienenen Werk »Bismarck und Polen« verwendet hatte. Dort wird Bismarck mit dem Mephisto aus Goethes »Faust« gleichgesetzt, als »die Kraft, die Böses will und Gutes schafft«.30 Das »Gute« war in dieser Sicht der sich aufgrund der preußischen Pressionen vollziehende Aufschwung der polnischen Nationalbewegung, die sich erfolgreich gegen jedwede Germanisierungsbestrebungen zur Wehr setzte. Andrzej Chwalba unternimmt in seiner eher als akademisches Handbuch zu bezeichnenden Monographie den – gelungenen – Versuch, eine umfassende Geschichte Polens während der Teilungszeit zu schreiben. Neben den politischen Entwicklungen richtet er den Fokus vor allem auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung der besetzten polnischen Gebiete unter Einbeziehung von Kultur und Mentalitäten. Die Schilderung der Situation im preußischen Teilungsgebiet

27 28 29 30

Vgl. Trzeciakowski, Bismarck, S. 6 f., 325, hier 325. Otto Fürst von Bismarck, Die gesammelten Werke ( Friedrichsruher Ausgabe ), Band 15, Berlin 1932, S. 333. Vgl. Trzeciakowski, Bismarck, S. 223 f., 256–262, hier 258. Vgl. ebd., S. 261 f. Die Monographie von Józef Feldman, Bismarck a Polska, Katowice 1938, erlebte in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1980 drei Neuauflagen. Wegen seiner kritischen Sicht auf Bismarck wurden Exemplare des Buchs nach der Besetzung Polens durch die Nationalsozialisten 1939 von diesen nach Möglichkeit vernichtet.

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und der Politik des preußischen Staates gegenüber den Bewohnern seiner östlichen Provinzen stellt dabei nur einen Aspekt dar, eröffnet aber in der Gegenüberstellung zu den von Österreich und Russland besetzten Territorien reizvolle vergleichende Perspektiven. Ausführlicher widmet sich der Autor der »Ära Bismarck«, der »Ära Caprivi« sowie der darauf folgenden Periode der Verschärfung des »polnisch - deutschen Krieges um Sprache und Land«31. Die Radikalisierung der preußischen Polenpolitik Mitte der 1880er Jahre interpretiert er aus dem Gegensatz zwischen den preußischen Konservativen, deren Exponent Bismarck war, und den an Einfluss gewinnenden Nationalisten. Standen für Erstere die Begriffe »preußisch« und »Staat« im Mittelpunkt des Denkens, erwarteten sie von allen fremdsprachigen Bewohnern Preußens dessen Anerkennung als ihre Heimat, forderten die Nationalisten – die Begriffe »deutsch« und »Nation« betonend – die Deckungsgleichheit der Grenzen Deutschlands mit dem Territorium, das Deutsche bewohnten. Die polnischsprachigen Preußen Bismarcks sollten Deutsche der Ostprovinzen des Reichs werden. Bismarcks im Zuge der Ausweisungen von 1885 erfolgter Ausspruch, wonach »wir [...] die fremden Polen loswerden wollen, weil wir von ihnen genug haben«, sei »als Beleg dafür gelesen worden, dass dieser dem nationalistischen Virus erlegen sei«.32 Laut Chwalba ist die Bewertung der auf Bismarcks Kanzlerschaft folgenden »Ära Caprivi« (1890–1894) mit ihrer Versöhnungspolitik zwischen polnischen Konservativen und der Reichsregierung unter den Historikern umstritten. In einem jedoch seien sie sich einig : »Die mehrjährige Pause in der Geschichte der polnisch - deutschen Konfrontation erlaubte der schwächeren Seite die Stärkung der Kräfte.« So müsse »aus der Perspektive des Jahres 1914 [...] eingeschätzt werden, dass das Ergebnis des polnisch - deutschen Ringens ohne die Ära Caprivi für die Polen weniger vorteilhaft gewesen wäre«.33 Obwohl von Caprivis Entlassung bis 1914 »auf beiden Seiten der nationalen Barrikade«, und zwar »in der Presse, Kirche, im häuslichen Bereich, in polnischen und deutschen Vereinigungen [...] die Idee der Konfrontation dominierte«, gesteht der Autor auch zu, »dass nicht alle Deutschen die Hakatisten förderten«. Als Beleg führt er die Reichstagswahlen von 1912 an, bei denen die den Polen wohlwollend gegenüberstehenden Parteien in der Provinz Posen 23,7 Prozent und in Westpreußen 32,4 Prozent der Stimmen erhalten hätten. Analog wären auch nicht alle Polen Gegner der Deutschen gewesen, was Chwalba zu dem Fazit führt, wonach »unter den Bewohnern der polnischen Provinzen [ Preußens ], Polen und Deutschen, eine Minderheit lebte, die den Zank und Streit mit Unwillen betrachtete«.34

31 32 33 34

Andrzej Chwalba, Historia Polski 1795–1918, Kraków 2000, S. 459. Ebd., S. 456. Ebd., S. 457. Ebd., S. 458.

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2. Polnische Saisonarbeiter und Erwerbsmigranten Zum Themenfeld der preußisch - deutschen Polenpolitik gehören auch die ausländischen Saisonarbeiter – vor allem in der ostelbischen Landwirtschaft – sowie die polnischen Erwerbsmigranten im Ruhrgebiet, in anderen Industriegebieten und im Dienstleistungssektor Berlins. Diese bildeten das zweite »Standbein« der von den preußischen Behörden ( fehl )wahrgenommenen gewissermaßen doppelten »polnischen Gefahr im Osten und Westen«35. Schließlich trugen die – im Ruhrgebiet allerdings nur relativen – Wahlerfolge polnischer Reichstagskandidaten im preußischen Teilungsgebiet Polens wie auch in den Zuwanderungsgebieten Westdeutschlands ab 1903 mit zur Verschärfung der antipolnischen Politik der Kabinette von Bülow und von Bethmann Hollweg bei. Wie Krystyna Murzynowska in der polnischen Pionierstudie zu den Ruhrpolen darlegt, hatten »diese beängstigenden Erfolge [...] gewiss auch zur beschleunigten Verabschiedung der Gesetze von 1908 und 1912 beigetragen«.36 Diese Gesetze waren das die Polonia im Westen Deutschlands besonders betreffende Reichsvereinsgesetz, auch »Maulkorbgesetz« genannt, mit seinem die Polen diskriminierenden Sprachenparagraphen sowie ein gegen das Gleichheitspostulat der preußischen Verfassung verstoßendes neues Ansiedlungsgesetz, das die Enteignung von in polnischem Besitz befindlichem Boden in den preußischen Ostprovinzen ermöglichte. Dieses Gesetz, das die Rechtsstaatlichkeit gegenüber einer bestimmten Bevölkerungsgruppe deutlich einschränkte, wurde 1912 in einigen Fällen tatsächlich angewandt. Beide Gesetze sind zumindest als geistige Vorläufer und Meilensteine für die ab 1939 einsetzende, die preußische Unrechtspraxis nochmals um ein Vielfaches übertreffende totale Entrechtung der polnischen Bevölkerung in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten Polens anzusehen.37 Viele einschlägige neuere oder nun auch schon ältere Arbeiten zu den Saisonarbeitern und Erwerbswanderern wurden angeregt oder stammen von Klaus Bade; dieser wies in seiner 1979 eingereichten Habilitationsschrift – in der damaligen Bundesrepublik als erster – auf die zeitgleiche Dynamik von Auswanderung aus Deutschland, Binnenwanderung innerhalb Deutschlands und kontinentaler Zuwanderung nach Deutschland hin, wobei auch die Wanderung preußischer Polen als Teil der deutschen Fernwanderung aus den preußischen Nordostprovinzen nach Westen eine Rolle spielte.38 Auf Bades Erkenntnissen bauten auch 35

36 37 38

Krystyna Murzynowska, Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880–1914, Dortmund 1979, S. 220 ( polnisches Original : Polskie wychodźstwo zarobkowe w Zagłębiu Ruhry w latach 1880–1914, Wrocław 1972). Ebd. Zum Umgang der Nationalsozialisten mit den Polen siehe die Beiträge von Markus Roth und Johannes Frackowiak in diesem Band. Vgl. Klaus J. Bade, Land oder Arbeit? Transnationale und interne Migration im deutschen Nordosten vor dem Ersten Weltkrieg ( http ://www.imis.uni - osnabrueck.de / BadeHabil.pdf [ Online-

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andere Studien wie beispielsweise jene von Ulrich Herbert zur Ausländerpolitik in Deutschland auf.39 Sowohl Bade als auch Herbert thematisierten die Beschäftigung ausländischer Saisonarbeiter polnischer Muttersprache im wilhelminischen Kaiserreich. Bei der Diskussion der Saisonarbeit ist die enge Verflechtung mit der »hohen Politik« unmittelbar erkennbar. Ökonomische und politische Interessen kollidierten. Es handelte sich überwiegend um ausländische Arbeitskräfte, darunter in der Mehrzahl Polen aus Galizien und Russland. Der Großgrundbesitz wollte sie und brauchte sie. Die politischen Sorgen vor einer Stärkung des Polentums durch Einwanderung und Ansässigkeit sollten durch die nur befristete Arbeitserlaubnis und den Rückkehrzwang behoben werden. Auch das Verbot, ausländische polnische Arbeitskräfte im Westen für den Bergbau oder für die Landwirtschaft zu rekrutieren, war letztlich politisch von dieser gleichen Befürchtung motiviert.40 Etwas anders stellte sich die Lage der preußischen Polen im Ruhrgebiet, in Hamburg, München, Berlin oder auch – bis vor kurzem als Wanderungsziel für polnische Erwerbswanderer unbekannt – im mitteldeutschen Bitterfeld dar.41 Einerseits boten ihnen die Staatsbürgerrechte Möglichkeiten zur Organisation in einer Vielzahl von Vereinen, zur Schaffung polnischer Zeitungen, zur Aufstellung polnischer Kandidaten für Kommunalvertretungen usf. Andererseits hatten die Verschärfung der Politik in den »Ostmarken« und der wachsende Widerstand

39 40

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Version Osnabrück 2005 der unveröffentlichten Habilitationsschrift, Erlangen-Nürnberg 1979]). Eine Zusammenstellung von Schriften Bades in : ders., Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004. Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001. Vgl. Klaus J. Bade, »Kulturkampf« auf dem Arbeitsmarkt. Bismarcks Polenpolitik 1885–1890. In: Otto Pflanze ( Hg.), Innenpolitische Probleme des Bismarckreichs, München 1983, S. 121– 142 ( neu abgedruckt in Bade, Migrationsforschung, S. 159–183); ders., »Preußengänger« und »Abwehrpolitik«. Ausländerbeschäftigung, Ausländerpolitik und Ausländerkontrolle auf dem Arbeitsmarkt in Preußen vor dem Ersten Weltkrieg. In : Archiv für Sozialgeschichte, 24 (1984), S. 91–162 ( neu abgedruckt in Bade, Migrationsforschung, S. 215–302); ders., »Billig und willig« – die »ausländischen Wanderarbeiter« im kaiserlichen Deutschland. In : ders. ( Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1993, S. 311–324; Herbert, Geschichte, S. 14–44. Dazu stellvertretend für eine zunehmende Zahl von Arbeiten die Pionierstudie von Christoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978; Elke Hauschildt, Polnische Arbeitsmigranten in Wilhelmsburg bei Hamburg während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Dortmund 1986; Oliver Steinert, »Berlin – Polnischer Bahnhof !« Die Berliner Polen. Eine Untersuchung zum Verhältnis von nationaler Selbstbehauptung und sozialem Integrationsbedürfnis einer fremdsprachigen Minderheit in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918), Hamburg 2002; Johannes Frackowiak, Wanderer im nationalen Niemandsland. Polnische Ethnizität in Mitteldeutschland von 1880 bis zur Gegenwart, Paderborn 2011.

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dagegen unmittelbare Rückwirkungen auf die Situation im Westen. Der »Polenstaat im Westen« war zwar primär eine fixe Vorstellung der Polizeiorgane. Aber aus der Mischung aus Unterdrückung, Marginalisierung und Germanisierungsversuchen entstand schon eine nationale Subkultur, die zumindest für viele Jahre eine Art polnische Parallelgesellschaft bildete. Christoph Kleßmann äußert sich hinsichtlich des Erfolgs des von administrativen Maßnahmen seitens der preußischen Behörden ausgehenden Anpassungsdrucks in seinem Standardwerk zu den Ruhrpolen zumindest zweifelnd : »Im Grunde lassen sich alle Diskriminierungs - und Unterdrückungstendenzen der Polenpolitik im Ruhrgebiet [...] unter diesem Aspekt des von ihnen ausgehenden Drucks zu ›Wohlverhalten‹ betrachten, da a priori nicht zu entscheiden ist, ob dieser von den deutschen Behörden gewünschte Effekt wenigstens teilweise erreicht wurde oder aber ob überwiegend das genaue Gegenteil eintrat.«42 War die Gesamtzahl der Polen im Ruhrgebiet sicherlich zu hoch, um sie seitens der Behörden vollständig »disziplinieren« zu können, gelang dies in kleineren Polenkolonien. Das beschreibt Johannes Frackowiak in seiner Studie »Wanderer im nationalen Niemandsland« am Beispiel der kleinen polnischen Herkunftsgemeinschaft im mitteldeutschen Braunkohlenrevier um Bitterfeld. Diese zählte kurz nach 1900 nur wenige Tausend Köpfe, wenngleich nach der Volkszählung von 1905 in der Stadt Bitterfeld und den unmittelbar angrenzenden vier Landgemeinden immerhin etwa 10 Prozent der Einwohner polnischer Muttersprache waren. Die dortigen polnischen Vereine hatten 1903/04 einen Konflikt mit dem deutschen Pfarrvikar der 1894 nur für polnische Katholiken gebauten und praktisch ausschließlich von solchen besuchten Bitterfelder katholischen Kirche vom Zaun gebrochen. Grund dafür war dessen – wohl tatsächlich bestehende – Neigung zur Germanisierung seiner Pfarrgläubigen und Nichtachtung ihrer eigenen Sitten und Gebräuche. Nachdem diese Vorgänge hohe Wellen in der nationalpolnischen Presse geschlagen hatten, entschlossen sich der Merseburger Regierungspräsident und der Oberpräsident der Provinz Sachsen, gemeinsam mit den »interessierten Kreisen« der deutschen Mehrheitsbevölkerung, insbesondere den Unternehmern, Konsequenzen zu ziehen, um »einer weiteren Slavisierung [...] der Bitterfelder Gegend entgegenzuarbeiten«43. Letztere Formulierung findet sich in einem Bericht an den preußischen Innenminister. Die Besitzer der Braunkohlengruben, in denen der größte Teil der Zuwanderer tätig waren, erstellten im Zusammenspiel mit den Behörden »Schwarze Listen« von in nationalpolnischem Sinne tätigen Arbeitern, denen daraufhin fristlos gekündigt wurde und die in der Provinz Sachsen keine Beschäftigung mehr erhalten sollten. Dies führte zur Abwanderung einiger Hundert polnischer Arbeiter und ihrer Familien nach Westfa42 43

Kleßmann, Bergarbeiter, S. 63. Zit. nach Frackowiak, Wanderer, S. 74.

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len bzw. ins Königreich Sachsen und damit zu einem starken Aderlass der polnischen Herkunftsgemeinschaft. Die Folgen für die Polenbewegung in Bitterfeld und in der Provinz Sachsen insgesamt erwiesen sich als dramatisch : Die in nationalpolnischem Sinne besonders aktiven Vereine mussten sich mangels Mitgliedern auflösen, die verbleibenden polnisch - katholischen Vereine zogen sich wieder ins Religiöse zurück. Die Provinz Sachsen war nach der Auflösung der vier nationalpolnischen Sokół - Vereine in und um Bitterfeld für einige Jahre »Sokół frei«, was in keiner anderen preußischen Provinz gelungen war. Ein besserer Beleg für die preußische Paranoia in Bezug auf die nationalpolnische Bewegung lässt sich wohl kaum finden, vor allem wenn man die geringe Anzahl der aktiven Vereinsmitglieder im Raum Bitterfeld – das waren zu Jahresbeginn 1904 in insgesamt sieben Vereinen lediglich 252 Personen ( !) – in Rechnung stellt. Zweifelsohne erzielten die Behörden infolge der Repressionen kurzfristig einen Erfolg. Dieser muss allerdings wieder relativiert werden, denn langfristig stabilisierte sich die – freilich einen Assimilationsprozess an die deutsche Mehrheitsgesellschaft durchlaufende – polnische Gemeinschaft im Raum Bitterfeld, wenn auch vorerst nicht mehr mit einer derartigen medialen Wirkung wie 1904. Erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 meldete sich diese Gruppe – vor allem deren zweite Generation – infolge von Schikanen, denen sie seitens der lokalen Funktionsträger des neuen Regimes ausgesetzt waren, erneut lautstark zu Wort. Letzteres ermöglichte der Status der Polen als einer nationalen Minderheit in Deutschland, den auch die Nationalsozialisten bis zu ihrem Überfall auf Polen und der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs zumindest offiziell nicht antasteten. Ein wichtiger Grund für die bis 1939 immerhin noch bestehenden Freiräume der polnischen Minderheit war der im Januar 1934 zwischen dem »Dritten Reich« und Polen geschlossene Nichtangriffspakt. Die preußischen Behörden hatten demnach 1904/05 im mitteldeutschen Raum das Wohlverhalten der polnischen Zuwanderer erzwungen, ohne das Ende dieser Gruppe als einer ethno - kulturellen Gemeinschaft herbeizuführen. Dies tat 1939/40 erst das NS - Regime, das nach dem Angriff auf den polnischen Staat die polnischen Organisationen und Vereine im Deutschen Reich auflöste.44 Darin zeigte sich sehr deutlich der Unterschied zwischen einer zwar in deutsch - nationalem Sinne zunehmend radikalisierten preußischen Polenpolitik, die aber immer noch großenteils rechtsstaatlich agierte bzw. agieren musste, und der »völkischen« Politik des Nationalsozialismus, die das Fundament von Verfassung und Rechtsstaat längst verlassen hatte. Die Thematik der polnischen Zuwanderung nach Deutschland hat kaum an Aktualität verloren, seit die ersten Studien dazu erschienen. Das Spektrum der mit dem Thema Migration verbundenen Aspekte und Zugänge ist jedoch viel 44

Ausführlich Frackowiak, Wanderer, besonders S. 58–78, 143–170.

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breiter geworden. Der 2011 bei fibre in Osnabrück erschienene, von Basil Kerski und Krzysztof Ruchniewicz herausgegebene Sammelband »Polnische Einwanderung« mag als Beleg dafür gelten.45 Multikulti, Identitätsbildung, religiöse Radikalisierung, Alterität, Distanz, aber auch Glaube an weitreichende Steuerungsmöglichkeiten, Vorstellung von Arbeitskräften als Puffer auf dem Arbeitsmarkt, Ängste vor Steuerungsverlust des Staates und Anstieg von Kriminalität und Konflikten durch Zuwanderung sind einige Begriffe und Schlagwörter, die in diesem Zusammenhang die oft stark emotionalisierten Diskussionen bestimmen. Jochen Oltmer konstatiert in seinem Beitrag im Zusammenhang der Diskussion um die Sarrazin - Thesen, dass die Debatte immer wieder um sich selbst kreist. »Grundlegende Muster, Formen und Folgen von Migration und Integration werden politisch und publizistisch immer wieder neu entdeckt, ohne dass tatsächlich neue Argumente vorgebracht werden.«46 Das ist implizit ein Plädoyer dafür, auf historische Perspektiven und Analysen zurückzugreifen, auch wenn sich daraus keine einfachen Lehren für politische Probleme ziehen lassen.

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Basil Kerski / Krzysztof Ruchniewicz ( Hg.), Polnische Einwanderung. Zur Geschichte und Gegenwart der Polen in Deutschland, Osnabrück 2011. Jochen Oltmer, Wanderungsraum Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In : Kerski / Ruchniewicz, Polnische Einwanderung, S. 13–31, hier 29.

Uwe Müller Wirtschaftliche Maßnahmen der Polenpolitik in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs

1. Einführung Die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts ist stark vom Streben nationaler Bewegungen nach einem eigenen Nationalstaat geprägt worden. Insbesondere im östlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa, wo viele Gebiete mit ethnischen Gemengelagen existierten, erwiesen sich jedoch multinationale Imperien bis zum Ersten Weltkrieg als durchaus überlebensfähige Territorialisierungsregimes. Während die Habsburgermonarchie, insbesondere die österreichische Reichshälfte, zunehmend versuchte, einen Ausgleich nationaler Interessen herzustellen, und im zaristischen Russland die autokratischen Herrschaftsstrukturen über lange Zeit bedrückender waren als die fast ausschließlich auf die Beamtenschaft angewiesene Russifizierungspolitik, war die polnische Nationalbewegung im preußischen Teilungsgebiet mit einem in Staat und Gesellschaft verankerten und zunehmenden deutschen Nationalismus konfrontiert. Gleichzeitig existierten in Deutschland – zumindest auf Reichsebene – ein vergleichsweise demokratisches Wahlrecht und rechtsstaatliche Traditionen, während Parlamentarismus und zivilgesellschaftliche Strukturen an Einfluss gewannen. Den sogenannten polnischen Provinzen Preußens, die ab 1871 Teil des sich als homogener Nationalstaat verstehenden Deutschen Reiches waren, aber gleichzeitig eine typisch ostmitteleuropäische Nationalitätenstruktur aufwiesen, kommt folglich eine besondere historische Stellung zu.1 Als »polnische Provinzen« sind die Territorien bezeichnet worden, die nach den mehrmaligen Teilungen der polnischen Adelsrepublik im 18. Jahrhundert und dem Wiener Kongress von 1815 Preußen zugeschlagen worden sind. Dort lebten überwiegend ethnische Polen. Insbesondere in den Städten hatte es allerdings schon vor den Teilungen deutschsprachige Bewohner gegeben, deren 1

Vgl. Rudolf Jaworski, Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (1871–1914), Göttingen 1986, S. 24–26.

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Uwe Müller

Anteil an der Gesamtbevölkerung durch Zuwanderungen aus den anderen preußischen Provinzen sowie weiteren deutschen Ländern bis zur Reichsgründung zunahm. In Teilen West - und Ostpreußens beheimatete Kaschuben und Ermländer entwickelten zumeist erst um 1900 eine nationale, polnische oder deutsche Identität. Dies gilt auch für die überwiegende Mehrheit der im Regierungsbezirk Oppeln – also in einem Gebiet, das schon seit Jahrhunderten zu keinem polnischen Staat mehr gehört hatte – lebenden Schlesier, die einen polnischen Dialekt sprachen und seit den 1890er Jahren sowohl von der polnischen Nationalbewegung als auch von der preußischen Polenpolitik erfasst wurden.2 Die Polenpolitik der preußischen Regierung zielte also zunächst ausschließlich und auch später vorrangig auf die Provinz Posen sowie die bis 1772/95 zur polnischen Adelsrepublik gehörenden Teile der Provinzen West - und Ostpreußen. Viele Maßnahmen wurden jedoch seit der Jahrhundertwende auf alle als »Polen« definierten Einwohner, also etwa auch auf polnische Oberschlesier und »Ruhrpolen« ausgedehnt. Die Provinzen Posen und Westpreußen sind in der preußischen Öffentlichkeit nach der Reichsgründung immer weniger als »polnische Provinzen« und immer häufiger als Kerngebiet der »bedrohten deutschen Ostmark« bezeichnet worden, was bereits auf Ausgangspunkt und Ziel der im Folgenden zu behandelnden deutschen »Polenpolitik« hinweist. Der 1871 gegründete deutsche Nationalstaat bemühte sich sehr intensiv um eine nationale Homogenisierung in seinen östlichen Grenzgebieten.3 Dies erfolgte zunächst auf den Feldern der Bildungs - , Sprachen - und Kulturpolitik sowie – aufgrund der konfessionellen Gegensätze – auch der Kirchenpolitik, weil vor allem in diesen Bereichen nationale Identität ausgebildet wird.4 Seit Mitte der 1880er Jahre setzte der deutsche bzw. preußische Staat im Rahmen der Polenpolitik zusätzlich wirtschaftliche Mittel ein. Damit wurde nicht nur eine Erweiterung des polenpolitischen Instrumentariums, sondern auch eine grundlegende Veränderung des Ziels vorgenommen, was von der durchaus umfangreichen Literatur zur preußisch - deutschen Polenpolitik bislang

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Vgl. exemplarisch Andreas Kossert, Preußen, Deutsche oder Polen ? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870–1956, Wiesbaden 2001; Ralph Schattkowsky, Identitätenwandel und nationale Mobilisierung in Westpreußen und Galizien. Ein Vergleich. In: ders./ Michael G. Müller ( Hg.), Identitätenwandel und nationale Mobilisierung in Regionen ethnischer Diversität. Ein regionaler Vergleich zwischen Westpreußen und Galizien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, Marburg 2004, S. 29–62; Philipp Ther / Kai Struve ( Hg.), Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit, Marburg 2002. Vgl. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963, S. 96 f.; Enno Meyer, Bismarcks Polenpolitik. In : Paul Leidinger ( Hg.), Deutsche und Polen im Kaiserreich und in der Industrialisierung. Zu den Empfehlungen 12 und 13 der Deutsch - Polnischen Schulbuchkommission und ihrer Umsetzung im Unterricht der Schulen, Paderborn 1982, S. 17 f. Vgl. Broszat, Zweihundert Jahre, S. 101–105; Jörg K. Hoensch, Die polnische Komponente in Bismarcks Kulturkampf. In : Leidinger, Deutsche und Polen, S. 35–46.

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kaum beachtet worden ist.5 Während es bei der Bildungs - , Sprachen - und Kulturpolitik noch um eine »Germanisierung« der polnischen Bevölkerung ging, zielten die wirtschaftlichen Maßnahmen auf eine Schwächung von deren ökonomischer Position. »Germanisiert« wurde nun bestenfalls Kapital, das hier vor allem aus landwirtschaftlich nutzbarem Boden bestand, während das Ziel einer Assimilation oder zumindest Akkulturation der polnischen Bevölkerung faktisch aufgegeben worden ist.6 Dies ist ein weiteres Indiz für die weit verbreitete These vom Scheitern der preußischen Polenpolitik. Als wichtigste Ursache dafür wird zumeist die Reaktion der polnischen Gesellschaft angeführt, die von den deutschen Aktivitäten zur Intensivierung der eigenen Nationalisierungsbestrebungen provoziert wurde.7 Tatsächlich förderten der Kulturkampf, die Sprachen - und Schulgesetze letztlich die Gleichsetzung von Katholizismus und Polentum, die private Organisation des Polnischunterrichtes und generell eine deutlich zunehmende nationale Fragmentierung aller Lebensbereiche. Neben der allgemeinen Polenpolitik führten auch insbesondere ihre wirtschaftlichen Maßnahmen zu einer Intensivierung der »organischen Arbeit«, zur Ausweitung des nationalen Boykotts und des Kampfes um den Boden, zur Gründung ethnisch exklusiver Genossenschaften durch nationale Aktivisten und damit letztlich eher zu einer Polonisierung bisher national indifferenter bzw. desinteressierter Teile der Landbevölkerung als zu deren Germanisierung. Diese kontraproduktive Wirkung der preußisch - deutschen Polenpolitik wird in den meisten einschlägigen Darstellungen betont, ohne dass die Auswirkungen der Nationalitätenpolitik und der polnischen Gegenreaktionen auf das Alltagsleben bereits ausreichend untersucht worden wären.8 Dieses 5

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Vgl. z. B. Meyer, Bismarcks Polenpolitik, S. 17–25; Lech Trzeciakowski, Bismarcks Polenpolitik. In : Leidinger, Deutsche und Polen, S. 27–33; aber auch Brigitte Balzer, Die preußische Polenpolitik 1894–1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien ( unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen ), Frankfurt a. M. 1990, die die wirtschaftlichen Maßnahmen der Polenpolitik für zweitrangig hält ( S. 15). Vgl. für eine kritische Diskussion des Germanisierungsbegriffes sowie der Tendenz einer »Schwarzweißmalerei« Krzystof Makowski, Polen, Deutsche und Juden und die preußische Politik im Großherzogtum Posen. Versuch einer neuen Sicht. In : Hans - Henning Hahn / Peter Kunze ( Hg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 51–60, hier 53; vgl. auch Christoph Schutte, Die Königliche Akademie in Posen (1903–1919) und andere kulturelle Einrichtungen im Rahmen der Politik zur »Hebung des Deutschtums«, Marburg 2008, S. 6–8. Vgl. Broszat, Zweihundert Jahre, S. 97; sowie die polnische Literatur resümierend Balzer, Polenpolitik, S. 19. Vgl. Lech Trzeciakowski, Pod pruskim zaborem, Warszawa 1973; Hoensch, Die polnische Komponente, S. 47–51; Balzer, Polenpolitik; zur Alltagsgeschichte der polnisch - deutschen Beziehungen programmatisch Lech Trzeciakowski, Polen und Deutsche im alltäglichen Leben in Posen im 19. Jahrhundert. In : Studia historica Slavo - Germanica, Band XVIII, 1994, S. 35–49; sowie empirisch Mathias Niendorf, Minderheiten an der Grenze. Deutsche und Polen in den Kreisen Flatow ( Złotów ) und Zempelburg ( Sępólno Krajeńskie ) 1900–1939, Wiesbaden 1997; Torsten

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Uwe Müller

Forschungsdesiderat kann auch hier nicht behoben werden. Es werden allerdings einige Hinweise zu den bisher kaum thematisierten wirtschaftspolitischen Intentionen und ökonomischen ( Neben - )Wirkungen der Polenpolitik gegeben. Dies erscheint auch deshalb wichtig, weil die preußische Polenpolitik generell, aber auch speziell ihre wirtschaftlichen Maßnahmen, frühe Beispiele nationalstaatlicher Politik gegenüber ethnischen Minderheiten darstellten, die von den Zeitgenossen sehr aufmerksam beobachtet wurden und auch später bei der Konzipierung und Durchführung von Nationalitätenpolitik immer wieder als Referenzobjekt dienten. Dies gilt etwa für die ostmitteleuropäischen Nationalstaaten der Zwischenkriegszeit, aber auch für das nationalsozialistische Deutschland.9 Im Folgenden werden also erstens die Gründe für den Einsatz ökonomischer Instrumente im Rahmen der Polenpolitik herausgearbeitet, um dann in einem zweiten Teil die Maßnahmen selbst kurz darzustellen. Während sich die Ausführungen über die Ansiedlungspolitik und die Industrialisierungsversuche in Danzig auf die vorhandene Forschungsliteratur sowie eigene Vorarbeiten stützen können, basiert der Abschnitt über die Nutzung der Dispositionsfonds, die Vergabe der Ostmarkenzulage und die Gründung von Garnisonen weitestgehend auf einer Analyse von Primärquellen. Abschließend werden sowohl die wirtschaftlichen Effekte als auch die Auswirkungen auf das deutsch - polnische Verhältnis untersucht.

2. Ursachen für den Einsatz wirtschaftlicher Maßnahmen im Rahmen der Polenpolitik Besonders in Ostmitteleuropa stimmte die sozio - ökonomische Schichtung der Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert häufig mit ethnischen Differenzen überein. In den einzelnen Regionen standen deutschen oder jüdischen Stadtbürgern polnische oder magyarische Adlige sowie slowakische oder ukrainische Bauern gegenüber.10 Dies führte dazu, dass soziale Konflikte oft – etwa in der Revolution

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Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód. Bürgergesellschaft und Nationalitätenkampf in Großpolen bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin 2005; Sabine Grabowski, Der deutsche Ostmarken - Verein und die polnische Straż im Alltag des Nationalitätenkampfes. In : Helga Schultz (Hg.), Preußens Osten – Polens Westen. Das Zerbrechen einer Nachbarschaft, Berlin 2001, S. 111–130. Vgl. Uwe Müller, Regionale Wirtschafts - und Nationalitätenpolitik in Ostmitteleuropa (1867– 1939). In : ders. ( Hg.), Ausgebeutet oder alimentiert ? Regionale Wirtschaftspolitik und nationale Minderheiten in Ostmitteleuropa (1867–1939), Berlin 2006, S. 48–52; Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 35–52. Vgl. Rudolf Jaworski, Nationalismus und Ökonomie als Problem der Geschichte Ostmitteleuropas im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In : Geschichte und Gesellschaft, 8 (1982) 2, S. 184–204.

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von 1848/49 – mit nationalen Forderungen verbunden wurden und sich dadurch verstärkten. Andererseits konnten scharfe soziale Gegensätze und ein elitäres Nationsverständnis – wie es lange Zeit etwa der polnische Adel pflegte – auch bewirken, dass der gleichen Ethnie angehörende Bauern gegenüber nationalen Bewegungen ihrer Herren passiv blieben oder diese – wie im Fall des Krakauer Aufstandes von 1846 – sogar bekämpften.11 Die deutliche Verschärfung nationaler Konflikte oder Ressentiments in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts resultierte allerdings gerade nicht aus der Übereinstimmung ethnischer und sozialer Schichtungen, sondern im Gegenteil aus den Bemühungen der »verspäteten« Nationen, ihre Sozialstruktur im Zuge des Industrialisierungsprozesses zu komplettieren, also gewissermaßen in die der anderen Ethnie bisher vorbehaltene soziale Schicht einzudringen.12 Da die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs durch eine außerordentlich starke ökonomische, soziale und demographische Dynamik geprägt war, entstand in dieser Zeit eine zuvor nur in Ansätzen vorhandene polnische städtische Mittelschicht, die mit den etablierten deutschen und jüdischen Handwerkern und Kaufleuten konkurrierte. Dieser Prozess bildet auf der polnischen Seite den wichtigsten sozio - ökonomischen Hintergrund für die im Alltag zunehmenden Konflikte zwischen den Nationen. Das Tempo der sogenannten Polonisierung der Städte und die Folgen der nationalen Konkurrenz sind von der deutschen Seite häufig überschätzt oder aber bewusst übertrieben worden.13 Dies hängt wiederum sehr stark mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands zusammen, die seit Mitte der 1870er Jahre von der »Großen Depression« geprägt war, bei der es allerdings ebenfalls eine Asymmetrie zwischen realwirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Wahrnehmung gegeben hat.14 In den agrarisch geprägten Ostprovinzen wurde die ohnehin verbreitete Krisenstimmung von der durch die Globalisierung der Nahrungsmittelmärkte offengelegten strukturellen Agrarkrise verstärkt.15 Die deutsche Bevölkerung der Ostprovinzen beobachtete mit wachsendem Unbehagen die dynamische Industrialisierung in

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Vgl. Jan Rydel, Die k. k. Armee in Galizien am Vorabend des Aufstandes im Jahre 1846. In : Österreich - Polen. 1000 Jahre Beziehungen (= Studia Austro - Polonica 5), Kraków 1996, S. 155– 167. Vgl. Jaworski, Nationalismus. Vgl. Stefan Kowal, Die ökonomischen Auswirkungen der Nationalitätenpolitik im preußischen Teilungsgebiet. In : Müller, Ausgebeutet, S. 167–178. Vgl. dazu zuletzt Margrit Grabas, Die Gründerkrise von 1873/79 – Fiktion oder Realität ? Einige Überlegungen im Kontext der Weltfinanz - und Wirtschaftskrise von 2008/9. In : Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, (2011) 1, S. 69–96. Vgl. Uwe Müller, Der deutsche Agrarismus in der Zeit des Kaiserreiches vor dem Hintergrund ostmitteleuropäischer Agrarbewegungen. In : Eduard Kubů u. a. ( Hg.), Agrarismus und Agrareliten in Ostmitteleuropa, Prag 2013 ( im Erscheinen ).

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West - und Mitteldeutschland und die sozio - ökonomischen Fortschritte ihrer polnischen Nachbarn.16 Diese ökonomisch - psychologischen Faktoren spielen zwar für das Verständnis des wachsenden Nationalismus auf der deutschen Seite eine wichtige Rolle. Sie erklären jedoch noch nicht die Anwendung wirtschaftspolitischer Instrumente in der Nationalitätenpolitik. Schließlich dominierte während der deutschen Reichseinigung gerade in Bezug auf wirtschaftliche Fragen ein liberaler Zeitgeist.17 Wirtschaftspolitische Interventionen, die eine bestimmte soziale oder ethnische Gruppe privilegierten oder diskriminierten, wurden etwa vom die Wirtschaftspolitik maßgeblich prägenden Präsidenten des Reichskanzleramts Rudolph von Delbrück grundsätzlich abgelehnt. Reichskanzler Otto von Bismarck und die Minister des preußischen Staatsministeriums der 1870er Jahre hielten derartige Maßnahmen zumindest für nicht zielführend, zumal entsprechende wirtschaftspolitische Instrumente unbekannt oder nicht ausreichend erprobt waren.18 Bismarck änderte seine Auffassung in den 1880er Jahren ebenso wie die anderen wichtigen Politiker auf Reichsebene und in Preußen. Dieser Wandel hing nicht unmittelbar mit den personellen Veränderungen in der Reichsleitung und der preußischen Regierung nach der Hinwendung Bismarcks zu den Konservativen zusammen, denn gerade die nunmehr oppositionellen Nationalliberalen traten für eine Intensivierung der nationalistischen Polenpolitik und die Einführung wirtschaftlicher Maßnahmen ein. Er resultierte eher aus einer gewissen Unzufriedenheit mit den Resultaten der in den 1870er Jahren auf dem Gebiet der Schul - und Sprachenpolitik durchgeführten Maßnahmen.19 Diese konnten – wenn überhaupt – nur langfristig eine Germanisierung der Polen herbeiführen. Kurzfristig bewirkten sie vor allem eine zusätzliche Mobilisierung der polnischen Nationalbewegung in Posen und Westpreußen sowie deren Übergreifen auf die Kaschuben, ins Ermland und nach Oberschlesien.20 Durch den Kulturkampf wurde »alles Deutsche [...] von vielen Polen mit aggressivem Protestantismus gleichgesetzt, jede [ nationale ] Assimilierung galt auch zugleich als Glaubensverrat«.21 Auch die zuvor politisch eher indifferenten Teile des Klerus waren durch 16 17 18 19 20 21

Vgl. Thomas Serrier, Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska. Eine Grenzregion zwischen Deutschen und Polen 1848–1914, Marburg 2005, S. 98–102. Vgl. Gerold Ambrosius, Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001, S. 112–124. Vgl. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1980, S. 493–495. Vgl. Lech Trzeciakowski, The Kulturkampf in Prussian Poland, New York 1990, S. 185–188. Vgl. Hoensch, Die polnische Komponente, S. 50 f.; Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire, New York 1981, S. 25–33. Hans - Ulrich Wehler, Von den »Reichsfeinden« zur »Reichskristallnacht«. Polenpolitik im Deutschen Kaiserreich 1871–1918. In : ders., Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial - und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, S. 185.

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die antikatholische Politik zu Gegnern des preußischen und deutschen Staates geworden. Gleichzeitig bestanden die außenpolitischen Motive zur Unterdrückung jeglicher polnischer Unabhängigkeitsbestrebungen, wie etwa Bismarcks Furcht vor der Funktion der Polen als »französisches Lager an der Weichsel«, fort.22 Hinzu kam, dass aufgrund der seit 1867 bestehenden Autonomie des Kronlandes Galizien innerhalb Zisleithaniens ein Nukleus für einen wiederentstehenden polnischen Staat existierte. Auch innenpolitisch hielt es der Reichskanzler für zweckmäßig, im Zuge der »zweiten Reichsgründung« eine gewisse Annäherung an die ehemaligen Reichsfeinde aus der Zentrumspartei zu erreichen, was durch die Behauptung, der Kulturkampf habe sich vorrangig gegen die polnischen Katholiken gerichtet, unterstützt werden sollte.23 Dass die Intensivierung der Polenpolitik mit ihrer Ausweitung auf das Feld der Wirtschaft verbunden wurde, hing auch mit der in dieser Zeit deutlich zunehmenden Wertschätzung für empirische Sozialwissenschaften zusammen. So erregte im Jahre 1883 ein Beitrag von Friedrich Neumann in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik Aufsehen, in dem er mit Hilfe der Konfessionsstatistik errechnete, dass seit den 1870er Jahren die polnische Bevölkerung deutlich schneller zunahm als die deutsche.24 Tatsächlich ging der Anteil der deutschen Bevölkerung in der Provinz Posen von 1871 bis 1882 von etwa 39 auf 35 Prozent zurück.25 Alarmierend für die deutsche Öffentlichkeit war, dass dies offenbar eine Trendwende darstellte, denn in den vorangegangenen Jahrzehnten hatte der deutsche Anteil stets zugenommen. Die Ursache für das stärkere Wachstum der polnischen Bevölkerung bestand zum einen in der Angleichung der Mortalität zwischen den konfessionellen Gruppen, die auf eine bessere Säuglingspflege in der katholischen Bevölkerung zurückgeführt wurde, und angesichts der höheren Geburtenrate zu einem schnelleren natürlichen Bevölkerungszuwachs der Katholiken führte. Einen noch größeren Einfluss hatte allerdings die Migration. Dabei handelte es sich überwiegend um Binnenwanderung nach West- und Mitteldeutschland, wo man in der Industrie und auch als Saisonarbeiter in der sich intensivierenden Landwirtschaft wesentlich mehr verdienen konnte als in den Ostprovinzen. Im Vergleich zu den die Ostprovinzen verlassenden Migranten deutscher Nationalität waren die Polen häufiger als Saisonkräfte,

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Vgl. Broszat, Zweihundert Jahre, S. 97–101. Vgl. Friedrich Koch, Bismarck über die Polen, Berlin 1913, S. 99; vgl. auch Hoensch, Die polnische Komponente, S. 38 f. Friedrich Neumann, Germanisierung oder Polonisierung. In : Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, N. F., 7 (1883), S. 457–463; vgl. auch die Berichte der Oberpräsidenten aus Westpreußen und Schlesien vom Januar und Februar 1882 ( BArch, R 43/659, Bl. 98–133). Vgl. Balzer, Polenpolitik, S. 53 f.

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sogenannte Sachsengänger, im mitteldeutschen Hackfruchtanbau tätig und kehrten zu einem größeren Anteil in den Osten zurück, nachdem sie genug Geld verdient hatten, um sich eine eigene Existenz aufzubauen.26 Abgewanderte Ostdeutsche blieben dagegen zumeist in ihren neuen Wohnorten, wenn sie eine relativ sichere und angemessene Arbeit gefunden hatten.27 Auch aus diesem Grund konnte der polnische Mittelstand in den großpolnischen Städtchen oft Plätze emigrierter Deutscher einnehmen.28 In die gleiche Richtung wirkten die Bestrebungen der sogenannten »organischen Arbeit«, deren Ursprünge bereits in den Aktivitäten des 1841 gegründeten Marcinkowski - Vereins lagen.29 Nach dem gescheiterten Aufstand von 1863 wurde die organische Arbeit insbesondere im preußischen Teilungsgebiet zur wichtigsten Strategie der polnischen Nationalbewegung. Ihre Grundidee bestand darin, dass die Eliten der polnischen Nation ihre Kräfte nicht in der Vorbereitung weiterer nutzloser Aufstände verschleißen, sondern die Bildung der Massen sowie die Steigerung des ökonomischen Potentials der Polen vorantreiben sollten, um so der Russifizierungs - und Germanisierungspolitik entgegenzuwirken. Interagierende Nationalismen hatten also die Wirtschaft als neue Kampfarena entdeckt.30 Insbesondere in den ländlichen Gebieten erwiesen sich spätestens seit dem Kulturkampf die katholischen Priester nicht nur als Verfechter der national - polnischen Ideen, sondern auch als Multiplikatoren des Konzeptes der organischen Arbeit. Zu ökonomischen Selbsthilfeorganisationen der polnischen Bauern entwickelten sich die häufig von den Priestern gegründeten und mitunter auch geleiteten Bauernvereine sowie die ländlichen Kreditgenossenschaften.31 Deren 26 27

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Vgl. exemplarisch Johannes Frackowiak, Wanderer im nationalen Niemandsland. Polnische Ethnizität in Mitteldeutschland von 1880 bis zur Gegenwart, Paderborn 2011. Vgl. Klaus J. Bade, Massenwanderung und Arbeitsmarkt im deutschen Nordosten von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg : überseeische Auswanderung, interne Abwanderung und kontinentale Zuwanderung. In : Archiv für Sozialgeschichte, 20 (1980), S. 295–299; Roland Baier, Der deutsche Osten als soziale Frage. Eine Studie zur preußischen und deutschen Siedlungs - und Polenpolitik in den Ostprovinzen während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Köln 1980, S. 32. Vgl. Jaworski, Handel und Gewerbe, S. 28 f. Vgl. Tomasz Kizwalter u. a., Droga wiodła do niepodległości czy program defensywny : praca organiczna – programy i motywy, Warszawa 1988. Vgl. Sabine Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus. Der deutsche Ostmarken Verein und die polnische Straż 1894–1914, Marburg 1998, S. 4; vgl. auch Christoph Schutte, Deutsche und Polen in der Provinz Posen. Überlegungen zur Relevanz gegenseitiger Lernprozesse. In : Martin Aust / Daniel Schönpflug ( Hg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2007, S. 118–126. Vgl. dazu Torsten Lorenz / Uwe Müller, Polish Cooperatives and the Nationality Struggle in the Prussian Eastern Provinces, 1860–1914. In : Torsten Lorenz / Roman Holec ( Hg.), Cooperatives and Nation Building in Eastern Europe from the late 19th until the mid 20th Century, Berlin 2006, S. 188–200.

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Expansion wurde natürlich auch auf der deutschen Seite wahrgenommen, so dass Forderungen nach ökonomischen Gegenmaßnahmen, also etwa einer Unterstützung der deutschen Landwirtschaft in den polnischen Provinzen, nun nicht mehr nur als Vertretung spezieller agrarischer Sonderinteressen oder Teil von Sozialpolitik galten, sondern den Status einer nationalen Aufgabe beanspruchen konnten. Später verstanden es auch die Vertreter ostdeutscher Kommunen, wie etwa der Posener Oberbürgermeister Richard Witting, mit Berufung auf ihren Status als »deutsche Bastionen in der bedrohten deutschen Ostmark« beträchtliche Zuwendungen aus Berlin zu bekommen.32 Die Vergabe derartiger Subventionen durch den Staat setzte allerdings eine Veränderung wirtschaftspolitischer Grundsätze voraus, wie sie Ende der 1870er Jahre mit der sogenannten ordnungspolitischen Wende auch eingeleitet wurde.33 Die Gründerkrise hatte das Vertrauen in die unendlichen Wachstumspotentiale freier Märkte nachhaltig erschüttert und die Angst vor einer ungehemmten Globalisierung sowie vor sozialen Verwerfungen geschürt. Bismarck, Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident in Personalunion, reagierte darauf mit einer Abkehr vom Freihandel, insbesondere der Einführung von Agrarschutzzöllen, mit der Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen und der Einführung einer obligatorischen Sozialversicherung für Arbeiter. Die von den im Verein für Socialpolitik organisierten Volkswirten gelieferte Begründung des stärkeren Staatsinterventionismus mit dem »Schutz der nationalen Arbeit« war durchaus geeignet, eine Allianz zwischen Konservativen und Nationalliberalen sowie Großunternehmern aus der Schwerindustrie und Landwirten zu schmieden. Die polnische Frage spielte dabei keine unmittelbare Rolle. Dennoch bereitete der äußere Wirtschaftsnationalismus den Weg für die nur wenig später erfolgende Herausbildung eines inneren, vom preußischen Staat, aber auch Teilen der deutschen Gesellschaft ausgehenden, gegen die einheimische polnische Bevölkerung gerichteten Wirtschaftsnationalismus, der elementaren liberalen Grundsätzen noch stärker widersprach als Protektionismus und Ausweitung des Staatseigentums. Der Kampf gegen die vermeintliche Polonisierung sollte also schon bald zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft führen, die über die ursprüngliche Idee eines im Grundsatz freien, jedoch durch den Staat an bestimmten Stellen regulierten Marktes deutlich hinausgingen.

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Vgl. Schutte, Königliche Akademie, S. 39. Vgl. Rudolf Boch, Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert, München 2004, S. 38–41; Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860– 1914, Göttingen 2005, S. 147–168.

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3. Die Regulierung des Zuzuges ausländischer Saisonarbeiter und die Ansiedlungspolitik Im März und Juli 1885 sind bei zwei Ausweisungsaktionen ca. 48 000 Ausländer – vor allem Polen, aber auch ca. 9 000 Juden –, die teilweise schon seit Jahrzehnten in Preußen gelebt hatten, des Landes verwiesen und zumeist in das russische Teilungsgebiet abgeschoben worden. Innenminister Robert von Puttkamer hatte diese Aktion im Abgeordnetenhaus damit begründet, dass »durch die massenhafte Ansammlung der polnischen Arbeiter [...] die sesshafte deutsche Bevölkerung zur Auswanderung gedrängt [ würde ], denn sie ist absolut außerstande, den billigeren polnischen Arbeitskräften auf die Dauer Konkurrenz zu machen«.34 Die von der Reichstagsmehrheit missbilligte Ausweisung sowie die Verbesserung der Grenzkontrollen konnten allerdings weder die Germanisierungspolitik zum Erfolg führen noch die Ostflucht aufhalten. Zudem regte sich schnell der durchaus »unpatriotische« Widerstand der Großgrundbesitzer, die auf ihre billigen Arbeitskräfte nicht verzichten wollten und über »Leutenot« klagten. Hier trat der wenig später u. a. von Max Weber beschriebene Konflikt zwischen nationalen Interessen der Regierung und ökonomischen Interessen des Großgrundbesitzes erstmals offen zu Tage.35 Ausgerechnet Leo von Caprivi, der ansonsten von den Junkern so angefeindete Kanzler »ohne Ar und Halm«,36 ließ im Jahre 1891 die Zuwanderung von Saisonarbeitern aus dem Königreich Polen und aus Galizien wieder zu, um so die Agrarier für die Liberalisierung der Handelspolitik zu »entschädigen«. Von nun an übernahmen private Vermittler die Anwerbung polnischer, aber auch ukrainischer Saisonarbeiter. In den Folgejahren kam es häufig zu Auseinandersetzungen über diese Form der Arbeitskräfteimmigration zwischen im Alldeutschen Verband und vor allem im Deutschen Ostmarkenverein organisierten deutschen Nationalisten und dem Großgrundbesitz, der seinen Einfluss über den 1893 gegründeten Bund deutscher Landwirte ausübte.37 Ab 1905 versuchte der Staat mit Hilfe der Deutschen Feldarbeiterzentrale die Arbeitskräfteimmigration zu steuern und dabei einen Kompromiss zwischen »nationalen«

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Zit. nach Klaus J. Bade, »Kulturkampf« auf dem Arbeitsmarkt. Bismarcks »Polenpolitik« 1885– 1890. In : Otto Pflanze ( Hg.), Innenpolitische Probleme des Bismarck - Reiches, München 1983, S. 131. Vgl. Max Weber, Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter. In : ders., Gesammelte Aufsätze zur Sozial - und Wirtschaftsgeschichte. Hg. von Marianne Weber, 2. Auflage Tübingen 1988, S. 503–507; vgl. auch Bade, Kulturkampf, S. 121–142. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 699. Vgl. Serrier, Provinz Posen, S. 86.

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und ökonomischen Interessen zu finden. In diesem Kontext entstand die staatliche Arbeitsmarktpolitik in Deutschland.38 Die Ausweisungsaktion von 1885 stellte aber noch nicht einmal die tiefgreifendste Maßnahme dar, mit der das Preußische Staatsministerium Mitte der 1880er Jahre die durch demographische und ökonomische Entwicklungen verursachte »Polonisierungsgefahr« zu bekämpfen versuchte. Otto von Bismarck, der sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Macht befand, war der Überzeugung, die polnische Nationalbewegung würde vor allem durch den Adel getragen, während die Bauern im Grunde loyal zur preußischen Krone standen.39 Da die ökonomische Stellung des Adels auf dessen Grundbesitz basierte, erschien es naheliegend, die polnischen Adelsgüter aufzukaufen. Dies hatte der Posener Oberpräsident Flottwell bereits in den 1830er Jahren praktiziert, um die polnische Nationalbewegung nach dem niedergeschlagenen Aufstand von 1831 zu schwächen.40 Auf dieses Vorbild berief sich auch der Bromberger Regierungspräsident Christoph von Tiedemann in seiner »Denkschrift betr. einige Maßregeln zur Germanisierung der Provinz Posen« vom Januar 1886. Tiedemann legte hier noch einmal die unterschiedlichen demographischen und ökonomischen Entwicklungen des polnischen und deutschen Bevölkerungsteils dar, sah allerdings das Hauptproblem in der Tatsache, dass sich die Deutschen in Posen und Westpreußen nicht heimisch fühlen würden. Neben materiellen Zuwendungen für deutsche Beamte und Lehrer sollte in erster Linie die Ansiedlung deutscher Bauern zur »Stärkung des Deutschtums« führen.41 Bismarck hatte zwar ursprünglich nur eine Umwandlung der aufgekauften polnischen Güter in Domänen oder ihren Verkauf an deutsche Grundbesitzer angestrebt. Für die politische Umsetzung des Konzepts benötigte er jedoch wegen der ablehnenden Haltung des Zentrums und der Linksliberalen die Zustimmung wenigstens eines Teiles der Nationalliberalen im preußischen Abgeordnetenhaus. Diese griffen die Bestrebungen nach einer restriktiveren Polenpolitik gern auf, nutzten allerdings nun die Gelegenheit, ihr Projekt der inneren Kolonisation, dem Bismarck und viele Konservative skeptisch gegenüberstanden, voranzutreiben. Sie wollten – offiziell aus demographischen und agrarwirtschaftlichen Gründen – in allen stark gutswirtschaftlich geprägten ostelbischen Gebieten eine

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Vgl. Jens Flemming, Fremdheit und Ausbeutung. Großgrundbesitz, »Leutenot« und Wanderarbeiter im Wilhelminischen Deutschland. In : Heinz Reif ( Hg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise – junkerliche Interessenpolitik – Modernisierungsstrategien, Berlin 1994, S. 347–351; vgl. auch Jochen Oltmer, Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, S. 309–319. Vgl. Koch, Bismarck, S. 114 f. Vgl. Broszat, Zweihundert Jahre, S. 74–77. Vgl. Blanke, Prussian Poland, S. 55–58.

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bäuerliche Ansiedlung durchführen.42 Diese sollte auch den für die Liberalen angenehmen Nebeneffekt einer politischen Schwächung des konservativen Großgrundbesitzes haben. Die Verfechter der inneren Kolonisation beriefen sich u. a. auf die Forschungsergebnisse des Agrarökonomen Theodor von der Goltz, nach denen die Abwanderung der Deutschen aus den Ostprovinzen in den gutswirtschaftlichen Bezirken besonders stark war.43 Die Regierung erließ also 1886 ein Ansiedlungsgesetz, das die Parzellierung der Güter und die staatlich geförderte Schaffung von Bauernwirtschaften für deutsche Siedler vorsah. Für den Landkauf und die Errichtung der kommunalen Infrastruktur in den Ansiedlungsgemeinden gewährte der preußische Landtag einen Fonds von 100 Mio. Mark. Zur Durchführung des Gesetzes wurde die Königliche Ansiedlungskommission mit Sitz in Posen gegründet.44 Tatsächlich verkauften polnische Adlige bis 1894 ca. 70 000 Hektar landwirtschaftlichen Boden an die Ansiedlungskommission, was beinahe 10 Prozent des polnischen Großgrundbesitzes in Posen und Westpreußen ausmachte.45 Allerdings war der Umfang der in polnischen Händen befindlichen Güter bereits seit 1840 rückläufig gewesen. Zweifellos hatte dafür die nicht erst seit der Agrarkrise hohe Verschuldung einiger Großgrundbesitzer eine wichtige Rolle gespielt.46 Seit Mitte der 1890er Jahre konnte die Ansiedlungskommission jedoch kaum noch Boden aus polnischem Besitz erwerben. Dafür boten jetzt zahlreiche deutsche Großgrundbesitzer komplette Güter oder Teilflächen zum Verkauf an. Der Anteil des von der Ansiedlungskommission aus deutscher Hand erworbenen Landes stieg ab 1897 auf über 50 Prozent und lag ab 1902 sogar über 80 Prozent.47 Obwohl also keine wesentliche Veränderung des nationalen Besitzstandes mehr erfolgte, galt auch die Parzellierung des deutschen Großgrundbesitzes als nationalpolitisch wünschenswert, denn auch deutsche Gutsbesitzer beschäftigten eben fast ausschließlich polnische Landarbeiter.

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Vgl. Uwe Müller, Modernisierung oder Diskriminierung ? Siedlungspolitik in den preußischen Ostprovinzen zwischen nationalitäten - und agrarpolitischen Zielen. In : ders., Ausgebeutet, S. 141–165. Vgl. Baier, Osten, S. 47 f. Vgl. Thomas Gey, Die preußische Verwaltung des Regierungsbezirks Bromberg 1871–1920, Köln 1976, S. 245–248. Vgl. Włodzimierz Stępinski, Siedlungsbewegung und landwirtschaftlicher Kredit. Die polnische Forschung zum Verlauf und zu den Folgen der Germanisierungspolitik für die agrarische Modernisierung im preußischen Teilungsgebiet Polens vor 1914. In : Reif, Ostelbische Agrargesellschaft, S. 333. Ebd., S. 331, Anm. 7; »Der Adel resp. die größeren Grundbesitzer und die bäuerlichen Wirte«. In : Orędownik vom 26.1.1884 ( BArch, R 43/660, Bl. 45–48). Vgl. Scott M. Eddie, The Prussian Settlement Commission and Its Activities in the Land market, 1886–1918. In : Robert L. Nelson ( Hg.), Germans, Poland, and colonial Expansion to the East. 1850 Through the Present, New York 2009, S. 43–45.

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Jedes angekaufte Gut ist in einer gewissen Übergangszeit als sogenanntes Restgut verwaltet und schließlich – in Abhängigkeit von der Existenz ansiedlungswilliger Deutscher – parzelliert worden. Die dabei entstehenden Bauernstellen wurden in ihrer überwiegenden Mehrheit als Rentengüter vergeben, wodurch die Ansiedlungskommission weitere Teilungen, vor allem aber den Weiterverkauf an ihr nicht genehme Käufer verhindern konnte. Parallel und praktisch in Konkurrenz zur Ansiedlungskommission entwickelte sich eine von polnischen Parzellierungsbanken getragene Siedlungstätigkeit. Die Bank Ziemski und andere Institute erwarben Boden von polnischen, teilweise aber auch von deutschen Großgrundbesitzern und verkauften oder verpachteten ihn an polnische Landarbeiter, Saisonarbeiter und Bauernsöhne.48 Die polnische Parzellierungstätigkeit war – nicht zuletzt dank der sich gut entwickelnden polnischen Kreditgenossenschaften – recht erfolgreich, so dass der preußische Staat nach der Jahrhundertwende zu neuen Methoden im Kampf um den Boden griff. Zunächst wurde einigen polnischen Parzellierungsbanken die Gründung von Kolonien verboten, woraufhin diese auf Einzelsiedlungen umstellten. Das Gesetz vom 10. August 1904 über die Gründung neuer Ansiedlungen bestimmte daraufhin, dass auch die Errichtung eines Wohnhauses oder die Umwandlung eines bestehenden Gebäudes in ein Wohnhaus als Ansiedlung genehmigungspflichtig war und mit den Prinzipien des Ansiedlungsgesetzes übereinstimmen musste.49 Es ging dabei nicht vorrangig um kommunalpolitische Aufsicht oder siedlungspolitische Regulierung. Das Gesetz von 1904 stellte vielmehr ein die polnische Bevölkerung diskriminierenden Ausnahmegesetz dar, das – anders als das viel häufiger in der Literatur behandelte Gesetz von 1908, welches Enteignungen von polnischem Großgrundbesitz vorsah – auch massenhaft angewandt wurde. Tatsächlich haben die Behörden in der Folgezeit nämlich etwa drei Viertel der von Polen gestellten Ansiedlungsanträge abgelehnt.50 Parallel dazu wurde der Ansiedlungsfonds mehrfach (1897, 1902, 1906) aufgestockt, wobei die Mittel nach 1900 mehrheitlich nicht mehr in den Ankauf von Großgrundbesitz flossen, sondern nun zunehmend für den Ankauf polnischer Bauernwirtschaften sowie vor allem für die sogenannte Besitzfestigung verwendet wurden. Dabei handelte es sich um eine Bewahrung des »nationalen Besitzstandes«, die durch die Vergabe zinsgünstiger Kredite an deutsche Bauern, die angegeben hatten, anderenfalls ihre verschuldeten Höfe an polnische Interessen48 49

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Vgl. Ludwig Bernhard, Die Polenfrage. Der Nationalitätenkampf der Polen in Preußen, 3. Auflage München 1920, S. 490–508. Vgl. Witold Jakóbczyk, Pruska Komisja Osadnicza 1886–1919, Poznań 1976, S. 129–147; Wolfgang Hofmann, Das Ansiedlungsgesetz von 1904 und die preußische Polenpolitik. In : Jahrbuch für die Geschichte Mittel - und Ostdeutschlands, 38 (1989), S. 259–271; Balzer, Polenpolitik, S. 74–78. Zur Statistik und zu einigen Einzelfällen Hofmann, Ansiedlungsgesetz, S. 271–278.

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ten verkaufen zu müssen, erfolgte. Nachdem zunächst die Ansiedlungskommission einzelnen Bauern Subventionen gewährt hatte, sind die entsprechenden Verfahren durch die speziell für diesen Zweck 1904 in Posen gegründete Deutsche Mittelstandskasse sowie die seit 1905 in Westpreußen agierende Deutsche Bauernbank durchgeführt worden. Seit 1908 haben diese Institute mit finanzieller Hilfe und unter der Aufsicht der Ansiedlungskommission pro Jahr zwischen 500 und 800 Bauernwirtschaften aufgekauft und entschuldet sowie anschließend in Rentengüter umgewandelt, die dann häufig an die deutschen Vorbesitzer vergeben wurden.51

4. Wirtschaftliche Maßnahmen zur Förderung des deutschen Mittelstandes in den Städten. Dispositionsfonds, Ostmarkenzulage und die Gründung von Garnisonen In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre kam es erneut zu einer Intensivierung der Polenpolitik, die sich nun noch stärker auf das Feld der Wirtschaft verlagerte. Den Anstoß dafür bildeten eine kritische Revision der durch die Ansiedlungspolitik erzielten Ergebnisse, weitere ökonomische Erfolge des polnischen Mittelstandes52 und ein zunehmender Druck nationalistischer Kräfte, die sich mit dem 1894 gegründeten Deutschen Ostmarkenverein auch eine Organisation geschaffen hatten, die sowohl von der Regierung eine aktivere »Ostmarkenpolitik« forderte als auch selbst verschiedene Aktivitäten zur »Erhaltung«, »Festigung« und »Stärkung« des Deutschtums in den Ostmarken entfaltete.53 Viele Maßnahmen der nach 1895 durchgeführten wirtschaftlichen und kulturellen Hebungspolitik basierten allerdings auf Vorschlägen des Posener Oberpräsidenten Hugo von Wilamowitz - Möllendorff, der nur wenige Jahre später wegen seiner zu polenfreundlichen Haltung abgelöst werden sollte.54 Bei der »Hebungspolitik« handelte es sich freilich nicht um die Umsetzung einer geschlossenen nationalitäten - oder regionalpolitischen Konzeption, sondern um den Versuch, möglichst viele Ministerien sowie alle Verwaltungen der Ostprovinzen zu veranlassen, einzelne Maßnahmen zur »Förderung des Deutschtums« zu ergreifen. Die Grundidee bestand darin, die allgemeinen Lebensbedingungen, speziell die Erwerbsmöglichkeiten oder auch die Einkommen der ansässigen ostdeutschen Bevölkerung zu verbessern, um sie von einer 51 52

53 54

Baier, Osten, S. 58–62, 75–79; Eddie, Prussian Settlement Commission, S. 48–50. Witold Szulc, Rozwój przemysłu i rzemiosła w latach 1871–1918. In : Jerzy Topolski / Lech Trzeciakowski ( Hg.), Dzieje Poznania, Band 2 : Dzieje Poznania w latach 1793–1918, Warszawa 1994, S. 170. Grabowski, Deutscher und polnischer Nationalismus, S. 128–208, 287–298. Balzer, Polenpolitik, S. 32 f.

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eventuell geplanten Abwanderung abzubringen. Dabei wurden einige bereits in der Tiedemann - Denkschrift enthaltene Ideen aufgegriffen, die staatliche Unterstützung aber auf wesentlich größere Teile der deutschen Bevölkerung ausgedehnt. Dies sollte möglichst unbürokratisch und zielgenau erfolgen. Daher beschloss das Preußische Staatsministerium auf Vorschlag des Innenministers im Jahre 1897 : »Zur Förderung des Deutschtums ist ein Dispositionsfonds von 500 000 M bereit zu stellen, aus welchem behufs Unterstützung deutscher Zwecke, z. B. für Vereine, Genossenschaften, Kleinkinderschulen, Volksbibliotheken, Niederlassung deutscher Ärzte und Apotheker, für Pressunternehmungen und dergleichen Beihilfen gewährt werden können.«55 Gleichzeitig bestand der Handelsminister darauf, dass aus diesem Fonds auch »das Gefühl der Zusammengehörigkeit des deutschen Elements« im kleinen Handwerker- und Kaufmannsstand durch Gründung von Handwerkervereinen und kaufmännischen Vereinigungen gestärkt werden soll. Nachdem 1898 den Oberpräsidenten von Posen, Westpreußen und Schlesien erstmals 230 000, 115 000 und 55000 Reichsmark zur Verfügung gestellt wurden,56 gingen bald zahlreiche Anträge von Handwerkern und Kaufleuten ein, die angaben, einer unmittelbaren Konkurrenz durch den aufstrebenden polnischen Mittelstand ausgesetzt zu sein und deshalb direkte Subventionen zu benötigen. Tatsächlich wurden die Dispositionsfonds zunehmend auch dazu genutzt, um etwa einen deutschen Gastwirt zu unterstützen, der von der polnischen Kundschaft boykottiert wurde, nachdem er sich geweigert hatte, die Versammlungen eines nationalpolnischen Vereins zu beherbergen. Wichtigste Entscheidungskriterien für die Gewährung von Zahlungen aus dem Dispositionsfonds waren hier zunächst die Existenzgefährdung durch polnische Konkurrenz oder Boykottmaßnahmen sowie die nationale Zuverlässigkeit des Antragstellers. Die aus dem Staatshaushalt an die Dispositionsfonds der Oberpräsidenten überwiesenen Summen stiegen in der Folgezeit rasch an und beliefen sich schon 1904 auf 2 Mio. Mark. Von einer wirtschaftlich relevanten Staatsintervention kann hier dennoch kaum gesprochen werden, denn gleichzeitig erfolgte eine Ausweitung der berechtigten Regionen, indem nun auch Ostpreußen und Schleswig - Holstein, wo es eine dänische Minderheit gab, einbezogen wurden. Gravierender war, dass die relativ freie Verfügung der Oberpräsidenten, die normalerweise kein eigenes Budget hatten, über die Verwendung der Fonds zahlreiche Begehrlichkeiten in der Provinz weckten. Da mittlerweile die nationale Zugehörigkeit in beinahe allen Lebensbereichen eine Rolle spielte, ließen sich »deutsche 55

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Schreiben des preußischen Innenministers Gustav von der Recke an den Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Arthur von Posadowsky vom 14. 7. 1897 ( BArch, R 1501/115337, Bl. 204–206). Schreiben des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel an die Oberpräsidenten von Posen, Westpreußen und Schlesien vom Mai 1898 ( BArch, R 1501/115338, Bl. 33).

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Zwecke« in zahlreichen Institutionen, Vereinen und eben auch in wirtschaftlichen Unternehmen erfüllen. Dies korrespondierte mit Versuchen der Ressortministerien, ihre bisher in den Ostprovinzen vorgenommenen Ausgaben unter Berufung auf die ja nun vorhandenen Dispositionsfonds auf die Oberpräsidenten abzuwälzen. So forderte der Kultusminister, nicht nur die Förderung von evangelischen Kirchengemeinden und deutschen Kleinkinderschulen, sondern auch den Ausbau von Volks - und Schulbibliotheken aus den Mitteln der Dispositionsfonds zu finanzieren.57 In ähnlicher Weise wollte der Landwirtschaftsminister, dass die landwirtschaftlichen Fortbildungsschulen in den Ostprovinzen Mittel aus den Dispositionsfonds erhalten, gleichzeitig jedoch unter der eigenen Aufsicht verbleiben sollten.58 Der westpreußische Oberpräsident Gustav von Goßler wollte hingegen die aufzustockenden Mittel aus seinem Dispositionsfonds für die »Hebung des Arbeiterstandes« und die »Bekämpfung der Not« verwenden, indem die Heranbildung von Gemeindepflegerinnen und Schulschwestern, die Errichtung von Kinderheimen und Waisenhäusern finanziert würde.59 Dies alles ließ aber Finanzminister Johannes von Miquel nicht zu, denn Ziel des Dispositionsfonds könne es nicht sein, dass allgemeine Aufgaben der Staatsverwaltung wie die Organisation des Genossenschaftswesens, die Ausbildung von Handwerkern, die Förderung des Fortbildungs - und Fachschulwesens und des Mädchenschulwesens von den Ministerien an die Oberpräsidenten übergingen. Schließlich müsse die »Förderung dieser allgemeinen Staatsaufgaben in den polnischen Landesteilen nach wie vor Sache der allgemeinen Staatsfonds bleiben, die dann im politischen Interesse für diese Landesteile in tunlichst verstärktem Maße zu verwenden sein werden«. Die Dispositionsfonds wiederum dürften nur für Zwecke verwendet werden, die außerhalb der allgemeinen Staatsaufgaben lägen. Dabei dürfe es nicht um eine allgemeine Förderung der östlichen Landesteile gehen, sondern die Mittel wären nur einzusetzen, wenn »besondere nationalpolitische Verhältnisse« dies »als ein spezifisches Mittel zur Stärkung des Deutschtums in seinem Kampf mit dem Polentum« notwendig machten.60 Diese Diskussion zwischen den Ministerien verdeutlicht, dass es durchaus Bestrebungen gab, die aus der Zentrale bereit gestellten Mittel zur Verbesserung der in den östlichen Landesteilen relativ zurückgebliebenen sozialen Infrastruktur zu verwenden. Inwieweit die preußische Politik die wirtschaftliche Förderung der östlichen Provinzen als allgemeine Staatsaufgabe begriff und dies im Einzel57 58 59 60

Schreiben des Kultusministers Robert Bosse an den Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Arthur von Posadowsky vom 4.7.1898 und vom 28.11.1898 ( ebd., Bl. 53, 132–136). Schreiben des Landwirtschaftsministers Ernst von Hammerstein - Loxten an den Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Arthur von Posadowsky vom 4.8.1898 ( ebd., Bl. 72). Schreiben des Finanzministers Johannes von Miquel an den Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Arthur von Posadowsky vom 11.11.1898 ( ebd., Bl. 130). Ebd., Bl. 128–130; Votum des Finanzministers Johannes von Miquel zur Frage der Erhöhung des Dispositionsfonds vom 5.12.1898 ( ebd., Bl. 141 f.).

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nen umsetzte, ist jedoch eine in der historischen Forschung kontrovers diskutierte und bislang nicht ausreichend untersuchte Frage.61 Mit den aus nationalpolitischen Gründen eingerichteten Dispositionsfonds waren jedenfalls nur punktuelle Eingriffe möglich. Diese haben zwar die Fortexistenz oder Gründung einiger lokaler Bildungs - und Sozialeinrichtungen ermöglicht und auch Gewerbetreibende unterstützt. Problematisch war jedoch, dass die Entscheidungen über zu gewährende Subventionen in erster Linie vom nationalpolitischen Effekt abhingen. Die damit verbundenen Risiken hatte bereits der Initiator der Dispositionsfonds, Oberpräsident von Wilamowitz - Möllendorff vorausgesehen : »Da es gerade bei den minderwertigen Elementen der hiesigen deutschen Bevölkerung besonders beliebt ist, in Ermangelung anderer guter Eigenschaften auf ihr Deutschtum zu pochen und daraufhin Bevorzugungen zu fordern, so wird es nicht leicht, ja überhaupt kaum ausnahmslos zu erzielen sein, dass nur wirklich dessen würdige deutsche Handwerker und Gewerbetreibende unterstützt werden, um sie zur Niederlassung und zur Erlangung eines selbständigen und auskömmlichen Betriebes zu bringen.«62 Einer seiner Nachfolger, der von 1903 bis 1911 amtierende Wilhelm von Waldow, sah sich denn auch genötigt, die »Bevorzugung deutscher einheimischer Gewerbetreibender« zu verteidigen, obwohl er sich »der mannigfachen Schattenseiten, die mit der Einschränkung des Wettbewerbs verbunden sind«, bewusst war.63 Waldemar Mitscherlich, seit 1908 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Königlichen Akademie Posen, drückte das Dilemma wesentlich deutlicher aus : »Wir sind gezwungen, aus Mangel an aufsteigenden Elementen deutsche Kräfte, z. B. in Handwerker - und Kaufmannstand, zu halten und zu unterstützen, die dessen nicht wert sind.«64 Die bereits 1886 in der Denkschrift von Tiedemanns konzipierte Ostmarkenzulage für deutsche Beamte hatte einen ähnlich ambivalenten Charakter.65 Sie sollte eine Entschädigung für die schwierigen dienstlichen und häufig wenig 61

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Vgl. Werner Abelshauser, Staat, Infrastruktur und interregionaler Wohlstandsausgleich im Preußen der Hochindustrialisierung. In : Fritz Blaich ( Hg.), Staatliche Umverteilungspolitik in historischer Perspektive. Beiträge zur Entwicklung des Staatsinterventionismus in Deutschland und Österreich, Berlin ( West ) 1980, S. 9–58; Uwe Müller, Bismarck und die Infrastrukturpolitik in Ostelbien vor und nach der »ordnungspolitischen Wende« von 1879. In : Michael Epkenhans u. a. ( Hg.), Bismarck und die Wirtschaft, Paderborn 2013 ( im Druck ). Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Posen Hugo von Wilamowitz - Möllendorff an den Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Arthur von Posadowsky vom 2. 10. 1897 ( BArch, R 1501/115337, Bl. 344). Denkschrift über die staatlichen Maßnahmen zur Erhaltung und Stärkung der deutschen Industrie sowie zur Förderung des Deutschtums in den mittleren und kleineren Städten der Provinz Posen vom 25. 11. 1905 ( Geheimes Preußisches Staatsarchiv Berlin - Dahlem [ GPStA ], I. HA, Rep. 151 I C, Nr. 9350). Waldemar Mitscherlich, Der Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auf den ostmärkischen Nationalitätenkampf, Leipzig 1910, S. 33. Broszat, Zweihundert Jahre, S. 113.

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angenehmen sozialen Verhältnisse bieten und gleichzeitig dafür sorgen, dass eine Versetzung in die Ostmark nicht mehr als Bestrafung empfunden wurde, sondern gerade für die fähigsten Staatsdiener attraktiv war. Die Umsetzung dieser Idee erwies sich allerdings in vielerlei Hinsicht als sehr kompliziert. Über Jahre wurde darüber diskutiert, ob die höheren Beamten und die Lehrer einbezogen werden, in welchen Gebieten die Zulagen gezahlt werden und wie hoch sie sein sollten. 1898 kam es zum sogenannten Beamtenerlass, der den Staatsdienern eine nationalpolitische Gesinnung vorschrieb.66 Ob man die Gewährung der Ostmarkenzulage an die Einhaltung dieser Vorschriften binden sollte und wie dies gegebenenfalls kontrolliert werden könnte, blieb aber auch danach noch umstritten. So war etwa der Posener Oberpräsident Rudolf von Bitter der Meinung, die Zulage müsse unbedingt entzogen werden, wenn sich die Beamten in nationaler Hinsicht als unzuverlässig erwiesen, sah aber auch, dass dieser Grundsatz die Gefahr der »unwürdigen Streberei und Heuchelei« sowie der »willkürlichen Behandlung« heraufbeschwöre.67 Einige Regierungsvertreter waren grundsätzlich dagegen, einem Beamten für die normale Pflichterfüllung Zulagen zu zahlen, andere plädierten für ausschließlich indirekte Unterstützungen, etwa durch die Bereitstellung von billigem Wohnraum bzw. die Förderung von entsprechenden Wohnungsbaugenossenschaften oder auch durch die Gewährung von Erziehungsbeihilfen, wenn die Kinder der Beamten in auswärtige höhere Schulen geschickt werden.68 Weitgehende Einigkeit bestand nur darin, möglichst keine Polen mehr in den höheren und mittleren Staatsdienst aufzunehmen und die vorhandenen Polen in die mittleren und westlichen Provinzen Preußens zu versetzen.69 Allerdings wollte und konnte das Justizministerium, ebenso wie die Reichspost - und Telegraphenverwaltung auf polnisch sprechende Beamte nicht verzichten.70

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Balzer, Polenpolitik, S. 231. Schreiben des Oberpräsidenten von Posen Rudolf von Bitter an Finanzminister Georg von Rheinbaben vom 14.7.1902 ( BArch, R 1501/115340, Bl. 30). Protokoll der Kronratssitzung vom 14. 10. 1897 im Neuen Palais ( BArch, R 1501/115337, Bl. 280); Schreiben des Finanzministers Georg von Rheinbaben an den Staatssekretär des Reichsamtes des Innern Arthur von Posadowsky vom 30.7.1902; Schreiben des Oberpräsidenten von Posen Rudolf von Bitter an Rheinbaben vom Juli 1902; Schreiben des Kultusministers Konrad von Studt an Posadowsky vom 11. 11. 1902; Schreiben des Innenministers Hans von Hammerstein - Loxten an Rheinbaben vom 17. 11. 1902; Schreiben Rheinbabens an Posadowsky vom 22.11.1902; Schreiben des Landwirtschaftsministers Victor von Podbielski an Posadowsky vom 29.11.1902 ( BArch, R 1501/115340, Bl. 26–33, 117–119, 184 f., 188–193, 198 f.). Entsprechende Erlasse des Staatsministeriums bzw. einzelner Ministerien ergingen bereits 1886. Vgl. Balzer, Polenpolitik, S. 153 und 230. Abschrift der Anweisung des Ministers für öffentliche Arbeiten Albert von Maybach vom 28. 1. 1886; Votum des Innenministers Robert von Puttkamer betr. die Maßregeln zur Stärkung des deutschen Elementes in den östlichen Landesteilen vom 21.1.1886 ( BArch, R 1501/115337, Bl. 129; R 43/661, Bl. 195). Schreiben des Justizministers Karl Schönstedt an Reichskanzlei vom 3. 7. 1900; Sitzung des Staatsministeriums vom 9.2.1897 ( BArch, R 43/1013, Bl. 25; R 1501/115337, Bl. 196–198).

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In Preußen erhielten mittlere und untere Beamte ab 1903 nach fünf Jahren Dienstzeit in den »gemischtsprachigen Provinzen« eine Gehaltszulage von 10 Prozent. Die Gewährung der Zulage konnte widerrufen werden und war somit in der Praxis von der Einhaltung des bereits erwähnten Beamtenerlasses vom 12. April 1898 abhängig. Beamte in rein deutschen Städten, wie Danzig und Elbing, sowie alle höheren Beamten bekamen keine Zulagen. Letztere sollten aber von der Vergabe besserer Dienstwohnungen sowie Bevorzugungen im Avancement und bei Ordensauszeichnungen profitieren.71 Obwohl sich das Reichsschatzamt und das Kriegsministerium »aus Billigkeits - und aus politischen Gründen« für eine Gleichbehandlung der Reichsbeamten und Offiziere einsetzten, lehnte dies der Reichstag, in dem die Konservativen und Nationalliberalen anders als im Preußischen Abgeordnetenhaus in der Minderheit waren, ab. Erst ab 1908 bekamen alle unteren und mittleren Postbeamten in den polnischen Provinzen vier Jahre lang eine ähnliche Zulage, deren Zahlung – das hatte der Freisinn durchgesetzt – »unwiderruflich«, also nicht an politisches Wohlverhalten gebunden war.72 1912 verweigerte der Reichstag mit den Stimmen des Zentrums, der Sozialdemokraten und der Polen die weitere Bewilligung der Mittel.73 Die Zahlungen an die Dispositionsfonds der Oberpräsidenten und die Gewährung der Ostmarkenzulagen waren also nicht nur ein Instrument zur Stärkung des Deutschtums, sondern sie stellten faktisch auch die Einführung eines Finanzausgleichs dar, da ja Einnahmen des Zentralstaates in die polnischen Provinzen flossen, wo sie zur Erweiterung der sozialen Infrastruktur, zur Stabilisierung des Kleingewerbes oder zur Steigerung des individuellen Konsums verwendet wurden. Eine ähnliche Kopplung von nationalitätenpolitischen und ökonomischen Effekten versprachen sich die Posener Oberpräsidenten und viele Mitglieder des Preußischen Staatsministeriums von der Ansiedlung möglichst vieler Garnisonen in den Kleinstädten der Provinz Posen. Seit 1901 wurden entsprechende Forderungen nach einem Beitrag der dem Reich unterstehenden Militärverwaltung zur Festigung des Deutschtums in den Ostmarken gestellt. Die Offiziere und ihre Familien würden nicht nur Einkommensquellen für den deutschen Mittelstand darstellen, sondern auch »das gesellschaftliche Leben« bereichern.74

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Protokoll der Sitzung des Staatsministeriums vom 8. 12. 1902 ( BArch, R 1501/115340, Bl. 231– 239). Votum des Reichskanzlers Bernhard von Bülow vom 9.4.1908 ( BArch, R 43/1021, Bl. 23 f.). Schreiben des Staatssekretärs des Reichsschatzamtes Hermann Kühn an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vom 7.10.1912 ( BArch, R 43/1022, Bl. 22 f.). Schreiben des Oberpräsidenten von Posen Wilhelm von Waldow an Reichskanzler Bernhard von Bülow vom 8.2.1905 an Bülow ( BArch, R 43/1018, Bl. 185–189). Vgl. auch Patrick Wagner, Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2005, S. 414.

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Nun waren nach dem Deutsch - Französischen Krieg die Garnisonen in Gostyn, Koschmin, Pleschen, Rogasen und Zduny sowie später auch in Bojanowo, Samter und Schrimm geschlossen worden. Die Militärverwaltung hatte aus wirtschaftlichen und militärtechnischen Gründen eine Konzentration der Truppen an wenigen Standorten durchgeführt.75 Im Jahr 1902 sind dann in großer Eile Infanterie - Bataillone in Schrimm und Wreschen stationiert worden, die zunächst in Baracken untergebracht wurden. Das Kriegsministerium betonte, dass diese Maßnahme keine militärischen, sondern ausschließlich politische Gründe hatte, und setzte eine finanzielle Beteiligung des preußischen Staates an den Stationierungskosten durch.76 Weitere Stationierungspläne sind nicht umgesetzt worden, zumal es der preußische Finanzminister schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ablehnte, Reichsaufgaben zu finanzieren.77

5. Die nationalpolitischen und ökonomischen Ergebnisse Die vorgenannten Maßnahmen sind hier etwas ausführlicher beschrieben worden, weil sie in der Literatur zur Polenpolitik meist nur beiläufig erwähnt oder allzu plakativ dargestellt werden. Das mag auch daran liegen, dass sie ihre Wirkung nur im lokalen Rahmen entfalten konnten. Im Gegensatz dazu sind die massiven Bemühungen um die »Hebung der deutschen Kultur« in der Provinzhauptstadt Posen, die immerhin zur Gründung des Hygienischen Instituts (1899), der Kaiser - Wilhelm - Bibliothek (1902), der Königlichen Akademie (1904), des Kaiser - Friedrich - Museums (1904), eines neuen Stadttheaters (1910) sowie eines Residenzschlosses (1910) geführt haben, erst kürzlich in einer ausführlichen Monographie dargestellt und differenziert bewertet worden.78 Auch hier hat es einen Transfer von »extraordinären« Mitteln aus dem preußischen Staatshaushalt in den Osten gegeben, der zumindest vorübergehend auch ökonomische Nebenwirkungen gehabt haben dürfte. Direkte wirtschaftliche Effekte durch die Vergabe von günstigen Krediten für Industrieansiedlungen hatte sich die preußische Regierung von der Umwandlung der Posener Provinzial - Aktienbank in die Ostbank für Handel und Gewerbe sowie die Gründung einer »Centralstelle zur Förderung industrieller Unternehmungen im Osten« mit Sitz in Posen versprochen. Letztere wurde jedoch schon 75 76 77 78

Schreiben des Oberpräsidenten von Posen Wilhelm von Waldow an Reichskanzler Bernhard von Bülow vom 8.2.1905 an Bülow ( ebd., Bl. 184 f.). Schreiben des Kriegsministers Heinrich von Goßler an Reichskanzler Bernhard von Bülow vom 21.12.1901 und vom 5.2.1902 ( BArch, R 43/1395o, Bl. 238; R 43/1395p, Bl. 112). Votum des Finanzministers Georg von Rheinbaben vom 16. 7. 1902 ( BArch, R 1501/115340, Bl. 21 f.). Siehe Schutte, Königliche Akademie.

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bald wieder aufgelöst, während die Ostbank trotz des über die Preußische Seehandlung ausgeübten staatlichen Einflusses nur einen kleinen Teil ihrer Kredite an Industrielle vergab.79 In Danzig, der westpreußischen Provinzhauptstadt, kam es hingegen zu einer staatlich geförderten Industrialisierung. Deren wichtigster Protagonist war der westpreußische Oberpräsident Gustav von Goßler, dem es tatsächlich wohl erst in zweiter Linie um die wirtschaftliche Entwicklung seiner Provinz ging. Er argumentierte seit Mitte der 1890er Jahre, dass man aufgrund der fehlgeschlagenen Ansiedlungspolitik nicht auf die Landwirtschaft, sondern auf die Industrie setzen sollte, da dies der einzige Wirtschaftszweig sei, bei dem die Deutschen den Polen eindeutig überlegen wären. Tatsächlich gelang es Goßler, einige Investoren aus dem Westen zu gewinnen, die beispielsweise eine Waggonfabrik in Danzig gründeten. Das größte und prestigeträchtigste Projekt, die Errichtung eines Stahlwerkes in Danzig scheiterte jedoch. Das Stahlwerk wurde nur teilweise fertig gestellt und musste 1908 nach mehreren vergeblichen Sanierungsversuchen den Betrieb einstellen. Die Ursachen für das Scheitern waren vielfältig : Es lag an der Krise von 1900/01, an Fehlplanungen und Missmanagement, am Desinteresse oder sogar an der Gegnerschaft der kartellierten westfälischen und oberschlesischen Stahlindustrie sowie letztlich auch am nur halbherzigen Engagement der preußischen Regierung, die natürlich auch von Agrariern beeinflusst wurde, denen die Idee von der Industrialisierung des Ostens gar nicht gefiel.80 Eine Industrialisierung des Ostens hätte sicher für eine gewisse Zeit die Abwanderung der deutschen Bevölkerung verzögert und wahrscheinlich sogar die Zuwanderung von Kapital und Arbeit aus anderen Teilen des Reiches hervorgerufen. Trotz zahlreicher nationaler Bekenntnisse entschieden sich jedoch die deutschen Wirtschaftseliten im Zweifel immer wieder für die individuellen ökonomischen Vorteile. Der ostelbische Großgrundbesitz befürchtete eine Sozialdemokratisierung, vor allem aber die Steigerung des regionalen Lohnniveaus und damit der Kosten für die Beschäftigung von Landarbeitern.81

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Vgl. Friedrich Richter, Preußische Wirtschaftspolitik in den Ostprovinzen. Der Industrialisierungsversuch des Oberpräsidenten von Goßler in Danzig, Königsberg - Berlin 1938, S. 74 f., 87– 106; GPStA, I. HA, Rep. 151 I C, Nr. 9350; Archiwum Państwowe w Poznaniu, Polizei - Präsidium Posen, Sign. 8680. Vgl. Uwe Müller, Die Industrialisierung des agrarischen Ostens. Motive, Erfolge und Grenzen staatlicher Industrieförderung in Westpreußen um 1900. In : Jahrbuch für Regionalgeschichte, 28 (2010), S. 99–115. Vgl. Klaus Saul, Um die konservative Struktur Ostelbiens. Agrarische Interessen, Staatsverwaltung und ländliche »Arbeiternot«. Zur konservativen Landarbeiterpolitik in Preußen Deutschland 1889–1914. In : Dirk Stegmann / Bernd Jürgen Wendt / Peter - Christian Witt ( Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, Bonn 1983, S. 129–198; exemplarisch für die zeitgenössische Kritik an der »agrarischen Politik« und der Polenpolitik von Staat und Reich Moritz

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Das nationalpolitische Ergebnis der Ansiedlungspolitik bestand in der Schaffung von 22 000 Siedlerstellen mit einer Fläche von 300 000 Hektar. Wenn man von durchschnittlich fünfköpfigen Familien ausgeht, sind also ca. 110 000 Deutsche in den Provinzen Posen und Westpreußen angesiedelt worden.82 Da jedoch der größere Teil des Landes aus deutschem Besitz gekauft wurde und die privatwirtschaftlich organisierten Parzellierungen von Gütern mehr Land umverteilten als die Ansiedlungskommission, verschoben sich die nationalen Proportionen des Landbesitzes weiterhin zugunsten der Polen. Daran konnte selbst das ab 1904 wirksame Ansiedlungsverbot für Polen nichts ändern. Nur in einigen Kreisen mit ethnischer Gemengelage, wie Mogilno, Gnesen und Posen - West, in denen die Ansiedlungskommission besonders konzentriert tätig war, nahm der deutsche Bodenbesitz zu. Wenn man bedenkt, dass insgesamt ca. 955 Mio. Mark in den Ansiedlungsfonds geflossen sind, mussten die Protagonisten der deutsch - nationalistischen Ansiedlungspolitik nicht nur das Scheitern ihres Vorhabens konstatieren. Sie verursachten auch eine enorme Geldverschwendung. Die sozio - demographische Ursache für dieses Ergebnis bestand schlichtweg darin, dass eine relativ große Zahl von potentiellen polnischen Siedlern existierte, während das Interesse der West - und Süddeutschen an einem Rentengut in der fernen, als unwirtlich und kulturarm geltenden Ostmark – nicht zuletzt aufgrund des 1895 einsetzenden allgemeinen Wirtschaftsbooms, der erstmals einer breiten Masse der deutschen Bevölkerung auch Realeinkommenszuwächse bescherte – sehr gering blieb.83 Die ökonomische Bilanz der Ansiedlungspolitik weist neben der bereits erwähnten beträchtlichen Belastung für den preußischen Staatshaushalt auch eine gewisse Verzerrung des Marktes für landwirtschaftliche Immobilien aus, die durch die zusätzliche, nichtökonomisch motivierte Nachfrage der staatlichen Ansiedlungskommission verursacht wurde. Allerdings konnten potentielle Käufer immer auch auf andere Anbieter zurückgreifen. Eine Studie über den Kreis Wirsitz ergab zudem, dass die von der Ansiedlungskommission gezahlten Preise sogar leicht unter dem Niveau bei privaten Ankäufern lagen. Letztlich resultierte also das überdurchschnittliche Wachstum der Bodenpreise vorrangig aus einer Steigerung der Agrarproduktivität, den verbesserten Terms of Trade für Agrargüter und dem dennoch fortgesetzten Agrarprotektionismus.84 Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass sich im Schatten der nationalistisch motivierten Ansiedlungspolitik auch eine Form der inneren Kolonisation durchsetzen konnte, bei der es nicht in erster Linie um die »Eindämmung des Polonismus«,

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Jaffé, Die Stadt Posen unter preußischer Herrschaft. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Ostens, Leipzig 1909, S. 314–328. Eddie, Prussian Settlement Commission, S. 56. Baier, Osten, S. 80–85. Eddie, Prussian Settlement Commission, S. 51–56.

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sondern vor allem um eine »Steigerung der Agrarproduktion, Verbesserung der Verkehrs - und Marktverhältnisse« sowie allgemein um die »Anhebung des Kulturniveaus« gehen sollte.85 Den Regelungen der Rentengutsgesetze von 1890 und 1891 entsprechend kümmerte sich die Generalkommission in Bromberg um die Parzellierung des Großgrundbesitzes und arbeitete dabei auch mit polnischen Parzellierungsbanken zusammen. Diese Praxis wurde zwar bald von deutschen Nationalisten kritisiert und der Landwirtschaftsminister wies die Generalkommission an, darauf zu achten, dass ihre Tätigkeit die Bemühungen der Ansiedlungskommission nicht konterkariere. Dennoch sind zwischen 1891 und 1898 insgesamt 55 Prozent aller Rentengüter an Polen vergeben worden. Erst danach konnte die Generalkommission – ähnlich wie übrigens die Preußische Centralgenossenschaftskasse – mehr und mehr auf das nationalpolitische Primat verpflichtet werden.86 Die Ansiedlungspolitik, die Rentengutsbildung, die polnische Parzellierungstätigkeit und schließlich auch der ganz »normale« Immobilienmarkt veränderten die Betriebsgrößenstruktur in den Provinzen Posen und Westpreußen erheblich. Während der Anteil der Wirtschaftseinheiten, die größer waren als 100 Hektar, an der landwirtschaftlichen Nutzfläche in anderen gutswirtschaftlichen Gebieten, wie Ostpreußen, Vorpommern und Brandenburg während der Zeit des Kaiserreiches beinahe konstant blieb, sank er im Regierungsbezirk Bromberg, wo die Ansiedlungskommission am intensivsten tätig war, von 57 Prozent im Jahre 1882 auf 42 Prozent im Jahre 1907. Gleichzeitig ging auch der Anteil der Gutsbetriebe im Regierungsbezirk Marienwerder von 50 auf 39 Prozent sowie im Regierungsbezirk Posen von 54 auf 45 Prozent, also recht deutlich zurück.87 Allerdings hat das Gesetz von 1904 die polnische Siedlungstätigkeit im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg auf die Bereiche gelenkt, die noch erlaubt waren, also das Aufkaufen bereits bebauter Grundstücke aus deutscher Hand, den Zukauf von Land durch bestehende Siedlerstellen, die sogenannte Adjazentensiedlung, oder die Niederlassung in bestehenden Insthäusern. Dabei entstanden meist Kleinstbetriebe und eben nicht die leistungsfähigen Bauernwirtschaften, die sich die Protagonisten der inneren Kolonisation erhofft hatten. Insgesamt hat also die wirkungsmächtige Ideologie des Nationalismus den deutschen bzw. preußischen Staat seit ca. 1880 zu Eingriffen in die Wirtschaft veranlasst, die in diesem Ausmaß allein aus wirtschafts - oder sozialpolitischen Überlegungen heraus nie vorgenommen worden wären. Der nationalistische Konsens in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, der gerade auch in Bezug 85

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Manfred Jatzlauk, Diskussionen und Untersuchungen über die Agrarverhältnisse im Verein für Sozialpolitik in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. In : Reif, Ostelbische Agrargesellschaft, S. 55; vgl. auch Baier, Osten, S. 49–51. Vgl. Müller, Siedlungspolitik, S. 150–155. Ebd., S. 164.

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auf die Ziele der Polenpolitik herrschte, hat den Übergang zum Interventionsstaat wesentlich begünstigt, indem eben alle liberalen »Bedenkenträger« als unpatriotisch galten. Damit sind auch zentrale Rechts - und Verwaltungstraditionen des alten Preußen gebrochen worden.88 Allerdings haben sowohl die Verfolgung einzelwirtschaftlicher Interessen als auch die mitunter geradezu grotesk anmutenden Versuche, den Nutzen dieser wirtschafts - und kulturpolitischen Maßnahmen auf den deutschen Bevölkerungsteil zu begrenzen, die Effizienz dieser Politik massiv beeinträchtigt oder häufig sogar das Erreichen des Zieles, die deutsche Bevölkerung in den polnischen Provinzen zu vermehren und ihren Wohlstand zu heben, unmöglich gemacht.

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Vgl. Karl - Erich Born, Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Führungsmacht des Reiches und Aufgehen im Reich. In : Wolfgang Neugebauer ( Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Band III : Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 2001, S. 53.

Mike Schmeitzner Deutsche Polenpolitik am Ende ? Alfred Herrmann, der Deutsche Volksrat und die Nationalitätenkämpfe in Posen 1918/19

Wenige Monate nach der Revolution von 1918/19 sprach der bekannte Publizist und linksliberale Politiker Hellmut von Gerlach1 öffentlich vom »Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik«. Gerlachs Urteil stützte sich auf seine Einschätzung, wonach die bisherige Grundlage der deutsch - polnischen Beziehungen ein »Gewaltakt« gewesen sei, der von »drei Großmächten Polen gegenüber vorgenommen« worden sei. Gemeint waren damit die drei Teilungen Polens, die Russland, Preußen und Österreich 1772 eingeleitet hatten. Maßgebliche Westgebiete Polens waren so als neue Provinzen Westpreußen und Posen unter preußische Kontrolle geraten. Als »Gewaltakt« hatte Gerlach aber auch die Germanisierungspolitik verstanden, die spätestens mit der Schaffung eines deutschen Nationalstaates 1871 in Westpreußen und mehr noch in Posen einsetzte, um dort das polnische Element zurückzudrängen. Gerlachs Diktum war eindeutig : »Zusammengebrochen ist die deutsche Polenpolitik wie erwartet werden musste, in dem Augenblick, wo wir die Macht nicht mehr hatten, unsere Position mit Waffengewalt zu behaupten, was ein Jahrhundert lang gelungen war; in dem Augenblick, wo die anderen die Mächtigeren wurden.« Statt auf Revanche zu hoffen, sollte die neue deutsche Republik eine Verständigung mit dem neu entstandenen Polen suchen.2 Mit einem solchen Ansinnen war Gerlach in nur kurzer Zeit zur nationalen Hassfigur geworden. Eine Verständigung mit den Polen hatte Gerlach übrigens schon im November 1918 gesucht, als er in seiner Eigenschaft als Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium zu deutsch - polnischen Verhandlungen in Posen gewesen war. Wenige Wochen später, im Dezember 1918, legte er dieses »polnische Ressort« mit der Begründung nieder, dass die alte preußische ( Gewalt - )Politik sogar jetzt 1

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Hellmut von Gerlach (1866–1935) zählte im November 1918 neben Theodor Wolff, Georg Bernhard und Alfred Weber zum Gründerkreis der neu geschaffenen linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei ( DDP ). Hellmut von Gerlach, Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik, Flugschriften des Bundes Neues Vaterland Nr. 14, Berlin 1919, S. 3 und 22.

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noch – quasi hinter seinem Rücken – fortgesetzt worden sei.3 Diese Wahrnehmung schien zumindest mit der Entwicklung vor Ort in Posen in einem gewissen Widerspruch zu stehen. Denn dort hatte sich ebenfalls im Dezember 1918 ein Mann an die Spitze des neu gegründeten Deutschen Volksrates gesetzt, der wie Gerlach Linksliberaler war und eine Überbrückung der innerdeutschen und deutsch - polnischen Gegensätze in Aussicht stellte : Alfred Herrmann. Der habilitierte Historiker und Akademie - Professor aus Posen verkörperte zumindest zeitweise das nationalpolitische Kontrastprogramm zu den »hakatistischen«4 Konservativen in Posen und in der Deutschen Nationalversammlung. Nur : Wie glaubwürdig war er selbst gewesen, als er im Spätherbst 1918 an die Spitze des Deutschen Volksrates trat ? Und welchen Kurs verfolgte er mit Blick auf die künftige staatliche Zugehörigkeit der Posener Provinz ? Was für eine Politik betrieb der Deutsche Volksrat als Institution und welchen tatsächlichen Einfluss hatte er im Spannungsverhältnis zwischen den Arbeiter - und Soldatenräten, den deutschen Parteien und den Polen ? Zudem : Welche realen Machtoptionen durften ihm in Posen angesichts der deutschen Niederlage im Weltkrieg und der Konstituierung eines neuen Polen überhaupt eingeräumt werden ?5

1. Im Dienste der Germanisierungspolitik ? Der Akademie - Professor und Pressezensor Was Germanisierung in einer mehrheitlich polnisch geprägten Provinz bedeutete, ließ sich im Deutschen Kaiserreich auch an den Ortsnamenänderungen nachvollziehen. Der häufig in der Literatur genannte Geburtsort Herrmanns, Hohensalza,6 trug zum Zeitpunkt seiner Geburt am 26. Dezember 1879 noch einen 3 4

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Ebd., S. 19. Nach den Anfangsbuchstaben seiner Gründer ( Ferdinand von Hansemann, Hermann Kennemann, Heinrich von Tiedemann ) wurde der 1894 ins Leben gerufene »Deutsche Ostmarkenverein« von Kritikern gern als »hakatistisch« oder auch als »Hakatistenverein« bezeichnet. Der Verein setzte sich für die verstärkte Germanisierung der deutschen Ostmarken ein. Vgl. Helmut Wilhelm Schaller, Die »Reichsuniversität Posen« 1941–1945. Vorgeschichte, nationalsozialistische Gründung, Widerstand und polnischer Neubeginn, Frankfurt a. M. 2010, S. 66. Zum Ostmarkenverein grundsätzlich : Jens Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein 1894–1934, Berlin 2002. Zur ostdeutschen Grenzfrage aus dem Blickwinkel der deutschen Regierungs - und Verwaltungsperspektive vgl. Rainer Schumacher, Die Preußischen Ostprovinzen und die Politik des Deutschen Reiches 1918–1919. Die Geschichte der östlichen Gebietsverluste Deutschlands im politischen Spannungsfeld zwischen Nationalstaatsprinzip und Machtanspruch, Diss. Köln 1985. Vgl. Alfred Milatz, Alfred Herrmann. In : Neue Deutsche Biographie, 8 (1969), S. 687; Wolfgang Weber, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfängen des Fachs bis 1970, Frankfurt

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anderen Namen : Inowrazlaw. Erst im Zuge einer national grundierten Namensänderung wurde er im Jahre 1904 in Hohensalza »eingedeutscht«.7 Als Sohn einer deutschen Beamtenfamilie erhielt Herrmann schon in seiner frühen Kindheit prägende Eindrücke von den national und konfessionell gespaltenen Verhältnissen vor Ort. Denn bei Inowrazlaw handelte es sich um eine der am östlichsten gelegenen Kreisstädte der Provinz Posen mit mehrheitlich polnischer Bevölkerung. Die etwas mehr als 16 000 Einwohner zählende Stadt lag im Regierungsbezirk Bromberg und widerspiegelte das Stärkeverhältnis der Nationalitäten und Konfessionen der Provinz im Kleinen : Knapp 9 000 Einwohner waren (polnische ) Katholiken, ca. 6 000 ( deutsche ) Protestanten und ca. 1 500 Juden.8 Herrmanns Familie gehörte als Deutsche – auf das gesamte Reich bezogen – zwar zur preußisch - deutschen Mehrheitsnation, doch bildete sie wiederum in Posen und Inowrazlaw eine doppelte Minderheit, da sie hier zur kleinen Gruppe der deutschen Katholiken zählte.9 Die bi - nationale Einwohnerschaft dürfte jedenfalls maßgeblich dafür gewesen sein, dass der sprachbegabte Junge – er lernte später noch französisch – früh auch die polnische Sprache beherrschte. Noch während der Kindheit ihres Sohnes siedelte die Familie Herrmann in die schlesische Hauptstadt Breslau über, wo der Junge zwischen 1890 und 1899 das königliche Matthias - Gymnasium besuchte. An den Universitäten Breslau und München studierte er im Anschluss Geschichte, Germanistik und Philosophie. Seit seinem ersten Studienjahr vaterlos ( der Vater, ein Postmeister und Hauptmann a. D., war 1900 gestorben ), zeigte Herrmann rasch Ehrgeiz und schloss sein

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a. M. 1984, Artikel Alfred Herrmann, S. 232 f.; Cuno Horkenbach ( Hg.), Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Berlin 1933, Artikel Alfred Herrmann, S. 529; Das Deutsche Führerlexikon 1934/35, Artikel Alfred Herrmann, Berlin 1935, S. 186 f.; Ostdeutsche Biographie. Persönlichkeiten des historischen deutschen Ostens, hg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Artikel Alfred Herrmann. In : http ://www.ostdeutsche - biographie.de / herral79.htm; Handbuch der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, Berlin 1919, S. 180; Martin Schumacher ( Hg.), M. d. R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945, 2. Auflage Düsseldorf 1992, S. 523. Zum Problem der Ortsnamensgermanisierungen seit den späten 1870er Jahren, als deren Kulminationspunkt »Hohensalza« gilt, vgl. Thomas Maier, Die onomastische Waffe in Posen. Deutsch - polnische Ortsnamenwechsel in Posen zwischen 1815 und 1945, Norderstedt 2006, S. 14–17; Helmut Neubach, Großherzogtum und Provinz Posen (1815–1918). In : Joachim Rogall ( Hg.), Land der großen Ströme. Von Polen nach Litauen, Berlin 1996, S. 193–233, hier 231 f.; Thomas Serrier, Provinz Posen, Ostmark, Wielkopolska. Eine Grenzregion zwischen Deutschen und Polen 1848–1914, Marburg 2005, S. 267–269. Die Umbenennung Inowrazlaws löste erstmals größeren polnischen Widerstand aus. Die Angaben beruhen auf dem Eintrag »Inowrazlaw« in : Meyers Konversations - Lexikon, Neunter Band, Leipzig und Wien 1896, S. 262. In der Provinz Posen waren 1910 etwa ein Sechstel der Deutschen Katholiken, die große Mehrheit aber Protestanten, so dass die »populäre Gleichsetzung von Nationalität und Religion ( Pole gleich Katholik, Deutscher gleich Protestant )« im Prinzip stimmte. Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 39.

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Studium Ende Januar 1903 mit der mündlichen Doktorprüfung und Mitte Mai 1903 mit der Verteidigung seiner Doktorarbeit in der Breslauer Universitätsaula Leopoldina ab. Noch im selben Jahr legte er die Druckfassung seiner Doktorarbeit vor, die den Sieg Napoleons über die Österreicher in der Schlacht von Marengo ( Juni 1800) beinhaltete.10 Hatte er schon in Breslau von dem katholischen Universitätsprofessor Aloys Schulte nachhaltige Förderung erfahren,11 folgte er dem Historiker im Zuge seiner Berufung an die Universität Bonn, wo er sich unter Schultes Ägide 1906 für mittlere und neuere Geschichte habilitierte.12 Als Privatdozent und Schriftleiter der »Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein« (1905–1912) »befasste er sich vornehmlich mit Themen zur Geschichte der napoleonischen Zeit sowie zur neueren preußischen und rheinischen Geschichte«.13 Im Jahre 1913 erhielt Herrmann die unerwartete berufliche Chance, in seine Posener Heimatprovinz zurückzukehren. Ein Jahr zuvor war der Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte an der Königlichen Akademie in Posen, der Osteuropa- Historiker Otto Hoetzsch, nach Berlin berufen worden. Obwohl Herrmann bei der Nachfolgeregelung zunächst keine Rolle gespielt hatte und auch kaum als ebenbürtiger Ersatz für Hoetzsch bezeichnet werden konnte, wurde er zum Wintersemester 1913/14 an die Akademie berufen. Hier bot der »hauptamtliche Professor für Geschichte« in der Folge vorwiegend »Themen aus der Neuzeit Frankreichs und Deutschlands an«.14 Bei der Königlichen Akademie in Posen handelte es sich freilich nicht um eine vergleichbare Hochschul - oder Universitätseinrichtung, wie sie etwa die Universitäten im Osten, nämlich Königsberg und Breslau, oder etwa Technische Hochschulen, wie in Dresden, verkörperten. Anders als diese konnten Studenten an der Posener Akademie keine Diplome, Staatsexamina oder gar Doktortitel erwerben. Hörer erhielten lediglich den Besuch von Lehrveranstaltungen bescheinigt und Lehramtskandidaten die »Zeit des Besuchs [...] bis zu zwei Semestern angerechnet«.15 Auch der schmale Lehrkörper, der 29 Dozenten umfasste, und die 10 11

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Vgl. Alfred Herrmann, Marengo. I. Teil. Inaugural - Dissertation nebst den beigefügten Thesen und einem Lebenslauf, Münster 1903, Deckblatt und S. 83. In seinem Lebenslauf bedankte sich Herrmann bei Schulte, der 1902/03 auch Direktor des Preußischen Historischen Instituts in Rom gewesen war, dafür, dass dieser ihm »in liebenswürdigster Weise mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat«. Herrmann, Marengo, S. 83. Die Habilitationsschrift erschien sechs Jahre später : Alfred Herrmann, Der Aufstieg Napoleons, Berlin 1912. Alfred Milatz, Alfred Herrmann. In : Neue Deutsche Biographie, 8 (1969), S. 687. Christoph Schutte, Die Königliche Akademie in Posen (1903–1919) und andere kulturelle Einrichtungen im Rahmen der Politik zur »Hebung des Deutschtums«, Marburg 2008, S. 282 f. Helmut Neubach, Statt einer Universität nur eine Königliche Akademie in Posen (1903–1918). In : Peter Wörster ( Hg.), Universitäten im östlichen Mitteleuropa. Zwischen Kirche, Staat und Nation – Sozialgeschichtliche und politische Entwicklungen, München 2008, S. 127–144, hier 138.

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Zahl der Hörerschaft, die zwischen 500 und 1 000 Personen schwankte, durften nicht gerade als hochschulkompatibel gelten. Das ging in erster Linie auf die politisch motivierte Engführung zurück, die laut § 1 der Akademiesatzung die Förderung des »deutschen Geisteslebens in den Ostmarken«16 durch Lehrtätigkeit und wissenschaftliche Bestrebungen gewährleisten sollte. Dabei hatte es lange vor Gründung der Akademie im Jahre 1903 deutsche und polnische Pläne für die Errichtung einer Universität gegeben. Auch Ideen für die Schaffung einer deutsch - polnischen »Vermittlungsuniversität« datierten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass die preußische Staatsregierung solche Pläne rigoros verworfen hatte, lag erstens in der Furcht vor einer »Polonisierung« der Universität begründet, wenn denn auch polnische Studenten und Dozenten Einzug gehalten hätten, und zweitens in dem eigenen Anspruch, nur eine akademische Einrichtung für Deutsche schaffen zu wollen. Die Gründung eines solchen »Schmalspur« - Provisoriums erfolgte zudem erst im Rahmen einer ganzen Reihe von institutionellen Maßnahmen zur »Hebung des Deutschtums« in der Provinzhauptstadt. Angesichts eines Bevölkerungsanteils von nur 42 Prozent Deutschen konnte die Gründung jedoch weder in der Stadt selbst noch über deren Grenzen hinaus eine größere Wirkung entfalten.17 Herrmanns Rolle als Geschichtsprofessor war also per se nicht die eines Mittlers zwischen den nationalen Kulturen, wozu er als Katholik und Polnisch - Kundiger sehr wohl prädestiniert gewesen wäre, sondern die eines akademischen Multiplikators zur »Hebung des Deutschtums«. Das zeigte sich nicht zuletzt an den Themen, die Herrmann während der nächsten Jahre in seinen Lehrveranstaltungen präsentierte : In den ersten vier Kriegssemestern, so Christoph Schutte, »konzentrierte sich das historische Lehrprogramm auf deutsche Geschichte seit 1871 sowie auf die Entstehung und den Verlauf des Weltkriegs«. In der Folge wählte Herrmann zusehends Themen aus der älteren ( preußischen ) Geschichte, wobei er mit einer Vorlesung über Friedrich den Großen den »stärksten Andrang« verzeichnen konnte.18 In einer Festrede anlässlich der Kaisergeburtstagsfeier der Posener Akademie formulierte er Anfang 1915 eine Art Synthese aus Nationalismus und Liberalismus : »Die große deutsche Kulturgemeinschaft ist erwacht, und der gegenwärtige Weltkrieg ist uns Machtkampf und Kulturkampf zugleich, der Kampf um äußere und innere Freiheit, für den Einzelnen wie für die Gesamtheit, nicht nur für uns Deutsche, sondern angesichts der Gefahren des 16 17

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Ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 128–133 und 142–144; Schutte, Königliche Akademie, S. 346–349; Schaller, »Reichsuniversität Posen«, S. 45–71; Christoph Schröder, Wissenschaftspopularisierung im Dienste preußischer »Hebungspolitik«. Die Königliche Akademie im Posener Kultur - und Wissenschaftsmilieu 1903–1919. In : Inter Finitimos, (2001) 19/20, S. 22–30. Schutte, Königliche Akademie, S. 283. Die Friedrich - Vorlesung fand im Wintersemester 1916/17 statt und erreichte 152 Hörer.

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halbasiatischen Moskowitertums und Englands Verrat an der weißen Rasse letzten Endes selbst für unsere Gegner.« Gegenüber der »platten Nützlichkeitsmoral« der Engländer beschwor Herrmann die »Kantische Pflichtenlehre«, die Verschmelzung von »Staats - und Reichsbürgertum«, die »akademische Objektivität« und – mit Pestalozzi – »eine Nationalerziehung ohne Unterschiede der Stände«.19 Nur eine Gruppe spielte in seiner 20- seitigen Festrede keine Rolle, obwohl sie die Mehrheit in Posen ( Stadt und Provinz ) stellte : die Polen ! Ihnen widmete sich Herrmann allerdings während des Krieges verstärkt auf einem Arbeitsfeld, das der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt war – als Leiter der Presseabteilung des Stellvertretenden Generalkommandos ( Gen. Kdo.) 5 in Posen, wo er auch für die Überwachung und Auswertung der polnischen Presse zuständig zeichnete. Diese Aufgabe vermochte der damals 36 - Jährige noch intensiver zu betreiben, nachdem seine Wahl zum Rektor ( Juni 1915) knapp gescheitert war und er im letzten Kriegsjahr von seinen Lehrverpflichtungen entbunden wurde. Anlässlich der Rektorenwahl hatte der Akademiekurator über Herrmann intern geurteilt, er sei ja noch »sehr jung« und neige »ohnehin dazu«, den »Wert seiner Persönlichkeit sehr hoch einzuschätzen«.20 Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Herrmanns Ehrgeiz und sein Spürsinn für Macht öffentlich auffielen. Als »polnischer Pressezensor«21 oblag dem Geschichtsprofessor vor allem das Berichtswesen über die Stimmungsverhältnisse der polnischen und deutschen Bevölkerung im Korpsgebiet.22 Hier lieferte er fast bis Ende 1918 regelmäßig Berichte und Analysen über die Resonanz, die verschiedene Kriegsereignisse und preußisch - deutsche Entwicklungen »an der Basis« ausgelöst hatten. Seine Berichte, die sowohl eine komplette Presseauswertung als auch das Organisationsgeschehen vor Ort und selbst kommunale parlamentarische Auftritte beinhalteten, können zumindest teilweise auch als Zeugnisse des eigenen Verständnisses der »Polenfrage« gelten. Schon eine seiner ersten Analysen ging auf die politische und historische Dimension der Frage ein : Sie versuchte darüber »Aufklärung« zu geben, weshalb die preußischen Polen »nicht lebhafter« für die Mittelmächte Partei ergriffen, obwohl sie doch – wie Herrmann betonte – »alle Vorteile eines hoch entwickelten Kultur - und Rechtsstaates« genießen würden. Anders als Russland, das im Falle eines Sieges über Deutschland »den Polen ein autonomes« mit Russland vereinigtes Polen mit »allen polnischen Landesteilen 19 20 21 22

Alfred Herrmann, Der Geist von 1914. Festrede gehalten bei der Kaisergeburtstagsfeier der Königlichen Akademie zu Posen am 27. Januar 1915, Lissa 1915, S. 8–14. Zit. nach Schutte, Königliche Akademie, S. 220. So Herrmanns Selbstdarstellung in der Rückschau. Vgl. Herrmann an Gouverneur von Radom vom 14.1.1941 ( BArch, N 1640/9, Bl. 13). Das Korpsgebiet ( des Gen. Kdo. 5) umfasste von der Provinz Posen den gleichnamigen Regierungsbezirk ( ohne den Regierungsbezirk Bromberg ) und den schlesischen Regierungsbezirk Liegnitz.

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vorzaubern« könne, könnten die Mittelmächte ein Programm mit derartiger »Zugkraft« nicht aufstellen. Das ( vermeintliche ) Dilemma, in dem sich Deutschland befinde, beschrieb Herrmann so : Die preußischen Polen hätten deshalb »nicht viel [ zu ] erhoffen«, weil Preußen diese »nicht freiwillig« aus seinem Staat entlassen könne. Außerdem könne Preußen »ihre Wünsche nicht erfüllen, ohne das Deutschtum im Osten preiszugeben«. Schon allein aufgrund der Tatsache einer »untrennbaren« Verflechtung beider Nationalitäten sei bereits 1848/49 ein »ernsthaft« unternommener Versuch, einen »polnischen Regierungsbezirk Gnesen mit einem Polen als Präsidenten, mit polnischer Verwaltungssprache usw. zu schaffen«, gescheitert. Vor diesem Hintergrund wandte er sich überdies gegen eine Rückkehr der »Gleichberechtigung der polnischen Sprache« in Verwaltung und Schule. Die polnische Nationalität – so sein Fazit – könne im preußischen Staat auch in Zukunft keine gleichberechtigte oder gar selbstständige Stellung einnehmen, was »zweifellos eine harte Tatsache« sei. Andererseits war Herrmann wohl bewusst, dass »der preußische Pole« als Teil eines so selbstbewussten und traditionsreichen 20-Millionen - Volkes seine »nationalen Ideale« nicht einfach aufgeben werde.23 Herrmanns Expertise für das Militär war gerade deshalb nichts anderes als der Offenbarungseid einer preußisch - deutschen Machtstaatspolitik : Ein Mann, der als Liberaler selbst vom hohen Wert des Rechtsstaates überzeugt war, versuchte eben diesen in der Nationalitätenfrage vielfach auszublenden. Ausnahmegesetze, die seit 1876 gegen eine Gleichberechtigung der polnischen Sprache in Verwaltung, Justiz und Schule erlassen worden waren, sollten weiter existieren, um den größeren und auch größer werdenden polnischen Bevölkerungsanteil »einzudämmen« und letzten Endes doch noch zu assimilieren. Die dynamischere soziodemographische Entwicklung der Polen hatte bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts deutsche »Bedrohungsängste« vor einer »slawischen« bzw. »polnischen« »Überflutung« des »Deutschtums« stimuliert, die nicht selten in neue aggressive antipolnische Ressentiments und ( noch ) schärfere Sprach - , Ansiedlungs - und Enteignungsgesetze mündeten. Obwohl sie allesamt erfolglos blieben, forcierten sie den Nationalitätenkampf.24 Zwischen Einpeitschern eines Radikalnationalis23

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Die Haltung der Polen in Posen. Zweiter Bericht vom 12. September bis 31. Oktober. Bericht der Presseabteilung des Stellv. Gen. Kdo. vom 3.11.1914 ( BArch, N 1640/1, Bl. 41–43). Die in dieser Akte befindlichen Berichte Herrmanns sind teils handschriftlich, teils maschinenschriftlich und teils gar nicht gezeichnet. Sie weisen durchgängig denselben Duktus und dasselbe Interpretationsschema auf. Dazwischen finden sich Herrmanns Passierscheine. Zu den Autonomievorstellungen von 1848 in Posen vgl. Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, 1. Auflage der rev. und erw. Ausgabe Frankfurt a. M. 1972, S. 111–116; vgl. auch Serrier, Provinz Posen, S. 32–34; Neubach, Großherzogtum und Provinz Posen, S. 211–213. Borodziej, Geschichte Polens, S. 39–43; Jürgen Heyde, Geschichte Polens, München 2006, S. 73 ff.; Broszat, Zweihundert Jahre, S. 129–172; Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 252–281.

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mus wie dem »Hakatisten« Alfred Hugenberg und Status - quo - Befürwortern wie Herrmann verlief dabei zweifellos eine Trennungslinie, wenn man in Rechnung stellt, dass Hugenberg die polnische »Flut« bis zur »Vernichtung« bekämpfen wollte25 und Herrmann als Zensor eine durchaus »elastische« Pressepolitik verfolgte.26 Doch blieb Herrmann auch in seinen weiteren Analysen einer alternativlosen preußisch - deutschen Machtstaatspolitik verhaftet. Als die Mittelmächte nach erfolgreichem Raumgewinn im Osten am 5. November 1916 per Manifest ein Königreich Polen aus vormals russischen Teilen ins Leben riefen, reagierten die preußischen Polen »ohne eine Spur von Begeisterung«, wie Herrmann bitter vermerkte. Die preußischen Polen würden den neuen Staat als »Vasallenstaat« betrachten, der »allmählich von Deutschland aufgesogen« werde. Eine Neuausrichtung der deutschen Polenpolitik könnten diese Kreise schon deswegen nicht erkennen, weil »keines der [ gegen sie gerichteten ] sogenannten Ausnahmegesetze aufgehoben« worden sei.27 Im Juni 1917 musste Herrmann konstatieren, dass eine solche Symbolpolitik sowie eine »Politik der Halbheit und Schwäche« in »Kongresspolen« gerade »diesseits der Grenze so überaus verderblich und vor allem anreizend auf die Ansprüche der Polen« wirke.28 Ab Anfang 1918 machte er dann immer stärker auf das steigende polnische Selbstbewusstsein in der polnischen Presse und in den verschiedenen Organisationen aufmerksam. Als Beispiel für die »wahre Gesinnung« der Polen nannte er ausgerechnet deren ablehnende Haltung gegenüber Ehrungen für Hindenburg und Ludendorff, die in der Posener Stadtverordnetenversammlung zur Abstimmung gestanden hatten.29 Im August 1918 nahm sein Bericht fast schon prophetische Züge an. Es hieß dort u. a. : »Lediglich nationalpolnische Interessen verbinden sie [ die preußischen Polen ] mit dem weiteren Fortgang und mit dem Ausgang des Krieges. Es gibt 25 26

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Ebd., S. 264. Hugenberg hatte die Forderung in einem anonym veröffentlichten Aufsatz erhoben. Kurz nach Kriegsende bestätigte ihm dies der Vorsitzende des Ostmarken - Vereins in einem eisig gehaltenen Schreiben : »Was Ihre Handhabung der Zensur betrifft, so erinnern wir nur an die wiederholten Beschwerden, die wir über die ungleichmäßige Behandlung der deutschen und polnischen Presse an das Stellvertretende Generalkommando gerichtet haben.« Tiedemann an Herrmann vom 31.1.1919 ( BArch, N 1640/4, Bl. 10). Wirkung der Verkündigung der Wiedererrichtung des Königreiches Polen auf die deutsche und polnische Bevölkerung. Bericht vom 1.2.1917 ( BArch, N 1640/1, Bl. 77). Bericht Herrmanns über die Stimmung im Monat Juni [1917] im Bereiche des 5. A. K. ( ebd., Bl. 156). Monatsbericht Januar 1918 vom 1.2.1918. Berichterstatter : Prof. Dr. Herrmann ( ebd., Bl. 231– 239, insbesondere 239). In diesem Bericht ging Herrmann zumindest indirekt auf seinen eigenen politischen Standort ein, als er hinsichtlich einer Polenkontroverse zweier deutschsprachiger Posener Zeitungen betonte, dass sich die Leserschaft der »neuerdings« propolnischen »Posener Neuesten Nachrichten« auch aus den »Kreisen der freisinnigen Intelligenz« zusammensetze, die »wie hier [ sic !] immer wieder festgestellt werden kann, in der polnischen Frage zumeist abweichender Ansicht« seien. ( ebd., Bl. 233).

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nichts Gemeinschaftliches zwischen ihnen und uns und tausenderlei Anzeichen im täglichen Leben machen es unverkennbar, dass die Kluft immer größer wird.«30

2. Die nationale Revolution der Polen und der Deutsche Volksrat Der Ausgang des Krieges – konkret : die deutsche Niederlage – stellte die Weichen in der Provinz wie im gesamten deutschen Osten in eine völlig andere Richtung, als Herrmann und die preußisch - deutsche Machtstaatspolitik dies je für möglich gehalten hatten. Da mit Österreich - Ungarn und Russland auch die anderen beiden Teilungsmächte zusammengebrochen waren, befanden sich die Polen in der überaus vorteilhaften Situation, einen neuen Staat konstituieren zu können. Unterstützung erhielten sie durch die prononcierte Haltung der Siegermächte, die in der Kriegsendphase als Ziel ihrer Politik auch die Schaffung eines neuen polnischen Staates auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Als Vorreiter dieser Entwicklung galt der US - amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der seit seinem 14- Punkte - Programm ( Januar 1918) auch für die Wiederherstellung eines politisch und wirtschaftlich unabhängigen Polens plädierte. In dem betreffenden Punkt 13 war zudem die Rede von einem polnischen Staat, der »alle Gebiete« umfassen sollte, die »von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt« wurden. Außerdem sollte diesem neuen Staat »ein freier und sicherer Zugang zur See« eröffnet werden. Es waren diese wenig konkreten Aussagen, die zwischen Deutschen und Polen zu neuen Spannungen führen mussten, zumal dann, als Wilsons 14- Punkte - Programm die Grundlage für das erste Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland bildete.31 In den betreffenden deutschen Ostprovinzen Oberschlesien, Posen und Westpreußen gab es keine »unbestritten« polnisch besiedelten Gebiete. Was dort existierte, waren ethnische Mischzonen aus Polen und Deutschen, die – wie Herrmann zu Recht formuliert hatte – »untrennbar« in Dörfern, Städten und Kreisen zusammenlebten. Dabei variierten die Stärkeverhältnisse der einzelnen Ethnien. In Posen bekannten sich ca. 62 Prozent der Bevölkerung als Polen und ca. 38 Prozent als Deutsche, in Westpreußen dominierten dagegen letztere.32 Während sich in Posen die ethnographischen Verhältnisse insofern übersichtlicher 30 31

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Bericht über die Stimmung im Monat August 1918 im Bereich des 5. A. K. ( ebd., Bl. 267). Zu den entsprechenden Diskussionen auf deutscher Regierungsseite vgl. Schumacher, Ostprovinzen, S. 12–21; Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, 2. unv. Auflage Darmstadt 1993, S. 35–41. In Westpreußen lag die Zahl der Deutschen bei 65 Prozent, die der Polen bei 28 Prozent und die der gesondert aufgeführten ( zweisprachigen ) Kaschuben bei 7 Prozent. Alle Zahlen basieren auf der Volkszählung von 1910. Vgl. Broszat, Zweihundert Jahre, S. 145.

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gestalteten, als dort die Deutschen mehr in den Randzonen zu Schlesien, Brandenburg und Westpreußen siedelten und weniger zentral und östlich, durften die ethnographischen Verhältnisse in Westpreußen als wesentlich unübersichtlicher gelten: Die Deutschen siedelten hier im westlichen, nördlichen und östlichen Teil, aber auch in einem südlicher gelegenen »Gürtel« zwischen Thorn, Bromberg33, Kulm und Graudenz entlang der Weichsel. Polens freier Zugang zum Meer konnte also nur dann verwirklicht werden, wenn dieser breite Siedlungsgürtel in einen polnischen Staat integriert werden würde. Doch ließen sich für diese »Lösung« nur mehr geopolitische, aber eben nicht allein ethnographische Gesichtspunkte geltend machen. Wer wie Wilson auch von einem Selbstbestimmungsrecht der Völker ausging, musste also zwangsläufig dieses Prinzip in solchen Regionen aushebeln; oder er musste – wie es der Führer der polnischen Nationaldemokraten, Roman Dmowski, tat – mit dem Argument der historischen Grenzen operieren, um weitgespannte eigene Interessen ohne Legitimation der betreffenden Bevölkerungsteile durchzusetzen. Im Falle Posen und Westpreußen operierte Dmowski tatsächlich mit dem Argument der historischen Grenzen und der ethnographischen Verhältnisse, wobei im Falle Posen – dem ehemaligen Großherzogtum Posen – beide Argumente stichhaltiger erschienen.34 Für Dmowskis Nationaldemokraten war Posen – eine ihrer Parteihochburgen – unbestritten Teil eines neuen Polen. Ähnlich sah es auch der Gründer des neuen Polens, der Sozialist und Militär Józef Piłsudski, der am Tag des deutschen Waffenstillstandsabkommens (11. 11. 1918) zum obersten polnischen Militärchef avancierte. Doch Grenzentscheidungen waren auch an diesem Tag noch nicht gefallen : Im Waffenstillstandsabkommen hatten die Siegermächte zwar Elsaß - Lothringen sofort wieder zu Frankreich geschlagen, aber die Provinzen Posen und Westpreußen vorerst bei Deutschland belassen.35 Über die neue deutsch - polnische Grenze sollte die Friedenskonferenz in Versailles befinden. Viele Polen wollten deren Ergebnisse nicht einfach abwarten. Gerade in der mehrheitlich polnisch geprägten Posener Provinz waren die führenden Vertreter der Nationaldemokraten angesichts der deutschen Niederlage und der in Gang gekommenen Revolution nicht mehr nur gewillt, über nationale Paritäten zu verhandeln. Ihr Blick richtete sich jetzt sukzessive auf die Übernahme der öffent-

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Die nordöstlichste Grenzstadt der Provinz Posen bildete faktisch eine ethnische Brücke zu den in der Provinz Westpreußen gelegenen Weichselgebieten. Vgl. Krzyztof Kawalec, Roman Dmowski 1864–1939, Wrocław 2005, S. 199–211. Während laut Waffenstillstandsabkommen Elsaß - Lothringen binnen 15 Tagen von deutschen Truppen geräumt werden musste, wurde die deutsche Ostgrenze ( mit Datum vom 1. 8. 1914) bestätigt. Vgl. Gerhard Schulz, Revolutionen und Friedensschlüsse 1917–1920, 6. Auflage München 1986, S. 164 f.

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lichen Gewalt in der Provinz und deren letztlichen Anschluss an Polen.36 Man muss sich nicht die Sprache einiger deutscher Zeitungen zu eigen machen, die bereits in der dritten November - Woche von einer »polnischen Revolution gegen das Deutschtum« sprachen,37 aber auch der nur wenig später von Herrmann verfasste Bericht ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, in welch besonderen Bahnen die Revolution im Regierungsbezirk Posen38 verlief. »Von Tag zu Tag« werde »deutlicher, dass die Umwälzung hier weniger sozialistischer als nationalpolnischer Art« sei.39 Dabei gingen die Polen zielstrebig und diszipliniert zugleich vor: Dort, wo sie über die Mehrheit der Bevölkerung verfügten, instrumentalisierten sie die Arbeiter - und Soldatenräte, um die deutschen Behörden unter ihre Kontrolle zu bringen. Darüber hinaus schufen sie gleich zu Revolutionsbeginn einen Obersten Polnischen Volksrat als »politische Repräsentation der Polen im preußischen Teilgebiet«,40 quasi einen Staat im Staate, sowie eine geheime »Polnische Militär - Organisation«, die POW.41 Die kaum verhüllte polnische Nationalstaatsbildung auf preußisch - deutschem Territorium fand schließlich mit den Wahlen zu einem polnischen Teilgebiets Landtag ( Sejm ) einen neuen Höhepunkt. Vom Obersten Polnischen Volksrat kurz nach dessen Gründung ausgeschrieben, diente er zum einen der Legitimation dieses neuen provisorischen Gremiums und zum anderen der Legitimation von polnischen Wünschen, die über eine bloße Autonomie hinausreichten.42 Der in der zweiten Novemberhälfte gewählte und Anfang Dezember zusammengetretene Sejm operierte überdies als »parlamentarische Vertretung der Polen in Deutschland«.43 Für die Bedeutung Posens sprach dabei die Tatsache, dass die

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Bereits am 5.10.1918 hatte der polnische Abgeordnete Władysław Seyda in einer Rede im Deutschen Reichstag »offen den Anschluss Großpolens [ d. h. der Provinz Posen ] an einen unabhängigen polnischen Staat gefordert«. Torsten Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód. Bürgergesellschaft und Nationalitätenkampf in Großpolen bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin 2005, S. 204. So der Hannoversche Kurier vom 23.11.1918. Zit. nach Eberhard Buchner ( Hg.), Revolutionsdokumente. Die deutsche Revolution in der Darstellung der zeitgenössischen Presse. Erster Band : Im Zeichen der roten Fahne, Berlin 1921, S. 321. Der Bericht bezieht sich hier nur auf den Regierungsbezirk Posen und nicht auf die gesamte gleichnamige Provinz. Bericht über die Stimmung im Bereich des Stellv. Gen. Kdo. 5. A. K. im November 1918. Entwurf vom 30.11.1918 ( BArch, N 1640/1, Bl. 273). Von einer »nationalen« Revolution der Polen statt einer »sozialen« Revolution sprach im Übrigen auch Gerlach, Zusammenbruch, S. 11. Dietrich Vogt, Der Grosspolnische Aufstand 1918/19. Bericht, Erinnerungen, Dokumente. Mit einer Einführung von Gotthold Rhode, Marburg 1980, S. 19. Diese Institution war am 14. 11. 1918 aus dem vorher existierenden »Volksrat« hervorgegangen. Zur polnischen Institutionenbildung vgl. auch Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód, S. 204 f. Polska Organizacja Wojskowa ( POW ). Zu den diesbezüglichen Beschlüssen des Sejms vgl. Vogt, Aufstand, S. 27. Ebd., S. 22.

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Mehrzahl der Delegierten aus dieser Provinz stammte und sich der Tagungsort in der Provinzhauptstadt befand. Doch warum wurde diese »polnische Institutionenbildung« von den Berliner Revolutionsregierungen weitestgehend toleriert ?44 In erster Linie ging es ihnen wohl darum, die »Mitarbeit der polnischen Bevölkerung bei der Lebensmittel und Brennstoffversorgung« des Reiches zu gewährleisten.45 Tatsächlich waren Befürchtungen über den Ausfall der Provinz als »Lebensmittelkammer Preußens« damals weit verbreitet gewesen.46 Bereits Mitte November hatte etwa der Kartoffelabfluss nach Chemnitz gestockt, was dort einen publizistischen Aufschrei und hektische Aktivitäten auslöste.47 Wenn man in Rechnung stellt, dass die Siegermächte auch nach Abschluss des ersten Waffenstillstandsabkommens die Blockade Deutschlands aufrechterhielten, dann kam der »Lebensmittelkammer Preußens« immense Bedeutung zu. Dieser komplizierten Lage versuchte auch der Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium, Hellmut von Gerlach, zu entsprechen, als er am 19./20. November in Posen mit den Vertretern der deutschen Behörden und des Obersten Polnischen Volksrates verhandelte. Letztlich erfüllte er das von den Polen erhobene Junktim, wonach die polnische Seite versprach, für den Abfluss der Lebensmittel zu sorgen, wenn sich denn im Gegenzug die preußische Regierung verpflichtete, keine »ortsfremden« Truppen nach Posen zu schicken.48 Dieses – später ohnehin unterlaufene – militärische Zugeständnis kam gewiss den polnischen Sezessionsvorstellungen entgegen, doch war Gerlach ohnehin der Meinung, statt der »Gewaltpolitik« einer »Verständigungspolitik« den Weg zu ebnen; außerdem erreichten ihn zu dieser Zeit nicht wenige widersprüchliche Signale vor Ort.49 Sein Verhalten, das von Verständigungsbereitschaft und einer – allerdings sehr weitgehenden – Akzeptanz politischer Realitäten geprägt war,50 44 45 46 47

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Die preußische Regierung reagierte auf die sezessionistischen Erklärungen des Sejms mit einer abwehrenden Verordnung. Vgl. ebd., S. 27. So Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód, S. 204. So für viele Stimmen Hannoverscher Kurier vom 23.11.1918. Um den 15. November 1918 waren die aus Posen vertraglich zugesicherten Kartoffeltransporte nach Chemnitz ins Stocken geraten. Erst durch Interventionen vor Ort in Posen, die der Chemnitzer Ernährungskommissar Alfred Fellisch ( MSPD ) einleitete, kam der Zufluss wieder ins Rollen. Vgl. Mike Schmeitzner, Alfred Fellisch 1884–1973. Eine politische Biographie, Köln 2000, S. 108 f. Gerlach, Zusammenbruch, S. 12 f. Zur Posen - Reise Gerlachs vgl. auch Schumacher, Ostprovinzen, S. 24–28. So äußerte er Monate später, dass ihn kurz vor seiner Abreise der deutsche kommandierende General gebeten hatte, keine »fremden« Truppen zu schicken, denn das würde »nur unnötiges Blutvergießen im Gefolge haben«. Gerlach, Zusammenbruch, S. 13. In einer von ihm durch »Wolffs Telegraphisches Büro« verbreiteten Erklärung hieß es u. a. : »Im Allgemeinen ist der Eindruck festzustellen, dass die Polen sich schon jetzt voll verantwortlich für die Zustände in den überwiegend von Polen bewohnten Landesteilen fühlen. Sie bemühen

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forderte in der Folge nicht nur die »hakatistischen« Kräfte heraus. Auch in Herrmanns Bericht von Ende November 1918 war der Unmut über den wachsenden polnischen Einfluss und das defensive Vorgehen der deutschen Behörden spürbar. Es sei, so der Leiter der Presseabteilung, »doch sicher, dass es die Polen meisterhaft verstehen, auf dem Wege der Verwaltungspraxis sozusagen in friedlicher Durchdringung Stadt und Provinz allmählich in ihre Hand zu bringen und so faktisch die Friedenskonferenz vor eine vollendete Tatsache zu stellen, auch wenn sie es aus taktischen Gründen unterlassen sollten, die polnische Republik auszurufen«. Während er die Einberufung eines polnischen Teillandtages als klares Präjudiz dafür betrachtete, sah er im geschickten Vorgehen der Polen und der »militärischen Wehrlosigkeit der Provinz« den Grund für den ausgebliebenen deutschen Widerstand. In einem wieder gestrichenen Satz sprach Herrmann sogar davon, dass sich das »Deutschtum« von den eigenen Behörden »verlassen und verraten« fühle und dort die Ansicht stark verbreitet sei, dass die Polen bei ihrem bisherigen Vorgehen »zumindest stark geblufft« hätten.51 Welchen Weg er für den einzig richtigen hielt, machte Herrmann noch in dem selben Bericht deutlich : Die Deutschen der Provinz, die – so seine ironische Interpretation – »bisher gerade in diesem gelobten Lande der Beamtenherrschaft an die Führung von oben gewöhnt sind«, hätten sich zur »Selbsthilfe« entschlossen, um sich »künftighin nach Möglichkeit den gebührenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Dinge zu sichern«. Unter »Selbsthilfe« verstand Herrmann die »in Wiederholung von 1848« gebildeten deutschen Bürgerkomitees – die »Deutschen Volksräte«, die – damals wie 1918/19 – den polnischen Ansprüchen Paroli bieten sollten.52 Geradezu euphorisch berichtete Herrmann von einem Zustrom von bereits »zehntausenden von Mitgliedern« und der Erwartung, »dass die deutschen Volksräte binnen Kurzem die Gesamtorganisation des Deutschtums in der Provinz darstellen« werden. Darüber hinaus wusste er zu berichten, dass für den 10. Dezember ein aus allen Volksräten gewählter Abgeordnetentag in Posen geplant sei, auf dem die Schaffung eines Gesamtprovinzrates diskutiert werden solle. Dieser – quasi als Gegenstück zum polnischen Teillandtag und zum Obersten Polnischen Volksrat geplanten – Einrichtung müsste

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sich deshalb, die Ruhe aufrecht zu erhalten und die Versorgung nach dem Westen nicht zu unterbinden.« Zit. nach Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22.11.1918. Bericht über die Stimmung im Bereich des Stellv. Gen. Kdo. 5. A. K. im November 1918. Entwurf vom 30.11.1918 ( BArch, N 1640/1, Bl. 273 f.). Teile seines Berichtes legte Herrmann später seiner programmatischen Rede auf dem deutschen Volksrätetag zugrunde. Vgl. Bericht über den Vertretertag der deutschen Volks - Räte der Provinz Posen in Posen am 12. Dezember 1918, Posen 1918, S. 8. Das gedruckte Protokoll befindet sich in Herrmanns Nachlass. Im Folgenden wird nach der dortigen Seitenzählung zitiert und nicht nach der Foliierung. Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód, S. 204.

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dann, so Herrmann, ein tatsächliches Mitspracherecht an allen Entscheidungsfindungen in der Provinz zugebilligt werden.53 Was Herrmann hier beschrieb und antizipierte, beinhaltete auch eine Selbstbewerbung : Ihm war wohl inzwischen klar geworden, dass er sich mit seiner bisherigen Militär - Funktion nur mehr im beobachtenden Abseits befand, dass die Lebensfragen der Provinz auf offener Bühne – in den polnischen und deutschen Volksräten – ausgefochten werden würden. Die Unzufriedenheit über die Entwicklung vor Ort und über die Behörden hatte in ihm den Willen wachsen lassen, eine maßgebliche öffentliche Rolle zu spielen, zumal er als Akademieprofessor in der Öffentlichkeit so unbekannt nicht war. Ehrgeiz dürfte ebenso im Spiel gewesen sein, als er auf den fahrenden Zug der deutschen Volksräte aufsprang und sich gleichzeitig der neuen ( links - )liberalen Sammlungsbewegung, der Deutschen Demokratischen Partei ( DDP ), anschloss. Gewiss war ihm auch der Gedanke vertraut, dass er – als mehrjähriger »Polen - Experte« – der richtige Mann sei, um die deutsche Volksratsbewegung voranzubringen. In den ersten drei Dezemberwochen schien sich Herrmanns Volksratseuphorie gleich in mehrfacher Hinsicht zu bestätigen : Unter der Ägide des Gründungsvorsitzenden des Deutschen Volksrates der Stadt Posen, dem Bankdirektor und Filialleiter der Posener Disconto - Gesellschaft, Dr. Otto Houtermans,54 gelang es ihm binnen Kurzem, in diesen Strukturen Fuß zu fassen und aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten und historischen Kenntnisse eine führende Rolle zu übernehmen. Sie kam zuerst auf dem von ihm avisierten »deutschen Volkstag« in Posen zum Tragen. Auf dem ersten Vertretertag der deutschen Volksräte (12.12.1918) erschienen nicht nur die ohnehin erwarteten Delegierten, sondern »Menschenmassen«, die die Veranstalter auf bis zu 20 000 Personen schätzten. Vor allem hier, auf den Straßen der Stadt und in den sieben Volksversammlungen, in denen der gesamte Auflauf mündete, fand der alte deutsche Nationalismus mit schwarz - weiß - roten Fahnen, Gesängen (»Deutschland, Deutschland über alles«, »Deutschland hoch in Ehren«, »Wacht am Rhein«) und »jubelnden« Hoch - Rufen vor dem Geburtshaus »unseres großen Feldmarschalls Hindenburg« zumindest partiell Ausdruck.55 Für Herrmann, der eine der Versammlungen lei-

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Bericht über die Stimmung im Bereich des Stellv. Gen. Kdo. 5. A. K. im November 1918. Entwurf vom 30.11.1918 ( BArch, N 1640/1, Bl. 275). Nach Vogt, Aufstand, S. 22 f., sei Houtermans zwar ab 14.11.1918 Gründungsvorsitzender des Posener Volksrats gewesen, doch habe er diese Funktion »bald« wieder an Herrmann abgetreten, da er vom Arbeiter - und Soldatenrat mit Misstrauen bedacht worden sein soll. Dieser Darstellung steht allerdings entgegen, dass Houtermans sogar den Vorsitz des deutschen Vertretertages übernommen hatte und im Dezember 1918 immer noch öffentlich für den städtischen Volksrat verantwortlich zeichnete. Vgl. z. B. »Straßenkämpfe in Posen«. In : Posener Neueste Nachrichten vom 29.12.1918. »Der deutsche Volkstag in Posen«. In : Posener Tageblatt vom 14.12.1918.

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tete, war dieser Auflauf eine Art symbolischer Gegen - und Selbstbehauptungsakt zu dem, was sich in der Stadt anlässlich des Zusammentritts des polnischen Teillandtags ereignet hatte : »Wir haben in den ersten Tagen des Dezember unsere Stadt in polnischer Farbe untergehen sehen«; der heutige Tag zeige nun, dass sich die Deutschen wieder auf »ihr Volkstum besinnen«.56 Seinen entscheidenden Auftritt aber hatte Herrmann auf dem deutschen Vertretertag selbst, als er – unter Houtermans Vorsitz – den programmatischen Vortrag über »Notwendigkeit und Ziele der Deutschen Volksräte« hielt und damit eine Führungsrolle für sich zu reklamieren vermochte. Herrmanns Rede war gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, markierte sie doch den Übergang vom alten Kaiserreich zur neuen Republik auf der Ebene nationaler Politik – alte und neue Elemente gleichermaßen umfassend. Zu den alten Elementen zählte seine bereits eingangs gestellte Frage nach den Ursachen der Entwicklung seit dem 9. November. Wie konnte es kommen, dass »wir« – so fragte Herrmann – »uns« in den »Grenzen unseres deutschen Vaterlandes« der »Ansprüche der Polen erwehren« müssen, obwohl »wir« doch vier Jahre lang eine »Kette ununterbrochener Siege« erfochten hatten ? Es war nur symptomatisch, dass Herrmann hierauf die Antwort verweigerte, sondern lediglich beklagte, »geschäftige Federn« hätten die Schuld allen möglichen Parteien oder Personen »in die Schuhe schieben« wollen. Eine eigene Verantwortung für die bedingungslose Unterstützung der preußisch - deutschen Machtstaatpolitik thematisierte er konsequenterweise mit keinem einzigen Wort. Verantwortungsdiskursen über die jüngste Vergangenheit erteilte er mit der Formel von der »deutschen Zwietracht«, die gerade jetzt überwunden werden müsse, eine Abfuhr.57 Das war zumindest aus seiner Sicht nur konsequent, stellte er doch den deutschen Volksräten die Aufgabe, »das Bollwerk [ zu ] werden, an dem alle Wellen der slawischen Flut und alle auch noch so geschickten Versuche polnischer Assimilierungskunst sich brechen« werden.58 Auch wenn er sich in seiner Rede der berüchtigten »Flut« - Metaphorik59 bediente, überwogen doch darin und in der von ihm verlesenen Entschließung des Vertretertages bei weitem die neuen, vorwärts weisenden Elemente. Im Namen des Vertretertages, aber nicht in seiner eigenen Rede, distanzierte er sich immerhin vom »Geist des Hakatismus«, der »in unseren Reihen niemals lebendig werden wird«.60 Trotz deutlicher Kritik am polnischen Vorgehen lehnte er es

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Bericht über den Vertretertag, S. 4. Ebd., S. 6 f. Ebd., S. 16 f. Zur Genese der »Flut« - Metaphorik ausführlich Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 255 f. Dieser Satz findet sich – ohne nähere Begründung – als eingeschobener Absatz in der Entschließung. Vgl. Bericht über den Vertretertag, S. 18. Der Führer der deutschen Volksratsbewegung im Netzedistrikt / Bromberg, Georg Cleinow, mochte in der Diskussion die »Hakatistenpolitik«

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ausdrücklich ab, die Polen als »Hoch - und Landesverräter« zu bezeichnen, wie es die »hakatistische« Propaganda in der Folge tat. Als Redner verlangte er die »volle Gleichberechtigung der Deutschen im neuen Volksstaate, eine anteilige Vertretung in allen den neuen Verwaltungsorganen und Vertretungskörpern, die die Revolution geschaffen hat, unseren vollen Anteil auch an der Kontrolle über die Behörden, die die Polen für sich in Anspruch nehmen«.61 In der Entschließung war sogar von einem »friedlichen Zusammenleben« von Deutschen und Polen und von der »Wahrung der nationalen und kulturellen Eigenart beider Bevölkerungsteile« sowie von einer »gemeinschaftlichen Arbeit« in »unserer gemeinsamen Heimat in versöhnlichem Sinne« die Rede.62 Ob Herrmann bei der Verkündung dieser Forderungen und Einsichten wenigstens ein einziges Mal an jene Zeit zurückgedacht haben mag, als er ganz ähnliche polnische Forderungen als undurchführbar bezeichnet hatte ? Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass sich Herrmann im Laufe der Revolutionsmonate und unter dem Zwang der Verhältnisse zu einem ernsthaften Fürsprecher der nationalen Parität entwickelte, auch wenn er die eigene Wandlung öffentlich nicht diskutierte. Die Basis seiner Vorstellungen für eine deutsch - polnische Zukunft Posens bildeten selbstverständlich Wilsons 14 Punkte, wobei er sich auf den hier entscheidenden 13. Punkt kaprizierte : Wie nicht anders zu erwarten, entsprach seiner Auslegung des Punktes nicht die »unserer polnischen Mitbürger«, die in der Tat dessen Inhalt weit dehnten, in dem sie »alle von Polen bewohnten Gebiete für sich in Anspruch« nahmen – also die gesamte Provinz. Herrmann seinerseits wollte wiederum das Kriterium der ethnographischen Verhältnisse nicht als alleiniges gelten lassen, weil dadurch von vornherein das Schicksal des größeren ( nämlich polnisch geprägten ) Teils der Provinz feststand; er brachte noch die Faktoren Wirtschaft und Kultur ins Spiel, denen er ein »überwiegend deutsches Gepräge« unterstellte – Faktoren, auf die er in späteren Überlegungen ausführlicher zurückkommen sollte.63 Herrmanns Erwartungshaltung an die Friedenskonferenz war erstaunlich nüchtern, rief er doch dazu auf, sich dieses Mal »keinen verhängnisvollen Illusionen« hinzugeben, sondern die »Realpolitik nicht außer Acht zu lassen«. Er sah zwei Möglichkeiten : Dass erstens Posen bei Deutschland bleibt und den »Polen zum mindesten eine weitgehende Autonomie gewährt« wird, oder dass zweitens »mehr oder minder große Teile der Provinz abgetreten werden müssen, in denen das polnische Übergewicht

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nicht direkt verteidigen, plädierte aber dafür, das »Gute, was der deutsche Ostmarkenverein wollte, bei[ zu ]behalten«. Ebd., S. 25. Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. Ebd., S. 7 f.

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unzweifelhaft« sei.64 Es war dies eine Sicht, die bei Anwesenden durchaus auf Widerstand stieß.65 Auch in einem letzten Punkt erwies sich Herrmann als ein nüchterner Realist, ja sogar als geschickter Integrator. Vielleicht lag es daran, dass er – selbst katholischer Herkunft und damit Teil einer Minorität des »Deutschtums« – ein besonderes Gespür für die ( religiöse ) Heterogenität der Posener Deutschen hatte. Mit Blick auf eine größtmögliche Stärkung der deutschen Volksratsbewegung bemühte er sich darum, die nationale Exklusion der Kaiserzeit zu überwinden – und zwar in der »Judenfrage«, hinsichtlich der »besonderen Interessen der Deutschkatholiken« und in der Frage des »Internationalismus der Sozialdemokratie«. In allen drei Punkten kam er zu dem Schluss, dass deren jeweilige (berechtigte ) »Sonderinteressen« einer aktiven Mitarbeit in der deutschen Volksratsbewegung nicht entgegenstehen würden. Im Gegenteil : Mit geradezu warmen Worten bezeugte er die nationale Zuverlässigkeit der »Deutschkatholiken« und der Mehrheitssozialdemokratie; dem ( assimilierten ) Judentum aber schenkte er besondere Beachtung, in dem er zum einen die Versammelten für den Sonderweg des kleineren zionistischen Teils der Juden um Verständnis bat und zum anderen die »überwiegende Mehrheit unserer jüdischen Mitbürger« als »bodenständiges Element« des Posener »Deutschtums« in den deutschen Volksräten mit Nachdruck »willkommen« hieß.66 Dass hinter einer solchen Aufforderung mehr als nur leere Worte standen, zeigte die anschließende Debatte ebenso67 wie die – später noch zu besprechende – Platzierung deutscher Juden auf der Provinzialwahl - Liste der DDP für die Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung. Trotz der aktiven Umarmungsversuche Herrmanns und der zweifellos vorhandenen Euphorie in der Provinzhauptstadt spielte die deutsche Volksratsbewegung auch in den kommenden Wochen keine annähernd so große Rolle wie ihr polnisches Pendant. Die selbst gestellte Aufgabe, die »Deutschen aller Stände, Bekenntnisse und Parteien« zusammenzufassen, gelang zu keinem Zeitpunkt in der vorgesehenen Weise, auch wenn zum 12. Dezember schon über 100 deutsche Volksräte in der Provinz bestanden haben sollen.68 Die deutschen Volksräte blieben das, was sie von Anfang an gewesen waren – eine bürgerlich geprägte Sammlungsbewegung, in der die regionalen deutschen Eliten ( Bürgermeister, Lehrer, 64 65

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Ebd., S. 16. In der Debatte wurde Herrmann allein dafür, dass er die Möglichkeit der Teilung ins Spiel gebracht hatte, scharf angegriffen. In einer Replik erinnerte Herrmann an die illusionäre Stimmung der Deutschen vor Kriegsende. Vgl. ebd., S. 25 f. Ebd., S. 12 f. In dieser Frage erhielt Herrmann demonstrativ Unterstützung vom Delegierten Coprian aus Wollstein. Vgl. ebd., S. 23. Anders als bei Schumacher, Ostprovinzen, S. 41, vermerkt, gehörte Coprian nicht der SPD, sondern der DDP an. Vgl. »Die Kandidatenliste der Deutschen Demokratischen Partei«. In : Posener Tageblatt vom 8.1.1919. Diese Zahl gab Houtermans in seiner Einführungsrede bekannt. Vgl. ebd., S. 6.

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Stadtverordnete usw.) dominierten. Das lag vor allem daran, dass die Volksräte trotz Herrmanns Bemühungen weder eine nennenswerte Zahl an Sozialdemokraten vereinen noch eine feste Bindung an die ( mehrheitlich deutschen ) Arbeiter - und Soldatenräte erreichen konnten. Es blieb wohl mit Blick auf die Sozialdemokraten bei der von Herrmann beklagten »vereinzelten Erscheinung«.69 Darauf jedenfalls lässt auch Torsten Lorenz’ Studie über die im Westen der Provinz gelegene Stadt Birnbaum schließen.70 Überdies hatte sich bereits zu Anfang eine »Zersplitterung« bemerkbar gemacht, die ursächlich auf die unterschiedlich starke Ausprägung des deutschen Elementes zurückzuführen war. Im mehrheitlich deutsch geprägten Süden und Westen der Provinz sowie im Netzedistrikt (einschließlich Brombergs ) hatten sich früh deutsche Volksräte gebildet, die sich ihrerseits in einen »Westposener Deutschen Volksrat« mit Sitz in Wollstein und die »Volksräte des Netzedistrikts« mit der Zentrale Bromberg gliederten. Da diese Volksräte noch am ehesten annehmen konnten, »ihre« Gebiete dem Reich zu erhalten, engagierten sie sich mit entsprechenden Denk - und Bittschriften, was Houtermans und Herrmann mit dem Vorwurf der »Sonderbestrebungen« quittierten.71 Anders als bei Dietrich Vogt beschrieben, lässt sich der Begriff der »Zersplitterung« jedoch nur bedingt mit einer angeblich fehlenden »einheitlichen Spitzenorganisation der deutschen Volksräte« in Verbindung bringen.72 Tatsächlich war es noch auf dem deutschen Vertretertag in Posen (12.12.1918) zur einstimmigen Annahme eines Beschlusses gekommen, mit dem die Delegierten einen »Provinzialvolksrat« bzw. einen »Deutschen Volksrat der Provinz Posen« ins Leben riefen.73 Unmittelbar danach hatten die Delegierten ebenso einmütig einen elf gliedrigen Vorbereitungsausschuss gewählt, dem neben drei Posener Vertretern

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So Herrmann in seiner Rede auf dem Vertretertag. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Schumacher, Ostprovinzen, S. 41 f. Vgl. Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód, S. 206 f. Zu dieser Aufsplitterung vgl. ausführlich Vogt, Aufstand, S. 22–24, und Schumacher, Ostprovinzen, S. 41–43. Zu den Aktivitäten dieser Volksräte und zum Vorwurf der »Sonderbestrebungen« vgl. Bericht über den Vertretertag, S. 5, 12 und 22 f. Der Delegierte Coprian aus Wollstein verwahrte sich in der Debatte gegen diese Anschuldigungen. Vogt, Aufstand, S. 23. Schumacher, Ostprovinzen, S. 41 f., verweist zwar auf die Bildung eines Provinzialvolksrates, meint jedoch, dass auf dem deutschen Vertretertag vom 12. 12. 1918 die »beabsichtigte Zusammenlegung der drei in Posen bestehenden Organisationen« unterblieben sei, da Herrmann u. a. »zu sehr den deutsch - polnischen Ausgleich in der Provinz« betont habe. Richtig ist, dass die – in der Tat – regional sehr verschieden ausgerichteten Volksräte aufgrund der weiteren Entwicklung kein wirkmächtiges Dach erhielten. Bericht über den Vertretertag, S. 31. Vogts gegenteilige Darstellung beruht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Nichtkenntnis des gedruckten Berichtes über den Vertretertag der deutschen Volksräte. Damit entfällt auch seine Vermutung, dass vielleicht ein mangelndes »Vertrauen« zu Herrmann und dem Deutschen Volksrat der Stadt Posen der Beweggrund ( der anderen Volksräte ) für die unterbliebene Gründung der Spitzenorganisation gewesen sein könnten.

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(Otto Houtermans, Alfred Herrmann, Elise Ekke ) zwei Vertreter aus Bromberg, je einer aus Pleschen, Schönlanke, Wollstein, Meseritz, Jarotschin und Wreschen angehörten.74 Mit Georg Cleinow ( Bromberg ) verfügte der Ostmarkenverein in diesem Gremium indes über einen wichtigen Gewährsmann.75 Die endgültige Institutionalisierung des Provinzialvolksrates wurde allerdings infolge der weiteren polnischen Revolutionierung der Provinz verhindert. Auch die Versuche des städtischen Deutschen Volksrates von Posen, diese Funktion mit auszufüllen, scheiterten zumindest teilweise an denselben Gegebenheiten.76 Herrmanns Organisationsvermögen als neuer Posener Volksratsvorsitzender77 sorgte immerhin für die Etablierung eines zunächst auf 40 Mitglieder berechneten städtischen Beirates und diverser Ausschüsse, die sich etwa mit Schul - , Rechts - , Wirtschafts oder Finanzfragen beschäftigen sollten.78 Die erste gesamtdeutsche Aktion der Provinz war damit zugleich die spektakulärste geblieben : Wohl auf Herrmanns Betreiben hatte noch der Vertretertag dem amerikanischen Präsidenten ein Telegramm zukommen lassen, das an dessen »Gerechtigkeitssinn« appellierte : Gefordert wurde darin eine faire Auslegung des Punktes 13 als Grundlage eines »dauernden Rechtsfriedens«, der »damit ein künftiges friedliches Nebeneinanderleben von Deutschen und Polen« ermögliche.79 Dass es bei solch symbolträchtigen Appellen blieb und der Aufbau einer Spitzenorganisation so schnell ins Stocken kam, hatte vor allem mit den Auswirkungen des »großpolnischen Aufstandes« zu tun, der am 27. Dezember 1918 begann. Bereits einberufene Sitzungen des Provinzialvolksrates für den 27. Dezember 74 75

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Vgl. ebd. Vgl. ebd. Laut Schumacher, Ostprovinzen, S. 41, hatte das DVP - Mitglied Cleinow die Bromberger Volksratsbewegung »im Auftrage des Ostmarkenvereins« aufgebaut und hierfür auch finanzielle Mittel erhalten. Zu Cleinows diesbezüglichen Verbindungen vgl. auch Ralph Schattkowsky, Deutschland und Polen von 1918/19 bis 1925, Frankfurt a. M. 1994, S. 35, und Oldenburg, Ostmarkenverein, S. 251 f. Als maßgeblicher Verfechter dieses Ansatzes erwies sich Herrmann selbst, dem es allerdings in mehreren Fällen gelang ( wie der Abhaltung von Landes - und Reichswahlen ), mit seinem Posener Stadtvolksrat als entscheidender Ansprechpartner der polnischen Seite aufzutreten. Vgl. »Mitgliederversammlung des Deutschen Volksrates Posen«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25.1.1919. Nachfolger Houtermans war Herrmann Ende Dezember 1918 geworden. Vgl. z. B. Handbuch der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung, Berlin 1919, S. 180 ( Kurzbiographie Alfred Herrmann ). Vgl. »Mitgliederversammlung des Deutschen Volksrates Posen«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25. 1. 1919. Auf der Mitgliederversammlung am 20. 1. 1919 wurde der bisherige vorläufige Vorstand des Posener Volksrates zum endgültigen bestellt. Mitglieder wurden : Prof. Dr. Herrmann, Bankdirektor Houtermans, Eisenbahnlackierer Reichelt, Studienassessor Foerster, Oberpostschaffner Kühn, Fabrikdirektor Fritz Kantorowicz und Frau Dr. Prochownik. Vgl. ebd. Bericht über den Vertretertag, S. 19.

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und den 7. Januar mussten infolgedessen verschoben werden.80 Der Aufstand selbst hatte sich an dem Besuch des aus dem US - amerikanischen Exil zurückgekehrten Klaviervirtuosen und Politikers Ignacy Paderewski entzündet, der am 26. Dezember mit britischer Militärbegleitung in Posen eintraf und dort für nationalpolnische Begeisterungsstürme sorgte. Als an diesem und am darauf folgenden Tag die Stadt erneut »in polnischen Farben unterging« ( Herrmann ), reagierten deutsche Soldaten des gerade heimgekehrten Grenadierregiments 6 mit dem Herunterreißen von polnischen und alliierten Fahnen. Aus dem »berühmten« ersten Schuss entwickelten sich dann rasch Straßenkämpfe, in deren Folge und aufgrund der dabei eingesetzten Maschinengewehre und Handgranaten ca. 30 Tote zu beklagen waren.81 Ob diese Zusammenstöße allein auf das Konto der aufgeheizten nationalistischen Stimmung gingen oder aber auf das Konto einer Provokation, die mit Paderewskis Reise im Zusammenhang stand, soll hier nicht entschieden werden. Fest steht, dass der Oberste Polnische Volksrat und die POW die Lage nutzten, um die ohnehin schon vorhandene polnische Dominanz in eine weitgehende Herrschaft zu verwandeln.82 Dass die Deutschen der Provinz bei diesen Auseinandersetzungen auf keine militärische Hilfe zählen konnten, machte der eilends angereiste Unterstaatssekretär im preußischen Kriegsministerium Paul Göhre ( MSPD ) klar. Den polnischen Politikern gab er zu verstehen, dass sie sich mit ihrer »nationalen Revolution« gegen die »sozialdemokratische [...] Revolution vom 9. November« wenden würden. Sein Vorwurf an die Polen, sie hätten »als Teil der deutschen Revolution« erfüllbare Forderungen stellen und nicht »von Macht zu Macht verhandeln« sollen, wurde jedoch in wenigen Tagen ebenso von der Realität überholt wie sein Hinweis, dass in »ein paar Wochen [...] die Beamtenschaft nicht prozentual polonisiert« werden könne.83 Bis Anfang Januar 1919 wurden die »wichtigsten Behörden ( z. B. Oberpräsidium, Regierung, Ansiedlungskommission, Polizeipräsidium )«84 tatsächlich von den Polen besetzt. Am 9. Januar unterstellte der Polnische Oberste Volksrat per Proklamation »sämtliche [ deutsche ] Zivil - und Militärbehörden seiner Leitung und Kontrolle«. Damit hatte er die »Gewalt in 80

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Vgl. den Bericht Herrmanns über die bisherigen Aktivitäten des Provinzialvolksrates auf der Sitzung des Deutschen Volkrates der Stadt Posen am 20.1.1919. Vgl. »Mitgliederversammlung des Deutschen Volksrates Posen«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25.1.1919. Vgl. »Straßenkämpfe in Posen«. In : Posener Neueste Nachrichten vom 29.12.1918. Im Gegensatz zu Borodziej, Geschichte Polens, S. 102, der von einem »nicht geplanten Aufstand der Posener Polen gegen Deutschland« spricht, aber den Zusammenhang mit Paderewskis Besuch hervorhebt, stellt Vogt, Aufstand, S. 32–68, auf die lange geplanten Aufstandsvorbereitungen ab, wobei er durchaus auch die Rivalitäten und abweichenden Konzeptionen von Oberstem Polnischen Volksrat und POW kenntlich macht. »Einzelheiten aus der Posener Ministerkonferenz«. In : Posener Zeitung vom 7.1.1919. »Die Lage in Posen«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 1 ( Anfang Januar 1919).

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den Teilen der Provinz Posen, die militärisch in polnischer Hand waren, auch förmlich«85 übernommen und rasch »vollendete Tatsachen« geschaffen. Blutige Gefechte zwischen deutschen und polnischen Verbänden in den stärker deutsch besiedelten Randgebieten der Posener Provinz entflammten freilich immer wieder aufs Neue. Angesichts der deutschen »militärischen Ohnmacht« plädierten führende Volksratsvertreter der Stadt Posen ( vor allem Alfred Herrmann ) dafür, »keine gewaltsamen Versuche zur Änderung der gegenwärtigen Lage in Posen«86 zu unternehmen. Die Deutschen sollten sich »bis zur Friedenskonferenz« mit der »Tatsache des polnischen Übergewichts in Posen abfinden«.87 Im Gegensatz zu den militanten Auffassungen Cleinows ( Bromberg )88 missbilligte der Posener Deutsche Volksrat überdies öffentlich »alle Herausforderungen und Beleidigungen polnischer Empfindungen«.89 Dieses unterschiedliche Verhalten lag nicht nur in den beiden Protagonisten begründet, sondern auch in der unterschiedlichen Situation, in der sie handelten : Während sich Cleinows Operationsgebiet (Netzedistrikt / Bromberg ) noch in deutscher Hand befand, sah sich Herrmann einer polnischen Herrschaft in Posen gegenüber. Was das im Einzelnen bedeuten konnte, bekam ausgerechnet der Akademiedozent Herrmann schmerzhaft zu spüren : Ab 11. Januar 1919 konnte er nur mehr mit einem vom Polnischen Obersten Volksrat zweisprachig ausgestellten Ausweis das deutsche Akademiegebäude betreten.90

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»Die Tätigkeit der deutschen Volksräte nicht gefährdet«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25.1.1919. Borodziej, Geschichte Polens, S. 102, gibt den 8.1.1919 als »Tag der Übernahme der Gewalt in den befreiten Gebieten« an. »Die Reichsregierung und Posen«. In : Posener Tageblatt vom 8.1.1919. »Die Vorgänge in Posen am 27. Dezember 1918« und »Die Lage in Posen«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 1 ( Anfang Januar 1919). In einem Brief an Reichsaußenminister Ulrich Graf von Brockdorff - Rantzau vom 2. 1. 1919 relativierte Herrmann diese Sicht insoweit, als er »militärische und wirtschaftliche Maßnahmen gegen die Polen in Posen nur dann zustimmen« wollte, »wenn die Rückeroberung der Provinz bis zur Friedenskonferenz notwendig wäre und mit Aussicht auf Erfolg versucht werden konnte«. Vgl. Schumacher, Ostprovinzen, S. 43 und 221. Cleinow hatte »energische militärische Maßnahmen« gegen die »treulosen Polen« gefordert und sich derart exponiert, dass sich die Behörden »gezwungen« sahen, ihn Anfang Januar 1919 »zeitweilig zu arretieren«. Schattkowsky, Deutschland und Polen, S. 38. In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift »Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst« warb Cleinow das gesamte erste Halbjahr 1919 über für die deutsche Volksratsbewegung in der »Ostmark«. Zu Anfang des »Dritten Reiches« resümierte er den u. a. vom ihm geführten nationalen Kampf in Buchform : Georg Cleinow, Der Verlust der Ostmark. Die deutschen Volksräte des Bromberger Systems im Kampf um die Erhaltung der Ostmark beim Reich 1918/19, Berlin 1934. »Die Vorgänge in Posen am 27. Dezember 1918« und »Die Lage in Posen«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 1 ( Anfang Januar 1919). Ausweis für Prof. Dr. Alfred Herrmann vom 11.1.1919 ( BArch, N 1640/4, Bl. 8).

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Diese Entwicklung hatte Konsequenzen für die deutsche Opposition von rechts. Kurz nach der Jahreswende meldete sich der Deutsche Ostmarkenverein zu Wort, um die Politik der Berliner Revolutionsregierung, des Posener Volksrates und diejenige Alfred Herrmanns einer harschen Kritik zu unterziehen. Für diese Kreise war das polnische Vorgehen seit der Bildung eines Teillandtages »nackter Hochverrat« an Deutschland, der nur deswegen möglich geworden sei, weil die deutsche Seite sich »nicht getraut« habe, von den »noch zur Verfügung stehenden militärischen Machtmitteln tatkräftig Gebrauch« zu machen. Als »schwach, feige, ehrlos« charakterisierte das Monatsblatt des Ostmarkenvereins91 all diejenigen, die auf deutscher Seite mit diplomatischen Mitteln und Verständigungsbereitschaft aufgetreten waren. Das bezog sich in besonderer Weise auf Alfred Herrmann, den Vorsitzenden des Posener Volksrates. Gleich in mehreren Artikeln des Organs des Ostmarkenvereins wurde Herrmann mit und ohne namentliche Nennung angegangen : War in dem einen Artikel von »vereinzelten Entgleisungen ungeschickter und unbewährter Führer«92 und in einem anderen von den »Polen und ihren deutschen Anwälten«93 die Rede, legte eine ebenfalls dort abgedruckte Resolution scharfe »Verwahrung« gegen den »Teil der Rede des Professors Herrmann auf dem Deutschen Volkstage zu Posen« ein, in dem er den »Geist des Hakatismus« kritisiert hatte.94 »Ohne diesen Geist« – so ließ der Hauptvorstand des Ostmarkenvereins wissen – »wäre Posen längst eine unzweifelhaft polnische Provinz, gegen deren Angliederung an den polnischen Staat jeder Widerstand vergeblich« wäre. Seinen Vertretern »jetzt in den Rücken zu fallen«, sei »nicht nur ungerecht und undankbar, sondern der deutschen Sache schädlich«, da es die »Einigkeit des Deutschtums« störe, ohne bei den Polen »etwas anderes als Verachtung hervorzurufen«.95 Für wie »verfehlt« der Vereinsvorsitzende Tiedemann die Politik Herrmanns hielt, brachte er in einem eisig gehaltenen Brief sogar persönlich zum Ausdruck.96 Dass sich die Sicht des Vereins auf die eigene Rolle in der jüngsten deutsch - polnischen Geschichte auch nicht einmal ansatzweise geändert hatte, machten Aussagen deutlich, in denen der Verband Schuldzuweisungen an die eigene Adresse mit den Worten konterte : »Wer war denn im Osten seit dem 91 92 93 94 95 96

E. H., Zum neuen Jahre. In : Die Ostmark. Monatsblatt des Deutschen Ostmarken - Vereins, 24 (Januar 1919) Nr. 1, S. 1 f. Ebd. E. K., Polnischer Landtag und deutscher Volkstag. In : ebd., S. 2. Der »Geist des Hakatismus«. In : ebd., S. 4. Bei diesem Text handelte es sich um eine Resolution des Hauptvorstandes des Ostmarkenvereins. Ebd. Tiedemann kritisierte vor allem Herrmanns Absage an ein deutsches militärisches Vorgehen. Am Schluss seines Briefes monierte Tiedemann, Herrmanns vorangegangener Brief sei z. T. inhaltlich »von einem Geist getragen, der uns eine Erwiderung unmöglich macht«. Tiedemann an Herrmann vom 31.1.1919 ( BArch, N 1640/4, Bl. 10).

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Revolutionsjahr 1848 immer der unermüdliche Angreifer und Unruhestifter ? Der Pole ! Wer war der friedliche, leider oft auch säumige und pflichtvergessene Verteidiger des Bestehenden ? Der Deutsche !«97 Der Alleinvertretungsanspruch des Verbandes mündete in dem Schlachtruf : »Der Geist des Deutschtums im Osten wird ›hakatistisch‹ sein ( im Sinne der wirklichen Bedeutung des Wortes, nicht des Zerrbildes, das polnischer Hass daraus gemacht hat ), oder das Deutschtum wird überhaupt nicht sein.«98 Im Gegensatz dazu gelang es den deutschen Behörden und der »außerordentlich maßvollen«99 Politik des Posener Volksrates, die Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung (19. 1. 1919) und zur preußischen Landesversammlung (26. 1. 1919) für den größten Teil der Deutschen in der Posener Provinz zu gewährleisten.100 Doch anders als von Herrmann erhofft, vermochten diese Entscheidungen mit Blick auf Posens Zugehörigkeit zum Deutschen Reich keine präjudizierende Wirkung zu entfalten, da die Warschauer Regierung bereits konkurrierende Wahlen ( d. h. unter Einschluss der »großpolnischen Gebiete«) ausgeschrieben hatte.101 Auch wenn auf Bitten des Deutschen Volksrates der Stadt Posen der Polnische Oberste Volksrat »schließlich eine ausdrückliche Erklärung« herausgab, wonach die »Wahlhandlung von polnischer Seite nicht gestört werden sollte«, so konnte doch von einer »geordneten Wahlarbeit der deutschen Parteien« keine Rede sein. Zudem sei die polnische Weisung von den einzelnen »örtlichen polnischen Gewalten [...] nicht durchweg respektiert« worden. In den Kreisen Grätz, Strelno, Gnesen, Znin, Janowitz und Wongrowitz konnte deshalb nicht gewählt werden.102 Der Wahlkampf spielte sich – mit Ausnahme häufiger Wahlversammlungen im Dezember103 – im Januar verstärkt in der deutschen Publizistik ab. In Posen erscheinende Zeitungen wie das »Posener Tageblatt«, die »Posener Neuesten Nachrichten«, die »Posener Zeitung« und das »Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen« veröffentlichten die Kandidatenlisten der einzelnen Parteien

97 E. K., Polnischer Landtag und deutscher Volkstag. In : ebd., S. 3. 98 E. H., Zum neuen Jahre, S. 2. 99 Diese Wertung war aus deutschnationaler Sicht polemisch gemeint. Vgl. E. K., Polnischer Landtag und deutscher Volkstag. 100 Von anfänglichem polnischen Widerstand in der Frage der Abhaltung der Wahlen zur Nationalversammlung berichtete Herrmann einige Wochen später. Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 516. 101 Die Ausschreibung der Warschauer Regierung datierte bereits vom 28.11.1918. Vgl. Stephanie Zloch, Polnischer Nationalismus. Politik und Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, Köln 2010, S. 39 und 43. 102 »Die Wahlen zur Nationalversammlung«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25.1.1919. 103 Die Häufigkeit der Wahlversammlungen in der zweiten Dezemberhälfte dürfte mit der ( bis 27.12. gewahrten ) Freizügigkeit im Zusammenhang stehen. Vgl. Vogt, Aufstand, S. 28.

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und diverse politische Einlassungen. Wirklich profitieren konnten hiervon nur zwei Parteien : Die in Posen unter Herrmanns Führung neu gegründete linksliberale und bildungsbürgerlich orientierte Deutsche Demokratische Partei ( DDP ) und die konservative Deutschnationale Volkspartei ( DNVP ), die sich vor allem auf das Netzwerk des Ostmarkenvereins zu stützen vermochte. Während die DDP im Vorfeld der Wahlen zur Nationalversammlung mit ihrem Listenführer Herrmann sowie mit dem Listen - Zweitplatzierten, Justizrat Moritz Baerwald, einem deutschen Juden, und der Listen - Drittplatzierten, der Lehrerin Elise Ekke, ein hohes Maß an liberaler Offenheit bekundete, setzte die DNVP mit der Nominierung des langjährigen Hauptverfechters einer »radikalnationalistischen Ostmarkenpolitik« Alfred Hugenberg deutlich rückwärtsgewandte Zeichen.104

3. Wahlen – Narrative – Teilungen Selbst wenn aufgrund der geschilderten Einschränkungen die Wahlergebnisse »kein getreues Bild der deutschen Wählerschaft unserer Provinz« abgegeben hatten,105 fiel das endgültige Ergebnis sowohl für Alfred Herrmann selbst als auch für die neue deutsche Demokratie ernüchternd aus : Anders als in den weniger umkämpften deutschen Ostprovinzen ( Pommern, Westpreußen, Ostpreußen ) erzielten in Posen mit der DNVP die Vertreter der »alten« deutschen Polenpolitik die relative Mehrheit der Stimmen. Sie markierten mit ca. 34 Prozent klar die Spitze unter den deutschen Parteien, gefolgt von der DDP (22 Prozent ), der DVP (17 Prozent ) und der MSPD (16 Prozent ); das Zentrum als Vertreterin der deutschen Katholiken spielte mit ca. zehn Prozent nur eine marginale Rolle. Die polnische Bevölkerungsmehrheit hatte sich an diesen Wahlen schon nicht mehr beteiligt ( vgl. Tabelle ), da der Oberste Polnische Volksrat – trotz aller Divergenzen mit der Piłsudski - Regierung – auf eine Beteiligung an den »eigenen« nationalen Wahlen setzte, die schon eine Woche später stattfinden sollten, dann aber doch verschoben werden mussten.106

104 Zu den Listenaufstellungen beider Parteien vgl. Posener Zeitung vom 7. 1. 1919. Hugenberg wurde nach dem Bromberger Landgerichtsrat Georg Schulz und dem Landwirt Wilhelm Ohler aus dem Kreis Birnbaum auf Platz drei gelistet. Zur Charakterisierung Hugenbergs, der am 19.1.1919 Mitglied der Nationalversammlung wurde, vgl. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 264. 105 »Die Wahlen zur Nationalversammlung«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25.1.1919. 106 Der für den 26.1. anberaumte Wahltermin wurde für die ( ehemalige ) Provinz Posen auf den 1. 6. 1919 verschoben. Andere ehemals preußische Gebiete kamen noch später zum Zuge. Vgl. Zloch, Polnischer Nationalismus, S. 44.

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Tabelle 1 : Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung (19.1.1919) und zum Deutschen Reichstag (1912) in der Provinz Posen107 Parteien

1919 Gültige Stimmen

1912

324 588 ( nur Deutsche, Männer und Frauen) 110 502 ( DNVP )

342800 ( Deutsche und Polen, nur Männer)

Linksliberale

72 266 ( DDP )

19 709 ( FVP )109

Nationalliberale

54 883 ( DVP )

16 873 ( NL )110

SPD Zentrum

53 297 33 640

12 968 3 168



191 383

Konservative

Polen

96 941 ( DK und RP )108

Wie ließ sich dieses Ergebnis111 – auch mit Blick auf die Reichstagswahlen von 1912 – interpretieren ? Zuerst : Es lässt sich insoweit »positiv« deuten, als dass die Vertreter der »alten« deutschen Polenpolitik statt der satten Zweidrittelmehrheit von 1912 jetzt nur mehr ein Drittel der Deutschen hinter sich scharen konnten. Allerdings markierte die DNVP mit diesem Ergebnis immer noch einen – und im Vergleich zu den anderen deutschen Ostprovinzen – solitären Spitzenplatz. Der Hinweis auf die strukturellen Verhältnisse ( d. h. die starke ländliche Prägung) in Pommern, West - und Ostpreußen erscheint aus diesem Grund wenig überzeugend, denn auch hier hatten die Konservativen 1912 einen großen – wenn auch nicht so deutlichen – Vorsprung vor den liberalen Parteien und der SPD besessen. Allerdings hatten sich in den dortigen »deutschkonservativen Paradelandschaften«112 ein Teil der ( ländlichen ) Wähler 1918/19 für die neuen demokratischen Kräfte entschieden. Nur so war zu erklären, dass in diesen

107 Die Ergebnisse beziehen sich auf die Angaben in : Eduard Heilfron ( Hg.), Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919/20 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, 1. Band, Berlin 1920, S. 173, 185 und 203. 108 Deutsch - Konservative Partei ( DK ) und Reichspartei ( RP ). 109 Fortschrittliche Volkspartei ( FVP ). 110 Nationalliberale ( NL ). 111 Zu den Wahlergebnissen – wenn auch ohne Interpretation – vgl. auch Vogt, Aufstand, S. 85. 112 Karl Rohe, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteien und Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 139.

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Gebieten die DNVP weit hinter der MSPD und sogar ( außer in Pommern ) hinter der DDP ins Ziel gelangte. Mit anderen Worten : Obwohl auch diese Gebiete als »strukturkonservativ« gelten können, waren hier die »deutschkonservativen Milieus [...] in Bewegung geraten«.113 Der entscheidende Grund für das Posener Ergebnis ist wohl darin zu sehen, dass eine relative Mehrheit der deutschen Bevölkerung die militärpolitische Schwäche der deutschen Demokratie mit den beiden führenden demokratischen Parteien verknüpfte ( DDP und MSPD ), auch wenn diese deutlich zulegen konnten. Deutschnationale Plakate, die auf die innerdeutsche Freund - Feind - Polarisierung setzten, hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. So tauchte im Wahlkampf bereits eine frühe Variante der Dolchstoßlegende auf, die mit der simplen Gegenüberstellung eines hünenhaften Hindenburgs (»Ich schützte und rettete die Ostmark mit dem Schwerte«) und eines kleinwüchsig - karikierten Gerlachs (»Ich verhandelte mit den Polen und gab die Ostmark preis«) arbeitete und mit der »heroischen« Ankündigung endete : »Wer bringt die Ostmark wieder ? Die deutschnationale Tat !«114 Gegen solche Parolen, die ihre scheinbare Plausibilität aus der militärpolitischen Ohnmacht der Deutschen und dem Verlust eines Großteils der Posener Provinz bezogen, hatte sich der DDP - Spitzenkandidat und Volksratsvorsitzende nicht durchzusetzen vermocht. Sein Konzept der nationalen Einheit aller politischen und religiösen Kräfte auf demokratischer Grundlage hatte angesichts der Schwäche der deutschen Regierungsposition und der Intransigenz der deutschnationalen Beharrungspolitik nur einen bestimmten Teil der deutschen Bevölkerung erreichen können.115 Ungeachtet dieses Wahlausganges bemühte sich der Deutsche Volksrat in Posen einstweilen um äußerst pragmatische deutsch - polnische Lösungsansätze : Anfang Februar 1919 beschäftigte sich der Rechtsausschuss des Volksrates mit der »Frage der nationalen Autonomie der Polen, für den Fall, dass Posen bei Deutschland bleibt, und der Deutschen für den Fall der Angliederung an ein künftiges Polen«. In dieser Frage orientierte sich das Gremium an den gerade erst bekannt gewordenen ungarischen Gesetzen für die künftige Rechtsstellung der deutschen Minderheit, denen im Rahmen der »nationalen Autonomie« Kompetenzen auf dem Gebiete des Innern, der Bildung und der Rechtspflege ( bis hin zu einer eigenen Parlamentsvertretung und einem eigenen Ministerium ) zugebilligt werden sollte. Der in Weimar – dem Tagungsort der Deutschen Nationalversammlung – weilende Herrmann wurde gebeten, doch über den deutsch - öster113 Ebd., S. 139. 114 Zit. nach Heilfron ( Hg.), Die Deutsche Nationalversammlung, S. 150 ( Tafel 14). 115 Bei den Wahlen zur preußischen Landesversammlung, die eine Woche später stattfanden (26.1.1919), verschoben sich die Gewichte noch einmal leicht zu Ungunsten der neuen demokratischen Kräfte : Während die DNVP jetzt auf 38 Prozent der Stimmen kam, verringerte sich der Zuspruch für die DDP auf 19 Prozent. Vgl. Vogt, Aufstand, S. 85.

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reichischen Gesandten Ludo Moritz - Hartmann und den Wiener Staatskanzler Karl Renner diesbezügliche Gesetze zugänglich zu machen. Renner galt dem Gremium zu Recht als derjenige, der den »Gedanken der nationalen Autonomie« entwickelt hatte.116 Als geradezu kontraproduktiv musste sich da allerdings das Lavieren des Volksrates in der Kommunalwahlfrage auswirken. Noch im Dezember 1918 hatte die preußische Revolutionsregierung statt des bisherigen Dreiklassenwahlrechtes das demokratische Wahlrecht auch für die Gemeindeebene verabschiedet, die Gemeindewahlen jedoch im Januar 1919 »mit Rücksicht auf die dortigen polnischen Umtriebe« in Posen, Westpreußen und dem Regierungsbezirk Oppeln »ausgesetzt«.117 Für Hellmut von Gerlach erklärte sich diese »alte« Beamtenpolitik, die nach seinem Abgang aus dem Ministerium verstärkt wieder aufkam, so : »Tatsächlich hat man die Wahlen natürlich deshalb verboten, weil man Angst hatte, es würde eine Reihe von Orten eine überwiegend polnische Vertretung bekommen. Aus reiner nationalistischer Angst also ist das Verbot in Wirklichkeit ergangen. Muss es die Polen nicht aufreizen, wenn man sonst dem ganzen Lande das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht [...] gibt, es aber den Polen in der Ostmark vorenthält ? Wir haben es da immer noch mit einem Rest nationalistischer Politik, mit einer Erbschaft des alten Regimes zu tun.«118 So war es nur verständlich, dass die – bislang durch das steuerabhängige Dreiklassenwahlrecht – stark benachteiligte polnische Seite auf die Abhaltung demokratischer Gemeindewahlen drängte, zumal sie ihrerseits und in derselben angespannten Lage Reichs - und Landeswahlen zugelassen hatte. Statt die eigenen Handlungsspielräume konsequent auszunutzen und die – von Herrmann so belächelte eigene »Beamtenherrschaft« – unter Druck zu setzen, verlegte sich der Posener Volksrat jedoch darauf, einerseits die Wahlaussetzung zu goutieren und andererseits die Auflösung der Posener Stadtverordnetenversammlung durch den Obersten Polnischen Volksrat zu attackieren.119 Vor der Nationalversammlung sprach ausgerechnet Herrmann von einem »Befehl der Berliner Behörden«, dem sich die Polen widersetzen [ !] würden.120 Dabei kannte er das Dilemma, in dem sich die Posener Deutschen befanden, nur zu genau : In Briefen wurde er aufgefordert zu erklären, wie sich denn die Deutschen angesichts des bestehenden »preußischen Verbots« und einer – bei Nichtbeteiligung –

116 H[ outermans ?] an Herrmann vom 6.2.1919 ( BArch, N 1640/4, Bl. 13). 117 Sitzung der Preußischen Regierung am 31.1.1919. In : Acta Borussica, Neue Folge, 1. Reihe, Die Protokolle der Preußischen Staatsregierung 1817–1934/38, Band 11/1, 14. November 1918 bis 31.3.1925, bearbeitet von Gerhard Schulze, Hildesheim 2002, S. 49. 118 Gerlach, Zusammenbruch, S. 20. 119 Vgl. »Die Auflösung der Posener Stadtverordnetenversammlung«. In : Nachrichtenblatt des Deutschen Volksrates Posen, Nr. 2 vom 25.1.1919. 120 Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 516.

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drohenden »rein polnischen« Stadtverordnetenversammlung verhalten sollten. Nur eine formale »Verwahrung« gegen die Wahl einzulegen und den preußischen Beschluss »einleuchtend [ zu ] erklären«, hieß nichts anderes als sich auf den »alten« nationalen Weg zurückzubewegen.121 Viel zielführender wäre es da gewesen, mit deutschem Druck »von unten« parallele Gemeindewahlen im Januar durchzusetzen. Gewiss hätten die Wahlergebnisse in einem Großteil der Gemeinden zu einer Legitimation der polnischen Herrschaft geführt, aber ebenso deutlich auch zu einer demokratischen Legitimation der deutschen Herrschaft in den mehrheitlich deutsch besiedelten Gebieten.122 Gerade in diesem Fall hatte es der Posener Volksrat sträflich versäumt, als Schrittmacher einer kommunalen Demokratisierung aufzutreten. Mit der alliierten Festlegung einer Demarkationslinie innerhalb der Provinz Posen zum 16. Februar 1919123 schienen alle peinlichen Wahlrechtsauseinandersetzungen ebenso wie alle großzügigen Autonomie - Vorstellungen des Posener Volksrates und mahnenden Appelle des »Reichsverbandes Ostschutz« erledigt.124 Hatte es noch Tage vor der Entscheidung in einem der Appelle geheißen, »unsererseits nichts unversucht [ zu ] lassen, um zu erreichen, dass noch vor Beginn der Friedensverhandlungen die deutsche Staatsgewalt im Osten wieder hergestellt und so unseren Feinden der Vorwand genommen wird, dass Posen dem polnischen Reiche zugesprochen werden müsse«125, war jetzt die Frustration entsprechend groß : »Entsetzt« und »niedergeschlagen« reagierte nicht nur der »Reichsverband Ostschutz«, sondern die »Gesamtheit der Ostmarkdeutschen« über die »Wendung« in Posen.126 Denn die Demarkationslinie, die beide kämpfenden Parteien trennen sollte, gab die größeren Teile der Provinz mitsamt ihrer Hauptstadt in die Hände der Polen, während nur die westlich gelegenen und überwiegend deutsch geprägten Kreise ( wie Birnbaum, Meseritz oder Schwerin ), der Netzedistrikt und Bromberg ( Stadt und Landkreis ) in deutscher Hand verblieben. Ungeachtet dieses eindeutigen »fait accompli« verbreiteten die Reichsregierung und ihr preußisches Pendant weiterhin den Eindruck, dass »die gesamte Provinz Posen [...] auch nach dem Abkommen vom 16. Februar ein Bestandteil 121 Sch.[ olz ?] an Herrmann vom 7.2.1919 ( BArch, N 1640/4, Bl. 14). Die Posener Deutschen beteiligten sich letztlich an den Wahlen – wenn auch unter Protest. 122 Bei den am 23. 3. 1919 angesetzten Gemeindewahlen konnten die polnischen Parteien in der Stadt Posen 42 von 60 Mandaten auf sich vereinen. Vgl. Jacek Wiesiołowski ( Hg.), Władze miasta Poznania, Band 2 : 1793–2003, Poznań 2003, S. 66. 123 Zur Entstehung der Demarkationslinie als Ausfluss der dritten Verlängerung des Waffenstillstandes vgl. Schumacher, Ostprovinzen, S. 68–75. 124 Beim Reichsverband Ostschutz handelte es sich laut Oldenburg, Ostmarkenverein, S. 252, um eine Art Tarnorganisation des Ostmarkenvereins. 125 Reichsverband Ostschutz ( Vorsitzender und Geschäftsführer ) an Herrmann vom 12. 2. 1919 (BArch, N 1640/4, Bl. 16). 126 Reichsverband Ostschutz ( Vorsitzender und Geschäftsführer ) an Herrmann vom 20. 2. 1919 (ebd., Bl. 27).

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des Deutschen Reiches und Preußens« bleibe und nur die bisherigen deutschen Behörden als legitime Institutionen betrachtet werden könnten.127 Doch die Realität im polnisch beherrschten Teil sah mittlerweile völlig anders aus, und das bekamen nicht zuletzt auch einige der gerade erst gewählten deutschen Abgeordneten massiv zu spüren : Verbreitete Ängste der deutschen Provinzialbeamten, dass bei einer Abtretung der Provinz an Polen die »Provinzialbeamten Amt und Einkommen« verlieren und »vor einem Nichts« stehen würden,128 bewegten im Zuge des Februar - Abkommens jetzt auch Akademiker wie Alfred Herrmann und Lehrerinnen wie Elise Ekke. Während letztere Anfang März 1919 von der Entlassung Hunderter deutscher Lehrer durch die neuen polnischen Behörden berichtete,129 endete Herrmanns berufliche Tätigkeit mit dem Ablauf des Wintersemesters. Im Februar 1919 wickelten die neuen polnischen Behörden die bisherige königliche deutsche Akademie einfach ab und errichteten in demselben Gebäude ab Anfang Mai 1919 die neue polnische Universität mit rein polnischem Lehrkörper. Die geistige Speerspitze des »Deutschtums« wurde auf diese Weise durch die neue geistige Speerspitze des »Polentums« ersetzt. Kompromissvorstellungen scheinen zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt zu haben.130 Für Herrmann selbst dürfte diese Entscheidung auch ein harter persönlicher Schlag gewesen sein. Es waren neben den täglich an Dynamik gewinnenden nationalrevolutionären Umbrüchen in der Posener Provinz auch diese existenziellen Befindlichkeiten, die den Verlauf der Debatte über die »Zustände in der Provinz Posen« prägten, die am 5. März 1919 in der Nationalversammlung stattfand. Die von der DNVP aus aktuellem Anlass durchgesetzte Diskussion sollte zum einen anti - polnischen Protest im Parlament generieren und zum anderen gegenüber der deutschen Regierung Druck aufbauen, »um zu retten, was noch gerettet werden kann«.131 127 Rede des preußischen Unterstaatssekretärs Heinrich am 5.3.1919 in der Nationalversammlung. Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 509. Vgl. ähnlich lautende Äußerungen von Reichsfinanzminister Erzberger bei Vogt, Aufstand, S. 85. 128 Landesvorstand des Vereins der Provinzialbeamten in Posen an Herrmann vom 21. 2. 1919 (BArch, N 1640/4, Bl. 33). 129 In einer Rede vor der Nationalversammlung sprach sie davon, dass die neuen polnischen Behörden zum 1. April die Entlassung von 119 evangelischen, 129 katholischen und 6 jüdischen Lehrern plane. Vgl. Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 533. 130 Bereits Ende Januar 1919 hatte der von den neuen polnischen Behörden berufene Kontrolleur des deutschen Akademierektors angekündigt, dass keiner der bisherigen Dozenten übernommen werden würde. Am 4. 3. 1919 veranlasste der Oberste Polnische Volksrat recht abrupt die Schließung der Akademie zum 12. 3. 1919. Die neue polnische Universität wurde am 7. 5. 1919 eröffnet. Vgl. Schutte, Königliche Akademie, S. 163 f. Der neue polnische Lehrkörper setzte sich in der Mehrzahl aus Dozenten aus Warschau, Lemberg und Krakau zusammen. Vgl. Schaller, »Reichsuniversität Posen«, S. 82–85. 131 Reichsverband Ostschutz ( Vorsitzender und Geschäftsführer ) an Herrmann vom 20. 2. 1919 (BArch, N 1640/4, Bl. 27).

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Letztlich geriet die Debatte jedoch zum Gradmesser für die Realitätstauglichkeit der Politik der einzelnen Fraktionen und der vorherrschenden nationalen Narrative. Obwohl die Debatte von der DNVP beantragt worden war, beherrschte Herrmann, der »zugleich als der erste Vorsitzende des Posener Deutschen Volksrats« sprach,132 mit fundierten Analysen und konkreten Politikvorstellungen das Terrain. Eine wichtige Rolle spielte in der Sitzung auch die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Polenpolitik des alten Reichs, doch wurde diese durch die komplizierte Situation in Posen überlagert. Reichsminister Erzbergers Credo, durch nichts den »Ansprüchen der Polen und gewissen Forderungen der Alliierten mehr Vorschub geleistet [ zu haben ] als durch die ungerechte Polenpolitik, die Jahrzehnte lang in Deutschland getrieben worden« sei,133 stieß bei Vertretern von MSPD, USPD, Zentrum und DDP zwar auf Widerhall, wobei einzelne von ihnen ( wie etwa der Posener MSPD - Abgeordnete Wilhelm Schulz ) konkret die Sprachen - und Enteignungspolitik der alten Regierung anprangerten.134 Doch prallten derartige ( Selbst - )Kritiken auf eine Abwehrfront von DNVP und DVP, die – wie schon im Wahlkampf – sämtliche solcher Vorwürfe als Geschichtsklitterung abbügelte. Beide Fraktionen bemühten sich demgegenüber, der jetzigen Regierung die Verantwortung für die immer schwierigere Lage in der Posener Provinz zuzuschieben. In dem schon entlassenen Verständigungspolitiker Hellmut von Gerlach fanden sie zudem die ideale Zielscheibe für ihren nationalistischen Hass.135 Auch wenn gerade in diesem Punkt die Unversöhnlichkeit der Standpunkte klar hervortrat, so ergab sich doch in Fragen der konkreten ( Ernährungs - )Situation und der nationalen Narrative ein größerer Konsens, der nur in puncto Zukunftsvorstellungen wieder deutliche Risse erhielt. Über Fraktionsgrenzen hinweg wurde vor allem der Tatsache, dass die Provinz als landwirtschaftliches Überschussgebiet von reichsweiter Bedeutung war, erhebliches Gewicht beigemessen. Während etwa Herrmann wegen der gerade eingesetzten Ausfuhrsperre aus Posen eine »Katastrophe im industriellen Sachsen« prognostizierte,136 warnte sein deutschnationaler Kollege Wilhelm Ohler »vor dem Hungertode«, dem – im Falle der endgültigen Abtretung an Polen – das gesamte deutsche Volk entgegensehe.137 Neben dem ernährungspolitischen Argument wurden allerdings auch ethnographische, wirtschaftspolitische und kulturelle Argumente bemüht. Herrmanns ( von der Realität schon überholte ) Aufrechnung, warum die Posener 132 133 134 135 136 137

Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 515. Ebd., S. 508. Vgl. ebd., S. 511. Vgl. ebd., S. 519 und 521. Ebd., S. 518. Ebd., S. 519.

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Provinz denn deutsch bleiben müsste, überzeugte dabei die allermeisten Parteienvertreter aus diesem Gebiet. Ausgehend von seiner Überlegung, sich dem Abkommen vom 16. Februar nicht »stillschweigend [ zu ] unterwerfen«, machte Herrmann klar, »dass die Provinz ethnographisch nicht unzweifelhaft polnisch ist, wie es Wilsons Punkt 13 verlangt, dass sie aber kulturell und wirtschaftlich ganz überwiegend deutsch ist«.138 Die Zahlen, mit denen er seine These untermauerte, ließen in der Tat an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig; sie machten aber auch deutlich, wie stark der preußisch - deutsche Einfluss in Wirtschaft und Kultur gewachsen war, und sie demonstrierten darüber hinaus ein Bestreben, das so offenkundig ungünstige ethnographische Verhältnis durch andere Faktoren zu relativieren. Wilsons Diktum von den Gebieten »mit unbestritten polnischer Bevölkerung« traf im Falle Posens tatsächlich nur bedingt zu. Zwar stellten die Polen etwa 62 Prozent der Bevölkerung, aber es existierten keine in sich geschlossenen Siedlungsgebiete der beiden Bevölkerungsgruppen, die problemlos in nationalstaatliche Rahmen hätten eingegliedert werden können. Vielmehr lebten gerade in dieser Provinz Polen und Deutsche in einer »untrennbaren Gemengelage« ( Herrmann ), die – anders allerdings als Herrmann es darstellte – zumindest eindeutige Tendenzen aufwies: Grob vereinfacht ausgedrückt, lagen die mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete diesseits und die mehrheitlich polnisch besiedelten Gebiete jenseits der Demarkationslinie – eine Tatsache, die Herrmann wohl aus taktischen Gründen unerwähnt ließ. Umso stärker kaprizierte er sich auf die kulturelle und wirtschaftliche »Überlegenheit« der Deutschen, die in hohem Maße bei der Gewerbesteuer, der städtischen Eigentumsstruktur und beim Besuch höherer Bildungsstätten dominieren würden.139 Die politischen Implikationen, die solche Entwicklungen erst ermöglicht hatten, nannte er in diesem Kontext jedoch nicht. Im Gegenteil ließ auch er durchblicken, dass er den preußisch - deutschen Einfluss der vergangenen 150 Jahre als etwas Naturnotwendiges – weil zivilisatorisch Hebendes – betrachtete. Wenn er den Zustand ansprach, in dem die Provinz in den Jahren 1772 und 1793 »übernommen« worden sei (»in Schmutz und Elend [...] buchstäblich verkommen«), und in dem sie sich dank »deutschem Fleiß, deutscher Arbeit und deutscher Intelligenz« heute befinde, dann manifestierte sich hierin die Sicht des deutschen Kolonisatoren, der dieses zivilisatorische »Aufbauwerk« als Argument für die gegenwärtige nationalpolitische Auseinandersetzung nutzte.140 Dass die preußischen Gebiete ( also auch Posen ) seit Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich eine 138 Ebd., S. 518. 139 Konkret nannte er folgende Zahlen : 75 Prozent Gewerbesteuer durch deutsche Betriebe, 67 Prozent deutscher städtischer Grundbesitz im Regierungsbezirk Bromberg und 78 Prozent Deutsche, die höhere Lehranstalten besuchten. Vgl. ebd., S. 517 f. 140 Ebd., S. 517.

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positive Entwicklung genommen hatten und den »höchsten Alphabetisierungsgrad, die beste Infrastruktur und das höchste Pro - Kopf - Einkommen aller polnischen Territorien« erreichten,141 ist unter Historikern kaum mehr umstritten, doch kamen die Polen in Herrmanns Sicht nicht einmal als Mitgestalter eben dieses Prozesses vor. Allerdings war der Posener Geschichtsprofessor in dieser Parlamentsdebatte weder der einzige noch der eindrücklichste Vertreter dieses bereits über Jahre hinweg gepflegten nationalen Narrativs. Ausgerechnet Moritz Baerwald ( DDP ), der aus Bromberg stammende Jurist jüdischer Herkunft, machte in diesem Chor mit einem besonderen schrillen Ton von sich reden, als er im Plenum erklärte : »Im Vergleich zu den Zuständen, die anderswo herrschen, wo Polen leben, können die Polen froh sein, dass sie in unserem Lande gelebt haben; und wir wollen froh sein, wenn wir nicht in ein Land kommen, wo die Unkultur uns überfluten würde.« Unter den Rednern des 5. März war Baerwald derjenige, der wohl am nachhaltigsten und detailliertesten die preußisch - deutschen Leistungen in Posen würdigte. Seine Frage »Was erwartet uns, wenn wir polnisch werden ?« beantwortete er ohne Umschweife so : »Es erwartet uns ein Rückschritt zur Unkultur, ein Rückschritt in das, was wir vor 150 Jahren abgestreift haben.«142 Einen staatsrechtlichen Übergang an Polen mochte selbst dieser Abgeordnete des Linksliberalismus einzig mit Metaphern wie »Überflutung«, »Unkultur« und »Rückschritt« in Verbindung bringen. Lag dies vielleicht auch daran, dass hier ein Vertreter des assimilierten deutschen Judentums über seine nicht - assimilierten osteuropäischen Glaubensgenossen urteilte und durch den Übergang an Polen den eigenen Assimilationsprozess als gefährdet ansah ? Oder hatten solche Äußerungen auch etwas mit den von Baerwald dezidiert beschriebenen »Pogromen und Judenverfolgungen« zu tun, die Polen und Ukrainer 1918/19 verübten ?143 Ungeachtet der Dominanz solcher nationalen Narrative war es insbesondere Herrmann, der als Vertreter der neuen demokratischen Kräfte für ein künftiges Miteinander von Polen und Deutschen warb und sich überdies für die bestmögliche Sicherung der Rechte von »sprachlichen Minderheiten« in der neuen deutschen Verfassung aussprach. Es müsse – so Herrmann – künftig »Recht vor Macht« gehen, schließlich sei gerade der »Obrigkeitsstaat« durch den »Rechts und Volksstaat« abgelöst worden. Nachdrücklich plädierte er daher für das Recht der nationalen Minderheiten im Gebiet des Deutschen Reiches auf »Gebrauch 141 Heyde, Geschichte Polens, S. 88; vgl. auch Borodziej, Geschichte Polens, S. 42. 142 Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 531. 143 Ebd., S. 532. Baerwald hob in diesem Teil seiner Rede besonders auf das Lemberger Pogrom vom November 1918 ab, bei dem die Polen seinen Worten zufolge 1 000 Juden ermordet hätten. Tatsächlich waren bei dem Pogrom von »polnischen Randalierern« 75 Juden ermordet, mehr als 400 Juden verletzt und 83 von Juden bewohnte Häuser niedergebrannt worden. Helmut Walser Smith, Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten deutscher Geschichte, Stuttgart 2010, S. 182.

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der Muttersprache beim Unterrichte sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege innerhalb der von ihnen bewohnten Landesteile«. Mit Blick auf Posen und die deutschen Ostgebiete ermahnte er die Regierung, alle Vorkehrungen für eine mögliche Volksabstimmung, einen Optionsvertrag oder einen Autonomievertrag zu treffen. Angesichts eines »gemeinsamen furchtbaren Feindes«, des »Bolschewismus«, beschwor der deutsche Katholik die polnischen Katholiken, den Weg eines Rechtsfriedens einzuschlagen – man sei doch auch »in jeder Beziehung [...] aufeinander angewiesen«. Ein »Gewaltfrieden« allerdings würde nur neuem Hass und neuer »Rachsucht« und einem neuen »Weltbrand« den Weg bahnen.144 Ein dezidiert anderes Signal sendeten an diesem Tag die Vertreter der politischen Rechten. Für einen ihrer Redner, den Nationalliberalen August Beuermann, Kreisschulinspekteur von Fraustadt ( Provinz Posen ) und Herausgeber einer »Landeskunde Preußens«, hatte sich bereits ein Wort von Clausewitz als »schlagend wahr« erwiesen; dass es nämlich für Deutschland »keinen natürlicheren Feind als ein wiederhergestelltes Polen« gäbe. Beuermann war es auch, der – anders als Herrmann – die ethnographischen Verhältnisse nicht etwa als gegeben hinnehmen, sondern unter dem Blickwinkel der »Volkstumsverhältnisse« neu ausleuchten ( lassen ) wollte. Für ihn befand sich derjenige, der glaube, dass sich in der Provinz das »Deutschtum« nur aus 800 000 von zwei Millionen Bewohnern zusammensetze, schlicht im Irrtum. Während Herrmann gerade wegen der eindeutigen ethnographischen Verhältnisse mit Teilungsplänen der Siegermächte rechnete, kam dies für Beuermann überhaupt nicht in Betracht. Für ihn war die Provinz aufgrund von »Kultur und Volkstum« deutsches Territorium und ein »Endanfall« an Deutschland überhaupt nicht diskutabel. Seine Argumentation war eine rein völkische : So diagnostizierte er zwischen der deutschen und der polnischen Kultur eine grundlegende Differenz, wobei er Kultur als eine »gleichartige Lebensform und eine Verwandtschaft der Gesittung« definierte. Während die Polen in den »trübsten Gebieten Galiziens [...] ihr Volkstum in Reinkultur« hätten »züchten« können, sei das »Polentum unseres deutschen Gebietes« doch inzwischen »vollständig in diese unsere deutsche Kultur hineingeschlüpft«. Dass diese eine »völlig neue Kultur«, ja eine »neue Welt« darstelle, hielt er für ausgemacht.145 Die Schwachstelle dieser Argumentation lag im ausgeklammerten Element der Sprache begründet. Die Tatsache der vorherrschenden polnischen Sprache versuchte Beuermann deshalb mit dem Wirken der »polnisch fühlenden« Geistlichkeit zu erklären. Durch deren Druck seien sogar viele der vor 100 Jahren gegründeten deutschen Dörfer der »Polonisierung« zum Opfer gefallen, ohne 144 Protokoll der 21. Sitzung der Nationalversammlung vom 5.3.1919, S. 518 f. 145 Ebd., S. 522.

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dass dort allerdings die Bewohner ihre »deutsche Gestalt« und ihr »deutsches Aussehen« verloren hätten. Beuermanns erstes Fazit, dass auf diese Weise »Massen des Deutschtums in der polnischen Flut als Kulturdünger aufgegangen« seien, war selbst mit Blick auf die Metaphern so neu nicht. Neu war hingegen das zweite von ihm formulierte Fazit, das eine Art Vision beinhaltete : »Wenn sich die rechten Leute finden, die die Verhältnisse durchsehen und durchprüfen können, müsste es verwunderlich sein, wenn nicht dieses bisher verborgene deutsche Volkstum dort in diesen ganz sicherlich nicht unbestreitbar polnischen Gebieten zutage treten würde.«146 20 Jahre später wurde diese Vision Realität : Mit der deutschen Besatzung Polens kamen mit den Volkstumsexperten des »Dritten Reiches« die »rechten Leute« zum Zuge, die nach völkischen Kriterien die Bewohner Posens durchleuchteten und einen Teil von ihnen in eine in sich abgestufte »Deutsche Volksliste« einsortierten.147 Im Frühjahr 1919 hielten sich indes die Hoffnungen Herrmanns, für die Posener Provinz einen »Rechtsfrieden« zu erlangen, in Grenzen. Bei »ehrlicher Anerkennung der Wilson’schen Grundsätze« brauchte »uns« – so Herrmann – »um das Schicksal der Provinz Posen, oder doch wenigstens weiter Teile derselben, nicht bange« zu sein. Dagegen sprachen für ihn jedoch der »Hass« und der »Vernichtungswillen unserer Gegner«.148 Die Anfang Mai 1919 bekanntgewordenen Friedensbedingungen übertrafen diese Befürchtungen jedoch bei weitem : Hatte der Realpolitiker und »Sachverständige für Ostfragen«149 wohl damit gerechnet, dass die am 16. Februar gezogene ( militärische ) Demarkationslinie neue deutsche Grenze werden würde, sah er sich – wie viele andere Deutsche – gründlich getäuscht. Ohne Volksabstimmung musste nun auch noch fast der gesamte Netzedistrikt mit der zweitgrößten Provinzstadt Bromberg abgetreten werden. Von dem bislang gehaltenen knappen Drittel der Provinz ging noch einmal mehr als die Hälfte verloren, darunter meist mehrheitlich deutsch besiedelte Kreise.150 146 Ebd., S. 522 f. Hervorhebungen nicht im Original. Beuermann berichtete von ehemals deutschen Dörfern, in denen sich »nicht einmal mehr ein deutscher Name« fände. Familiennamen wie »Fuhrmann« seien inzwischen in »Furmannek« oder »Furmanski« polonisiert worden. Als konkreten Fall nannte er die »alten wackeren Bamberger Dörfer vor Posens Toren«. 147 Vgl. dazu den Aufsatz von Johannes Frackowiak über die »Deutsche Volksliste« in diesem Band; vgl. auch Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012. 148 Alfred Herrmann, Nachklänge zur Weimarer Poleninterpellation. In : Berliner Tageblatt vom 15.3.1919. 149 Im Frühjahr 1919 war Herrmann von der preußischen Regierung zum »Sachverständigen für Ostfragen bei den Berliner Vorverhandlungen für die Friedenskonferenz« ernannt worden. Preußische Regierung an Herrmann vom 18.3.1919 ( BArch, N 1640/4, Bl. 44). 150 Für Teilungspläne mochte sich Herrmann als Volksratsvorsitzender – und zumal nach der Kritik am 12.12.1918 – öffentlich nicht ( mehr ) aussprechen. Allerdings lassen sich in seinen Reden und Aufsätzen entsprechende Hinweise zumindest indirekt erkennen. Vgl. ebd. und Alfred Herrmann, Nationale Parität. In : Der Beobachter. Ein Volksblatt aus Schwaben vom 1. 4. 1919.

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Für den Vorsitzenden des Posener Volksrates, der die alliierten Pläne als »Vergewaltigung Deutschlands« und »hohnsprechende« Auslegung der Wilson’schen Grundsätze attackierte,151 war das eine der vermutlich bittersten Niederlagen seines Lebens. Er – der Demokrat und Verständigungspolitiker – stand jetzt gegenüber der eigenen Klientel mit buchstäblich leeren Händen da.152 Zu lange hatten sich Politiker wie Herrmann der Hoffnung hingegeben, dass die von den USA verkündeten Prinzipien des ( nationalen ) Selbstbestimmungsrechtes Geltung erlangen würden und nicht mehr die herkömmliche »Hinterzimmer« - Diplomatie der ( west )europäischen Kolonialmächte, denen im speziellen Fall strategische Gründe wichtiger erschienen als ethnographische Verhältnisse.153 Herrmann seinerseits zog entsprechende Konsequenzen und gehörte in der DDP - Fraktion zu denjenigen, die wegen der Unterzeichnung des Friedensvertrages die gemeinsame Regierung mit der MSPD und Zentrumspartei verlassen wollten. In einem in seinem Nachlass befindlichen Antrag machte er klar : »Dieser Friede ist nach der einmütigen Überzeugung der Fraktion unerträglich u. unerfüllbar, er ist u. bleibt nach der Ansicht ihrer übergroßen Mehrheit unannehmbar.«154 Die erst im Frühjahr 1919 gebildete Weimarer Koalition brach tatsächlich auseinander.

4. Ausblick und Fazit Von der Provinz Posen blieben nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages nur kleinere Randgebiete übrig, die – nach Räumung der noch abzutretenden Gebiete ( Januar 1920) – mit den westlich gelegenen Randgebieten der größtenteils verloren gegangenen Provinz Westpreußen zur neuen schmalen Provinz

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Auf der ersten Sitzung der Sachverständigen aller Ostprovinzen in Berlin am 31.3.1919 machte Herrmann intern klar, dass er die »Erhaltung der deutschen Herrschaft in der ganzen Provinz Posen nicht mehr für möglich hielt«. Schumacher, Ostprovinzen, S. 126 f. und 278. Alfred Herrmann, Die bedrohte Ostmark. In : Das neue Reich, 1 (15.6.1919) 13, S. 6 f. Für Georg Cleinow war der nun zu beobachtende »Zusammenbruch im Osten« ( gemeint ist hier die territoriale Zerstückelung der »Ostmark«) einzig und allein auf das »Fiasko der Parteipolitik« zurückzuführen, wobei er hier vor allem Sozialdemokraten, Zentrum und DDP verantwortlich machte. [ Georg Cleinow ], Ostmark, Regierung und Volksratsbewegung. In : Die Grenzboten, 78 (1919) 30, S. 73–82. Der Leitartikel war nicht gezeichnet, dürfte aber mit großer Wahrscheinlichkeit vom Herausgeber Cleinow selbst stammen. Zu dieser Frage vgl. Krüger, Außenpolitik, S. 56–61 und 74. Handschriftliche Formulierung Alfred Herrmanns zu einem Antrag von vier DDP - Abgeordneten vom 21.6.1919 ( BArch, N 1640/10, Bl. 10 f.). Der auf den 21.6.1919 datierte Antrag stammte u. a. von Herrmann und Bernhard Falk. In einem Sechs - Punkte - Katalog hatte die DDP - Fraktion für die Unterzeichnung des Friedensvertrages u. a. auch territoriale Zugeständnisse ( so im Falle Danzigs, Westpreußens und des Netzedistrikts ) verlangt. Vgl. Lothar Albertin, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Bonn 1972, S. 338.

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Grenzmark Posen - Westpreußen verschmolzen wurden. Alfred Herrmann teilte unterdessen das Schicksal von Hundertausenden Deutschen der vormaligen Provinz, die »gewissermaßen über Nacht [...] von Angehörigen der staatlich privilegierten Mehrheitsnation zu einer nationalen Minderheit geworden« waren155 und in »ihrem« neuen polnischen Staat nicht bleiben wollten oder konnten. Infolge von Entlassungen, von Verdrängungen, von zeitweiligen Internierungen, aber auch infolge deutscher Entschädigungen kam es vor allem in der ersten Zeit zu einem regelrechten Exodus.156 Bereits im Oktober 1919 schätzte Herrmann im Parlament die Abwanderung auf ca. 120 000 Deutsche, die sich mit dem Fall der Demarkationslinie ( Januar 1920) »leicht verdoppeln« könne.157 Tatsächlich waren von den einstmals über 800 000 Deutschen 1921 noch ca. 328 000 und 1926 noch ca. 224 000 übrig geblieben. Besonders verheerend wirkte sich der Aderlass in den ( größeren ) Städten aus : Während sich der Anteil der Deutschen in der Stadt Posen von 42 Prozent (1910) auf zwei Prozent (1931) verringerte, ging ihr Anteil in Bromberg gar von 77 Prozent (1910) auf acht Prozent (1931) zurück.158 Der von Polen eher widerwillig unterzeichnete Minderheitenschutzvertrag hatte an dieser Entwicklung nicht viel ändern können. Dmowskis Bewegung hatte sogar auf weitere westliche Gebiete gezielt und sich erhofft, die »Germanisierung« in der Posener Provinz wenigstens z. T. rückgängig machen zu können.159 Für Herrmann, der noch im Laufe des Jahres 1919 »unfreiwillig« seinen Wohnsitz aufgeben und aus Posen »flüchten musste«,160 ergaben sich erst Monate später neue berufliche Perspektiven. Nach einem im Sommer 1919 unternommenen Vorstoß, in den deutschen »diplomatischen Dienst überzutreten«, um »im Osten Verwendung« zu finden,161 glückte ihm Ende des Jahres der Neustart als Hauptschriftleiter und Verlagsdirektor der »Oldenburger Landeszeitung«. Nach einem Intermezzo bei der »Kieler Zeitung« arbeitete er zwischen 1924 und 1932 als stellvertretender Hauptschriftleiter bei dem auch überregional bekannten liberalen »Hamburger Fremdenblatt«. Daneben unterrichtete er ab 1924 als Lehrbeauftragter für Geschichte in Kiel und als Honorarprofessor in Ham155 Zit. nach Rogall, Die Deutschen im Posener Land, S. 128 f. 156 Vgl. ebd., S. 130. 157 Protokoll der 107. Sitzung der Nationalversammlung vom 24.10.1919, S. 3388. Als Hauptgrund der »Massenabwanderung« nannte Herrmann den »von den Polen geübten Terror« und des Weiteren das »geringe Vertrauen in einen künftigen tatkräftigen Schutz der Auslandsdeutschen in Polen«. 158 Vgl. Rogall, Die Deutschen im Posener Land, S. 130. 159 Vgl. ebd.; Kawalec, Roman Dmowski, S. 202; Zloch, Polnischer Nationalismus, S. 113–115; Heyde, Geschichte Polens, S. 92. 160 Reichsinnenministerium an Herrmann vom 26. 1. 1922 ( BArch, N 1640/4, Bl. 72). Das Schreiben hatte Herrmanns Optionserklärung zum Inhalt. 161 Herrmann an Auswärtiges Amt vom 31.7.1919 ( BArch, N 1640/5, Bl. 58).

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burg.162 In dieser Zeit verteidigte er im Wesentlichen die demokratischen Ergebnisse der Revolution und warnte vor der Gefahr, die 1923 von der »frevelhaften völkischen Erhebung der Hitler und Genossen« ausgegangen war.163 Polen und Posen gerieten ihm indes nicht aus dem Blick : Nach einer ersten Reise nach Polen (1925)164 arbeitete er 1932 als Auslandskorrespondent in Warschau165 und beriet seine Partei, die DDP,166 in ostpolitischen Fragen. Zwar bewertete er Polen hinsichtlich Deutschlands und der UdSSR als »Unruhefaktor« und »Gefahrenquelle«, doch warnte er gleichzeitig davor, in dem Land nur einen »Saisonstaat« zu sehen. »Auf absehbare Zeit« müsse mit Polen als einem »feststehenden Machtfaktor« gerechnet werden, in dem die deutsche Minderheit vor allem kulturelle Unterstützung benötige. Mit Blick auf die deutsche Ostgrenze argumentierte Herrmann, dass diese »niemand in Deutschland als endgültige anzusehen vermag«. Allerdings sprach er sich für eine Revision »auf dem Rechtswege« und gegen Gewalt aus. Sein Fazit : »Hüten wir uns vor den Ostpolitikern baltischen, völkischen, deutschnationalen Einschlags.«167 So verwundert es nicht, dass Herrmann von der NS - Bewegung als »Judenknecht« und »boshafter Gegner« diffamiert wurde.168 Dabei dürfte es sich allerdings um eine Charakterisierung aus der Zeit vor 1933 gehandelt haben, avancierte er doch am 1. April 1933 zum Hauptgeschäftsführer des Reichsverbandes der deutschen Presse ( RdP ) – der Berufsorganisation der Journalisten. Aus diesem Amt schied er schon 1935 offiziell »im gegenseitigen Einvernehmen« mit dem Leiter des Reichsverbandes Wilhelm Weiß, der hauptberuflich dem »Völkischen Beobachter« der NSDAP vorstand. Herrmanns Nachfolger wurde im Juni 162 Vgl. Alfred Milatz, Alfred Herrmann. In : Neue Deutsche Biographie, 8 (1969), S. 687; Das Deutsche Führerlexikon 1934/35, Artikel Alfred Herrmann, Berlin 1935, S. 186 f. 163 Alfred Herrmann, Hamburg und das Hamburger Fremdenblatt. Zum hundertjährigen Bestehen des Blattes 1828–1928, Hamburg 1928, S. 520, 529 und 535. 164 Zu den befürchteten Komplikationen der ersten 1925 unternommenen Reise vgl. den Schriftwechsel zwischen Herrmann und Erich Zechlin ( Auswärtiges Amt ) vom August und September 1925 ( BArch, N 1640/8, Bl. 1–6). 165 In : Cuno Horkenbach ( Hg.), Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Berlin 1933, Artikel Alfred Herrmann, S. 529, heißt es dazu : »Ende 1932 Korrespondent eines Zeitungskonzerns in Warschau.« 166 Noch 1925 gehörte Herrmann dem zentralen Parteiausschuss der DDP an; er hatte – zumindest zu diesem Zeitpunkt – Einfluss auf die Politik der Partei. Vgl. Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933. Eingeleitet von Lothar Albertin. Bearbeitet von Konstanze Wegner, Düsseldorf 1980, S. 343 f. 167 Alfred Herrmann, Probleme des Ostens ( Manuskript, o. D.), ca. 1930 ( BArch, N 1640/7, Bl. 22– 31). 168 Der antisemitische Tenor lautete vollständig : »Judenknecht, wenn nicht selbst Jude.« Karteikarte Alfred Herrmann, o. D. ( BArch, BDC / PK, Aktenvermerk PA 5391). Die Charakterisierung könnte einige Zeit vor 1933 entstanden sein, wurde doch auf der Karteikarte Kiel und nicht Hamburg ( ab 1926) oder Berlin ( ab 1933) als Anschrift angegeben.

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1935 der NS - Funktionär Wilhelm Ihde.169 Es mag sein, dass Herrmann kurz vor der »Gleichschaltung« des RdP ( Ende April 1933)170 aufgrund seiner jahrelangen Tätigkeit im Landesvorstand Hamburg und im Hauptvorstand ( seit 1930)171 als »bürgerlicher« Übergangskandidat zum Zuge kam, doch dürfte er sich in der Folge nicht nur durch Anpassungsleistungen im Amt gehalten haben. Ob dafür – wie schon 1915 kritisch vermerkt – eine gehörige Portion Ehrgeiz mit im Spiel gewesen war, oder der tatsächliche Wille, »Schlimmeres zu verhindern«, vielleicht auch Opportunismus oder Empathie für das NS - Reich oder eine Gemengelage aus mehreren dieser Faktoren, muss offen bleiben. Fest steht, dass sich Herrmanns Verhalten nach 1933 ohnehin durch Ambivalenzen auszeichnete, die etwa mit der Übernahme von Direktorenposten bei kleineren Verlagen in Dresden und Berlin (1935–1944) zum Ausdruck kamen. Inwieweit seine NSDAP - Mitgliedschaft (1937) diese beruflichen Verankerungen absichern sollte oder aber ein eindeutiges Bekenntnis war, ist schwer zu beurteilen.172 Ob hingegen seine Vortragsreisen ins Generalgouvernement 1940/41 noch unter der Rubrik »Ambivalenzen« einzuordnen sind, erscheint mehr als fraglich, wurden doch hier deutlich eigene liberale Grenzen überschritten. So hielt Herrmann in dieser Zeit mehrfach Vorträge im Distrikt Radom vor ( deutschen ) Besatzungsbeamten, Wehrmachtoffizieren und Führern von SS und Polizei. Der Anstoß für die Reisen scheint von Herrmann selbst ausgegangen zu sein,173 der wiederum inhaltlich den eigenen biographischen Erfahrungen verhaftet blieb. 169 Zeitungswissenschaft. Monatsschrift für internationale Zeitungsforschung. Hg. von Karl d’Ester und Walther Heide, 10 (1935) 7, S. 350. In einer »vermutlich autorisierten biographischen Notiz« von 1954 erklärte Herrmann, er sei von NS - Stellen aus diesem Amt verdrängt worden. Schumacher ( Hg.), M. d. R., S. 192. Für diese These spricht der Umstand, dass sich Herrmann in jener Zeit auch politischer Denunziationen zu erwehren hatte. Vgl. Herrmann an Kampmann vom 18.7.1934 und Erika Boese an Herrmann vom 18.7.1934 ( BArch, N 1640/15, Bl. 27–29). 170 Als Zäsur für die einsetzende »Gleichschaltung« des RdP wird in der Regel der 30. 4. 1933 genannt, an dem eine »offensichtlich wohlvorbereitete Delegiertenversammlung« die NS - Funktionäre Otto Dietrich und Wilhelm Weiß zu Vorsitzenden auf Reichs - und Berliner Ebene »wählte«, die alten Satzungen außer Kraft setzte und einen Unvereinbarkeitsbeschluss für »Marxisten und Juden« fällte. Norbert Frei / Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, 3. Auflage München 1999, S. 26 f.; vgl. auch Oron J. Hale, Presse in der Zwangsjacke 1933–1945, Düsseldorf 1965, S. 88 f. 171 Zu Herrmanns Funktionen im RdP vor 1933 vgl. Cuno Horkenbach ( Hg.), Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Berlin 1933, Artikel Alfred Herrmann, S. 529. 172 Herrmann war seit 1. 5. 1937 NSDAP - Mitglied und hatte die Mitgliedsnummer 5328264 (BArch, BDC, Reichskartei NSDAP, H0145). In dem von 1939 stammenden Parteifragebogen gab Herrmann die weiteren Mitgliedschaften an : NSD - Dozentenbund, Deutsche Arbeitsfront, NS - Volkswohlfahrt, Reichsluftschutzbund, Reichskulturkammer und Berufsverbände. Fragebogen Alfred Herrmann betr. Parteistatistische Erhebung 1939 ( BArch, R 9361/ I, 1261). 173 Herrmann hatte den Wunsch nach einer »Instruktionsreise durch den Distrikt« geäußert, der Persönliche Referent des Gouverneurs startete darauf eine Vortragsanfrage an Herrmann. Vgl. Persönlicher Referent des Gouverneurs von Radom an Herrmann vom 14. 12. 1940 und 9.1.1941 ( BArch, N 1640/9, Bl. 1 und 10).

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Inwieweit hiervon eine für den Radomer Gouverneur geschriebene »Denkschrift« und ( vorgesehene ) Veröffentlichungen in der Gouvernementspresse abweichen, bleibt der weiteren Forschung überlassen.174 Kein Zweifel dürfte jedoch daran bestehen, dass der vormalige DDP - Politiker vornehmlich 1940 und 1941 – also auf dem Höhepunkt der militärischen Erfolge des NS - Systems – kaum mehr einen Abstand zur nationalsozialistischen Diktatur erkennen ließ. Erklärbar wird dieses Verhalten nur vor dem Hintergrund einer neuen erfolgreichen, von vielen überhaupt nicht mehr für möglich gehaltenen Machtstaatpolitik des Hitler - Regimes, die mit einem Schlag die tief sitzenden ostdeutschen Demütigungen aus der Zeit von 1918/19 zu tilgen versprach. Dass gerade Herrmann hierfür ein prominentes Beispiel gewesen sein dürfte, scheint bei seinen damals erlittenen persönlichen Verletzungen auf der Hand zu liegen. Nach dem Ende des zweiten verlorenen Krieges hätte vermutlich niemand mit einer weiteren Karriere des da schon 66 - Jährigen gerechnet. Umso erstaunlicher mutet es an, dass Herrmann nicht nur zu seinen liberalen Wurzeln zurückkehrte, was vielleicht erwartet werden durfte, sondern zuerst als Honorarprofessor in Hamburg (1947–1949) und dann als Ordinarius für Neuere Geschichte und Politik an der TU Berlin (1949–54) noch einmal zu größerer Breitenwirkung fand und im liberalen Geist gehaltene Studien zur Revolution von 1848/49 hinterließ.175 Bleibende Verdienste erwarb sich der 1960 verstorbene Historiker aber mit der vornehmlich von ihm vorangetriebenen Gründung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn, der er selbst von 1951 bis 1956 vorstand.176 In einer von ihm und der Kommission herausgegebenen Festschrift für Ludwig Bergsträsser überschrieb Herrmann den eigenen Aufsatz über Gustav Stresemann mit dem bezeichnenden Titel »Vom deutschen Nationalisten zum guten Europäer«. Die letzten Sätze klangen dabei fast so wie ein spätes Credo : Das, was Stresemann gelungen sei, aus dem »gedemütigten Deutschland des Versailler Diktates« wieder einen »gleichberechtigten 174 Die Titel der drei zuerst in Radom gehaltenen Vorträge bezogen sich auf die Gründung Polens und auf Herrmanns eigene Erfahrungen 1914–1919. Die besagte »Denkschrift« ist als solche nur erwähnt. Vgl. den Schriftwechsel zwischen Herrmann und der Gouvernementsspitze in Radom 1940/41 ( BArch, N 1640/9, Bl. 1–30). Zur Entwicklung des Distrikts Radom unter deutscher Besatzungsherrschaft vgl. Robert Seidel, Deutsche Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939–1945, Paderborn 2006; Jacek Andrzej Mlynarczyk, Judenmord in Zentralpolen. Der Distrikt Radom im Generalgouvernement 1939–1945, Darmstadt 2007. In den beiden Standardwerken findet Herrmann keine Erwähnung. 175 Vgl. z. B. Alfred Herrmann, Berliner Demokraten. Ein Buch der Erinnerung an das Jahr 1848, Berlin ( West ) 1948. 176 Zu Herrmanns umsichtiger und liberaler Arbeitsweise als Kommissionsvorsitzender vgl. Rudolf Morsey, »Die Geschichte der Parlamentarisierung in Deutschland (1908–1919)«. Das erste Editionsprojekt der Parlamentarismus - Kommission. In : Dieter Hein / Klaus Hildebrand / Andreas Schulz ( Hg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 175–188.

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Verhandlungspartner« zu machen, dürfe »uns heute Ansporn und Hoffnung sein«, in »seinem Geiste optimistisch und unerschütterlich für ein starkes Deutschland in einem einigen Europa [ zu ] wirken«.177 Als Streiter für ein »starkes Deutschland« war Herrmann in seinem politischen Leben häufig genug mehr als National - denn als Linksliberaler in Erscheinung getreten. Hier lag wohl die entscheidende Differenz zu Hellmut von Gerlach, der – anders als Herrmann – keineswegs zu den Verfechtern einer preußisch - deutschen Machtstaatpolitik gehörte. Erst im Zuge des »Zusammenbruches« dieser Politik und damit unter dem Zwang der Verhältnisse wandelte sich Herrmann zu einem Befürworter der nationalen Parität. Mit diesem eigenständigen Alternativprogramm und dem Aufbau eines Deutschen Volksrates für die Provinz Posen bot er nun ein Kontrastprogramm zum radikalnationalistischen der »Hakatisten«. Dass sich Herrmanns Positionen nicht durchsetzen ließen und so dem Ende der alten deutschen Polenpolitik kein »nahtloser« Neuanfang folgte, war mehreren Ursachen zuzuschreiben : Im eigenen deutschen Lager konnte er ausweislich der Wahlergebnisse zur Nationalversammlung nicht entscheidend gegen die »hakatistischen« Konservativen »punkten«; gegenüber dem polnischen Lager befand er sich aber infolge des totalen militärischen Zusammenbruchs Deutschlands und der rigorosen polnischen Nationalstaatspolitik von Anfang an in einer Position der Schwäche. Die Posener Polen strebten seit dem deutschen Zusammenbruch mit aller Macht in einen eigenen Nationalstaat – und zwar mit der gesamten Provinz. Ob eine frühe und stetige deutsche Politik der nationalen Parität nach 1918 den Boden für eine nationale Autonomie der Deutschen oder Polen hätte bereiten können, ist schwer zu beantworten, aber angesichts vergleichbarer Entwicklungen im 20. Jahrhundert ( z. B. Südtirol ) nicht auszuschließen.

177 Alfred Herrmann, Gustav Stresemann. Vom deutschen Nationalisten zum guten Europäer. In : ders. ( Hg.), Aus Geschichte und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergsträsser, Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn, Düsseldorf 1954 ( Reprint 1993), S. 139–151, hier 151.

II. Deutschland und Polen in der Zwischenkriegszeit: Nationalismus und nationale Identitäten (1918–1939)

Krzysztof Kawalec Einfluss und Bedeutung des Nationalismus im Entstehungsprozess der Zweiten Polnischen Republik nach 1918*

1. Wo der Nationalismus beginnt Der Begriff Nationalismus hat im Polnischen eine andere Bedeutung als beispielsweise im Englischen, wo er eine auf nationale Eigentümlichkeiten rekurrierende politische Ideologie bezeichnet.1 In Konzeptionen, die sich auf die Nation als eine »vorgestellte Gemeinschaft«2 beziehen, wird diese Ideologie geradezu als ein die Gemeinschaft erzeugender Faktor wahrgenommen, indem er die Begriffe Volk / Nation und Nationalismus, deren ursprüngliche Verbindung suggerierend, sehr eng verknüpft. Im Handbuch des britischen Politologen Andrew Heywood stehen liberaler, konservativer, expansionistischer, anti - und postkolonialer Nationalismus nebeneinander. Im Umkreis nationalistischer Bestrebungen sind sowohl Postulate wie der Kampf um den »Platz an der Sonne«, aber auch Anstrengungen im Hinblick auf die Verwirklichung eines Nationalstaates ( auch autonomer Freiheiten ) zu finden.3 Allgemein ausgedrückt kann als Nationalismus jedes Handeln aufgefasst werden, das sich auf den Begriff der Nation beruft. Im Gegensatz dazu wird in Polen der Begriff recht eng aufgefasst, wobei man dort traditionell die Neigung zu dem dem Nationalismus gegenübergestellten, jedoch positiv bewerteten Patriotismus betont.4 Die Unterscheidungskriterien * 1

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Aus dem Polnischen von Karl-Heinz Frackowiak. Beispielsweise bedeutet der Terminus »Nationalismus« in Webster’s Dictionary. The New Lexicon of the English Language, Encyclopedic Edition, New York 1989, S. 666, die Verbundenheit mit der eigenen Nation sowie das Unterstützen der nationalen Einheit und Unabhängigkeit; ein »Nationalist« ist eine Person, die sich zu diesen Ansichten bekennt oder mit einer Bewegung für die nationale Unabhängigkeit verbindet. Siehe Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 ( in polnischer Übersetzung : Wspólnoty wyobrażone. Rozważania o źródłach i rozprzestrzenianiu się nacjonalizmu, Kraków 1997). Andrew Heywood, Ideologie polityczne. Wprowadzenie, Warszawa 2007, S. 165–188. Siehe das Stichwort »Nationalismus« in dem vom Państwowe Wydawnictwo Naukowe herausgegebenen Słownik Języka Polskiego, Band 2, Warszawa 1984, S. 243.

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sind allerdings unscharf. Es lässt sich hier nur schwer von einem einheitlichen Verständnis der betreffenden Begriffe sprechen. Hingegen ist es möglich, auf Elemente aller bereits angeführten Definitionen hinzuweisen, die wiederholt auftreten. Vor allem wird Nationalismus als eine extreme, mit dem Chauvinismus verbundene und Aggressionen provozierende Ideologie empfunden – im Unterschied zu dem auf die Verteidigung des status quo hin gerichteten Patriotismus. Bisweilen wird auf eine unterschiedliche Art der Definition der Bindung hingewiesen : Der Nationalismus neigt dazu, eine kulturell - ethnische Einheit im Volk zu erkennen, der Patriotismus hingegen zur Betonung der aus der Staatstradition folgenden Bindungen. In ähnlicher Weise soll der Terminus »Heimat« ein historisch, nicht aber ein über kulturell - ethnische Determinanten definiertes Gebiet bezeichnen. Ausnahmsweise gibt es auch Versuche, den Nationalismus als eine Ideologie des Pflegens kultureller Eigenheiten sowie der sich darauf berufenden politischen Programme zu definieren, während der Patriotismus als ein emotionaler Zustand der Gemeinschaft betrachtet wird. Das Gemeinsame dieser unterschiedlichen Definitionsangebote ist die Gegenüberstellung der Begriffe Patriotismus und Nationalismus bei Verengung des Bedeutungsgehalts des letztgenannten, indem dessen negative Eigenschaften akzentuiert werden. Historisch betrachtet bildete sich diese Art der Gegenüberstellung anlässlich der in der polnischen politischen Szene der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgefochtenen Konflikte aus, die später der Einfluss des Marxismus überlagerte – genauer gesagt die Zugehörigkeit Polens zum Ostblock – in Verbindung mit langanhaltenden ( und durch die kommunistischen Machthaber aufrechterhaltenen ) kriegsbedingten Ressentiments. Die Differenzen zwischen Patriotismus und Nationalismus präzisierend verwies der Soziologe Jerzy Wiatr auf die gesellschaftliche Rückwärtsgewandtheit des letztgenannten, wobei er vor allem dessen Aggressivität betonte : »Der Nationalismus sagt : ›Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt‹, dem Patriotismus reicht der Wille zur Bestätigung durch die Tat, denn ›Jeszcze Polska nie zginęła‹ [ Noch ist Polen nicht verloren ].«5 Auch wenn dies nicht beabsichtigt war, korrespondierte die Gegenüberstellung von Nationalismus und Patriotismus mit früheren Streitigkeiten innerhalb der polnischen politischen Szene. Vor 1939 wurde die Kritik am Nationalismus gegen die mit diesem verbundene Nationaldemokratie6 gerichtet. Außerdem – mögli-

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Jerzy Wiatr, Naród i państwo. Socjologiczne problemy kwestii narodowej, 2. Auflage Warszawa 1973, S. 427. Die Narodowa Demokracja ( Endecja ) war eine der wichtigsten Strömungen im politischen Leben Polens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als ihr Beginn wird die Schaffung der geheimen Liga Narodowa im Jahr 1893 angesehen, um die herum sich in den folgenden Jahren die öffentlich in den einzelnen Teilungsgebieten agierenden Parteienstrukturen gruppierten. Nach Erlangung der Unabhängigkeit vereinigten sie sich 1919 im Rahmen des Związek Ludowo- Narodowy ( Volksnationale Union ), der 1928 in den Stronnictwo Narodowe ( Nationale Par-

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cherweise vor allem – stellte sie ein Abbild jener Probleme dar, die als eine Bedrohung der polnischen Frage und später des wiedergeborenen polnischen Staates wahrgenommen wurden. Man nahm an, dass die Verallgemeinerung einer die Herrschaft von Macht und Gewalt rechtfertigenden politischen Philosophie nicht im Interesse der schwächeren Nationen – darunter auch der polnischen – läge, der Nationalismus unter den Bedingungen von Vielvölkerstaaten hingegen zentrifugale Bestrebungen nähren würde. Indem man die Schädlichkeit des Nationalismus als einer Ideologie hervorhob, die das polnische Element von den ihm feindlich gegenüberstehenden benachbarten Völkern wie auch Minderheitengruppen isolierte, wurde gleichzeitig die Rolle nationaler Gefühle bei der Mobilisierung des gesellschaftlichen Widerstandes gegen die Teilungsmächte positiv bewertet; nach 1918 hingegen wurde deren Wert in der Rolle eines den Staat stabilisierenden Faktors gewürdigt. Aus diesem Grund achteten selbst Nationalismuskritiker darauf, dass ihre Argumente selektiven und nicht verallgemeinernden Charakter hatten, um nicht dem Nihilismus den Weg zu bahnen. Eine hervorragende Illustration besagten Zwiespalts bildete vor diesem Hintergrund eine Aussage des Soziologen Jan Stanisław Bystroń von Anfang der 1920er Jahre. Er wies auf die Nützlichkeit der nationalen Gefühle zur Mobilisierung des Volkswiderstands gegen die fremden Okkupanten hin. »Weil vom praktischen Standpunkt aus«, – wie er betonte – »die Kirche manchmal primitive Methoden zur Aufrechterhaltung des Glaubens im Volk toleriert«, reduzierte er das Problem praktisch auf eine im Grunde ästhetische Kategorie, indem er an die Beachtung von Takt und Maß appellierte. »Man muss nämlich«, folgerte er, »diese populären, taktisch notwendigen Dinge als ein malum necessarium [ notwendiges Übel] ansehen und im Kompromiss mit der Realität leben, darf aber andererseits niemals die großen Ideale aus den Augen verlieren.«7

2. Zwei Visionen – zwei Programme Im Folgenden sollen der Nationalismusbegriff und dessen Gehalt auf die Thematik des vorliegenden Beitrags bezogen werden. Eine enge Auslegung des Begriffs »Nationalismus« sowie eine Eingrenzung des Problems auf das Handeln der Nationaldemokratie – und damit jener Kreise, die im polnischen politischen

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tei ) umgestaltet wurde. Im Ergebnis des von Józef Piłsudski 1926 durchgeführten Staatsstreichs wurde die Nationaldemokratie dauerhaft in die Opposition verbannt. Dies begünstigte die Stärkung der in ihr existierenden extremistischen Positionen, darunter des immer stärker betonten Antisemitismus. In der Außenpolitik repräsentierte sie eine antideutsche Haltung. Ihr während des Zweiten Weltkriegs dezimiertes Milieu wurde durch kommunistische Repressionen nach 1944 zerschlagen. Jan Stanisław Bystroń, Megalomania narodowa, Warszawa 1935, S. 52.

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Leben den Formeln eines integralen Nationalismus8 am nächsten standen, wie auch der Personen unter ihrem ideologischen Einfluss –, würde dazu führen, dass Józef Piłsudski sowie die sich an ihm orientierenden, im Allgemeinen mit der Polnischen Sozialistischen Partei verbundenen radikalen Intellektuellen außerhalb des Beobachtungsfeldes blieben. Dies wäre angesichts der Rolle, die Piłsudski bei der Ausgestaltung des wiedergeborenen polnischen Staates spielte, nicht akzeptabel. Sie wäre auch wegen des Übergewichts an nationaler Motivation in seinem Handeln unbegründet. Indem Piłsudski sich mit der irredentistischen Tradition des 19. Jahrhunderts identifizierte, sah er seine Tätigkeit als ein Glied in der Kette der polnischen Aufstände an. Damit begab er sich in den Umkreis der zentralen Strömung polnischer Nationaltraditionen, die durch Ideen der Freiheit dominiert wurden. Einer kulturell - ethnischen Definition des Polentums stand er hingegen zweifelsohne fern.9 Der Bezugspunkt seines Handelns war die multiethnische Rzeczpospolita, die im 18. Jahrhundert untergegangen war, und nicht, wie im Fall der Nationaldemokratie, die Vision eines durch das polnische Element dominierten Staates. Es wäre hinzuzufügen, dass sich ein bedeutender Teil der polnischen Öffentlichkeit die Teilungen als Leid und Unrecht vorgestellt hatte, weshalb das Resultat ihrer Überwindung die Wiederherstellung des status quo ante sein sollte. Dieser Standpunkt war nicht nur im Kontext der Kräfteverhältnisse höchst unrealistisch, sondern auch aufgrund der Bestrebungen der auf dem Territorium des ehemaligen Polen lebenden Menschen. So wie die Kräfteverhältnisse letztlich über die Fruchtlosigkeit der polnischen irredentistischen Unternehmungen im 19. Jahrhundert entschieden hatten, waren sie später für den Grenzverlauf des wiedergeborenen polnischen Staates entscheidend. Paradoxerweise formulierte die Nationaldemokratie entgegen dem, was das Stereotyp des aggressiven Nationalismus suggeriert, eine kleinere Skala der Aspirationen. Zum einen berücksichtigten die Nationaldemokraten in ihren Konzeptionen, dass die internationalen Rahmenbedingungen die Chancen zur Lösung der polnischen Frage verringerten; zum anderen erkannten sie, dass ein Ergebnis der lang andauernden fremden Herrschaft die Ausdifferenzierung der Bestrebungen der auf dem ehemaligen Gebiet der Polnischen Republik wohnenden Menschen war. Aber auch das Prestige und die Attraktivität der früher herrschenden Kultur waren erschüttert. In dieser Situation wurde als unvermeidlich 8

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Aufgrund der Programmunterschiede und unter Berücksichtigung der Eigenart des integralen Nationalismus der Action française ist hier nur von einer relativen Ähnlichkeit zu sprechen. Der Action française widmete sich in Polen kürzlich eine interessante Veröffentlichung : Jacek Bartyzel / Dariusz Góra - Szopiński ( Hg.), Nacjonalizm a konserwatyzm i monarchizm. Action Française i jej promieniowanie, Toruń 2011. Vgl. Andrzej Chojnowski, Koncepcje polityki narodowościowej rządów polskich w latach 1921– 1939, Wrocław 1979, S. 72, 77 f. Siehe die Ausführungen des »Kresy« - Aristokraten Hipolit Korwin - Milewski, Siedemdziesiąt lat wspomnień (1955–1925), Poznań 1930, S. 343 f.

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anerkannt, dass die sich im Umkreis der nichtpolnischen Bevölkerung herauskristallisierenden nationalen Bewegungen – in der symbolischen Dimension – Aktionen gegen die gemeinsame Tradition unternehmen würden, die in der praktischen Dimension aber gegen die polnische Bevölkerung gerichtet sein würden. Für diese Bewegungen war das nämlich eine wesentlich einfachere Stoßrichtung ihrer Aktivitäten als die Aufnahme des Kampfes gegen einen feindlichen Staat. Aus diesem Grunde beabsichtigte die Nationaldemokratie nicht – anders als die radikale Intelligenz –, diese Bewegungen beim Endkampf gegen die Teilungsmächte – in der Praxis gegen Russland – auszunutzen und suchte zu ihnen keinerlei Annäherung. Die Endecja betrachtete sie als feindlich und schätzte damit die Bedeutung, gewissermaßen auch die Unumkehrbarkeit der Fakten richtig ein. In der Sicht der Nationaldemokraten war durch die Entwicklung unter der nichtpolnischen Bevölkerung im Gebiet der ehemaligen Polnischen Republik, die sich auf die Gemeinsamkeit der Sprache und Kultur berief, eine neue Situation entstanden. Diese musste ins politische Kalkül gezogen werden. An die Wiederherstellung des früheren Staates konnte nicht mehr gedacht werden. Selbst im Falle einer günstigen internationalen Situation würde dessen Aufbau auf zu großen Widerstand stoßen, danach würde dieser Staat mit einer ständigen inneren Gärung zu kämpfen haben.10 Unter Annahme einer dauerhaften Reduzierung der von der polnischen Frage betroffenen Gebiete der früheren Rzeczpospolita interessierte man sich für Möglichkeiten der Kompensation auf dem Gebiet von Schlesien und Masuren. Als Verbindungsebene diente die Gemeinsamkeit der Sprache – unter Berufung darauf wurden gemeinsame Bestrebungen postuliert. Selbstverständlich hatte dieser Standpunkt seine Nuancen, die sich im Laufe der Zeit herauskristallisierten. In einer seiner frühen Erklärungen aus der Mitte der 1890er Jahre verwies Roman Dmowski auf Möglichkeiten des Abbaus ethnischer Spannungen über ein Schulsystem, das den Eliten die Vielsprachigkeit abnötigte. Dabei verwies er auf die Schweiz als ein positives Muster. Er zweifelte jedoch wegen der durch den Okkupanten verfolgten Politik des divide et impera (teile und herrsche ) an der Möglichkeit seiner Anwendung unter den Bedingungen der russischen Besatzung.11 Mit der Zeit verschärfte er den Standpunkt und forderte von Personen, die in den Einflussbereich der polnischen Kultur kamen, sich voll und bedingungslos mit dieser zu identifizieren.

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Siehe das Auftreten von Dmowski auf einer Tagung des erweiterten Polnischen Nationalkomitees in Paris am 2. 3. 1919 ( Archiwum Akt Nowych [ AAN ], Akta Komitetu Narodowego Polskiego [ KNP ], Sign. 9 [ Mf. 20739], Sitzungsprotokolle KNP, Bl. 57). Vgl. Roman Wapiński, Roman Dmowski, Lublin 1989, S. 73 f. Siehe auch zwei nicht unterschriebene Artikel von Dmowski : Jedność narodowa. In : Przegląd Wszechpolski vom 15. 3. 1895, S. 82; Kwestia litewska. In : ebd. vom 15.10.1896, S. 295.

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Diese Auffassung wurde vom Einfluss der Weltpolitik überlagert, genauer gesagt durch den Wunsch nach Anpassung des Aktionsprogramms an die Realität. Mit diesem sollten partielle Ziele festgelegt werden können unter der Voraussetzung des Erreichens des endgültigen Ziels. Somit verschwand das Postulat der Unabhängigkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den offiziellen Dokumenten der Nationaldemokratie, obwohl die aufmerksame Lektüre der Endecja - Publizistik keinen Zweifel daran lässt, dass diese sich für die territorialen Aspekte der polnischen Frage interessierte.12 Die Protagonisten der Endecja erkannten zwar an, dass deren Lösung von Veränderungen der internationalen Situation abhing. Bei der Analyse der hypothetischen Möglichkeiten zur Änderung des politischen Status der von der polnischen Frage betroffenen Gebiete berücksichtigten sie aber ausschließlich die große Politik und nicht die örtlichen Realitäten.13 Letzteres erfolgte erst in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Angesichts der militärischen Sackgasse begannen sich die Großmächte in wachsendem Maße dafür zu interessieren, jenen Zündstoff, den die ungelösten nationalen Probleme darstellten, zu ihrem Vorteil zu nutzen. Aus polnischer Sicht hatte Deutschland eine Schlüsselstellung, das seit 1915 – gemeinsam mit Österreich Ungarn – den größten Teil des in Frage stehenden Gebietes okkupierte. Durch die Proklamation vom 5. November 1916, welche die Gründung eines polnischen Staates ankündigte, wurde Dmowskis Agieren erheblich erleichtert. »Zum ersten Mal«, erinnerte er sich nach Jahren, »fühlten wir uns gegenüber den westlichen Staaten nicht nur als Informanten, sondern stellten Vertreter einer gewissen Kraft dar, mit der sie rechneten. Sie wussten, dass Polen den Verbündeten nichts geben konnte, aber man blickte auf uns als diejenigen, die Polen davon abhalten können, den Deutschen Soldaten zu geben«.14 So sehr Dmowski, der sich seit Herbst 1915 im Westen aufhielt, früher dort Probleme hatte, an Schlüsselfiguren heranzukommen, ganz zu schweigen davon, diese von der Richtigkeit seiner Argumente zu überzeugen, so sehr stieß sein Angebot der Neutralität infolge der Präzisierung des deutschen Programms in der polnischen Frage auf Interesse; dies ohne Rücksicht auf die Komplikationen, die mit der befürchteten Trennung der Territorien Deutschlands und Russlands durch einen dritten Staat verbunden

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Ein konservativer Endecja - Kritiker schrieb : »Das ist natürlich nicht der blinde und naive Glaube unserer früheren Träumer und Politiker an fremde Mächte und Napoleons, aber es gibt noch etwas sicher Ungesundes [...], das Sich - Ergötzen an Exkursen auf die große internationale Arena, von der die polnische Frage seit Langem herabgestiegen ist«. Zit. in O naszym stronnictwie. Przemówienie Erazma Pilitza na ogólnym zebraniu Stronnictwa Polityki Realnej, odbytym w Warszawie 18 stycznia 1910, Warszawa 1910, S. 18. Vgl. Wapiński, Dmowski, S. 184. Roman Dmowski, Polityka polska i odbudowanie państwa, 2. Auflage Warszawa 1926, S. 242; siehe die auf der Konferenz von Lausanne im August 1917 offengelegten Positionen ( AAN, KNP, Sign. 1 [ Mf 20727], Sitzungsprotokolle KNP August / Oktober 1917, Bl. 11).

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waren.15 Aus anderen Gründen stellte der Untergang des Zarentums einen günstigen Umstand dar. Über die nunmehr freieren Aktionsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Staaten der Entente hinaus nahmen die antirussischen Ressentiments in der polnischen öffentlichen Meinung stark ab, womit sich die Spannungen vor dem Hintergrund der früheren Konflikte um deren Orientierung verringerten. Dmowski nutzte die sich eröffnende Chance und gab seine früher geheim gehaltenen Pläne preis. Seine Denkschriften an die britische Regierung enthielten eine Vision von einem Staat, die sich sowohl vom Programm der Restitution der ehemaligen Polnischen Republik als auch von jenem eines »ethnographischen Polens« unterschied. Obwohl der geforderte Staat von der polnischen Bevölkerung gestützt werden sollte, indem er alle Territorien vereinte, in denen diese die Mehrheit bildete, sollte er auch Gebiete umfassen, wo sie zwar in der Minderheit bleiben würde, jedoch eine starke und konzentrierte Zusammenballung darstellte ( Lwów [ Lemberg ] und Wilno ). Der Verlauf der Grenze wurde so abgesteckt, dass der Minderheitenanteil in dem postulierten Staat 40 Prozent nicht überschritt. Diese Bedingung begrenzte den Umfang der Rückforderungen im Osten,16 hatte aber auch Gewicht hinsichtlich des geforderten Verlaufs der Westgrenze. Es wurde die Rückgabe von Gebieten angestrebt, innerhalb derer eine polnische Bevölkerungsmehrheit lebte. Von Bedeutung waren die preußischen Bevölkerungsstatistiken der Vorkriegszeit, aber auch die natürlichen Reichtümer ( im Falle Schlesiens ) sowie die Sicherung des Zugangs zum Meer für das geforderte Polen ( im Falle des Danziger Pommern ). Unter Berücksichtigung der historischen Kriterien verlief die vorgeschlagene Linie im Osten ziemlich weit westlich der historischen Grenze von 1772; sie näherte sich praktisch der Linie der zweiten Teilung von 1793. An der Grenze mit Deutschland überschritt sie dagegen im Abschnitt Schlesien und in den Masuren die Linie von 1772. Über dieses Programm hatte nicht die Geschichte entschieden, sondern der Wille zur Schaffung eines Staates, der so groß wie möglich sein sollte, ohne übermäßig in den Verdacht des nationalen Irredentismus zu geraten. Dieser Staat

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Vgl. Paul Latawski, Roman Dmowski, the Polish question, and Western Opinion, 1915–1918. The case of Britain. In : ders. ( Hg.), The reconstruction of Poland, 1914–1923, London 1992, S. 2–10. »Um nach außen stark zu sein, müssen wir recht weit nach Osten rücken, aber zur Erhaltung der inneren Kraft kann man nicht zu weit rücken, weil wir sonst den polnischen Charakter des Staates verlieren. Aus diesem Grunde ist der Nordosten ( Litauen, Weißrussland ) für uns sicherer als der Südosten ( Ukraine ) [...]. Meiner Ansicht nach wäre es für uns am besten, die Gouvernements Kowno, Grodno, den größeren Teil von Minsk und Wolhynien, schließlich zwei Kreise Podoliens ( Płoskirów und Kamieniec Podolski ) zu haben. Ob uns aber die ukrainische Frage einen solchen Zuschnitt ermöglicht ?«, schrieb Dmowski Mitte Juli 1917 in einem Brief an Joachim Bartoszewicz, Kommissar der Liga Narodowa in der Ukraine. Zit. nach Wapiński, Dmowski, S. 237.

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sollte politisch auf die Staaten der westlichen Entente hin orientiert sein. Seine politische Souveränität würde von einer sich entwickelnden Wirtschaft unterstützt werden, die mit den Trümpfen eines freien Zugangs zum Meer sowie des Besitzes wichtiger Rohstoffe ( vor allem Kohle ) disponieren konnte.17 Ohne die Niederlage und Neutralisierung aller drei vor 1914 auf dem Gebiet Ostmitteleuropas dominierenden Großmächte war es aber völlig unmöglich, dieses Programm zu realisieren. Die Frage, in welchem Maß das Unterstützung seitens der Verbündeten und der USA genoss, ist ein gesondertes Thema. Die von Dmowski als Erfolg betrachtete Deklaration der interalliierten Konferenz vom 3. Juni 1918, welche die Schaffung eines unabhängigen, vereinigten Polens mit Zugang zum Meer ankündigte, hatte nicht den Charakter einer formellen Verpflichtung. Von den Problemen bezüglich der Forcierung seiner Ziele, die von den Alliierten als zu weitgehend angesehen wurden,18 sollte er sich anlässlich der Friedenskonferenz überzeugen. Vereinfacht und zusammenfassend wurde die Wiedergeburt Polens als eine Art symbolischer Wiedergutmachung für das vorangegangene nationale Martyrium angesehen, was jedoch keineswegs bedeutete, dass dieses als ein Staat mit Aspirationen auf den Status einer regionalen Quasi - Großmacht erscheinen sollte. Aus diesem Grund war die verfolgte Konzeption, die den polnischen Staat vor ehrgeizige Aufgaben stellte, gleichzeitig mit einem hohen Risiko verbunden. In einer Atmosphäre der Euphorie, die durch Veränderungen der internationalen Situation hervorgerufen wurde, weil sich die Dinge bis zum Frühling 1919 vom Standpunkt polnischer nationaler Ambitionen aus gesehen vorteilhaft entwickelten, war man sich der Bandbreite dieses Risikos nicht bewusst gewesen. Dabei wurde bereits damals über ein drohendes Zusammengehen von Russland und Deutschland spekuliert. Man zählte aber auf eine Verlängerung der Patt - Situation in Russland infolge der Verwüstungen durch den Bürgerkrieg, aber auch auf die dauerhafte Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen den siegreichen Verbündeten, vor allem zwischen Großbritannien und Frankreich. Diese Annahmen erwiesen sich als übermäßig optimistisch.

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Das vollständige Programm erschien 1917 in der Broschüre »Problems of Central and Eastern Europe«. In polnischer Übersetzung ( Zagadnienia środkowo - i wschodnioeuropejskie ) erschien es 1926 als Anhang zu den Erinnerungen von Dmowski. Abgedruckt in Dmowski, Polityka polska, Anhang 8. Vgl. Kay Lundgreen - Nielsen, The Polish Problem at the Paris Peace Conference. A study of the policies of the Great Powers and the Poles, 1918–1919, Odense 1979, S. 90 f.; Latawski, Dmowski; Piotr Wandycz, Dmowski’s Policy at the Paris Peace Conference. Success or Failure. In : Latawski, reconstruction, S. 129.

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3. Programme und Realitäten Das von der Nationaldemokratie dominierte Aktionszentrum im Westen forcierte eine politische Konzeption, die in bedeutendem Maße mit der Form konvergierte, die der wiedergeborene polnische Staat letztendlich erhielt. Aus diesem Grund wurde ihr hier viel Raum eingeräumt. Spätere Korrekturen haben das Wesen dieses Projekts, das sich besser als die von anderen politischen Milieus formulierten alternativen Konzepte an die Nachkriegsrealitäten angepasst hatte, nicht wesentlich verändert. In Bezug auf den damaligen Standpunkt der revolutionären Linken kann man schwerlich von einer alternativen Vision für ein polnisches Staatswesen sprechen, mit Sicherheit aber sollte sich der Aufbau des Staates in Anlehnung an die Deklaration vom 5. November 191619 vollziehen. Über deren Schicksal entschied die Niederlage Deutschlands. Bei einem anderen Kriegsergebnis wäre Polen sehr wahrscheinlich als ein Kleinstaat auf der Basis eines mindestens um die Gebiete Preußisch - Polens beschnittenen ethnographischen »Rumpfes« entstanden. Aus polnischer Perspektive wäre dies im Verhältnis zum Stand vor 1914 selbstverständlich ein Fortschritt gewesen, der jedoch durch das Auftreten von vor 1914 nicht vorhandenen Barrieren erkauft worden wäre. Dies bezog sich vor allem auf die Perspektiven der Entwicklung einer industriellen Infrastruktur, die in Anbetracht der Öffnung des Marktes für Konkurrenzunternehmen im Deutschen Reich, vor allem jedoch wegen der Folgen der Requisitionspolitik zweifelhaft erschienen, die die deutschen Okkupanten sowie in geringem Maße Österreich auf dem Gebiet des Königreichs Polen durchgeführt hatten. Die gezielte Praxis der Verheerung warf das Land in seiner Entwicklung zurück und entfernte es damit von der Zivilisationsspitze.20 Die Unfähigkeit der Regierung des prokla19

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Proklamation, die von den Gouverneuren, den Generälen Hans von Beseler sowie Karl von Kuk, im Namen des deutschen Kaisers und des Habsburger Monarchen auf dem Territorium der ihnen unterstehenden Besatzungsgebiete veröffentlicht wurde. Sie kündigte die Schaffung eines selbständigen polnischen Staates mit monarchischem System auf dem der russischen Herrschaft entrissenen Gebiet an, der politisch und militärisch von den beiden verbündeten Mächten abhängig sein sollte. Eine genaue Bezeichnung der Grenzen verschob man auf später. In der polnischen öffentlichen Meinung rief die Proklamation unterschiedliche Reaktionen hervor. In einer weiteren Perspektive rechnete man mit der Schaffung einer administrativen Struktur sowie einer sich vertiefenden Internationalisierung der polnischen Frage. Vgl. Janusz Pajewski, Odbudowa państwa polskiego 1914–1918, Warszawa 178, S. 116–138. Der Text der Proklamation ist abgedruckt in Halina Janowska / Tadeusz Jędruszczak ( Hg.), Powstanie II Rzeczypospolitej. Wybór dokumentów 1866–1925, Warszawa 1984, S. 293, Dokument 115. Vgl. Ferdynand Zweig, Stosunki gospodarcze. Wielka ilustrowana encyklopedia powszechna, Band 13 : Polska, Kraków 1930, S. 75. Diese Auffassung vertrat nicht nur die Historiographie der Volksrepublik Polen ( vgl. Zbigniew Landau / Jerzy Tomaszewski, Zarys historii gospodarczej Polski 1918–1939, 4. Auflage Warszawa 1981, S. 11–16), sondern auch jene nach 1989 ( vgl. Zbigniew Landau / Wojciech Roszkowski, Polityka gospodarcza II RP i PRL, Warszawa 1995, S. 12).

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mierten polnischen Staates,21 dem entgegenzutreten, kompromittierte sie in breiten Kreisen der Gesellschaft, wobei Enttäuschung und Frustration innerhalb des auf Deutschland orientierten politischen Umfelds geschürt wurden. Der Fall des Zarentums, der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg und die in Polen traditionell starke Sympathie gegenüber Frankreich vertieften die Erosion ihres Einflusses zusätzlich. Ein Zeichen der Zeit angesichts der weiteren Ereignisse und ein Vorgang von großer Wichtigkeit war, dass Piłsudski den Okkupationsmächten den Gehorsam aufkündigte, was seine Festnahme sowie den Arrest seiner Anhänger zur Folge hatte.22 Piłsudskis Entscheidung war durchdacht; das Gefühl der Fruchtlosigkeit der aktuellen Politik korrespondierte mit Erwartungen in Bezug auf den weiteren Lauf der Ereignisse. Über den endgültigen Misserfolg des von den Mittelmächten gebildeten Staates entschied letztlich das Ergebnis des Krieges, wobei auch bei einem anderen Resultat der Erfolg dieser Initiative immer zweifelhafter erschien. Ähnlich wie andere neue Staaten ( als der größte davon der ukrainische Staat ) hätte dieses Rumpfpolen für das Deutsche Reich ein landwirtschaftliches Hinterland mit Rohstoffen, aber ohne größere Möglichkeiten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung dargestellt. Wäre – hier in Anlehnung an das inspirierende Buch von Alexander Demandt, das nach alternativen Lösungen im Rahmen der »ungeschehenen Geschichte«23 sucht – wenigstens die Stabilisierung einer solchen Situation angesichts der Probleme, die das stürmische 20. Jahrhundert mit sich brachte, möglich gewesen ? Sicherlich kaum. Abgesehen von äußeren Bedrohungen Mitteleuropas – wobei Spekulationen sehr riskant sind – hätte Polen mit Sicherheit an inneren Spannungen gelitten und der Anteil nationaler Minderheiten wäre deutlich größer gewesen als in der Realität nach Versailles. Bei einer Orientierung Polens auf die westlichen Staaten trat die Mehrzahl der angedeuteten Probleme nicht auf. Obwohl sich dies nicht als so leicht erwies, tauchte die Möglichkeit territorialer Rückforderungen auf Kosten des besiegten Deutschland auf; das sich im Osten vertiefende Chaos eröffnete Handlungsmöglichkeiten. Kriegsbedingte Ressentiments einerseits, die Furcht vor einer bolschewistischen Revolution andererseits erhöhten die Attraktivität der seitens polnischer Politiker vorgelegten Angebote, das in Ostmitteleuropa geschaffene Vakuum zu füllen. Die Vision von Polen als einem Vorposten des bürgerlichen Westens auf einem Gebiet, das durch das revolutionäre Chaos einerseits und durch den 21 22

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Vgl. Włodzimierz Suleja, Tymczasowa Rada stanu, Warszawa 1998, S. 141–151. Es handelte sich um die von Piłsudski provozierte Weigerung der Polnischen Wehrmacht ( Polska Siła Zbrojna ) des Königreichs Polen, am 9. 7. 1917 bei ihrer Übergabe an das deutsche kaiserliche Heer den Treueeid auf den deutschen Kaiser zu leisten. Piłsudski wurde daraufhin von den Deutschen in Magdeburg interniert, wo er bis November 1918 verblieb. Siehe Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage : Was wäre geschehen, wenn ... ?, Göttingen 1984 (polnische Übersetzung : Historia niebyła, Warszawa 2008).

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deutschen Militarismus andererseits bedroht wurde, beeinflusste sogar Politiker, die den polnischen Postulaten gegenüber skeptisch eingestellt waren. Die Meinung des britischen Staatsmanns Arthur Balfour, der Anfang März 1919 ein »starkes« Polen als »most desirable« angesehen hatte, wobei er sich für die Zugehörigkeit von Danzig24 zu diesem aussprach, war für die britische Politik dieses Zeitabschnittes selbstverständlich nicht repräsentativ, stellte aber mit Sicherheit ein Zeichen der Zeit dar. In welchem Maß diese Situation eine Konjunktur für jene Vorschläge erzeugte, die das von Dmowski dominierte polnische Aktionszentrum im Westen – von August 1917 an in Form eines Polnischen Nationalkomitees institutionalisiert – formulierte, ist umstritten. Darin wurden weniger präzise Forderungen favorisiert, die sich auf die Idee einer Föderation beriefen, was in den verschiedenen Zentren jeweils verschieden verstanden wurde.25 In heutigen Worten gesprochen, waren die letztgenannten medial attraktiver, indem sie das von der Koalition in den letzten Monaten des Krieges forcierte Schlagwort von der Selbstbestimmung der Völker geschickt mit den Traditionen der früheren multinationalen Rzeczpospolita verbanden. Bezugspunkt dafür war die ehemalige Grenze von 1772. Dabei sollte diese das Gebiet der postulierten Föderation umgrenzen, nicht aber das des polnischen Staates. Das stellte einen grundsätzlichen Unterschied zu der Konzeption eines Einheitsstaates auf einem verkleinerten Gebiet dar, die durch das Polnische Nationalkomitee in Paris entwickelt wurde. Gemeinsam war beiden Vorstellungen jedoch das Streben nach dem Aufbau eines polnischen Staates als eines großen und starken Gebildes, das in der internationalen Arena eine aktive Rolle zu spielen fähig sein würde.26 Unter Nutzung einer vorher unvorstellbaren Bewegungsfreiheit, die durch den Fall der Habsburger Monarchie und die Niederlage Deutschlands geschaffen worden waren – es sei daran erinnert, dass Russland vorher aus dem Spiel gefallen war –, erlangten die polnischen Eliten eine Chance zum Handeln. Die Auswahl ihrer Richtung war die Resultierende aus den Vorhaben sowie aus fortlaufend vorgenommenen Bewertungen der Situation. Sowohl das tatsächlich Mögliche wie auch das Erreichte müssen als endgültige Prüfsteine für die konkurrierenden Konzeptionen betrachtet werden. Ungeachtet dessen, dass die politische Führung in die Hände Piłsudskis und jener Kreise geraten war, auf die er sich stützte, blieb von den föderativen Visionen nicht viel übrig. Hingegen wich die Grenzlinie – auch die Abschnitte, über 24 25 26

Vgl. Lundgreen - Nielsen, Polish Problem, S. 204. Diesen Fragen sind eingehende Analysen von Timothy Snyder und in Polen vor allem von Andrzej Nowak gewidmet. Es wurde angenommen – und diese Auffassung war in der polnischen Öffentlichkeit weit verbreitet –, dass ein schwacher polnischer Staat zwischen Deutschland und Russland, jedenfalls als selbständiges Subjekt, nicht dauerhaft überleben könnte. Dazu Marek Kornat, Polityka równowagi 1934–1939. Polska między Wschodem a Zachodem, Kraków 2007, S. 61.

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deren Gestalt kriegerische Handlungen entschieden – nicht sehr von den früheren Postulaten des Polnischen Nationalkomitees ab. Dies stellt ein Paradoxon dar. Erst einmal sprach nichts für einen solchen Lauf der Ereignisse. Piłsudski betrieb zunächst auf der Suche nach Partnern im Osten eine aktive Politik und strebte die Verständigung mit den Eliten an, welche nationale Bewegungen repräsentierten, die das ethnische Polen von Russland abgrenzten. Genau festzustellen, was ihm vorschwebte, ist eine echte Herausforderung für die Historiographie – Piłsudski pflegte seine Vorhaben niemandem anzuvertrauen bzw. nicht niederzuschreiben. Es wird angenommen, dass er die Schaffung eines Verbundes kooperierender Staaten auf dem Territorium der ehemaligen Rzeczpospolita beabsichtigte.27 Ebenfalls ein Anhänger der Föderation war der Premierminister ( ab Januar 1919) Ignacy Paderewski, der ab April 1919 die polnische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz leitete. Zwar stieß diese Politik auf starke Opposition in Polen, auch im Sejm,28 Piłsudski hatte aber alle Schlüsselinstrumente zu deren Durchführung in der Hand : das Militär, die Exekutive einschließlich des Außenministeriums, aber auch die Delegation Polens zur Pariser Friedenskonferenz. Zwar stimmte er der Repräsentation Polens durch das Polnische Nationalkomitee in Paris zu, kontrollierte aber dessen Aktionen mittels der Kooptation von durch ihn selbst delegierten Vertretern. Dies alles reichte jedoch nicht aus, um die mit dem Widerstreben der Materie zusammenhängenden Probleme zu lösen, vor allem aufgrund des Unwillens seitens potentieller Partner der in Aussicht genommenen Föderation. Die Situation wurde zusätzlich durch die Notwendigkeit des Reagierens auf auftretende Bedrohungen und Probleme kompliziert. Eines davon war der polnisch - ukrainische Krieg : Die Kämpfe in Lwów [Lemberg ] brachen in der Nacht vom 30. Oktober zum 1. November 1918 aus, also noch vor der Bildung einer Zentralregierung in Polen, welche die Politik hätte koordinieren können. Der Kampf um den östlichen Teil des ehemaligen österreichischen Teilungsgebiets, darunter Lwów – der westukrainische Staat sah diese Stadt als seine Hauptstadt an, sie war aber gleichzeitig ein großes Zentrum der polnischen Kultur – verminderte ohne Zweifel die Chancen auf eine Verständigung und ein Zusammenwirken zwischen polnischen und ukrainischen Politikern. Die Folge waren für lange Zeit vergiftete Beziehungen. Die Bedeutung der kriegsbedingten Ressentiments ist nur schwer einzuschätzen. Wenn auch unstrittig, sollten sie dennoch nicht überbewertet werden. Das Bündnis, das Piłsudski im April 1920 mit dem Führer des ukrainischen Staates, Symon Petljura, geschlos27

28

Diese Probleme analysierten eingehend Adolf Juzwenko, Polska a biała Rosja. Od listopada 1918 do kwietnia 1920 r., Wrocław 1973, und kürzlich Andrzej Nowak, Polska i trzy Rosje. Studium polityki wschodniej Józefa Piłsudskiego ( do kwietnia 1920), Kraków 2008. Das zeigte u. a. Kay Lundgreen - Nielsen, Wielkie mocarstwa a Polska 1918–1919. In : Niepodległość, 14 (1981), S. 40.

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sen hatte, wurde zwar sowohl in Polen als auch in der Ukraine in Frage gestellt, kam aber zustande. Als unergiebig – wenn nicht gar erfolglos – erwiesen sich die Bemühungen im nördlichen ( litauischen ) Segment der föderativen Politik. Trotz des bis zu einer bestimmten Zeit umsichtigen, die Empfindlichkeit des Partners schonenden Vorgehens der polnischen Seite – deren Nagelprobe war das Erscheinen eines Aufrufs im April 1919, in dem sich Piłsudski zur Empörung eines bedeutenden Teiles der polnischen Öffentlichkeit an die Bewohner des ehemaligen Großfürstentums Litauens ( nicht aber der ehemaligen Rzeczpospolita ) gewandt hatte – nahm der Partner keinen Dialog auf, und dessen Heranziehung zur Zusammenarbeit, selbst nur halbherzig oder gezwungenermaßen, erwies sich als unmöglich. In beiden Fällen wurden die Verständigungsversuche von militärischen Handlungen begleitet. Anders als seine Rivalen aus den Kreisen der Nationaldemokratie war Piłsudski irgendeiner spekulativen Gestalt der künftigen Grenze des polnischen Staates nicht sonderlich zugetan. Er wünschte den Schutz polnischer Siedlungszentren im Osten und war davon überzeugt, dass dies im Rahmen der postulierten Föderation möglich sein würde. Er glaubte auch, dass sich in Anbetracht der ( bolschewistischen bzw. »weißen«) Revisionsgefahr von Seiten Russlands die Beziehungen der auf dessen Territorium entstandenen Staaten zum Zweck der gemeinsamen Verteidigung der Unabhängigkeit verdichten würden. Das aber musste eine freundschaftliche Zusammenarbeit auch in anderen Themenbereichen erzwingen. Diese von der Sache her scheinbar logischen Vorstellungen waren willkürlich,29 weil die Realitäten ignoriert wurden : Gegenseitige Konflikte, Argwohn, bereits ausgebildete Ansprüche der Eliten, die im Durcheinander der Nachkriegszeit Chancen zur Realisierung weitestgehender nationaler Planungen erblickten und zu allem entschlossen waren, um diese Chancen nicht zu verschenken. Derartige Tendenzen überwogen damals in jeder Gesellschaft; auch Polen stellte dort keine Ausnahme dar. In Anbetracht dieser Situation der Konfrontation, in der nur die Macht zählte, übernahm Piłsudski stufenweise diese Logik.30 Er hatte außerdem keine Hemmungen beim Gebrauch des 29 30

Vgl. Roman Wapiński, Polska i małe ojczyzny Polaków. Z dziejów kształtowania się świadomości narodowej w XIX i XX wieku po wybuch II wojny światowej, Wrocław 1997, S. 173 f. »Die Grenzen von 72 [1772]«, sagte er an der Wende April / Mai 1920 zu General Antoni Listowski, »konnte ich nicht schaffen, wie ich einst wollte; Polen will diese Grenzgebiete nicht haben, will die Opfer nicht tragen, alle Parteien haben sich deutlich dagegen ausgesprochen, wir wollen keine Kosten tragen und nichts hergeben, [...] aber ohne Bemühungen, ohne Opfer, kann man nichts schaffen ! Damit gibt es keinen anderen Ausweg als den Versuch, eine »samostijna Ukraina« [ unabhängige Ukraine ] zu schaffen. Petljura spielt überhaupt keine Rolle, er ist ein Werkzeug, nicht mehr. Und wenn sich nichts machen lässt, überlassen wir dieses Chaos dem eigenen Schicksal. Es soll verwüstet, verdaut, vernichtet, geschwächt, verspeist werden.« Zit. nach Andrzej Nowak, Jak rozbić rosyjskie imperium ? Idee polskiej polityki wschodniej (1733–1921), Warszawa 1995, S. 263.

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Militärs auch in der Funktion eines Schwertes, mit dem der gordische Knoten durchschlagen werden konnte – eine Illustration dessen war der Fall Wilno ( Vilnius ). Das spektakuläre Fiasko des föderativen Experiments zeigte sich nicht so sehr in den lang anhaltenden Ressentiments, welche die Beziehungen im Osten des Staates destabilisierten – bei einer anderen Politik hätten sie sich mit ähnlicher Kraft gezeigt –, als vielmehr im Grundriss der Ostgrenze. Diese durchschnitt – unter Verbleib größerer polnischer »Inseln« im Osten bei Polen – die Gebiete potentieller Föderationspartner. Genau das hatten die Nationaldemokratie und das Pariser Polnische Nationalkomitee angestrebt. Dieser Sachstand entsprach dem Resultat sowohl des von Polen geführten Krieges als auch des russischen Bürgerkriegs. Jenseits der Ostgrenze Polens erstreckte sich Sowjetrussland, nicht aber eine unabhängige Ukraine. Das wiedererrichtete Litauen hingegen stabilisierte die eigene Macht auf einem schmalen ethnographischen Gebiet und nicht auf dem riesigen Territorium des historischen Großfürstentums Litauen. Mitunter kommt es vor, dass das, was erträumt wurde, an der Realität scheitert. Nicht anders verhielt es sich am deutschen Abschnitt der Grenze mit Ausnahme der Existenz eines Kräfteverhältnisses, das die Möglichkeit zu selbständigem Vorgehen ausschloss. Unmittelbar nach dem Krieg konnte Piłsudski gegenüber Deutschland keine andere Politik als die der siegreichen Entente betreiben. Dies illustriert die von Frankreich als unfreundlicher Akt betrachtete Errichtung einer deutschen Botschaft in Warschau. Es liegen Berichte vor, die Befürchtungen des Staatschefs bestätigen, Deutschland durch übermäßige territoriale Ansprüche herauszufordern. Dennoch hatten weder Piłsudski noch seine Anhänger etwas gegen territoriale Rückforderungen in dieser Richtung einzuwenden. Er nannte sie verächtlich »cadeau« seitens der Koalition und nahm zur Kenntnis, dass die Annahme dieser Art »Geschenke« die Notwendigkeit politischer Anlehnung an die westlichen Staaten – in der Praxis an Frankreich – nach sich zog. Dieser Standpunkt wurde von der öffentlichen Meinung vollständig akzeptiert, einschließlich jener Kreise, die sich während des Krieges auf die Mittelmächte orientiert hatten. Vor einem breiteren Hintergrund betrachtet wurde die Meinung des konsequent prodeutsch eingestellten Władysław Studnicki31 als wunderlich angesehen. Dagegen ordneten sich die Radikalen und Sozialisten, die

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Władysław Studnicki - Gizbert (1867–1953), Politiker und Publizist, vor 1914 aufeinanderfolgend Mitglied der PPS, des PSL und der Endecja, die er wegen ihres Hinneigens zu Russland verließ; vertrat vor und während des Ersten Weltkriegs die Auffassung des sogenannten Trialismus, wonach ein unabhängiges, an die Mittelmächte angelehntes Polen im Rahmen einer gleichberechtigten Föderation mit Österreich und Ungarn entstehen sollte; 1916–1918 Mitglied des Provisorischen Staatsrates des durch die Mittelmächte ins Leben gerufenen Königreichs Polen; machte 1939 nach dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen der NS - Führung erfolglos den Vorschlag, eine polnische Armee zu gründen, die an der Seite der Wehrmacht die Völker der Sowjetunion befreien sollte; starb in London.

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das politische Umfeld Piłsudskis bildeten, völlig den angedeuteten Gesetzmäßigkeiten unter. Bei der Betonung des Konfliktaspekts der polnisch - deutschen Nachbarschaft überboten sie sich gegenseitig mit der Endecja. Wenn es dagegen um praktische Postulate ging, stimmten sie in großem Maße mit dem Standpunkt des Pariser Nationalkomitees überein. Entsprechend der Auffassung, die der ( wahrscheinliche ) Autor Leon Wasilewski im Oktober 1918 im Krakauer Blatt »Naprzód« dargelegt hatte, forderten die Sozialisten, dass zum Bestand des polnischen Staates gehören sollten : Großpolen ( ohne grenznahe Gebiete mit übermäßigem Anteil deutscher Bevölkerung ), Oberschlesien mit dem Regierungsbezirk Oppeln, die Kreise Namslau ( Namysłów ) und Groß - Wartenberg (Syców ) des Regierungsbezirks Breslau, Teile Westpreußens ( Pommern einschließlich der Weichselmündung und der kaschubischen Küste ) sowie der südliche Teil Ostpreußens einschließlich Allenstein ( Olsztyn ). Diese Forderungen waren auch Inhalt der Wahlordnung zum Verfassunggebenden Sejm, nachdem der Antrag von Mieczysław Niedziałkowski zur Aufgliederung des früheren preußischen Teilungsgebietes in Wahlkreise akzeptiert worden war.32 Ähnlich wie im Falle Lwóws war es auch infolge des im Dezember 1918 begonnenen Volksaufstandes in Großpolen erforderlich, auf vollendete Tatsachen zu reagieren.33 Gleiches geschah auch in Oberschlesien, wo 1919 und 1920 nacheinander zwei Aufstände der polnischen Bevölkerung stattfanden, woraufhin sich der polnische Staat zu umfangreichem Engagement für die Erlangung dieser Region bereitfand. Anders als bei der Nationaldemokratie fehlte den entsprechenden Aktionen aber die Stütze durch eine Geschichtsphilosophie, die einen dauerhaften Konflikt an der polnisch - deutschen Grenze aufgrund sich gegenseitig ausschließender Interessen voraussetzte. In Wirklichkeit trugen sie zu einer unnachgiebigen Politik bei, die vollendete Tatsachen schuf und die Strategie des polnischen Staates für den gesamten Zeitraum zwischen den Kriegen vorherbestimmte. Hier wirkten verschiedene Aspekte : von der Übersteigerung des Patriotismus, die ihre Quellen in der Eigenart der inneren Situation hatte, bis zu dem Wunsch, eine Gelegenheit zu nutzen, die durch die Niederlage und innere Krise Deutschlands geschaffen worden war. Es drängt sich darüber hinaus der Eindruck auf, dass kriegsbedingte Ressentiments ebenfalls eine Rolle spielten. 32

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Die Wahlordnung zum Verfassunggebenden Sejm vom 28. 11. 1918 ging in ihrem territorialen Geltungsanspruch weit über das zu dieser Zeit de facto unter Oberhoheit der neuen polnischen Regierung stehende Gebiet hinaus. Bezüglich des ehemaligen preußischen Teilungsgebiets wurde in einem parallelen Dekret, das Sonderregelungen für Territorien enthielt, in denen die Wahlen aufgrund von Kämpfen oder der Ungeklärtheit des Grenzverlaufs nicht durchgeführt werden konnten, eine Verschiebung der Wahlen angeordnet. Zu den territorialen Forderungen vgl. den Kenner des polnischen politischen Denkens Michał Śliwa, Polska myśl socjalistyczna (1918–1948), Wrocław 1988, S. 16; ders., Polska myśl polityczna w I połowie XX wieku, Wrocław 1993, S. 15. Siehe den Beitrag von Mike Schmeitzner in diesem Band.

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Die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit verbindet sich in Polen mit dem 11. November 1918 – dem Waffenstillstand, dessen Jubiläum seit 1937 feierlich begangen wird – und nicht mit dem 5. November 1916. Es ist durchaus möglich, dass bei einer anderen Politik der Besatzungsmächte die Wahrnehmung der von ihnen gebildeten staatlichen Organe anders gewesen wäre. Das hätte sich auch in eine andere Zusammensetzung der politischen Kräfte im Lande übersetzen können, eine andere Einstellung der Eliten sowie in der Konsequenz eine andere Sprache der politischen Debatte. Andererseits wäre die Übersteigerung des Patriotismus in den ersten Jahren der Unabhängigkeit sicherlich nicht völlig zu vermeiden gewesen. Das lässt sich am Beispiel des Konflikts mit der Tschechoslowakischen Republik um Cieszyn (Teschen ) deutlich erkennen. Paradoxerweise nahmen dabei jene Kreise, die Distanz gegenüber dem Nationalismus deklarierten, hierbei eine entschiedenere und härtere Haltung ein als die Nationaldemokraten. Letztere hatten versucht, zwei Dinge in Einklang zu bringen : Einerseits forderten sie die polnischen Protestanten im Teschener Schlesien zurück, andererseits unterstrichen sie die Notwendigkeit, gegenüber dem Partner nachsichtig zu sein; dies angesichts der Erfordernis, wegen der Bedrohung durch Deutschland mit dem tschechoslowakischen Staat zusammenzuarbeiten.34 Hier drängt sich eine Analogie zur Denkweise Piłsudskis in Bezug auf die Ukraine auf : In beiden Fällen musste der Glaube an die Möglichkeit einer Verständigungspolitik im Interesse beider Seiten, im Namen einer höheren Vernunft, mit der durch aktuelle Interessen und Denkgewohnheiten bestimmten Realität kollidieren. Die Logik der Ereignisse entschied über die Ausformung Polens als eines Staates, der mit der Nachkriegsordnung ( nach Versailles ) in Mitteleuropa stark verbunden war; eines Staates, der nicht so sehr – nach Einschätzung des italienischen liberalen Politikers Francesco Nitti – das Lieblingskind der Alliierten, als vielmehr an der Aufrechterhaltung der Ordnung von Versailles tief und lebendig interessiert war. Aus diesem Grund wurde ungeachtet der gefühlten Ungerechtigkeit in der Teschener Frage diese bis Ende der 1930er Jahre nicht angefasst.35 In 34

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Dmowski schrieb in seinen nach dem Krieg veröffentlichten Erinnerungen : »Sache der Tschechen ist es zu verstehen, was für sie Polen bedeutet, aber unsere Sache ist zu verstehen, was für uns die Tschechen bedeuten. Wenn sie Beweise dafür vorlegen, dass sie die eigene Lage nicht verstehen, dann kann man doch daraus nicht folgern, dass wir die Augen vor uns selbst verschließen sollen. In unserem Interesse liegt es, dass die Tschechen existieren, dass sie möglichst stark sind, nur nicht auf unsere Kosten, dass sie die sicherste Sperre gegen ein Vorrücken des Deutschtums nach Süden bilden. Wir sind ein viel größeres Volk als sie, wir haben um Vieles größere Aussichten als Staat, und das Fehlen einer breiteren Denkweise wäre bei uns eine viel größere Sünde. Nur kleine Polen, die bisher nicht verstehen, was Polen ist, können zum unaufhörlichen Streit mit den Tschechen drängen.« Zit. nach Dmowski, Polityka polska, S. 217. Eine aufmerksame Lektüre der Presse verweist auf gemischte Reaktionen nach der Rückforderung von Zaolzie ( Olsagebiet ) im Jahre 1938. Der amtlich propagierte Enthusiasmus mischte sich mit Verlegenheit, sogar mit Unruhe wegen des möglichen weiteren Laufs der Dinge.

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ähnlicher Weise wurden territoriale Entscheidungen bezüglich dritter Staaten akzeptiert – mit Ausnahme der Grenzen Ungarns, wo die öffentliche Meinung in Polen geteilt war. Die geringsten Zweifel weckte die Vormachtstellung der westlichen Alliierten. Akzeptanz fand auch das in Bezug auf Deutschland installierte System der Kontrolle und Beschränkungen. Das internationale System des Schutzes der nationalen Minderheiten wurde insoweit umsichtig in Frage gestellt, als es keine weitergehenden Konsequenzen hinsichtlich der Politik des polnischen Staates, seiner Allianzen sowie der Einschätzung seines Platzes in diesem Teil Europas hatte. Als Tatsache wurde hingenommen, dass das Hauptproblem Polens der Widerwille seitens der großen Nachbarn sei, wobei die Bemühungen um Beziehungen mit den westlichen Staaten sowie um deren Unterstützung als das einzige Mittel galten, um dieses Problem zu neutralisieren. Polen sollte sich zu einem modernen Industrieland entwickeln, das sich mit der Zeit – auch mental – an die gesellschaftlichen Strukturen der westlichen Länder angleichen würde. Bedingungen dafür stellten ein Zugang zum Meer sowie der Rückhalt durch die schlesischen Kohlenlagerstätten dar. Innerhalb der polnischen Eliten der 1920er Jahre dominierte diese Denkrichtung; dies unabhängig von Frustrationen, die durch starke Tendenzen einer wirtschaftlichen Stagnation, aber auch durch die Errichtung der autoritären Diktatur im Jahre 1926 erzeugt wurden. Die Krise machte das Gesamtbild komplizierter, obwohl sie es nicht verwischte.36 Im Kontext des Fragenkomplexes um den Nationalismus kann man selbstverständlich überlegen, was von diesen Vorstellungen eine Projektion der Bedürfnisse darstellte, die in dem verarmten Land lebendig empfunden wurden, und was ein Ausdruck nationalen Größenwahns war. Hier gibt es aufgrund der Komplexität der Materie und deren großer Verquickung keine einfachen Antworten. Die allgemeine Kategorie des »Extrems« kann bei der Bewertung der Standpunkte rivalisierender Milieus in der Frage der Juden oder anderer Nationalitäten, aber bereits nicht mehr hinsichtlich der von ihnen formulierten Programme zur Gesellschafts - und Wirtschaftspolitik verwendet werden. Die Akzeptanz für protektionistische oder etatistische Praktiken hing einerseits mit dem Wunsch nach Verringerung des Abstandes zu anderen Staaten zusammen; andererseits mit der Notwendigkeit, auf diese Staaten, die schon lange vor der Krise eine Politik zum Schutz des eigenen Marktes betrieben, zu reagieren. Anders als es aus dem erklärten Verhältnis zum Nationalismus folgen würde, befürwortete die polnische öffentliche Meinung nämlich derartige Praktiken. In Bezug auf die deutsch - polnischen Beziehungen war es ohnehin schwierig, die wirtschaftliche von der politischen Sphäre zu unterscheiden. Angesichts des Mitte der 1920er Jahre proklamierten Zollkrieges hätte sich der polnische Staat wegen der erlitte36

Vgl. Krzysztof Kawalec, Wizje ustroju państwa w polskiej myśli politycznej lat 1918–1939. Ze studiów nad dziejami polskiej myśli politycznej, Wrocław 1995, S. 170–183; ders., Spadkobiercy niepokornych, Wrocław 2000, S. 213–221, 250–253.

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nen Verluste und der Kräftedisproportion sicherlich zurückgezogen, wenn er gewusst hätte, wohin. Wenn Polen nicht nur mit einer territorialen Beschneidung, sondern auch der Degradierung zu einem abhängigen Gebiet rechnen musste – in den Jahren von 1915 bis 1918 hatte man sich davon überzeugen können, was das bedeutete –, wird verständlich, warum ein kostspieliges Aufbauprogramm für eine Meeresinfrastruktur37 initiiert und auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung für eine derartige Politik Wert gelegt wurde. Dies ereignete sich bereits vor dem Maiumsturz,38 und es ist schwer, die bezeichnende Einmütigkeit der in den meisten anderen Fragen zerstrittenen politischen Klasse zu verkennen. Nach Piłsudskis Rückkehr an die Macht wurde diese Ausrichtung beibehalten. Im Ergebnis entwickelte sich die Überzeugung von der fundamentalen Bedeutung des Zugangs zum Meer, die früher eigentlich von der Nationaldemokratie vertreten wurde, mit der Zeit zu einem allgemein akzeptierten Standard. Die anderen Bestandteile ihres Programms wurden unterschiedlich rezipiert. Dies bezog sich beispielsweise auf die politische sowie die Gesellschaftsordnung des sich erneuernden Staates. Ähnlich wie im Fall des Umfangs der territorialen Forderungen stand die nationalistische Rechte paradoxerweise einem Programm des ökonomischen Liberalismus näher als ihre Konkurrenten. Darüber hinaus optierte sie ebenfalls für ein System der parlamentarischen Demokratie. Dieser Standpunkt geriet mit der Entwicklung des Milieus in eine extreme Richtung allerdings schnell ins Wanken. Von Interesse ist ebenfalls die generelle Bewertung des Einflusses, den der Nationalismus während der Phase des Aufbaus des polnischen Staates hatte. Das der polnischen Sprache immanente enge Verständnis dieses Begriffs verlockt dazu, die Rolle jenes Milieus zu unterstreichen, das sich in den entscheidenden Jahren von 1914 bis 1919 als fähig zur Durchführung eines erfolgreichen internationalen Wettstreits erwiesen hatte. Aufgrund der Verbindung der polnischen Frage mit der Vorgehensweise der westlichen Alliierten konnte dieses auch ein klares, die Realitäten berücksichtigendes Aktionsprogramm erarbeiten. Die Anlässe, für die ein ähnliches Verfahren nicht anzunehmen ist, waren jedoch um Vieles wichtiger. Bedenkt man die Rolle, die Piłsudski bei der Schaffung des Staates spielte, und berücksichtigt ferner sowohl seine Motivation als auch jene seiner Anhänger einschließlich der Zehntausenden jungen Menschen, die sich freiwillig zum neu aufgestellten Militär des jungen Staates meldeten, so kann man daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, die Bedeutung einer mit dem Begriff des Nationalismus verbundenen Doktrin hervorzuheben. Besagte Doktrin bildete lediglich die ideologische Basis eines jener vielen Milieus, die im Sinne einer Wiedergewin37 38

Betreffs dieser Materie scheinen die Feststellungen von Bogdan Dopierała, Wokół polityki morskiej Drugiej Rzeczypospolitej, Poznań 1978, S. 235–266, immer schwerer zu wiegen. Maiumsturz wurde der Staatsstreich Piłsudskis vom Mai 1926 genannt.

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nung der Unabhängigkeit agierten. Dieses Milieu hatte zwar kein Monopol auf Verdienste, dennoch waren und sind dessen Verdienste in Polen weiterhin Gegenstand hartnäckiger und emotionaler Auseinandersetzungen.39 Es bietet sich demnach geradezu an, den Problemkreis der verschiedenen Erscheinungen des Nationalbewusstseins erneut zu durchdenken; dazu gehört auch der Bereich des Nationalismusbegriffs. Sinnvoll wäre die Aufnahme von Untersuchungen mit dem Ziel, die Formen und Inhalte eingehend zu erschließen, in denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nationale Gefühle in Polen auftraten. Leider erhält man auf viele Fragen bereits keine Antworten mehr. Von den Teilnehmern sowie Zeugen der Ereignisse ist niemand mehr am Leben; Zeugnisse in Form von Erinnerungsschriften hingegen, die aus Anlass späterer dramatischer Ereignisse durchforstet wurden, geben aus verständlichen Gründen keineswegs den vollständigen gesellschaftlichen Querschnitt wieder. Andere Probleme hingegen gibt es im Zusammenhang mit der mangelhaften Überlieferung der Presse sowie – angesichts der geringen Leistungsfähigkeit des gerade neugeschaffenen Staates – jener der amtlichen Quellen. Der kürzlich verstorbene hervorragende polnische Historiker Roman Wapiński widmete dem gesellschaftlichen Bewusstsein dieser Zeit einige Bücher, die eine interessante Richtung für weitere Untersuchungen aufzeigen.40 Nehmen wir also an, dass der Nationalismus in seiner klassischen Gestalt lediglich ein Segment einer breiteren Erscheinung darstellte, nämlich des Auftretens elementarer Bewegungen auf der politischen Szene, die nationale Schlagworte gebrauchten. Nicht nur in Polen bewiesen sie ihre Kraft, die Fähigkeit zur Bündelung gesellschaftlicher Vorstellungen, aber auch zur Rekonstruktion gesellschaftlicher Disziplin in den Zeiten, als sich der Einfluss früherer Autoritäten abschwächte. Vor 1914 neigten im Umkreis konservativer Milieus agierende Personen dazu, nationale Emotionen als eine für die Volksmenge charakteristische Art von Krankheit zu betrachten, potentiell in gleichem Maß gefährlich wie der Sozialismus. Das kann anhand ihrer Erinnerungen nachvollzogen werden. Ende der 1920er Jahre aber reiften diese Emotionen zu einer die gesellschaftlichen Verhältnisse stabilisierenden Kraft, einer schützenden Barriere gegenüber der Gefahr eines Umbruchs entsprechend dem russischen Modell. Die nationalen Bewegungen waren ohne Zweifel eine spezifische Form, in der Demokratisierungsprozesse zum Ausdruck kamen. Gleichzeitig waren sie ein Produkt der Massengesellschaft ( oder einer Gesellschaft, die sich zu einer solchen entwickelte ) mit ihrem 39

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Dies kürzlich im Zusammenhang mit dem weiteren Begehen des Jubiläums des 11. November (2011), früher im Zusammenhang mit einem Projekt zur Würdigung der Gestalt Dmowskis in Warschau. Außer der bereits angeführten Arbeit »Polska i małe ojczyzny Polaków« geht es um folgende Bücher : Świadomość polityczna w II Rzeczypospolitej, Łódź 1989, sowie Pokolenia II Rzeczypospolitej, Wrocław 1991.

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Wunsch nach Stabilisierung, Sicherheit, Brüderlichkeit, aber auch mit der Angst vor Fremden. Fraglos lenkten sie die Menschen gegeneinander. Ergebnis ihrer Entwicklung war aber auch das Anwachsen der Spannungen in Territorien, wo die Unterschiede nicht nur vor einem ethnischen, sondern auch einem kulturell religiösen Hintergrund ( Judenfrage ) stärker auffielen. Dies war ein schwerwiegender Faktor, der zur Vernichtung der multinationalen Imperien in diesem Teil Europas beitrug. Infolge des leichtfertigen Beginns eines vernichtenden Krieges standen diese vor wachsenden inneren Schwierigkeiten, mit denen sie bis zur endgültigen Katastrophe 1918 immer schwerer zurechtkamen. Vom Standpunkt der Akteure und Milieus aus, die Veränderungen der politischen Landkarte und die Schaffung neuer politischer Organismen anstrebten, stellte die Entwicklung nationaler Bewegungen in gleichem Maße eine Bedingung für den Erfolg weitergehender Pläne dar, wie sie auch Probleme erzeugte. Letztere entstanden meist dadurch, dass die in größerem Maßstab realisierten Programme die Formel eines national homogenen Staates überschritten. Dieser vor ihnen stehenden Herausforderung versuchten die polnischen Politiker mit unterschiedlichen Rezepten zu begegnen. Gleichermaßen betraf dies die tschechischen und slowakischen, aber auch serbische, kroatische und slowenische Politiker. Sie alle stießen auf ähnliche Schwierigkeiten wie jene, die Piłsudskis föderatives Programm durchkreuzt hatten. Es ist bemerkenswert, dass selbst in den glücklichen Fällen, in denen es gelungen war, einen Kompromiss zu erzielen, später die Zusammenarbeit schwieriger wurde. Die Ergebnisse der sich hinziehenden Konflikte, die komplizierter werdenden Beziehungen sowohl zwischen den neuen Staaten als auch zwischen deren Bürgern wirkten sich negativ auf die Stabilität der nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Ordnung aus, womit späterer Kritik die Tür weit geöffnet wurde. Ausgehöhlt durch lokale Antagonismen unterlag diese Ordnung einer Destruktion von Grund auf – ähnlich wie bei der Ordnung vor 1914 – erst im Ergebnis des nachfolgenden, durch den Krieg erzeugten Kataklysmus großen Ausmaßes. Unter Berücksichtigung des Aggressionspotentials, das in den einzelnen nationalen Bewegungen schlummerte, und unter Beachtung deren späterer Schicksale muss man aber auch jene Faktoren sehen, die ihre Möglichkeiten selbst in der wenig stabilen Realität nach Versailles einschränkten. Ohne eine Übernahme der Herrschaft konnten diese Bewegungen höchstens in lokalem Maßstab Schaden anrichten; später hingen ihre Möglichkeiten vom Potential des jeweiligen Staates ab. Kleinere Staaten konnten höchstens die Situation in ihrem eigenen Umfeld destabilisieren – in dieser Hinsicht entmutigt oder entgegensetzt sogar ermutigt durch die Großmächte. Ohne den Mangel an Verantwortung sowie an Vorstellungsvermögen seitens lokaler Politiker zu rechtfertigen, darf man jedoch die Proportionen nicht aus dem Blickfeld verlieren. Die bedrohlichste Quelle der Destabilisierung waren keineswegs die Kleinkriege aufgrund von Konflikten um

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© Peter Palm, Berlin

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eine Ackergrenze, sondern die Wettkämpfe der größten Spieler41 um Einfluss in globalem Maßstab.

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Vgl. die von Zbigniew Brzeziński in The Grand Chessboard. American Primacy and its Geostrategic Imperatives, New York 1997, vorgeschlagene Klassifizierung ( polnische Übersetzung : Wielka szachownica. Główne cele polityki amerykańskiej, Warszawa 1998, S. 48–59).

Andrzej Michalczyk Migrationsprozesse und nationale Integration im polnischen Teil Oberschlesiens zwischen den Weltkriegen

Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht die Frage der gesellschaftlichen Integration in einer Region, die an der Schnittstelle heterogener Kultureinflüsse lag und nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Wechsel der Staatszugehörigkeit konfrontiert wurde, was in den beiden folgenden Jahrzehnten zu bedeutsamen Migrationsbewegungen führte. Mit Hilfe des mikrohistorischen, akteursbezogenen Ansatzes möchte ich dabei konkrete Formen alltäglicher Handlungsweisen zeigen, mit denen lokale Gemeinschaften den Herausforderungen der überlokalen Integrations - und Homogenisierungsprozesse ( staatlicher und nationaler Art ) begegneten. Zugleich soll das Spannungsfeld aufgezeigt werden, das sich aus dem Aufeinandertreffen von spezifisch modernen Phänomenen wie Nationalisierung und Entkirchlichung mit vormodernen Erscheinungen ergab, wie etwa dem Übergewicht lokal oder konfessionell geprägter sozialer Bindungen. Zunächst wird die soziale Zusammensetzung der Einwohner des oberschlesischen Industriereviers skizziert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Zuwanderungs - und Abwanderungswellen der 1920er und 1930er Jahre. Anschließend folgt eine mikrohistorische Untersuchung, die die Wirkungskraft der polnischen Nationalisierungs und Integrationsprozesse am Beispiel zweier katholischen Gemeinden im polnischen Teil des oberschlesischen Industriereviers darstellt.

1. Migrationsprozesse im polnischen Teil Oberschlesiens Ein Großteil des oberschlesischen Kohlereviers wurde nach einem Plebiszit und militärischen Auseinandersetzungen 1922 dem neuen polnischen Staat angeschlossen.1 In diesem Gebiet wurde die polnische Sprache im Januar 1923 zur 1

Vgl. Guido Hitze, Carl Ulitzka (1873–1953) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, S. 203–490; T. Hunt Tooley, National Identity and Weimar Germany : Upper Silesia and the Eastern Border, 1918–1922, University of Nebraska Press 1997; Zbigniew Kapała ( Hg.), Górny Śląsk czasu powstań i plebiscytu : sprawy mało znane i nieznane, Bytom 1996.

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Amtssprache erklärt, was für die nicht polnischsprachigen Einwohner ein wesentliches Hindernis bei der Besetzung von öffentlichen Stellen bedeutete. Dies betraf vor allem die in der wilhelminischen Zeit zugewanderten, aber auch die einheimischen Deutschen.2 Es setzten beträchtliche Migrationsbewegungen quantitativen wie qualitativen Charakters ein. So verließen Anfang der 1920er Jahre bis zu 100 000 Deutsche den polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens.3 Unter ihnen befand sich eine Vielzahl von Beamten und Angestellten aus Verwaltung, Post, Bahn und Armee wie auch aus den ehemals durch den preußischen Fiskus kontrollierten Industriebetrieben. Die polnischen Behörden unterstützten dabei den Prozess der Verdrängung der ausschließlich deutschsprachigen Beamten.4 Dieser Gruppe folgte ein Teil der technischen Fachangestellten aus größeren privaten Unternehmen, deren Sitz nach Deutschland verlegt wurde. Gleichzeitig verfolgte der polnische Staat im wirtschaftlichen Bereich eine Steuer - und Personalpolitik, die auf eine ökonomische Schwächung der deutschen Industriellen, Ingenieure und Techniker zielte.5 Ähnliche Entwicklungen konnten im Gerichtswesen, bei den Rechtsanwälten und Notaren sowie im Gesundheitswesen beobachtet werden.6 Der dadurch ausgelösten Auswanderungswelle des deutschen Bürgertums schloss sich auch eine große Gruppe von Lehrern an, die hauptsächlich wegen fehlender Polnischkenntnisse und des ihnen gegenüber vorhandenen Misstrauens der polnischen Schulbehörden abwanderten und nach offenen Lehrerstellen in Deutschland suchten.7 Auch das deutsche ( Minderheiten - )Schulwesen verlor quantitativ an Bedeutung, so dass immer weniger deutsche Lehrer eine Beschäftigung fanden.8 Schließlich war unter den Auswanderern eine Reihe von 2 3

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Vgl. Zbigniew Hojka, Administracja rządowa. In : Franciszek Serafin ( Hg.), Województwo śląskie. Zarys monograficzny, Katowice 1996, S. 30–48, hier 44–45. Vgl. Die seelsorgliche Betreuung der deutschen Katholiken in der Diözese Kattowitz, Kattowitz 1934, S. 10 f.; Maria Wanda Wanatowicz, Ludność napływowa na Górnym Śląsku w latach 1922–1939, Katowice 1982, S. 34; Marek Korowicz, Górnośląska ochrona mniejszości na tle stosunków narodowościowych, Katowice 1938, S. 86. Zit. nach Franciszek Serafin, Stosunki demograficzne i społeczne. In : ders. ( Hg.), Województwo śląskie, S. 78–99, hier 86. Vgl. Maria Wanda Wanatowicz, Die Deutschen im staatlichen Sektor des öffentlichen Lebens in Großpolen, Westpreußen und Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. In : Zeitschrift für Ostmitteleuropa - Forschung, 48 (1999) 4, S. 555–582. Vgl. Mieczysław Grzyb, Narodowościowo - polityczne aspekty przemian stosunków własnościowych i kadrowych w górnośląskim przemyśle w latach 1922–1939, Katowice 1978. Vgl. Tadeusz Pietrykowski, Sądownictwo polskie na Śląsku 1922–1937, Katowice 1939; Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 130–133. Wanatowicz, Die Deutschen im staatlichen Sektor, S. 567. Vgl. Tomasz Falęcki, Niemieckie szkolnictwo mniejszościowe na Górnym Śląsku w latach 1922– 1939, Katowice - Kraków 1970; Ingo Eser, Nationale Identität und deutsches Minderheitsschulwesen in Polnisch - Oberschlesien 1922–1939. In : Krzysztof Ruchniewicz ( Hg.), Geschichte Schlesiens im 20. Jahrhundert in den Forschungen junger Nachwuchswissenschaftler aus Polen, Tschechien und Deutschland, Wrocław 1998, S. 71–84; Anna Glimos - Nadgórska, Szkolnictwo i oświata pozaszkolna. In : Serafin, Województwo śląskie, S. 469–503, hier 482–484.

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Angestellten, Kaufleuten und qualifizierten Arbeitern, die im neuen polnischen Staat »nur« als Angehörige der deutschen Minderheit nicht leben wollten bzw. sich ein besseres Leben in Deutschland versprachen. Es verließen jedoch nicht nur die seit Generationen in Oberschlesien ansässigen oder erst im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg zugezogenen Deutschen die neu gegründete Wojewodschaft Schlesien : Auch ein Teil der slawophonen Bevölkerung suchte sein Glück außerhalb der Region, insbesondere in einer Zeit wirtschaftlicher Krisen.9 Zu einer weiteren »deutschen« Auswanderungswelle kam es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, als knapp 25 000 sogenannte Optanten10 aus der Wojewodschaft in Richtung Deutschland ausreisten.11 Eine weitere Gruppe emigrierte nach dem Auslaufen der sogenannten Genfer Konvention für Oberschlesien (1937), eines auf 15 Jahre befristeten Übergangsabkommens, das unter der internationalen Aufsicht des Völkerbundes rechtlichen Schutz für nationale Minderheiten garantierte. In den letzten Monaten vor dem Zweiten Weltkrieg verließen nicht zuletzt politisch engagierte Deutsche aufgrund der angespannten politischen Situation im umstrittenen Grenzgebiet das polnische Oberschlesien.12 Diese Auswanderungswellen erfassten jedoch bei weitem nicht alle oberschlesischen Deutschen : Auch in den 1920er und 1930er Jahren hatten viele von ihnen wichtige Positionen in der Industrie oder sogar in kommunalen und regionalen Behörden sowie im polnischen Schulwesen inne. Der polnische Staat konnte auf dieses qualifizierte und erfahrene Personal nicht gänzlich und vor allem nicht sofort verzichten.13 Unter den Emigranten befanden sich größtenteils Personen, die kulturell eng mit dem Deutschtum verbunden und nationalbewusst waren, was nicht nur zu quantitativen, sondern auch zu qualitativen Verlusten an deutschsprachiger Bevölkerung im polnisch gewordenen Oberschlesien beitrug. Dennoch spielten die verbliebenen nationalbewussten Deutschen weiterhin eine herausragende ökonomische, politische und kulturelle Rolle im polnischen Teil der Region. Die einheimische slawischsprachige Bevölkerung hingegen war als Landund Industrieproletariat hauptsächlich in den unteren Gesellschaftsschichten zu finden.14 9 10

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Vgl. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 96. D. h. Personen, die im Rahmen der Genfer Konvention für Oberschlesien für die deutsche Staatsangehörigkeit optiert hatten und innerhalb von 15 Jahren den polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens in Richtung Deutschland verlassen sollten. Sie wurden nach 1926 von den polnischen Behörden immer intensiver zur Abwanderung aufgefordert. Vgl. Serafin, Stosunki demograficzne, S. 86 f. Vgl. Korowicz, Górnośląska ochrona mniejszości, S. 86. Zit. nach Serafin, Stosunki demograficzne, S. 87. Vgl. Serafin, Stosunki demograficzne, S. 88. Vgl. Maria Wanda Wanatowicz, Województwo śląskie (1922–1939). In : Joachim Bahlcke / Dan Gawrecki / Ryszard Kaczmarek ( Hg.), Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu, Gliwice 2011, S. 238–247, hier 240 f. Vgl. Serafin, Stosunki demograficzne, S. 92–98.

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Die Gesamtzahl der Einwohner im polnischen Teil Oberschlesiens verminderte sich indes nach 1922 nicht. An die Stelle der deutschen Auswanderer traten zum Teil slawophone, zumeist polnisch - nationalbewusste Emigranten aus dem Gebiet, das nach dem Plebiszit bei Deutschland verblieb.15 Von viel größerer Bedeutung war allerdings die Zuwanderung aus den benachbarten polnischen Provinzen. Anders als vor dem Ersten Weltkrieg, als überwiegend unqualifizierte Saisonarbeitskräfte aus den benachbarten polnischsprachigen Gebieten in der oberschlesischen Landwirtschaft und Industrie tätig gewesen waren,16 kamen diesmal hauptsächlich Beamte, Ingenieure, Lehrer, Freiberufler und qualifizierte Arbeiter, die die auswandernden deutschen Eliten ablösten. Die zugereisten katholischen Polen waren zwar nicht sehr zahlreich ( schätzungsweise 40 000 Personen ), aber in der Regel besser ausgebildet und beruflich höher qualifiziert als die einheimische slawophone Bevölkerung. Die Zugereisten übernahmen die frei gewordenen Führungspositionen und beherrschten das Schul - , Gesundheits und Gerichtswesen. Ein großer Teil dieser Gruppe zeichnete sich dabei durch einen selbstbewussten Nationalismus aus, der leicht in eine radikale, antideutsch geprägte Haltung ausarten konnte.17 Die neuen Eliten rekrutierten sich insbesondere aus Galizien, wo in den Jahrzehnten vor der Erlangung der Unabhängigkeit durch Polen bereits ein polnisches Schul - und Behördennetz existierte und das nach 1918 verhältnismäßig gut ausgebildete Kader für die neuen Aufgaben stellen konnte.18 Die nächstbedeutende Herkunftsregion der neuen Eliten war das Teschener Schlesien : Nach der Zusammenlegung des Abstimmungsgebietes, das 1922 an Polen angeschlossen wurde, mit dem polnisch gewordenen Teil Österreichisch Schlesiens kam es zur Binnenwanderung von qualifiziertem Personal aus dem ehemals habsburgischen Teil Schlesiens ins Industrierevier.19 Diese Inteligencja Migrationen aus dem ehemaligen österreichischen Teilungsgebiet waren von der polnischen Regierung gewollt und wurden von ihr gesteuert :20 Nationalbewusste Polen aus Galizien, dem Teschener Schlesien und – aus der Perspektive der Warschauer Regierenden sehr wünschenswert – aus Großpolen und Westpreußen, wo die potentiellen Zuwanderer ähnliche Erfahrungen in Bezug auf die deutsche Sprache und preußische Staatlichkeit mit den Oberschlesiern teilten, sollten die Integration Oberschlesiens in den polnischen Staat vorantreiben und den bis dato deutschen Charakter des öffentlichen Lebens in Oberschlesien »polonisieren«. 15 16 17 18 19 20

Vgl. Jan Mikrut, Uchodźstwo polityczne z Górnego Śląska po III powstaniu śląskim. In : Studia i materiały z dziejów Śląska, 16 (1987), S. 214–252. Vgl. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 16. Vgl. Eugeniusz Kopeć, »My i oni« na polskim Śląsku (1918–1939), Katowice 1986, S. 68–73. Vgl. Andrzej Chwalba, Historia Polski 1795–1918, Kraków 2000, S. 501–516. Vgl. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 35. Vgl. ebd., S. 43.

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Die polnischen Zuwanderer waren hauptsächlich in vier Bereichen des oberschlesischen Alltags präsent : 1. Öffentliche regionale und kommunale Verwaltung : Ein eindeutiges Übergewicht zugewanderter Polen war in den Wojewodschaftsbehörden und auf der Kreisebene ( Starostwo ) sichtbar. Exponierte, verantwortungsträchtige Leitungspositionen des Wojewodschaftsamtes befanden sich fast ausschließlich in deren Hand.21 Anders als im deutschen Teil der Region, wo alle Oberpräsidenten bis 1933 aus der einheimischen deutschen Elite hervorgingen,22 wurden die schlesischen Wojewoden, d. h. die von Warschau ernannten regionalen Vertreter der Exekutive, seit 1923 von außerhalb berufen.23 Die meisten Starosten und ihre Vertreter waren ebenfalls Zugewanderte. Erst auf der lokalen Ebene der Kommunalverwaltung dominierte die einheimische Bevölkerung, darunter auch zahlreiche einheimische Deutsche.24 2. Polizeidienst und Armee : In leitenden Positionen waren fast ausschließlich Nicht - Oberschlesier vertreten, erst auf der Ebene der Gemeinde existierte ein klares Übergewicht der einheimischen Bevölkerung.25 3. Schulwesen : Von den Lehrern der Elementarschulen waren Mitte der 1920er Jahre etwa ein Drittel Oberschlesier, darunter auch einheimische Deutsche, und etwa zwei Drittel Zugewanderte. Die Proportionen verschoben sich in den größeren Städten, die von den bürgerlichen Zuwanderungswilligen bevorzugt wurden, noch mehr zugunsten der Zuwanderer. In den mittleren Schulen und dem höheren Berufsschulwesen war infolge der höheren Bildungsanforderungen an die dort tätigen Lehrer ( Studium ) ein noch eindeutigeres Übergewicht der Zuwanderer sichtbar. Für Mitte der 1930er Jahre lässt sich zwar in absoluten Zahlen eine Zunahme von einheimischen Lehrern feststellen, aber ihr prozentualer Anteil war noch kleiner als zehn Jahre zuvor. In diesem Bereich des öffentlichen Lebens waren etwa 70–75 Prozent Zugewanderte beschäftigt. Dies resultierte unter anderem daraus, dass die oberschlesische Jugend die oberschlesischen Gymnasien und Lehrerseminare meist nicht absolvierte. Dieser Personenkreis machte eher eine Berufsausbildung, was unter der einheimischen Bevölkerung einen höheren Stellenwert besaß, häufig mit einem niedrigeren finanziellen Aufwand verbunden war und keine besonders guten Kenntnisse des Polnischen verlangte.26 21 22

23 24 25 26

Vgl. ebd., S. 53–60. Vgl. Mathias Niendorf, Die Provinz Oberschlesien und ihre polnische Bevölkerung. In : Rudolf Jaworski / Marian Wojciechowski ( Hg.), Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und »Volkstumskampf« im Grenzgebiet. Amtliche Berichterstattung aus beiden Ländern 1920–1939, München 1997, S. 811–816, hier 812. Vgl. Hojka, Administracja rządowa, S. 30–48. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 53 f. Vgl. ebd., S. 64–66. Vgl. ebd., S. 60–63, 150 f., 155 f.

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4. Wirtschaft : Unter den Beamten und technischen Angestellten staatlicher Unternehmen befanden sich 1927 etwa zwei Drittel einheimische Deutsche, 12 Prozent Deutsche von außerhalb und nur 21 Prozent Polen. Die Auswanderung der deutschen technischen Führungskräfte erfolgte also keinesfalls vollständig, was in privaten Unternehmen noch stärker auffiel. Das Verhältnis sah dort 1927 folgendermaßen aus : 73 Prozent einheimische Deutsche, 12 Prozent Deutsche von außerhalb und lediglich 14 Prozent Polen.27 Die deutsche Minderheit in der Wojewodschaft Schlesien besaß demzufolge eine deutlich stärkere soziale Position als die Polen bzw. die slawophone Bevölkerung im deutschen Teil Oberschlesiens.28 Auch wenn die deutsche Bevölkerung ihre politische Vormachtstellung nach dem Ersten Weltkrieg aufgeben musste, blieb ihre Dominanz im wirtschaftlichen Leben ungebrochen. Sie besaß drei Viertel des Kapitals in der Schwerindustrie und 85 Prozent des privaten Grundbesitzes.29 In den 1930er Jahren ging zwar mit der Verschiebung der Besitzverhältnisse zugunsten des polnischen Staates eine Zunahme an polnischen Führungskräften und polnischem technischen Personal einher, allerdings profitierten davon nur sehr wenige slawophone Einheimische. Bei der Besetzung der vakanten Posten waren nämlich nicht nur persönliche Eignung und Qualifikation ausschlaggebend, sondern auch politische Kriterien. Im Gegensatz dazu dominierte unter der industriellen Arbeiterschaft die einheimische slawophone Bevölkerung; dort waren nur wenige polnische Zuwanderer zu finden. Auch in der Landwirtschaft gab es nur eine kleine Gruppe von Saisonarbeitern aus Galizien oder dem ehemaligen Russisch Polen.30 Schließlich muss noch auf eine in Oberschlesien besonders wichtige Personengruppe hingewiesen werden : die katholische Geistlichkeit. Sie bestand überwiegend aus einheimischen Vertretern. In der Regel war der Priesterberuf für einen slawophonen Jungen in Oberschlesien die einzige Möglichkeit für einen sozialen Aufstieg außerhalb der lokalen Gemeinschaft.31 Diese Option eröffnete sich jedoch nur wenigen, und jungen Oberschlesierinnen stand sie ohnehin nicht zur Disposition. Der katholische Klerus bildete bereits vor 1918 eine slawophone und 27 28

29

30 31

Vgl. ebd., S. 69. Vgl. Pia Nordblom, Die Lage der Deutschen in Polnisch - Oberschlesien nach 1922. In : Kai Struve ( Hg.), Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Erinnerung, Marburg 2003, S. 111–126, hier 117–122. Vgl. Maria Wanda Wanatowicz, Województwo Śląskie na tle Drugiej Rzeczypospolitej. In : Serafin, Województwo śląskie, S. 15–29, hier 21–22; dies., Historia społeczno - polityczna Górnego Śląska i Śląska Cieszyńskiego w latach 1918–1945, Katowice 1994, S. 60–63. Vgl. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 70 f. Vgl. Andrzej Michalczyk, Josef Jaglo (1872–1949). In : Joachim Bahlcke ( Hg.), Schlesische Lebensbilder, Band 11, Insingen 2012, S. 449–460.

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nicht zuletzt einheimische Elite.32 Der Herrschaftswechsel 1922 trug zur Erweiterung der einheimischen Eliten kaum bei, wie die kurze Betrachtung der öffentlichen Verwaltung, des Schulwesens und der Wirtschaft in der Wojewodschaft Schlesien deutlich zeigt. Auch wenn die Kattowitzer Bischöfe Arkadiusz Lisiecki und Stanisław Adamski aus Großpolen stammten, finden wir viele einheimische Priester in exponierten Positionen sowohl in der bischöflichen Kurie als auch in der regionalen Politik.33 Die Stellung des Pfarrklerus innerhalb der lokalen Gemeinschaften ( auch der zahlreichen Industriesiedlungen ) gibt der Bericht eines aus dem deutschen Westen Zugereisten plastisch wieder : »Die Person des Priesters steht [...] im sozialen Ansehen bedeutend höher als im katholischen Westen. Schon äußerlich bringt hier der einfache Mann, natürlich noch mehr die Frau, dem Geistlichen eine Devotion entgegen, die schon dem westdeutschen Katholiken auffällt, geschweige denn dem Protestanten. Man muss die wahren Volksfeste Oberschlesiens, die Wallfahrten [...] sehen, um die Verschmelzung von Volkstum und Katholizismus richtig einschätzen zu können. [...] Es ist deshalb kein Wunder, wenn [ die Bevölkerung ] von keiner Seite leichter beeinflusst werden kann als von der des Klerus.«34 Als Zwischenfazit muss festgehalten werden, dass die Migrationsbewegungen der 1920er und 1930er Jahre weniger durch die wirtschaftliche Attraktivität des oberschlesischen Industriereviers stimuliert wurden, sondern in erster Linie aufgrund der Bedürfnisse des polnischen Staates erfolgten. Deshalb haben wir es mit gezielter Zuwanderung in die Bereiche zu tun, auf die der Staat einen unmittelbaren Zugriff hatte : Wojewodschafts - und Kreisverwaltung, Polizeiwesen, Armee, die verstaatlichten Industriebetriebe sowie das öffentliche Schulwesen. Es handelte sich dabei meist um nationalbewusste, verhältnismäßig gut ausgebildete Polen, die die öffentlichen Posten übernahmen. Ein anderer Aspekt taucht jedoch im Hinblick auf die berufliche Kompetenz der Zuwanderer auf : Es gibt beispielsweise eindeutige Hinweise darauf, dass besonders in den ersten Jahren nach 1922 galizische Schulleiter nur ihre schlechtesten Lehrer für den Einsatz in Oberschlesien abordneten.35 Die oben skizzierten Zuwanderungs - und Abwanderungsbewegungen wirkten sich schließlich auf die gesellschaftliche Integration im polnischen Teil Oberschlesiens aus und bargen Konfliktpotential. Deshalb ist von Interesse, wie sich die vom polnischen Staat erwünschte nationale Integration

32 33

34 35

Vgl. James E. Bjork, Neither German nor Pole. Catholicism and national indifference in a Central European borderland, Ann Arbor 2008. Vgl. Henryk Olszar, Duchowieństwo katolickie diecezji śląskiej ( katowickiej ) w Drugiej Rzeczypospolitej, Katowice 2000, S. 514–560; Jerzy Myszor, Historia diecezji katowickiej, Katowice 1999, S. 104–136. Rudolf Vogel, Deutsche Presse und Propaganda des Abstimmungskampfes in Oberschlesien, Diss. Leipzig 1931, S. 18. Vgl. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 39; Kopeć, »My i oni«, S. 63.

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und das alltägliche Zusammenleben der Zugewanderten und der Einheimischen gestalteten. Entlang dieser Fragestellung sollen im Folgenden zwei katholische Gemeinden aus dem oberschlesischen Industrierevier betrachtet werden.36

2. Fallbeispiel 1 : Nationale Integrationsprozesse in Rosdzin - Schoppinitz St. Hedwig in Rosdzin - Schoppinitz ( poln. Roździeń - Szopienice ) war eine dicht bevölkerte Gemeinde mit 22 000 Mitgliedern, überwiegend Einheimischen, davon etwa 4 000 deutschsprachigen Katholiken,37 die einige Kilometer östlich von Kattowitz lag. Dort ereigneten sich vor dem Hintergrund einer Fronleichnamsprozession Konflikte, die es erlauben, den Zusammenhang zwischen Migrationsprozessen und gesellschaftlicher nationaler Integration auf lokaler Ebene zu erhellen. Der dortige Pfarrer, Józef Zientek, übernahm seinen Posten bereits 1903. In der Abstimmungszeit machte er keinen Hehl aus seiner deutschen Orientierung, dennoch emigrierte er nach dem Übergang seiner Pfarrei an Polen nicht. Zehn Jahre nach der Teilung der Region geriet er in die Schlagzeilen der polnisch nationalistischen Presse : Im April 1932 löste er den polnischen Kirchenchor auf, nachdem sich dessen Mitglieder geweigert hatten, anlässlich des Fronleichnamsfestes gemeinsam mit dem deutschen Gesangverein zu singen.38 Der polnische Chor war erst 1925 ins Leben gerufen worden und trat seitdem anstelle des deutschen Cäcilienvereins bei den Fronleichnamsprozessionen auf. Dies war auf die sprachliche Zusammensetzung der Gemeinde zurückzuführen. Nach den wahrscheinlich etwas großzügigen Angaben des Pfarrers benötigten fast 20 Prozent der Gemeindemitglieder eine seelsorgerische Betreuung in deutscher Sprache.39 Die Zusammenarbeit zwischen dem polnischen Gesangverein und dem Pfarrer verlief offensichtlich nicht reibungslos, so dass sich dieser einige Jahre lang bemühte, den Verein zu beseitigen oder zumindest mit dem deutschen Chor, dessen Leitung Zientek selbst innehatte, zusammenzuführen. Gegen diesen Schritt konnte sich der örtliche Vikar Paweł Macierzyński, zugleich Präses und Dirigent des polnischen Kirchenchores und ein zugewanderter Priester, erfolg-

36

37 38

39

Ich beziehe mich im Folgenden auf meine Dissertation : Andrzej Michalczyk, Heimat, Kirche und Nation : Deutsche und polnische Nationalisierungsprozesse im geteilten Oberschlesien (1922–1939), Köln 2010, S. 154–157, 171–176. Vgl. Kazimierz Śmigiel ( Hg.), Die statistischen Erhebungen über die Katholiken in den Bistümern Polens 1928 und 1936, Marburg 1992, S. 48. »Ks. proboszcz Zientek musi się dowiedzieć, że żyjemy w Polsce, a nie w ›Vaterlandzie‹«. In : Polska Zachodnia vom 31.5.1932; »Na co sobie pozwala ks. proboszcz Zientek po dziesięciu latach przynależności Śląska do Polski«. In : ebd. vom 2.6.1932. Vgl. Śmigiel, Die statistischen Erhebungen, S. 48.

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reich durchsetzen.40 Die Situation änderte sich im Frühjahr 1932, als Macierzyński nach Zalenze ( poln. Załęże ) versetzt und an seine Stelle ein neuer junger Priester berufen wurde. Zientek nutzte im April diese Übergangssituation aus und löste den polnischen Chor auf. Alle Mitglieder des polnischen Chores sprachen sich auf einer Versammlung gegen die Entscheidung des Pfarrers aus und suchten Hilfe beim Bischof.41 Ob tatsächlich sämtliche Sänger in dieser Sache offenen Ungehorsam gegenüber ihrem Pfarrer befürworteten, ist jedoch fraglich. Die Abstimmung hatte den Charakter einer Akklamation. Bereits am nächsten Tag wurde Zientek über die Vorgänge ausführlich informiert.42 Die Sitzung soll von örtlichen Lehrern der öffentlichen polnischen Schule dominiert worden sein. Die nationalbewussten zugewanderten Lehrer fühlten sich durch den Beschluss des Pfarrers besonders herausgefordert, denn die Leitung des gemeinsamen Chores sollte einem Lehrer der örtlichen deutschen Minderheitenschule übertragen werden.43 Die Multiplikatoren der polnischen Kultur in Oberschlesien wollten es sich nicht gefallen lassen, während der exponierten kirchlich - öffentlichen Prozession in die hinteren Reihen abgeschoben zu werden. Die Fronleichnamsprozession gehörte nämlich zu den wichtigsten Höhepunkten im Kirchenjahr und stellte nicht nur einen Akt der Gottesverehrung dar, sondern auch eine öffentliche Repräsentation des gesellschaftlichen Status der Teilnehmer.44 Demzufolge spielte die Aufstellung in der Prozessionsordnung eine wesentliche Rolle : Nach Einschätzung der Lehrer hätte die Nichtberücksichtigung des polnischen Chores dem Ruf der polnischen Lehrerschaft in Oberschlesien erheblich geschadet. Um diese Gefahr zu verhindern, erwogen sie sogar, einen Schulstreik zu organisieren.45 Der Pfarrer bestand jedoch weiterhin darauf, dass beide Chöre während der Fronleichnamsprozession zusammen auftreten sollten. Falls die Polen damit nicht einverstanden wären, was Zientek nach der heftigen Auseinandersetzung wohl erwartete, wollte er den deutschen Cäcilienverein allein singen lassen. Den polnischen Vorschlag, beide Vereine abwechselnd bei den Prozessionsstationen zum Singen zuzulassen bzw. den deutschen Chor gar als einen Repräsentanten der Minderheit an den polnischen Gesangverein unter polnischer Leitung anzu40

41 42 43 44 45

Pfarrer Zientek an bischöfliche Kurie in Kattowitz vom 22.4.1932 ( Archiwum Archidiecezjalne w Katowicach [ AAKat ], Akta Lokalne [ Lokale Akten, AL ] Roździeń - Szopienice, Band 2 [unpag.]). Aussageprotokoll der Mitglieder des polnischen Kirchenchores in Rosdzin - Schoppinitz vom 20.4.1932 ( ebd.). Vikar Piaskowski an bischöfliche Kurie in Kattowitz vom 21.4.1932 ( ebd.). Aussageprotokoll der Mitglieder des polnischen Kirchenchores in Rosdzin - Schoppinitz vom 20.4.1932 ( ebd.). Vgl. Michalczyk, Heimat, S. 161–201. Aussageprotokoll der Mitglieder des polnischen Kirchenchores in Rosdzin - Schoppinitz vom 20.4.1932 ( ebd.).

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schließen, lehnte er entschieden ab.46 Und tatsächlich sang bei der feierlichen Prozession am 26. Mai 1932 der deutsche Cäcilienverein in Alleinregie. Die polnisch - nationalistische Presse reagierte äußerst empört auf das »willkürliche« und »germanisierende« Handeln Zienteks. »Polska Zachodnia«, das Organ des Aufständischen - Verbandes und nach 1926 der in der Wojewodschaft regierenden Sanacja - Bewegung, erhielt von einem »seriösen und glaubwürdigen Gemeindemitglied« eine Zuschrift über den Verlauf der Prozession und behauptete auf dieser Grundlage, dass schon beim ersten Altar »eine große Menge der Teilnehmer aufgebracht den Umzug verließ, zahlreiche Vereine ihre Fahnen einzogen und anschließend nach Hause zurückkehrten«. Das Blatt bemerkte zugleich, dass »die polnischen Sänger mit bewundernswerter Ruhe der krassen Benachteiligung auf polnischem Boden zuschauten«. Darüber hinaus war der Redakteur der Zeitung erstaunt, dass der örtliche »Verband der polnischen Vereine« gegen das Verhalten des Pfarrers nicht protestiert hatte.47 Das Verhalten der Gläubigen aus Rosdzin - Schoppinitz während der umstritten gestalteten Prozession weist auf die verschiedenen Wahrnehmungsmuster einer als nationalpolitisch bedeutsam gedeuteten Angelegenheit hin und zeigt dadurch mehrere Facetten der nationalen Integration in der Gemeinde. Offensichtlich gab es eine Gruppe, die dem religiösen, obgleich lateinischen Gesang eines deutschen Vereins nicht zuhören wollte, da sie ihn als eine »Beleidigung nationaler Gefühle« empfand. Sie verließ nach Angaben der Zeitung den feierlichen Umzug, obwohl sich am katholischen Ritus der Fronleichnamsprozession im Vergleich zu früheren Jahren nichts geändert hatte. Dennoch war nun die Verpflichtung des deutschen Chores für eine nicht näher feststellbare Zahl an Einwohnern ein Grund genug, sich von einem der wichtigsten Feste im Kirchenjahr fernzuhalten. Dies stellt allerdings ihre Frömmigkeit als Katholiken in Frage: Die als sehr schwerwiegend empfundene Verletzung der nationalen Gefühle erlaubte es ihnen offensichtlich nicht, einer Feier der gemeinschaftlichen Gottesverehrung beizuwohnen. Ihr Katholizismus war augenscheinlich einer integralen Idee des Nationalismus untergeordnet. Die ablehnende Reaktion dieser Personen wurde sicherlich durch den Faktor der bei der Prozession vorhandenen breiten Öffentlichkeit verstärkt. Eine als »national« gedeutete Verachtung ausgerechnet im öffentlichen Raum konnte nicht ohne Weiteres hingenommen werden. Auch wenn diese Gruppe in der Beschreibung der »Polska Zachodnia« als sehr zahlreich dargestellt wurde, kann im Hinblick auf die Parteilichkeit des Blattes und seine Übertreibungslust daran gezweifelt werden. Höchstwahrscheinlich handelte es sich dabei um die örtliche, aus Polen zugewanderte Intelligenzschicht, was 46 47

»Na co sobie pozwala ks. proboszcz Zientek po dziesięciu latach przynaleźności Śląska do Polski«. In : Polska Zachodnia vom 2.6.1932. Ebd.

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bereits die führende Rolle der polnischen Lehrerschaft bei den Protesten andeutet. Die polnischen Zuwanderer betrachteten sich in erster Linie als Mitglieder der polnischen Nation und waren mit einem polnischen »nationalen« Sendungsbewusstsein ausgestattet. In der Selbstwahrnehmung bildeten sie die Elite der Wojewodschaft Schlesien und fokussierten sich auf das öffentliche Leben des gesamten polnischen Staates. Dieses kulturelle Handlungsmuster hatten sie sich in ihren Herkunftsregionen wie Galizien oder dem ehemaligen Russisch - Polen angeeignet, wo sich die Inteligencja typischerweise für gesamtstaatliche Angelegenheiten interessierte. Angekommen in Oberschlesien zeichnete sich diese Gruppe durch ein geringes soziales Engagement in den lokalen Gemeinschaften aus, was im Gegensatz zu dem Verhalten der lokalen einheimischen Eliten stand.48 Sie unterschieden sich auch in einem weiteren zentralen Punkt von den einheimischen Oberschlesiern. Obwohl fast ausschließlich katholisch, waren sie nicht bereit, den unangefochtenen Primat der katholischen Kirche im gesellschaftlichen Leben Oberschlesiens anzuerkennen, und verhielten sich gegenüber dem Pfarrklerus nicht unkritisch – im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der einheimischen Gläubigen.49 Gerade die zugewanderten Lehrer vertraten eine andere Auffassung ihrer beruflichen Pflichten, als dies die althergebrachte Rolle des Lehrers in Oberschlesien vorgab. Ein Großteil der oberschlesischen Lehrer beteiligte sich traditionell an kirchlichen Aufgaben z. B. im Kirchenvorstand oder als Organist. Sie unterrichteten in der Schule das Fach Religion, besuchten gemeinsam mit den Schülern den Schulgottesdienst und examinierten in Anwesenheit des Bischofs die Religionskenntnisse ihrer Schützlinge. Die Lehrerschaft spielte demzufolge eine wichtige verbindende Rolle zwischen dem Pfarrhaus und der örtlichen Gemeinschaft, vor allem den Jugendlichen.50 Dabei befand sie sich jedoch unter dem Einfluss und der sozialen Kontrolle des Pfarrers – ein Umstand, den sich die meisten zugewanderten Pädagogen nicht mehr gefallen lassen wollten. Dies mündete auf der lokalen Ebene in eine Rivalität der örtlichen Eliten : der neuen, mit den Institutionen des Staates verbundenen, und der alten, um den Pfarrer gruppierten. Vor diesem Hintergrund kam es zu den hier geschilderten Auseinandersetzungen. Neben dem Handeln, das als national - polnisch bezeichnet werden kann, sind auch andere Verhaltensmuster in Rosdzin - Schoppinitz erkennbar. So verließen viele Mitglieder des polnischen Kirchenchores die Fronleichnamsprozession nicht. Es befanden sich also unter den direkt in die Streitigkeiten Involvierten auch solche, die auf das religiöse Erlebnis nicht verzichten wollten. Den Mitgliedern dieser Gruppe bedeutete das katholische Bekenntnis mehr als das Austragen 48 49 50

Vgl. Kopeć, »My i oni«, S. 68. Vgl. ebd., S. 65. Vgl. Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 289.

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nationalistischer Spannungen in der Gemeinde, wie der Berichterstatter des nationalistischen Blattes irritiert feststellen musste. Das katholische feierliche Erlebnis konfessioneller Gemeinschaft scheint für einen Teil der Gemeinde weiterhin attraktiv gewesen zu sein. An der Spitze dieser örtlichen konfessionellen Gemeinschaft stand der Pfarrer und die Teilnahme an der Prozession war demnach auch ein Bekenntnis zur althergebrachten Autorität der Kirche. Einen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung der Prozession konnte zudem die Tradition haben. Vor der Teilung Oberschlesiens, aber auch noch danach bis 1925 hatte nämlich allein der örtliche Cäcilienverein die kirchlichen Feiern mit religiösem Gesang begleitet. Demgemäß existierte 1932 keine völlig neue Situation, in der sich die meisten Oberschlesier hätten unwohl fühlen müssen. Sogar die Vertreter der örtlichen, dem Namen nach polnischen Organisationen hielten sich aus dem Streit zwischen dem Pfarrer und einem Teil des polnischen Kirchenchores mit den polnischen Lehrern an der Spitze heraus. Dies weist erneut darauf hin, dass die Misshelligkeiten einen wahrscheinlich nur kleinen Teil der Gemeinde von Rosdzin - Schoppinitz mitgerissen hatten und eher eine Auseinandersetzung der zugewanderten, gegenüber dem örtlichen Pfarrer kritisch eingestellten Polen mit den einheimischen Vertretern der »alten« klerikalen Ordnung waren. Einen Kommentar verdient schließlich die kompromisslose Haltung des Pfarrers. Józef Zientek gehörte zur älteren Generation der oberschlesischen Geistlichen, die an einen bedingungslosen Gehorsam ihrer Gemeindemitglieder gewöhnt war und einen solchen als Voraussetzung für eine fruchtbare Seelsorgearbeit betrachtete. Geboren 1868 in Königshütte als Sohn eines Hüttenarbeiters, absolvierte er das dortige Gymnasium, um anschließend das Theologiestudium an der Universität Breslau aufzunehmen und 1894 zum Priester geweiht zu werden.51 Er stammte also unmittelbar aus dem oberschlesischen Industriegebiet, gehörte zu dem einheimischen slawophonen Pfarrklerus und hatte wahrscheinlich eine enge soziale und emotionale Verbindung zur einheimischen nicht - elitären Bevölkerung. Dabei entsprach er vollkommen der gängigen Bezeichnung »Pfarrherr« :52 Er war der nahezu absolute Herrscher in seiner Gemeinde, der keinen Widerspruch und keine Opposition duldete. Dies reizte offensichtlich die zugewanderten Polen, die sich ja selbst als lokale Elite verstanden und eine ähnlich dominante Stellung des Pfarrklerus aus ihren Herkunftsgebieten nicht kannten.53 Deshalb beanstandeten sie die Auflösung des Chores und verletzten die Autorität des lokalen Pfarrherrn. Dies hatte zur Folge, dass Zientek in der strittigen Frage unnachgiebig, kompromisslos und äußerst emotional handelte. Möglicherweise trug dazu der Umstand bei, dass es zwischen dem Pfarrer und den pol51 52 53

Personalakten Józef Zientek ( AAKat ). Vgl. Hitze, Carl Ulitzka, S. 130 f. Vgl. Kopeć, »My i oni«, S. 66; Wanatowicz, Ludność napływowa, S. 290.

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nischen Lehrern einen Unterschied im Bildungsgrad gab : Zientek absolvierte ein Hochschulstudium, die meisten zugewanderten Lehrer besuchten lediglich ein Lehrerseminar, das zum Hochschulstudium nicht berechtigte. Dies verstärkte die gegenseitige soziale Distanz : Die polnische Lehrerschaft wurde von vielen oberschlesischen Priestern als eine untergeordnete soziale Schicht angesehen und dementsprechend von oben herab behandelt.54 Reibereien zwischen den beiden Gruppen, die die Führungsrolle in den lokalen Gemeinschaften für sich beanspruchten, waren also vorprogrammiert. Darüber hinaus kann nicht ausgeschlossen werden, dass generationelle Unterschiede eine Rolle bei der Auseinandersetzung spielten – der 64 - jährige Geistliche »herrschte« fast schon seit 30 Jahren in Rosdzin - Schoppinitz, die zugewanderten Lehrer gehörten in der Regel einer jüngeren Generation an und waren erst seit wenigen Jahren in der lokalen Gemeinschaft präsent. Letzten Endes führte die mangelnde Kompromissbereitschaft Zienteks zum Verzicht eines Teils der Gemeindemitglieder auf die Teilnahme an der Prozession. In dieser Situation zeigte sich der Pfarrer um so entschlossener, seine Autorität bedingungslos und ohne Rücksichten durchzusetzen, zumal es sich bei der Fronleichnamsprozession nicht nur um ein kirchliches, sondern auch um ein außerordentliches öffentliches Ereignis in »seiner« Gemeinde handelte. Es scheint, dass der Konflikt keinen »nationalen« Charakter hatte, sondern er ereignete sich vor dem Hintergrund der Differenzen in der Auffassung des Stellenwerts und der Autorität der katholischen Kirche im oberschlesischen Alltag. Demnach prallte hier die traditionelle örtliche, vom katholischen Klerus dominierte Lebenswelt auf die Vorstellungswelt der zugewanderten Elite, die die lokalen Verhältnisse neu ordnen und modernisieren wollte.

3. Fallbeispiel 2 : Nationale Integrationsprozesse in Josephsdorf Das zweite hier zu analysierende Fallbeispiel steht in direktem Zusammenhang mit der Verschlechterung der Lage der slawophonen Oberschlesier im deutschen Teil der Region und mit der Zuspitzung des deutsch - polnischen außenpolitischen Konflikts im Mai 1939. Diese Prozesse dynamisierten die Situation im polnischen Teil Oberschlesiens derart, dass ein dezidiertes Vorgehen der polnischen Behörden gegen die deutsche Minderheit in den Kirchen des polnisch gewordenen Abstimmungsgebiets opportun erschien. Ab Sonntag, dem 21. Mai 1939, kam es deshalb in mehreren Pfarrgemeinden zu Störungen der deutschen Gottesdienste und zur vollständigen Lähmung der deutschsprachigen Seelsorge. Eine Schilderung der Vorfälle wird es erlauben, die Haltung unterschiedlicher Teile der oberschlesischen Gesellschaft, sowohl der Einheimischen als auch der Zuge54

Vgl. ebd.

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wanderten, in der Frage der Gottesdienstsprache und dadurch gegenüber den behördlichen Polonisierungsbestrebungen zu erhellen. In Josephsdorf ( poln. Józefowiec ), einer Vorstadt von Kattowitz mit fast 10 000 Katholiken, davon ca. 15 Prozent deutschsprachigen »germanisierten Polen«,55 gab es bereits im März 1939 vor dem Hintergrund einer Missionswoche für die deutschen Gemeindemitglieder Proteste gegen die deutschsprachige Seelsorge. Diese beleidige nämlich – so der Beschluss der Versammlung der polnischen Organisationen – »die nationalen Gefühle der hiesigen Gemeinschaft« und diene den Deutschen oder »eigentlich den verwirrten Polen, sogenannten Quasi Deutschen« als Manifestation »für ein kämpfendes Deutschtum«. Die Vereinsaktivisten verlangten anschließend in einer Petition an den Bischof die Abschaffung der deutschsprachigen Messen.56 Diese Vorgehensweise blieb jedoch erfolglos, so dass besagte Forderungen im Mai 1939 während einer Zusammenkunft der örtlichen Organisationen wiederholt heftig diskutiert wurden. Darüber wurde auch Pfarrer Paweł Michatz informiert. Er erklärte daraufhin, dass er die Abschaffung der deutschsprachigen Messen unterstützen würde, wenn ihm der Bedarf der Einführung eines zusätzlichen polnischen Gottesdienstes nachgewiesen werde, da immerhin 200 bis 300 Personen den deutschen Gottesdienst regelmäßig besuchten. Die Bittsteller betonten jedoch, dass es ihnen hauptsächlich um die Aufhebung »der scheußlichen deutschen Gottesdienste« ginge.57 An dem sich daran anschließenden Sonntag wurde die ganze Ortschaft für die Störung des deutschen Gottesdienstes mobilisiert. Den Bergarbeitern der örtlichen, im Staatsbesitz befindlichen Zeche wurde von der Betriebsleitung schriftlich mitgeteilt, sie sollten um 8 Uhr zur Kirche gehen. Der örtliche Polinnenverein, angeführt von einer zugewanderten Lehrerin, drohte den Mitgliedern, die die Kirche um diese Uhrzeit nicht besuchten, mit Ausschluss. Ein zugewanderter Lehrer instruierte seine Schüler, sie sollten polnische Lieder in der Kirche lauter singen als die deutschen Gemeindemitglieder die deutschen. Als der Pfarrer am Sonntagmorgen ein 1 000- köpfiges Aufgebot von Störern zu sehen bekam, ließ er den deutschen Gottesdienst ausfallen, um »die deutschsprachigen Gemeindemitglieder nicht einer Verunglimpfung« auszusetzen. Da aber für 14 Uhr eine deutschsprachige Maiandacht angesetzt war, kam es wieder zur Konfrontation. Am Nachmittag saßen bereits Mitglieder polnischer Organisationen in den Kirchenbänken und sangen polnische Lieder, u. a. die kirchlich - patriotische Hymne »Boże coś Polskę«. Während dieser »frechen Manifestation« – wie sie von Michatz bezeichnet wurde – betete der Pfarrer vor dem Hauptaltar kniend, da er – laut seiner Schilderung – »auf solche Dreistigkeit der örtlichen Bürger« nicht 55 56 57

Vgl. Śmigiel, Die statistischen Erhebungen, S. 24. Beschluss der polnischen gesellschaftspolitischen Organisationen und Vereine der Gemeinde Hohenlohehütte [ Wełnowiec ] vom 22.3.1939 ( AAKat, AL Józefowiec, Band 2 [ unpag.]). Pfarrer Michatz an bischöfliche Kurie in Kattowitz vom 21.5.1939 ( ebd.).

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vorbereitet war. Er verließ schließlich den Altarbereich, ohne den Anwesenden einen Segen zu erteilen.58 Am folgenden Tag sollte eine stille Andacht ohne Gesang abgehalten werden, die von deutschen Gemeindemitgliedern bestellt worden war. Dennoch begannen die selben Personen wie am Vortag, polnisch zu singen. Der Pfarrer unterbrach den Gottesdienst und versuchte, die Störer dazu zu bewegen, den heiligen Raum zu achten und den Aufforderungen ihres kirchlichen Führers nachzukommen. Es kam zu heftigen Diskussionen und die Andacht wurde schlussendlich unterbrochen.59 Am Mittwoch wiederum wurde vor der deutschen Maiandacht eine polnische Versammlung einberufen. Um die Schändung des Gottesdienstes zu verhindern, blieb Pfarrer Michatz vor der Kirche und ließ die Andacht »privat«, ohne Beteiligung eines Priesters, feiern. Bis zum Ende des Monats mussten weitere deutsche Gottesdienste ausfallen oder wurden erfolgreich durch die Menge gestört.60 Die Einwohner von Josephsdorf wurden augenscheinlich erfolgreich mobilisiert, und der Pfarrer war über das »kühne Vorgehen« vieler Gemeindemitglieder deutlich überrascht.61 Obwohl es schon früher zu Bittschriften für die Abschaffung der deutschen Gottesdienste gekommen war, hatte Michatz offensichtlich nicht erwartet, dass seine Gemeindemitglieder zu dermaßen weit reichenden Schritten fähig seien. Im Kontext der staatlich gesteuerten Polonisierungspolitik in Oberschlesien ist bemerkenswert, wie das große Aufgebot an Störern zustande kam. Die Bergarbeiter der örtlichen Zeche waren wegen der schriftlichen Aufforderung zur Teilnahme an der Aktion sicherlich wenig geneigt, ihren Arbeitsplatz aufs Spiel zu setzen. Dementsprechend beteiligten sie sich zahlreich an den Störungen der deutschen Gottesdienste. Den Mitgliedern des polnisch - patriotischen Polinnenvereins musste wiederum erst mit Ausschluss gedroht werden, damit sie sich in dieser Form für die nationalistischen Ziele einsetzten. Die Art und Weise, wie diese Oberschlesier für diese antideutschen und zugleich antikirchlichen Aktivitäten mobilisiert werden mussten, bestätigt, dass für einen wahrscheinlich nicht unerheblichen Teil von ihnen nationalistische Handlungsmotive nicht an erster Stelle standen. Symptomatisch sind ebenfalls die sozialen Orte, an denen die einheimische Bevölkerung politisch mobilisiert werden konnte : der Arbeitsplatz in der staatlichen Industrie, ein patriotischer, von den Behörden unterstützter Verein und schließlich die öffentliche Schule – allesamt Orte, an denen der polnische Staat einen direkten Zugriff auf seine Bürger hatte und das Handeln der Menschen beeinflussen konnte.

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Ebd. Pfarrer Michatz an bischöfliche Kurie in Kattowitz vom 22.5.1939 ( ebd.). Pfarrer Michatz an bischöfliche Kurie in Kattowitz vom 27.5.1939 ( ebd.). Pfarrer Michatz an schlesischen Wojewoden Grażyński vom 26.5.1939 ( ebd.).

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Hinter der Diskriminierung der fremdsprachigen Gemeindemitglieder standen nationalistisch gesinnte Personen, in erster Linie die aus den kernpolnischen Gebieten zugewanderten Lehrer, Beamten und Verwaltungsangestellten, die dabei vom Wojewodschaftsamt zum Handeln ermutigt wurden, da der Wojewode Michał Grażyński keinen direkten gesetzlichen Einfluss auf die sprachlich kirchlichen Verhältnisse ausüben durfte. In einem Nationalstaat wie der Zweiten Polnischen Republik beanspruchten sie auch den kirchlichen Raum, um ihr Verlangen nach der Vereinheitlichung kollektiver Zusammengehörigkeitsgefühle auf der Grundlage eines ethnisch und sprachlich definierten Nationalismus durchzusetzen. Den Eindruck, dass es sich bei den nationalistischen Aktivitäten eher weniger um ein freiwilliges Engagement der einheimischen Bevölkerung handelte, bestätigt die Reaktion des Pfarrers : Obwohl gerade die Geistlichen am besten über die örtlichen Verhaltensmuster Bescheid wussten, war dieser sichtlich überrascht über die zahlreiche Beteiligung seiner Gemeindemitglieder an solchen politischen Eingriffen in den kirchlichen Raum. Die Vorgehensweise der polnischen Eliten in Oberschlesien lässt erkennen, dass nicht nur den im engeren Sinne deutschstämmigen und - sprachigen Bewohnern deutsche Gottesdienste entzogen werden sollten. Das Augenmerk der Drahtzieher war eher auf jene sich subjektiv deutsch fühlenden Oberschlesier gerichtet, die in den kirchlichen Statistiken immer wieder als »germanisierte Polen« bezeichnet wurden. Da dieser Teil der Bevölkerung slawisch - bzw. polnischsprachig war, sollte er zum Besuch der polnischen Gottesdienste gezwungen werden, um ihn dadurch zum »ursprünglichen Nationalbewusstsein« zurückzuführen. Einem zielstrebigen Vorgehen im Hinblick auf die »Bekehrung« der »Renegaten« und »Verräter« an der Nation bzw. den Kampf gegen diese maßen die nach exklusiv nationalistischen Mustern handelnden Akteure einen höheren Rang bei als den Prinzipien des katholischen Glaubens. Ein Großteil der Einwohner von Rosdzin - Schoppinitz und Josephsdorf hielt jedoch am Katholizismus fest, der einen äußerst wichtigen, wenn nicht den primären Wert in ihrer Lebenswelt darstellte. Es lässt sich zudem erkennen, dass sich ihre alltägliche Kirchlichkeit, geprägt von einem festen Bezug zu »ihrer eigenen« Pfarrgemeinde, von der Religiosität der zugewanderten Polen unterschied. Die Polen wurden von den einheimischen Oberschlesiern deshalb als nicht fromm genug und zu kirchenkritisch wahrgenommen. Die Differenzen des jeweiligen Stellenwerts der Kirche im Alltag schufen ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal gegenüber den neu zugezogenen Polen. Dies verstärkte im Umkehrschluss ein »hiesiges« Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich an lokale, althergebrachte katholische Traditionen und Gepflogenheiten anlehnte. Dazu gehörte die uneingeschränkte Anerkennung der katholischen Kirche und ihrer Vertreter vor Ort. Dieses Wir - Gruppen - Gefühl wurde jedoch durch die Nationalisierungspolitik des polnischen Staates einem hohen Homogenisierungsdruck ausgesetzt.

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Durch seine ablehnende Haltung gegenüber dieser Politik geriet ein Teil des katholischen Pfarrklerus in eine Reihe von Konflikten mit Vereinen und Milieus, die um die Polonisierung der Gemeinden bemüht waren. Bei einem Großteil der slawophonen Bevölkerung konnte jedoch aus den Quellen herausgearbeitet werden, dass das polnische Nationalbewusstsein für diese Gruppe keinen ursprünglichen und unabänderlichen Charakter und Bedeutung besaß, sondern eher eine Ideologie war, die man nur zeitweise unterstützte oder auch gänzlich ablehnen konnte. Es scheint zugleich, dass für diese Menschen die Nation keinen Wert an sich darstellte, sondern vielmehr durch pragmatische Argumente wie das Umgehen von Unannehmlichkeiten oder unterschiedliche Nützlichkeitserwägungen gekennzeichnet war. Die nationale Ideologie sollte zu Ende der 1930er Jahre von staatlicher Seite her im polnischen Teil Oberschlesiens dennoch mit aller Härte durchgesetzt werden. Dafür waren teilweise einheimische Einwohner der Region verantwortlich, z. B. in den Reihen der ehemaligen Aufständischen. Möglicherweise waren für ihr nationales Engagement auch pragmatische Überlegungen ausschlaggebend, und die Nation wurde von ihnen als Projektionsfläche für die verschiedensten Wünsche, die sich aus der jeweiligen Lebenssituation ergaben, wahrgenommen. In den führenden Positionen bei dem Vorantreiben der Nationalisierungsprozesse befanden sich dennoch in der Regel zugewanderte nationalbewusste und nationalistisch handelnde Personen, die zudem ein anderes Verständnis des Stellenwerts der katholischen Kirche im oberschlesischen Alltag mit sich brachten und deren Wertesystem sich auch in anderen Alltagsbereichen von den Vorstellungswelten der einheimischen Bevölkerung unterschied.

Torsten Lorenz Der deutsch - polnische Optantenstreit und das Zerbrechen der übernationalen Kooperation. Migration und Kommunalpolitik in Międzychód ( Birnbaum ) nach dem Ersten Weltkrieg

1. Einleitung Am 25. Januar 1924 meldete der Starost ( Landrat ) des Kreises Międzychód dem Woiwoden von Poznań die Ausweisung des deutschen Optanten Dr. Otto Virus.1 Auch wenn es vierer Versuche bedurfte, bis die deutschen Grenzschützer Virus endlich einreisen ließen, so hatten die polnischen Behörden doch deutlich zu verstehen gegeben, dass sie bereit waren, ihrem Rechtsstandpunkt in der Optionsfrage Geltung zu verschaffen und jene in Polen verbliebenen Deutschen abzuschieben, die sich für den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft ausgesprochen, also »optiert« hatten.2 Otto Virus, Jahrgang 1882, verheiratet und Vater von vier Kindern, war praktischer Arzt in Birnbaum, wie Międzychód bis Januar 1920 geheißen hatte, und deutscher Nationalität.3 Er war Angehöriger der örtlichen deutschen Honoratiorenschicht, welche die Geschicke der Stadt lenkte, und als solcher wurde er nun, im Zuge eines sich unter nationalen Vorzeichen vollziehenden, tiefgreifenden Umbruchs, zum Vertreter einer in Polen verbliebenen, politisch entmachteten Minderheit, die durch die Abwanderung nach dem Ersten Weltkrieg zudem einer beträchtlichen Dezimierung unterlag. Virus hatte am 10. Januar 1922 auf der Starostei die Optionserklärung für sich und seine Familie abgegeben und wurde

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Starost Międzychód an Wojewodschaftsamt Poznań ( Archiwum Państwowe w Poznaniu [ APP], Starostwo Powiatowe Międzychód [ SPM ] 108). Der vorliegende Aufsatz knüpft an meinen Artikel Międzychód optiert. Behördenpolitik, Migration und Wandel in einem westpolnischen Landkreis. In : Helga Schultz ( Hg.), Preußens Osten – Polens Westen. Das Zerbrechen einer Nachbarschaft, Berlin 2001, S. 145–181, an. Für Darlegungen zu Forschungsstand und der Zusammensetzung der Optantenpopulation siehe diesen Aufsatz. Kommissariat der Bahnpolizei Zbąszyń an Starosten von Międzychód vom 25.1.1924 ( ebd.). APP, SPM 121, Bogen Nr. 1976.

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seitdem von den polnischen Behörden als deutscher Staatsbürger betrachtet.4 Als Ausländer durfte er nach den Bestimmungen eines Gesetzes von 1921 seinen Beruf nicht mehr ausüben.5 Da Virus in den örtlichen deutschen Organisationen aktiv war, beäugten ihn die Behörden schon länger mit Misstrauen. Daher fand sich sein Name in prominenter Position auf einer 15 Personen umfassenden Liste von »lästigen Ausländern«, die der Starost auf Anordnung des Woiwoden Anfang 1924 erstellt hatte.6 Als Vergeltungsmaßnahme für die Ausweisung polnischer Optanten aus Deutschland ( die deutschen Behörden gingen nicht weniger rigoros vor als die polnischen ) hatte die Regierung in Warschau die Abschiebung von je 150 Deutschen aus den Woiwodschaften Großpolen und Pommerellen verfügt.7 Virus war im Januar 1924 Stadtgespräch in der knapp 5 000 Einwohner zählenden Kleinstadt Międzychód, die nun kaum fünf Kilometer östlich der neuen deutsch - polnischen Grenze lag. Der deutschsprachige »Stadt - und Landbote« berichtete regelmäßig mit kaum verhohlener Empörung über das Vorgehen der polnischen Behörden und sorgte sich um den Arzt, über dessen Verbleib bis zum Monatsende nichts bekannt wurde.8 Das polnische Kreisblatt hingegen registrierte die Ausweisungsverfügung lakonisch und unterstrich ihren Vergeltungscharakter.9 Auch die polnischen Eliten der Stadt verfolgten den Fall aufmerksam : Als der Woiwode die Ausweisung kurzfristig suspendiert hatte, wandte sich der Zahnarzt Tomaszewski an den Vorsitzenden der Ortsgruppe des »Westmarken-

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Ebd. Virus selbst vertrat den rechtlichen Standpunkt der Reichsregierung, die nur solche Optionen als gültig anerkannte, die neben den polnischen Landratsämtern zugleich in den deutschen Konsulaten abgegeben worden waren. Dr. Otto Virus an Woiwoden vom 21.1.1924 ( APP, SPM 108). Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 24.1.1924; Richard Blanke, Orphans of Versailles. The Germans in Western Poland, 1918–1939, Lexington 1993, S. 43. Die Arbeit von Winson Chu, The German Minority in Interwar Poland, Cambridge 2012, konnte für diesen Beitrag nicht mehr ausgewertet werden. Liste von Kandidaten für die Ausweisung, Międzychód, o. D. ( APP, SPM 108). Virus war u. a. Vorstandsmitglied im ( unpolitischen, aber dem Deutschtumsbund nahestehenden ) Hilfsverein Deutscher Frauen in Międzychód. Statut und Mitgliederliste des Hilfsvereins Deutscher Frauen, Übersetzung der Starostei, Abschrift, Międzychód, Towarzystwo »Hilfsverein Deutscher Frauen« vom 6.5.1921 ( APP, SPM 79). Orędownik Powiatu Międzychodzkiego vom 17. 1. 1924 und 31. 1. 1924. Zu den Ausweisungen polnischer Optanten aus Deutschland siehe Mirosław Piotrowski, Reemigracja Polaków z Niemiec 1918–1939, Lublin 2000, S. 322–324, der den Beginn der Ausweisungsspirale im Herbst / Winter 1923/24 auf deutscher Seite sieht. Jerzy Krasuski, Tragiczna niepodległość. Polityka zagraniczna Polski w latach 1919–1925, Poznań 2000, S. 79, erblickt ihn hingegen auf der polnischen Seite. Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły, (1924) 7–9 sowie (1924) 10–13. Orędownik Powiatu Międzychodzkiego vom 17.1.1924.

Der deutsch-polnische Optantenstreit

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vereins« und forderte die Ausweisung des deutschen Mediziners, denn dieser erschwere den polnischen Kollegen ihre ohnehin nicht einfache Existenz.10 Am 30. Januar 1924 – kaum eine Woche nach Virus’ Abschiebung – verfügte das Innenministerium in Warschau das Ende der Ausweisungen; Otto Virus blieb somit der einzige Optant aus Międzychód, der auf dem vorläufigen Höhepunkt des deutsch - polnischen Optantenstreits aus Polen ausgewiesen wurde. Er lebte seitdem jenseits der Grenze in Wierzebaum ( Wierzbno ), seine Familie hingegen verblieb in Międzychód.11 Den Antrag des Starosten, auch die Familie des Arztes auszuweisen, lehnten die Woiwodschaftsbehörden mit dem Argument ab, die Erschwerung von gegenseitigen Besuchen würde die Familie schon zur Ausreise geneigt machen. Als die administrativen Maßnahmen keinen Erfolg zeitigten und sich die Familie Virus Ende 1924 um eine Rückkehrgenehmigung bemühte, sprach sich der Starost gegen ihre Erteilung aus und schrieb : »Wir haben [...] genügend polnische Ärzte im Land, denen in erster Linie das Recht auf Existenz zusteht.«12 Die Episode um Otto Virus zeigt, wie eine internationale Problematik – nämlich die der Option und die Auseinandersetzung zweier Staaten über ihre Umsetzung in die Praxis – in die lokale Gesellschaft der Kleinstadt Międzychód hineinwirkte und wie sie vor Ort verhandelt wurde. An ihr lassen sich lokale, individuelle Interessen sowie staatliches Handeln beleuchten und aufzeigen, wie die »große Politik« die lokale Lebenswelt beeinflusste und hier zu einer Dynamisierung und Radikalisierung beitrug. Dazu werden im Folgenden zunächst die internationale bzw. zwischenstaatliche Ebene behandelt, wo der Rahmen des Folgegeschehens gesetzt wurde, dann auf den Verlauf der optionsbedingten deutschen Auswanderung und die sie dynamisierenden Faktoren eingegangen. Schließlich wird gezeigt, wie Angehörige des Wirtschaftsbürgertums den Übergang der Stadt unter die polnische Herrschaft evolutionär zu gestalten versuchten und wie der deutsch - polnische Optantenstreit der Radikalisierung innerhalb der Stadtgesellschaft Vorschub leistete und damit maßgeblich zum Ende der übernationalen Kooperation beitrug.

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Zahnarzt W. Tomaszewski an Dr. Okoniewski vom 18.1.1924 ( APP, SPM 108). Ähnlich wie der Zahnarzt Rasch, dem das eigentliche Interesse Tomaszewskis galt, dürfte Virus weiter praktiziert haben, sich aber für seine Dienste wahrscheinlich in »Naturalien« bezahlen haben lassen. Bei der im Volksmund »Westmarkenverein« genannten Organisation handelte es sich um den Związek Obrony Kresów Zachodnich ( Bund zur Verteidigung der Westlichen Grenzgebiete ). Telefonische Mitteilung des Woiwodschaftsamts Poznań an Starosten vom 30.1.1924 ( ebd ). Woiwodschaftsamt Poznań an Starosten vom 7.2.1924 sowie Starost Międzychód an Woiwodschaftsamt Poznań vom 17.12.1924 ( ebd.).

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2. Migration, Option und die deutsch - polnischen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg Das 20. Jahrhundert war für Ostmittel - und Südosteuropa ein Jahrhundert der Migrationen. Anders als die Wanderungen des Mittelalters oder der Industrialisierung – von der Ostsiedlung über »Sachsengängerei« und »Ostflucht« bis hin zur Emigration in die neue Welt –, die überwiegend wirtschaftliche Ursachen hatten, besaßen die Migrationen des »kurzen« 20. Jahrhunderts einen grundlegend anderen Charakter : Sie erfassten Hunderttausende Menschen, die innerhalb weniger Jahre ihre Heimat verließen oder verlassen mussten.13 Folglich lassen sich spontane Migrationen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand von den Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Letztere zeichneten sich zudem dadurch aus, dass der Staat vom allenfalls regulierend eingreifenden Zuschauer mehr und mehr zum Initiator von Wanderungen wurde, wobei er eine breite Palette administrativer Zwangsmittel von der Ausweisungsverfügung bis hin zur Deportation ausschöpfte.14 Gemeinsam war diesen Bevölkerungstransfers die forcierte Umkehrung jener Migrationsmuster, die Osteuropa seit dem Mittelalter sein eigentümliches ethnisches Gepräge gegeben hatten, und damit eine unwiderstehliche Tendenz zur Aufhebung des ethnischen »Flickenteppichs« und zur ethnischen Homogenisierung. Die Tendenz zur Auflösung der ethnischen Grenzgebiete wurde nach dem Ersten Weltkrieg auch in Polen deutlich. Viele Deutsche verließen ihre Heimat spontan nach Kriegsende, als abzusehen war, dass ein beträchtlicher Teil der preußischen Ostprovinzen an den entstehenden polnischen Staat fallen würde; sie optierten damit »stillschweigend« oder »wild«, wie der Volksmund sagte. Andere blieben in ihrer Heimat und waren bereit, als Teil der sich formierenden deutschen Minderheit als polnische Staatsbürger in Polen zu leben. Die übrigen schließlich nutzten die ihnen von Artikel 91 des Versailler Vertrags eingeräumte Möglichkeit, binnen zweier Jahre nach dessen Inkrafttreten, also zwischen dem 10. Januar 1920 und dem 10. Januar 1922, für den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft zu optieren. Ein erheblicher Teil dieser Menschen dürfte in der Annahme optiert haben, in der bisherigen Heimat bleiben und eventuell später auf eigenen Wunsch nach Deutschland umsiedeln zu können. 13

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Zur besprochenen Problematik vgl. den aktuellen Überblick von Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa, Göttingen 2011, mit der relevanten Literatur. Vgl. außerdem Wolfgang J. Mommsen, Anfänge des ethnic cleansing und der Umsiedlungspolitik im Ersten Weltkrieg. In : Eduard Mühle ( Hg.), Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder. Studien zu Mittel - und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg, Marburg 2001, S. 147–162. Vgl. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 232 f.; Norman M. Naimark, Das Problem der ethnischen Säuberung im modernen Europa. In : ZfO, 48 (1999), S. 317–349, hier 319.

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Wie das Vorgehen der polnischen Behörden zeigen sollte, hatten diese Menschen sich verrechnet. Die neue Obrigkeit nämlich gebrauchte ( wenn auch mit wechselnder Intensität und Konsequenz ) die ihr von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs in Versailles in die Hände gegebenen Werkzeuge, um sich eines beträchtlichen Teils der deutschen Minderheit zu entledigen, welche ihrerseits in den Konzeptionen der Weimarer Polenpolitik als Hebel für eine zukünftige Grenzrevision dienen sollte.15 Die Auseinandersetzungen um die Konsequenzen der Option waren ein Feld, auf dem dieser prinzipielle und in der Zwischenkriegszeit nicht aufgehobene Interessengegensatz der beiden Nachbarstaaten ausgetragen wurde; anhand von Międzychód lässt sich das Zusammenwirken von internationaler und lokaler Politik aufzeigen. Das Gesamtgeschehen der deutschen Auswanderung aus den an Polen gefallenen Gebieten umfasste zwei Ströme; diese waren miteinander verflochten und variierten in ihrer Intensität in Abhängigkeit von den politischen und militärischen Entwicklungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs : Die »stillschweigende« Option – das Verlassen des bisherigen Wohnorts ohne Abmeldung und Optionserklärung – begann ungefähr mit dem Waffenstillstand, bis mit dem Inkrafttreten des Friedensvertrags am 10. Januar 1920 zumindest formal der zweite, geregelte Strom einsetzte.16 Er wurzelte im erwähnten Artikel 91 des Versailler Vertrags. Dem Friedensvertrag zufolge erwarben die deutschen Staatsbürger, die vor dem 1. Januar 1908 ihren Wohnsitz in den Polen zugesprochenen Gebieten besessen hatten, ohne besonderes Zutun die polnische Staatsbürgerschaft.17 Wer die deutsche Staatsangehörigkeit behalten wollte, hatte das Recht, sich innerhalb einer Frist von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags für ihre Beibehaltung auszusprechen. Die Optanten konnten ihren Immobilienbesitz in Polen behalten, und ihre bewegliche Habe sollte bei der Ausfuhr nicht mit Zöllen belegt werden. Der Haushaltsvorstand optierte für sich und seine Familie mit Ausnahme der Personen über 18 Jahren.18 Allerdings waren die Bestimmungen nicht eindeutig und erlaubten es beiden Staaten, in den folgenden Jahren, als die Frage nach dem Schicksal der Optanten 15

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Vgl. Ralph Schattkowsky, Deutsch - polnischer Minderheitenstreit nach dem Ersten Weltkrieg. In : ZfO, 48 (1999), S. 524–553, hier 525; siehe auch ders., Deutschland und Polen von 1918 bis 1925. Deutsch - polnische Beziehungen zwischen Versailles und Locarno, Frankfurt a. M. 1994. Zum Verlauf der »wilden« Option vgl. Blanke, Orphans, S. 33, und Marek Stażewski, Exodus. Migracja ludności niemieckiej z Pomorza do Rzeszy po I wojnie światowej, Gdańsk 1998. Die Wahl des Stichtages am 1.1.1908 war von symbolischer Bedeutung : Im März dieses Jahres war eine Novelle zum Ansiedlungsgesetz verabschiedet worden, die in bestimmten Fällen die Enteignung von Grundbesitz vorsah, aber nur in drei Fällen zur Anwendung kam. The Peace Treaty of Versailles, Articles 31–117 and Annexes, Political Clauses for Europe (http://net.lib.byu.edu / ~rdh7//wwi / versa / versa2.html ); deutsch vollständig in : Der Vertrag von Versailles, Frankfurt a. M. 1988, S. 117–377.

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in Deutschland und Polen zu diplomatischen Komplikationen führte, unterschiedliche Rechtsauffassungen geltend zu machen. Das hielt die Optanten weiter im Ungewissen. Besagte nämlich Artikel 91 des Versailler Vertrags noch : »Persons who have exercised the above right to opt within the succeeding twelve months transfer their place of residence to the State for which they have opted«, so lautete der entsprechende Passus in Artikel 3 des Minderheitenschutzvertrages, den Polen – so wie Deutschland den Versailler Vertrag – am 28. Juni 1919 unterzeichnet hatte : »Persons who have exercised the above right to opt must, [...] transfer within the succeeding twelve months their place of residence to the state for which they have opted«.19 Das war ein erheblicher Unterschied von weitreichender Bedeutung für alle, die guten Glaubens waren, ihre Staatsbürgerschaft behalten und in ihrer nun zu Polen gehörenden Heimat wohnen bleiben zu können. Es war eine Ironie der Geschichte, dass die polnische Rechtsauffassung, wonach die Optanten Polen verlassen mussten, ausgerechnet auf dem von Politik und Öffentlichkeit so heftig angefeindeten »Kleinen Versailler Vertrag« ( so wurde der Minderheitenschutzvertrag in der polnischen Öffentlichkeit häufig bezeichnet ) beruhte. Die unklare rechtliche Lage und die diametral entgegengesetzten Interessen beider Seiten mündeten in einem diplomatischen Konflikt, zwischen dessen Fronten die Optanten in beiden Ländern gerieten. Am 10. Januar 1922 war die Optionsfrist abgelaufen, und damit ließ sich die Größenordnung der deutschen Abwanderung absehen. Die deutschen Behörden erwarteten ungefähr 150 000 Optanten.20 Die Frage nach Verbleib oder Abzug der deutschen Optanten blieb aber nach wie vor ungelöst. Erst mit der Völkerbundssitzung Mitte März 1924 kam wieder Bewegung in die Verhandlungen, die über den Schiedsspruch Georges Kaeckenbeecks vom 10. Juli 1924 zu dem am 30. August 1924 unterzeichneten Kompromiss der Wiener Konvention führten.21 Das Abkommen bestätigte den polnischen Standpunkt : die deutschen Optanten mussten Polen verlassen. Die Wiener Konvention legte hierfür drei Termine fest : den 1. August 1925 für die Optanten ohne Immobilienbesitz, den 1. November 1925 für Optanten mit Immobilienbesitz in Festungsbezirken und einem 10 km breiten Grenzstreifen sowie den 1. Juli 1926 für Optanten mit Immobilienbesitz außerhalb dieser 19

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Wilhelm G. Grewe ( Hg.), Fontes Historiae Iuris Gentium, Band 3/2 : 1815–1945, Berlin 1992, S. 921. Nach der polnischen Übersetzung des Versailler Vertrags, Dz. U. RP, 1920, nr 35, poz. 200, art. 91, war der Abzug ebenso fakultativ : »będą mogły [...] przenieść się« ( deutsch : werden umsiedeln können ). Hervorhebungen durch den Verfasser. Zum Minderheitenschutzvertrag vgl. auch Carole Fink, The Minorities Question at the Paris Peace Conference. The Polish Minority Treaty, June 28, 1919. In : Manfred F. Boemeke / Gerald D. Feldman / Elisabeth Glaser (Hg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Washington D. C. 1998, S. 249–274. Vgl. Schattkowsky, Minderheitenstreit, S. 541. Vgl. ebd., S. 545 f.

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Zonen. Die Ausweisungsverfügungen sollten den Optanten bis zum 28. Februar 1925 zugestellt werden.22 Dennoch brachte die Unterzeichnung der Wiener Konvention noch kein Ende des Optantenstreits. Am Vorabend der Ausreise der ersten Gruppe eskalierte er vielmehr zum »Optantenkrieg«, als Polen – entgegen den Erwartungen der deutschen Regierung – keine Anstalten machte, auf die Ausweisungen zu verzichten.23 Erst nach der Abwanderung der Betroffenen und im Zusammenhang mit den Verhandlungen in Locarno verzichtete Polen Ende Oktober 1925 auf die Ausweisung der übrigen Optanten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren jedoch bereits ca. 90 Prozent der im Sommer 1925 noch verbliebenen Optanten ausgereist.24

3. Der Verlauf der Option im Kreis Międzychód Der Beginn der zweijährigen Optionsfrist stellte die verbliebene deutsche Bevölkerung vor das Dilemma, ob man in das »Vaterland« umziehen oder in der »Heimat« verbleiben solle. Entscheidend war, ob die ideologische Bindung oder die emotionale Bindung überwog. Im Hinblick auf die Option ist die Frage zentral, warum so viele Menschen für die deutsche Staatsbürgerschaft optierten, anstatt nichts zu unternehmen und automatisch die polnische Staatsangehörigkeit zu erhalten. Der Versuch einer Antwort auf diese Frage muss eine Reihe von Faktoren in den Blick nehmen, die in die individuelle Lage der potentiellen Optanten und die konkrete historische Situation – sowohl im gesamtstaatlichen wie im lokalen Zusammenhang – eingebettet waren. Für einige war es gewiss ein Ausdruck ihres Patriotismus, wenn sie sich durch die Option für das »Vaterland« aussprachen; anderen waren die polnische Sprache und Kultur fremd, die im polnischen Staatswesen die Vorherrschaft beanspruchten, und sie fürchteten, sich in diesem Umfeld nicht behaupten zu können. Oft war mehr oder minder subtiler Druck der Behörden ausschlaggebend. Viele wiederum dürften sich der später so unerbittlich von den Behörden eingeforderten Konsequenzen ihres Handelns nicht bewusst gewesen sein – der erst später bestätigten Pflicht der Optanten, ihre Heimat zu verlassen. In Międzychód begann die Annahme von Optionserklärungen vergleichsweise spät, nämlich frühestens im Dezember 1920, also beinahe ein ganzes Jahr nach

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Konvention zwischen Polen und Deutschland über Staatsbürgerschaft und Option vom 30. 8. 1924, Art. 12. In : Kazimierz Kierski, Zbiór ustaw i rozporządzeń o obywatelstwie i opcji według traktatów Wersalskich, Poznań 1925, S. 220–438. Vgl. Schattkowsky, Minderheitenstreit, S. 550 mit Anm. 90. Vgl. ebd., S. 551.

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dem Beginn der Frist.25 Es liegt im Dunkeln, welches die Gründe hierfür waren. Wirft man nämlich den Blick auf andere Gegenden, so zeigt sich, dass die Behörden schon kurz nach dem Erlass der Ausführungsbestimmungen im Juli 1920 mit der Annahme von Optionen begannen.26 Im Januar und Februar 1921 war die Anzahl der abgegebenen Optionserklärungen im Kreis Międzychód dann sehr hoch und belief sich auf gut ein Viertel der Gesamtzahl. Daraufhin sank die Zahl der abgegebenen Optionen rasch ab und pendelte sich bei monatlichen Werten von zwischen 30 und 100 ein. Der höchste Wert wurde im Januar 1922 erreicht, als innerhalb von sieben Tagen 639, also knapp ein Drittel der Optanten aus dem Kreisgebiet, ihre Erklärung abgaben. Alleine am 5. Januar waren es 149 Optionen, die 339 Personen betrafen.27 Für diese Schwankungen gibt es zwei Gründe : Zum einen war aufgrund des späten Beginns der Annahme von Optionserklärungen sicher ein gewisser »Optionsstau« eingetreten; nach zwei Monaten war er abgearbeitet. Betrachtet man jedoch, wer sich in dieser Zeit für die deutsche Staatsbürgerschaft aussprach, so macht man eine interessante Beobachtung : es waren in erster Linie alleinstehende junge Männer im wehrfähigen Alter, die in den ersten beiden Monaten optierten. Daher gibt es eine weitere Erklärung. Sie liegt darin, dass die Optionsfrist in die Zeit des polnisch - sowjetrussischen Krieges fiel. Letzterer wurde erst durch den Frieden von Riga vom 18. März 1921 beendet, wenngleich die Front seit dem Herbst 1920 erstarrt war. Während der Krieg andauerte, erhofften und erwarteten viele Deutsche ein baldiges Ende Polens; ihre Option wäre damit gegenstandslos geworden. Umgekehrt nutzten die polnischen Behörden gezielt die Möglichkeit, junge Männer zum Militär einzuziehen, um Druck auf potentielle Optanten auszuüben und sie zur Option zu drängen.28 So bestimmte der Kriegsminister Mitte September 1920 den 20. Januar 1921 als den Stichtag, nach dem deutsche Kriegsdienstpflichtige, die keine Optionserklärung abgegeben hatten (und damit polnische Staatsbürger waren ), zur Armee einberufen werden konnten. Daneben nahmen die Behörden seit dieser Zeit Erklärungen von Wehrpflichtigen an, zu gegebener Zeit optieren zu wollen.29 So resultierte die verhältnismäßig hohe Zahl alleinstehender junger Männer, die in den ersten beiden Monaten des Jahres 1921 optierten, wesentlich aus der mehr oder weniger deut-

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Die erste überlieferte Optionsurkunde stammt vom 2. 1. 1921 und trägt die laufende Nummer 176. Wahrscheinlich erfolgten die ersten Optionen ungefähr ab Mitte Dezember. Dz. U. RP 1920, nr 57, poz. 358; vgl. Marek Stażewski, Opcja ludności niemieckiej w Wielkopolsce i na Pomorzu w latach dwudziestych. In : Przegląd Zachodni, (1994) 1, S. 31–55, hier 50. Zahlen berechnet auf der Grundlage von APP, SPM 115–116, 119–121. Vgl. Gerhard Wagner, Deutschland und der polnisch - sowjetische Krieg 1920, Wiesbaden 1979, S. 144–153; Stażewski, Opcja, S. 41. Vgl. ebd., S. 42.

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lich zum Ausdruck gebrachten Drohung, sie zum Militärdienst einzuziehen. Ebenso dürften in dieser Zeit zuvor angekündigte Optionen vollzogen worden sein. Auch die explosionsartige Zunahme der Optionsbögen in den ersten Januartagen 1922 dürfte auf den in einer allgemeinen Atmosphäre der Unsicherheit über Bedeutung und Konsequenzen der Option auf fruchtbaren Boden fallenden Druck von Behörden und lokalen Autoritäten zurückgehen; Zahlen zur Abwanderung und Anträge auf Rücknahme der Option deuten ebenfalls in diese Richtung. Der Strom der »wilden« Optanten, die seit dem Kriegsende ihre Heimat verlassen hatten, wurde seit der Annahme der Optionserklärungen durch die Behörden von dem Strom der Menschen abgelöst, die den vom Friedensvertrag vorgesehenen Weg wählten. Meist verkauften sie ihre Immobilien, einen Teil ihrer beweglichen Habe und meldeten sich bei den örtlichen Behörden ab. Eine letzte Spur hinterließen sie im Kreisblatt, in dem die Starostei rechtzeitig vor ihrem Umzug ihre Namen veröffentlichte und eventuelle Gläubiger aufforderte, noch ausstehende Ansprüche geltend zu machen. Daneben führte die Starostei intern genau Buch über die Polen verlassenden deutschen Optanten. Die Zahlen der deutschen Abwanderung sprechen eine deutliche Sprache :30 Zwischen Dezember 1920 und Dezember 1922 lag die Anzahl der den Kreis Międzychód verlassenden Familien hoch bei zwischen 20 und 80 Familien pro Monat. Danach ging die Zahl innerhalb eines halben Jahres auf einige wenige Familien zurück und stagnierte dann bis zum Frühjahr 1925 auf sehr niedrigem Niveau. Im Juli, August und Oktober 1925 – den Monaten vor den Stichtagen für den Abzug der ersten beiden Optantengruppen – verließen 188, 55 bzw. 46 Familien den Kreis. Dies zeigt, dass die Behörden, gestützt auf die Wiener Konvention, nun alle Möglichkeiten ausschöpften, um sich der verbliebenen Optanten zu entledigen. Im Laufe des Jahres 1926 fand der Abzug der deutschen Bevölkerung einen Abschluss, und auch der Woiwode äußerte sich nun zufrieden :31 Von 451 Optanten der ersten Gruppe hatten 441, also mit Familienangehörigen 665 Personen, den Kreis Międzychód in Richtung Deutschland verlassen, die restlichen hatten eine Fristverlängerung erhalten. Die meisten Optanten der zweiten Gruppe reisten bis zum Stichtag am 1. November aus, und die verbleibenden 27 Familien der dritten Gruppe waren eine quantité négligeable.32 Nach der Aufhebung der Ausweisungsverfügung durch die polnische Regierung Ende Oktober 1925 setzte 30 31 32

Die folgenden Zahlen stammen aus Orędownik Powiatu Międzychodzkiego von Dezember 1920 bis Juli 1925 und Lista osób wyprowadzających się do Niemiec ( APP, SPM 143). Aufzeichnung der Starostei Międzychód über eine telefonische Nachricht des Woiwodschaftsamts vom 4.8.1924 ( APP, SPM 114). Woiwode Poznań an Starosten und Stadtpräsidenten der Woiwodschaft vom 14. 8. 1925 und 15.10.1925 ( ebd.).

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sich die Auswanderung auf sehr niedrigem Niveau bis zum deutschen Überfall auf Polen fort. Die verbliebenen Optanten hielten sich nun als ausländische Staatsbürger in Polen auf. Weil die polnischen Behörden die Ausweisungsverfügung nur als zeitweilig suspendiert betrachteten, war der Status der Zurückgebliebenen unsicher, denn sie konnten jederzeit des Landes verwiesen werden.33

4. Polnisch - deutsche Kooperation in der Kommunalpolitik und ihr Ende vor dem Hintergrund des Optantenstreits Die Jahre bis 1925/26 waren eine Zeit der Unsicherheit im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. Während beide Staaten nach ihrer Rolle im Staatensystem der Nachkriegszeit suchten, ging der tiefgreifende demographische Wandel vonstatten, der Gegenstand der vorangegangenen Abschnitte war. Die Auswanderung des Großteils der deutschen Bevölkerung aus Stadt und Kreis Międzychód war aufs Engste mit der Einwanderung polnischer Bevölkerung verknüpft, die hier – am westlichen Rand Polens – nach Wohnung, Arbeit und politischen Betätigungsmöglichkeiten suchte. Diese Menschen handelten nicht in einem weltpolitischen Vakuum, sondern sie registrierten genau die Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen und setzten sie auf ihre Weise in den kommunalpolitischen Rahmen um. Der Optantenstreit beschleunigte dann den bereits im Gang befindlichen Elitenwandel und schloss ihn zugunsten der Angehörigen der Titularnation ab. Für die Verhältnisse in der Stadt Międzychód war es bezeichnend, dass der Übergang unter die polnische Herrschaft keineswegs abrupt erfolgte, sondern eher graduell. Dabei wurden die Rollenerwartungen der Angehörigen der deutschen Minderheit in Abhängigkeit von der Tagespolitik im lokalen, nationalen und internationalen Maßstab ständig neu justiert.34 So kam es, dass in der Kommunalpolitik zwei gegenläufige Tendenzen nebeneinander existierten : Einerseits strebte man auf polnischer Seite nach Marginalisierung oder Verdrängung der deutschen Minderheit, andererseits suchte man nach übernationaler Kooperation. Gleichwohl neigte sich die Waagschale seit Mitte der 1920er Jahre dauerhaft zuungunsten der verbliebenen Deutschen, wodurch die übernationalen Kompromisse gegenstandslos wurden. Ursachen hierfür waren der deutsch - polnische Streit über die Optanten und das lokale Echo dieses zwischenstaatlichen Konflikts.

33 34

Woiwode Poznań an Starosten und Stadtpräsidenten vom 13.4.1929 ( APP, SPM 106). Vgl. Mathias Niendorf, Deutsche und Polen in Pommerellen von 1920 bis 1945. Rollenerwartungen und Realität. In : Nordost - Archiv, 6 (1997) 2, S. 687–728.

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Solange aber Teile der »alten« Träger der Honoratiorenpolitik weiterhin über Einfluss auf die städtischen Angelegenheiten verfügten, wirkten auch die tradierten Muster des Mit - und Nebeneinanders von Deutschen und Polen fort. Sie garantierten der Titularnation entscheidenden Einfluss in der Kommunalpolitik, sicherten zugleich aber der Minderheit ein Recht der Mitbestimmung in ihren eigenen Angelegenheiten. So wirkte in der Kommunalpolitik der Grenzstadt bis zur Mitte der 1920er Jahre ein paternalistisch - kooperatives Politikmuster fort, das es erlaubte, den Übergang evolutionär zu gestalten. Lokalpolitisch wirksam wurde dieses Muster erstmals bei den Kommunalwahlen Ende November 1921 und bei den bald danach abgehaltenen Kreistagswahlen, als gemeinsame polnisch - deutsche Kandidatenlisten zusammengestellt wurden. Bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung in Międzychód kandidierte auf einer bürgerlichen Liste immerhin gut ein Fünftel Deutsche.35 Anders als bei den Optanten handelte es sich bei ihnen um die »Dagebliebenen«, die im Besitz der polnischen Staatsangehörigkeit waren. Symbolfigur dieses evolutionären Wandels war der Schneidermeister Ludwik Kokociński, der bei den Wahlen als Spitzenkandidat dieser übernationalen Bürgerliste antrat. Dieser hatte »seinen« eigenen Weg des Aufstiegs innerhalb der deutschen Stadtgesellschaft eingeschlagen. Anders als beispielsweise der Fleischermeister Walenty Bogajewicz, dessen Aufstieg eher in Konkurrenz zum deutschen Stadtbürgertum erfolgte, assimilierte sich Kokociński weitgehend und engagierte sich nie in der polnischen Nationalbewegung, sondern lediglich im katholischen Kirchenvorstand, in apolitischen Vereinen und als Armenrat der Stadt. Nach Angaben des »Stadt - und Landboten« kam Kokociński 1876 als Zuschneider in einer Textilfabrik ins damalige Birnbaum. In den 1890er Jahren machte er sich dann selbstständig und eröffnete einen Textilienladen mit Maßschneiderei; noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde er Obermeister der Birnbaumer Schneiderinnung. Kokociński war Mitglied in zahlreichen Vereinen und findet sich 1888 als eines von fünf »polnischen« Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt. Zu seinem Aufstieg trugen aber nicht alleine berufliche Tüchtigkeit und gesellschaftliches Engagement bei, sondern auch seine Bereitschaft zur Assimilation, die durch die Eheschließung mit einer deutschen Frau befördert und nach außen hin manifestiert wurde. Kokocińskis Aufstieg durch Anpassung machte ihn zu einem vollwertigen Mitglied der Stadtgesellschaft, die ihm sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg Respekt bezeugte. Der Schneidermeister wurde dadurch am Beginn der 1920er Jahre zu einer Integra-

35

Orędownik Powiatu Międzychodzkiego, (1921) 78.

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tionsfigur, um die sich sowohl auf Ausgleich bedachte Polen wie die Reste der alten städtischen Eliten scharen konnten.36 Die »Liste Kokociński« war charakteristisch für die seinerzeit noch im Fluss befindliche politische Kultur der Grenzstadt, denn sie war bunt zusammengewürfelt und vereinigte Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten, Nationalitäten und politischer Ansichten. Zu ihren Kandidaten gehörten der Kaufmann Julian Falkowski ebenso wie ein späterer deutscher Aktivist, der Kaufmann Fritz Klaette. Einer der kommenden Führer des radikalen polnischen »Westmarkenvereins« in Międzychód, Jan Białkowski, erschien neben dem deutschen Nationalisten und Antisemiten, dem Brunnenbauer Boleslaus Raczkowski. Und der weiterhin das Katasteramt leitende Wilhelm Hoffmann fand sich neben dem Textilhändler Józef Buhl, der wie Falkowski schon bei den nächsten Wahlen für die radikalnationalistische Nationale Arbeiterpartei ( Narodowa Partia Robotnicza, NPR ) kandidierte, aber dennoch in der deutschen Bevölkerung Ansehen genoss.37 Ihre Heterogenität war sicherlich mit dafür verantwortlich, dass die Liste ein Übergangsphänomen blieb. Kokocińskis Liste war eine bürgerliche Sammlung, denn es waren meist selbstständige Kaufleute, die auf ihr für die neue Stadtverordnetenversammlung kandidierten. Arbeiter blieben mit drei von 24 Kandidaten die Ausnahme. Angehörige dieser sozialen Gruppe besetzten hingegen weit über 90 Prozent der Listenplätze der NPR, einer Partei, die radikale nationale Losungen mit nicht minder weit reichenden sozialen Forderungen verband und sowohl unter der ländlichen wie der städtischen polnischen Bevölkerung im Kreis Międzychód seit der Streikwelle des Sommers 1921 die führende politische Kraft war.38 In der Gegnerschaft zur sozialrevolutionären Programmatik der NPR lag sicher auch ein wichtiger Grund für den Zusammenschluss des städtischen Bürgertums. Die Liste der bürgerlichen Sammlung ging aus den Kommunalwahlen in Międzychód als Sieger hervor und gewann zehn der 18 Stadtverordnetenmandate. Drei ihrer Mandatsträger waren Deutsche : Klaette, Raczkowski sowie der Bäckermeister Wilhelm Wilde. Die Mehrheit der »Liste Kokociński« garantierte in den folgenden Jahren, dass die Vertreter der deutschen Minderheit angemessen bei der Besetzung der Kommissionen berücksichtigt und in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden.39

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37 38 39

Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 9. 7. 1931; Archiwum Archidiecezjalne w Poznaniu ( Erzdiözesanarchiv Poznań [ AAP ], Konsystorz Arcybiskupi [ Erzbischöfliches Konsistorium, KA ] 29, passim ). Orędownik Powiatu Międzychodzkiego, (1921) 78. Zu Entwicklung und Programmatik der NPR siehe Czesław Demel / Jerzy Krawulski / Krzysztof Rzepa, Działalność NSR i NPR w Wielkopolsce w latach 1917–1937, Warszawa 1980. Protokolarz Rady Miejskiej 1924–1928, passim ( APP, Akta Miasta Międzychód [ AMM ] 299).

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Doch sorgte die Vertretung der NPR in der Stadtverordnetenversammlung von Międzychód dafür, dass bald ein konfrontativer Politikstil Einzug hielt und die bürgerliche Fraktion an ihrer ethnischen Sollbruchstelle auseinanderfiel : Der radikal antideutsche Kurs der NPR - Stadtverordneten stellte die polnischen Abgeordneten der Bürgerliste immer mehr vor das Dilemma, ob sie mit ihren polnischen Landsleuten von der NPR oder ihren deutschen Standesgenossen stimmen sollten. Schließlich führten auch die ständigen Spannungen zwischen Deutschland und Polen dazu, dass unter den polnischen »Honoratioren« eine antideutsche Politik die Oberhand gewann. In zunehmendem Maße entschied nun der Grundsatz der nationalen Solidarität innerhalb der eigenen Gruppe über das Abstimmungsverhalten. So gelang es beispielsweise im Dezember 1924 nicht, einen deutschen Stadtverordneten in die Einkommensteuerkommission zu wählen.40 Seitdem fehlten unter den Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung immer wieder die Unterschriften der deutschen Abgeordneten. Die Verweigerung der deutschen Abgeordneten resultierte auch aus dem antideutschen Charakter der Beschlussvorlagen, die der Stadtverordnetenversammlung zugingen : Weil das Stadtparlament Ende Juni 1925, als der Optantenstreit mit Deutschland seinem Höhepunkt zustrebte und der »Zollkrieg« seinen Anfang nahm, einen Protest des »Westmarkenvereins« gegen die Politik der deutschen Regierung billigte, verweigerten die deutschen Stadtverordneten ihre Unterschrift.41 Die zwischenstaatlichen Spannungen hatten ihren Teil dazu beigetragen, hoffnungsvolle Ansätze einer übernationalen Kooperation zunichte zu machen. Der Konflikt zwischen den Nachbarstaaten heizte die Emotionen in der Bevölkerung an und überschattete schließlich die Kommunalwahlen am 4. Oktober 1925 sowie die lokale Politik der folgenden Monate. Seit den ersten Wochen des Jahres nämlich erstattete die örtliche Presse ausführlich Bericht über den Optantenstreit und bald auch über den Zollkonflikt.42 Eine große antideutsche Manifestation auf dem Marktplatz von Międzychód am 13. April 1925, an der 2 000 Demonstranten teilgenommen haben sollen, trug zur weiteren Mobilisierung und Polarisierung bei.43 Hinzu traten aber auch lokale Faktoren. Denn anders als bei den vorangegangenen Wahlen war das übernationale Bündnis der bürgerlichen Kräfte zerfallen, weil das polnische Stadtbürgertum inzwischen tief zerstritten war. Namhafte

40 41 42

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Ebd., Eintrag vom 15.12.1924. Ebd., Eintrag vom 30.6.1925. Die Autoren des 1925 im ersten Jahr erscheinenden »Orędownik Międzychodzki« waren besonders radikal, vermutlich weil die Zeitung ein Konkurrenzprodukt zur »Gazeta Międzychodzka« war und sich erst ihren Platz auf dem lokalen Pressemarkt erkämpfen musste. Orędownik Międzychodzki vom 9. 4. 1925, 16. 4. 1925 und 23. 4. 1925; Leon Borowiak, Okres międzywojenny. In : Janisław Osięgłowski ( Hg.), Międzychód. Dzieje – gospodarka – kultura, Warszawa 1981, S. 58–80, hier 66.

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Kommunalpolitiker wie die Kaufleute Ludwik Modelski und Józef Buhl kandidierten nun auf der Liste der NPR, die damit in Międzychód zu einer klassenübergreifenden polnischen Gruppierung geworden war.44 Der Rest des polnischen Bürgertums sammelte sich in zwei Bürgerlisten, von denen eine im Wahlkampf massiv die deutsche Liste und deren Spitzenkandidaten angriff.45 Der Wahlkampf kreiste daher insbesondere um deutsch - polnische Themen und besaß zudem eine Projektionsfläche in einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, dem katholischen Pfarrer Eberhard Wick, der sich als Spitzenkandidat einer deutschen Liste um ein Stadtverordnetenmandat bewarb. Wick war ein Wanderer zwischen den Welten und in beiden Kulturen zu Hause, da er sein gesamtes Leben in der deutsch - polnischen Grenzregion zugebracht hatte. Nationale Identität scheint für ihn nur von sekundärer Bedeutung gewesen zu sein. Daher konnte er mit gleichem Engagement mal für die eine, mal für die andere Seite kämpfen. Entscheidend waren für ihn das wahre Christentum und das Wohl seiner Gemeinde, denn der Katholizismus war Fixpunkt von Wicks Wertesystem. In Oberschlesien geboren und aufgewachsen, ging er nach dem Abschluss des Gymnasiums zunächst an das Priesterseminar nach Pelplin und später nach Breslau, wo er im Juni 1898 zum Priester geweiht wurde. Wick arbeitete gut zwei Jahrzehnte in polnischen Pfarreien, davon 18 Jahre als Propst, und war zuletzt in einer Gemeinde eingesetzt, die nach den Volksabstimmungen an Deutschland fiel. Weil er sich zuvor für einen Anschluss Oberschlesiens an Polen eingesetzt hatte und am dritten schlesischen Aufstand beteiligt war, konnte sich Wick in einem in gutem, wenn auch nicht immer stilsicherem Polnisch gehaltenen Anstellungsgesuch an den Erzbischof als »oberschlesischer Flüchtling« empfehlen. 1922 wurde Wick sogar behördlich bescheinigt, er sei ein guter polnischer Patriot. Seit Mitte des Jahres arbeitete er mit längeren Unterbrechungen als Hilfspriester in Międzychód und unterrichtete an einer Schule.46 Die Gründe für Wicks Engagement auf Seiten der deutschen Bevölkerung lassen sich nicht ermitteln. Auch wenn er bislang eine pro - polnische Einstellung an den Tag gelegt hatte, erfreute er sich im katholischen Klerus keiner besonderen Beliebtheit, weil er einmal aus Übereifer eine Prozession angesetzt und damit seine Vorgesetzten vor den Gläubigen bloßgestellt hatte.47 Daher mögen verletzter 44

45 46

47

Unter den zehn schließlich gewählten Stadtverordneten der NPR waren fünf selbstständige Handwerker und Kaufleute, der Leiter des Zollamts sowie vier Arbeiter. Orędownik Międzychodzki vom 8. 10. 1925; vgl. auch die registrierten Listen in Gazeta Międzychodzka vom 22.9.1925. Siehe die Kontroverse zwischen den Führern der beiden bürgerlichen Listen in Orędownik Międzychodzki vom 10.9.1925 und 17.9.1925 sowie Gazeta Międzychodzka vom 18.9.1925. Fragebogen zur Person Eberhard Wicks aus Anlass eines Immobilienkaufs ( APP, SPM 276); Eberhard Wick an Erzbischof, o. D. ( Ende 1922) ( AAP, KA 16128 [ Personalakte Eberhard Wick 1922–1939]). Ebd.

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Stolz, Eitelkeit und die Gelegenheit, an der Spitze einer desorganisierten nationalen Minderheit zu stehen, einen nicht unbedeutenden Einfluss auf Wicks Entscheidung ausgeübt haben. Gesichert ist hingegen, dass Wicks Kandidatur auf der deutschen Liste zu einem persönlichen Konflikt mit dem Propst Marcin Kowalczyk führte, der seinerseits auf einer polnischen Bürgerliste kandidierte und Wick die seelsorgerische Tätigkeit in der Pfarrei untersagte, weil er nach dessen eindeutiger Positionierung nationale Proselytenmacherei unter den polnischen Katholiken fürchtete.48 Propst Roman Panewicz aus Chrzypsko Wielkie begründete diese Ängste – nicht ohne Verdrehung – mit einer Wahlwerbung Wicks : Dieser hatte einen Vorwurf seiner polnischen Widersacher, er sei ein »Wolf im Priesterkleide«, zu seinem Wahlmotto gemacht und forderte : »Wählt den Wolf !«49 Panewicz behauptete nun gegenüber dem Konsistorium, Wick wolle »wie ein Wolf« in der Pfarrei arbeiten. Der Streit zwischen Wick und Kowalczyk eskalierte in persönlichen Vorwürfen und Kränkungen, und Wick warf seinem Vorgesetzten schließlich vor, Alkoholiker zu sein und seine dienstlichen Obliegenheiten zu vernachlässigen.50 Die Angegriffenen schlossen daraufhin ihre Reihen. Wick war seit den Wahlen in der polnischen Gesellschaft als »Deutscher« stigmatisiert und wurde als Kopf der deutschen Fraktion, die sechs der 18 Mandate in der Stadtverordnetenversammlung gewonnen hatte, während der oft langen und stürmischen Sitzungen von den Führern der NPR ( zehn Mandate ) heftig angegriffen.51 Ein städtischer Beamter beschrieb Wick Anfang 1927 als »Hakatisten«, der »gegenüber allem, was Polnisch ist, feindlich gesinnt« sei. Der Pfarrer rufe die deutsche Minderheit zu Manifestationen auf, während derer er die wirtschaftlichen Zustände in Polen kritisiere. Wenn es bei den Stadtverordnetensitzungen um nationale Belange gehe, störe er die Sitzungen und versuche, die Stadtverordneten von positiven Beschlüssen abzubringen, was ihm wegen seiner Autorität als Geistlicher bisweilen gelinge. In der Stadt gebe es Gerüchte, er sei ein deutscher Spion. Fest stehe aber, dass Wick bedeutende Summen von der Überlandzentrale in Meseritz jenseits der Grenze erhalte.52 Aufgrund der Unterstützung seiner Fraktion und der beiden polnischen Bürgerlisten sowie mangelnder Disziplin der NPR wurde Wick jedoch in städtische Kommissionen und sogar in den Vorstand der Stadt48 49

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Pfarrer Eberhard Wick an Erzbischof vom 13. 12. 1925 ( AAP, KA 16128); Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 1.12.1925. Pfarrer Roman Panewicz, Chrzypsko Wielkie, an Konsistorium vom 17. 12. 1925 ( AAP, KA 16128); Orędownik Międzychodzki vom 1.10.1925 sowie Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 3.10.1925. Pfarrer Eberhard Wick an Erzbischof vom 13.12.1925 ( AAP, KA 16128). Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 6. 1. 1927, 22. 3. 1927, 3.4.1927, 21.4.1927. Notiz über die Besetzung der Stadtverordnetenversammlung, o. D. ( Anfang 1927) ( APP, AMM 336).

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sparkasse gewählt.53 Eine übernationale Kooperation blieb somit dort möglich, wo das Wohl der Stadt betroffen war.54 Wick blieb den Stadtverordneten der NPR und Teilen der polnischen Honoratiorenschicht jedoch ein Dorn im Auge. Sie griffen daher einen Versuch auf, die Rechtmäßigkeit der deutschen Liste bei den Kommunalwahlen von 1925 wegen der ungeklärten Staatsangehörigkeit Wicks in Frage zu stellen. Damals war die Liste jedoch zur Wahl zugelassen worden. Nun hatten Stadtverordnete die Frage der Staatsbürgerschaft Wicks dem Woiwodschaftsamt zur Prüfung vorgelegt, und dieses entschied, dass der Pfarrer die Staatsangehörigkeit nicht besitze.55 Auch wenn dieser Bescheid noch nicht rechtskräftig war und von Wick vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit angefochten wurde, entschied der Magistrat widerrechtlich, Wick wegen fehlender Staatsangehörigkeit das städtische Bürgerrecht und damit das Stadtverordnetenmandat zu entziehen.56 Wick wehrte sich bei der Stadtverordnetensitzung am 14. April 1927 noch gegen die nach der Tagesordnung vorgesehene Debatte über sein Mandat, jedoch ohne Erfolg : Nach einer dreistündigen »Redeschlacht« ( Wick ) entzogen ihm die Abgeordneten mit acht zu vier Stimmen bei vier Enthaltungen das Mandat. Weil sich der Pfarrer daraufhin beharrlich weigerte, den Aufforderungen des Stadtverordnetenvorstehers nachzukommen und den Saal zu verlassen, brach dieser die Sitzung kurzerhand ab.57 Wick nahm seitdem an keiner Sitzung des Stadtparlaments mehr teil und lebte zurückgezogen weiter in Międzychód.58 Nach Wicks Hinauswurf aus der Stadtverordnetenversammlung fehlte der deutschen Fraktion ihr Kopf, die deutschen Abgeordneten fügten sich der polnischen Mehrheit und wurden zunehmend marginalisiert. So wurden bei den Kommissionswahlen im Januar 1928 ausschließlich polnische Vertreter berufen.59

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59

Gazeta Międzychodzka vom 10. 1. 1926; Protokolarz Rady Miejskiej, Eintrag vom 25. 4. 1927 (APP, AMM 299). So etwa ein Artikel Wicks in Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 6.1.1927. Stadt - und Landbote für die Kreise Międzychód und Szamotuły vom 3.4.1927. Protokolarz Rady Miejskiej, Eintrag vom 2.6.1927 ( APP, AMM 299). Ebd. Der Ausgang des Verfahrens um die Staatsangehörigkeit Wicks bleibt unklar, der Pfarrer lebte aber weiter in Międzychód und erscheint letztmals Ende 1959 als in Międzychód wohnhaft (AAP, KA 16128). Protokolarz Rady Miejskiej, Eintrag vom 9.1.1928 ( APP, AMM 299).

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5. Schluss Birnbaum / Międzychód war ein besonderer Geschichtsort : Seitdem die Stadt am Westrand der polnischen Adelsrepublik im 17./18. Jahrhundert durch die Tuchmacherei zu bescheidenem Wohlstand gelangte, bildete sich ein besonderer Bürgergeist aus. Dieser Bürgergeist wurzelte in der Gemeinsamkeit der Besitzenden in der ständischen Gesellschaft und war in der meist »deutschen« ( das heißt deutschsprachigen, protestantischen ) sowie der jüdischen Stadtgesellschaft verankert; »Polen« ( das heißt polnischsprachige Katholiken ) konnten sehr wohl innerhalb der Stadtgesellschaft aufsteigen, und dann als »gleich« anerkannt werden, hatten aber zumeist schlechtere materielle Voraussetzungen hierfür.60 Der spezifische Bürgergeist der Birnbaumer wandelte sich dann während der Transformation des 19. Jahrhunderts, als die Stadt – schon unter preußischer Herrschaft – eine Reagrarisierung durchmachte, die erst im Zuge der Industrialisierung in den letzten gut drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in Ansätzen überwunden werden konnte. Der demographische und soziale Wandel, das Vordringen des Staates und des Nationalismus stellten den Bürgergeist auf die Probe: Seitdem sich am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Polen in der nun überwiegend von Deutschen bewohnten Stadt niederließen ( der Anteil der jüdischen Bevölkerung ging zwischen 1830 und 1910 von ca. einem Drittel auf nur wenige Prozent zurück ), griffen einzelne Vertreter des Birnbaumer Bürgertums die radikalen Parolen des Antisemitismus und des deutschen Nationalismus auf. Zugleich verlangte der Staat zunehmend von den Stadtvätern Rechenschaft über die ethnopolitischen Verhältnisse in der Stadt. Dieser doppelten Herausforderung begegnete die Stadtgesellschaft auf zweierlei Weise : Zum einen hielten sich die Polen an die ungeschriebene Regel, wonach die deutsche Dominanz in gemeinsamen Institutionen, Vereinen usw. gewährleistet sein musste, zum anderen verleugnete die Stadtregierung Angehörige der polnischen Nationalbewegung, wenn staatliche Behörden sich nach deren Aktivitäten erkundigten. Dies erlaubte es bis zum Ende des Krieges, die Stadtgesellschaft verhältnismäßig geschlossen zu halten und den Durchgriff des Staates auf das unvermeidliche Maß zu beschränken. Zugleich gelang es den Stadtvätern recht geschickt, die nationalpolitische Empfindlichkeit der Behörden zum Zweck der wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen und so beispielsweise einen besseren Anschluss der Stadt ans Eisenbahnnetz zu erlangen. Dieses in der Honoratiorenpolitik wurzelnde Muster dauerte auch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre fort, als Birnbaum wieder zu Polen gehörte; seine Träger waren die verbliebenen, auch in der polnischen Gesellschaft weithin geachteten Vertreter des deutschen Bürgertums sowie der Großteil des polnischen 60

Vgl. Helga Schultz, Die Bürger von Birnbaum. In : dies., Preußens Osten, S. 17–38.

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Bürgertums. Ein Mann wie der erwähnte Ludwik Kokociński hatte diese Regeln internalisiert, und er und seine Standesgenossen beachteten sie auch nach 1920 noch, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen. Letztlich veränderte der Ausgang des Ersten Weltkriegs die Verhältnisse jedoch so stark, dass die beschriebenen Mechanismen des Ausgleichs nur begrenzte Zeit wirksam bleiben konnten. Zum einen nämlich kehrten die deutsche Ab - und die polnische Zuwanderung in die Stadt das Zahlenverhältnis zwischen beiden Nationalitäten um. Die polnischen Neubürger kannten die ungeschriebenen Regeln nicht oder ignorierten sie; sie äußerten ihr Verlangen nach einer Dividende aus der Staatsgründung mit Hilfe eines Nationalismus, der kaum weniger radikal war als der mancher Deutscher vor dem Krieg. Zum anderen hatte sich die internationale Situation so weit verändert, dass es kaum noch möglich war, den Staat von den lokalen Belangen fern zu halten : Seit der Staatsgründung Polens war der deutsch - polnische Konflikt von einem innerstaatlichen zu einem zwischenstaatlichen Problem zweier Länder geworden. Während hinter Polen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs standen, schlossen Deutschland und Sowjetrussland in Rapallo 1922 ein Bündnis zweier revisionistischer Mächte. Die Grenzlage Międzychóds dürfte beträchtlich dazu beigetragen haben, dass der deutsch - polnische Optantenstreit in der Grenzstadt so aufmerksam verfolgt und von der polnischen Mehrheit zur kommunalpolitischen Entmachtung der deutschen Minderheit genutzt wurde.

III. (Vorläufiger) Triumph des ethnischen Nationalismus: NS-»Volkstumspolitik« und ethnische Säuberungen (1939–1949)

Markus Roth Die nationalsozialistische Besatzungspolitik in Polen 1939–1945. Grundlagen – Akteure – Handlungsspielräume

Am 6. Oktober 1939 – der Krieg gegen Polen war praktisch beendet, die richtungweisenden Entscheidungen über die künftige Gestalt des besetzten Territoriums standen noch aus – hielt Adolf Hitler eine Rede vor dem Reichstag. Wer es in Europa und der Welt bisher noch nicht verstanden hatte, sollte spätestens jetzt erkennen, dass es den Nationalsozialisten nicht mehr um eine bloße Revision des Versailler Vertrags ging. Sie hatten – freilich nicht erst jetzt – nicht weniger als eine sogenannte völkische Neuordnung Europas unter deutscher Vorherrschaft im Sinn. Dreh - und Angelpunkt sollte das unterjochte Polen sein, vor allem die kurz darauf annektierten westpolnischen Gebiete. Zwar entsagte Hitler in seiner Rede nicht aggressiven Tiraden gegen die Pariser Verträge, doch dem aufmerksamen Zuhörer oder Leser seiner Rede konnte kaum entgehen, dass es um mehr als bloße »Grenzkorrekturen« an der östlichen Peripherie des Deutschen Reiches ging. Hitler proklamierte vielmehr »eine neue Ordnung der ethnografischen Verhältnisse, das heißt eine Umsiedlung der Nationalitäten so, dass sich am Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist«.1 Für das hier vor der Weltöffentlichkeit etwas verklausuliert Vorgebrachte hatte er 1928 in seinem zweiten, damals unveröffentlichten Buch bereits deutlichere Worte gefunden, in dem er in Abgrenzung von der wilhelminischen Polenpolitik schrieb, man müsse »entweder diese rassisch fremden Elemente abkapseln, um nicht das Blut des eigenen Volkes immer wieder zersetzen zu lassen, oder [...] sie überhaupt kurzer Hand entfernen und den dadurch freigewordenen Grund und Boden den eigenen Volksgenossen überweisen«.2 Nicht Germanisierung der Menschen, sondern Germanisierung des Bodens lautete die ausgegebene Devise. Neu waren derartige Überlegungen 1

2

Verhandlungen des Reichstags, 4. Wahlperiode, Band 460, Stenographische Berichte 1939– 1942, Anlage zu den Stenographischen Berichten, 1.–8. Sitzung, S. 56 ( http ://www.reichstagsprotokolle.de / Blatt2_n4_bsb00000613_00052.html ). Zit. nach Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, überarb. Ausgabe Frankfurt a. M. 1965, S. 24 f.

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nicht – aber nun, im Herbst 1939, waren die Möglichkeit und der ungehemmte politische Wille vorhanden, diese in die Tat umzusetzen, freilich nicht immer in voller Konsequenz und frei von Widersprüchen. Den nationalsozialistischen Eroberern und späteren Besatzern ging es aber in ihrer Polenpolitik nicht um eine bloße ethnische Homogenisierung mittels Vertreibung. Wenige Tage vor Beginn des Krieges, am 22. August 1939, hatte Hitler vor den Heeresgruppen - und Armeeführern unmissverständliche Leitlinien ausgegeben, die das, was er wenig später öffentlich proklamierte, an Radikalität und Brutalität weit übertrafen. Er führte aus : »Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist die Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. Auch wenn im Westen Krieg ausbricht, bleibt Vernichtung Polens im Vordergrund [...] Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen [...] Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.«3 Polen sollte von der Landkarte verschwinden, ein Überdauern oder Wiederaufblühen des polnischen Staatsgedankens auf alle Zeit ausgeschlossen werden. Das war der Hintergrund für die zahlreichen Morde, die die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD seit den ersten Septembertagen im Rücken der Front vor allem an der polnischen Elite begingen. Zu Tausenden erschossen sie Lehrer, Ärzte, Pfarrer, Rechtsanwälte, Politiker und all diejenigen, die der polnischen Elite zugerechnet wurden.4 Auch nach dem Ende der Kampfhandlungen setzten die SS - und Polizeiverbände die Ermordung der polnischen Elite in mehreren Wellen fort. Nach dem Ende der Militärverwaltung im Oktober 1939 errichteten die eingesetzten Zivilverwaltungen in den verschiedenen deutschbesetzten polnischen Gebieten eine Art völkisches Apartheidregime, das auf einer strikten rassischen Hierarchie aufbaute, auf deren oberster Stufe selbstredend die deutschen Besatzer, auf der untersten die Juden standen. Die Besatzungsgesellschaft fußte auf dem Bild vom Herrenmenschen und Untermenschen. Das prägte alle Bereiche, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs, die Entlohnung, den Alltag, selbst die Namen für Neugeborene wurden einer rassischen Reglementierung unterworfen; und nicht zuletzt die Kultur - und Schulpolitik, besonders radikal in den eingegliederten Gebieten im Westen.5 Dies illustriert ein teilweise bekanntes Zitat Himmlers aus seinen Überlegungen zur Behandlung der »Fremdvölkischen«, wie nun vielfach Polen und andere unterjochte Völker 3

4 5

Zweite Ansprache des Führers am 22. 8. 1939. In : Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945. Aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, Serie D (1937–1945), Band 5, Baden Baden 1956, S. 172. Vgl. u. a. Klaus - Michael Mallmann / Jochen Böhler / Jürgen Matthäus ( Hg.), Einsatzgruppen in Polen. Darstellung und Dokumentation, Darmstadt 2008. Eine aktuelle Monographie zur deutschen Besatzungspolitik in Polen gibt es nicht. Vgl. daher die älteren Überblicksdarstellungen : Broszat, Polenpolitik; Czesław Madajczyk, Polityka III Rzeszy w okupowanej Polsce, Warszawa 1970; Czesław Łuczak, Polityka ludnościowa i ekonomiczna Niemiec w okupowanej Polsce, Poznań 1979.

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genannt wurden. Himmler schreibt : »Eine grundsätzliche Frage bei der Lösung aller dieser Probleme ist die Schulfrage und damit die Frage der Sichtung und Siebung der Jugend. Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein : Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich.«6 Weiterführende Schulen und Universitäten wurden geschlossen, auch viele Volksschulen, die Schulausbildung auf wenige Jahre beschränkt und die Lehrerausbildung gestoppt; Theater und zahlreiche Bibliotheken geschlossen; Museen, Archive und Bibliotheken geplündert; zahlreiche Buchbestände überhaupt vernichtet und die Publikation von polnischen Büchern eingestellt. Zudem verboten die Besatzer zum Beispiel die polnischen Klassiker. Eine derart radikal antipolnische ( und antijüdische ) Politik, die weit über nationalistische Konzepte und Praktiken der Vergangenheit hinausging, brauchte Männer – in der Regel waren es nur diese –, die fähig und willens waren, diese in die Besatzungspraxis zu übersetzen. Mehr noch : Das Besatzungsregime funktionierte nicht nach dem einfachen Prinzip von Befehl und Gehorsam, der bloßen Umsetzung von in den Zentralen erlassenen Richtlinien und Verordnungen durch die lokalen Herrschaftsinstanzen. Auf den unteren Ebenen des Besatzungsapparats, sei es in SS und Polizei oder in der Zivilverwaltung, verfügten die führenden Funktionäre nicht nur über teilweise ganz erhebliche Handlungs - und Ermessensspielräume – häufig waren gerade sie es, die durch eigenmächtige Initiativen, durch – bisweilen auch illegales – Vorpreschen die Besatzungspolitik praktisch formten und einen Handlungsdruck erzeugten. Dabei gaben zwar die radikalen Vertreter im gesamten Besatzungsapparat den Ton an und die meisten anderen zogen mit. Aber auch diejenigen, die einem harten Kurs skeptisch bis ablehnend gegenüber standen, funktionierten in aller Regel reibungslos im Sinne des Regimes. Diese Funktionsweise deutscher Besatzungspolitik in Polen – das Ineinandergreifen von ideologischer Vorprägung, weitgefassten Vorgaben und Blankoschecks »von oben« und ein institutioneller Rahmen, der die Macht verleiht und Freiheit lässt zu einer praktischen Politik mit weitreichenden Folgen – lässt sich exemplarisch an den Kreis - und Stadthauptleuten im Generalgouvernement zeigen. Die insgesamt rund 130 Kreis - und Stadthauptleute, die während der gesamten Besatzungszeit aktiv waren, leiteten die deutsche Zivilverwaltung auf Ebene der Stadt - und Landkreise im Generalgouvernement, vergleichbar in etwa mit 6

Heinrich Himmler, Einige Gedanken zur Behandlung der Fremdvölkischen im Osten, 23.4.1940. In : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 5 (1957), S. 195–198, hier 197.

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einem Landrat im Deutschen Reich. Allerdings verfügten die Kreishauptleute über erheblich mehr Macht, ihre Kreise waren deutlich größer und bevölkerungsreicher als die Landkreise im Reich. Zu den wichtigsten Tätigkeitsfeldern zählten die Ausbeutung der polnischen Landwirtschaft, die Rekrutierung polnischer Arbeitskräfte für das Reich und die Schulpolitik; bis zum Sommer 1942 fielen auch zahlreiche antijüdische Maßnahmen in ihre Zuständigkeit, zum Beispiel die ökonomische Ausbeutung, die Konzentration und Isolation der Juden, die Zwangsarbeit von Juden etc. An der Deportation und Ermordung der Juden ab Frühjahr 1942 waren sie maßgeblich beteiligt, mancherorts gar federführend. In aller Regel waren die Kreishauptleute junge Juristen, viele promoviert, die im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts geboren waren. Weit überwiegend wuchsen sie in stabilen bürgerlichen Verhältnissen auf, studierten und schlugen anschließend eine Laufbahn in Justiz oder Verwaltung ein. Fast alle von ihnen wurden früher oder später Mitglieder der NSDAP, die eine Hälfte vor, die andere nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Ins Generalgouvernement kamen sie entweder auf Grund einer eigenen Bewerbung oder sie wurden von ihren Heimatbehörden zur Abordnung dorthin vorgeschlagen – nicht selten, um auf diesem Wege missliebige oder als unfähig erachtete Beamte abzuschieben.7

1. Handlungsspielräume I : Die »Judenpolitik« Bereits von Beginn an wurde den Kreis - und Stadthauptleuten deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ungebunden handeln könnten. Schon im November 1939 zeigte sich Generalgouverneur Hans Frank sehr zufrieden mit ihrer Arbeit und ließ zum Beispiel die versammelten Kreishauptleute des Distrikts Radom wissen : »Wenn Sie glauben, durch etwas gehindert zu sein, eine unmittelbare Aktivität zu entfalten, sind Sie in keiner Weise gebunden, ich decke Sie überall da, wo ich weiß, dass Sie aus lauterster Gesinnung Maßnahmen ergriffen haben, und wenn es Maßnahmen sind, die in anderen Auffassungszonen Schüttelfrost hervorrufen würden.«8 Besonders klare Worte fand Frank für die Behandlung der Juden : »Je mehr sterben, umso besser [...]. Die Juden sollen spüren, dass wir gekommen sind.«9 Der Handlungsspielraum der Kreishauptleute war gerade zu Beginn der

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Zur Gruppe der Kreishauptleute und ihrer Karrieren vor 1939 vgl. Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen – Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, 2. Auflage Göttingen 2009, S. 87–110. Protokoll der Tagung der Kreishauptleute, Oberbürgermeister und Stadtkommissare des Distrikts Radom vom 25.11.1939 ( BArch, B 162/ Dok. - Slg., Polen, Ordn. 344, Bl. 460). Ebd., Bl. 458 f.

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Besatzungsherrschaft besonders groß, da viele Bereiche noch nicht durch Verordnungen geregelt waren und sie nun Tatsachen schufen – mit ausdrücklicher Rückendeckung von oben. Sie sahen sich nicht in erster Linie als Verwalter, sondern als Herrscher. Nur wenige Wochen nach dem Überfall auf Polen etwa meldete Reinhold Eckert, als Landkommissar des Kreises Tarnobrzeg im Einsatz, mit gewissem Stolz über sein entschlossenes Durchgreifen gegen Plünderer. Nachdem Drohungen mit der Todesstrafe wirkungslos verpufft waren, ließ er am 12. Oktober 1939 zwei Personen sofort und eine weitere am Tag darauf öffentlich erschießen. »Bei diesem niederstehenden Volk«, schreibt Eckert voller Verachtung, »nützen gute Worte nichts mehr. Ein solches Gesindel fürchtet nur noch das energische Vorgehen.«10 In der weiteren Entwicklung war es dann oft die Regelungswut von oben, die Freiräume schuf, da mit den vorhandenen Kapazitäten nicht alles in dem gedachten Maße umgesetzt werden konnte und es daher bisweilen im Ermessen der Kreishauptleute lag, Prioritäten zu setzen, manche Verordnung zunächst links liegen zu lassen oder sich gar darüber hinwegzusetzen. Letzteres goutiert vom Generalgouverneur, der das eigenmächtige Vorgehen eines Kreishauptmanns im Oktober 1941 als die »typisch östlich illegale Art«11 bezeichnete, was durchaus lobend gemeint war. Den von Frank ausgestellten Blankoscheck lösten die Kreishauptleute nur allzu gerne ein, zumal sie in den ersten Wochen der deutschen Besatzung Polens vielfach entsprechend vorgeprescht waren, als sie, mitunter für Wochen, die einzige Instanz des NS - Regimes vor Ort waren. Ein Beispiel von vielen trug sich in der westpolnischen Kleinstadt Końskie zu. Nachdem am 12. September 1939 vier deutsche Soldaten von »Heckenschützen« erschossen worden waren, zwangen Soldaten eines Luftaufklärungsbataillons eine Gruppe von Juden, Gräber für die Toten auszuheben. Während dieser Arbeit wurden sie von Soldaten geschlagen und gepeinigt. Anwesend war auch Leni Riefenstahl, die mit einem Kamerateam Aufnahmen für einen Propagandafilm über den »Polenfeldzug« machen wollte. Als die Juden schließlich den Platz verlassen durften, kam ein Leutnant hinzu, der die Situation fehldeutete und Schüsse auf die vermeintlich Fliehenden abfeuerte. Daraufhin eröffneten auch die übrigen Soldaten das Feuer. Am Ende dieses spontanen Massakers waren 19 Juden tot, drei weitere erlagen später ihren Verletzungen.12

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Lagebericht des Landkommissars in Tarnobrzeg vom 13. 10. 1939 ( BArch, RH 20–14/177, Bl. 374). Das Diensttagebuch des Generalgouverneurs vom 16.10.1941 ( BArch, R 52II /239, Bl. 52). Vgl. Alexander B. Rossino, Hitler Strikes Poland. Blitzkrieg, Ideology and Atrocity, Lawrence 2003, S. 186; Jochen Böhler, »Tragische Verstrickung« oder Auftakt zum Vernichtungskrieg ? Die Wehrmacht in Polen 1939. In : Klaus - Michael Mallmann / Bogdan Musial ( Hg.), Genesis des Genozids. Polen 1939–1941. Darmstadt 2004, S. 44 f.; Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006, S. 195 f.

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Nachdem die Soldaten weitergezogen waren, trat nun keinesfalls Ruhe ein. Dafür sorgte Dr. Gustav Albrecht, ein deutscher Beamter, der mit wenigen Mitarbeitern nach den kämpfenden Verbänden in den Ort einzog, um dort als Kreishauptmann die Verwaltung des gesamten Kreises Końskie zu übernehmen. Albrecht scheint nicht der Prototyp des nationalsozialistischen Täters gewesen zu sein, wie man ihn sich vielleicht vorstellen könnte. Geboren wurde er 1902 in stabile Verhältnisse, sein Vater war Landrat. Er durchlief Schule und Jura - Studium problemlos. Anschließend folgte er dem Beispiel seines Vaters und schlug noch während der Weimarer Republik eine Verwaltungslaufbahn ein. Diese Karriere setzte er auch nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten ungebrochen bis zum Beginn des Krieges fort. Die deutsche Besetzung Polens bescherte ihm schließlich einen unverhofften Karrieresprung, da er nun mit großer Machtfülle an der Spitze eines großen Landkreises stand. Der NSDAP ist Albrecht erst 1937 beigetreten, lediglich der SA trat er im November 1933 bei. Womöglich hat er sich 1933 zunächst abwartend verhalten und sich dann im November, schon um seine Laufbahn in der Verwaltung nicht zu behindern, der SA angeschlossen, als die NSDAP bereits für Neuaufnahmen gesperrt war.13 Obwohl Albrecht also eine Art politischer »Spätzünder« war, begegnete er den Juden vom ersten Tag seiner Herrschaft in Końskie an mit ausgesprochenem Widerwillen und erließ zahlreiche antijüdische Verordnungen und bedachte ihre Notlage zudem mit Spott und Häme. Nach der deutschen Besetzung brach in Końskie die Versorgung der Bevölkerung zeitweise zusammen. Die Rationen mussten auf ein kärgliches Maß reduziert werden. Den Juden aber gestand Albrecht nicht einmal diese Hungerrationen zu, sie bekamen gar kein Brot zugeteilt. Er war offenkundig tief durchdrungen von antisemitischen Klischees. Protesten von jüdischer Seite hielt er entgegen, das Hungern sei eine gerechte Strafe dafür, dass die Juden den Krieg angefangen hätten und schon im Ersten Weltkrieg für den Hungertod von mehreren hunderttausend deutschen Männern, Frauen und Kindern verantwortlich gewesen seien. Die Deutschen, so Albrecht, würden nun dafür sorgen, dass es diesmal umgekehrt laufe. Stolz berichtete Albrecht hiervon seinen Vorgesetzten : »Wenn jetzt das Hungern im Kreise Konsk[ ie ] anfange, würde ich dafür sorgen, dass zuerst die Juden verhungerten und dann erst die Polen.«14 Ohne dazu in besonderer Weise von seinen Vorgesetzten aufgefordert zu sein, setzte Albrecht seine drakonische antijüdische Politik in den kommenden Wochen und Monaten fort. Parallel zur bewusst betriebenen Aushungerung der jüdischen Bevölkerung verkündete er zum Beispiel die Beschlagnahmung des 13 14

Zur Biographie Albrechts vgl. Roth, Herrenmenschen. S. 456. Der kommissarische Landrat an den Distriktschef, 7. Lagebericht vom 29. 10. 1939 ( BArch, B 162/ Dok. - Slg. Polen, Ordn. 347, Bl. 487).

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gesamten Vermögens der Juden in Końskie, das als »Judenvermögen« fortan von ihm verwaltet werden würde. Albrecht beabsichtigte die konfiszierten Mittel für »den Aufbau einer geschlossenen jüdischen Kolonie«15 nahe Końskie zu verwenden. Das Ziel dieser Politik war eindeutig : Albrecht wollte die Juden so hart treffen wie irgend möglich : Ohne Versorgung, ohne Geld, sich anderweitig Lebensmittel zu beschaffen, und zusätzlich isoliert in einem Ghetto, mussten zwangsläufig viele Juden sterben. Seine Ghetto - Pläne konnte Albrecht im Herbst 1939 zwar noch nicht verwirklichen, aber es zeigt sich hier doch, wie weit in Kreisen der Besatzer derartige Überlegungen schon über bloße Gedankenspiele hinausgingen, ohne dass es Weisungen »von oben« bedurfte.16 Was aber motivierte Albrecht und andere dazu, sich derart radikal in einer Art Machtrausch zu gebärden ? Sicherlich spielten antisemitische Vorurteile eine wichtige Rolle, wenngleich diese vor dem Einsatz in Polen in aller Regel kaum zum Tragen gekommen waren. Sie entluden sich erst im besetzten Polen in einer radikalen Praxis. Dort trafen die Besatzer auf eine fundamental andere Situation als im Deutschen Reich der Vorkriegszeit. Im Generalgouvernement betrug der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung 15 bis 16 Prozent, in zahlreichen Kleinstädten war er weitaus höher, in Końskie zum Beispiel lag er bei 46 Prozent. Im Unterschied zu den deutschen Juden waren die polnischen Juden sehr viel weniger assimiliert und fielen schon rein äußerlich durch ihre traditionelle Kleidung und die andere Sprache auf. Anders als in Deutschland, wo Juden oft nicht ohne Weiteres an ihrem Äußeren zu identifizieren waren, stachen sie den Besatzern hier ins Auge und wirkten auf die entsprechend ideologisch vorgeprägten Besatzer schon auf Grund ihrer vergleichsweise hohen Zahl bedrohlich. Mit der Besetzung Polens und der direkten Konfrontation mit den polnischen Ostjuden erfuhr die NS - Propaganda in den Augen vieler Besatzungsfunktionäre ihre scheinbare Bestätigung. Bei nicht wenigen vollzog sich eine rasche Radikalisierung ihrer antisemitischen Einstellungen, die sich nun ungehemmt in entsprechendem Handeln entladen konnten. Ernst Gramß, einer der Kreishauptleute, steht hierfür beispielhaft. Im Gegensatz zu Albrecht kann Gramß als geradezu mustergültiger überzeugter Nationalsozialist bezeichnet werden. Er hatte sich den Nationalsozialisten früh angeschlossen und als 23 - Jähriger am sogenannten Hitler - Putsch teilgenommen;

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Anordnung vom 18.9.1939. Zit. nach Robert Seidel, Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Polen. Der Distrikt Radom 1939–1945, Paderborn 2006, S. 219 f. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und der Erweiterung des Generalgouvernements um den Distrikt Galizien wurde Albrecht Kreishauptmann in Stanisławów / Stanislau, wo er im Sommer / Herbst 1941, der Anfangszeit der deutschen Besatzungsherrschaft dort, nicht minder initiativfreudig und ungleich brutaler agierte. Vgl. Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1996, S. 144–147.

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Mitgliedschaften in SA und SS folgten bald. Auch seine Frau zählte zu den sogenannten »Alten Kämpfern«. Karriere machte Gramß, der von Haus aus studierter Landwirt war, schließlich in der NS - Landwirtschaftsorganisation, bevor er sich für eine Tätigkeit im besetzten Polen bewarb, auch in der Hoffnung auf ein Gut im Osten. Seine Arbeit im Generalgouvernement sah Gramß als eine Art Bewährungsprobe, als karriereförderliche »Schule für uns Ostpolitiker«.17 Seine ersten Eindrücke von Land und Leuten im gerade besetzten Polen schilderte er seiner Frau in einem Brief : »[ S ]päter durch einzelne Judendörfer, ein einfach unbeschreibliches Bild, Lastergesichter, Dreck, alles steht an den Häusern faul gelehnt, Judentypen, die einzigartig sind, geschlagener Blick, z. T. Degenerationserscheinungen wie Zwergwuchs, Fettleibigkeit.«18 Bald schon kam es bei Gramß – zumindest gedanklich – zu einer erheblichen Radikalisierung. Aus Warschau schrieb er seiner Frau : »Die Judenviertel sind eine Schande, 300 000 Juden, was hier an Verbrechergesichtern sich zeigt in solchen Massen, – nur ein Gedanke – ausrotten, es wäre ein Segen für die Menschheit.«19 Der Schritt vom Gedanken zu ersten Taten war bei Gramß nicht weit; kurze Zeit später berichtete er seiner Frau, er werde die ersten Juden hängen lassen. Als Vorwand diente ihm der Vorwurf der Preistreiberei und des Schwarzhandels.20 So wie Gramß reagierten zahlreiche Deutsche im besetzten Polen, seien es Soldaten, Polizisten, Beamte oder hochrangige NS - Führer wie Generalgouverneur Hans Frank und Propagandaminister Goebbels. Ein Gefreiter schrieb im September 1940 in einem Brief : »Als unsere Fahrt beendet war, befanden wir uns in einer Stadt, deren Bevölkerung zu 80 Prozent Juden waren. Was das heißt, kann nur der ermessen, der Polen und seine Juden kennt. Schon der einzelne von ihnen, mit Bart und Kaftan, ist ein widerwärtiger Anblick, aber gleich Tausende von dieser Sorte, das ist beinahe zu viel. Was helfen alle sonstigen Verbesserungen, diesen Menschen will und kann man wohl nicht ändern.«21 Bis in die Führungsspitze lassen sich derartige Reaktionen nachweisen, die wohl nicht unerheblich zu einer weiteren Radikalisierung der Judenpolitik beigetragen haben dürften.22

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Zur Biographie von Gramß vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 99 f., 476 f. Das Zitat stammt aus einem undatierten Brief von Ernst Gramß an seine Frau, wahrscheinlich von Dezember 1939 (Nachlass Gramß; Kopie im Besitz des Verfassers ). Ernst Gramß an seine Frau, o. D., ca. November / Dezember 1939 ( Nachlass Gramß ). Ernst Gramß an seine Frau, o. D., ca. November / Dezember 1939 ( ebd.). Hervorhebung im Original. Dieser Brief wurde kurz nach dem vorstehend zitierten geschrieben. Ernst Gramß an seine Frau, o. D., ca. November / Dezember 1939 ( ebd.). Walter Manoschek, »Es gibt nur eines für das Judentum : Vernichtung.« Das Judenbild in deutschen Soldatenbriefen 1939–1944, Hamburg 1995, S. 17. Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 46 f.

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2. Handlungsspielräume II : Die Ausbeutung der Landwirtschaft Die ungehemmte Radikalität und Gewalt der neuen »Herren« im Lande traf die Juden zwar besonders, sie richtete sich aber von Anfang an auch gegen die nichtjüdische polnische Bevölkerung. Geradezu idealtypisch lässt sich das bereits genannte Bündel an Faktoren für radikale Herrschaftspraxis am Beispiel der Ausbeutung der polnischen Landwirtschaft zeigen. Das besetzte Polen war zur hemmungslosen Ausplünderung freigegeben, sowohl die Menschen, die mit zunehmender Gewalt zur Arbeit im Reich zwangsweise rekrutiert wurden,23 als auch die materiellen und landwirtschaftlichen Ressourcen. Infolgedessen gehörten die Arbeitsverwaltung und die Landwirtschaftsverwaltung zu denjenigen Bereichen, die als erste installiert wurden und eine besonders hohe Organisationsdichte aufwiesen. Vorrangiges Ziel der Landwirtschaftsverwaltung war die Steigerung der Erträge und die möglichst restlose Erfassung der Ernten, was während der gesamten Besatzungszeit nach dem gleichen Muster verlief : In der Krakauer Zentrale wurden die Ablieferungskontingente für die einzelnen Distrikte festgelegt, die diese wiederum auf ihre jeweiligen Kreise umlegten. Die Kreishauptmannschaften schließlich wiesen den Gemeinden und Gütern ihre Kontingente zu, wo ab 1940 Erfassungsausschüsse, die sich aus dem Gemeindevorsteher (Vogt), angesehenen Bauern, Priestern und Lehrern zusammensetzten, das Ablieferungssoll jedes einzelnen Hofes aushandelten. Für die termingerechte vollständige Erfüllung des Kontingents hafteten die Ausschussmitglieder persönlich, ohne dass sie auch nur den geringsten Einfluss auf die Höhe des Kontingents hatten. Damit sparte die deutsche Besatzungsverwaltung nicht nur Personal ein, sondern verlagerte zudem zahlreiche Konflikte in die Ausschüsse und Dörfer.24 Jeweils zur Erntezeit wurde eine Verordnung veröffentlicht, die die Landwirte zur Ablieferung der festgesetzten Kontingente verpflichtete. Im Sommer 1942 trat eine Änderung ein, als Generalgouverneur Frank im Juli die »Verordnung zum Schutze der Ernteerfassung« erließ, in der er den »Ernteausnahmezustand« erklärte. Die Beschädigung oder Vernichtung landwirtschaftlicher Produkte, die »böswillige« Nichtablieferung und der Schleichhandel in größerem Ausmaß wurden fortan mit dem Tode bestraft, auch der Aufruf zu einem dieser »Vergehen«.25

23 24 25

Vgl. mit besonderem Augenmerk auf die Beteiligung der Zivilverwaltung : Roth, Herrenmenschen, S. 119–151. Vgl. mit weiterführender Literatur ebd., S. 154. Vgl. Verordnung zum Schutze der Ernteerfassung vom 11.7.1942. In : Karol Marian Pospieszalski, Hitlerowskie »prawo« okupacyjne w Polsce. Wybór dokumentów i próba syntezy, Teil II : Generalnia Gubernia. Poznań 1958 ( Documenta Occupationis VI ), S. 487.

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Ähnliche Verordnungen ergingen auch in den folgenden Jahren, erweitert um weitere Vergehen.26 An der Praxis änderten diese Verordnungen, die durchaus auch als Signal an Berlin und als Reaktion auf den wachsenden Druck von dort gesehen werden können, jedoch wenig. Vor allem »legalisierten« sie die Praxis, zu der einige Kreishauptleute aus eigener Initiative bereits 1940 übergegangen waren, als sie bei der Durchsetzung der Ablieferungspflicht auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen waren. Diese lokalen Initiativen – darunter fielen Polizeirazzien, individuelle und kollektive Geldstrafen, Verhaftungen, Deportation zur Zwangsarbeit, Einweisung in ein Straf - oder Arbeitslager sowie die Beschlagnahmung des Hofes und des Viehs – setzten sich bald schon im gesamten Generalgouvernement durch, beflügelt durch eine gewisse Wettbewerbssituation der Kreishauptleute untereinander. Die Regierung des Generalgouvernements in Krakau griff einzelne Maßnahmen auch auf und empfahl sie den anderen zur Nachahmung oder erließ entsprechende Verordnungen. Wiederum gehörte Ernst Gramß zu den Vorreitern eines radikalen Kurses. Er führte, kaum dass er zwei Wochen als Kreishauptmann im Kreis Sokołów im Amt war, eine der ersten »Strafexpeditionen« durch. Offenkundig wollte er sich auf seinem ureignen Gebiet der Landwirtschaft besonders profilieren und daher hart durchgreifen. An seine Frau schrieb er etwas nebulös darüber : »Heute hatte ich eine Expedition durchzuführen – unsere Gemeinden lieferten kein Vieh mehr nach Warschau, es wird nun mit Polizei geholt, da kannst Du so Dinge erleben.«27 Die Gewalt rechtfertigte er mit dem angeblichen Bedürfnis der polnischen Bevölkerung nach einer »harten Hand«, die sie führt : »An sich aber sind die Menschen gutartig wenn sie wissen, dass harte Zucht herrscht, wenn der Pan Starost, so nennen sie mich, sie prügelt, ist er ein guter Pan, der was taugt, ist man locker, ist er ein schlechter Pan, der kein Maß hat.« Andere sollten bald seinem Beispiel folgen.28 Diese und andere harten Maßnahmen erhöhten die Ablieferungen nur kurzzeitig. Auf die bald wieder einsetzenden Schwierigkeiten reagierten die Verantwortlichen neuerlich mit einem Anziehen der Gewaltschraube und mit neuen Methoden, so etwa mit der Einrichtung von Straflagern für Bauern. Hier wurde Alfred Brandt im Kreis Puławy initiativ, der schon im September 1940 in Kazimierz Dolny ein Straflager für säumige Bauern errichten ließ. Vorher hatte er es erfolglos mit der abschreckenden Enteignung einiger Bauern versucht. Aus jeder Gemeinde, in der es Probleme gab, ließ Brandt zehn Bauern ins Lager einweisen, 26

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Vgl. Verordnung zum Schutz der Ernteerfassung und zur Ernährungssicherung im Wirtschaftsjahr 1943/44 vom 14. 7. 1943. In : ebd., S. 487 f.; Verordnung zum Schutze der Ernteerfassung und Volksernährung im Wirtschaftsjahr 1944/45 vom 13.7.1944, ebd., S. 489 f. Ernst Gramß an seine Frau, ca. Ende Juni 1940 ( Nachlass Gramß ). Das folgende Zitat ebd. Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 157 f.

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die dort im nahe gelegenen Steinbruch arbeiten mussten. Ihre Höfe übernahmen vertriebene Bauern aus dem Reichsgau Wartheland. Erst nach vollständiger Erfüllung des Kontingents bekamen die Familien die Bauern frei.29 Zu solch radikalem und erfindungsreichem Handeln wurden die Kreishauptleute geradezu angestachelt, indem beispielsweise eine Wettbewerbssituation zwischen ihnen hergestellt wurde. Regelmäßig erstellten die Distriktverwaltungen Listen über den Stand der Kontingenterfassung in den einzelnen Kreisen und ließen diese unter den Kreishauptleuten kursieren. Wer hier einen guten »Tabellenplatz« hatte, konnte sich in der Wahl seiner Mittel bestätigt sehen, die anderen waren einem Rechtfertigungs - und Handlungsdruck ausgesetzt. Sie konnten nun die erprobten Methoden ihrer erfolgreicheren Kollegen übernehmen oder aber eigene Wege finden, Plätze gut zu machen. Zur Verbreitung der radikalen Praxis trugen die regelmäßigen Treffen der Kreishauptleute und wohl auch ein informeller Austausch untereinander bei. Die Einrichtung von Straf - und Arbeitslagern wurde 1941 rasch zur allgemeinen Praxis, zumal sich ab 1941 der Druck noch einmal erheblich erhöhen sollte. Der Aufmarsch der Wehrmacht gegen die Sowjetunion ließ die Anforderungen an Nahrungsmitteln sprunghaft ansteigen, überdies wurde vieles wild »requiriert«. Zudem war eine Kürzung der Rationen der deutschen Bevölkerung im Reich zugunsten der Wehrmacht kategorisch ausgeschlossen, so dass die Menschen in den besetzten Ländern für die Aufrechterhaltung des Lebensstandards im Reich hungern mussten und die Bauern noch mehr ihrer Erträge abliefern mussten.30 Damit war auch der Handlungsdruck auf die verantwortlichen Kreishauptleute massiv gestiegen und die Versuchung, zu radikalen Mitteln zu greifen, ungleich größer; ein rassistisches Weltbild, in dem die Slawen als minderwertig galten, und die Kriegssituation waren bereitwillig herangezogene »moralische« Rechtfertigungen, so denn überhaupt jemand einen Anlass zur ( Selbst )Rechtfertigung gesehen haben mag. 1941 stieg die Zahl der »Strafexpeditionen«, der Verhaftungen, Enteignungen, Beschlagnahmungen und Geldstrafen sprunghaft an. Erstmals kam es auch zu Erschießungen und zu Todesurteilen gegen Bauern. In den nun zahlreichen Straflagern waren die Bedingungen zudem so katastrophal, dass sich dort die Todesfälle mehrten.31 Beispielhaft ist hier wiederum Ernst Gramß. Die Ernte 1941 läutete er mit Drohungen ein, die er schon bald in die Tat umsetzte. Am 29 30

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Vgl. Der Kreishauptmann des Kreises Puławy, Lagebericht für den Monat Oktober 1940 vom 6.11.1940 ( BArch, R 52III /25, Bl. 86 f.). Vgl. Gerhard Eisenblätter, Grundlinien der Politik des Reichs gegenüber dem Generalgouvernement, Phil. Diss., Frankfurt a. M. 1969, S. 340 ff.; Hans - Erich Volkmann, Landwirtschaft und Ernährung in Hitlers Europa 1939–1945. In : Militärgeschichtliche Mitteilungen, 35 (1984). S. 9– 74, hier 42. Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 161.

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21. August forderte er die Ablieferung von 30 Prozent des Kontingents bis zum 15. September. Die Ablieferung lief allerdings nur schleppend an. Mit harter Bestrafung hatten die Bauern daher schon ab dem 30. August zu rechnen, wenn sie bis zu diesem Termin noch kein oder »unverhältnismäßig wenig« Getreide abgeliefert hatten, so die ungenaue Vorgabe, die Raum für Interpretationen ließ. Diese Bauern würden, so Gramß, »als Saboteur betrachtet und dementsprechend behandelt«, eine kaum verhüllte Drohung mit der Todesstrafe.32 Bereits einen Monat später führte er eine »Strafaktion« in zwei Dörfern durch. Den säumigen Bauern ließ er Getreide und Vieh weit über das geforderte Kontingent hinaus wegnehmen. Zu Verhaftungen war es aber noch nicht gekommen. Die Bevölkerung informierte er über seine Maßnahme wieder durch Plakatanschläge. Diese Nachricht verband Gramß mit einer eigentümlichen Mischung aus Appell, Drohung und Propaganda : »Ich werde diese Aktionen weiter fortführen und zwar werden stets die schlechtesten Gemeinden zuerst betroffen und als nächste gefasst. Es liegt also in Eurer Hand, weitere derartige Zwangsmaßnahmen zu verhindern. Würde ich hier Milde walten lassen und auf eine Einbringung des Kontingents verzichten, so wäre dies ein Verbrechen gegen die polnische Bevölkerung in den Städten. Ich wünsche, dass die Bevölkerung meines Kreises genau so Ihren Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit nachkommt wie es Eure Volksgenossen jenseits des Bugs aus Dankbarkeit für Ihre Befreiung von der bolschewistischen Blutherrschaft selbstverständlich tun. Heute geht es nicht darum, die Not des Volkes auszunützen und möglichst auf Schleichhandelswegen große Gewinne zu erwerben, sondern durch Schaffung einer Ordnung, durch gerechte Verteilung der Lebensgüter die Bevölkerung durch diesen Krieg zu bringen.«33 Damit stellte er die resistenten Bauern außerhalb einer von ihm halluzinierten solidarischen Gemeinschaft von Stadt - und Landbevölkerung unter vermeintlich gerechter deutscher Leitung. Die »harte Zucht«, die die Bevölkerung seiner ideologisch verblendeten Sicht zufolge von ihm als »Pan Starost« erwartete, diente nach diesem Legitimationsschema dazu, gemeinsam den Krieg zu überstehen. Die Verantwortung für Gewaltanwendungen wie für Versorgungsschwierigkeiten lag für Gramß offensichtlich bei der Bevölkerung, während er sein eigenes Handeln so zu einem moralischen Handeln umdeuten konnte. In seinem Verständnis war es Dienst an der guten Sache, eben der gerechten Versorgung der Bevölkerung im Krieg gegen den Bolschewismus. Die »Strafaktionen« und die Maueranschläge zeigten aber nicht die erhoffte Wirkung. Gramß ließ daraufhin Ende September 1941 weitere Gemeinden heim-

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Der Kreishauptmann in Sokołów, Bekanntmachung Nr. 120 vom 21.8.1941 ( Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej [ AIPN ], Afisze i plakaty 46t /2). Der Kreishauptmann in Sokołów, Bekanntmachung Nr. 132 vom 22.9.1941 ( AIPN, Afisze i plakaty 46t /3).

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suchen, Vieh und Getreide beschlagnahmen sowie einen Schulzen in das von ihm eingerichtete Arbeitslager Treblinka überführen, weil dieser die Plakate nicht ausgehängt und sich nicht hinreichend engagiert habe. Gramß’ Ton fiel immer stärker aus dem Rahmen der nüchternen Verwaltungssprache und offenbarte, dass es für ihn offenkundig mehr und mehr zu einer persönlichen Angelegenheit wurde : »Bauern, ich warne Euch ! Wenn ich zu einer Aktion das Dorf betrete, ist es zu spät. Die Ausrede, ich wollte abliefern, zieht dann nicht mehr.«34 Durch die widerständige Haltung der Bauern geriet der Kreis Sokołów innerhalb des gesamten Generalgouvernements ins Hintertreffen, bei der Ablieferung der Kontingente nahm er Gramß zufolge den letzten Platz ein.35 Diese schlechte Bilanz musste den Reichslandwirtschaftsrat Gramß besonders empfindlich treffen. Innerhalb weniger Tage bekam die Bevölkerung immer wieder neue Plakate zu Gesicht, mittels derer er über »Strafaktionen« informierte und neue androhte. Nicht nur der Ton wurde immer rüder, auch die Drohungen und Maßnahmen wurden radikaler. Als Strafe für das Vergraben von Getreide drohte Gramß den Bauern am 2. Oktober mit dem Niederbrennen oder Abreißen ihrer Höfe. Nach weiteren Beschlagnahmen in diversen Dörfern drohte er am 9. Oktober schließlich allen Bauern, die ihren Ablieferungspflichten gar nicht oder nur ungenügend nachkamen, mit der Einweisung ins Arbeitslager Treblinka, das sich in seinem Kreis befand.36 Keine Woche später setzte Gramß seine Drohungen in erheblichem Umfang in die Tat um. Da seine Geduld zuende sei, so schrieb er, habe er denjenigen Bauern, die immer noch nicht ablieferten, »die Quittung gegeben« : 36 Bauern und den Schulzen des Dorfes Stoczek, 37 Bauern aus Brzozka sowie 13 Schulzen und Dorfvertrauensmänner ließ er nach Treblinka zur Zwangsarbeit bringen. Allen übrigen drohte er die gleichen Maßnahmen an.37 In den nächsten Tagen folgten weitere Enteignungen, Verhaftungen und Einweisungen nach Treblinka. Gramß hatte sich in diesem Erntejahr für besondere Härte entschieden. Den Bauern des Kreises drohte er nach einer Serie von Verhaftungen am 23. Oktober 1941 finster : »[ E ]s entgeht mir in diesem Jahr keiner.«38 Andere Kreishauptleute verfuhren ähnlich. In diesem Handeln manifestiert sich ein Herrenmenschen - Gefühl, unumschränkter Herrscher über eine praktisch rechtlose Bevölkerung zu sein,

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Der Kreishauptmann in Sokołów, Bekanntmachung Nr. 136 vom 1.10.1941 ( AIPN, Afisze i plakaty 46t /4). Ebd. Der Kreishauptmann in Sokołów, Bekanntmachung Nr. 146 vom 9.10.1941 ( AIPN, Afisze i plakaty 46t /10). Der Kreishauptmann in Sokołów, Bekanntmachung Nr. 150 vom 13. 10. 1941, ( AIPN, Afisze i plakaty 46t /12). Der Kreishauptmann in Sokołów, Bekanntmachung Nr. 155 vom 23. 10. 1941 ( AIPN, Afisze i plakaty 46t /15).

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das sich auch in den privaten Lebensumständen niederschlug, die dieses wiederum bestärkten.39 Nicht nur die allgemeine Besatzungspolitik in Polen und die Behandlung der polnischen Bevölkerung waren von einer tief sitzenden Slawenfeindlichkeit getragen. Auch das praktische Handeln Einzelner in den verantwortlichen Stellen vor Ort lässt sich bisweilen geradezu idealtypisch auf eine tiefsitzende polenfeindliche Einstellung zurückführen, die ihre Wurzeln auch in der jeweiligen Biographie hat. Neben führenden Funktionären des Besatzungsapparats wie Arthur Greiser im Warthegau40 lässt sich dies auch in den unteren Instanzen feststellen, so auch bei den Kreis - und Stadthauptleuten. Der bereits erwähnte Alfred Brandt, Kreishauptmann in Puławy im Distrikt Lublin, illustriert dies exemplarisch. Sein radikales Handeln gegen die Bauern seines Kreises lässt sich neben den bereits genannten Faktoren auch darauf zurückführen, dass er als gelernter Landwirt diesen Bereich besonders im Blick hatte und dort Potential für eine Profilierung sah. Aber es lässt sich auch ein ganz persönlicher Hintergrund ausmachen. Brandts Familie hatte wegen der Gebietsabtretungen an Polen nach dem Ersten Weltkrieg ihren Großgrundbesitz in der Region von Gnesen verloren. Er hatte also auch noch eine persönliche Rechnung mit Polen offen, die er nun, nachdem er sich freiwillig um einen Einsatz im besetzten Polen beworben hatte, begleichen konnte. Zudem war Brandt ein hochgradig ideologisierter Mann, der bereits früh in die NSDAP eingetreten und zuvor in völkischen Organisationen aktiv gewesen war.41 Die radikale Praxis im besetzten Polen speiste sich aus einem ganzen Bündel an Faktoren, angefangen von biographischen Hintergründen, einer allgemein polenfeindlichen Politik des Regimes, das den allgemeinen Rahmen absteckte und die grobe Richtung vorgab, wobei es den ausführenden Männern einen weiten Handlungsspielraum zugestand, diese initiativ und mit eigenen Methoden umzusetzen. Zusätzlich angestachelt wurde dies durch einen gewissen Konkurrenzdruck bei der Erfüllung beispielsweise der Kontingente von Zwangsarbeitern oder von landwirtschaftlichen Erzeugnissen. In dieser Gemengelage waren es die radikalen Kräfte, die den Ton angaben, die von oben auch jenseits der Legalität gedeckt wurden und so Druck auf die übrigen aufbauten. Dies manifestierte sich in einem Herrenmenschen - Bewusstsein, in dem alte polenfeindliche Stereotype aufgingen und dessen Leidtragende die besetzte, weitgehend rechtlose polnische und jüdische Bevölkerung war. Die Besatzungspraxis ging weit über nationalistisch geprägte polenfeindliche Konzepte und Maßnahmen der Vergangenheit, etwa zu Zeiten Bismarcks, hinaus. 39 40 41

Ausführlich u. a. am Beispiel von Ernst Gramß : Roth, Herrenmenschen, S. 50–56. Vgl. Catherine Epstein, Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, Oxford 2010. Zur Biographie Brandts vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 94 f. und 462.

Johannes Frackowiak Die »Deutsche Volksliste« als Instrument der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten Polens 1939–1945

»Bei der Erfassung [...] muss Grundsatz sein, dass kein deutsches Blut fremdem Volkstum nutzbar gemacht wird.«1 Dieses »rassisch« motivierte Postulat war eine, wenn nicht sogar die zentrale ideologische Aussage in Heinrich Himmlers »Erlass für die Überprüfung und Aussonderung der Bevölkerung in den eingegliederten Ostgebieten«. Der Volkstumserlass des Reichsführers - SS sollte die Grundsätze für die »Deutsche Volksliste« ( DVL ) klären, ein von den NS - Volkstumsbürokraten geschaffenes Verfahren für die Trennung der deutschen von der sogenannten »fremdvölkischen« Bevölkerung in den im Oktober 1939 annektierten Gebieten Westpolens. Bereits seit 1933 verfolgten die Nationalsozialisten eine Politik der Durchsetzung des ethnischen Prinzips in Bezug auf den Nationalstaat, die im »Anschluss« Österreichs und der von der Tschechoslowakei erpressten Abtretung der Sudetengebiete an das Reich 1938 triumphierte. Auch der Angriff auf Polen 1939 war mit dem »Volkstumskampf« zwischen Deutschen und Polen begründet worden.2 Nach der Annexion Westpolens durch das NS - Regime beabsichtigten dessen Volkstumspolitiker und - bürokraten – vor allem im Dunstkreis des von Adolf Hitler am 7. Oktober 1939 zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« ernannten Reichsführers - SS – die vollständige Germanisierung der »eingegliederten Ostgebiete«. Durch ethnische Säuberung – im NS - Jargon »völkische Flurbereinigung« genannt – sollte eine territoriale Trennungslinie zwischen dem deutschen »Volkstum« in den eingegliederten Gebieten sowie polni-

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Erlass des Reichsführers - SS als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ( RKF) vom 12. 9. 1940 ( BArch, NS 19/3979, Bl. 29–33). Abgedruckt in Karol Marian Pospieszalski (Hg.), Hitlerowskie »prawo« okupacyjne w Polsce. Wybór dokumentów, Teil I : Ziemie »wcielone«, Poznań 1952 ( Documenta Occupationis V [ Doc. Occ. V ]), S. 114–118. Vgl. Wolfgang Benz, Zwangsmigration von Volksdeutschen im Zweiten Weltkrieg. In : ders., Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert, München 2006, S. 108– 124, hier 108 f.

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schem und jüdischem »Volkstum« außerhalb dieser geschaffen werden.3 Als sich die Erkenntnis durchsetzte, dass eine derartige Grenze zumindest während der Dauer des Krieges nicht zu erreichen sein würde, mussten sich die nationalsozialistischen Volkstumsprotagonisten mit einer volkstumspolitisch - »rassischen« Trennlinie innerhalb der annektierten Territorien abfinden.4 Am 4. März 1941 erfolgte durch Verordnung des Reichsministers des Innern (RMdI ) die reichsweite Einführung der Deutschen Volksliste.5 Nur wenige Tage später, am 15. März, wurden die Deportationen aus den eingegliederten Gebieten in das Generalgouvernement im Zuge der Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion gestoppt.6 Die durch das NS - Regime präferierte Germanisierung der Ostgebiete durch Bevölkerungsaustausch – Deportationen von Polen und Juden ins Generalgouvernement bei gleichzeitiger Neuansiedlung von Reichsdeutschen sowie Volksdeutschen aus Ost - und Südosteuropa in den annektierten Gebieten – konnte damit zumindest vorerst nicht fortgesetzt werden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Gauleiter in den annektierten Gebieten Westpolens ebenfalls bereits die Notwendigkeit erkannt, den größten Teil der dort wohnhaften Bevölkerung unter Kriegsbedingungen als dringend benötigte Arbeitskräfte in ihren Territorien zu halten. Selbst Arthur Greiser, der bereits seit Herbst 1939 versuchte, das ideologische Postulat der Trennung von Deutschen und Polen in dem von ihm geführten Warthegau strikt umzusetzen, hatte bereits Anfang März 1941 einen weitgehenden Deportationsstopp angeordnet.7 Die DVL musste demnach als volkstumspolitisches Instrument zur Trennung von Deutschen und Polen unter der Bedingung eines zumindest vorläufigen Verbleibs einer großen Zahl an polnischsprachiger Bevölkerung in den annektierten Gebieten fungieren. Der Beitrag nähert sich der Problematik der Deutschen Volksliste aus unterschiedlichen Blickwinkeln : Zum einen stellt sich die Frage, wie sich der eingangs erwähnte Grundsatz, kein deutsches Blut fremdem Volkstum nutzbar zu machen, sowie ähnliche Ideologeme in der Praxis der DVL niederschlugen. Von

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Zum Terminus »ethnische Säuberung« vgl. Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 10–14; zur »völkischen Flurbereinigung« durch die Nationalsozialisten Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995, S. 35–50. Vgl. Jerzy Marczewski, Hitlerowska polityka narodowościowa na terenie Okręgu Warty 1939– 1945. In : Włodzimierz Jastrzębski ( Hg.), Przymus germanizacyjny na ziemiach polskich wcielonych do Rzeszy Niemieckiej w latach 1939–1945, Bydgoszcz 1993, S. 59–82, hier 68 f. Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 4.3.1941. In : RGBl. 1941, Teil I, S. 118. Vgl. Christopher Browning, Die Entfesselung der Endlösung. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939–1942, Berlin 2006, S. 158 f. Vgl. Gerhard Wolf, Ideologie und Herrschaftsrationalität. Nationalsozialistische Germanisierungspolitik in Polen, Hamburg 2012, S. 263 f.

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Interesse ist hierbei, in welchem Verhältnis die Rassen - und Volkstumsideologie des Nationalsozialismus beispielsweise zu den ökonomischen Anforderungen des Besatzungsregimes vor Ort oder zu anderen herrschaftsrationalen Erwägungen stand. Komplementär dazu soll das Verhalten der durch das DVL - Verfahren betroffenen Bevölkerung in den Blick genommen werden. Zentral sind dabei die Motive für die gegebenenfalls freiwillige Einschreibung vor allem der polnisch und kaschubischsprachigen Bevölkerungsteile in die Volksliste, aber auch für deren widerständiges Verhalten im Falle von Druck bezüglich der Eintragung. Diesen Fragen soll anhand ausgewählter Fallbeispiele aus der Praxis der DVL nachgegangen werden. Zur Erhellung der Intentionen der »Erfinder« und Exekutoren der DVL dienen vor allem Einzelfälle, die vor dem »Obersten Prüfungshof für Volkszugehörigkeitsfragen in den eingegliederten Ostgebieten«, dem höchsten Gremium der DVL, verhandelt wurden. Das Verhalten der durch das Volkslistenverfahren Betroffenen hingegen illustrieren eine Reihe von Vorgängen aus den Reichsgauen Danzig - Westpreußen und Wartheland.8 Die beiden Perspektiven sind aufgrund der Interdependenz des Handelns von Herrschenden und Beherrschten dabei allerdings kaum voneinander zu trennen. Vorangestellt werden soll zunächst ein kursorischer Überblick über Strukturen und Verfahrensweise der DVL.

1. Strukturen und Verfahrensweise der Deutschen Volksliste Die DVL entstand nach dem Vorbild der »DVL Wartheland«, eines Verfahrens, das der Reichsstatthalter und Gauleiter des Warthegaus, Arthur Greiser, dort bereits im Herbst 1939 ins Leben gerufen hatte und dessen Durchführung im März 1941 weit fortgeschritten war.9 Die ( neue ) DVL war in vier Abteilungen gegliedert, in die jene Bewohner der »eingegliederten Ostgebiete«, die bis zur Zerschlagung Polens die polnische oder Danziger Staatsangehörigkeit besessen hatten, mit Ausnahme von sogenannten »Fremdblütigen« wie Juden und Zigeunern gemäß ihrer Nähe zum »deutschen Volkstum« eingruppiert werden sollten. Dies betraf auch Staatenlose, die zu einem früheren Zeitpunkt polnische oder Danziger Staatsangehörige gewesen waren. Die Abteilungen 1 und 2 reservierten 8

9

Grundlage für die diesbezüglichen Aussagen bildet die qualitative Analyse eines Samples aus 400 Einzelfällen der DVL aus den Landkreisen Berent, Karthaus und Dirschau des Reichsgaues Danzig - Westpreußen sowie 500 Fällen aus der Stadt Posen sowie den Landkreisen Wollstein und Kempen des Warthegaus. Die vollständige Auswertung dieser Daten wird in der 2014 erscheinenden Monographie des Autors »Die Deutsche Volksliste als Instrument der Germanisierungspolitik des Nationalsozialismus in den annektierten Gebieten Westpolens 1939–1945« erfolgen. Vgl. dazu Catherine Epstein, Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, Oxford 2010, S. 193–197, 208 f.; Wolf, Ideologie, S. 266–277.

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die Nationalsozialisten dabei für »Bekenntnisdeutsche«, die bereits vor 1939 insbesondere durch Mitgliedschaft in Organisationen der deutschen Minderheit in der Öffentlichkeit als Deutsche in Erscheinung getreten waren ( Abteilung 1), sowie »passive Deutsche«, die sich ihr »Deutschtum« zumindest im familiären Rahmen bewahrt hatten ( Abteilung 2). In Abteilung 3 sollten »deutsch - polnische Zwischenschichten« wie Oberschlesier, Kaschuben und Masuren sowie polnische Ehepartner von Deutschen der Kategorien 1 und 2 eingruppiert werden. Abteilung 4 war für sogenannte, nach Ansicht der Volkstumsbürokratie politisch im »Polentum« aufgegangene »volksdeutsche Renegaten« bestimmt.10 Die Abteilungen 1, 2 und 3 der DVL entsprachen dabei etwa den Kategorien A, B und C der DVL Wartheland, während Abteilung 4 die Kategorien D (»im Polentum aufgegangene Deutschstämmige, die sich nicht aktiv gegen das Deutschtum vergangen haben«) und E (»Deutschstämmige mit polnischem Nationalbewusstsein und erwiesener deutschfeindlicher Betätigung«) zusammenfasste.11 Der Eingruppierung in die DVL folgte die graduell abgestufte Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit. Eine Einstufung in die Abteilungen 1 und 2 zog automatisch deren rückwirkende Verleihung zum 26. Oktober 1939 nach sich, dem Datum der Annexion des westlichen Polens durch Deutschland, und qualifizierte die Betroffenen gleichzeitig für die Reichsbürgerschaft gemäß dem Reichsbürgergesetz von 1935.12 Die Angehörigen der Abteilung 3 sollten ursprünglich, wie in der Verordnung vom März 1941 vorgesehen, lediglich durch Einzeleinbürgerung die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können, jene der Abteilung 4 durch Einzeleinbürgerung sogar nur die Staatsangehörigkeit auf Widerruf. Nach einem längeren Diskussionsprozess in den Führungszirkeln des NS - Staates sah die Zweite Verordnung des RMdI über die DVL vom 31. Januar 194213 die Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit ohne zwingendes Einzeleinbürgerungsverfahren für die Abteilung 3 vor, verknüpfte diese jedoch mit einem auf zehn Jahre befristeten Widerrufsrecht seitens der deutschen Behörden. Dieses konnte ausgeübt werden, wenn das »Rückdeutschungsziel«14 seitens der Betroffenen verfehlt wurde. Diese Variante der deutschen Staatsangehörigkeit trat nicht rückwirkend in Kraft, sondern erst mit dem Tag der Aufnahme in die DVL. Gemäß den beiden Volkslisten - Verordnungen des RMdI erhielten jene 10 11 12 13 14

Runderlass des RMdI vom 13. 3. 1941 ( BArch, R 49/71, Bl. 14–22). Abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 122–136. Vgl. Epstein, Model Nazi, S. 209. Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935. In : RGBl. 1935, Teil I, S. 1146. Zweite Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 31.1.1942. In : RGBl. 1942, Teil I, S. 51. Diesen Begriff verwendete Greisers Volkstumsreferent Rolf - Heinz Höppner während der Arbeitstagung des Gauamtes für Volkstumsfragen im Reichsgau Wartheland am 20./21.3.1943 in Posen. Abgedruckt in Karol Marian Pospieszalski ( Hg.), Niemiecka lista narodowa w »Kraju Warty«. Wybór dokumentów, Poznań 1949 ( Doc. Occ. IV ), S. 254–300, hier 266.

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ehemaligen polnischen und Danziger Staatsangehörigen, die nicht in die DVL aufgenommen wurden, sowie die nicht eingebürgerten Angehörigen der Abteilung 4 den Status eines »Schutzangehörigen des Deutschen Reiches«, der erstmals 1938 nach dem sogenannten »Anschluss« für die österreichischen Juden eingeführt worden war.15 Besagte Minimalvariante der Staatsangehörigkeit, deren Inhaber de facto im Laufe der Zeit immer mehr wie Staatenlose behandelt wurden, blieb den Juden und Zigeunern in den »eingegliederten Ostgebieten« gemäß der Zweiten Verordnung über die DVL allerdings versagt. Vielmehr war die unterste Position in der völkisch - rassischen Hierarchie der annektierten Gebiete für die Polen vorgesehen. Juden sollte es gemäß den Planungen des NS Regimes dort ebenso wie im »Altreich« zeitnah nicht mehr geben, weshalb eine Regelung ihrer Staatsangehörigkeit nicht für erforderlich gehalten wurde.16 Die in den »eingegliederten Ostgebieten« vorgenommene Bindung der deutschen Staatsangehörigkeit an das ausschließliche Kriterium der deutschen Volkszugehörigkeit war Ergebnis des von Dieter Gosewinkel beschriebenen Prozesses der »Nationalisierung der Staatsangehörigkeit«, der bereits einige Jahrzehnte andauerte und den das NS - Regime quasi zum Abschluss gebracht hatte : »Die Staatsangehörigkeit im Zweiten Weltkrieg wurde zur Funktion der nationalsozialistischen Rassepolitik.«17 Das Prozedere des Verfahrens wurde in einem nicht veröffentlichten Runderlass des RMdI vom 13. März 1941 geregelt, und zwar »im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers und dem Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums«.18 Grundlage der Erfassung der »deutschen Volkszugehörigkeit« stellte ein standardisierter »Fragebogen zur Feststellung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten« dar, der von den Kandidaten für die Eindeutschung auszufüllen war und in dem über Folgendes Auskunft gefordert wurde : Über die Staatsangehörigkeit des / der Betreffenden am 25. Oktober 1939, seine / ihre Muttersprache sowie etwa vorhandene Sprachkenntnisse, die Mitgliedschaft in deutschen bzw. polnischen Parteien und Organisationen und die »Volkszugehörigkeit« des Ehepartners. Darüber hinaus sollten zusätzliche Angaben über die »Zugehörigkeit zum deutschen Volk« ( z. B. Schulbesuch, Zeugen, Verfolgungen, insbesondere Gefängnis - und Geldstrafen, wirtschaftliche Benachteiligungen ) gemacht werden. Zu versichern war, dass keiner der vier Großelternteile »der jüdischen Rasse oder Religion 15

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Bezüglich der Vorbildwirkung der rechtlichen Situation der Juden im annektierten Österreich vgl. Czesław Madajczyk, Die Okkupationspolitik Nazideutschlands in Polen 1939–1945, Berlin ( Ost ) 1987, S. 476. Vgl. ebd., S. 460. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 407. Runderlass des RMdI vom 13.3.1941, Präambel.

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angehört hat«. Höhepunkt des Ganzen war die abschließende Erklärung, wonach man sich »zum deutschen Volkstum bekenne«.19 In einem beigefügten »Ergänzungsfragebogen zur Ermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit« mussten Angaben über das religiöse Bekenntnis, die Arbeitsstelle sowie die Vorfahren des Antragstellers bis zu den Großeltern zurück gemacht werden. Weiterhin wurden konkret die Zeitdauer des Besuchs deutscher bzw. polnischer Schulen, die Angabe der Nationalität im polnischen Militärpass sowie die konkrete Zugehörigkeit zu den im ursprünglichen Fragebogen angegebenen Vereinigungen vor dem 1. September 1939 abgefragt. Bürgen für das Bekenntnis zum deutschen Volkstum sollten namhaft gemacht werden. Genau aufzuführen waren die eigenen Kinder, deren Geburtsdatum, Religionsbekenntnis und Muttersprache sowie der Zeitraum eines etwaigen Schulbesuchs in deutschen bzw. polnischen Schulen bis 1939. Am Schluss dieses Fragebogens musste der Antragsteller versichern, dass er sich »stets, auch vor dem 1. 9. 1939, zum deutschen Volkstum bekannt« habe und die Drohung zur Kenntnis nehmen, wonach »ich mich im Falle falscher Angaben außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft stelle«.20 Der erste Fragebogen war bereits Bestandteil eines Runderlasses des RMdI, der im November 1939 kurz nach der Annexion Westpolens bezüglich des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit erging. Dieser Erlass »atmete« noch die bezüglich der Staatsangehörigkeit im Reichsinnenministerium vorherrschende Sichtweise dieses Vorgangs als eines bloßen Verwaltungsaktes als Folge der territorialen Eingliederung, wobei völkisch - rassische Aspekte weitgehend ausgeblendet blieben.21 Der Ergänzungsfragebogen hingegen war 1940 im Warthegau entwickelt worden, weil den dortigen Volkstumsbürokraten der Fragebogen des RMdI für die Identifizierung »völkisch zweifelhafter Elemente« nicht ausreichend schien, und fand fortan bei der »DVL Wartheland« Anwendung.22 In ihm wurden Fragestellungen bezüglich der Abstammung des Betreffenden sowie dessen Verhalten zwischen 1918 und 1939 vertieft. So ließen sich z. B. polnische Vorfahren aufgrund ihrer Vor - und Familiennamen – auch wenn dies keineswegs ein eindeutiges Kriterium war – in Verbindung mit deren dann meist katholischer Konfession kaum verheimlichen. Da ebenso die Angabe der Geburtsorte bis zu den Großeltern verlangt wurde, konnten auch Zuwanderer aus dem ehemaligen Kongresspolen und Galizien und deren Nachkommen, die den Volkstumsideologen ein besonderer Dorn im Auge waren, identifiziert werden.

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Muster des Fragebogens abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 112–114. Muster des Ergänzungsfragebogens abgedruckt ebd., S. 136 f. Runderlass des RMdI vom 25.11.1939. In : Ministerialblatt des Reichs - und preußischen Ministeriums des Innern 1939, Spalte 2385. Vgl. Wolf, Ideologie, S. 267.

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Abstammung schien den Initiatoren der DVL kein hinreichendes Kriterium für die Trennung von Deutschen und Polen zu sein, außerdem war sie entscheidend nur für die Eingruppierung in die Abteilungen 3 und 4. Für die Einstufung in die Abteilungen 1 und 2 hingegen sollte das subjektive Verhalten der Antragsteller im Hinblick auf das von ihnen behauptete »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« geprüft werden. Fiel diese Prüfung negativ aus, so konnte eine Person trotz selbst aus NS - Sicht einwandfrei deutscher Herkunft dennoch als »volksdeutscher Renegat« qualifiziert und in die dafür geschaffene Abteilung 4 der DVL eingeordnet werden. Ein weiteres Kriterium, das potentiell mit jenem der Abstammung konfligierte, war das der »rassischen Eignung«, das der SS - Komplex um Himmler in das Volkslistenverfahren »eingebracht« hatte23 und das zunächst eher unspezifisch blieb. Das änderte sich erst im Nachgang einer Anordnung Himmlers vom 30. September 1941. Gemäß dieser sollten »Rasseprüfer« des SS - Rasse - und Siedlungshauptamtes ( RuSHA ) die »rassische Überprüfung« von Kandidaten für die Abteilung 3 der DVL bzw. der in diese bereits aufgenommenen »Personen, deren deutsche Abstammung nicht mehr sicher nachweisbar ist«, vornehmen.24 Die Rasseprüfungen wurden allerdings nur an einem Teil der in Frage kommenden Bevölkerung und vor allem nicht überall in den annektierten Gebieten durchgeführt.25 Organisatorisch war die DVL in vier Ebenen gegliedert. Bei den Landratsämtern der Kreise sowie analogen unteren Verwaltungsstellen wurden »Zweigstellen der DVL« errichtet, bei den Regierungspräsidien Bezirksstellen, bei den Reichsstatthaltern bzw. Oberpräsidien Zentralstellen der DVL. Als höchste Instanz fungierte ein sogenannter »Oberster Prüfungshof für Volkszugehörigkeitsfragen in den eingegliederten Ostgebieten«. Dieser setzte sich aus dem Reichsführer - SS als »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« ( RKF ) sowie sieben von ihm ernannten Beisitzern zusammen. Je einen der Beisitzer stellten die NSDAP - Parteikanzlei, das RMdI, die Reichsleitung der NSDAP, das Reichssicherheitshauptamt ( RSHA ) sowie das RuSHA. Zwei Beisitzer sollten der ehemaligen deutschen Volksgruppe in Polen angehören. Die anderen Instanzen der DVL waren aus Vertretern der Verwaltung, des Beauftragten des RKF, der Sicherheitspolizei / des SD, der jeweiligen Gau - bzw. Kreisleitung der NSDAP sowie der 23 24

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Vgl. Wolf, Ideologie, S. 288–322. Anordnung 50/ I des RKF vom 30.9.1941 ( BArch, R 1501/125626e, Bl. 43). Abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 144 f., hier 144. Die drei Kriterien für die Aufnahme in die DVL wurden expliziert im Runderlass des RMdI vom 13.3.1941. Zu Umfang und Bedeutung der Rasseprüfungen für die DVL im annektierten Westpolen Isabel Heinemann, »Rasse, Siedlung, deutsches Blut«. Das Rasse - und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 187–303; konträr dazu Gerhard Wolf, Deutsche Volksliste. In : Michael Fahlbusch / Ingo Haar ( Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen, Institutionen, Forschungsprogramme, Stiftungen, München 2008, S. 129–135.

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örtlichen Volksdeutschen unter dem Vorsitz des jeweiligen Reichsstatthalters bzw. Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten oder Landrats bzw. Oberbürgermeisters zusammengesetzt. Da die unteren drei Ebenen bei den ordentlichen Verwaltungsbehörden errichtet wurden und damit unter der Aufsicht des RMdI standen, hatte Heinrich Himmler sich und der SS mit dem Obersten Prüfungshof zumindest das letzte Wort in Angelegenheiten der DVL gesichert.26 Das Volkslistenverfahren variierte in den einzelnen annektierten Gebieten Polens, insbesondere bei der Art und Weise der Vorerfassung der Antragsteller, verbunden vor allem mit Unterschieden im Freiwilligkeitsgrad der Antragstellung. In der Regel gilt dabei die Ausübung von behördlichem Druck hinsichtlich der Einschreibung als konstitutiv für das DVL - Verfahren im Reichsgau Danzig Westpreußen sowie in Ost - Oberschlesien ( Regierungsbezirk Kattowitz ), während im Warthegau bzw. im Regierungsbezirk Zichenau ( Ciechanów ) – zumindest im Hinblick auf die »polnische« Bevölkerung – meist auf Pressionen verzichtet wurde. Gegenüber den aus Sicht der Volkstumsbürokratie »echten« Volksdeutschen wurde allerdings auch im Warthegau und Bezirk Zichenau Zwang angewendet. Folge der unterschiedlichen Praxis war beispielsweise im Reichsgau Danzig - Westpreußen die Aufnahme einer großen Zahl von polnisch bzw. kaschubischsprachigen Personen in die Abteilung 3 der DVL, die aufgrund dessen deren zahlenmäßig stärkste Abteilung in diesem Gau wurde. Im Warthegau hingegen, wo Greiser als Voraussetzung für die Aufnahme in die Abteilung 3 eine Mindestquote deutscher Abstammung des jeweils Betreffenden von mindestens 50 Prozent forderte, machten die zu dieser Abteilung Gehörigen zahlenmäßig nur einen kleinen Teil aller Volkslistenangehörigen aus.27 Über die Anträge beriet – unabhängig von deren Zustandekommen – die jeweilige Zweigstelle der DVL. Entscheidungen ergingen nicht per Mehrheitsbeschluss, sondern wurden durch den jeweiligen Vorsitzenden gemäß dem »Führerprinzip« getroffen. Zu hören war in jedem Fall vor der Entscheidung der Kreisleiter der NSDAP, falls er nicht ohnehin gleichzeitig Landrat oder Oberbürgermeister und damit Vorsitzender der Zweigstelle oder deren anderweitiges Mitglied war. Gegen die Entscheidung konnte sowohl der Antragsteller als auch jedes Mitglied der Zweigstelle Einspruch einlegen. Letzteres erfolgte oft von Seiten der volksdeutschen Mitglieder wie auch der Vertreter des SD. Mit einem Einspruch musste sich dann die jeweils nächsthöhere Instanz bis zur Zentralstelle hinauf beschäftigen.28 Der Oberste Prüfungshof in Berlin - Halensee schließlich war kei26 27 28

Vgl. Runderlass des RMdI vom 13.3.1941. Vgl. Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 479–519; Epstein, Model Nazi, S. 209. Ein Einspruch gegen eine Entscheidung der Bezirksstelle musste von mindestens zwei Kommissionsmitgliedern unterzeichnet werden. In den Folgejahren wurde das Verfahren der DVL mehrere Male »verschlankt«, sowohl was Beschwerdemöglichkeiten und - fristen als auch den Personalbesatz der DVL - Kommissionen anging.

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ne Appellationsinstanz, sondern sollte »dafür Sorge [ tragen ], dass im Bereich aller Zentralstellen der Deutschen Volksliste nach einheitlichen Gesichtspunkten verfahren wird«.29 Zu diesem Zweck konnte er jederzeit jeden Fall von einer untergeordneten Stelle zur Entscheidung an sich ziehen.30 Das abgestufte Widerspruchsverfahren, von dem hier die Rede ist, könnte zu der Vermutung Anlass geben, das System der Deutschen Volksliste hätte ähnlich wie ein Gerichtsinstanzenzug mit der Möglichkeit zu Berufung bzw. Revision funktioniert. Dass dem ausdrücklich nicht so war, belegen Äußerungen Arthur Greisers, der als Reichsstatthalter des Warthegaus selbstherrlich in eine Entscheidung der ihm unterstellten DVL - Bezirksstelle Litzmannstadt eingriff und den dortigen Regierungsvizepräsidenten folgendermaßen kritisierte : »Es muss offenbar Ihrerseits wie bei den beteiligten Herren der Bezirksstelle die irrige Auffassung vorherrschen, die Dienststellen der Volksliste seien unabhängige Gerichtshöfe, die auf Grund unumstößlicher Gesetze Urteile fällen, also Einrichtungen sind, deren Mitglieder eine richterliche Unabhängigkeit genießen. Dieses ist in keiner Hinsicht der Fall. [...] Die Entscheidungen der Volksliste sind politische Entscheidungen, die Verantwortung für diese Entscheidung trägt derjenige, der sie anordnet, in diesem Falle ich. Ich erwarte, dass Sie in Zukunft in Kenntnis meiner Auffassung über das Wesen des Verfahrens der deutschen Volksliste meine Wünsche und Entscheidungen respektieren.«31 Damit war offensichtlich, dass in den »eingegliederten Ostgebieten« die Reichsstatthalter bzw. Oberpräsidenten, die auch Gauleiter der NSDAP in ihren Territorien waren, das Sagen in Bezug auf Entscheidungen der untergeordneten DVL - Dienststellen hatten. Allerdings konnten Entscheide der Zentralstellen und damit der Gauleiterebene durchaus durch den Obersten Prüfungshof ausgehebelt werden, was auch im eben zitierten Fall geschah, in dem die ursprüngliche Entscheidung der Bezirksstelle durch den Obersten Prüfungshof bestätigt und Greisers Intervention damit konterkariert wurde.32 Nur wenige Fälle waren allerdings der Reichsstatthalterebene derart wichtig. Meist hatten die Zweigstellen bei den unteren Verwaltungsbehörden einen beachtlichen Spielraum für ihre Entscheidung, den sie unter Beachtung der jeweils in ihrem Gau herrschenden Rahmenbedingungen nutzen konnten. Das System der Volksliste war so angelegt, dass die übergroße Mehrheit der Einzelfälle tatsächlich vor Ort in den Zweigstellen ent-

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Runderlass des RMdI vom 13.3.1941, Abs. 19 f., hier Abs. 20. Vgl. Runderlass des RMdI betreffend »Verfahren und Zuständigkeit des Obersten Prüfungshofs für Volkszugehörigkeitsfragen in den eingegliederten Ostgebieten« vom 30. 5. 1942 ( BArch, R 49/71, Bl. 43 f.). Abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 140–142. Reichsstatthalter Wartheland an DVL - Bezirksstelle Litzmannstadt vom 2. 6. 1942 ( BArch, R 49/45, Bl. 6). Entscheid des Obersten Prüfungshofs betreffend Julius S., Radelschütz, Kr. Kalisch, vom 10.2.1944 ( ebd., Bl. 184).

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schieden wurde. Die Initiatoren der DVL vertrauten einerseits auf die diesbezügliche »Kompetenz« ihrer lokalen Sachwalter, sowohl was Verwaltung und Sicherheitsapparat anbelangte, als auch auf die Volksdeutschen vor Ort. Andererseits wurde so auch die Ausführung der durchaus heiklen Aufgabe der Trennung der Deutschen von den »Fremdvölkischen« nach »unten« delegiert; heikel deswegen, weil keine sicheren Kriterien für die Einstufung einer Person als Deutscher oder Pole zur Verfügung standen. Unter diesen Umständen wollten sich Reichs - und Gauebene möglichst wenig mit dieser Problematik befassen und nur in besonders begründeten und wichtigen Zweifelsfällen eingreifen.33 Bezeichnend ist auch die Schaffung der Möglichkeit des Einspruchs durch die jeweiligen Betroffenen gegen eine Entscheidung der unteren Instanzen. Offenbar sollten auf diesem Wege »Fehlentscheidungen« vor Ort vermieden werden, die entgegen den Absichten der Volkstumsideologen möglicherweise dazu geführt hätten, einen potentiellen Deutschen »gegen seinen Willen in das nichtdeutsche Lager abzudrängen«34 oder »Fremdvölkische« »unberechtigt« in die DVL aufzunehmen. Das diesbezügliche Vertrauen in die lokalen Dienststellen war demzufolge nicht unbegrenzt.

2. Ideologie versus Pragmatismus : Entscheidungen des Obersten Prüfungshofs für Volkszugehörigkeitsfragen Im Hinblick auf die konkrete Umsetzung der erwähnten rasse - und volkstumsideologischen Vorstellungen soll nun die Entscheidungspraxis des Obersten Prüfungshofs in den Fokus rücken. Diese vermittelt sehr gut die Interdependenzen der NS - Politik in Bezug auf verschiedene Bevölkerungsgruppen im annektierten Polen, zumal sie sowohl »deutschstämmige« Personen als auch »Fremdstämmige« polnischer Herkunft sowie sogenannte »jüdische Mischlinge« betraf. Parallel dazu eröffnen die entsprechenden Vorgänge auch einen Einblick in die Sichtweise der von den Entscheidungen Betroffenen und deren teilweise offenkundige Zwangslagen. Eine Fallgruppe ist bereits angesprochen worden : Inhaber mittelständischer Betriebe aus dem Warthegau versuchten, eine Einstufung in DVL - Abteilung 2 zu erreichen, damit ihnen ihre unter Treuhänderschaft gestellten Unternehmen zurückgegeben würden. Einen Erfolg konnte der bereits erwähnte Julius S., Inhaber einer Lederfabrik in Kalisch, verzeichnen. In dessen Verfahren hatte Greiser

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Beispielsweise sollten nach dem Runderlass des RMdI vom 30.5.1942, der einen Erlass Himmlers vom Oktober 1941 referierte, alle Hochadelsfälle sowie Fälle von besonderem wirtschaftlichen Interesse prinzipiell durch den Obersten Prüfungshof behandelt werden. Runderlass des RMdI vom 13.3.1941.

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zugunsten der baltendeutschen Treuhänderin des Werks gegen die Zuerkennung der Abteilung 2 interveniert, der Oberste Prüfungshof diese letztlich aber bestätigt.35 Anders stellte sich der Fall des Baustoffgroßhändlers Edmund C. aus Posen dar. Auch hier lief im Hintergrund ein Treuhandverfahren der Treuhandstelle Posen mit dem Ziel der Veräußerung des Betriebes, der 1940 rund 1,6 Mio. RM Umsatz erwirtschaftet hatte, an den volksdeutschen Verwalter. C. machte man zum Vorwurf, dass er trotz seiner vielfach nachgewiesenen Nähe zum Deutschtum vor 1939 Mitglied des nationalpolnischen »Vereins christlicher Kaufleute« gewesen sei. Nach Ansicht der DVL - Zentralstelle Posen musste »als bewiesen unterstellt werden, dass seine Haltung dem Deutschtum gegenüber nicht als loyal anzusehen ist«. Deshalb wurden seine Frau und die Tochter in Abteilung 3, er aber nur in Abteilung 4 der Volksliste aufgenommen. Nach zweimaliger Beschwerde seinerseits erkannte der Oberste Prüfungshof dann auf eine Besserstufung der Familie : Frau und Tochter kamen in Abteilung 2, er selbst in Abteilung 3. Dies erfolgte nach Einholung eines positiven Rassegutachtens beim RuSHA, welches die Familie in »RuS II« klassifizierte. Diese – aus der Sicht der »Rasseexperten« zweitbeste – rassische Einstufung bedeutete, dass sie als »für die Ansiedlung im Osten geeignet« befunden wurde. Deshalb wurden die Eheleute C. als zwar »überwiegend polnischer Abstammung, rassisch jedoch erwünschter Bevölkerungszuwachs« qualifiziert. Die Familie insgesamt wurde als »im Deutschtum nahezu aufgegangen« bezeichnet, beim Ehemann allerdings »immerhin eine gewisse Hinneigung zum Polentum« konstatiert. Aufgrund dessen erhielt er eine Einstufung in Abteilung 3, was bedeutete, dass er sein Unternehmen nicht zurückerhalten würde. Zwar fiel die Entscheidung des Prüfungshofs formal zugunsten des Widerspruchsführers aus, entsprach in der Wirkung allerdings exakt der Interessenlage der Treuhandstelle Posen. Außerdem hatte sich die von Himmler und der SS im Volkslistenverfahren präferierte »rassische« Sichtweise – hier im Konflikt mit dem Abstammungskriterium – durchgesetzt.36 Profiteure dieser und ähnlicher Entscheidungen waren umgesiedelte Volksdeutsche aus dem Baltikum, die die Unternehmen bereits treuhänderisch verwalteten und nach einer endgültigen Entscheidung des Obersten Prüfungshofs gegen die vom bisherigen Eigentümer beantragte Aufnahme in DVL - Abteilung 2 auch käuflich erwerben konnten. Hier manifestierte sich der Gegensatz zweier Varianten der NS - Germanisierungspolitik in den annektierten Gebieten nach dem Muster »Einheimische DVL - Angehörige versus volksdeutsche Umsiedler«.

35 36

Entscheid des Obersten Prüfungshofs betreffend Julius S., Radelschütz, Kr. Kalisch, vom 10.2.1944 ( BArch, R 49/45, Bl. 184). Volkstumszugehörigkeit des Baustoffgroßhändlers Edmund C. und seiner Frau und Tochter, Posen ( BArch, R 49/51, bes. Bl. 38–40, 65 f., 88, 116). Zu den Kategorien der »rassischen Einstufung« durch das RuSHA vgl. Heinemann, Rasse, S. 235 f.

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Beide strebten nach demselben Wirtschaftsgut : Der bisherige Eigentümer wollte es behalten bzw. wiedererlangen, der ( zugewanderte ) Treuhänder wollte es ( endgültig ) in seinen Besitz bringen. Die Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit des Ersteren zur DVL bildete den Schlüssel dazu. Hintergrund dieser Vorgänge waren demnach oft wirtschaftliche Konkurrenzsituationen in den »eingegliederten Ostgebieten«, wobei die DVL - Kommissionen auf den verschiedenen Ebenen dafür instrumentalisiert wurden und sich teilweise auch aktiv für die jeweils eine oder andere Seite verwendeten. Die Entscheidungen des Obersten Prüfungshofs fielen keineswegs durchgängig primär nach Abstammungs - und / oder »rassischen« Prinzipien, folgten demzufolge nicht immer ideologischen Vorgaben. Vielmehr standen in einer Reihe von Fällen wirtschaftliche Motive im Vordergrund. Dies betraf beispielsweise zweifelsfrei »deutschstämmige« adlige Großgrundbesitzer, deren Güter zugunsten der Aufteilung ihres Landes an Siedler beschlagnahmt worden waren. So wurde dem Grafen Joachim von Alvensleben - Schönborn auf Ostrometzko ( bei Bromberg ) aufgrund seiner Eheschließung mit einer polnischen Adligen vorgeworfen, ins Polentum abgeglitten zu sein. Bei ihm gewichteten die Volkstumsideologen demnach das Kriterium »subjektives Verhalten« stark, wobei in diesem Fall die Absichten der SS - Führung sehr deutlich zu Tage traten. So erklärte der Höhere SS - und Polizeiführer in Danzig - Westpreussen, Richard Hildebrandt, der in einem Schreiben an Himmler Alvensleben des »jahrelangen Verrats am Deutschtum im Osten« bezichtigte, dass sein SS - Ansiedlungsstab die »Ostrometzko’schen Ländereien dringend für die Ansetzung der litauendeutschen und bessarabischen Rückwanderer« benötige. Er schlug demzufolge vor, direkt »im Anschluss an die [ im September 1940 durchgeführte ] Beschlagnahme sofort ein Enteignungs - und Entschädigungsverfahren hinsichtlich der Ostrometzko’schen Ländereien« einzuleiten.37 Da Ostrometzko ein Fideikommissgut38 war, ließen sich derartige Vorstellungen vor dessen Aufhebung nicht verwirklichen. Vielmehr hing die etwaige Aufhebung der öffentlichen Bewirtschaftung des Gutes prinzipiell davon ab, in welche Abteilung der Volksliste von Alvensleben nach seiner Antragstellung im März 1942 eingestuft wurde. Aufgrund verschiedener Umstände hatte sich die Entscheidung des Obersten Prüfungshofes, der den Vorgang als »Adelsfall« an sich gezogen hatte, verzögert. Joachim von Alvensleben wurde erst im Februar 1944 in die Abteilung 3 der DVL aufgenommen. Ihm wurde daraufhin mitgeteilt, dass der Reichsführer - SS angeordnet habe, »dass Sie ihren Grundbesitz alsbald an den RKF zu veräußern haben, zumal Ihr älterer Sohn höchstwahrscheinlich nicht von Ihnen abstammt 37 38

HSSPF Danzig - Westpreußen an Reichsführer - SS vom 23.10.1940 ( BArch, R 49/41, Bl. 16–20). Das Familienfideikommiss ist ein Sondervermögen einer Familie, das ungeteilt in der Hand eines Familienmitglieds blieb, das daraus nur das Recht auf den Ertrag ableiten konnte.

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und die Aufnahme Ihres jüngeren Sohnes Ludolf in die DVL abgelehnt wurde«.39 Der in vorgerücktem Lebensalter stehende Alvensleben, der zu diesem Zeitpunkt bereits »freiwillig« ins »Altreich« abgewandert war, hätte demzufolge von seinen Söhnen nicht beerbt werden können. Himmlers Entscheidung folgte damit dem in seiner Anordnung vom Februar 1942 vorgesehenen Verfahren der Behandlung von DVL - Angehörigen der Abteilung 3.40 Dies kam, obwohl von »Veräußerung« die Rede war, einer Enteignung gleich. Das Gut war vermutlich zu diesem Zeitpunkt bei »Ansetzung« volksdeutscher Umsiedler bereits parzelliert worden. In besonderem Maße gering bewertete der Oberste Prüfungshof Abstammungskriterien bei sogenannten »volksdeutschen Renegaten«, die im Volkslistenverfahren eine Einstufung in Abteilung 4 erhielten. Hier gab die von Seiten der NS - Funktionsträger behauptete Gegnerschaft gegenüber dem »Deutschtum« den Ausschlag für eine Entscheidung, die zwar zu einer Aufnahme der Betroffenen in die DVL führte, dies aber unter den denkbar schlechtesten Konditionen. Ein sehr markantes Beispiel für einen solchen Vorgang ist das Verfahren bezüglich der Luise von Gierke aus Polanowitz, Kr. Hohensalza ( Warthegau ). Die Antragstellerin war die Mutter von Hans von Gierke, der in der Nacht vom 22. zum 23. Oktober 1939 der Mordtat des SA - Führers und Landrats Otto Christian Hirschfeld im Gerichtsgefängnis von Hohensalza zum Opfer gefallen war.41 Dessen Erben waren seine zweite Frau, eine Polin, sowie die drei Kinder aus erster Ehe. Das halbe Gut Polanowitz besaß seine Mutter als Erbin ihres verstorbenen Ehemannes, der das Gut 1897 gekauft hatte und dem 1910 der erbliche preußische Adel verliehen worden war.42 Luise von Gierke wurde von den Behörden im Warthegau als Renegatin bezeichnet und erhielt von der Bezirksstelle der DVL Hohensalza im September 1941 deshalb eine Einstufung in Abteilung 4. Die Betroffene legte dagegen Widerspruch ein, der Oberste Prüfungshof zog den Fall an sich. Letztlich bestätigte dieser die Entscheidung aus Hohensalza gegenüber der Antragstellerin, der man immerhin »rein deutsche Abstammung« attestierte. Konkret warf man ihr vor, im Ehescheidungsprozess ihres Sohnes 1933/34 vor dem polnischen Gericht nicht genügend in deutschem Sinne auf ihn eingewirkt zu haben. Dieser hatte die Scheidung mit der Polenfeindlichkeit seiner Frau begründet, die sich für die Kinder dahin ausgewirkt habe, dass sie nicht entsprechend ihrer Staatsangehörigkeit

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Stabshauptamt RKF an Joachim Graf Alvensleben, Oberstdorf / Allgäu, vom 8. 3. 1944 ( ebd., Bl. 153). Vgl. Allgemeine Anordnung 12/ C des Reichsführers - SS als RKF über die Behandlung der in die Deutsche Volksliste eingetragenen Personen vom 9. 2. 1942 ( BArch, R 186/31). Abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 150–156, hier 155. Zur »Blutnacht von Hohensalza« vgl. Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939– 1945, Stuttgart 1961, S. 44. Notizen Luise von Gierke vom 15.9.1941 ( BArch, R 49/50, Bl. 32).

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in der polnischen Sprache und Kultur erzogen wurden. Weiterhin warf man ihr das gute Verhältnis zu ihrer zweiten, polnischen Schwiegertochter und ihre Abwendung von der ersten Frau des Sohnes und deren Kindern vor. Drittens wurde pauschal behauptet, »sie habe dem deutschfeindlichen Verhalten ihres Sohnes tatenlos zugesehen«, der »durch den Einfluss dieser Polin [...] in den Jahren bis Kriegsausbruch im Polentum« aufgegangen sei. Der Oberste Prüfungshof sah dies alles als erwiesen an und konstatierte, dass die Betreffende, die im Übrigen selbst gar kein Polnisch sprach, »sich durch ihr Verhalten [...] selbst aktiv gegen das Deutschtum betätigt« habe.43 Die Begründung war an den Haaren herbeigezogen und beruhte auf Denunziationen vor allem der ersten Frau ihres Sohnes; eine bloße Familienangelegenheit mutierte so zum »völkischen« Politikum. Außerdem wurde durch diese Entscheidung der Mord an Hans von Gierke, der nach Aussage des NSDAP - Kreisleiters Hohensalza - Land »zu den mit vollem Recht Erschossenen«44 gehörte und den man nicht mehr vor den Obersten Prüfungshof ziehen konnte, nachträglich noch einmal gerechtfertigt. Die Mutter wurde für den Sohn in Sippenhaftung genommen. Auch hier wird das wirtschaftliche Interesse des NS - Regimes deutlich, das das Gut wiederum längst beschlagnahmt hatte und von dem infolge der Entscheidung des Obersten Prüfungshofes fünf Achtel gemäß der »Polenvermögensverordnung«45 in das Eigentum des »Großdeutschen Reiches« übergingen. »Großzügigerweise« überließ das Reich den drei Kindern Gierke aus erster Ehe, die die anderen drei Achtel des Gutes besaßen, seine Anteile, allerdings nicht kostenfrei; sie sollten in den nächsten Jahren unter Zahlung von Zinsen einen beträchtlichen Kaufpreis abstottern.46 Himmler und seine Volkstumsideologen hatten damit einen zweifachen Erfolg erzielt : sie hatten den Boden »germanisiert« und ließen sich dies gleichzeitig noch »vergolden«. Die Einstufung der Frau von Gierke in Abteilung 4 ermöglichte außerdem die Beschwichtigung bestimmter »volksdeutscher Kreise«, vor deren »stärkster Empörung« für den Fall einer besseren Einstufung der Betroffenen der SD - Abschnitt Hohensalza bereits einige Monate zuvor gewarnt hatte.47 In den angeführten Fällen stellten der Oberste Prüfungshof bzw. Himmler selbst wirtschaftliche Erwägungen, maskiert durch eine starke Gewichtung der

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Entscheidung des Obersten Prüfungshofs zum Antrag Luise von Gierke, früher Polanowitz, vom 17.12.1942 ( ebd., Bl. 67 f.). NSDAP - Kreisleitung Hohensalza - Land an Gauinspekteur Hohensalza vom 28.7.1940 ( BArch, R 49/49, Bl. 68). Verordnung über die Behandlung von Vermögen der Angehörigen des ehemaligen polnischen Staates vom 17.9.1940. In : RGBl. 1940, Teil I, S. 1270 ( abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 226–236). Notarieller Vertrag betreffend Gut Waltersmark ( Polanowitz ), o. D. ( September 1943) ( BArch, R 49/50, Bl. 84–87). SD - Abschnitt Hohensalza an RKF vom 29.4.1942 ( BArch, R 49/49, Bl. 107).

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behaupteten Illoyalität der Betroffenen, höher als Abstammungskriterien. Allerdings wurden Abstammung und »Rasse« dann höher als eine tatsächlich existierende Loyalität der Antragsteller zum »Dritten Reich« und / oder zum »Deutschtum« bewertet, wenn sich aus einer Aufnahme der Betroffenen in die DVL kein unmittelbarer, vor allem wirtschaftlicher Nutzen für das Regime ergab. Ein gutes Beispiel dafür ist der Fall des Wladislaus M. aus Birnbaum ( Warthegau ), dessen Volkslistenvorgang bis 1945 hinausgezögert wurde. M., von Beruf Lokomotivführer, hatte 1938/39 als V - Mann für das Grenzpolizeikommissariat Schwiebus der Gestapo gearbeitet und war deswegen im Juni 1939 von der polnischen Polizei verhaftet worden. Seitdem befand er sich im Untersuchungsgefängnis, zuerst in Poznań, dann in Brest - Litowsk, wo er infolge des Einmarschs der Wehrmacht im September 1939 »befreit« wurde.48 Sein Antrag auf Aufnahme in die DVL Wartheland vom März 1940 wurde im März 1941 abgelehnt; anlässlich der aufgrund der Verordnung des RMdI vom 4. März 1941 erfolgten Revision seines Antrags nahm ihn die Zweigstelle Birnbaum im Juni dieses Jahres wegen seiner Tätigkeit für die Gestapo in Abteilung 3 auf. Bei einer Überprüfung besagter Zweigstelle durch Beauftragte der Bezirksstelle Posen wurde sein Fall beanstandet, einerseits wegen seiner polnischen Abstammung, andererseits weil eine bezahlte Tätigkeit für deutsche Sicherheitsdienststellen keinen Anspruch auf Aufnahme in die DVL begründe. Daraufhin traf die Zweigstelle Birnbaum im Oktober 1941 die Entscheidung, M. und seine Familie nicht in die DVL aufzunehmen. Eine Beschwerde des Betroffenen bei der Bezirksstelle blieb erfolglos. Ihm und seiner Familie wurde lediglich der Weg des sogenannten Wiedereindeutschungsverfahrens über eine rassische Überprüfung seitens des RuSHA offeriert.49 Das RuSHA leitete den Vorgang zuständigkeitshalber an den Höheren SS - und Polizeiführer Berlin - Brandenburg weiter, da M. inzwischen dienstlich nach Frankfurt ( Oder ) versetzt worden war. Dessen Dienststelle korrespondierte in der Folge mit der DVL - Zweigstelle Birnbaum und der Bezirksstelle Posen bezüglich einer möglichen Aufnahme des M. in die DVL. Die beteiligten Stellen vertraten dabei entgegengesetzte Auffassungen : Die Berliner SS - Dienststelle legte das Augenmerk auf seine Tätigkeit für die Gestapo und die Inhaftierung in Polen, woraus abgeleitet wurde, dass »es eine Härte sein [ würde ], M. vom Volkslistenverfahren auszuschließen«. Darüber hinaus wurde »die Ansicht vertreten, wonach Leistungen für den Nachrichtendienst in bar gegen Bezahlung nicht abgegolten werden können, denn wahrscheinlich hatte M. mit der Hinrichtung

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Wladislaus M. an DVL - Zweigstelle Birnbaum vom 8.3.1940 ( BArch, R 49/55, Bl. 4). DVL - Zweigstelle Birnbaum an Reichsstatthalter Wartheland vom 12.3.1942 ( ebd., Bl. 16); SS Führer im Rasse - und Siedlungswesen bei dem HSSPF »Warthe« an DVL - Zweigstelle Birnbaum vom 15. 4. 1943 ( ebd., Bl. 18). Zum Wiedereindeutschungsverfahren vgl. Heinemann, Rasse, S. 282–301.

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zu rechnen«.50 Die SD - Dienststelle Frankfurt ( Oder ) schätzte ihn sogar als den »besten V - Mann im ganzen Bezirk« ein, der sich »vor dem Krieg mit seiner ganzen Person für die Interessen des deutschen [ sic !] Reiches« eingesetzt habe.51 Die DVL - Dienststellen im Warthegau hingegen vertraten die oben bereits erwähnte entgegengesetzte Auffassung. Zur Problematik einer möglichen Hinrichtung im Fall seiner – tatsächlich erfolgten – Enttarnung wurde nicht ohne Zynismus bemerkt, dass damit »jeder bezahlte Spion rechnen« müsse.52 Die Dienststelle des Höheren SS - und Polizeiführers Berlin - Brandenburg übergab den Fall nach der erneuten Ablehnung M.s durch die DVL - Bezirksstelle Posen im Mai 194353 dem Stabshauptamt des RKF mit dem Hinweis, dass »dieser Fall auch von grundlegender Bedeutung ist«. Das Eintreten für den ehemaligen V- Mann wurde folgendermaßen begründet : »Wenn M. blutmäßig Pole ist, so sind doch seine Leistungen und sein Einsatz für das deutsche Volk so hoch zu bewerten, dass wir glauben, dass eine Aufnahme in die DVL berechtigt erscheint.«54 Angestrebt wurde demnach eine prinzipielle Entscheidung durch die höchste Instanz der DVL, die allerdings auf sich warten ließ, denn der Fall war für den Obersten Prüfungshof, der in der fraglichen Zeitspanne nur dreimal tagte ( jeweils einmal im Dezember 1943, Februar und April 1944) offenbar nicht vordringlich. Eine für den August 1944 geplante Sitzung, auf der der Antrag behandelt werden sollte, fand aus Gründen der fehlenden Abkömmlichkeit insbesondere Himmlers, der im Gefolge des Attentats auf Hitler vom 20. Juli zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt worden war, nicht mehr statt. Immerhin war die Behandlung des Vorgangs durch den Obersten Prüfungshof vorbereitet worden; in einem entsprechenden Papier sollte dem Gremium die Frage gestellt werden, ob M. und seiner Familie der Status von »privilegierten Schutzangehörigen« erteilt werden könne.55 Die letzte Spur des Vorgangs findet sich in einem Aktenvermerk des zuständigen Sachbearbeiters vom 16. März 1945. Darin hieß es, dass sein Votum, gemäß dem »die bisherige Ablehnung der Familie [...] nicht vertretbar« sei, genehmigt worden sei und die »Aufnahme in die DVL [...] angebracht« erscheine.56 Die Bilanz dieses Einzelfalls der Deutschen Volksliste ist entlarvend : Kurz vor »Toresschluss« rangen sich die Volkstumsbürokraten des NS - Staates endlich 50 51 52 53 54 55 56

HSSPF Berlin - Brandenburg an DVL - Zweigstelle Birnbaum vom 30. 4. 1943 ( ebd., Bl. 20); HSSPF Berlin - Brandenburg an DVL - Bezirksstelle Posen vom 10.5.1943 ( ebd., Bl. 22). SD - Hauptaußenstelle Frankfurt ( Oder ) an HSSPF Berlin - Brandenburg vom 12. 5. 1943 ( ebd., Bl. 23). HSSPF Berlin - Brandenburg an DVL - Bezirksstelle Posen ( Randvermerk des Empfängers ) vom 10.5.1943 ( ebd., Bl. 22). Entscheid der DVL - Bezirksstelle Posen vom 26.5.1943 ( ebd., Bl. 25). HSSPF Berlin - Brandenburg an Stabshauptamt RKF vom 21.6.1943 ( ebd., Bl. 32). Vorbereitungsbogen für Sitzung des Obersten Prüfungshofs, o. D. ( ebd., Bl. 53). Aktenvermerk Stabshauptamt RKF vom 16.3.1945 ( BArch, R 49/55, Bl. 63).

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dazu durch, einen »Fremdstämmigen«, der seine Loyalität gegenüber dem Deutschen Reich bereits vor Jahren unter Beweis gestellt hatte, für die Aufnahme in die deutsche »Volksgemeinschaft« zumindest in Erwägung zu ziehen. Trotz der Unterstützung diverser, auch höherer SS - Dienststellen, war M. mit seinem Antrag bis zu diesem Zeitpunkt keinen Schritt vorwärts gekommen. Die Befürwortung des Antrags durch die Dienststelle HSSPF Berlin - Brandenburg zeigt allerdings, dass deren Mitarbeiter die extrem antipolnische Ausrichtung von Greisers Volkstumspolitik nicht billigten. Letztlich fiel die betroffene Familie der restriktiven Germanisierungspolitik zum Opfer, die unter Greisers Ägide im Warthegau betrieben wurde. Hätte M. seinen Aufnahmeantrag im Reichsgau Danzig - Westpreußen gestellt, wäre er wohl mit Kusshand in die DVL aufgenommen worden, denn dort wurden viele Polen, die dem »Dritten Reich« keineswegs mit Sympathie gegenüberstanden, in die DVL hineingenötigt. Den von Greiser geforderten Prozentsatz deutscher Abstammung jedoch konnte die Familie nicht vorweisen. Der Oberste Prüfungshof behandelte diesen Fall scheinbar sehr zögerlich. Wie bereits ausgeführt, kassierte das Gremium mitunter Volkstumsentscheidungen Greisers. Der Pole Wladislaus M. schien es der Volkstumsbürokratie des Stabshauptamtes RKF allerdings nicht wert zu sein, sich seinetwegen mit dem einflussreichen Gauleiter anzulegen. Im März 1945, als das Umdenken manifest wurde, war der Warthegau für das Reich schon verloren und Greiser innerparteilich bereits stark unter Druck geraten.57 Im Fall M. war der Abstammung bis fast zuletzt die größere Bedeutung gegenüber Loyalitätserwägungen beigemessen worden. Wie stark gewichteten Heinrich Himmler und der Oberste Prüfungshof das Erfordernis deutscher Abstammung hingegen bei Volkslistenvorgängen, bei denen im Unterschied zu Anträgen von Personen polnischer Herkunft der Kern der NS - Rassenideologie tangiert wurde ? Es handelte sich dabei um sogenannte deutsch - jüdische »Mischlinge ersten Grades«. Beispielhaft ist hier der Fall des Fabrikanten Ernst Brüll und seiner Frau aus Nickelsdorf - Ost bei Bielitz ( Oberschlesien ). Brüll war Nachkomme einer jüdischen Familie, die im 18. Jahrhundert aus Wien dorthin übergesiedelt war. Aufgrund eines jüdischen Vaters und einer deutschstämmigen Mutter galt er, obwohl katholischer Konfession, nach den Nürnberger Rassegesetzen als »jüdischer Mischling ersten Grades«. An diesem Vorgang lässt sich die Spannweite unterschiedlicher Sichtweisen auf den gleichen Sachverhalt gut vorexerzieren, die im Nationalsozialismus trotz der zumindest in diesem Punkt festgefügten Rassenideologie existierten. Die Durchführungsbestimmungen des RMdI zur DVL sahen die Möglichkeit der Aufnahme von »Mischlingen ersten Grades« nur für den Fall vor, dass jene »sich nach dem Zeugnis des zuständigen Hoheitsträgers der Partei vor der Ein57

Zu Greisers Verhalten in den letzten Kriegsmonaten vgl. Epstein, Greiser, S. 301–310.

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gliederung der Ostgebiete in das Reich aktiv unter besonderen Opfern für die deutsche Sache eingesetzt haben«.58 Darauf hatte Brüll in seinem Aufnahmeantrag rekurriert, war allerdings von der Zweigstelle Bielitz mit der Begründung zurückgewiesen worden, sein Eintreten für die Belange der deutschen Gefolgschaft seiner Firma sei lediglich aus wirtschaftlichen Interessen heraus erfolgt.59 Die im nächsten Schritt damit befasste Bezirksstelle Kattowitz holte ein Gutachten der NSDAP - Gauleitung ein, in welchem diese dem Antragsteller eine vor 1939 »stets bewusst deutsche« Einstellung und die für eine Aufnahme in die DVL »erforderliche Einsatzbereitschaft« im Sinne der deutschen Belange attestierte. Begründet wurde dies mit dem Zeugnis »namhafter und bewährter Volksdeutscher«, unter denen das positive Votum des in Bielitz wohnhaften Rudolf Wiesner, seines Zeichens SS - Oberführer und Mitglied des nationalsozialistischen Reichstags, der bis 1939 Vorsitzender der Jungdeutschen Partei in Polen gewesen war, offenbar besonders schwer wog. Aufgrund dieser Tatsache machte die Gauleitung am Ende ihrer Stellungnahme die aus Sicht der NS - Rassenpolitik durchaus bemerkenswerte Feststellung : »Von der Gauleitung [ werden ] gegen eine Aufnahme des Mischlings ersten Grades Ernst Brüll in die Deutsche Volksliste Bedenken nicht erhoben.«60 Ungeachtet dessen entschied die Bezirksstelle auf Ablehnung der Beschwerde, ließ jedoch »mit Rücksicht auf die grundlegende Bedeutung des Falles die weitere Beschwerde an die Zentralstelle« zu.61 Letztere legte nach abermaliger Beschwerde von Brüll die Angelegenheit dem Obersten Prüfungshof vor. Heinrich Himmler persönlich traf in der Sitzung vom 10. Dezember 1943 die Entscheidung, wonach das 3 - jährige Kind der Brülls, das nach den Nürnberger Gesetzen als »Mischling zweiten Grades« galt, in die Abteilung 2 der DVL aufgenommen wurde. Hinsichtlich der Eltern sollte eine Entscheidung hingegen zurückgestellt werden, bis entweder die Ehe geschieden oder die Sterilisierung des Ehemannes erfolgt sei. Nach einer Klärung in diesem Sinne sollten die Frau in DVL - Abteilung 2 aufgenommen und der Mann als »privilegierter Schutzangehöriger« eingestuft werden. Für Ernst Brüll hatte sich die persönliche Situation inzwischen dramatisch verschlechtert, da ihm die Verbreitung von Gräuelmärchen vorgeworfen und er zudem der Beschaffung von Reisepässen aus der Schweiz verdächtigt wurde, weshalb er bereits im Juli 1943 in Schutzhaft genommen worden war. Im August selben Jahres wurde er in das nahegelegene KZ Auschwitz gebracht

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Runderlass des RMdI vom 13.3.1941. Ernst Brüll, Nickelsdorf - Ost, an DVL - Bezirksstelle Kattowitz vom 23.12.1941 ( BArch, R 49/54, Bl. 25); NSDAP - Kreisleitung Bielitz an DVL - Zweigstelle Bielitz vom 9.3.1942 ( ebd., Bl. 9). NSDAP - Gauleitung Oberschlesien an DVL - Bezirksstelle Kattowitz vom 29. 4. 1942 ( ebd., Bl. 32 f.). Entscheid der DVL - Bezirksstelle Kattowitz vom 20.5.1942 ( ebd., Bl. 41)

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und zu Jahresbeginn 1944 ins KZ Buchenwald überführt.62 Der zeitliche Zusammenhang mit der Sitzung des Obersten Prüfungshofs, auf der sein Fall verhandelt wurde, ist offensichtlich. Möglicherweise war die Überstellung nach Buchenwald eine Folge der Entscheidung Himmlers. Noch Anfang 1945 saß er dort ein; sein Name findet sich nicht unter den in Buchenwald verstorbenen Häftlingen. Der Fall Brüll wurde von der Bürokratie des Stabshauptamtes RKF nicht weiter verfolgt, denn aufgrund der KZ - Haft sei »weiterer unerwünschter Nachwuchs nicht zu erwarten«.63 Das war das Ziel von Himmlers Auflagen : die biologische »Gefahr« für den deutschen Volkskörper durch den »Juden« im »Mischling« zu neutralisieren. Interessanter ist allerdings die Behandlung des »Deutschen« im »Mischling« durch den Reichsführer - SS und seine Volkstums - Entourage, zeigt sich doch daran eine deutliche Entwicklung in Bezug auf den Umgang mit Menschen, die der Kategorie »Mischling ersten Grades« zugeordnet wurden. Noch während der Sitzung des Obersten Prüfungshofs im Oktober 1942, die mittlerweile mehr als ein Jahr zurücklag, wurde das Prinzip der Nichtaufnahme dieses Personenkreises in die DVL strikt angewendet. So im Fall des minderjährigen Georg Daube aus Litzmannstadt, des Enkels des Textilfabrikanten Oskar Daube, eines Vorkämpfers des dortigen Deutschtums. Georg Daubes verstorbene Mutter galt – obwohl katholisch – nach den NS - Rassegesetzen als Volljüdin. Der Oberste Prüfungshof hatte damals ideologisch durchaus konsequent die ablehnende Entscheidung der Vorgängerinstanz bestätigt, weil kein »aktiver Einsatz unter besonderen Opfern für die deutsche Sache, der zur Herbeiführung einer Ausnahmeentscheidung Voraussetzung wäre«, vorläge.64 Im Dezember 1943 stellten sich die Dinge dem Obersten Prüfungshof etwas anders dar. Der Fall Brüll war nicht der einzige Vorgang, bei dem es um »Halbjuden« ging. Vielmehr gab es einige »Kandidaten« bzw. »Kandidatinnen«, denen der Oberste Prüfungshof konzedierte, im Volkstumskampf »eine betont deutsche Haltung gezeigt« zu haben. Völlig neu war, dass die Volkstumsbürokraten plötzlich Wert auf den Anteil deutschen Blutes legten, den die »Mischlinge« nach ihrer Lesart besaßen. So findet sich in diesen Fällen einheitlich folgende Formulierung, die es im Fall Daube noch nicht gab : »Es geht aber nicht an, solche deutsch erzogenen jüdischen Mischlinge in das polnische Volkstum abzudrängen und damit dem Polentum Führungskräfte zuzuführen.« In der Konsequenz sollten den Betroffenen, um sie nicht den für Polen geltenden Beschränkungen zu unterwer62 63 64

RSHA an Stabshauptamt RKF vom 28.4.1944 ( ebd., Bl. 62). Stabshauptamt RKF an RSHA vom 21.1.1945 ( ebd., Bl. 69). Entscheid des Obersten Prüfungshofs zum Antrag Georg Daube, Litzmannstadt, vom 20. 10. 1942 ( Archiwum Państwowe w Poznaniu [ APP ], Namiestnik Rzeszy w Okręgu Kraju Warty [ Reichsstatthalter im Reichsgau Wartheland ], Sign. 1121, Bl. 67 f.). Über den »Fall« Georg Daube berichtet Martin Pollack in seiner Reportage über Rolf - Heinz Höppner, Greisers Volkstumsdezernenten : Jäger und Gejagter. Das Überleben der SS - Nummer 107 136. In : ders., Warum wurden die Stanisławs erschossen ? Reportagen, Wien 2008, S. 24–49, hier 40.

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fen, Bescheinigungen über die »Nichtzugehörigkeit zum polnischen Volkstum« gemäß dem entsprechenden Runderlass des RMdI ausgestellt werden, was sie im täglichen Leben sehr nah an den Status eines Deutschen heranrückte.65 Gleichzeitig sollten sie für den noch zu schaffenden Status eines »privilegierten Schutzangehörigen« vorgemerkt werden. Bemerkenswert ideologiefern, ja für Nationalsozialisten scheinbar human aber stellte sich in einem besonderen Fall aus Bielitz die Einschätzung des Prüfungshofs und damit Heinrich Himmlers selbst dar : »Es wäre auch ungerecht, den bereits 70 Jahre alten Gottlieb K., der sich sein Leben lang als Deutscher gefühlt und bekannt hat, den besonderen Beschränkungen zu unterwerfen, die für Schutzangehörige polnischen Volkstums gelten.«66 Als ob sich die Nationalsozialisten in anderen »Mischlings«fällen, in denen sich die Betroffenen sicherlich ebenfalls immer als Deutsche gefühlt hatten, jemals einen Deut um die Befindlichkeit dieser Menschen geschert hätten. Ihre »bessere« Behandlung verdankten die »Mischlinge ersten Grades« dem Fakt, dass der Großvater Georg Daubes sich mit der Ablehnung seines Enkels durch die DVL und damit dessen Exklusion aus der »Volksgemeinschaft« nicht einverstanden zeigte. Oskar Daube bat Greiser im Januar 1943 darum, dem Enkel »auf dem Gnadenwege die DVL oder wenigstens die Rechte eines nichtstaatsfeindlichen Ausländers« zuzubilligen. Geradezu entwaffnend formulierte Daube, dass »es für mich ein unerträglicher Gedanke [ ist ], selbst die Volksliste I zu besitzen, während mein einziger Enkel von allem ausgestoßen sein [ soll ] und dass dies am Abend meines Lebens die Bilanz meines über 50 Jahre währenden aktiven Einsatzes für mein Deutschtum sein sollte«.67 Der Reichsstatthalter, der die Haltung von Oskar Daube als »anständig« charakterisierte, zeigte sich bereitwillig, einem verdienten Vorkämpfer des Deutschtums zu helfen, und schlug Himmler eine Variante zur Lösung des Falles vor, die auf Greisers Volkstumsreferenten Rolf - Heinz Höppner zurückging : Der Junge sollte sich »freiwillig« sterilisieren lassen und daraufhin eine Bescheinigung über die »Nichtzugehörigkeit zum polnischen Volkstum« gemäß dem Erlass des RMdI von 1940 erhalten.68 Nach einer intensiven, über Monate hinweg geführten Diskussion zwischen den mit der DVL befassten Dienststellen des SS - Komplexes wurde diese neue Form

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Runderlass des RMdI vom 14.11.1940. In : Ministerialblatt des Reichs - und preußischen Ministeriums des Innern 1940, Spalte 2111 ( abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 118 f.). Vgl. die Entscheide des Obersten Prüfungshofs vom 10. 12. 1943 in den Fällen Ella K., Schwaningen ( APP, Namiestnik Rzeszy w Okręgu Kraju Warty, Sign. 1121, Bl. 146 f.), Helene Gräfin Z., Dresden ( ebd., Bl. 148 f.), Gottlieb K., Bielitz ( ebd., Bl. 150–152). Oskar Daube, Litzmannstadt, an Reichsstatthalter Wartheland vom 11. 1. 1943 ( BArch, R 49/5626). Reichsstatthalter Wartheland an Reichsführer - SS vom 1.5.1943 ( ebd.); Rolf - Heinz Höppner an persönlichen Referenten Reichsstatthalter Wartheland vom 30. 1. 1943 ( ebd., R 9354/147, Bl. 209).

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des Umgangs mit den »Halbjuden« generalisiert,69 denn bei dem »Fall Daube« handelte es sich gemäß Untersuchungen des Höheren SS - und Polizeiführers Wilhelm Koppe keineswegs um einen Einzelfall innerhalb des Warthegaus.70 Das NS - Regime befürchtete demnach zu diesem Zeitpunkt bereits einen Legitimationsverlust bei den mit »Mischlingen ersten Grades« verwandten Volksdeutschen in den »eingegliederten Ostgebieten«, falls der entschieden exklusiv ausgerichtete Kurs in Bezug auf derartige Fälle fortgeführt würde. Angesichts der für das »Dritte Reich« ungünstigen Kriegslage konnte sich das Regime einen solchen Kurs nicht mehr leisten. Insgesamt zeigt sich hier ein Umdenken, das nicht nur auf den Kreis deutsch jüdischer »Mischlinge« beschränkt war, sondern auch loyale Polen wie den oben erwähnten Wladislaus M. mit einschloss. Auch bei diesem war die künftige Zuerkennung des Status eines »privilegierten Schutzangehörigen« in Erwägung gezogen worden. Es war kein Zufall, dass Himmler Ende 1943 die Schaffung dieser besonderen Kategorie zwischen der klassischen DVL und dem bloßen »Schutzangehörigen« erwog. Damit zog er die Schlussfolgerung aus der Erkenntnis, dass das NS - Regime mit dem für die eigene Seite fortschreitend negativen Kriegsverlauf zunehmend auf die Loyalität auch von Gruppen angewiesen sein würde, deren Unterstützung dieses vor kurzem aus ideologischen Gründen noch abgelehnt hatte. Formal wurde der Ideologie nach wie vor Genüge getan, indem die Betroffenen nicht in die DVL aufgenommen wurden, indirekt aber durchbrach die vorgesehene De - facto - Behandlung als Deutsche das ideologische Postulat. In dieser Entwicklung spiegelte sich auch das vorläufige Scheitern der besonders von Seiten des Rassenpolitischen Amts der NSDAP, der Parteikanzlei und des RSHA spätestens seit 1941 unternommenen Anstrengungen zur Ausdehnung des Begriffs »Jude« im »Altreich« auch auf »Mischlinge ersten Grades« – mit dem Ziel, auch diese physisch zu vernichten – wider.71 Die Einführung der Kategorie »privilegierte Schutzangehörige« wurde in der Tat durch das Reichsinnenministerium vorbereitet, worauf ein erhaltener Entwurf mit »Durchführungsbestimmungen zur Ersten Verordnung über die Schutzangehörigkeit«, die bereits im April 1943 erlassen worden war, hindeutet. Diese sahen die Möglichkeit der Privilegierung von Schutzangehörigen, »die sich besonders für deutsche Belange eingesetzt haben oder in völkischer Mischehe mit Deutschen leben«, allerdings als »Einzelentscheidung in stets widerruflicher Weise« vor. Als Gruppe – dies betraf nur in der Vergangenheit liegende Fälle – sollten Schutzangehörige »polnischen Volkstums«, die vor einer Entscheidung 69 70 71

Chef Stabshauptamt RKF an persönlichen Stab Reichsführer - SS vom 24. 9. 1943 ( ebd., R 49/5626). HSSPF Posen an persönlichen Stab Reichsführer - SS vom 7.8.1943 ( ebd.). Vgl. Beate Meyer, »Jüdische Mischlinge«. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 1999, S. 96–100.

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über ihre DVL - Zugehörigkeit zur Wehrmacht einberufen worden waren, dieser Kategorie zugeordnet werden. Für eine Privilegierung durch Einzelfallentscheidung wurden explizit als geeignet angesehen »deutschstämmige Mischlinge 1. Grades, die wegen mangelnder Deutschblütigkeit nicht als Staatsangehörige [...] anerkannt werden konnten, sich aber stets zum Deutschtum bekannt haben«, deren Abdrängen »in ein fremdes Volkstum« man damit verhindern wollte. Weiter kamen für die Privilegierung in Frage polnische Schutzangehörige, »die sich dem Deutschtum gegenüber loyal verhalten haben und in völkischer Mischehe mit einem Deutschen leben, der sich in der Ehe nicht durchgesetzt hat«. Da letztere infolgedessen regulär in Abteilung 3 oder 4 der DVL aufgenommen wurden, hoffte Himmler mit dieser Regelung das weiter unten noch zu erläuternde Problem der Wahrung der Familieneinheit zu lösen. Die Privilegierten sollten »auf verschiedenen, demnächst noch näher zu bestimmenden Rechtsgebieten aus den übrigen Schutzangehörigen herausgenommen und im täglichen Leben deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt« werden. Da ihr Aufgehen »im deutschen Volk« aber »aus rassischen und volkstumspolitischen Gründen« ausdrücklich unerwünscht war, war in Bezug auf das Recht zur Eheschließung ihre weitere Behandlung als »einfache« Schutzangehörige vorgesehen. Des Weiteren sollten sie weder Beamte werden noch öffentliche Ehrenämter bekleiden können und weder der Wehr - noch der Arbeitsdienstpflicht unterliegen. Die bereits bei der Wehrmacht Dienenden sollten vermutlich dort verbleiben.72 Es handelte sich bei den beschriebenen Absichten um kriegsbedingte Bemühungen zu einer weiteren Ausdifferenzierung der nationalsozialistischen »Hierarchie des Rassismus«,73 auch wenn die Zuordnung zu dieser neuen Kategorie die rechtliche Situation für einzelne Betroffene sicherlich deutlich verbessert hätte. In der Forschung wird jedoch davon ausgegangen, dass die entsprechenden Pläne nicht in die Tat umgesetzt wurden.74 Der zeitliche Verlauf lässt dies als wahrscheinlich erscheinen, denn der Entwurf wurde erst im Mai 1944 postalisch mit Bitte um Rückantwort bis 20. Juni an die interessierten Behörden versandt.75 Vermutlich war die Angelegenheit vor ihrer bürokratischen Umsetzung bereits obsolet. Für die vor dem Obersten Prüfungshof anhängigen »Halbjudenfälle« bedeutete dennoch die angeordnete Ausstellung einer Bescheinigung über die »Nichtzugehörigkeit zum polnischen Volkstum« bereits einen Fortschritt, der noch 1942 – siehe Georg Daube – undenkbar gewesen wäre. Was jedoch den Fall 72

73 74 75

Anordnung des Reichsführers - SS und RMdI über die Durchführung der Ersten Verordnung über die Schutzangehörigkeit des Deutschen Reiches vom 25.4.1943, o. D. ( Archiwum Instytut Zachodni Poznań [ IZ ], Dok. I - 318, Bl. 33–38, hier 34 f.). Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 154. Vgl. Doc. Occ. V, S. 168–170, Fußnote 38. RMdI an Reichsstatthalter Wartheland vom 24.5.1944 ( IZ, Dok. I - 318, Bl. 1).

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Ernst Brüll anbetrifft, dessen Anerkennung als »privilegierter Schutzangehöriger« von Ehescheidung oder Sterilisierung abhängig gemacht worden war, so sprachen gegen ihn in den Augen Himmlers seine Jugend – er war 1943 erst 28 Jahre alt – und der »rassisch [...] außerordentlich günstige Eindruck«, den »seine rein deutsche Frau« machte, die 27 Jahre alt war.76 Im Unterschied dazu standen die anderen »Mischlinge« in stark vorgerücktem Alter, so dass von ihnen aus dem Blickwinkel der Nationalsozialisten keine »Gefahr« der Zeugung oder Geburt »unerwünschten Nachwuchses« mehr ausging.

3. Pro oder contra DVL ? Motive der betroffenen Bevölkerung in den annektierten Reichsgauen Danzig - Westpreußen und Wartheland Die im Detail sehr variablen und auch situativ unterschiedlichen Interessen - und Motivlagen der jeweils an einem Volkslistenvorgang beteiligten Individuen wie auch der Entscheidungsträger des NS - Regimes bedingten eine gewisse Durchlässigkeit der ohnehin nicht scharf konturierten Grenze zwischen Deutschen und Polen. Zwei Grundentscheidungen erwiesen sich dabei als von existentieller Bedeutung für die Betroffenen : 1. Erfolgte ihre Aufnahme in die DVL oder nicht ? Die Antwort darauf bedeutete, ob der / die Betroffene unter das gesamte Sonder»recht« für Polen fiel (»Polenstrafrecht«, »Polenvermögensverordnung«, gegebenenfalls Fortsetzung der öffentlichen Bewirtschaftung von landwirtschaftlichem Besitz und »Absiedlung« des Inhabers eines Bauerngutes, eventuelle Internierung und darauffolgende Aussiedlung ins Generalgouvernement ) oder nicht. 2. Falls ja, erfolgte die Aufnahme in die Abteilungen 3/4 oder eine höhere Abteilung ? Die Antwort darauf hieß, ob z. B. gemäß der »Polenvermögensverordnung« »treuhänderisch« verwaltete Grundstücke oder Gewerbebetriebe ihren bisherigen Eigentümern zurückgegeben werden mussten oder nicht. Die Aufnahme in die für »echte« Volksdeutsche vorgesehene Abteilung 2 bedeutete die Vermeidung einer zumindest beabsichtigten »Umsetzung ins Altreich«, die spätestens nach dem ( siegreichen ) Kriegsende allen Angehörigen der Abteilungen 3 und 4 gedroht hätte. Bereits von den rechtlichen wie praktischen Konsequenzen dieser Grundentscheidungen kann großenteils auf eine Reihe von Motivlagen der Betroffenen für ein Bemühen auf Aufnahme in die DVL im Allgemeinen und in eine günstige Abteilung derselben im Besonderen rückgeschlossen werden. Die unterschied76

Stabshauptamt RKF an Chef der Sicherheitspolizei und des SD vom 21. 12. 1943 ( BArch, R 49/54, Bl. 60).

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liche Germanisierungspraxis in den annektierten Gauen schloss allerdings ein weitgehend einheitliches Verhalten der Bevölkerung gegenüber der Eintragung in die Volksliste von vornherein aus. Im Folgenden soll darum die positive bzw. negative Haltung der Bewohnerschaft in Bezug auf die DVL unter Berücksichtigung der jeweils verschiedenen Volkstumspolitik der Besatzer exemplarisch an zwei verschiedenen Gauen betrachtet werden. Dabei steht der Reichsgau DanzigWestpreußen für eine eher inklusive, der Warthegau für eine stark exklusive Politik. 3.1 Reichsgau Danzig - Westpreußen

Ungeachtet des im Reichsgau Danzig - Westpreußen herrschenden Drucks zur Masseneinschreibung in die DVL gab es nichtdeutsche Bevölkerungskreise, die sich dennoch freiwillig als Volksdeutsche klassifizieren lassen wollten. Vor allem Kaschuben in den Kreisen Berent und Karthaus, die 1940 von den regionalen Behörden nicht als Volksdeutsche anerkannt worden waren – sie hatten höchstens eine Bescheinigung über die »Nichtzugehörigkeit zum polnischen Volkstum« erhalten, was sie bereits privilegierte –, betrieben nach Einführung der DVL ihre Aufnahme in diese. Bei etwaiger Ablehnung legten sie in der Regel Widerspruch ein, bei Aufnahme in Abteilung 3 strebte ein Teil von ihnen eine Umstufung in Abteilung 2 an. Dies erfolgte teilweise unter deutlicher verbaler Abgrenzung von der polnischen Bevölkerung. Ein gutes Beispiel dafür ist der Fall des Bernhard T. aus Karthaus. Der Bruder des Antragstellers hatte bereits 1940, zugunsten seines Bruders intervenierend, wie folgt formuliert : »Wir sind zwar Kaschuben, waren aber bis zur Abtretung [ Westpreußens an Polen ] restlos gleichberechtigte deutsche Staatsbürger. Die Kaschuben sind, wie die Geschichte beweist, alles andere als Polen. Sie sind einer jener slawischen Volksstämme, die in der Völkerwanderungszeit über Deutschland verstreut gewesen sind. Sie haben wahrscheinlich gewisse Teile von Restgermanentum in sich aufgenommen und haben bestimmt wikingischem Einfluss unterlegen.«77 Unter Bezug auf die ablehnende Haltung der Behörden gegenüber seinem Bruder fügte er an : »Es ist für uns in Deutschland lebende Angehörige beleidigend hören zu müssen, dass ein Bruder von uns im wiedererworbenen Deutschland als Renegat angesehen wird.«78 Bernhard T. war 1940 zunächst nicht als deutscher Volkszugehöriger anerkannt worden. Die Zweigstelle Karthaus der DVL nahm ihn dann im Sep77

78

Bruno T., Königsberg, an Landrat Karthaus vom 13.3.1940 ( Archiwum Państwowe w Gdańsku [ APG ], Starostwo Powiatowe w Kartuzach [ Landrat des Kreises Karthaus ], Sign. 146, Bl. 25). Gemeint war ein »Germanentum«, das gemäß zeitgenössischer Lesart nach dem großflächigen Abzug germanischer Stämme wie der Vandalen usw. aus diesem Gebiet während der Völkerwanderung angeblich vor Ort verblieben sein sollte. Ebd., Bl. 26.

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tember 1941 in Abteilung 2 auf, allerdings wurde er durch Bescheid des Danziger Regierungspräsidenten Anfang 1943 in Abteilung 3 herabgestuft, weil bekannt geworden war, dass T. vor 1939 einige Jahre lang Mitgliedsbeiträge des Polnischen Westmarkenverbandes entrichtet hatte. Infolge einer erneuten Beschwerde des Betroffenen erstreckte sich der Vorgang über alle Instanzen der DVL hinweg bis zum Obersten Prüfungshof, der am 10. Februar 1944 entschied, ihn aufgrund seines »aktiv bezeugten Bekenntnisses zum Deutschtum« in Abteilung 2, hingegen »seine kaschubische Ehefrau [...] und die ihrem Einfluss ausgesetzten Kinder [...] nur in Abteilung 3« aufzunehmen.79 Die Anträge der kaschubischen Bevölkerung aus den Kreisen Karthaus und Berent wurden fast ausschließlich im Herbst 1941 gestellt, während die Anträge von polnischsprachigen Personen aus den Kreisen Berent und Dirschau meist erst ab 1942 eingingen. Dieser Sachverhalt sagt zunächst etwas über die NS Germanisierungspolitik im Gau aus. Die Anträge von 1941 gingen von den Daten her gesehen auf die sogenannte »erste Vorerfassung« für die DVL zurück, wobei die NS - Amtsträger vor Ort zunächst sehr zurückhaltend für eine Eindeutschung »geeignete« Personen auswählten.80 Dennoch kann gerade bei der in den untersuchten Kreisen davon betroffenen kaschubischen Bevölkerung mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass dieser Personenkreis der Eindeutschungsaktion mit einem gewissen Wohlwollen gegenüberstand. Die teilweise vorhandene kulturelle Affinität zum »Deutschtum« sowie Ressentiments zwischen Kaschuben und Polen beförderten dies sicherlich. Die in den Fragebögen durchgängig vorhandene Qualifizierung des Deutschen als Muttersprache bei den Kaschuben drückte eine dahingehende Tendenz aus. Dass die deutschen Behörden gerade diese Bevölkerungsgruppe in die Vorerfassung einbezogen, zeigt deutlich, dass auch sie die Kaschuben großenteils für geeignet befanden, loyale »Deutsche« zu werden.81 Im DVL - Verfahren erhielten sie deshalb – wobei Ausnahmen die Regel bestätigen – die Abteilung 3 mit der Begründung »kulturell zum Deutschtum hinneigend« zuerkannt. Bei den Anträgen von polnischsprachiger Bevölkerung hingegen handelte es sich meist um solche, die nach der Aufforderung Forsters zur massenhaften Einschreibung in die DVL vom 12. Februar 1942 und dem Auslaufen der gesetzten Frist am 31. März dieses Jahres gestellt wurden. Ein geringerer Teil wurde erst später, manchmal viel später abgegeben, was auf eine zumindest partiell praktizierte Verzögerungstaktik der Betroffenen gegenüber den Germanisierungsabsichten der Behörden hindeutet. So finden sich eindeutige Hinweise darauf, dass 79 80 81

Vgl. Volkslistenakte Bernhard T., Karthaus ( ebd., passim ), besonders Entscheid des Obersten Prüfungshofs vom 10.2.1944 ( ebd., Bl. 117 f.). Vgl. Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 485 f. Bereits in Himmlers Volkstumserlass vom 12. 9. 1940 waren die Kaschuben als völkisch nicht klar zuzuordnende Personengruppe für die Wiedereindeutschung vorgesehen.

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bestimmte Personen die Eindeutschung ablehnten. Einige brachten gegenüber den Behörden ihre Absicht zum Ausdruck, damit bis nach dem Krieg warten zu wollen, was impliziert, dass sie zunächst abwarten wollten, ob der Krieg für Deutschland siegreich sein würde. In einem solcherart gelagerten Fall unterschrieb die Ehefrau ihren Antrag, während der Ehemann erklärte, Pole bleiben zu wollen, sich weigerte, seinen Antrag abzugeben und sein Bekenntnis zum Polentum auch bei einer erneuten Vorladung wiederholte. Daraufhin wurde der Antrag der Frau mit der Begründung »unerwünschter Bevölkerungszuwachs, Ehemann lehnt die Aufnahme ab« verworfen.82 Als Motive für dieses widerständige Verhalten sind teilweise eine nationalpolnische Gesinnung Einzelner, aber auch der sehr wahrscheinlich erscheinende Grund, der Einberufung zur Wehrmacht zu entgehen, anzunehmen. Bei derartigen Vorgängen handelte es sich zwar nicht um eine Mehrheit der Betroffenen, aber offenbar auch nicht um bloße Einzelfälle. Die Variante, wonach zunächst eine »Polenerklärung« abgegeben, später aber doch noch die Aufnahme in die DVL beantragt wurde, trat ebenfalls auf. So stellte Franziska A., weil drei ihrer Kinder inzwischen Ausweise der Abteilung 3 der Volksliste besaßen, im Juni 1943 noch einen Antrag, dem auch stattgegeben wurde.83 Dieses Verhalten der deutschen Behörden – falls diese nicht auch hier Druck ausübten – unterstreicht generell die im Vergleich zum Warthegau inklusivere, an die frühere preußische Assimilationspolitik erinnernde Germanisierungspraxis im Reichsgau Danzig - Westpreußen. Eine für die dortigen Verhältnisse eher symptomatische Verhaltensweise lässt sich am Fall der Eheleute Michael und Anna von B. demonstrieren. Der aus einer kaschubischen Adelsfamilie stammende Ehemann war 1941 zunächst in Abteilung 3 der DVL aufgenommen worden und 1943 von der Wehrmacht desertiert, was zu diesem Zeitpunkt bei Volkslistenangehörigen ( noch ) kein Massenphänomen darstellte. Im Nachgang wurde sein Volkslistenvorgang nochmals überprüft mit der Einschätzung, wonach »die Ausdeutschung der Familie B. [...] gerechtfertigt [ sei ], da es sich um unzuverlässige Menschen handelt«.84 Das schien keine völlig neue Erkenntnis zu sein. Wie aus dem sich anschließenden Schriftwechsel zwischen SD - und DVL - Dienststellen hervorgeht, waren laut Befragung der Ehefrau beide Partner in die DVL aufgenommen worden, »obwohl sie sich als Polen fühlen«. Der Mann hätte nur »auf Anraten des Amtsvorstehers« so gehandelt.85

82 83 84

85

Vgl. Volkslistenakte Felix und Maria W., Pehsken ( APG, Starostwo Powiatowe w Tczewie [Landrat des Kreises Dirschau ], Sign. 1580). Volkslistenakte Franziska A., Sorgenfelde / Juschken ( APG, Starostwo Powiatowe w Kościerzynie [ Landrat des Kreises Berent ], Sign. 55). Beurteilung des NSDAP - Kreisleiters Karthaus vom 7. 9. 1943 ( APG, Starostwo Powiatowe w Kartuzach, Sign. 109, Bl. 9). Vgl. auch die gesamte Volkslistenakte Michael und Anna B., Grabau ( ebd.). SD - Leitabschnitt Danzig an DVL - Zweigstelle Karthaus vom 10.8.1944 ( ebd., Bl. 22).

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Insofern hatte die Besatzungsmacht infolge ihrer inklusiven Volkstumspolitik und des mehr oder minder ausgeübten Drucks die »unzuverlässigen Menschen« selbst in die »Volksgemeinschaft« hineingeholt. Der Betroffene hatte demnach dem Druck der Behörden zunächst nachgegeben, um bei nächster Gelegenheit durch Fahnenflucht mit den Füßen über seine Bereitschaft zur Eindeutschung abzustimmen, wobei die genauen Gründe für die Desertion nicht bekannt sind.86 Einschreibungszwang für die Bevölkerung bedeutete nicht, dass die Dienststellen der DVL ihrerseits gezwungen waren, jeden Antragsteller zu akzeptieren. Vielmehr wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen durch die Volkstumsbürokratie fast durchgängig zurückgewiesen. Dies lässt sich vor allem an der Behandlung der aus dem früheren Kongresspolen zugewanderten Bewohner des Kreises Dirschau illustrieren. Ein Großteil von ihnen verfiel allein mit dem Vermerk »Kongresspole« oder »Pole« bzw. »Polin« bereits der Ablehnung.87 Das entsprach exakt den Richtlinien, die Albert Forster im Dezember 1940 für die Eindeutschung in seinem Gau erlassen hatte.88 Personen, bei denen die DVL - Dienststellen erst nach ihrer Aufnahme in die Volksliste eine kongresspolnische Herkunft – sogar wenn nur ein Elternteil des Betreffenden von dort stammte – feststellten, wurden darüber hinaus nachträglich abgelehnt. Gleiches geschah mit »deutschstämmigen« Ehepartnern aus Mischehen mit »Kongresspolen«. Exemplarisch betraf dies einen im »Altreich« geborenen Deutschen, der bis 1939 die polnische Staatsangehörigkeit besessen hatte und in einer sogenannten »völkischen Mischehe« lebte. Nachdem er zunächst mit seiner Familie in Abteilung 3 aufgenommen worden war, revidierte die DVL - Zweigstelle den entsprechenden Beschluss später mit der Bemerkung »Mischehe – unerwünscht«, weil seine Frau aus dem Kreis Konin im früheren Russisch - Polen stammte.89 Gegen die Ablehnung legte der »deutsche« Partner aus solchen Ehen in der Regel – erfolglos – Widerspruch ein. Die von den Nationalsozialisten als »Polen« oder »Kongresspolen« bezeichneten Bewohner des Kreises Dirschau hingegen wehrten sich nicht gegen die Ablehnung; das lässt den Schluss zu, dass sie nicht unbedingt Wert darauf legten, als Deutsche zu gelten, oder aber so eingeschüchtert waren – eventuell auch wegen mangelnder Deutschkenntnisse –, dass sie die Einspruchsmöglichkeit nicht nutzten. Aus den entsprechenden Akten ist wie aus den Volkslistenakten 86 87 88

89

Zum Problem der Desertion von DVL - Angehörigen und Motiven dafür vgl. Ryszard Kaczmarek, Polacy w Wehrmachcie, Kraków 2010, S. 307–318. Z. B. Konstantin D., Felgenau ( APG, Starostwo Powiatowe w Tczewie, Sign. 300); Hedwig D., Dirschau ( ebd., Sign. 303). Vgl. Anordnung des Gauleiters und Reichsstatthalters in Danzig - Westpreußen zur Durchführung der Wiedereindeutschungsaktion des Jahres 1941 vom 14.12.1940 ( BArch, R 49/76, Bl. 3– 29, hier 5 f.). Vgl. Volkslistenakte Erich und Sofia M. ( APG, Starostwo Powiatowe w Tczewie, Sign. 1007). Der Mann war 1914 in Breslau geboren worden, gab aber als Muttersprache »Polnisch« an. Seine Eltern hatten beide deutsche Familiennamen.

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generell die Menschenverachtung des Nationalsozialismus und seiner Funktionsträger vor Ort in Bezug auf in ihren Augen »minderwertige« Bevölkerungsschichten deutlich zu spüren. Dort kamen Beurteilungen zum Tragen, deren Spannweite von »da Kongresspole deutsches Blut nicht nachweisbar« über »rassisch nicht einwandfrei«, »asozial« bis hin zu »geistesschwach und völlig verwahrlost« und »unerwünschter Bevölkerungszuwachs, erbkrank« reichte.90 Ein weiteres Problemfeld, in dem das Verhalten der lokalen Bevölkerung nachvollzogen werden kann, waren die »Absiedlungen« von Familienangehörigen der bei der Wehrmacht dienenden DVL - Angehörigen der Abteilung 3 von ihren Bauernhöfen. Dies reicht bereits in den Bereich der Folgewirkungen der eigentlichen DVL - Eintragung hinein und berührt die Frage nach den Interdependenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten und einer eventuellen Rückwirkung des Verhaltens Letzterer auf die Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus. So existiert eine Reihe von Vorgängen, in denen Wehrmachtangehörige der Abteilung 3 der DVL entweder direkt oder über ihre Vorgesetzten, teilweise sogar direkt über das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ), gegen eine zwischenzeitlich erfolgte Enteignung und Vertreibung der Eltern von ihrem Bauernhof protestierten und deren Restitution forderten.91 Das »Absiedlung« genannte Verfahren betraf Personen, die nicht in die DVL aufgenommen worden waren und weiterhin als »Polen« galten, woraufhin ihre landwirtschaftlichen Güter zugunsten der Ansiedlung von volksdeutschen Umsiedlern eingezogen wurden. Das Problem für die Wehrmacht bestand darin, dass die Betroffenen oft erst nach erfolgter »Absiedlung« in die DVL aufgenommen wurden. Daraufhin hatten sie zumindest theoretisch einen Anspruch auf Rückerstattung ihres Grundbesitzes und Rückführung dorthin. Für die bei der Wehrmacht dienenden Söhne aus diesen Familien bedeutete ihr Protest nichts anderes als der Kampf um ihr elterliches Erbe, das sie in der Regel nach dem Militärdienst antreten wollten. Die Wehrmacht wiederum legte Wert auf die Aufrechterhaltung von Ruhe in den Kampfeinheiten und der Kampfmoral der Soldaten, was durch derartige Probleme gefährdet war. Aufgrund dieses Eigeninteresses nahmen sich die Wehrmachtdienststellen solcher Angelegenheiten intensiv an und traten wiederholt sogar in Konflikt mit den SS - Dienststellen, die mit der Ansiedlung der Volksdeutschen befasst waren. In den untersuchten Fällen wurde die »Absiedlung« jedoch nicht rückgängig gemacht, weil die auf den fraglichen Höfen bereits angesiedelten Volksdeutschen entsprechend einer Anordnung des Reichsführers - SS Vorrang 90

91

Siehe die Volkslistenakten von Johann A., Gremblin ( ebd., Sign. 36, Bl. 7), Valeria A., Pelplin (ebd., Sign. 43, Bl. 13 f.), Johann C., Wolsche ( ebd., Sign. 204, Bl. 21 f.) sowie Josef D., Pehsken (ebd., Sign. 302). In den Akten der SS - Kreisstelle Berent befindet sich eine größere Zahl solcher Vorgänge ( ebd., Wyższy Dowódca SS i Policji Gdańsk - Prusy Zachodnie [ Höherer SS - und Polizeiführer im Reichsgau Danzig - Westpreußen ], Sign. 4487, 4488).

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hatten.92 Vielmehr kam aufgrund der erfolgten Intervention der Wehrmacht lediglich die im Herbst 1942 von dieser durchgesetzte Entschädigungsregelung für Volkslistenangehörige zur Anwendung, wobei die Ansiedlungsstäbe der SS minutiös den Wert der betroffenen Bauerngüter ermittelten. Diese Entschädigungsregelung wirkte jedoch wenig zugunsten der Betroffenen, weil sie im Wesentlichen erst nach Kriegsende wirksam werden sollte. Die Antragsteller erhielten nur einen geringen Vorschuss in bar ausgezahlt, während der Großteil der Summe auf einem Verwahrkonto angelegt wurde, auf das der Kontoinhaber erst nach Kriegsende zugreifen konnte, und das auch nur dann, wenn er sich im »Altreich« ansiedelte.93 Damit blieb faktisch die SS Sieger im »Poker« mit der Wehrmacht um die Rechtsstellung der DVL - Angehörigen der Abteilung 3 im Gau Danzig - Westpreußen. Die durch den Reichsführer - SS und seine Dienststellen angestrebte »Festigung des Deutschtums« durch Ansiedlung von volksdeutschen An - und Umsiedlern konnte durch die Proteste der vorherigen Landbesitzer nicht gefährdet werden, obwohl die ihnen als Volkslistenangehörigen und damit zumindest deutschen »Staatsangehörigen auf Widerruf« zugesicherten Rechte durch die Entschädigungsregelung formal gewahrt blieben. 3.2 Reichsgau Wartheland

Im Wartheland wurde der Kreis der Einzudeutschenden deutlich enger gezogen als in Danzig - Westpreußen, weshalb es dort keinen allgemeinen Einschreibungszwang in die DVL in Bezug auf die polnischsprachige Bevölkerung des Gaues gab. Im Fokus von Greisers Volkstumsbürokraten standen zunächst die sogenannten »Bekenntnisdeutschen« aus der Zeit vor 1939 bzw. die »Stammesdeutschen«, die ohnehin die Eintragung in die DVL meist freiwillig beantragten und bis 1941 in Abteilung A und B der »DVL Wartheland« bzw. später in die Abteilungen 1 und 2 der ( neuen ) DVL aufgenommen wurden. Bekenntnis ging hier eindeutig vor Abstammung, die erst bei den Aufnahmen in die Abteilungen 3 und 4 eine Rolle spielte.94 Ab 1942 wurde dann nach sogenannten »Deutschstämmigen« gefahndet, die, obwohl mutmaßlich deutscher Herkunft, sich vor 1939 nicht zum Deutschtum bekannt hatten und sich meist auch als Polen betrachteten. Letzterem Personenkreis waren bereits durch einen Himmler - Erlass im Falle der Nichtstellung eines Antrags sicherheitspolizeiliche Maßnahmen bis hin zu 92 93

94

Allgemeine Anordnung 9/ IV des Reichsführers - SS als RKF vom 21.12.1940 ( BArch, R 186/31). Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht ( OKW ) betreffend »Behandlung der in Abt. 3 und 4 der Deutschen Volksliste eingetragenen Wehrpflichtigen und ihrer Angehörigen« mit den Details der Entschädigungsregelung vom 2. 10. 1942 ( IZ, Dok. I - 253, Bl. 33 f.). Abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 161–165. Beispiele für Entschädigungsvorgänge in den Akten der Abt. Wiedergutmachung beim HSSPF Danzig - Westpreußen ( APG, Wyższy Dowódca SS i Policji Gdańsk Prusy Zachodnie, Sign. 4449–4485). Vgl. auch Wolf, Ideologie, S. 266–277.

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Konzentrationslagerhaft angedroht worden.95 Offenbar handelte es sich dabei um ein verbreitetes Phänomen, worauf in verschiedenen Kreisen des Warthegaus erstellte Listen mit Namen solcher »Deutschstämmiger« hindeuten. Die Kreisamtsleiter der NSDAP waren im Dezember 1942 durch den Gauamtsleiter für Volkstumspolitik aufgefordert worden, diese Personen zu erfassen und zur Abgabe von Anträgen aufzufordern. In jedem Kreis waren mehrere Hundert Betroffene zu verzeichnen, was bei der nicht geringen Anzahl von Kreisen im Warthegau eine beträchtliche Gesamtzahl ergab. Bemerkenswert ist das Verfahren, das die Ortsbeauftragten der NSDAP für die Ermittlung anwandten : Sie stützten sich auf »deutschklingende Namen [...], da sonst wenig Handhaben zur Feststellung der Deutschstämmigkeit bestehen«.96 Darin zeigte sich ein Dilemma der NS - Volkstumspolitik. Auch wenn relativ pauschal zunächst eine Gleichsetzung von »deutsch« und »evangelisch« sowie »polnisch« und »katholisch« erfolgte, existierten keine belastbaren Kriterien für die Einstufung einer Person als Deutscher oder Pole. Deshalb orientierten sich die Volkstumsbürokraten am Familiennamen einer Person bzw. von deren Vorfahren. Demnach wurde im Widerspruch zur eigenen Ideologie versucht, biologische Abstammung vermittelt über ein bloß kulturelles Konstrukt, wie es der Familienname ist, nachzuweisen. Die Analogie zur Definition der Juden in den Nürnberger Rassegesetzen, in denen »Rasse« auch nur an einem kulturellen Marker wie der Religionszugehörigkeit festgemacht wurde, fällt dabei ins Auge. Im Wartheland wurde anhand der vier Großeltern des jeweils Betroffenen der Prozentsatz der deutschen Abstammung »festgestellt«. Trugen beispielsweise zwei der vier Großeltern deutsch klingende Namen, wurden 50 Prozent unterstellt, war dies nur bei einem Großelternteil der Fall, wurden 25 Prozent veranschlagt. Weil die Abstammungsverhältnisse aber erst bei der Antragstellung offenbar werden konnten, waren die NS - Funktionsträger bei der »Jagd« auf diesen Personenkreis darauf angewiesen, dass der potentielle »Antragsteller« selbst einen mutmaßlich deutschen Namen führte. Solchen »Deutschstämmigen«, die sämtliche durch den Gauleiter gesetzten Fristen für die Antragstellung versäumt hatten, wurde »das politische Aufgehen im Polentum« unterstellt, was »damit zum Ausdruck« käme, »dass sich diese Personen noch bis heute zum Polentum bekannt haben«.97 Richtig daran ist, dass die Betroffenen sicherlich nicht Deutsche werden wollten. Die Gründe für die Ablehnung der Antragstellung waren breit gefächert. Ein wichtiges Ziel der Betroffenen 95 96 97

Erlass des Reichsführers - SS als RKF vom 16. 2. 1942 ( BArch, R 49/71, Bl. 69). Abgedruckt in Doc. Occ. V, S. 147. SD - Leitabschnitt Posen an NSDAP - Gauamt für Volkstumspolitik Posen vom 11. 2. 1943 ( IZ, Dok. I - 302, Bl. 21). Reichsstatthalter Wartheland an Regierungspräsidenten in Posen, Hohensalza und Litzmannstadt vom 26.11.1942 ( IZ, Dok. I - 399, Bl. 17).

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war, eine einheitliche Behandlung ihrer Familie durch die Besatzungsmacht zu erreichen. In einem Fall aus Posen behauptete der »Kandidat«, obwohl er den roten Ausweis der DVL ( Abteilung 4) besaß, keinen Antrag gestellt zu haben, wollte den Ausweis demnach nachträglich ablehnen. Er wollte heiraten, was unmöglich war, da die Zweigstelle der DVL seine Braut zur Polin erklärt hatte. Das Kreisschulungsamt Posen - Stadt der NSDAP bemerkte dazu : »Er selbst will nur Deutscher sein, wenn seine Braut auch den Volkstumsausweis erhält. [...] G. ist nach seinem Verhalten und nach seinen Äußerungen zu urteilen Pole und wird es auch bleiben [...]. Da seine Braut den Ausweis nicht bekommt, kann er nicht heiraten.« Abschließend empfahl das Amt, ihm »nach nochmaliger Prüfung der Deutschstämmigkeit« den DVL - Ausweis zu entziehen. Hintergrund für den Heiratswunsch stellte ein zwei Monate altes gemeinsames Kind der Brautleute dar.98 Bei einem anderen Vorgang war ebenfalls kein Antrag auf Aufnahme in die DVL gestellt worden, obwohl der Betreffende von der Zweigstelle Posen - Stadt wegen seines deutschen Namens ( Beyer ) und des deutschen Namens einer seiner Großmütter einen roten Ausweis erhalten hatte. Er lehnte seine Aufnahme in die DVL in mehreren Schreiben an die Behörden mit dem Tenor ab, wonach »er es als eine Unehrlichkeit gegenüber dem Deutschen Reiche betrachte, wenn er jetzt als Deutscher in die Volksliste aufgenommen werden« solle. Er wolle »Pole bleiben und strebt an, Leistungspole zu werden. Er will mit seinen gesamten Angehörigen, die auch Polen sind, nicht brechen, was er als Deutscher tun müsste.« Das Besondere an diesem Vorgang war, dass seine Braut kurz zuvor in die DVL aufgenommen worden war.99 Die eigene vehemente Ablehnung einer Aufnahme musste letztlich dazu führen, dass er sie nicht würde heiraten dürfen. Den Hintergrund für dieses Verhalten stellte sicherlich der soziale Druck seitens seiner Verwandten dar, die offenbar seine Aufnahme – und jene der Braut – in die DVL missbilligten. Um sich vorsichtig von der deutschen Herrschaft distanzieren zu können, wollte er Greisers aktuelle Bestrebungen zur Gründung eines Verbandes von »Leistungspolen« nutzen, was ihm den weiteren Umgang mit seinem polnischen Umfeld ermöglicht hätte.100 Die mit dem Status eines »Leistungspolen« verbundenen materiellen Vorteile hätten ihm jedenfalls eine Annäherung an den für Volksdeutsche vorgesehenen Standard gesichert. In diesem wie in dem vorerwähnten Einzelfall ist die naheliegende Vermutung, die beiden »Antragsteller« 98 NSDAP - Kreisleitung Posen - Stadt an NSDAP - Gauleitung Wartheland vom 5. 4. 1943 mit Abschrift eines Berichts des NSDAP - Kreissschulungsamts Posen - Stadt an NSDAP - Kreisleitung Posen - Stadt vom 16.3.1943 ( IZ, Dok. I - 302, Bl. 11 f.). 99 Ebd. 100 Zur Problematik der »Leistungspolen« Madajczyk, Okkupationspolitik, S. 515 f.; Wolf, Ideologie, S. 476 f. Vgl. auch Greisers Rede auf der Arbeitstagung des Gauamtes für Volkstumspolitik am 20./21.3.1943. Abgedruckt in Doc. Occ. IV, S. 241–253.

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hätten sich nur der Wehrpflicht entziehen wollen, unzutreffend, denn als Angehörige der Abteilung 4 der DVL wären sie nicht wehrpflichtig gewesen. Einen weiteren Kreis von »Kandidaten« für die DVL stellten die polnischen Ehepartner in sogenannten »völkischen Mischehen« dar, in denen einer der Partner in die DVL aufgenommen worden war. Im Unterschied zu den »Deutschstämmigen« sollte bei dieser Gruppe kein Zwang angewendet werden, weil Himmler die von Greiser zunächst angedachte Anwendung »staatspolizeilicher Maßnahmen« abgelehnt hatte.101 Das warf Probleme für den Fall auf, wenn der polnische Partner eine Aufnahme in die DVL ablehnte, was offenbar nicht selten geschah. Ein Beispiel dafür ist der Fall der Eheleute Else Charlotte und Marian R. aus Posen. Sie war aus eigener Perspektive und aus NS - Sicht eine »echte« Volksdeutsche, die aber 1938 einen Polen geheiratet hatte. Aufgrund dieser »späten« Mischehe war sie nur in DVL - Abteilung 3 eingestuft worden. In Verfolg des im Warthegau meist genau beobachteten Grundsatzes der Einheit der Familie – entweder waren beide Ehepartner Angehörige der Volksliste oder beide nicht –, legte die Zweigstelle Else Charlotte R. nahe, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Da sie sich weigerte, diesen Schritt zu vollziehen, wurde ihr Mann vorgeladen und ihm bedeutet, einen Antrag zu stellen. Dieser lehnte seinerseits unter Hinweis auf seine Abstammung aus einem alten polnischen Adelsgeschlecht ab und erklärte, »er schäme sich daher vor seinen Verwandten, Deutscher zu werden«. Nun wurde er erneut mit dem Fakt konfrontiert, »es bleibe dann nur die Scheidung übrig«. Else Charlotte R. erklärte vor der Zweigstelle, »sie würde lieber den Ausweis abgeben und Polin werden, als sich von ihrem Mann trennen«. Dieses Verhalten stellte den Anlass für eine Aufforderung der DVL - Zweigstelle Posen - Stadt an die Gestapo - Leitstelle Posen dar, Marian R. in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, was irrtümlicherweise damit begründet wurde, dass der Erlass des RMdI vom 13. März 1941 mit den Durchführungsbestimmungen zur DVL dies vorsehe.102 Die Stapoleitstelle Posen verneinte daraufhin die Möglichkeit der Einleitung »staatspolizeilicher Maßnahmen« in solchen Fällen. Ihr Antwortschreiben endete mit folgender Feststellung, die ganz den ideologischen Prämissen der im Warthegau verfolgten Volkstumspolitik entsprach : »Meines Erachtens besteht auch rein volkspolitisch gesehen kein Interesse daran, solche dem Deutschtum zweifellos ablehnend gegenüberstehende Polen in das deutsche Volkstum hineinzuzwingen.«103

101 Reichsstatthalter Wartheland an Reichsführer - SS, RKF vom 11.8.1942 ( IZ, Dok. I - 399, Bl. 12); Reichsstatthalter Wartheland an Regierungspräsidenten Posen, Hohensalza, Litzmannstadt vom 20.11.1942 ( ebd., Bl. 15R ). 102 DVL - Zweigstelle Posen - Stadt an Gestapo - Leitstelle Posen vom 31. 7. 1941 ( IZ, Dok. I - 212, Bl. 1). 103 Gestapo - Leitstelle Posen an DVL Zweigstelle Posen - Stadt vom 20.8.1941 ( ebd., Bl. 2).

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Möglicherweise hat der eben erwähnte Fall mit zu der bereits erwähnten Intervention Greisers bei Himmler beigetragen, gegen derart »widerspenstige« Personen sicherheitspolizeiliche Maßnahmen anwenden zu können. Der enge zeitliche Zusammenhang beider Vorgänge könnte dafür sprechen. Zwar widersprach die Aufnahme von Polen in die DVL den ideologischen Prämissen Greisers, denn die Intention der DVL im Warthegau war ganz klar daraufhin ausgerichtet, »so wenig als möglich fremdes Blut dem deutschen Volkstum zuzuführen«.104 Dies bedeutete eine stärker exklusive Politik, als sie mit der reichsweiten DVL angelegt war. Allerdings – und hier zeigten sich Greiser und seine Volkstumsbürokraten durchaus pragmatisch – bedachten sie die aus einer Verletzung der Familieneinheit etwa folgenden Konsequenzen genau, schließlich hatten sie mit ihren »Apartheid« - Bestimmungen für »Polen« die Probleme überhaupt erst geschaffen. Um die Akzeptanz der Besatzung zu erhöhen, galt es beispielsweise zu vermeiden, dass die in die DVL aufgenommene Frau L. »jetzt in Posen im vorderen Straßenbahnwagen fahren« dürfe, »ihr Mann nur im hinteren«, sie »Kaffees und Kinos besuchen« dürfe, »er nicht«.105 Da Himmler jeden Zwang in Bezug auf die polnischen Ehepartner ablehnte, war diese Anomalie zumindest theoretisch nur durch die Nichteintragung beider Ehepartner zu vermeiden. Mit dem für Deutschland fortschreitend ungünstigen Kriegsverlauf allerdings änderte sich auch hier das Vorgehen. Im April 1944 wurde Franz K. aus Mauche im Kreis Wollstein »im Interesse der Familieneinheit« in Abteilung 4 aufgenommen, nachdem er »mit Nachhilfe der Gestapo« einen Antrag gestellt hatte. Seine »deutschstämmige« Frau und die Kinder waren bereits zwei Jahre zuvor in die DVL aufgenommen worden. Anfang 1944 wurde dann auf ihn Druck ausgeübt, dem er schließlich nachgab, obwohl er zunächst erklärt hatte, Pole zu sein und deshalb auch nicht zur Antragstellung nach Wollstein fahren zu wollen. Aber auch nach seiner Aufnahme verzögerte er noch die Aushändigung des Volkslistenausweises, indem er der mehrmaligen Aufforderung, Lichtbilder abzugeben, nicht nachkam. Offenbar wurden die Passfotos dann zwangsweise durch den Gendarmerie - Posten Altkloster beigebracht. Dieser führte in seinem Begleitschreiben auch den offensichtlichen Grund für die Verzögerung an : »Nach seinem Verhalten hat er keine Lust, Volksdeutscher zu werden.«106 Letzteres war nur zu verständlich, denn der Vorgang spielte sich im Juli 1944 ab, als die Dinge für das »Großdeutsche Reich« militärisch längst nicht mehr zum besten standen. Zu diesem Zeitpunkt operierte die Rote Armee bereits auf polnischem Vorkriegs104 Reichsstatthalter Wartheland an Reichsführer - SS ( Entwurf ) vom 2. 4. 1943 ( APP, Namiestnik Rzeszy w Okręgu Kraju Warty, Sign. 1121, Bl. 84). 105 Ebd., Bl. 85. 106 Vgl. Volkslistenakte Franz K., Mauche ( APP, VD powiat Wolsztyn [ Volksdeutsche Kreis Wolsztyn ], Sign. 1795). Die Zitate in : Entscheid der DVL - Zweigstelle Wollstein vom 8. 4. 1944 (ebd.); Gendarmerie - Posten Altkloster an DVL - Zweigstelle Wollstein vom 2.7.1944 ( ebd.).

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territorium. Was die Intentionen der Volkstumsbürokraten des Warthegaus angeht, so könnte der Vorgang seine Erklärung in einem von Gerhard Wolf unter anderem für diesen Gau diagnostizierten ansatzweisen Politikwechsel in Volkstumsfragen hin zu einer stärkeren Assimilation polnischer Bevölkerungsteile finden.107 Neben guten Gründen für eine Ablehnung der Eintragung in die DVL gab es ebenfalls starke Motive für die einheimische Bevölkerung des Warthegaus, auf freiwilliger Basis eine Eingruppierung in dieselbe anzustreben. Zumindest gilt dies für einen Teil der DVL - Angehörigen der Abteilungen 3 und 4, aber auch für das Gros der Abgelehnten polnischer Muttersprache. Auch hier gab es sehr unterschiedliche Begründungen für ein derartiges Verhalten. Über die Problematik der Erhaltung von Wirtschaftsgütern wie Betrieben ist bezüglich der Diskussion von Einzelfällen vor dem Obersten Prüfungshof bereits einiges gesagt worden. Die Sicherung des Eigentums stellte sicherlich einen wichtigen Grund für die Antragstellung dar. Dies lag in der Logik des von den Besatzern oktroyierten Sonder»rechts« für die Polen. Darüber hinaus war die Bewahrung der Einheit von Familien ein zentrales Motiv nicht nur dafür, eine Antragstellung abzulehnen, sondern auch – wie bereits für Danzig - Westpreußen festgestellt – dafür, sich um Aufnahme in die deutsche »Volksgemeinschaft« zu bemühen. Dabei fassten die Betroffenen den Begriff der Familie in der Regel weiter als Greisers Volkstumsbürokratie, die darunter lediglich die »Herdstelle«108 unter Einbeziehung der nicht selbständigen Kinder verstand. Als Beispiel mag der Antrag des Karl K. aus Lindenbrück bei Wollstein gelten, der in seiner Antragsbegründung Folgendes zum Ausdruck brachte : »Wir sind drei Brüder, der eine ist Reichsdeutsch, der andere Volksdeutsch [...]. Ich werde immer noch als Pole angesehen.« Einer der Brüder war kurz nach dem Ersten Weltkrieg – wohl als deutscher Optant – ins »Altreich« übergesiedelt. Aufgrund einer »Deutschstämmigkeit« von 50 Prozent wurde K. mit seinen Kindern in Abteilung 3 aufgenommen, seine Frau nur in Abteilung 4. 1944 erreichte er, der inzwischen bei der Wehrmacht diente, ihre Umstufung in Kategorie 3.109 Auch wenn hinter derartigen Begründungen für die Antragstellung – verständlicherweise – manchmal auch Interessen im Hinblick auf die Verbesserung des rechtlichen Status und der Ernährungssituation standen, muss die familienbezogene Argumentation durchaus ernst genommen werden. Aufgrund der seit dem 19. Jahrhundert erfolgten Migrationsbewegungen zwischen der ehemaligen preußischen Provinz und späteren polnischen Wojewodschaft Posen und den

107 Vgl. Wolf, Ideologie, S. 472–478. 108 Reichsstatthalter Wartheland an Reichsführer - SS ( Entwurf ) vom 2.4.1943 ( ebd., Bl. 85). 109 Volkslistenakte Karl K., Lindenbrück ( Widzim Stary ), Kr. Wollstein ( APP, VD powiat Wolsztyn, Sign. 2088). Zit. in Karl K. an Landrat Wollstein vom 7.2.1941 ( ebd., Bl. 5).

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mittleren und westlichen Teilen Deutschlands – und zwar in beide Richtungen – gab es vielfältige familiäre Verflechtungen über die Vorkriegsgrenze von 1939 zwischen Deutschland und Polen hinweg.110 Durch deutsch - polnische Mischehen waren Verwandtschaften und Schwägerschaften auch zum jeweils anderen nationalen »Lager« entstanden. Die im Warthegau beabsichtigte strikte Trennung in Deutsche und Polen musste hier naturgemäß Probleme aufwerfen, schließlich wollten die dortigen »Polen« das Kontaktverbot zu ihren »deutschen« Verwandten nicht hinnehmen und umgekehrt. Selbstverständlich gab es auch ethnische Gemengelagen innerhalb von Familien im Warthegau selbst, bei denen nahe Verwandte durch Dienststellen der DVL unterschiedlich behandelt wurden, was wiederum zur Antragstellung der nach wie vor als »Polen« Behandelten führen konnte. Zumindest jenen, die freiwillig einen Antrag auf Aufnahme in die DVL gestellt hatten, war von polnischen Widerstandskreisen – und zwar verschiedener politischer Couleur – bereits während des Krieges vorgeworfen worden, nationalen Verrat begangen zu haben. Dies mündete nach dem Zweiten Weltkrieg in das Dekret vom 28. Juni 1946, das polnischen Staatsbürgern, die zwischen dem 1. September 1939 und dem 9. Mai 1945 ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität erklärt hatten, eine Strafe von bis zu zehn Jahren Haft androhte.111 Ohne solchen Vorwürfen folgen zu wollen, ist dennoch festzustellen, dass in Einzelfällen die Betroffenen mehr oder weniger »auf mehreren Hochzeiten tanzen« wollten. Ein charakteristisches Beispiel dafür war der Volkslistenvorgang der Johanna B. aus Posen, wobei man sich hier nicht zu moralischen Verurteilungen bezüglich des Verhaltens in einer Zwangssituation hinreißen lassen sollte, vor allem, wenn das Urteil allein auf der Zuverlässigkeit deutscher Akten basieren muss. Johanna B. war von der Zweigstelle Posen - Stadt in die Abteilung 4 aufgenommen worden. Sie gab an, zu 100 Prozent deutschstämmig zu sein, ihre Mutter habe einen DVLAusweis und eine Schwester lebe in Köln. Abstammungsnachweise konnte sie keine beibringen, weil die Kirchenbücher in ihrer Geburtsstadt Hohensalza verbrannt seien – letzteres bestätigte die Behörde. Eine höhere Einstufung als 4 lehnte die Bezirksstelle der DVL Posen im Dezember 1942 im Widerspruchsverfahren ab, weil Johanna B. sich weigerte, sich von ihrem Ehemann kongresspol-

110 Dabei ist vor allem an die Wanderung polnischer Arbeitskräfte in die Industriegebiete Mittel und Westdeutschlands in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu denken, aber auch an die Remigration von Teilen dieser Migranten nach Polen sowie die Ausreise von deutschen Optanten aus Polen nach 1918. 111 Dekret z dnia 28 czerwca 1946 r. o odpowiedzialności karnej za odstępstwo od narodowości w czasie wojny 1939–1945 r. [ Dekret über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Abfallen von der Nationalität in der Zeit des Krieges 1939 bis 1945 vom 28.6.1946]. In : Dz. U. RP, 1946, nr 41, poz. 237. Vgl. Krzysztof Stryjkowski, Położenie osób wpisanych w Wielkopolsce na niemiecką listę narodowościową w latach 1945–1950, Poznań 2004, S. 59–96, 400–501.

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nischer Herkunft, von dem sie nach eigener Aussage seit 1933 getrennt lebte, scheiden zu lassen. Als Grund dafür gab sie »kirchliche Gebundenheit« an.112 Interessant wird dieser Einzelfall durch Vorgänge, die zu einer nochmaligen Überprüfung der Angelegenheit infolge eines nach dem Entscheid der Bezirksstelle erfolgten Einspruchs der SD - Leitstelle Posen gegen die Aufnahme der B. in die DVL überhaupt führten. Neben der Feststellung, Johanna B. sei aufgrund dreier Großeltern mit polnischen Familiennamen gar nicht deutschstämmig, wurden erhebliche Zweifel an ihrem loyalen Verhalten im Sinne des Deutschtums laut. Den Hintergrund bildete ihr Verhalten am Arbeitsplatz. An einer Arbeitsstätte habe sie dem Chef zwar mitgeteilt, dass sie »volksdeutsch« sei, aber darum gebeten, ihr dennoch den sogenannten »Polenabzug« vom Gehalt zu machen, damit die Arbeitskolleginnen nichts davon erführen, »weil ihr dieses peinlich sei«.113 Ihr nächster Arbeitgeber, der Geschäftsführer eines Kinos, lehnte ihre Weiterbehandlung als Polin ab und forderte sie auf, die Papiere ändern zu lassen. Weil sie gegenüber der Kundschaft »in zahlreichen Fällen frech und unverschämt« aufgetreten, mit »hohen Bekannten« gedroht habe und »in höchstem Grade unverträglich« sei, wurde sie durch den Geschäftsführer entlassen und die Angelegenheit dem SD übergeben.114 Der Leiter des Gauamtes für Volkstumsfragen, Rolf - Heinz Höppner, Greisers Alter ego in der Volkstumspolitik, ordnete daraufhin persönlich eine erneute Überprüfung des Falles B. an.115 In der Folge beschäftigte sich die Bezirksstelle Posen nochmals in zwei Sitzungen mit diesem Vorgang. Ergebnis war die Aberkennung des Volkslistenausweises für Johanna B. Dies wurde mit ihrer mangelhaften Bereitschaft, sich an ihrem Arbeitsplatz als Volksdeutsche zu bekennen, begründet : »Unter diesen Umständen kann nicht von einer begonnenen Eindeutschung gesprochen werden, die durch die Entziehung des Ausweises unterbrochen würde.«116 Weiterhin wurde ihr vorgeworfen, dass sie ihre 16 - jährige Tochter nicht deutsch erzogen habe und diese die Eindeutschung verweigere.117 Dass Johanna B. tatsächlich Bekannte in höhergestellten deutschen Kreisen hatte, wird durch eine Anfang 1944 zu ihren Gunsten erfolgte Intervention von Heinrich Graf Keyserlingk, eines Großgrundbesitzers aus Neustadt in Westpreußen, der ihre Familie von früher her kannte, bestätigt. Diesem wurde von der DVL - Bezirksstelle mitgeteilt, dass Johanna B.

112 Entscheid der DVL - Bezirksstelle Posen vom 17.12.1942 ( APP, VD miasto Poznań [ Volksdeutsche Posen - Stadt ], Sign. 570). 113 SD - Leitabschnitt Posen an DVL - Zentralstelle Posen vom 26.5.1943 ( ebd.). 114 Geschäftsführer Apollo - Filmtheater Posen an Direktor Fromholz vom 7.4.1943 ( ebd.). 115 SD - Leitabschnitt Posen an DVL - Zentralstelle Posen vom 26. 5. 1943, handschriftlicher Randvermerk Höppners ( ebd.). 116 Entscheid der DVL - Bezirksstelle Posen vom 9.9.1943 ( ebd.). 117 Entscheid der DVL - Bezirksstelle Posen vom 18.11.1943 ( ebd.).

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»abstammungsmäßig nicht, nach den hier geltenden Richtlinien, die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Deutsche Volksliste« erfülle.118 Damit waren die Bemühungen der Betroffenen, sich gewissermaßen in beide Richtungen hin alle Möglichkeiten offen zu halten, zur Gänze gescheitert. Dies illustriert zugleich, wie schwierig es war, eine derartige Absicht in die Tat umzusetzen, denn die NS - Volkstumsbürokraten im Warthegau waren durchweg sehr misstrauisch, wenn DVL - Angehörige ihre Kontakte zum »polnischen Volkstum« nicht auf ein Mindestmaß reduzierten und sich nicht genügend zum »deutschen Volkstum« bekannten. Die sich hier zeigende nationale Indifferenz, die sicherlich für einen großen Teil der Bevölkerung des besetzten Polen symptomatisch war, stieß sowohl bei den deutschen Besatzern als auch beim polnischen Umfeld der Antragstellerin auf Ablehnung. Dass Johanna B. Teil der deutschen »Volksgemeinschaft« werden wollte, zeigt vor allem ihre Beschwerde gegen die Kategorie der Einstufung in die DVL, aber auch die Nutzung von Beziehungen. Theoretisch denkbar wäre zwar auch, dass sie bewusst von der polnischen Widerstandsbewegung in die DVL »eingeschleust« werden sollte. Dagegen spricht aber ihr eher ungeschicktes, auffälliges Verhalten am Arbeitsplatz, das dem Widerstand letztlich keinerlei Vorteile gebracht hätte. Insofern trifft wahrscheinlich zu, dass sie von der einen Seite Vorteile erhalten wollte, ohne mit der anderen Seite zu brechen. Ein völlig anders gelagerter Einzelfall soll abschließend betrachtet werden. Hier ging es um den Fotografen Tadeusz Brodka, Jahrgang 1920, aus Posen, der seine Aufnahme in die DVL – eher ungewöhnlich – vom Konzentrationslager Auschwitz aus beantragte. Es handelte sich um den Häftling mit der KZ - Nummer 245, der zusammen mit über 700 anderen Personen, die mit der polnischen Widerstandsbewegung verbunden waren, am 14. Juni 1940 mit dem ersten Massentransport polnischer Häftlinge vom Gefängnis in Tarnów her in das Stammlager Auschwitz eingeliefert worden war.119 Das seinem Antrag zugrundeliegende Motiv war nachvollziehbar : Er hoffte, nach einer Aufnahme in die Volksliste aus dem KZ entlassen zu werden. Das einigermaßen Verwunderliche an diesem Vorgang ist, dass die KZ - Kommandantur sowohl seinen Antrag als auch die Beschwerde gegen die von der Zweigstelle Posen ausgesprochene Ablehnung »ordnungsgemäß« an die Posener Dienststellen weiterleitete und so bürokratische Kapazitäten band. Von der Antragstellung im Juli 1942 bis zur endgültigen Ablehnung im Mai 1944 vergingen immerhin fast zwei Jahre. Für die DVL Zweigstelle war der Fall völlig klar. Die Ablehnung erfolgte, weil der Antragsteller 118 DVL - Bezirksstelle Posen an Heinrich Graf Keyserlingk, Neustadt / Westpreußen, vom 12.2.1944 ( ebd.). 119 Pierwszy Transport do KL Auschwitz ( http://en.auschwitz.org/m/index.php?option=com_ wrapper&Itemid=31; Camp serial number= 245; Quelle : Państwowe Muzeum Auschwitz - Birkenau ).

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zu 100 Prozent polnischer Abstammung sei, ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum vor 1939 nicht vorliege und er darüber hinaus KZ - Häftling sei. Im Januar 1943 hatte sich B. außerdem zur Wehrmacht gemeldet, sicherlich auch mit dem Hintergrund, aus dem KZ entlassen zu werden.120 Dem wurde offenbar nicht stattgegeben, denn im November dieses Jahres legte B. erneut aus dem KZ heraus Widerspruch gegen die Ablehnung des DVL - Antrages ein und die Begründung verrät zum ersten und einzigen Mal etwas Konkretes über die Umstände seiner Verhaftung : »Im KZ befinde ich mich lediglich aus einem reinen unglücklichen Zufall. Meine Verhaftung erfolgte in einem Caffeehaus in Krakau im Zuge einer Verhaftungsaktion.«121 Jedenfalls lehnte die Bezirksstelle Posen – aus ihrer Sicht konsequent – auch die Beschwerde des Antragstellers ab. Vor dem Hintergrund seiner Verhaftung konnte dies nicht verwundern.122 1944 überstellten ihn die Nationalsozialisten ins KZ Sachsenhausen; den Krieg überlebte er.123

4. Resümee Die Entscheidungen des Obersten Prüfungshofs, teilweise auch jene der unteren Instanzen der DVL vermitteln den Eindruck, dass bei der konkreten Anwendung dieses volkstumspolitischen Instruments in manchen Fällen nicht der ideologisch bestimmte Zweck im Sinne der »völkischen« Trennung zwischen Deutschen und »Fremdstämmigen« im Vordergrund zu stehen schien. Im DVL Verfahren wurden vielmehr des Öfteren Interessen in einer mitunter sogar opportunistisch zu nennenden Art und Weise durchgesetzt, die für das NS Regime aus unterschiedlichen Gründen von Bedeutung waren und von denen »Rasse« und / oder »Deutschstämmigkeit« nur einen Faktor unter anderen darstellten. Die drei in der Durchführungsverordnung des RMdI genannten Kriterien für die Aufnahme in die DVL – »Bekenntnis zum deutschen Volkstum«, deutsche Abstammung, »rassische Eignung« – konnten bereits aus Gründen der Logik kaum in Übereinstimmung gebracht werden. De facto wurden sie in der Regel so gegeneinander gewichtet, dass das Ergebnis den maximalen Nutzen für das NS - Regime brachte, und zwar hinsichtlich der Ausbeutung und Ausplünderung der annektierten Gebiete sowie der Entfernung von wirklichen und mutmaßlichen Feinden des Nationalsozialismus aus diesen Territorien. Dennoch 120 Entscheid der DVL - Zweigstelle Posen - Stadt vom 17. 7. 1943 ( APP, VD miasto Poznań, Sign. 1002). 121 Tadeusz Brodka an DVL - Zweigstelle Posen - Stadt vom 7.11.1943 ( ebd.). 122 Entscheid der DVL - Bezirksstelle Posen vom 25.5.1944 ( ebd.). 123 Pierwszy Transport do KL Auschwitz ( http://en.auschwitz.org/m/index.php?option=com_ wrapper&Itemid=31; Camp serial number= 245; Quelle : Państwowe Muzeum Auschwitz - Birkenau ).

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darf nicht übersehen werden, dass bei allem offensichtlichen Pragmatismus des Obersten Prüfungshofs und seines Vorsitzenden Himmler Entscheidungen, die zunächst primär wirtschaftlich motiviert erschienen, zugleich auch Ausdruck der NS - Ideologie waren. Mindestens so zentral wie das Postulat, kein deutsches Blut fremdem Volkstum nutzbar zu machen, war die ideologische Prämisse, wonach nur Boden germanisiert werden könne. Die Entscheidungen des Prüfungshofs in Bezug auf die Besitzer von großen Landgütern in den »eingegliederten Ostgebieten« zeigen das eindringlich. Eine gewisse Entwicklung weg von der Ideologie hin zum Pragmatismus fand nach der Wende des Krieges statt, die spätestens mit dem Fall von Stalingrad Anfang 1943 manifest wurde. Hierfür spricht die ab 1943 spürbar stärkere Gewichtung von Loyalität gegenüber dem »Dritten Reich« durch den Obersten Prüfungshof, was sich in den Plänen zur weiteren Ausdifferenzierung der »Hierarchie des Rassismus« zugunsten von loyalen Polen und »Halbjuden« niederschlug. In Bezug auf die »Mischlinge ersten Grades« bedeutete diese nun inklusivere Haltung in gewisser Weise sogar eine Verstärkung des eingangs angeführten ideologischen Postulats, jeden Tropfen deutschen Blutes für das deutsche Volk zu retten. Dies fand statt um den Preis der Akzeptanz des »Juden« im »Mischling« zwar nicht innerhalb der DVL, sondern in einer zwischen dieser und der Helotenklasse der Schutzangehörigen angesiedelten Sonderkategorie. In den Reichsgauen Danzig - Westpreußen und Wartheland verfolgten die Gauleiter ihre jeweils eigene Volkstumspolitik. Sie setzten sie weitgehend unabhängig von Himmler und seinem Obersten Prüfungshof durch. Nicht nur die praktische Ausführung, auch ihre konzeptionelle Ausrichtung differierte zu jener des SS - Komplexes um Himmler. War für die SS »Rasse« das entscheidende Kriterium für die Aufnahme in die DVL, verfolgten sowohl Forster als auch Greiser jeweils eine davon stark abweichende Politik, die ihrerseits wiederum diametral entgegengesetzt war. Wollte Forster zumindest die »einheimische« Bevölkerung seines Gaues fast zur Gänze assimilieren, verfolgte Greiser eine Politik der Abwehr des Polentums, in der er in erster Linie dem »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« bereits vor 1939, in zweiter Linie erst deutscher Abstammung einen hohen Stellenwert beimaß. Allerdings war auch im Warthegau gegen Kriegsende möglicherweise ein Paradigmenwechsel hin zu einer inklusiveren Ausgestaltung der DVL zu beobachten. »Rasse« als Entscheidungskategorie hingegen spielte für beide Gauleiter in der Praxis keine Rolle. Himmler und seinem Obersten Prüfungshof blieb angesichts dessen meist nicht mehr als eine gewisse Korrektur und Ausgleichsfunktion im Hinblick auf grobe »Ausreißer« bei den Entscheidungen vor Ort. Zahlenmäßig machten diese Korrekturen aber nur einen Bruchteil der insgesamt im DVL - Verfahren getroffenen Entscheidungen aus. Die Motive vor allem der polnisch - und kaschubischsprachigen Bevölkerung vor Ort, die Eintragung in die Volksliste anzustreben, waren weit gefächert. Diese

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reichten von der Erhaltung des Eigentums über die Bewahrung der Familieneinheit bis zu einer vielleicht »opportunistisch« zu nennenden Annäherung an die Besatzungsmacht, um den von dieser ausgehenden Druck auf die eigene Person oder Familie bis zu einem gewissen Grade abzumildern. Sowohl die deutschen Besatzer als auch die polnische Nationalbewegung griffen mit ihrer Verurteilung von Personen, die angeblich das »Deutschtum« oder die polnische Nation »verraten« hätten, zu kurz. Die Forderungen, die beide an ein entwickeltes National oder Rassebewusstsein seitens der von ihnen jeweils zum Bestandteil der eigenen Nation oder »Rasse« erklärten Bewohner der annektierten Gebiete stellten, liefen meist ins Leere. Die Mehrheit der von der DVL - Politik Betroffenen befand sich in puncto nationaler Identitätsbildung vermutlich in einer Grauzone irgendwo zwischen beiden »Volkstümern«, weshalb letztlich die diesbezüglichen Versuche seitens des Nationalsozialismus, Deutsche und Polen klar voneinander zu trennen, zum Scheitern verurteilt waren. Selbst jenen Volkstumsideologen, die wie Himmler und Greiser ursprünglich eine stark exklusive Germanisierungspolitik vertreten hatten, blieb unter dem Druck der Verhältnisse, nicht zuletzt des verloren gehenden Krieges, letzten Endes nichts weiter übrig, als pragmatischer mit dieser Materie umzugehen.

Piotr Madajczyk Auf der Suche nach den Ursachen der ethnischen Säuberungen in Polen nach 1945

Bei der Suche nach den Wurzeln der ethnischen Säuberungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor allem der Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Polen werden in folgendem Text zwei verschiedene Bereiche analysiert. Erstens wird auf der makrogeschichtlichen Ebene der Frage nachgegangen, welchen Einfluss der Zweite Weltkrieg auf den polnischen Staat und die polnische Gesellschaft hatte, auf deren Vorstellung von der polnischen Nation und von den Kriterien der Zugehörigkeit zu dieser. Zweitens soll auf der Mikroebene gezeigt werden, wie sich ideologische Kriterien mit materiellen und persönlichen Interessen vermischten.

1. Der Einfluss des Zweiten Weltkriegs1 Der Historiker muss mitunter sehr weit in die Vorgeschichte der zu erforschenden Ereignisse zurückgehen, um ihre Genese beschreiben zu können. Im Fall der ethnischen Säuberungen in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zwangsaussiedlung der Deutschen hingegen erscheint der Krieg selbst als eine sehr klare Zäsur. Sicherlich sind in diesem Zusammenhang die nationale und nationalistische Ideologie der Zwischenkriegszeit und insbesondere die Stärkung der Exklusionsmechanismen in dem autoritären polnischen System der 1930er Jahre ebenfalls von Bedeutung. Bis 1939 gab es aber dort seitens der bedeutenderen politischen Kräfte keinerlei Pläne, polnische Bürger deutscher Nationalität en masse aus Polen zu entfernen. Der polnische Staat und die deutsche Minderheit hatten miteinander für einen Nationalstaat typische Probleme. Dies betraf vor allem Akzeptanz, Loyalität und die Gleichberechtigung der Minderheiten im 1

Dieser Aufsatz knüpft an Forschungen an, die mit der Vorbereitung folgenden Buches verbunden waren : Piotr Madajczyk / Danuta Berlińska, Polska jako państwo narodowe. Historia i pamięć, Warszawa 2009.

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Staat. Dessen Behörden waren nicht im Stande, die bestehenden Begrenzungen ihrer Denkweise abzulegen. Sie traten autoritär und undemokratisch auf; sie wollten polnische Juden nicht aus Deutschland nach Polen zurückkehren lassen, wollten die ukrainische Minderheit assimilieren und dachten darüber nach, die jüdische Minderheit entweder freiwillig oder zwangsweise zur Emigration aus Polen zu veranlassen. Die Vorstellung, wonach der Staat seine Staatsbürger mittels Eisenbahntransporten gewaltsam abschieben könne, hätte jedoch den Rahmen ihres politischen Denkens gesprengt. Der Zweite Weltkrieg brachte diesbezüglich eine entscheidende Wende in der politischen Kultur Polens. Die Einstellung der polnischen Gesellschaft und der Staatsmacht zu den polnischen Bürgern deutscher Nationalität begann sich ab dem Frühling 1939, als der deutsch - polnische Konflikt eskalierte, schnell zu ändern. Dabei ist jedoch zu betonen, dass eine Fixierung allein auf die deutsche Minderheit in Polen in die Irre führt. Die deutsche Aggression, die nationalsozialistische Besatzungspolitik und die Einstellung der deutschen Minderheit zu Polen hatten vermutlich entscheidende Bedeutung. Darüber hinaus müssen aber die gesamte Besatzungspolitik – auch die sowjetische – und alle damaligen Nationalitätenkonflikte berücksichtigt werden; ebenso die Tatsache, dass daraus Veränderungen der Einstellung zu allen nationalen Minderheiten in Polen wie auch der Kriterien der Zugehörigkeit zur polnischen Nation folgten. 1939 war die deutsche Minderheit als Erste von diesen Veränderungen betroffen. Polnische Staatsbürger deutscher Nationalität wurden immer stärker als »Deutsche« und als eine Bedrohung betrachtet, ohne ihre jeweilige individuelle Einstellung in Betracht zu ziehen. Diese Tendenz wurde durch den Einfluss der nationalsozialistischen Ideologie auf die deutsche Minderheit gestärkt. Auf beiden Seiten, sowohl der polnischen Mehrheit als auch der deutschen Minderheit, wuchs die Gewaltbereitschaft, immer öfter kam es zu Übergriffen gegen die deutsche Minderheit. Besonders zu spüren war dies in der Wojewodschaft Schlesien, aber derartige Signale kamen ebenfalls aus Bromberg, Łódź und anderen Städten. Besonders signifikant war die Radikalisierung des Nationalitätenkonflikts in Zentralpolen, der bis zu dieser Zeit im Vergleich zu den Westgebieten Polens bedeutend schwächer war.2 Dieser Stimmung entsprach das Bild von der deutschen Minderheit als einer »Fünften Kolonne« – auch wenn man den Begriff selbst nicht verwendete –, also von illoyalen Bürgern, die im Fall des Krieges zu einer inneren Bedrohung für Polen werden könnten. Eine ähnliche Zuspitzung war im Verhältnis zur ukrainischen Minderheit zu beobachten, die sich politisch schon einige Jahre zuvor radikalisiert hatte.

2

Vgl. Bronisława Kopczyńska - Jaworska, Swój czy obcy. Rodzaje dystansu kulturowego. In : Paweł Samuś ( Hg.), Polacy – Niemcy – Żydzi w Łodzi w XIX - XX wieku. Sąsiedzi dalecy i bliscy, Łódź 1997, S. 349–358, hier 355.

Auf der Suche nach den Ursachen der ethnischen Säuberungen

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Der deutsche Angriff auf Polen brachte der oben beschriebenen negativen Entwicklung einen rasanten Aufschwung : Es folgten die Internierung vieler Deutscher, Evakuierungsmärsche in Richtung Osten mit Fällen von Erschießungen sowie Kämpfe mit deutschen Saboteuren. Die Angehörigen der deutschen Minderheit wurden dabei von vielen Polen zur Gänze als Saboteure und Hitleranhänger angesehen. Die Ereignisse in Bromberg am 3. und 4. September 1939 zeigten, unabhängig von den Gründen dafür, wie weit diese Entwicklung fortgeschritten war.3 Als schwerwiegend erwiesen sich die Teilnahme eines Teiles der deutschen Minderheit ( Selbstschutz ) an den Kämpfen auf deutscher Seite und an den gegenüber der polnischen Bevölkerung verübten Verbrechen wie auch die polnische Erbitterung infolge der Niederlage.4 Aus polnischer Sicht war die deutsche Minderheit eine Helferin bei der deutschen Aggression mit ihrer ganzen Brutalität : Bombenangriffe auf die Städte und die Zivilbevölkerung, Erschießungen, Geiselnahmen. Die deutsche Minderheit, die bis 1939 nicht als das größte Problem im Rahmen der polnischen Nationalitätenpolitik betrachtet worden war, verkörperte nach 1939 für die meisten Polen sowohl Illoyalität in der Zeit der Bedrohung des polnischen Staates als auch die Zusammenarbeit mit dem deutschen Aggressor. Nicht nur die deutsche Aggression und Besatzungspolitik hatten großen Einfluss auf die Neugestaltung der polnischen Nation und der Kriterien der Zugehörigkeit zu ihr. Am 17. September 1939 rückte die sowjetische Armee in die polnischen Ostgebiete ein und stiftete von Anfang an nationale Konflikte : polnisch ukrainische, polnisch - weißrussische, polnisch - litauische ( Wilna ), polnisch - jüdische.5 Die Sowjets fanden vor allem bei einem Teil der jüdischen, weißrussischen und ( weniger ) ukrainischen Minderheit Unterstützung. Jene, die die sowjetische Armee enthusiastisch begrüßten, waren nicht die Mehrheit ihrer jeweiligen Minderheit; sie waren aber die überwiegende Mehrheit derer, die die Sowjets begrüßten.6 Sie engagierten sich in den sowjetischen Institutionen, auch in der Miliz, die 3 4

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Über Bromberg als letzte zusammenfassende Bearbeitung Tomasz Chinciński / Paweł Machcewicz ( Hg.), Bydgoszcz 3–4 września 1939. Studia i dokumenty, Warszawa 2008. Piotr Madajczyk, Przyłączenie Śląska Opolskiego do Polski 1945–1948, Warszawa 1996, S. 40. Über antipolnische Einstellungen unter der deutschen Minderheit Dariusz Matelski, Niemcy w Polsce w XX wieku, Poznań 1999, S. 179–180; Witold Stankowski, Niemcy na Pomorzu Gdańskim i Kujawach w latach 1944/1945–1950, Bydgoszcz 2000, S. 50 f. Über die sowjetische Inspiration der antipolnischen Unruhen vgl. Krzysztof Jasiewicz, Zagłada polskich kresów. Ziemiaństwo polskie na Kresach Północno - Wschodnich Rzeczypospolitej pod okupacją sowiecką 1939–1941, Warszawa 1997, S. 72; Grzegorz Hryciuk, Polacy we Lwowie 1939–1944. Życie codzienne, Warszawa 2000, S. 29; Marek Jan Chodakiewicz, Żydzi i Polacy 1918–1955. Współistnienie, zagłada, komunizm, Warszawa 2000, S. 128–130. Vgl. Archiwum Ringelbluma, Band III : Relacje z Kresów, Warszawa 2000, S. 148, 257, 397, 550; Stanisława Lewandowska, Życie codzienne Wilna w latach II wojny światowej, Warszawa 2001, S. 210; Paweł Machcewicz, Wokół Jedwabnego. In : Paweł Machcewicz / Krzysztof Persak ( Hg.), Wokół Jedwabnego, Warszawa 2002, S. 9–61, 87, 99, 110, 116, 117, 122; Marek Wierzbicki, Pola-

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von den polnischen Nachbarn mit Angst und Widerwillen betrachtet wurde.7 Dieses Engagement blieb in der Erinnerung der benachbarten Polen, und nicht die Tatsache, dass ukrainische Nationalisten, reiche und religiöse Juden sowie Bund - Mitglieder von den Sowjets ebenfalls von Anfang an verfolgt wurden.8 Infolge der Repressionen nahm die Mehrheit der Polen nicht wahr, dass die sowjetische Politik zerstörerisch auf die traditionellen Strukturen der jüdischen Bevölkerung einwirkte.9 Die Erinnerung an jene Mitglieder der nationalen Minderheiten, die sich dem polnischen Staat gegenüber loyal verhalten hatten, wurde verdrängt. Dass ein großer Teil der ins Innere der Sowjetunion Deportierten Angehörige nationaler Minderheiten waren, geriet in Vergessenheit. Es blieb die Erinnerung an die eigene Verfolgung, Deklassierung, Verarmung, an die Deportationen, an den Verlust nahestehender Personen und daran, dass die Mitglieder der nationalen Minderheiten sich während des Krieges zum großen Teil mit ihrer eigenen und nicht mit der polnischen Nationalideologie identifiziert hatten. Unter Kriegsbedingungen wuchs das Potential nicht nur an patriotischen, sondern auch an nationalistischen Einstellungen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es sich dabei nicht ebenso um eine Deformation der Entwicklung der polnischen Nation handelte, die erst nach Jahrzehnten, ungefähr seit den 1970er Jahren, rückgängig gemacht werden konnte. Nationale Gemeinschaft und Solidarität erwiesen sich als eine Stütze angesichts des Terrors und der alltäglichen Bedrohung. Dies galt auch für die Opfer des ukrainischen Terrors und Völkermords in Wolhynien, aber ebenso für Polen, die Zeugen des Holocaust geworden waren. Eine bedrohte nationale Gemeinschaft schloss ihre Reihen, was die Exklusionsmechanismen in Bezug auf Personen nichtpolnischer Nationalität (»Fremde«) verstärkte. Polnische Nationalität wurde dabei nicht in rassistischen – dieses Element spielte eine Rolle für einen Teil der Gesellschaft nur in Bezug auf Personen jüdischer Abstammung oder Nationalität –, sondern in ethnisch - kulturellen Kategorien gedacht : Sowohl die Abstammung wie auch das Bekenntnis zum Polentum und ein Engagement für Polen, die polnische Sprache, die katholische Religion usw. waren von Bedeutung. Erkennbar ist, dass die polnische Nation

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cy i Białorusini w zaborze sowieckim. Stosunki polsko - białoruskie na ziemiach północno wschodnich II Rzeczypospolitej pod okupacją sowiecką 1939–1941, Warszawa 2000, S. 42 f. Vgl. Lewandowska, Życie codzienne, S. 19; Don Levin, The Lesser of Two Evils. Eastern European Jewry under Soviet Rule 1939–1941, Philadelphia 1995, S. 33, 63; Hryciuk, Polacy, S. 34. Über die Beteiligung der Weißrussen an den Deportationen der Polen Aleksander Chackiewicz, Aresztowania i deportacje społeczeństwa zachodnich okręgów Białorusi (1939–1941). In : Małgorzata Giżajewska / Tomasz Strzembosz ( Hg.), Społeczeństwo białoruskie, litewskie i polskie na ziemiach północno - wschodnich II Rzeczypospolitej ( Białoruś Zachodnia i Litwa Wschodnia ) w latach 1939–1941, Warszawa 1995, S. 120–137, hier 129. Vgl. Hryciuk, Polacy, S. 17, 154–157. Vgl. Jan Tomasz Gross, Upiorna dekada. Trzy eseje o stereotypach na temat Żydów, Polaków, Niemców i komunistów 1939–1948, Kraków 1998.

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nicht als politische Gemeinschaft definiert wurde, die auch Staatsbürger nicht polnischer Nationalität umfassen konnte. Diese Tendenz veränderte sich in den Folgejahren nicht. Sie wurde durch die brutale Besatzungspolitik sogar verstärkt, besonders jene der Deutschen, die auf die Extermination der polnischen Nation gerichtet war. Die sowjetische Politik war ebenso brutal, hatte aber mehr die physische Beseitigung der polnischen Eliten und die Eingliederung der übrigen Bevölkerung in das sowjetische Imperium zum Ziel. Lebensbedingungen und Überlebenschancen hingen sehr stark mit der Nationalität zusammen. Eine besonders negative Wirkung hatte die Einführung der Deutschen Volksliste ( DVL ),10 die die deutsche Minderheit in Polen für Jahrzehnte stigmatisierte. Das Problem der DVL war umfassender als jenes der deutschen Minderheit in Polen, was sich bereits an den Zahlen zeigt : Die deutsche Minderheit in Polen wurde vor dem Krieg auf maximal eine Million Angehörige geschätzt, die DVL hingegen umfasste ca. 2,8 Millionen polnische Staatsbürger. Die Mitglieder der deutschen Minderheit bekamen meistens die »besseren« Plätze, wurden also in höhere Kategorien der Deutschen Volksliste eingetragen. »Volksdeutscher« wurde in Polen zum Synonym eines Verräters, der in schwierigster Zeit versagt und nicht nur den polnischen Staat, sondern auch seine polnischen Nachbarn verraten hatte. Selbstverständlich ist dies eine Verallgemeinerung aus dem Generalgouvernement, und es lassen sich Beispiele dafür finden, dass nachbarschaftliche Zugehörigkeit und alte Freundschaft stärker als nationale Kategorisierungen waren. Bekannt ist auch, dass die Volksliste für viele Polen ein Deckmantel war, um den Krieg zu überleben. Die Verallgemeinerung zeigt aber sehr präzise die dominante polnische Perspektive und ist auch dem wissenschaftlichen Urteil nicht völlig fremd.11 10

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Diese Problematik ist bis heute nicht gut erforscht. Die meisten polnischen Publikationen erschienen bereits in den 1970er Jahren. Zu den neueren Arbeiten gehört Jerzy Kochanowski / Maike Sach ( Hg.), Die »Volksdeutschen« in Polen, Frankreich und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, 2006. Der Polen betreffende Abschnitt ist aber sehr allgemein formuliert : Jerzy Kochanowski, Verräter oder Mitbürger ? Staat und Gesellschaft in Polen zum Problem der Volksdeutschen vor und nach 1945. Dazu auch Ryszard Kaczmarek, Polacy w Wehrmachcie, Kraków 2010. Zu erwähnen sind überdies sehr interessante aktuelle Forschungen über die Folgen der Deutschen Volksliste im Kattowitzer Schlesien, die aber die Zeit nach Kriegsende betreffen und noch in den Anfängen stecken. Über die Folgen des Engagements in nationalsozialistischen Organisationen für Oberschlesien nach 1945 schrieb Adam Dziurok, Śląskie rozrachunki. Władze komunistyczne a byli członkowie organizacji nazistowskich na Górnym Śląsku w latach 1945–1956, Warszawa 2000; ders., Volksdeutsche w Centralnym Obozie Pracy w Jaworznie. In : Kazimierz Miroszewski / Zygmunt Woźniczka ( Hg.), Historia martyrologii więźniów obozów odosobnienia w Jaworznie 1939–1956, Jaworzno 2002, S. 49–57. Die Frage der Volksdeutschen wurde auch in anderen Publikationen über die Geschichte der Lager für Deutsche angeschnitten. Über den Reichsgau Wartheland schrieb Czesław Łuczak, Pod niemieckim jarzmem ( Kraj Warty 1949–1945), Poznań 1996, S. 13, dass das Besatzungssystem ohne Hilfe der ortskundigen Volksdeutschen nicht so effektiv hätte sein können. Bisher wurde dieses Urteil nicht in Frage

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Der Krieg schuf völlig neue Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Nationalitätenkonflikte. Sie bestanden zwar im polnischen Staat bereits vor dem Krieg, jedoch erlaubte das autoritäre System das Überschreiten bestimmter Grenzen der Brutalität nicht. Unter der deutschen und sowjetischen Besatzung gab es diese Begrenzung nicht mehr, die Konflikte bekamen eine neue, blutige Qualität und Dynamik. Ansätze polnisch - jüdischer Solidarität aus der ersten Zeit des Krieges wurden zerstört. Stattdessen wurden Polen auf für viele demoralisierende Weise Zeugen des Holocaust, auch die nationalsozialistische antijüdische Propaganda blieb nicht ganz wirkungslos. Insgesamt führte die deutsche Politik zur wachsenden Entfremdung zwischen Polen und Juden, das jüdische Schicksal wurde nicht als »polnisch« angesehen, auch wenn es Mitleid weckte.12 Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion zeigte sich schnell, wie verfehlt die Hoffnungen einiger Polen in den Ostgebieten gewesen waren, die die Deutschen für Befreier vom sowjetischen Joch gehalten hatten.13 Die deutschen Besatzer betrachteten Nationalitätenkonflikte als ein bequemes Werkzeug, um die besetzten Gebiete ohne großen Kraftaufwand zu kontrollieren. Zuerst hetzte man gegen die Juden, dann Ukrainer und Polen gegeneinander auf, wie auch Litauer, Weißrussen und Polen. Die Lage war um so spannungsgeladener, als die litauische, ukrainische und weißrussische Nationalbewegung im Dritten Reich einen Verbündeten sah. Am schärfsten eskalierte der ukrainisch - polnische Antagonismus, als die Politik der ukrainischen Nationalbewegung in einem Völkermord gipfelte.14 Die Menschen wurden unter der deutschen Besatzung immer strikter in nationale Kategorien aufgeteilt und dachten auch immer stärker in derartigen Kategorien. Gewalt, Verhaftung, Misshandlung, Tod und der Verlust der Heimat waren während des Krieges alltägliche Erfahrungen. Zwangsmigrationen dienten als Werkzeuge der sowjetischen ( Deportationen in das Innere der Sowjetunion ) und

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gestellt, obwohl das Bild der Volksdeutschen und ihrer Motive nuancierter ist und man weiß, dass die Situation im Wartheland nicht einfach auf andere besetzte polnische Gebiete übertragen werden kann. Es ist nicht möglich, die Problematik des Einflusses des Holocaust auf die polnische Bevölkerung in einem kurzen Text genauer zu behandeln. Der Verfasser hat sich deshalb dafür entschieden, nur auf diese Problematik hinzuweisen, auch in der Annahme, dass die Diskussionen darüber dem Leser bekannt sind. Über solche Erwartungen Stanisława Lewandowska, Losy Wilnian. Zapis rzeczywistości okupacyjnej. Ludzie, fakty, wydarzenia 1939–1945, Warszawa 2004, S. 62. Über die Warnungen der polnischen Exilregierung in London vor der deutschen Hetze gegen die Juden Edmund Dmitrów, Oddziały operacyjne niemieckiej Policji Bezpieczeństwa i Służby Bezpieczeństwa a początek zagłady Żydów w Łomżyńskiem i na Białostocczyźnie latem 1941 roku. In : Machcewicz / Persak, Wokół Jedwabnego, S. 273–352, hier 295. Vgl. vor allem die neueren Arbeiten von Grzegorz Motyka, Ukraińska partyzantka 1942–1960, Warszawa 2006; ders., Od rzezi wołyńskiej do akcji »Wisła«. Konflikt polsko - ukraiński 1943– 1947, Kraków 2011.

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der nationalsozialistischen ( Gettoisierung; Zwangsaussiedlung aus den für die deutsche Ansiedlung vorgesehenen Gebieten ) Politik. Millionen von Polen wurden zur Zwangsarbeit in das Dritte Reich und in die Sowjetunion verschickt. Infolge von Migrationen wurden die Erfahrungen der Nationalitätenkonflikte in andere polnische Gebiete weitergetragen : 300 000 Polen flohen vor dem ukrainischen Terror in das Generalgouvernement, nach 1944 wurden viele Polen aus den von der Sowjetunion annektierten Gebieten in die ehemaligen deutschen Ostgebiete umgesiedelt. Die oben beschriebene Entwicklung muss man im Auge behalten, wenn nach den Ursachen der ethnischen Säuberungen nach dem Krieg und nach der Korrelation zwischen diesen Säuberungen und Nationalideologien bzw. Nationalismus gefragt wird. In einigen Ausführungen wird diese Entwicklung mittels der Feststellung übergangen, wonach die Deutschen zuerst einen brutalen Krieg führten, viele Polen vertrieben und ermordeten, und die Polen dann nach 1945 die Deutschen vertrieben hätten. In einer solchen Formel versucht man die historischen Ereignisse in das Muster »Verbrechen und Rache der Opfer« zu pressen. Mit der Frage, ob die »Polen« ebenso wie die »Deutschen« handeln mussten, wird nur die Dynamik der Ereignisse verschleiert : Es gab keine Polen, die zuerst misshandelt wurden und sich dann dafür rächten; es gab vielmehr eine Gesellschaft, die über fünf Jahre des totalen Krieges den Prozess der radikalen Nationalisierung durchlief. Angesichts der tödlichen Bedrohung wurden die Grenzen der Zugehörigkeit zur polnischen Nation immer enger gezogen, die Exklusionsmechanismen immer stärker. Es gab in dieser Perspektive keine deutsche, ukrainische, oder litauische nationale Minderheit, sondern nur Deutsche, Ukrainer, Litauer usw. Sie gehörten nicht zur polnischen Nation, vor allem die Deutschen nicht, die bei der Zerschlagung und brutalen Besetzung Polens behilflich waren. Der Krieg verursachte auch Entfremdungen zwischen der polnischen und jüdischen Nationalität. Das Überleben war nur mit Hilfe der eigenen Nationalgemeinschaft möglich, diese Solidarität hatte die höchste Priorität.15 Die polnische Nation wurde nicht als eine politische Gemeinschaft betrachtet, die Bürger verschiedener Nationalität umfassen kann. Sie wurde mehr und mehr zu einer Schicksalsgemeinschaft, die mit einer tödlichen Bedrohung konfrontiert wurde. Nach 1945 war die Nationalität entscheidend, und es dominierte die Vorstellung, dass sie mit der Staatsangehörigkeit identisch sein sollte. Die derart neugestaltete Nation war mit der Tatsache konfrontiert, dass im westlichen Teil ihres rechtlich noch nicht anerkannten neuen Staatsgebietes einige Millionen Deutsche lebten. Diese Deutschen hatten keine Verbindung mit der polnischen Kultur, Tra15

Hier soll erneut betont werden, dass es sich um eine Verallgemeinerung handelt, welche die dominante gesellschaftliche Entwicklung zeigt. Die ganze Zeit über gab es Menschen, aber auch bestimmte gesellschaftliche Milieus, die gegenüber diesen Denkmustern resistent blieben.

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dition und Staatlichkeit. Die polnische Gesellschaft und der polnische Staat hatten dabei keinen nennenswerten Einfluss auf die Entscheidung über die neuen Grenzen Polens, die vor allem die Folge des Hitler - Stalin - Paktes und der Akzeptanz der Alliierten für viele seiner Bestimmungen waren. Der Zweite Weltkrieg hatte aber auch zur Folge, dass die Mehrheit der Polen die neue Westgrenze akzeptierte. Vor dem Krieg hatte die Idee einer starken Verschiebung dieser Grenze nach Westen eine bedeutendere Unterstützung nur in Westpolen. Dort war der mit der Nationaldemokratie und der Person von Roman Dmowski verbundene Westgedanke stark. Vor dem Ersten Weltkrieg und während der Friedensverhandlungen nach dem Krieg verfolgte die Nationaldemokratie das Ziel der Eingliederung von fast ganz Oberschlesien, einem kleinen Teil Mittelschlesiens sowie der Provinzen Posen und Westpreußen in das künftige Polen. Auch Ostpreußen sollte von Deutschland abgetrennt werden. In der Zwischenkriegszeit betonten die Nationaldemokraten die Notwendigkeit der Verteidigung der polnischen Westgrenze gegenüber Deutschland. Analog zu anderen bedeutenden polnischen Parteien aber stellten sie sich auf die Grundlage der Verteidigung des status quo. Nur kleinere Gruppierungen innerhalb dieser politischen Richtung vertraten die Idee, wonach für die Sicherung Polens eine Grenze notwendig sei, die die Ostsee und die Sudeten berührt und dazwischen entlang der Oder und Lausitzer Neiße verläuft.16 Das Ende der deutschen Besatzung brachte keine entscheidende Wende in der oben beschriebenen Entwicklung. Es gab zwar keine Bedrohung für die Existenz der polnischen Nation mehr, aber die neuen, kommunistischen Machthaber nutzten oft ähnliche Herrschaftsmethoden wie das Dritte Reich. Es gab nur eine kurze feierliche Zeit der Befreiung, dann begannen erneut Verhaftungen, physische Extermination der politischen Gegner, Verschickungen in Lager, Terror, Wahlfälschungen. Es bedeutete das Scheitern der Hoffnungen auf eine Demokratisierung und den Wiederaufbau des souveränen polnischen Staates. Durchaus mit Recht stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, in welchem Maße diese Lage Polens Einfluss auf den Verlauf der ethnischen Säuberungen am Ende des Krieges hatte. Das erwähnte Scheitern der auf einen demokratischen, freien und souveränen Staat gerichteten Erwartungen erzeugte auch solche Gefühle wie Enttäuschung und Frustration, vielleicht auch Aggression und die Suche nach einem Sündenbock. Angesichts der neuen, wenn auch milderen, Fremdherrschaft wurde die nationale Gemeinschaft für viele Polen erneut eine Schicksalsgemeinschaft und die einzige Stütze. Im öffentlichen Diskurs herrschte die Vision eines homogenen Nationalstaates vor, der sowohl mittels freiwilliger oder erzwungener Migrationen als auch der Assimilation der im Land verbleibenden 16

Marian Mroczko, Polska myśl zachodnia 1918–1939. Kształtowanie i upowszechnianie, Poznań 1986, S. 111.

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Minderheitenangehörigen erreicht werden sollte. Diesem Ziel dienten die Zwangsaussiedlung der Deutschen, der Bevölkerungsaustausch mit der ukrainischen, litauischen und weißrussischen Sowjetrepublik, die Emigration der Juden, die »Aktion Weichsel« und letztlich die Beseitigung der deutschen Spuren in Oberschlesien.17 Die deutschen Spuren wurden nicht nur dort ausgelöscht, dort war es aber am deutlichsten zu spüren, weil diese Region noch in der Zwischenkriegszeit ihren deutsch - polnischen Grenzcharakter behalten hatte. Nach 1945 gab es keine Akzeptanz für eine sowohl deutschen als auch polnischen Einflüssen ausgesetzte Grenzbevölkerung mit einer überdies starken regionalen Identität. Zwar existierte in Nachkriegspolen die mehrheitliche Auffassung, wonach Personen deutscher Nationalität Polen verlassen müssten,18 offen blieb aber die Frage, unter welchen Umständen dies geschehen würde. Einen wichtigen Faktor für den Verlauf der ethnischen Säuberungen stellt die oben beschriebene polnische Gesellschaft dar, die während des Krieges alltäglich mit Gewalt in allen Formen konfrontiert worden war. Sie übernahm bestimmte Denkmuster, in welchen nationale Kategorien und Zuordnungen eine dominante Rolle spielten. Nach den Kriegsjahren war man oft gegen Gewalt abgestumpft. Nicht selten waren auch Demoralisation und das Verlangen nach Rache, obwohl man dies keinesfalls pauschal der ganzen Gesellschaft zuschreiben darf. Die Macht in Polen wurde von einem kommunistischen Regime übernommen, für das die Stabilisierung seiner Herrschaft die höchste Priorität hatte. Dies war unter anderem an der Problematik der Volksdeutschen zu sehen, worüber die kommunistische Polnische Arbeiterpartei lange Zeit nicht gut unterrichtet war, weshalb ihre Entscheidungen in diesem Bereich weitere Spannungen erzeugten.

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Vor Jahren schrieb Marcin Kula, Narodowe i rewolucyjne, London 1991, S. 30 f., über national modernistische Revolutionen, die sich mit dem Gefühl der Niederlage und Rückständigkeit verbinden. Es wäre zu fragen, ob in Polen nicht infolge der oben beschriebenen Kriegs - und Nachkriegsereignisse eine derartige deformierte Revolution stattfand. Es gab auch andere Haltungen. Über die Versuche von Polen, im Posener Gebiet einige auf den Abtransport wartende Deutsche vor der Zwangsaussiedlung zu schützen, vgl. Stanisław Jankowiak, Województwo poznańskie. In : Włodzimierz Borodziej / Hans Lemberg ( Hg.), Niemcy w Polsce 1945–1950. Wybór dokumentów, Band III : Województwa poznańskie i szczecińskie, Warszawa 2001, S. 7–199, hier 36. Über ähnliche Versuche in Bezug auf einige Ukrainer vgl. Grzegorz Motyka, Postawy wobec konfliktu polsko - ukraińskiego w latach 1939–1953 w zależności od przynależności etnicznej, państwowej i religijnej. In : Krzysztof Jasiewicz ( Hg.), Tygiel narodów. Stosunki społeczne i etniczne na dawnych ziemiach wschodnich Rzeczypospolitej 1939–1953, Warszawa 2002, S. 279–407, hier 311. Über ein gutes Verhältnis zwischen polnischen und deutschen Familien direkt nach Kriegsende Ingo Esser / Witold Stankowski, Wstęp i wybór dokumentów. In : Daniel Boćkowski ( Hg.), Niemcy w Polsce 1945–1950. Wybór dokumentów, Band IV : Pomorze Gdańskie i Dolny Śląsk, Warszawa 2001, S. 49–202, hier 90. Oft sind in der polnischen Historiographie Aussagen über gute Kontakte – aufgrund ähnlicher Erlebnisse – zwischen polnischen Aussiedlern aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten und den auf die Aussiedlung aus den neuen polnischen Westgebieten wartenden Deutschen zu finden.

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Die Nationalitätenprobleme wurden noch schärfer, weil sie von den kommunistischen Machtinhabern instrumentalisiert wurden. Die Parole »Ein starkes Polen ohne nationale Minderheiten« sollte dem neuen Regime eine nationale Legitimation verleihen. Weil es an größerer Unterstützung für die kommunistische Partei fehlte, wollte sie dem mit Appellen an die nationale Einheit entgegenwirken. Polnische Kommunisten nutzten damals bei öffentlichen Auftritten sehr oft das Adjektiv »polnisch« und die nationale Symbolik. Die kommunistische Partei präsentierte sich als die Hauptkraft des antideutschen Widerstandes während des Krieges. Diese Situation war insgesamt ursächlich für negative oder feindliche Einstellungen, oft auch für Handlungen gegenüber Personen, die nicht als Teil der polnischen Nation angesehen wurden. Wie bereits gesagt, war die Mehrheit der Polen der Auffassung, dass die Deutschen Polen verlassen sollten. Darüber hinaus war ebenso im kommunistischen Machtapparat wie in den polnischen Untergrundorganisationen eine Stimmung verbreitet, nach der auch Weißrussen und Ukrainer Polen verlassen sollten, was sich manchmal in Morden an der Zivilbevölkerung niederschlug. In der zeitgenössischen Perspektive der polnischen Untergrundorganisationen, die um die Unabhängigkeit kämpften, war das Ende des Krieges keine entscheidende Zäsur. So wie man während des Krieges gegen die Dörfer mit den volksdeutschen Ansiedlern im Zamość - Gebiet vorgegangen war, so ging man jetzt gegen die ukrainischen oder weißrussischen Dörfer vor, weil deren Bewohner ebenfalls als eine Bedrohung für Polen angesehen wurden.19 Diese Stimmung richtete sich auch gegen die Juden, wobei dieser Begriff selbst nicht ganz klar war. Was besonders tragisch, aber nicht überraschend ist : Sie wurden von vielen Polen nicht als Opfer des Völkermordes, sondern als »Fremde« betrachtet. Die Feindschaft ihnen gegenüber war ein Teil des aus den Kriegsfolgen und der Politik des kommunistischen Nachkriegsregimes resultierenden Verlangens nach einem einheitlichen Nationalstaat. Die größte Feindschaft richtete sich aber gegen die Deutschen und Ukrainer.20 Die polnische Gesellschaft war sehr instabil. Die lokalen Behörden arbeiteten in der ersten Nachkriegsphase sehr untypisch. Deren Funktionäre wurden oft ernannt und nicht gewählt. Dabei hatten jene Personen die besten Chancen, die zuerst vor Ort erschienen und die größte Durchsetzungskraft hatten. Begrenzt

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Auf diese Kontinuität wies bereits Rafał Wnuk hin : Problem bandytyzmu wśród żołnierzy antykomunistycznego podziemia w Polsce (1945–1947). In : Tomasz Szarota ( Hg.), Komunizm. Ideologia, system, ludzie, Warszawa 2001, S. 67–79, hier 73 f. Über die Einstellung zu verschiedenen nicht - polnischen Nationalitäten in dieser Zeit vgl. Roman Wapiński, Polska na styku narodów i kultur. W kręgu przeobrażeń narodowościowych i cywilizacyjnych w XIX i XX wieku, Gdańsk 2002, S. 55. Über die Ähnlichkeit der kommunistischen und rechtsradikalen Konzeptionen in Bezug auf die Aussiedlung der Ukrainer aus Polen Motyka, Postawy, S. 311.

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waren die Aufsichtsmöglichkeiten der zentralen Behörden und lokale Verbindungen mit dem kriminellen Milieu stellten keine Ausnahme dar. Entweder fehlten Rechtsvorschriften oder sie wurden nicht befolgt. Es wurde vor allem Improvisation und erfinderische Eigeninitiative verlangt, die oft in Willkür ausarteten. Die gesellschaftlichen Strukturen waren infolge der erwähnten Demoralisierung der Gesellschaft wie auch der Dezimierung der Eliten geschwächt. In der kommunistischen Machtstruktur spielte der Sicherheitsapparat die wichtigste Rolle, dessen Angehörige neben alten Kommunisten junge, ungebildete Menschen waren. Ihre Loyalität wurde mit sozialem Aufstieg und der Straflosigkeit bei vielen kriminellen Delikten erkauft. Dabei entsprach die Vorstellung dieser Funktionäre von der Nation und den Kriterien der nationalen Zugehörigkeit nationalistischen Klischees, dies oft mit stark rassistischen Zügen.21 Zusätzlich brachte das geschaffene System mit Lagern und Zwangsarbeit bestimmte materielle Vorteile für die in ihm aktiven Sicherheitsfunktionäre. Zweifellos musste nach dem Krieg eine Welle an antideutschen Ausschreitungen kommen, analog zu anderen, früher durch das Dritte Reich besetzten Staaten. Die Rolle des Sicherheitsapparats im Staat verfestigte jedoch die antideutschen Repressionen und gab ihnen einen langfristigen Charakter.

2. Materielle Konflikte : Fallbeispiele aus Oberschlesien Die ideologisch motivierte Akzeptanz ethnischer Säuberungen innerhalb der polnischen Bevölkerung hatte entscheidende Bedeutung für die Zwangsaussiedlung von Personen deutscher Nationalität aus dem polnischen Staatsgebiet. Oftmals verbanden sich die ideologischen Parolen allerdings mit materiellen Interessen, wobei die Bezeichnung »verbanden sich« hier eine vielschichtige Bedeutung hat : Manchmal sollte die Ideologie lediglich materielle Interessen verdecken. Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass eine Konfliktseite aus der polnischen Nationalität die Berechtigung für eine Bevorzugung in materieller Hinsicht herleitete und das Fehlen einer solchen Bevorzugung in tiefer Überzeugung als ungerecht empfand. Dabei wurde die Zugehörigkeit zur polnischen Nation nicht gemäß der offiziellen Lesart definiert und die andere Konfliktseite daraufhin aus der so definierten Nation ausgeschlossen. Diese Problematik wird hier am Beispiel einiger Streitfälle aus dem Kreis Kędzierzyn ( Cosel ) in Oberschlesien aufgezeigt. Grundlage dafür bilden Forschungen, die der Verfasser vor einigen Jahren im Staatsarchiv Opole ( Oppeln ) durchgeführt hat. 21

Über die Gefahr des Ausartens des polnischen Patriotismus und der nationalen Tradition bei der Erweiterung auf die Arbeiter - und Bauernmassen vgl. schon Stanisław Ossowski, Koszula Nessosa. In : Kuźnica, (1946) 38 (56) ( Nachdruck in Gazeta Wyborcza vom 4.7.1996); Wapiński, Polska, S. 65.

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Die Situation im Kreis Kędzierzyn stellte eine gute Grundlage für Konflikte dar. Nach dem Krieg wurden dort neue gesellschaftliche Strukturen geschaffen. Kennzeichnend dafür war zunächst, dass eine große, einheitliche Gruppe der oberschlesischen Bevölkerung im Kreis ansässig blieb. Des Weiteren kamen polnische Ansiedler aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, aus Zentralpolen sowie Rückwanderer aus mittel - und westeuropäischen Ländern. Dadurch entstanden verschiedene Konfliktlinien, besonders auf der Grundlage von materiellen Interessen und kulturellen Unterschieden. Konflikte wurden auch durch die Tatsache gestiftet – ohne hier näher auf Einzelheiten einzugehen –, dass die Neuankömmlinge wegen fehlender Ansiedlungsmöglichkeiten zum großen Teil zeitweise auf Bauernhöfe alteingesessener oberschlesischer Familien gesetzt wurden. In einer solchen Situation wären vermutlich überall Konflikte entstanden, in diesem Fall wurden sie noch durch die jeweilige Einstellung der beteiligten Parteien verschärft. Die Oberschlesier betrachteten die Bauernhöfe als ihr Familienerbe und bemühten sich, dieses zu behalten. Die Rückwanderer aus Mittel - und Westeuropa wollten, dass der polnische Staat für sie angemessene materielle Lebensbedingungen schafft. Die Polen aus den Ostgebieten hatten ihr Eigentum zum großen Teil dort gelassen und sahen eine gerechte Entschädigung dafür als ihr Recht an. Für die Ansiedler aus Zentralpolen wiederum eröffnete das Eigentum der oberschlesischen Familien die Chance des sozialen Aufstiegs. Eine Entschädigung für das Leiden und die Verarmung während des Krieges stand in einem konkreten Streitfall, wo es um das Eigentumsrecht an Kühen ging, nur einem »echten Polen« und nicht einem als »Pole« verifizierten22 Oberschlesier zu: »Junghof - Jurczyk wurde verifiziert. Wir verlangen nicht, dass die [ ehemaligen ] NSDAP - Mitglieder ausgesiedelt werden, aber für seine unterwürfige Haltung gegenüber Deutschland sollte er wenigstens eine Strafe bekommen oder ein Opfer bringen müssen.«23 Für den Verfasser der Aussage war es zweitrangig, wer im Recht ist, entscheidend waren für ihn politische und nationale Kriterien. Manchmal war die Lage weniger übersichtlich. In der Gemeinde Pawłowiczki ( früher Pawlowitzke ), Ortschaft Ucieszków ( früher Autischkau ) kam es zu Konflikten mit Polen aus den Ostgebieten. Im November 1945 protestierten sie dagegen, dass »ihr« Podsołtys ( Hilfsvogt ) abberufen worden war. Über den Nachfolger schrieben sie : »Der neue Hilfsvogt sorgt nicht für uns, sondern für die Deutschen. Er lebt nicht mit seiner Frau zusammen, sondern hat sich in die Frau 22

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Verifikation bedeutete, dass die deutschen Staatsangehörigen in den neuen polnischen West und Nordgebieten ihre polnische Nationalität nachweisen konnten und damit das Recht auf die polnische Staatsangehörigkeit und ihr Verbleiben in Polen hatten. Ihr Eigentum durften sie ebenfalls behalten, obwohl sich das in der damaligen Situation manchmal nur teilweise verwirklichen ließ. Schreiben an den schlesischen Wojewoden vom 16. 8. 1946 ( Staatsarchiv Oppeln, Landratsamt Kędzierzyn, Band 489, S. 111).

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eines Partei - Deutschen [ d. h. eines früheren NSDAP - Mitglieds ] verliebt und verteidigt die Deutschen. Wir lassen uns das nicht gefallen und wir haben kein Vertrauen, dass uns ein Deutsch - Liebhaber regiert. Wir bitten lediglich, ihn sofort auszuwechseln und auf diese Stelle nur den Menschen zu bringen, den wir fordern.«24 Der als »Deutsch - Liebhaber« diffamierte neue Hilfsvogt kam aber auch aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, gehörte also der gleichen Bevölkerungsgruppe an. Wahrscheinlich sind hier zwei Erklärungen. Nach der einen Lesart verband sich ein Aussiedler aus den Ostgebieten mit einer einheimischen Frau und versuchte auch die Interessen der oberschlesischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Von der »eigenen« Gruppe wurde das als Verrat verurteilt, weil es – vielleicht – Machenschaften wie illegalen Handel, Diebstahl, Bimber (Schwarzbrennerei ) usw. erschwerte und darüber hinaus die Oberschlesier nicht als »echte« Polen angesehen wurden. Die zweite Erklärungsmöglichkeit ist, dass es sich um einen kleineren Machtkampf in der Ortschaft handelte. Dabei wurde versucht zu beweisen, dass jemand, der sich mit den Deutschen verbindet und deren Interessen verteidigt, kein zuverlässiger Pole sei. Offen bleibt die Frage, ob die oberschlesische Bevölkerungsgruppe wirklich als Deutsche ( wegen der Sprache, Kultur usw.) angesehen wurde oder ob man sie auf diese Weise nur als Konkurrenten im Hinblick auf materielle Güter ausschalten wollte. In einem anderen Streit wurde von einem polnischen Ansiedler gegenüber dem Landratsamt festgestellt : »Ich mache diese Erklärung als Pole reinen Blutes, der viel für das Wohl des geliebten Polen gelitten hat. Ich will ehrlich und gewissenhaft für das junge Polen und für meine Familie arbeiten.« Diese Formulierung fiel in einem mittels Vorwürfen polemisierenden Schreiben des Vogtes von Bierawa, in dem es um die strittigen Nutzungsrechte für den Kulturraum des Dorfes ging. Es ist nicht möglich zu entscheiden, ob die zitierte Feststellung gezielt oder instinktiv eingesetzt wurde. Zweifellos sollte bewiesen werden, dass die andere Seite im Streit ein schlechter Pole, also »nicht reines Blutes« – vielleicht ein Deutscher – war. Einen Teil dieser Argumentation stellten ebenso die Aufzählung des während des Krieges Erlittenen, die Erwähnung der erfolgten Zwangsaussiedlung durch die Deutschen und der eigenen Zugehörigkeit zur Polnischen Sozialisti-

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»Nowy podsołtys nami się nie opiekuje tylko jest opiekunem niemieckim. Ze swoją żoną nie żyje tylko z niemca partyjnego żoną się zakochał i niemców broni, wienc my nato pozwolić sobie nie chcemy i nie mamy do niego zaufania aby niemiecki kochanek nami rządził, tylko prosimy natych mjastową zmjany i dać nam na stanowisko tylko tego człowieka, jakiego my żądamy.« Die Übersetzung von »niemiecki kochanek« ist doppelsinnig und bedeutet sowohl »Liebhaber der Deutschen« als Volk als auch Liebhaber einer deutschen Frau. Die Klage vom 5.11.1945 und die Antwort darauf vom 24.11.1945 ( ebd., Band 485, S. 107, 132).

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schen Partei sowie die Verwendung der Schlussformel »So wahr mir Gott helfe« dar.25 In einigen Fällen war die Anklage gegen eine Person als engagiertes NSDAP Mitglied die Reaktion auf den Versuch, den Schwarzhandel zu verhindern.26 In anderen Fällen kann man heute die Frage nicht mehr beantworten, ob der Vorwurf der NSDAP - Mitgliedschaft oder der Unterstützung für ehemalige NSDAPMitglieder gegen die früheren Aktivisten der polnischen Minderheit im deutschen Teil Oberschlesiens aus der Unkenntnis der lokalen Situation während des Krieges folgten oder ob sie Bestandteil des Kampfes um die Übernahme eines Bauernhofes waren.27 Ähnlich hilflos steht man heute auch in einem anderen Streitfall vor der Frage, ob nationale oder materielle Gründe die entscheidende Rolle spielten. In diesem Fall ging es um das Sorgerecht für Waisenkinder, das mit dem Recht zur Verwaltung eines 80 Hektar großen Bauernhofes in der Gemeinde Kłodnica ( früher Klodnitz ) verbunden war. Derjenige, der dieses Recht vom Gericht zugesprochen bekam – nach eigener Aussage der Vorsitzende des örtlichen Westvereins –, machte dem bisherigen Verwalter in Bezug auf dessen politische und nationale Haltung schwere Vorwürfe. Er sollte den neuen Verwalter mit den deutschen Worten »Wann kommt denn der Pollacke wieder« begrüßt und diesem gedroht haben : »Die Zeit kommt wieder, wo die Polen von Blechtellern fressen werden«, und »die Wendung [ vermutlich : Wende ] kommt ja bald wieder, da hacke [ vermutlich : halte ] ich ja noch aus«. Hinzu kamen Vorwürfe hinsichtlich schlechter Wirtschaftsführung, der Steuerhinterziehung, um die »wirtschaftliche Entwicklung der Wiedergewonnenen Gebiete« zu behindern, und hinsichtlich Kontakten mit ehemaligen NSDAP - Mitgliedern, um dem polnischen Staat zu schaden. Das Schreiben endete mit der Bitte, der entsprechenden Person die polnische Staatsangehörigkeit zu entziehen, weil sie zwar polnischer Nationalität, aber die Haltung des »Abtrünnigen« eindeutig deutsch sei.28 Vielleicht hatte sich der bisherige Verwalter von den polnischen Behörden aus materiellen Gründen als zur polnischen Nationalität zugehörig verifizieren lassen. In einem emotional geführten Streit offenbarte er dann seine wahren politischen und nationalen Überzeugungen. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass der neue Verwalter angesichts der Probleme bei der Übernahme seiner Funktion die Argu-

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»Oświadczam jako polak czystej krwi, który dużo już cierpiałem dla dobra i kochanej Polski. Chcę szczerze i sumiennie pracować dla dobra młodej Polski i dla swej rodziny.« Erklärung vom 7.10.1946 ( ebd., Band 489, S. 127). Vgl. Protokoll vom 13. 11. 1945 ( ebd., Band 363, S. 86 f.). In einem anderen Fall drohte man einem Oberschlesier mit der Nichtanerkennung seiner polnischen Nationalität, falls er weiter die Rückgabe seines Pferdewagens verlangen würde ( ebd., Band 671, S. 9). Vgl. Protokoll vom 21.9.1945 ( ebd., Band 362, S. 233 f.). Vgl. Abschrift des Schreibens von Alfred Cieśla an den polnischen Westverein vom 2. 8. 1947 (ebd., Band 319, S. 26).

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mentation benutzte, die ihm am effektivsten schien : Er stellte die nationale Haltung seines Konkurrenten um die Verwaltungsfunktion in Frage. Die Beurteilung derartiger Vorgänge ist um so schwieriger, als auch die oberschlesische Gruppe eine auf die Nationalität bezogene Argumentationsschablone nutzte. Dies wird am Beispiel einer Klage sichtbar, die im März 1946 an das Landratsamt gerichtet wurde. Eine oberschlesische Bäuerin beschuldigte den Ansiedler in ihrem Bauernhof, ihr die Lebensmittel zu stehlen, sie als eine Deutsche zu beschimpfen und ihr mit der Zwangsaussiedlung zu drohen. Sie argumentierte, dass sie aus einer polnischen Familie stamme, ihr Vater einen polnischen Chor und eine Bibliothek gegründet und ihr Bruder während der oberschlesischen Aufstände auf polnischer Seite gekämpft habe. Im Schlichtungsverfahren zeigte sich, dass sich beide Seiten gegenseitig bestahlen : Die Bäuerin nahm von dem Ansiedler Kartoffeln und er ihr die Milch. Was aber wichtiger ist : Die Bäuerin war als eine Deutsche zur Aussiedlung vorgesehen, hatte aber keinen Antrag auf Anerkennung ihrer polnischen Nationalität gestellt.29 Es scheint also, dass die Bäuerin, die sich als eine Deutsche fühlte und ihre Aussiedlung aus Polen akzeptierte, glaubte, sie müsse sich in einem Streitfall auf polnisches Engagement ihrer Familie berufen. In einem anderen Fall hatte das Landratsamt nach sorgfältiger Prüfung festgestellt, dass die Probleme einer Bäuerin aus Chrósty ( früher Chrost ) die Folge schlechter Wirtschaft und ihres strittigen Charakters seien. Mit Nationalität und Nationalitätenkonflikten hatte das nichts zu tun. Die Bäuerin benutzte aber in ihrem Schreiben genau solche Argumente : Sie wäre in polnischem Geiste erzogen (»w dobrym duchu polskim« ), sie hätte sich auf polnischer Seite in den oberschlesischen Aufständen engagiert, sie und ihre Familie seien deswegen von den Deutschen (»mojich krzywdzicieli z czasów germańskich« ) verfolgt worden, die ihr Eigentum und Bauernhof geraubt hätten. Sie berief sich auf ihre »opferbereite Arbeit für das Polentum« (»moje ofiarne prace dla polskości« ).30 Zweifel an dieser Argumentation sind hier berechtigt, weil der Landrat selbst ein polnischer Oberschlesier war. Es ist also kaum anzunehmen, dass er von einer solchen engagierten und verfolgten Familie nicht gewusst hätte. Wahrscheinlich haben wir es demnach auch in diesem Fall mit einem nationalen Argumentationsmuster zu tun, das zur Erklärung materieller und persönlicher Probleme diente. Entsprechend diesem Muster mussten die Betroffenen darlegen, dass sie von den deutschen Behörden evakuiert worden und nur aus diesem Grund in der ersten Phase nach dem Ende des Krieges nicht in Oberschlesien gewesen seien. Weil einige dieser Schreiben erst mehr als über ein Jahr nach Kriegsende entstanden, liegt die Vermutung nicht fern, dass ihre Verfasser in Deutschland auf die 29 30

Ebd., Band 211, S. 20–22. Schreiben von Juni 1946 ( ebd., Band 488, S. 192–194).

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Wiederherstellung der Vorkriegsgrenze gewartet hatten. In vielen Eingaben der oberschlesischen Bevölkerung sieht man die gleichen Argumente : Wir waren immer und wir sind Polen, wir oder unsere Familien haben uns während der oberschlesischen Aufstände und des Plebiszits große Verdienste für Polen erworben, wir haben es verdient, als Polen anerkannt zu werden. »Mein Vater war ein Aufständischer, mein Ehemann ist ein reiner Pole, wir haben eine bessere Wohnung und nicht eine solche kleine Rumpelkammer verdient« ( Ojciec mój powstańcym, mąż mój czystym polakiem, zasłużyliśmy wolnego zamieszkania, nie takiego w mały komórce ).31 War das die Klage einer polnisch engagierten Familie über ungerechte Behandlung oder ein Versuch zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen ?

3. Resümee Dem Zweiten Weltkrieg scheint in unserer Analyse die größte Bedeutung als Ursache für die Vertreibung der Deutschen nach 1945 zuzukommen. Sicherlich darf auch die Vorkriegszeit nicht außer Acht gelassen werden : Während dieser Epoche spielte die Idee des Nationalstaates eine Rolle, existierten Spannungen mit den nationalen Minderheiten, gab es eine Akzeptanz für Gewalt. Es fehlte die Bereitschaft zur Kompromisssuche und es mangelte an Demokratie, während ein autoritäres System entstand. Durch den Krieg wurden all diese Probleme auf einer viel höheren Stufe reproduziert. Der Krieg verursachte strukturelle Veränderungen der polnischen Gesellschaft, aber auch Wandlungen in Bezug auf die Idee der polnischen Nation, in Bezug darauf, wer als Teil dieser Nation angesehen wurde und wer nicht. Die Grenzen der Nation wurden enger gezogen, man dachte stärker in Kategorien einer nationalen Schicksalsgemeinschaft. Die Dominanz nationaler Kriterien wird keinesfalls durch die Tatsache in Frage gestellt, dass diese auf der lokalen Ebene oft eine schwer zu durchschauende Verbindung mit materiellen und persönlichen Motiven eingingen. Die Betroffenen benutzten bestimmte nationale Argumentationsmuster, wobei offen bleibt, ob dies bewusst geschah. In bestimmten Fällen entsteht der Eindruck, dass die nationalen Argumente lediglich zur Bemäntelung eigener persönlicher Probleme und Misserfolge dienten. In anderen Fällen wiederum wurde das Verwenden nationaler Argumentationsmuster als völlig legitim auch in einem »nur« materiellen Streit angesehen. In dieser Perspektive standen der Person, die eine stärkere Verbindung zur polnischen Nation unter Beweis stellen konnte, die größeren Rechte zu.

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Vgl. verschiedene Schriften ( ebd., Band 483–491).

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Die Veränderungen während des Krieges hatten Einfluss nicht nur auf die Einstellung der Polen zu den Deutschen / der deutschen Minderheit, sondern zu allen nationalen Minderheiten auf polnischem Gebiet. Das Jahr 1945 jedenfalls stellte in diesem Prozess keine bedeutende Zäsur dar; die Abkehr von dem, was wir als ein ethnozentrisches Verständnis von Nation bezeichnen können, fand erst in den folgenden Jahrzehnten statt.

IV. Nationalistische Politik und nationalistisches Gedankengut im kommunistischen Polen (1945–1989)

Elżbieta Opiłowska Die Aneignung des fremden Raumes. Nationalistische Politik in den polnischen Nord - und Westgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg

1. Einleitung Die Westverschiebung der deutsch - polnischen Grenze an Oder und Lausitzer Neiße nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zur Folge, dass bisher kulturell und historisch einheitliche Regionen geteilt und nun von zwei Gesellschaften bewohnt wurden, die meist keine Erfahrungen als Nachbarn hatten. Die kulturelle Kontinuität wurde unterbrochen, die historische Zeit lief seitdem auf beiden Seiten der Grenze in ganz unterschiedlichem Rhythmus. Der Bevölkerungsaustausch machte die Nachbarschaft noch schwieriger, weil die neuen Bewohner sich an die neue Landschaft adaptieren mussten. Beiderseits der deutsch-polnischen Grenze musste der »fremde« Raum angeeignet und neu definiert werden, denn auch viele ausgesiedelte Deutsche aus den an Polen gefallenen Gebieten ließen sich gleich hinter der neuen Grenze nieder in der Hoffnung, bald in die »verlorene Heimat« zurückkehren zu können. An ihre Stelle traten Militärsiedler, ehemalige Zwangsarbeiter, Remigranten, Ansiedler aus Zentral- und Südpolen und die Umsiedler aus den an die Sowjetunion verlorenen Ostgebieten Polens. Diese heterogene Bewohnerschaft sollte untereinander und auch in den Raum integriert werden. Der Bevölkerungstransfer führte zum Traditionsbruch und zur Lockerung der familiären, lokalen und nachbarschaftlichen Beziehungen. Die Entwurzelung von Millionen Menschen und der Zwang zur Anpassung an die neue Umgebung beeinflussten auch die politischen Einstellungen, worauf Krystyna Kersten hinweist: »Das war ein wichtiger Faktor, der den Widerstand gegen die kommunistische Macht schwächte, denn erstens führten die Migrationsbewegungen zur gesellschaftlichen Desintegration und zweitens fühlte sich die Bevölkerung, die ein ganz neues Territorium besiedelte, das bisher einem anderen Staat angehörte, mit der bestehenden Staatsordnung verbunden, der sie den neuen Wohnbesitz verdankte. Gomułka selbst war davon überzeugt, dass die Westgebiete ›das Volk mit dem System verbinden‹.«1 1

Krystyna Kersten, Narodziny systemu władzy – Polska 1943–1948, Poznań 1990, S. 147.

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1945 stand die neue kommunistische Regierung vor großen Herausforderungen : Kriegszerstörungen, Bevölkerungsverlust und - austausch, die völkerrechtlich nicht anerkannte Westgrenze, Neubesiedlung und Integration der Nord - und Westgebiete sowie die Legitimierung ihrer Macht als eine polnische und nicht eine fremde, sowjetische Herrschaft. Das Staatsgebiet wurde von 389 000 km2 auf 312 000 km2 verkleinert. Polen verlor mit Wilno ( Wilna ) und Lwów ( Lemberg ) zwei wichtige Zentren und gewann dafür Danzig, das »nach allgemeinem Empfinden zur polnischen Geschichte gehörte, sowie Breslau und Allenstein, von denen nur noch mit einiger Mühe Ähnliches behauptet werden konnte. Stettin und Grünberg [...] waren dagegen Städte, deren Zugehörigkeit zur polnischen Staatstradition schlicht erfunden werden musste.«2 Die Berufung auf nationale Symbole, Mythen und Gedächtnispraktiken sollte ein Mittel sein, um gesellschaftliche Unterstützung für die neue Regierung zu erreichen. Benedict Anderson weist darauf hin, dass das »Nation - Sein [...] der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit« ist.3 Das polnische »Nation - Sein« befand sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einer besonderen Situation. Der Krieg, in dem man getötet wurde, weil man ein Pole, Jude oder Ukrainer war, stellte die nationale Zugehörigkeit in den Vordergrund. Angesichts der Bedrohung war die Nation der wichtigste Wert, der die Denkweise und das Handeln bestimmte. Die Schicksalsgemeinschaft, die infolge des Krieges entstanden war, festigte die Beziehungen zwischen den Nationsmitgliedern und die Gruppenzugehörigkeit.4 So konnte die Berufung auf nationale Legitimationsmuster in Nachkriegspolen alle politischen Lager verbinden und gesellschaftliche Unterstützung gewinnen. Die Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen, zu denen Repressionen und Gewalt, die Drohung mit einer sowjetischen Intervention wie auch der soziale Aufstieg und die Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Gesellschaft gehörten, stellt Marcin Zaremba in seinem Buch »Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen« sehr ausführlich dar.5 Dieser Beitrag hat hingegen zum Ziel, die nationalistischen Legitimationsstrategien der kommunistischen Macht aus der Mikroperspektive der neuen Nord - und Westgebiete Polens zu veranschaulichen.

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Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 258. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1998, S. 12. Vgl. Krystyna Kersten, Między wyzwoleniem a zniewoleniem. Polska 1944/1956, London 1993, S. 11. Vgl. Marcin Zaremba, Im nationalen Gewande. Strategien kommunistischer Herrschaftslegitimation in Polen 1944–1980, Osnabrück 2011.

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2. Grenzfrage und antideutsche Haltung als Legitimationsfaktoren Laut dem Potsdamer Abkommen von 1945 sollten die deutschen Ostgebiete bis zur endgültigen Friedensregelung polnischer Verwaltung unterliegen. Die Grenzfrage gehörte zur Staatsraison und trug bis zur endgültigen Bestätigung im Grenzvertrag von 1990 Konfliktpotential für das deutsch - polnische Verhältnis in sich. Von Anfang an bildeten die Grenzfrage und eine antideutsche Haltung für die kommunistische Regierung wichtige Quellen der Legitimation. Allein die neuen Machthaber sollten als einziger Garant der Unantastbarkeit der Grenze betrachtet werden. Die politische Instrumentalisierung der antideutschen Haltung schien der kommunistischen Regierung besonders geeignet zu sein, um die Gesellschaft zu integrieren und zu mobilisieren, was der Erste Sekretär der Polnischen Arbeiterpartei, Władysław Gomułka, auf dem ZK - Plenum im Februar 1945 betonte : »Die Geschichte lieferte uns beste Bedingungen zur Errichtung einer solchen Front. Es ist vor allem zu betonen, dass die ganze Gesellschaft vom Hass auf Deutschland durchdrungen ist. Das bietet uns große Möglichkeiten, die Gesellschaft in einer allgemeinen nationalen Front zu einen. Besonders jetzt, da die zentralen und westlichen Gebiete des Landes befreit sind, bieten sich diese Möglichkeiten uneingeschränkt. [...] Wir müssen in der polnischen Nation die Bereitschaft zur Einheit wecken, die aus dem Bewusstsein der Gefahr kommt, die der polnischen Nation nach dem Sieg über Deutschland drohen kann oder wird, wegen der Rachegefühle, die in der deutschen Nation noch lange fortbestehen werden.«6 Bereits im Referendum vom 30. Juni 1946 wurden beide Argumente verwendet. An die polnische Bevölkerung wurden drei Fragen gestellt : 1) Bist Du für die Aufhebung des Senats ? 2) Wirst Du die sozialen und Wirtschaftsreformen (Bodenreform und Nationalisierung der Industrie ) unterstützen ? 3) Bist Du für die dauerhafte Einrichtung der polnischen Westgrenze an der Oder, Lausitzer Neiße und der Ostsee ? Die Kommunisten riefen dazu auf, dreimal mit »Ja« zu stimmen. Obwohl nur eine der drei Fragen die deutsch - polnische Grenze betraf, wurde die kommunistische antideutsche Propaganda auf das ganze Referendum bezogen. Der verbreitete Reimspruch lautete : »Dreimal Ja – kommt den Deutschen nicht zupass« (3 x Tak – Niemcom nie w smak ).7 Der national homogene Staat ohne Minderheiten war das Ziel der neuen Regierung. Die anderen Parolen waren : »JA ist das Zeichen, dass du Pole bist, bist du Pole – sage JA« ( TAK to polskości twojej znak, jesteś Polakiem – powiedz TAK ); »Denke an das schlesische

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Zit. nach ebd., S. 167. Hervorhebung im Original. Vgl. Jerzy Holzer, Uraz, nacjonalizm, manipulacja. Kwestia niemiecka w komunistycznej Polsce. In : Rocznik polsko - niemiecki, 1 (1992), S. 7–17; Andrzej Paczkowski ( Hg.), Referendum z 30 czerwca 1946 r. Przebieg i wyniki, Dokumenty do dziejów PRL, 4, Warszawa 1993, S. 4.

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Volk – Schlesien war polnisch und wird polnisch sein, des Polen Zeichen – dreimal JA« ( Zapamiętaj ludu śląski – Śląsk był polski, będzie polski, Polaka znak – trzy razy TAK ); »Dreimal JA – das ist der Ausdruck unserer Wachsamkeit gegen die deutsche Gefahr« (3 razy TAK – to wyraz naszej czujności na niebezpieczeństwo niemieckie ); »Jeder Pole stimmt dreimal JA« ( Każdy Polak głosuje trzy razy TAK ); »Dreimal Ja ist die Manifestation der Einheit der Nation« ( Trzy razy Tak to manifestacja jedności narodu ).8 Die Ergebnisse des Referendums wurden gefälscht. Offiziell nahmen an der Volksabstimmung 85,3 Prozent der Stimmberechtigten teil. Mit »Ja« stimmten in Bezug auf die erste Frage 68,2 Prozent, auf die zweite 77,3 Prozent und auf die dritte 91,4 Prozent.9 Wie die wahren Ergebnisse des Referendums zeigen, war die Unterstützung der kommunistischen Macht in Polen gering. »Dafür« stimmten bei der ersten Frage nicht mehr als 26,9 Prozent der Wähler und dagegen nicht weniger als 73,1 Prozent.10 Für die polnische Deutschlandpolitik bildeten die Bestätigung der Oder - Neiße - Grenze und die Aufrechterhaltung der deutschen Teilung die höchste Priorität. Doch die große Anzahl der Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ( SBZ ) beeinflusste die Einstellung der KPD / SED in der Frage der Grenze zu Polen. In der Führungsspitze der SED ging man lange Zeit von der Vorläufigkeit der Gebietszuweisungen nach der Potsdamer Konferenz aus. Otto Grotewohl zog im zentralen Arbeitsausschuss von SPD und KPD am 9. August 1945 in Erwägung, dass die Grenzziehung an Oder und Neiße noch als Provisorium zu betrachten sei.11 Im Vorfeld der Wahlen 1946 bezog die SED, um die Stimmen der Vertriebenen zu gewinnen, keine klare Stellung zur Frage der deutschen Ostgrenze. In einer Rede in Guben am 5. Mai 1946 sprach Wilhelm Pieck von der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr auf die andere Seite der Neiße.12 Erst ab 1948 wurden unter dem Druck Moskaus die deutsch - polnische Grenze von der Parteiführung in der SBZ anerkannt, diese zur »Friedensgrenze« stilisiert und gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Polen propagiert : »Vernichtung des Nationalsozialismus und aller Revanchetendenzen in Deutschland, das heißt vor allem : Anerkennung der Oder - Neiße - Grenze als Friedensgrenze. Erst diese Schlussfolgerung beweist, dass wir ehrlich gewillt sind, ein neues freundschaftliches Verhältnis zum polnischen Volk zu schaffen.«13

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Zit. nach Zaremba, Im nationalen Gewande, S. 163. Vgl. Wojciech Roszkowski, Najnowsza historia Polski 1945–1980, Warszawa 2003, S. 55. Siehe Holzer, Uraz, und Paczkowski, Referendum. Vgl. Andreas Malycha, Die SED und die Oder - Neiße - Grenze bis zum Görlitzer Vertrag 1950. In: Helga Schultz ( Hg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung, Berlin 2001, S. 81–111. Vgl. ebd., S. 88. Walter Ulbricht, Die Grundlagen der deutsch - polnischen Freundschaft. In : Neues Deutschland vom 21.11.1948, zit. nach Malycha, SED, S. 103.

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Ab 1948 häuften sich die offiziellen Kontakte zwischen der SBZ / DDR und Polen, über die in der polnischen Presse viel berichtet wurde. 1948 wurde auch die »Hellmut - von - Gerlach - Gesellschaft für kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem neuen Polen« gegründet, die die Zeitschrift »Blick nach Polen« herausgab. Am 6. Juli 1950 erkannte die DDR im Görlitzer Abkommen offiziell die deutsch - polnische Grenze an Oder und Lausitzer Neiße an.14 Dieser Vertrag wurde von der Bundesrepublik nicht anerkannt, hatte aber Bedeutung für die Bewohner der Nord - und Westgebiete. Für viele von ihnen stellte er das Ende der Vorläufigkeit dar. Dagegen gaben viele deutsche Aussiedler, die hinter der Grenze wohnten, ihre Hoffnung auf eine Rückkehr in die verlorene Heimat auf.15 Die offiziellen Kontakte zwischen den Parteiführungen der beiden sozialistischen Länder gingen jedoch nicht mit Beziehungen auf gesellschaftlicher Ebene einher. Die antideutsche Propaganda wurde weiterhin verbreitet, aber jetzt allein gegen Westdeutschland als die Versinnbildlichung des »Hitlerismus« gerichtet. Die Angst vor dem westdeutschen Revisionismus wurde von den kommunistischen Machthabern weiterhin als ein Instrument zur Konsolidierung der Gesellschaft verwendet. Dies hatte zur Folge, dass viele neue Siedler in den Nord - und Westgebieten trotz der Bestätigung der Grenze im Görlitzer Vertrag 1950 weiterhin in einer gewissen Vorläufigkeit lebten, was ihre Identifikation mit dem übernommenen Raum erschwerte. Die Schizophrenie der Deutschlandpolitik der polnischen Regierung war für die hier lebende Bevölkerung nicht nachvollziehbar. Für die Polen waren alle Deutschen für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich, unabhängig davon, ob sie in Ost - oder Westdeutschland lebten. Den Einwohnern der Nord - und Westgebiete fiel es auch schwer, an die offiziell propagierte Freundschaft mit der DDR zu glauben, weil die Grenze streng kontrolliert wurde und Kontakte kaum möglich waren. In den folgenden Jahren verzichteten die kommunistischen Machthaber nur ungern auf den legitimierenden Mythos von der deutschen Gefahr. Sie hatten auch keinen Ersatz dafür. Die Angst vor dem deutschen Revisionismus wurde von der kommunistischen Regierung bis in die 1970er Jahre als Integrationselement benutzt. Kurz vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages 1970 notierte Mieczysław Rakowski, Chefredakteur der Wochenzeitung »Polityka«, in seinen Tagebüchern eine Aussage von Jan Szydlak, Sekretär des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei : »Zwanzig Jahre hindurch haben wir das Volk mittels der Angst vor den Deutschen integriert. Bei den Älteren ließen 14

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Chronik der Stadt Zgorzelice ( Staatsarchiv Lubań, Miejska Rada Narodowa i Zarząd Miejski w Zgorzelcu, Sign. 37/6); vgl. auch Mieczysław Tomala ( Hg.), Polityka i dyplomacja polska wobec Niemiec, Band I : 1945–1970, Warszawa 2005, S. 66. Vgl. Elżbieta Opiłowska, Die Kontinuitäten und Brüche deutsch - polnischer Erinnerungskulturen. Görlitz / Zgorzelec 1945–2006, Dresden 2009.

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wir die Tränen heraustreten, einen Teil der Jüngeren hatten wir auch auf unserer Seite, und was jetzt ? Jetzt ist die deutsche Karte verspielt, man kann sie nicht mehr benutzen. Womit werden wir jetzt das Volk integrieren ? Das ist ein sehr wichtiges Problem. Ich habe ihm Recht gegeben.«16 Die antideutsche Propaganda sollte darüber hinaus die antisowjetische Einstellung der Polen schwächen, indem die Sowjetunion als die Garantin der Westgrenze Polens dargestellt wurde.

3. Der Mythos von den »Wiedergewonnenen Gebieten« Das Ziel der nationalistischen Politik der polnischen Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg war die kulturelle »Zwangshomogenisierung«17 der Gesellschaft. Das »fremde Element« sollte aus Polen und insbesondere aus den neuen West - und Nordgebieten entfernt werden. Die Angliederung der deutschen Gebiete wurde mit dem Piasten - Mythos legitimiert.18 Es wurde die Lebendigkeit und Dauerhaftigkeit der piastischen Traditionen in den neuen Westgebieten betont. Man sprach nicht von der Übernahme der Nord - und Westgebiete, sondern von der »Rückkehr der Piasten - Länder« zum Mutterland. Die Besiedlung und Bewirtschaftung dieses Territoriums war die Priorität der neuen Macht, weil sie zur Stärkung der Position Polens auf der internationalen Ebene beitragen sollten.19 Bereits im Manifest des Polnischen Komitees für Nationale Befreiung ( Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN ) vom 22. Juli 1944 wurden alle Polen zum Kampf um die Rückkehr polnischer Gebiete wie Pommern, Oppelner Schlesien, Ostpreußen, um breiten Zugang zum Meer und um polnische Grenzsäulen an der Oder aufgerufen.20 Doch der Terminus »Wiedergewonnene Gebiete« war keine polnische Nachkriegserfindung, worauf Beate Störtkuhl hinweist.21 16 17 18

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Mieczysław F. Rakowski, Dzienniki polityczne 1969–1971, Warszawa 2001, S. 249. Vgl. Katarzyna Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995, Berlin 2003, S. 43–49. Zur Entstehungsgeschichte des Piasten - Mythos vgl. Jerzy Strzelczyk, Die Piasten – Tradition und Mythos in Polen. In : Adelheid von Saldern ( Hg.), Mythen in Geschichte und Geschichtsschreibung aus polnischer und deutscher Sicht, Münster 1996, S. 113–131. Vgl. Jakub Tyszkiewicz, Propaganda Ziem Odzyskanych w prasie Polskiej Partii Robotniczej w latach 1945–1948. In : Przegląd Zachodni, (1995) 4, S. 115–122. Vgl. Ryszard Sudziński, Taktyka i propaganda władz komunistycznych w stosunku do ziem odzyskanych w latach 1944–1949. In : Stanisław Łach ( Hg.), Władze komunistyczne wobec ziem odzyskanych po II wojnie światowej. Materiały z konferencji, Słupsk 1997, S. 7–27, hier 8. Vgl. Beate Störtkuhl, Das Bild Schlesiens in Darstellungen zur Kunst - und Kulturgeschichte nach 1945 – vom »wiedergewonnenen Land« zum »gemeinsamen Kulturerbe«. In : Dieter Bingen / Peter Oliver Loew / Dietmar Popp ( Hg.), Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen seit 1939/ Wizualne konstrukcje historii i pamięci historycznej w Niemczech i w Polsce po 1939 roku, Warszawa 2009, S. 49–68.

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Vor 1945 war Breslau ein Zentrum der Schlesienforschung. In der NS - Zeit bildete sich um Dagobert Frey, den Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte, und den Provinzialkonservator Günther Grundmann eine Gruppe kunstgeschichtlicher »Ostforscher«, die die Einflusssphären deutscher Kunst und Kultur im östlichen Europa erforschten und damit der nationalsozialistischen Expansionspolitik eine wissenschaftliche Legitimierung lieferten. Nach 1939 entwarf Frey u. a. Propagandaausstellungen wie »Deutsche Kunst im ehemaligen Polen«. Grundmanns Band »Deutsche Kunst im befreiten Schlesien« gehörte zu den NS Publikationen, die der Öffentlichkeit »wiedergewonnenes deutsches Land« nahe zu bringen suchten.22 Nach 1945 sollte nun die polnische Wissenschaft Argumente für die Begründung der piastischen Ursprünglichkeit des übernommenen Terrains liefern. Eine wichtige Rolle dabei spielte das 1944 gegründete Posener Westinstitut ( Instytut Zachodni ). Zygmunt Wojciechowski,23 polnischer Historiker, Ideologe der polnischen Nationalisten und Autor von »Deutschland und Polen. Zehn Jahrhunderte des Ringens«,24 sah als Direktor des Westinstituts Folgendes als die wichtigste Aufgabe für sich selbst und die polnische Gesellschaft : »Den Deutschen die polnischen Gebiete auf Dauer wegzunehmen und zu einer Bastion des Slawentums auszubauen, gestützt auf unseren östlichen Nachbarn, mit dessen Hilfe wir im Bedarfsfall rechnen können.«25 1939 hatte er die Monographie »Polen an Weichsel und Oder im 10. Jahrhundert. Eine Studie über die Entstehungsgeschichte des Piastenstaates und seiner Zivilisation«26 veröffentlicht, in der er die Bedeutung der Oder für die polnische Geschichte in den Vordergrund stellte. Zu den Zentren des »Westgedankens« gehörten darüber hinaus das Schlesische Institut in Oppeln und das Ostseeinstitut in Danzig. Die Legitimierung der Angliederung der Nord - und Westgebiete erfolgte auch mit der Existenz einer großen Zahl an dort lebender, ethnisch polnischer Bevölkerung – der Autochthonen.27 Wegen ihrer Herkunft wurden die Autochthonen, die bisher deutsche Staatsbürger waren, als »repolonisierungsfähig« angesehen

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Günther Grundmann, Deutsche Kunst im befreiten Schlesien. Breslau 1940; Otto Spatz ( Hg.), Wiedergewonnenes deutsches Land in Danzig - Westpreußen, Ostpreußen, Wartheland, Oberschlesien, Elsaß, Lothringen, Luxemburg, Eupen - Malmedy, München 1941. Vgl. Störtkuhl, Das Bild Schlesiens. Vgl. Markus Krzoska, Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) als Historiker und Publizist, Osnabrück 2003. Zygmunt Wojciechowski, Polska - Niemcy. Dziesięć wieków zmagań, Poznań 1945. Zygmunt Wojciechowski, Grunwald. In : Przegląd Zachodni, (1945) 1, S. 1–8, hier 7. Zygmunt Wojciechowski, Polska nad Wisłą i Odrą w X wieku : studium nad genezą państwa Piastów i jego cywilizacji, Katowice 1939. Vgl. Edmund Dmitrów, Vergangenheitspolitik in Polen 1945–1989. In : Włodzimierz Borodziej/ Klaus Ziemer ( Hg.), Deutsch - polnische Beziehungen 1939–1945–1949, Osnabrück 2000, S. 235–263, hier 250.

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und der nationalen Verifizierung unterzogen.28 Um als »autochthon« eingestuft zu werden, waren manchmal nur der polnisch klingende Name oder polnische Sprachkenntnisse in der Familie ausreichend. Gemäß der Verordnung des Ministers für die Wiedergewonnenen Gebiete vom 6. April 1946 galten jene Personen als Polen, die einen Antrag auf Verifizierung stellten, ihre polnische Abstammung oder Verbindung mit dem polnischen Volk bewiesen und Loyalität gegenüber dem polnischen Volk und Staat bekundeten.29

4. Entdeutschung und Polonisierung 1945 sollte vor allem der ehemals deutsche Raum schnell polnisch werden : Das gesamte Erbe, nicht nur Kunstdenkmäler und bekannte Erinnerungsstätten, sondern auch das, was den Alltag der Menschen bestimmte, von den Straßen - und Ortsnamen bis hin zu Bibliotheken und Schulen.30 Folglich wurden die deutschen Aufschriften, Schilder und Denkmäler entfernt und die Straßen - , Orts - , und sogar Vor - und Familiennamen umbenannt. Die deutsche Sprache war in den Schulen und der Öffentlichkeit verpönt, das Wort »deutsch« wurde unabhängig von den orthographischen Regeln aus Missachtung immer kleingeschrieben. In den Vergnügungsstätten war das Singen oder Abspielen von deutschen Liedern streng verboten.31Diese Vorgehensweise fand unter der neu angesiedelten Bevölkerung, die die deutsche Okkupation und den Krieg erlebt hatte, durchaus Unterstützung.32 Deutsche Kulturdenkmäler fielen auch Plünderern zum Opfer. Zahlreiche ehemalige deutsche Kulturobjekte wurden zu Wirtschaftsge-

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Vgl. Bernadetta Nitschke, Wysiedlenie ludności niemieckiej z Polski w latach 1945–1949, Zielona Góra 1999, S. 120; Grzegorz Strauchold, Polska ludność rodzima ziem zachodnich i północnych. Opinie nie tylko publiczne lat 1944–1948, Olsztyn 1995, S. 95; Wojciech Wrzesiński, Problematyka polskiej ludności rodzimej na ziemiach postulowanych w latach II wojny światowej. In: Przegląd Zachodni, (1989) 5–6, S. 153–167. Vgl. Paweł Kacprzak, Weryfikacja narodowościowa ludności rodzimej i rehabilitacja tzw. volksdeutschów w latach 1945–1949. In : Czasopismo Prawno - Historyczne, (2011) 2, S. 149–164. Vgl. Elżbieta Opiłowska, Gegenwart und Erinnerung – das deutsche und polnische Kulturerbe an der Oder ( http ://www.bpb.de / files / IM8TID.doc ). Rundschreiben Nr. 18 des Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete betreffend Verstärkung der Repolonisierungsaktion in den Wiedergewonnenen Gebieten vom 26.4.1948 ( Staatsarchiv Wrocław, Woiwodschaftsamt, Wydział Społeczno - Polityczny, Sprawy repolonizacji, interwencja 1949, Sign. VI /750). Vgl. Zbigniew Mazur ( Hg.), Wokół niemieckiego dziedzictwa kulturowego na Ziemiach Zachodnich i Północnych, Poznań 1997; Maria Rutowska, Elementy polityki wobec niemieckiej spuścizny kulturowej na Ziemiach Zachodnich (1945–1950). In : Zbigniew Mazur ( Hg.), Wspólne dziedzictwo ? Ze studiów nad stosunkiem do spuścizny kulturowej na Ziemiach Zachodnich i Północnych, Poznań 2000, S. 167–200.

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bäuden umfunktioniert; beispielsweise verwendete man die Schlösser in Słupsk und Świdwina als Getreidespeicher.33 Für die meisten Angelegenheiten in den Westgebieten war zunächst das Ministerium für Öffentliche Verwaltung zuständig. Im November 1945 wurde das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete ( MZO ) mit Władysław Gomułka an der Spitze gegründet, das die Verantwortung für den Aufbau der Verwaltung, den Umsiedlungsprozess, die wirtschaftliche Wiederbelebung und die Verteilung des ehemals deutschen Eigentums trug. Das MZO hatte die Polonisierung als eine seiner wichtigsten Aufgaben charakterisiert.34 Ebenso propagierte der Polnische Westmarkenverband die völlige »Repolonisierung« der Nord- und Westgebiete als die Hauptaufgabe der polnischen Regierung.35 Die Polonisierung des übernommenen Landes hatte jedoch nicht nur einen legitimatorischen und propagandistischen Charakter und kann nicht nur als eine Vergeltung für Kriegsverbrechen interpretiert werden. Sie sollte den neuen Bewohnern der Nord - und Westgebiete erleichtern, sich den Raum anzueignen, sich an die neue Landschaft anzupassen und diese zu akzeptieren. Jacek Kolbuszewski meint : »Ein Mensch kann nicht unter Fremden mit dem Bewusstsein der Vorläufigkeit und ohne Unterstützung der Vergangenheit und Zukunft leben. Ein Leben nimmt erst dann die Züge der Dauerhaftigkeit an, wenn man ein eigenes Haus hat und wenn man zu Hause ist. Und ›zu Hause sein‹ bedeutet nicht, dass man eigene materielle Dinge, sondern dass man seine eigene geistige Atmosphäre hat.«36 Der Prozess der Aneignung beruhte auf der physischen Entfernung deutscher Spuren,37 der Umbenennung und dem Umfunktionieren deutscher in polnische Objekte und der Verleugnung und Tabuisierung der deutschen Vergangenheit. Die Polonisierungsaktion sollte auch Kirchen, Kapellen, Friedhöfe und Straßenkreuze umfassen. Die Demontage des Denkmals zu Ehren von Wilhelm I. in Wrocław ( Breslau ) im September 1945 wurde von einer Straßenmanifestation mit Fahnen und Transparenten begleitet. Es konnten nur die Gebäude erhalten werden, von denen bewiesen wurde, dass sie polnischer Herkunft waren. Man betrieb also eine »Archäologie des Polentums«, wie es Adam Labuda nach

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Rutowska, Elementy polityki, S. 167–200, hier 176 f. Vgl. Strauchold, Polska ludność, S. 96. Vgl. Michał Musielak, Działalność osadnicza Okręgu Poznańskiego Polskiego Związku Zachodniego na Ziemiach Odzyskanych ). In : Przegląd Zachodni, (1983) 4, S. 110–124. Vgl. Jacek Kolbuszewski, Oswajanie krajobrazu a problematyka integracji kulturowej na Ziemiach Odzyskanych. In : Dorota Symonides ( Hg.), Symbolika regionów. Studia etnograficzno folklorystyczne, Opole 1988, S. 67. Vgl. Bernard Linek, »Odniemczanie« województwa śląskiego w latach 1945–1950 ( w świetle materiałów wojewódzkich ), Opole 1997.

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Edmund Kaliski nannte.38 1945 wurden aus Schlesien 28 Waggons und 118 Lastkraftwagen mit Kunstgut ins Warschauer Nationalmuseum überführt.39 Einen besonderen Platz in der kommunistischen Propaganda in Bezug auf die Wiedergewonnenen Gebiete nahm die Frage des Aufbaus historischer Städte wie Gdańsk ( Danzig ), Olsztyn ( Allenstein ), Opole ( Oppeln ) und Wrocław ( Breslau ) ein. Man entschied sich für die Rekonstruktion der Altstädte, die ihren piastischen Charakter demonstrieren sollten. Gleichzeitig fand eine »Korrektur« der Geschichte statt. Beim Aufbau der Wohnhäuser am Markt in Olsztyn ( Allenstein) wurden die Fassaden aus dem 19. Jahrhundert eliminiert, weil sie mit der deutschen Kultur identifiziert wurden. Ein Niederschlesier schrieb in einem Brief an das Deutsche Rote Kreuz am 18. September 1945 über die Entdeutschung des Raumes : »Die immer umfangreicher werdende polnische Verwaltung leistet nichts Positives. Eine der Hauptaufgaben ist die Entfernung der deutschen Straßen - und Firmenschilder, u. [ im Original abgekürzt ] deren Ersatz durch polnische Aufschriften. Es hat den Anschein, dass man den Eindruck einer polnischen Stadt hervorrufen will, trotzdem jeder Unbefangene sieht, dass es sich hier um eine rein deutsche Bevölkerung handelt.«40 Der Aussiedlung der Deutschen sollte die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung folgen. Die polnische Regierung förderte die Umsiedlungsaktion mit dem Versprechen, dass jeder aus Zentralpolen Zugewanderte einen Hof in den »Wiedergewonnenen Gebieten« bekommen werde. In der 1945 herausgegebenen Werbebroschüre »Na Zachód !« ( In den Westen !) konnte man lesen : »Geh dorthin ! Ehe Du Dich umschaust, bist Du besser und reich, denn der Bauer im Westen ist dem Woiwoden gleich !« ( Jedź tam ! Ani się opatrzysz Jużeś lepszy i bogatszy, Bowiem rolnik na Zachodzie Będzie równy wojewodzie !)41 Die von den Deutschen hinterlassenen Güter und Ländereien übten eine starke Anziehungskraft aus, auch auf Kriminelle, die sogenannten »szabrownicy«. Neben ihnen gab es aber auch Menschen ohne Ausbildung oder Qualifikation, die sich versprachen, hier schnell Karriere zu machen.

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Vgl. Edmund Kaliski, Wrocław wrócił do Polski. In : Skarpa Warszawska, (1946) 9, S. 4.; Adam S. Labuda, Das deutsche Kunsterbe in Polen. Ansichten, Stereotypen und Meinungen nach dem Zweiten Weltkrieg. In : Andrzej Tomaszewski / Dethard von Winterfeld ( Hg.), Das gemeinsame Kulturerbe. Die deutsch - polnische Zusammenarbeit in der Denkmalpflege 1970–2000, Deutsch- polnische Edition, Warszawa 2001, S. 31–47, hier 37. Vgl. Marek Zybura, Der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe in Schlesien nach 1945, Görlitz 2005, S. 24. Brief an das Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes vom 18. 9. 1945 ( Ratsarchiv Görlitz, Nr. 813 : Flüchtlingsprobleme und deutsch - polnische Beziehungen 1945). Vgl. Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ / DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998, S. 294.

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Die Besiedlung dieser Gebiete betrachtete man als eine nationale Aufgabe, als Pionierdienst der polnischen Nation. Die Westgebiete sollten mit dem Engagement des ganzen Volkes zur »Bastion der polnischen Kultur« werden.42 Es wurden »Wochen der Westgebiete« organisiert. Auch literarische Werke beriefen sich auf die piastische Zeit der Westgebiete, wie z. B. 1945 »Dzikowy skarb« ( Der wilde Schatz ) von Władysław Jan Grabski, 1946 »Ojciec i syn« ( Vater und Sohn ) von Karol Bunsch und 1947 »Bolesław Chrobry« ( Boleslaus der Tapfere ) von Antoni Gołubiew.43 In der März - Ausgabe 1945 der Zeitung »Głos Ludu« stand Folgendes : »Das Volk versteht, dass die Rückkehr dieser Gebiete zum Mutterland nicht nur eine historische Gerechtigkeit, sondern auch Größe, Macht und Reichtum Polens ist. Sie bedeuten Millionen Hektar von Ackerland für die Bauern und große Industriezentren.«44 Die Tatsache, dass die neuen Nord - und Westgebiete Polen als Entschädigung für seine verlorenen östlichen Gebiete zugesprochen wurden, verschwieg man natürlich. Eine wichtige Rolle bei der Nationalisierung der West - und Nordgebiete spielte die Kirche. Sie bildete nicht nur einen Ort des gemeinsamen Gebets, sondern vermittelte Stabilität und Zugehörigkeitsgefühle. Die Ansiedler blieben lieber in einem Ort, wo die Kirche bereits funktionierte und ein Pfarrer amtierte. Die Pfarrer reisten oft zusammen mit der umgesiedelten Bevölkerung in die neuen Gebiete ein. Auch die Kirchenoberhäupter, wie Kardinal August Hlond, engagierten sich für die Eingliederung der deutschen Ostgebiete in den polnischen Staat und deren Polonisierung. Der Katholizismus wurde auch im Prozess der symbolischen Aneignung des übernommenen Raumes sichtbar, indem in den Westgebieten zahlreiche Kreuze aufgestellt und Kapellen errichtet wurden. Die protestantischen Kirchen wandelte man in katholische um, indem die deutschen Inschriften und Aufschriften abgetragen oder übermalt wurden.45 Manchmal dienten sie auch zur Gewinnung von Baumaterial für katholische Pfarrhäuser, wie es im Falle der evangelischen St. - Anna - Kirche in den 1960er Jahren in Broniszów ( Brunzelwaldau ) war.46 Doch nicht selten blieben sie gerade dank der Übernahme der Kirchengebäude durch die polnische katholische Kirche erhalten; dies im Gegensatz zu vielen nicht sakralen Kulturgütern.

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Vgl. Mieczysław Tomala, Deutschland – von Polen gesehen. Zu den deutsch - polnischen Beziehungen 1945–1990, Marburg 2000, S. 25. Vgl. Kazimierz Wyka, Powieść piastowska. In : Pogranicze powieści, Warszawa 1989. Żołnierz polski wbija słupy graniczne nad Odrą. In : Głos Ludu, (1945) 51, zit. nach Tyszkiewicz, Propaganda, S. 117. Vgl. Rutowska, Elementy, S. 176. Vgl. Piotr Kraszewski / Maria Rutowska, Funkcjonowanie niemieckiego zabytku w świadomości mieszkańców Ziem Zachodnich i Północnych na przykładzie wsi Broniszów w woj. zielonogórskim, Poznań 1998, S. 8.

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Pfarrer Józef Majka, der seit 1970 die Päpstliche Theologische Fakultät in Wrocław ( Pontificia Facultas Theologica Wratislaviensis ) leitete, betonte die integrative Rolle der Kirche : Eine Pfarrei bildete nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt die grundsätzliche soziale Wirklichkeit, und nicht selten sei sie die einzige Möglichkeit des direkten Kontaktes mit Massencharakter gewesen. Als lebendiges und aktives kirchliches Zentrum in den Siedlungsgebieten habe die Pfarrkirche nicht nur das Bewusstsein aller Pfarreiangehörigen verbunden, sondern den Ort dargestellt, an dem sich alle diese Gläubigen trafen, gemeinsame Kultzeremonien ausführten, dieselben Lieder sangen, dieselben Predigten hörten und dieselben religiösen Erfahrungen teilten.47 Erst anlässlich des 20. Jahrestages des Bestehens der polnischen Kirche in den »Wiedergewonnenen Gebieten« 1965 bezog sich der in Wrocław ( Breslau ) amtierende Erzbischof Bolesław Kominek – Initiator und Verfasser des bekannten »Hirtenbriefs der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder« von 1965, in dem der bekannte Satz »Wir vergeben und bitten um Vergebung« stand – in einer Rede auf das deutsche Kulturerbe : »Wir bemühen uns, alles, was sich an Gutem und Schönem aus der Vorkriegszeit erhalten hat, zu ehren [...]. Wir wenden nicht den Grundsatz an : Nur für die Polen. [...] Wir wünschen ehrlich, dass die polnische Wirklichkeit der Westgebiete nicht nur alle Glieder unseres Volkes eint, sondern den Weg zur Verständigung und Frieden mit unseren Nachbarn bahnt – vor allem mit jenen, denen der nicht von uns heraufbeschworene Lauf der Kriegsereignisse diese Gebiete weggenommen hat.«48 Neben der Kirche waren es Schulen und Lehrer, die bei der Adaptation an den Raum eine große Rolle spielten.49 Den Lehrern wurde eine besondere Aufgabe gestellt : Sie sollten gute Polen sein und das nationale Interesse über alles andere stellen. Sie sollten die Unterschiede in der Gesellschaft nivellieren und zum Patriotismus erziehen. Die Polonisierung der autochthonen Bevölkerung gehörte ebenfalls dazu.50 Viele Lehrer siedelten aus ideellen Gründen in die Nord - und Westgebiete über, wovon die im Westinstitut Posen aufbewahrten Tagebücher zeugen.51 Um die Lehrer herum, welche die Schulen oft von Anfang an aufbauen 47

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Vgl. Józef Majka, Wpływ Kościoła na integrację kulturową na Ziemiach Zachodnich. In : Jan Krucina ( Hg.), Kościół na Ziemiach Zachodnich. Ćwierćwiecze polskiej organizacji kościelnej, Wrocław 1971, S. 135–150, hier 145. Zit. nach Hansjakob Stehle, Seit 1960. Der mühsame katholische Dialog über die Grenze. In : Werner Plum ( Hg.), Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen, Bonn 1984, S. 155–178, hier 159. Vgl. Andrzej Kwilecki, Szkolnictwo i nauczyciele na Ziemiach Zachodnich w publikacjach Instytutu Zachodniego. In : Przegląd Zachodni, (1960) 3–4, S. 91–96. Vgl. Kazimierz Popiołek, Rola nauczyciela na Ziemiach Odzyskanych. In : Przegląd Zachodni, (1946) 4, S. 380–384. Vgl. Andrzej Kwilecki, Rola społeczna nauczyciela na Ziemiach Zachodnich w świetle pamiętników nauczycieli - osadników, Poznań 1960, S. 30–35.

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mussten, bildete sich die örtliche Gemeinschaft. Der Lehrer wirkte als der Vertreter ( oft der einzige ) Polens. Durch den Einfluss auf die Einstellungen und Werte der Jugend erhoffte man sich, die Einstellungen der ganzen Gesellschaft zu beeinflussen. In vielen Orten organisierten die Ansiedler die Schule auch spontan, was von der Akzeptanz der neuen Heimat zeugte.52 Im Schuljahr 1945/46 gab es in den West - und Nordgebieten 2 845 funktionierende Grundschulen, die von 309 101 Schülern, und 105 Mittelschulen, die von 19 691 Schülern besucht wurden. Seit 1946 wurden Berufsschulen und Abendschulen für Erwachsene gegründet.53 Die Entwicklung der Hochschulbildung und die Gründung neuer Hochschulen sollten das Polentum fördern und vom kulturellen Wachstum dieser Gebiete zeugen.54 Doch kann man sich den Raum aneignen, indem man die Menschen und Gegenstände austauscht ? Hugo Steinhaus, der Lemberger Mathematiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Wrocław ( Breslau ) lebte, beschrieb seine Eindrücke von einem Aufenthalt in der Stadt am 16. Oktober 1945 mit folgenden Worten : »Die deutsche Frage wird nicht dadurch gelöst, dass 10 000 Polen über 200 000 Deutsche kolonial und ohne sichtbare Stärke regieren. Denn diese Polen können nicht das Deutschtum beherrschen, das in Gegenständen steckt wie : Villen, ›Gärten‹, Bänden des Inselverlags, die auf dem Fußboden liegen, und in Werken von Hölderlin, Goethe, Schopenhauer, in den Wohnungen, wo die ›szabrownicy‹ [ Plünderer ] die Bezüge abrissen, aber den Genius Loci übrig ließen.«55 Die von der kommunistischen Propaganda verbreitete Angst vor den Deutschen führte bei vielen Ansiedlern der Nord - und Westgebiete nicht zur Integration, sondern zu einem Leben auf den sogenannten »gepackten Koffern«. Diese Unsicherheit, teilweise aber auch Unwissen und eine fremde Lebenskultur verursachten, dass viele Häuser und Güter vernachlässigt wurden und die Einwohner sich nicht mit der Landschaft identifizierten. Um so mehr wurde die starke Verbindung dieser Gebiete zum Polentum hervorgehoben, sowohl in den Filmen, die gedreht wurden, in der erschienenen Literatur, aber auch in zahlreichen Artikeln. 1948 wurde in Wrocław ( Breslau ) eine »Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete«56 organisiert. In der Ausstellung sollten der historische Konflikt zwischen Deutschen und Polen dargestellt,

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Vgl. ebd. S. 91–96. Vgl. Czesław Osękowski, Społeczeństwo Polski Zachodniej i Północnej w latach 1945–1956, Zielona Góra 1994, S. 195–210, hier 199. Vgl. Henryk Golański, Rozwój szkolnictwa wyższego na Ziemiach Zachodnich. In : Przegląd Zachodni, (1963) 1–2, S. 7–20; Stanisław Kulczyński, Naukowa i społeczna rola szkolnictwa wyższego na Ziemiach Odzyskanych. In : Przegląd Zachodni, (1947) 1, S. 1–11. Hugo Steinhaus, Wspomnienia i zapiski, London 1992, S. 332. Verordnung des Chefs des Ministerrates vom 5.11.1948 ( Staatsarchiv Lubań, Starostwo Powiatowe w Zgorzelcu : Okólniki władz zwierzchnich 1945–1948, Sign. 29/6).

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die Oder - Neiße - Grenze mit historischen, politischen und wirtschaftlichen Erklärungen begründet und der Aufbau des Polentums demonstriert werden. Circa 1,5 Millionen Besucher wurden registriert, den größten Teil davon bildeten organisierte Besuche von Schulkindern und Arbeitern.57 Witold Kula beurteilt die damit einhergehende piastische Propaganda folgendermaßen : »Eine marktschreierische Berufung auf die ersten Piasten beherrschte Polen. [...] Die gesellschaftlichen Emotionen, verbunden mit Bolesław Chrobry oder Krzywousty, sollten das Vertrauen in die aktuelle Politik stärken. Es herrschte dabei völlige Handlungsfreiheit. Der Zug von Chrobry gegen Kiew wurde natürlich nicht erwähnt.«58 Die äußeren Zeichen des Deutschtums in den Nord - und Westgebieten wurden entfernt. Eine innere Überzeugung der Zugehörigkeit zu diesen Gebieten ließ sich jedoch bei vielen Einwohnern dieser Gebiete nicht erreichen.59 Allerdings wollten die Neubürger an die polnischen Wurzeln der Gebiete glauben, weil ihnen dieser Glaube Sicherheit verlieh. Jerzy Kazimierczuk, der als Lehrer in dem Dorf Sławnikowice in der Nähe von Zgorzelec tätig war, schrieb 1956 Folgendes in seinen Erinnerungen : »Das Dorf wurde mit den Jahren immer polnischer. Das Deutschtum war, nachdem die ehemaligen Eigentümer weggegangen sind, nur in Gegenständen zu sehen. Alles andere war unser. [...] Polen marschierte durch die Fenster und Türen in die Wohnungen, Häuser, Dörfer und Städte Niederschlesiens ein, um hier für ewig zu bleiben. Die schöne Pionierzeit der Besiedlung der ›Wiedergewonnenen Gebiete‹ ging zu Ende, es begann die Zeit der Bewirtschaftung dieser Gebiete und des Zusammenwachsens mit dem Rest des Landes.«60 Ein wichtiges Element der Polonisierungspolitik bildete auch die polnische Geschichtsschreibung bezüglich der West - und Nordgebiete, die sich selbstverständlich ausschließlich auf die piastische Vergangenheit bezog : »Die Geschichtsdarstellung wurde eilig, sozusagen auf Bestellung, produziert. Die Menschen brauchten einfach Material, um ihre Identität zu untermauern, die ja nun mit dem neuen Wohnsitz verbunden war, und um ein Gefühl der Sicherheit zu erhalten.«61 Es gab aber keine Alternative dazu, meint Anna Wolff - Powęska, man 57

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Vgl. Jakub Tyszkiewicz, Sto wielkich dni Wrocławia. Wystawa Ziem Odzyskanych we Wrocławiu a propaganda polityczna ziem zachodnich i północnych w latach 1945–1948, Wrocław 1997, S. 138; ders., Tereny wystawowe we Wrocławiu i koncepcje ich zagospodarowania w latach 1945–1950. In : Rocznik wrocławski, 1 (1993), S. 251–264. Witold Kula, Rozważania o historii, Warszawa 1958, S. 111. Vgl. Nitschke, Wysiedlenie, S. 133. Jerzy Kazimierczuk, Z nami szła Polska. Die Erinnerungen befinden sich im Archiv des Westinstituts Posen, P, IZ, Sign. P 72, S. 5. Anna Wolff - Powęska, Die doppelte Identität in den Nord - und Westgebieten Polens. In : Matthias Weber ( Hg.), Deutschlands Osten – Polens Westen, Frankfurt a. M. 2001, S. 17–29, hier 24.

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konnte damals den Neusiedlern, die die deutsche Okkupation überlebt hatten, nicht sagen, dass sie auf deutschem Territorium leben und seine Geschichte und Kultur pflegen sollten. Die Grenzverschiebung erforderte eine geistige Begründung in Wissenschaft, Literatur und Film.62 Ab 1948 verlor die Polonisierungspolitik an Bedeutung. Im Juli 1948 wurde der Wissenschaftsrat für Fragen der »Wiedergewonnenen Gebiete« aufgelöst.63 Die polnische Regierung war davon überzeugt, dass diese Gebiete nun ausreichend in den Rest des Landes integriert waren.64

5. Schluss Mit der neuen Ostpolitik Willy Brandts und der allmählichen Normalisierung der deutsch - polnischen Beziehungen sowie mit der nächsten Generation, die in den Nord - und Westgebieten aufgewachsen war und diese als Heimat betrachtete, setzte ein Umdenken in der Einstellung zur deutschen Vergangenheit und zum deutschen Erbe ein. In der Solidarność - Zeit wurde die Vernachlässigung des deutschen Kulturerbes in Polen artikuliert. 1986 verfasste die Abteilung Wrocław ( Breslau ) des polnischen Kunsthistorikerverbandes ein »Memorandum über den Zustand der Kunstdenkmäler in Niederschlesien« und veröffentlichte es in Untergrundzeitschriften : »Die Kulturpolitik führte in den wiedergewonnenen Gebieten zu riesigen Verlusten. [...] Die berühmten Dekrete65 über feudales und deutsches Eigentum verursachten sowohl im gesellschaftlichen Bewusstsein als auch im Bereich administrativer Handlungen eine schnelle Akzeptanz von Plünderungsaktionen [...] Ohne Rücksicht auf die Herkunft [ der Künstler ] gehört ihr Werk der allgemeineuropäischen Kultur an. Wir sind zur Achtung dieses Erbes verpflichtet.«66 Doch die Verleugnung des deutschen Erbes in den Nord - und Westgebieten, das Beharren auf dem Mythos von den »Wiedergewonnenen Gebieten«, die Pro62 63 64 65

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Vgl. ebd. Vgl. Strauchold, Polska ludność, S. 146. Vgl. Osękowski, Społeczeństwo, S. 187. Dekret PKWN z dnia 6 września 1944 roku o przeprowadzeniu reformy rolnej ( Dz. U. RP, 1945, nr 3, poz. 13) z późniejszymi zmianami; Dekret z dnia 8 marca 1946 roku o majątkach opuszczonych i poniemieckich ( Dz. U. RP, 1946, nr 13, poz. 87); Dekret z dnia 15 listopada 1946 roku o zajęciu majątków państw pozostających z Państwem Polskim w stanie wojny w latach 1939– 1945 i majątku osób prawnych i obywateli tych państw oraz o zarządzie przymusowym nad tymi majątkami ( Dz. U. RP, 1946, nr 62, poz. 342). Biuletyn Dolnośląski, 2 (1986), S. 2–5; Szkice, 4 (1986), S. 137–147; vgl. auch Jerzy Kowalczyk (Hg. ), Ochrona dziedzictwa kulturowego zachodnich i północnych ziem Polski, Warszawa 1995, S. 266.

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pagierung einer nationalen Identität in Polen zu Lasten regionaler Identitäten einerseits und andererseits die Tabuisierung der verlorenen Heimat in den polnischen Ostgebieten, aber auch in Schlesien oder Pommern trugen dazu bei, dass nach 1989 die Geschichte der Regionen aufs Neue aufgearbeitet werden musste, um als verbindendes Element einer gemeinsamen deutsch - polnischen Identifikation wirksam werden zu können. Heutzutage sind der Denkmalschutz in den West - und Nordgebieten Polens sowie die deutsch - polnische Zusammenarbeit in diesem Bereich offensichtlich. Durch die Tätigkeit solcher Vereine wie »Borussia«, der Europäischen Akademie in Kulice ( Külz ), der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung und des Hauses der Deutsch - Polnischen Zusammenarbeit in Gliwice ( Gleiwitz ) wächst das Interesse an der Regionalgeschichte; das regionale Kulturerbe wird als Teil des europäischen, transnationalen Erbes gepflegt.

Klaus Bachmann Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen nach 1956 im Lichte von Meinungsumfragen

In der Literatur gibt es wenig Übereinstimmung darüber, was Nationalismus genau bedeutet und wie er sich messen lässt. Zum Teil rührt das aus dem unterschiedlichen kulturellen Gehalt und der Kontextabhängigkeit des Begriffes her, zum Teil auch schlicht aus der unterschiedlichen normativen Belastung, der er ausgesetzt ist. So wird in der Regel unterschieden zwischen einem oft defensiven, gegen den Nationalismus eines hegemonischen Besatzers oder eines Imperiums gerichteten Risorgimento - Nationalismus und der Politik eines Imperiums oder etablierten Nationalstaats, die darauf ausgerichtet ist, aufkommende zentrifugale oder gar irredentistische Tendenzen zu unterdrücken und danach strebt, diese Politik normativ zu untermauern, um sie für die eigene und ausländische öffentliche Meinung akzeptabel erscheinen zu lassen. In dieser Hinsicht ist Polen ein verwirrendes Beispiel, denn hier haben wir es mit beiden Formen zu tun, die ineinander übergehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht auf den Gebieten des auf Preußen, Österreich ( ab 1867 Österreich - Ungarn ) und Russland aufgeteilten Polen zunächst ein Risorgimento - Nationalismus, der darauf zielt, das Staatsgebiet des gegen Ende des 18. Jahrhunderts untergegangenen Adelsreichs wieder zu vereinigen und von Fremdherrschaft zu befreien, sowie die alte Vormachtstellung des Adels ( gegenüber der Krone und den anderen Ständen ) wiederherzustellen. Doch bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerät dieser Nationalismus in Gegensatz zu den aufkeimenden Nationalismen anderer, sich ebenfalls ethnisch und religiös definierender Gruppen wie den Ukrainern, Weißrussen, Litauern, Juden, Orthodoxen ( von denen viele zunächst kein ethnisch begründetes Bewusstsein dafür entwickeln, anders zu sein) und Deutschen, aber auch zu regionalen Minderheiten wie den Kaschuben, Oberschlesiern und Lemken. Zugleich demokratisiert sich der ursprünglich adlig geprägte, auf den Staat bezogene Nationalismus, was dazu führt, dass nationalistische Konzepte immer mehr von der Bauernschaft, der Arbeiterschaft, vom Klerus und der Bürgerschaft übernommen werden. In der Auseinandersetzung mit dem konservativen Adel, den Teilungsmächten und den aufkeimenden national-

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demokratischen Strömungen anderer ethnischer Gruppen entwickelt die polnische Nationaldemokratie ein darwinistisches Konzept eines gegen moralische Bedenken gefeiten »Überlebenskampfes der Nationen«, demzufolge es in der Geschichte einer Nation darum geht, andere Gruppen mit nationalstaatlichem Anspruch zu marginalisieren und den Staat und seine Organe dazu zu nutzen, solche Konkurrenzansprüche zu unterdrücken und andere Gruppen entweder zu polonisieren oder in die Emigration zu treiben. Neben dieser Strömung entsteht jedoch eine weitere, konkurrierende, die ebenfalls die Errichtung eines Nationalstaats anstrebt, allerdings nicht als Mittel zur Durchsetzung eines mono - ethnischen Konzepts, das konkurrierende Ansprüche ausschaltet. Dieser Strömung, die kulturell weniger durchsetzungsfähig, aber politisch erfolgreicher ist, geht es darum, den Staat als Vehikel für einen Ausgleich unter den konkurrierenden Gruppen zu nutzen und anstelle eines mono - ethnischen Nationalstaats einen Föderalstaat zu gründen, der durch eine staatsbürgerliche ( statt einer ethnischen ) Identität seiner Bürger zusammengehalten wird. Dieses Konzept, das in der polnischen Literatur meist »das jagiellonische« genannt und dem nationaldemokratischen »piastischen« Konzept entgegengestellt wird, wurde im 19. Jahrhundert in den Kreisen der radikalen linken Unabhängigkeitsparteien in Kongresspolen und Galizien entwickelt. Das ethnische Konzept eines polnischen »nationalisierenden« Staates, der ethnische Konkurrenz zwangsassimiliert, entstammt dagegen nationaldemokratischen Konzeptionen, wie sie insbesondere in Kongresspolen und dem preußischen Teilungsgebiet virulent waren. Damit lassen sich in der neueren Geschichte Polens auch zwei andere, in Westeuropa häufig einander ausschließende nationalistische Strömungen nachzeichnen : Ein auf hegelianische Vorstellungen gegründetes Konzept einer ewigen polnischen Nation, deren Zugehörigkeit auf Blutsbande, kulturellen Prägungen und gemeinsame Erfahrung gründet und die so im Anderson’schen Sinne1 während des 19. Jahrhunderts von einer immer größer werdenden und die sozialen Unterschiede überbrückenden Anzahl von Bewohnern Polens imaginiert wird, sowie ein staatsbürgerliches Konzept, das auf einer Definition von Zugehörigkeit gründet, die sich weit mehr an angelsächsischen und französischen Ansätzen orientiert und davon ausgeht, dass zur Nation gehört, wer dazu gehören will und dem Staat gegenüber zu Loyalität bereit ist. Wie später noch zu zeigen sein wird, ziehen sich diese vier teilweise überlappenden, teilweise aber auch widersprüchlichen Konzepte durch das polnische Denken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und sind selbst in Meinungsumfragen nachweisbar. Zugleich verleihen sie der Debatte über polnischen 1

Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 1996.

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Nationalismus auch etwas doppeldeutiges, denn diese ist gekennzeichnet durch eine ständig präsente Begriffsverwirrung, die dafür verantwortlich ist, dass nie vollkommen klar und deutlich ist, inwieweit der Begriff »Nationalismus« eine historische Erscheinung oder einen normativen Anspruch widerspiegelt, und ob der Begriff im Sinne des ( heute als rückständig geltenden ) nationaldemokratischen Konzepts eines »Nationalstaates aller ethnisch definierten Polen« oder im Sinne der heute als modern geltenden »jagiellonischen Idee« gebraucht wird. Während letzterer offen ist und Zugehörigkeit ( zur Nation, Gruppe, Gemeinschaft ) auf der Basis von veränderbaren, erwerbbaren Kriterien ermöglicht, ist der erstgenannte geschlossen, hermetisch, da er auf Kriterien beruht, die von einem Außenstehenden selbst gar nicht erfüllt werden können ( wie zum Beispiel Blutsbande oder Abstammungskriterien ).

1. Kommunismus und nationale Legitimität Nach der Gründung des polnischen Nationalstaates nach dem Ersten Weltkrieg erwies sich das »jagiellonische Konzept« zunächst als politisch erfolgreicher. Nach einer kurzen Phase einer instabilen Mehrparteiendemokratie putschte 1926 Polens starker Mann, Marschall Józef Piłsudski und verwandelte Polen danach zunächst in eine gelenkte Demokratie mit gefälschten Wahlen und vom Staatsapparat mehr oder weniger erfolgreich manipulierten politischen Parteien. Dank dieser Manöver gelang es ihm, die Nationaldemokratie in der Opposition und aus dem Staatsapparat heraus zu halten. Zunehmende innenpolitische Polarisierung, soziale und ethnische Spannungen und außenpolitische Krisen sowie der Tod Piłsudskis führten dazu, dass auch sein politisches Lager, das aus eher ideologiefeindlichen, pragmatischen Offizieren bestand, immer mehr von nationaldemokratischem und selbst nationalradikalem Gedankengut infiltriert wurde, das sich an faschistischen Tendenzen in Westeuropa orientierte. Während des Krieges erwuchs beiden Lagern, jenem des »staatsbürgerlichen Nationalismus« wie auch dem des »ethnischen Nationalismus«, eine ideologische und militärische Konkurrenz in Gestalt der kommunistischen, von der Sowjetunion unterstützten und propagierten Untergrundbewegung. Sie knüpfte häufig an die Traditionen der Polnischen Kommunistischen Partei ( Komunistyczna Partia Polski, KPP ) und deren Vorgänger aus der Teilungszeit an, die allesamt der sozialen Frage weit mehr Bedeutung eingeräumt hatten als der nationalen Frage (und in der Zeit von 1917 bis 1920 sogar den Anschluss Polens an Sowjetrussland propagierten ). Entsprechend wurden Polens Kommunisten im Untergrund in der Bevölkerung auch meist als »vaterlandslose Gesellen« und Kollaborateure mit der Sowjetmacht angesehen. Die Aussicht auf mehr gesellschaftliche Legitimierung verbesserte sich für sie erst nach 1941, als die UdSSR und die kommu-

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Klaus Bachmann

nistische Bewegung in Europa keine Rücksicht mehr auf den Hitler - Stalin - Pakt nehmen mussten und bedingungslosen Widerstand leisten konnten. Dennoch galten Kommunisten weiterhin als vaterlandslose Gesellen und Gegner der polnischen Unabhängigkeit, obwohl in ihrer Propaganda immer mehr internationalistische und soziale Kategorien durch nationale ersetzt wurden und sie dabei selbst bei nationaldemokratischen Konzepten Anleihen machten. Marcin Zaremba hat nachgewiesen, dass diese Legitimationsstrategie bereits bis in die Kriegszeit hineinreicht,2 als in Aufrufen der kommunistischen Partisanenverbände Berufungen auf Kazimierz Puławski, Jan Henryk Dąbrowski und selbst Tadeusz Kościuszko3 auftauchten und sich die Polnische Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR ) als Erbin der Jahrhunderte alten nationalen Befreiungsbewegungen Polens darzustellen versuchte. Auf diese Weise wurde die vermeintliche »Revolution«, als die die Kommunisten das Kriegsende gern darstellten, mit den Adelsaufständen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts in eine Reihe gestellt.4 Die PPR und später die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei ( PVAP ) fanden sich in einer ähnlichen Lage wie die Obristen der Zweiten Republik um Piłsudski. Die Obristen hatten zunächst bewusst keine Ideologie, erkannten dann aber, dass sich Legitimität nicht nur auf Pragmatismus und Staatspatriotismus stützen ließ – besonders nicht in einer Situation, in der in ganz Europa ein ethnisch begründeter radikaler und autoritärer Nationalismus um sich griff. Nach dem Krieg sahen sich die Kommunisten, die mit der Roten Armee aus der UdSSR zurückkehrten, und diejenigen, die im Untergrund geblieben waren, mit einer Lage 2

3

4

Vgl. Marcin Zaremba, Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm. Nacjonalistyczna legitymizacja władzy komunistycznej w Polsce, Warszawa 2001, S. 121–134. Das Buch ist 2011 auch auf Deutsch im Fibre Verlag Osnabrück erschienen unter dem Titel »Nationalismus als Strategie kommunistischer Herrschaftslegitimation«. Tadeusz Kościuszko (1746–1817), polnischer Adliger und General der amerikanischen Armee (im amerikanischen Freiheitskrieg ), der als Anhänger einer Stärkung der königlichen Zentralgewalt in der Polnischen Adelsrepublik nach dem Scheitern der Reformbestrebungen zunächst nach Frankreich ging und dann 1794 einen Aufstand gegen die Aufteilung und Besetzung Polens durch die Nachbarstaaten auslöste. Kazimierz Pułaski (1745–1779), polnischer Adliger, der nach dem Ende der Konföderation von Bar ins Exil ging, jedoch von keinem europäischen Staat aufgenommen wurde, bis ihn Frankreich zur Unterstützung der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung über den Ozean schickte, wo er General und im Unabhängigkeitskrieg Nationalheld wurde. In Polen Gefolgsmann von Kościuszko. Jan Henryk Dąbrowski (1755–1818), deutschstämmiger Offizier der sächsischen Armee, der sich zunächst der prorussischen Adelspartei anschloss, dann aber Warschau gegen die vorrückende russische Armee verteidigte und später von Italien aus und im Bündnis mit Kościuszko Truppen zur Befreiung Polens anwarb. Wird in der polnischen Nationalhymne erwähnt. Allerdings wurden dabei auch die Bauernaufstände nicht vergessen, wie die spätere Hervorhebung des Bauernrebellen Jakub Szela als Sozialrevolutionär zeigt, nach dem in der Volksrepublik Plätze und Straßen benannt wurden.

Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

261

konfrontiert, in der ihre Ideologie, so homogen und mitreißend sie für viele angesichts des Untergangs von Faschismus und Nationalsozialismus erscheinen mochte, nicht ausreichte, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Paradoxerweise hatte der Untergang von Faschismus und Nationalsozialismus Nationalismus nicht diskreditiert, sondern in ganz Europa geradezu zum Erblühen gebracht. Nun triumphierten jene nationalen Parteien und Nationalbewegungen, die im Untergrund gegen die Okkupationsmächte aus Deutschland und der UdSSR gefochten hatten. Überall in Westeuropa feierte man die Rückkehr zu souveränen Nationalstaaten, zur Unabhängigkeit und Freiheit von der Fremdherrschaft und die Wiedergeburt des traditionellen Nationalstaates. Vor diesem Hintergrund kann es nicht wundern, dass auch die PPR und nach ihr die PVAP immer wieder Anleihen bei nationalistischem, nationaldemokratischem Gedankengut machten. Dies geschah besonders während Legitimationskrisen, wenn die Anziehungskraft sozialer Demagogie, von Klassenkampf - Rhetorik und Rückgriffen auf den Marxismus - Leninismus nachließ, weil Staat und Partei nicht imstande waren, soziale und wirtschaftliche Probleme zufriedenstellend zu lösen. Auf diese Weise kam es langsam und für die Zeitgenossen weitgehend unbemerkt zu einer ideengeschichtlichen Verschmelzung, einer Art Symbiose zwischen zwei totalitären Ideologien. Das faschistische Gedankengut der Vorkriegszeit diente als zusätzliche Legitimationsbasis für die totalitäre Ideologie des Sowjetkommunismus. Nationalistische, antisemitische, xenophobe, patriarchalische, autoritäre Tendenzen wurden absorbiert und erhielten, als »antizionistisch«, Law - and Order - Attitüden und Patriotismus verbrämt, den Segen der Obrigkeit, die auf diese Weise an althergebrachte, in der nationalen Tradition tief verwurzelte Überzeugungen und Haltungen appellierte und so Unterstützung mobilisierte oder Opposition diskreditierte. Die erste Gelegenheit dazu ergab sich mit der Liberalisierungswelle nach Stalins Tod und Chruschtschows Referat auf dem 20. Parteitag, das durch eine gezielte Indiskretion aus Kreisen der PVAP an die Weltöffentlichkeit gelangte. In Polen wurde seine für die Stalinzeit diskreditierende Wirkung noch verstärkt durch Sendungen des US - Propagandasenders »Radio Free Europe«, das die Aussagen von Józef Światło, eines zum CIA übergelaufenen stellvertretenden Abteilungsdirektors im Innenministerium, aussendete, der darin die Verbrechen der Stalinzeit und die unmenschlichen Methoden des »Kampfes gegen die Reaktion« anprangerte und Details über das Luxusleben der »Führer der Arbeiterklasse« erzählte, die er aus eigener Ansicht kennen gelernt hatte.5 Die Führungskrise fiel 5

Vgl. Zbigniew Błażyński ( Hg.), Mówi Józef Światło. Za kulisami bezpieki i partii 1940–1955, London 1985, passim; Józef Światło, Za kulisami bezpieki i partii. Józef Światło ujawnia tajniki partii, reżimu i aparatu bezpieczeństwa, Wrocław 1989. Zum 20. Parteitag der KPdSU und seinen Auswirkungen in Polen vgl. Paweł Machcewicz, Polski rok 1956, Warszawa 1993, S. 15–20. Darin auch die Information, wie der Inhalt des Referats an die Öffentlichkeit gelangte.

262

Klaus Bachmann

mit Arbeiterprotesten in Posen zusammen, die sich gegen die schlechte Versorgungslage, zu hohe Arbeitsnormen und den Mangel an Mitbestimmung in den Betrieben richteten und sich schnell radikalisierten. Arbeiter und Stadtbewohner, die sich den zuerst rein sozial begründeten Protesten anschlossen, stürmten das Hauptquartier der Geheimpolizei ( Urząd Bezpieczeństwa, UB ) in Posen, wobei die ersten Schüsse fielen. Da die regulären Polizeieinheiten mit dem Aufstand nicht fertig wurden, setzte die Regierung Militär ein, das, auf eine solche Situation völlig unvorbereitet, vorging, als habe es mit einer feindlichen Invasion zu tun. Dadurch war die Zahl der Opfer weit höher als bei einer erfolgreichen Polizeiaktion. Selbst Panzer wurden gegen die Demonstranten eingesetzt.6 Diese Krise fiel zusammen mit dem Ungarischen Aufstand, führte zu Fraktionskämpfen in der Partei und Rückgriffen auf eine nationalistische Legitimationsstrategie. Der als »nationaler Abweichler« während der Stalinperiode ins Gefängnis geworfene Władysław Gomułka wurde nun, getragen von einer Welle der Sympathie in der Bevölkerung, rehabilitiert und zum Parteichef gekürt. Er wurde damit zu einer Art nationalem Hoffnungsträger, zumal er gegen den Widerstand der KPdSU Führung um Chruschtschow gewählt worden war. Die Entstalinisierung brachte zum ersten Mal auch einen Konflikt offen zu Tage, der in der Partei schwelte, aber bis dahin zuerst durch den Kampf um die Macht in den 1940er Jahren und danach durch die stalinistischen Säuberungen und den damit verbundenen Terror unterdrückt worden war. Die Konfliktlinie verlief zwischen Genossen, die während der deutschen Besatzung im Untergrund ausgeharrt hatten, und denjenigen, die in die Sowjetunion geflohen waren, dort die Säuberungen der Kriegszeit überlebt hatten und mit der Roten Armee und ausgestattet mit Stalins Vertrauen nach Polen zurückgekehrt waren. Letztere hatten es, da sie der Machtzentrale näher waren, leichter gehabt, im Nachkriegsapparat von Partei und Regierung Karriere zu machen. Damit nahmen sie während des Stalinismus aber auch exponiertere Positionen ein als diejenigen, die während des Krieges im Lande geblieben waren. Somit konnten sie auch leichter für die Verbrechen der Stalinzeit verantwortlich gemacht werden. Dieser Konflikt zwischen Nationalkommunisten und internationalistischen »Moskowitern« ( wie sie später genannt wurden ), sollte während der nächsten heftigen Legitimationskrise Ende der 1960er Jahre dann mit voller Kraft ausbrechen.

6

Vgl. Machcewicz, Polski rok, S. 77–111.

Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

263

2. Innenpolitische Liberalisierung und das Erblühen der Soziologie Die nach 1953 einsetzende Entstalinisierung, die Rückkehr des Nationalkommunisten Gomułka an die Macht und die damit einhergehende Stärkung der Anhänger eines polnischen Wegs zum Kommunismus brachten eine beispiellose Liberalisierung mit sich, die wiederum im Zusammenspiel mit dem Druck von Seiten der UdSSR zu einer Art nationalem Schulterschluss führte. Bei den Parlamentswahlen im Januar 1957 gab es so erstmals die Möglichkeit, Kandidaten außerhalb der von der PVAP dominierten Einheitsliste aufzustellen und Kandidaten bei der Wahl zu streichen. Dabei traten nun auch weit mehr Kandidaten an, als Mandate zu vergeben waren, so dass die Wahl erstmals eine echte Wahlmöglichkeit für die Bevölkerung bot. Von den 723 Kandidaten, die sich um 459 Sitze bewarben, waren nur knapp über die Hälfte Parteimitglieder, die anderen entstammten den mit der PVAP verbündeten Blockparteien und katholischen Gruppierungen. Das waren keine freien Wahlen, wie sie zu dieser Zeit in Westeuropa stattfanden, doch sie boten erstmals echte Anhaltspunkte für das Maß an Legitimität, das sich die Partei durch die Liberalisierung und die Rückgriffe auf nationalistische Argumentation erworben hatte. Entscheidend waren nicht der Ausgang, denn wirkliche Anti - System - Opposition war wegen der rigiden Zulassungsbedingungen gar nicht möglich, sondern die Wahlbeteiligung und die Zahl derjenigen, die die Einheitsliste der »Front der Nationalen Einheit« nicht unterstützen würden. Die Wahl war, was auch danach von Kritikern nie in Frage gestellt wurde, geheim, so dass es möglich war, radikalen Protest durch die Streichung der gesamten Frontliste deutlich zu machen. Sogar der Episkopat und »Radio Free Europe« hatten zur Teilnahme an der Wahl aufgerufen und das Radio hatte in seinen Wahlaufrufen sogar darauf verzichtet, den Wählern Streichungen von Kandidaten nahezulegen. Am Wahltag wurde die Frontliste von nur 1,95 Prozent der Wähler in ihrer Gesamtheit verworfen, bei einer Wahlbeteiligung von 94,14 Prozent.7 Das bedeutete einen gigantischen Vertrauensvorschuss für die PVAP und das nach dem Krieg oktroyierte politische System. Die »Heimatkommunisten« der PVAP konnten nun von sich behaupten, in den Augen der Bevölkerung keine Marionetten einer fremden Besatzung, sondern legitime Herrscher des Landes zu sein. Das »Oktober - Tauwetter«, wie die Liberalisierung der späten 1950er Jahre in Polen meist genannt wird, öffnete zugleich einen Raum für Initiativen, die man aus heutiger Sicht vermutlich »Zivilgesellschaft« nennen würde. Dies gilt besonders für die Universitäten und die Kultur, wo nun eine um sich greifende Liberalisierung und Pluralisierung zu beobachten war, die es auch ermöglichte, ausländische Trends aufzugreifen. Dies gilt in besonderem 7

Vgl. Paweł Machcewicz ( Hg.), Kampania wyborcza i wybory do Sejmu 20. stycznia 1957, Warszawa 2000, S. 5–27.

264

Klaus Bachmann

Maße für die Soziologie, die nun die Möglichkeit erhielt ( und eifrig ergriff ), neue Tendenzen der empirischen Sozialwissenschaft und Demoskopie aufzugreifen, wie sie nach dem Kriegsende aus den USA nach Westeuropa durchgedrungen waren. Die politische und kulturelle Liberalisierung bot ein mannigfaltiges empirisches Material für quantitative sozialwissenschaftliche Studien. So entstand Ende der 1950er Jahre aus der Leserbriefredaktion des Staatlichen Radio Schritt für Schritt und zunächst unter Zuhilfenahme von reformorientierten Wissenschaftlern der Universität Warschau und studentischen Freiwilligen ein »Zentrum zur Erforschung der Öffentlichen Meinung« ( Ośrodek Badań Opinii Publicznej, OBOP ),8 das in den kommenden Jahren Hunderte, wenn nicht Tausende von Umfragen zu den unterschiedlichsten Themen durchführte. Nationalismus spielte in diesen Umfragen allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Je nach politischer Großwetterlage untersuchten die Soziologen von OBOP sowohl Werteorientierungen, als auch das Verhältnis der Bürger zu Recht, Einkommensunterschieden, zu Moralvorstellungen und Besitzverhältnissen, als auch zur Außenpolitik, zu staatlichen Institutionen und später dann sogar zur politischen Opposition. Einige der Umfragen liefern jedoch auch Material für Rückschlüsse auf den Gehalt und die Entwicklung nationalistischer Einstellungen, etwa wenn es um das Verhältnis der Befragten zu anderen Völkern, zur Definition von staatlicher und nationaler Zugehörigkeit und zu Minderheiten geht. Auch Toleranz wurde im Laufe der Zeit untersucht.9 Zu den untersuchten Komponenten nationalistischer Haltungen gehörte auch die Bereitschaft, Opfer für die nationale Gemeinschaft zu bringen, darunter die Bereitschaft, im Rahmen des Militärdienstes das eigene Leben einzusetzen.

3. Opferbereitschaft und positive Haltung zum Militärdienst als Komponente nationalistischer Haltungen in Meinungsumfragen Eine der ersten Umfragen, die nach 1956 durchgeführt wurden, betraf die Haltung von Abiturienten zum Militär und ihre Bereitschaft, sich für die Laufbahn eines Berufsoffiziers zu entscheiden, sowie eine auch später noch wiederholte

8

9

Zu den institutionellen Veränderungen und den wechselnden Bezeichnungen der Einrichtung bis zu ihrer Privatisierung in den 1990er Jahren siehe Klaus Bachmann, Repression, Protest, Toleranz. Wertewandel und Vergangenheitsbewältigung in Polen nach 1956, Dresden 2010, S. 17–44; Janina Sobczak, Polski Gallup. Powstanie i pionierskie lata Ośrodka Badania Opinii Publicznej. In : Kultura i Społeczeństwo, 43 (1999) 4, S. 63–72. Ungeachtet der institutionellen Veränderungen und des Wechsels der Bezeichnung wird hier der Einfachheit halber nur von OBOP die Rede sein. Zur Glaubwürdigkeit der Umfragen, den Umfragemethoden und der Zensurproblematik siehe Bachmann, Repression, S. 17–44.

265

Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

Tabelle 1 : »Wären Sie bereit, Ihr Leben für das Vaterland zu opfern ?« ( Umfrage 1959 unter Abiturienten )10 Ja Nein Weiß nicht Keine Antwort

Männer

Frauen

48,7

46,6

8,7

2,8

36,2

34,2

6,4

16,4

Frage nach der Bereitschaft, für das Vaterland Opfer zu bringen, etwa das eigene Leben im Rahmen der Landesverteidigung. Die nächste Untersuchung zu diesem Thema stammt aus dem Jahr 1963 und wurde im Auftrag des Verteidigungsministeriums durchgeführt.11 In dieser Umfrage wurde allerdings eine etwas andere Fragestellung verwendet als 1959. Außerdem beschränkte sie sich auf Reservisten. Die Ergebnisse sind also nur mit den Antworten des männlichen Teils der Befragten vergleichbar, wobei auch klar sein muss, dass es sich dabei um eine etwas andere Altersgruppe handelt als bei der Umfrage von 1959. Die Befragung war darauf ausgerichtet, festzustellen, ob der Militärdienst für die Reservisten »eher Vorteile oder eher Nachteile« mit sich gebracht habe. Er ist also durchaus geeignet, festzustellen, wie groß der Anteil derer war, die eine positive Einstellung zum »Dienst an der Waffe« hatten. Tabelle 2 : Einstellung zum Militärdienst unter Reservisten 1962–63 Militärdienst Nachteile brachte Vorteile

Weder noch

Keine Antwort

Gruppe 1951–1956

45,2

17,1

37,5

0,2

Gruppe 1957–1961

52,6

11

36,1

0,3

insgesamt

49

14

36,7

0,3

Auch hier fällt wieder der hohe Anteil an ausweichenden Antworten auf, in beiden Umfragen hatte über ein Drittel der Befragten »weder Vorteile, noch Nachteile« zu Protokoll gegeben. Zugleich deutet die Umfrage aber eine Verbesserung im Verhältnis der Reservisten zum Militärdienst an. Dies war ganz offensichtlich darauf zurückzuführen, dass sich das Verhältnis zwischen Rekruten und Vorgesetzten verbessert hatte. Bei der Analyse der Daten wurden so die Gruppe der Reservisten, die 1951 bis 1956 ihren Dienst abgeleistet hatte, und die Gruppe 10 11

Vgl. Maria Trawińska - Kwaśniewska, Stosunek maturzystów do wojska i służby wojskowej, Warszawa 1959 ( OBOP Archiv 9.54/1959), »nicht zur Veröffentlichung bestimmt«. Vgl. Przemysław Przewłocki, Rezerwiści o służbie wojskowej. Materiał nie przeznaczony do publikacji ( OBOP 9.52/1993). Die Umfrage umfasste insgesamt 1867 Reservisten.

266

Klaus Bachmann

derer, die das 1957 bis 1961 getan hatte, verglichen. Dabei zeigte sich, dass in beiden Gruppen 23 Prozent der Befragten angaben, dieses Verhältnis sei schlecht, doch in der zweiten Gruppe betrug der Anteil derer, die es als gut bezeichneten, 60,7 Prozent im Vergleich zu 17,8 Prozent in der Gruppe, die im Stalinismus gedient hatte. So gesehen ist diese Umfrage nur sehr beschränkt als Messlatte für das Verhältnis zum »Dienst am Vaterland« zu gebrauchen. Sie gibt vermutlich mehr Auskunft über das Verhältnis der Reservisten zu »ihrer« Armee, das heißt der Polnischen Volksarmee der 1950er und 1960er Jahre. 1994 untersuchte das 1982 gegründete »Zentrum für Untersuchungen der gesellschaftlichen Meinung« ( Centrum Badań Opinii Społecznej, CBOS )12 im Rahmen einer Umfrage über den Warschauer Aufstand13 auch den Patriotismusbegriff in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang stellten die Meinungsforscher auch Fragen über die Bereitschaft, Opfer zu bringen. Es ist auf den ersten Blick ersichtlich, dass der Anteil derjenigen, die die Frage nach dem »höchsten Opfer für das Vaterland« 1994 bejahten, wesentlich größer war als der entsprechende Anteil der Opferbereiten 1959. Das gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, dass 1959 nur Abiturienten, 1994 dagegen ein repräsentativer Querschnitt der erwachsenen Bevölkerung befragt wurde. In einer weiteren CBOS - Umfrage aus dem Jahr 2000 wurde nach Pflichten und Rechten von Staatsbürgern gefragt. Dabei wurde eine Liste dieser Pflichten vorgelegt, wobei die Befragten die Möglichkeit hatten, mehrere Antwortmöglichkeiten anzukreuzen. 68 Prozent der Befragten taten dies bei der Rubrik »Militärdienst von Männern, soweit Alter und Gesundheit das erlauben«. 14 Prozent waren der Ansicht, das gehöre nicht zu den staatsbürgerlichen Pflichten, ein Prozent wählte die vorgegebene Antwort »so etwas sollte es gar nicht erst geben«. Wir können daraus schließen, dass im Jahr 2000 68 Prozent der Bevölkerung den Militärdienst für eine Bürgerpflicht hielten, und zwar, denn das geht aus dem Kontext der Umfrage klar hervor, in einem normativen Sinn. Das heißt, sie stellten damit nicht nur die Existenz einer solchen Pflicht fest, sondern fanden ebenso, die Bürger sollten diese Pflicht auch erfüllen. Interessant ist dabei aber, dass 32 Prozent der Befragten nicht dieser Auffassung waren und 15 Prozent der Befragten klar zum Ausdruck brachten, Gegner des Militärdienstes zu sein. Leider ergibt sich daraus auf den ersten Blick keine klare Tendenz. Diese wird erst etwas deutlicher, wenn man die Anteile negativer Einstellungen zum Militärdienst bei Männern betrachtet. Dieser betrug 1959 22,8 Prozent, 1963 dagegen (als nur Männer befragt wurden ), 14 Prozent. Im Jahr 2000 betrug er mit 15 Pro12 13

Zur Geschichte von CBOS vgl. Barbara Badora, Społeczeństwo i władza lat 80tych w badaniach CBOS, Warszawa 1994. Vgl. Lena Kolarska - Bobińska / Marcin Głowacki, Powstanie Warszawskie w świadomości społecznej. In : Powstanie Warszawskie z perspektywy półwiecza. Studia i materiały z sesji naukowej na Zamku Królewskim w Warszawie 14–15 czerwca 1994, Warszawa 1995, S. 458–465.

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Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

zent nur geringfügig mehr. Insgesamt scheinen jedoch sowohl Opferbereitschaft als auch eine affirmative Einstellung zum Militär und zur Landesverteidigung in Polen über den betrachteten Zeitraum hinweg auf einem hohen Niveau stabil geblieben zu sein. Tabelle 3 : Patriotismus und Opferbereitschaft 1994 Sind Sie / oder sind Sie nicht / Ich bin Ich bin nicht Schwer zu mit den folgenden Meinungen einverstanden einverstanden sagen einverstanden

Differenz von positiven und negativen Antworten d%

Man muss immer und in jeder Lage bereit sein, für das Vaterland Opfer zu bringen

82

11

7

71

Das eigene Leben in Gefahr zu bringen, um das Vaterland zu verteidigen ist eine Pflicht

86

9

5

77

Das eigene Leben in Gefahr zu bringen für das Vaterland zeugt von Mangel an Vernunft

9

84

7

-75

Manchmal ist es besser, wenn jemand mit dem Feind zusammenarbeitet, als mit ihm zu kämpfen versucht

16

70

13

-54

Negative Haltung

Differenz d%

Tabelle 4 : Einstellung zum Militärdienst 1951–2000 Jahr der Methode Umfrage

Charakteristik Positive der Befragten Haltung

1959

Notwendig für das Abiturienten Land: Ja / Nein

80,67

11,36

69,31

1963

Brachte Vor- oder Nachteile?

49

14

35

2000

Ist Militärdienst Repräsentativ Bürgerpflicht (Mehrfachantworten aus vorgegebener Liste von Pflichten)

83

15

68

Reservisten

268

Klaus Bachmann

4. Bedrohungsperzeptionen als Komponente nationalistischer Haltungen Die im obigen Abschnitt behandelten Einstellungen lassen sich kaum eindeutig affirmativ als patriotisch noch in einem normativ negativen Sinn als nationalistisch oder chauvinistisch einteilen. Dies ist bei Haltungen, die nicht der Affirmation und Kohärenz und Vitalität der eigenen Gemeinschaft, sondern der Abgrenzung von und Mobilisierung gegen eine andere Gemeinschaft dienen, anders. OBOP untersuchte Xenophobie im Wesentlichen mit Hilfe zweier Methoden : Zum einen indirekt mit Fragen, die darauf ausgerichtet waren, die Befragten dazu zu bewegen, einem bestimmten Land die Schuld an internationalen Krisen und Kriegsgefahr zuzuschreiben und zum anderen direkt mit Fragen nach der Sympathie und Antipathie gegenüber bestimmten Völkern, Nationen und ethnischen und religiösen Minderheiten. Bei einer Umfrage 1969 hielten 77 Prozent der Befragten, die eine Kriegsgefahr sahen, von allen zur Auswahl stehenden Staaten die Bundesrepublik für am gefährlichsten. Den allgemeinen und auch die DDR umfassenden Begriff »Deutschland« gaben nur 12,2 Prozent an. Tabelle 5 : Welche Länder sind am gefährlichsten für Polen (1969) ?14 Land / Staat / Nation / Organisation

Anteil derer, die jeweils angaben, das entsprechende Land, der Staat, die Organisation oder die Nation sei gefährlich für Polen

Bundesrepublik Deutschland

77

USA

19,1

China Deutschland / die

14,8 Deutschen15

12,2

Israel

9,3

»NATO und andere imperialistische Kräfte«

7,5

UdSSR, ČSSR etc.

0,3–2,8

14

15

Vgl. Halina Niewinowska, Wstępne opracowanie z badań »Obywatel a współczesna samoobronna« ( OBOP Archiv M. 0901). Die Tabelle entstand aus den Antworten auf eine offene Frage danach, wer für Polen am gefährlichsten sei. Die Befragten wählten also nicht eine oder mehrere Positionen aus vorgegebenen Angaben aus, sondern OBOP fragte danach und stellte dann aus der Häufigkeit, mit der eine Position erwähnt wurde, dieses Ranking zusammen. So erklärt sich auch, dass neben der Bundesrepublik auch »die Deutschen« vorkommen – sie wurden von den weniger versierten Befragten erwähnt, während Befragte, die sich in der internationalen Politik besser auskannten, die BRD von der DDR unterschieden. Im Polnischen ist bei der Angabe »Niemcy« keine Unterscheidung zwischen dem Staat Deutschland und »den Deutschen« als Nation oder Volk möglich.

Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

269

Korrelationen zwischen bestimmten politischen Ereignissen und der Furcht vor Deutschland und den Deutschen wurden in der Umfrage ebenso wenig untersucht wie zwischen der Kriegsangst und einzelnen Ereignissen, so dass weitgehend offen bleibt, womit die Schwankungen zwischen 1969 und den 1970er Jahren zu erklären sind. Daher kann an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass auf den Dezember 1970 der Besuch Willy Brandts in Warschau16 und auf das Jahr 1971 die Ratifizierung des deutsch - polnischen Gewaltverzichtsvertrags fielen. Angesichts der Tatsache, dass die Furcht vor Deutschland offenbar einen großen Anteil an der Kriegsfurcht im Polen der ausgehenden 1960er Jahre hatte, erscheint es einleuchtend, dass der deutsche Verzicht auf Gewalt bei einer Grenzveränderung und der sogenannte Helsinki - Prozess – besonders die multilaterale Anerkennung der bestehenden Nachkriegsgrenzen – zu einer Verminderung der Kriegsfurcht in Polen beitrugen.17 Innerpolnische Entwicklungen und mögliche Korrelationen zwischen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Furcht vor bewaffneten Konflikten bleiben dabei unberücksichtigt, da es darüber keine Erhebungen gab. Eine Umfrage von 1975 liefert dagegen deutliche Hinweise darauf, dass der Rückgang der Kriegsangst direkt auf eine Verbesserung des deutsch - polnischen Verhältnisses zurückzuführen war. Nun war nämlich nicht nur der Anteil derer, die einen Krieg für eine reale Bedrohung hielten, wesentlich geringer, sondern auch der Anteil jener, die die Bundesrepublik und »die Deutschen« für gefährlich hielten. Auch der Anteil derer, die andere Staaten und Völker als für Polen gefährlich ansahen, ging zurück, allerdings bei weitem nicht so stark wie in Bezug auf Deutschland und die Deutschen. Damit war die Zahl derer, die fanden, Polen drohe ein Krieg, auf fast ein Viertel des Werts von 1969 gesunken, während gleichzeitig die Zahl derer, die mit Deutschland und den Deutschen eine Gefahr assoziierten, von 52 auf 13 Prozent aller Befragten gefallen war. Ähnlich war die Dynamik in Bezug auf die USA, die allerdings nur einen geringen Einfluss auf das Niveau der Kriegsfurcht der Polen hatten. In Ermangelung von Daten, die zur Überprüfung anderer Hypothesen geeignet wären, muss man davon ausgehen, dass vor allem die neue Ostpolitik der Bonner Regierung und der Entspannungsprozess in Europa für den Rückgang der Kriegsfurcht in Polen verantwortlich waren. Die Angst vor einem 16 17

Vgl. Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002, S. 612– 624. Für einen engen Zusammenhang zwischen Deutschenangst und Kriegsfurcht sprechen auch die Ergebnisse von zwei Umfragen aus den Jahren 1961 und 1963, die in zwei umfangreichen Berichten referiert werden, in denen aber nicht direkt nach dem Bestehen einer Kriegsgefahr gefragt wurde. Gefragt wurde dabei aber unter anderem nach den Ursachen für Bedrohungen des Friedens, wobei die meisten Befragten (1961 waren es 28 und 1963 37 Prozent ) die »Wiederbewaffnung Deutschlands« angaben. Vgl. Andrzej Siciński, Sprawy międzynarodowe w opinii publicznej 1963 ( OBOP Archiv Mat. 9068).

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Klaus Bachmann

Tabelle 6 : Kriegsfurcht und die Einstellung zu fremden Ländern, Staaten und Organisationen 1969–197518 Land / Staat / Nation / Anteil derer, die 1969 Organisation angaben, das entsprechende Land, der Staat, die Organisation oder Nation sei gefährlich für Polen

Anteil derer, die 1975 Veränderung als angaben, das entspre- Prozentsatzdifferenz chende Land, der d% Staat, die Organisation oder Nation sei gefährlich für Polen

Bundesrepublik Deutschland

45

9

-36

USA

11

3

-8

China

9

6

-3

Deutschland / die Deutschen19

9

4

-5

Israel

6

2

-4

„NATO und andere imperialistische Kräfte“

4

2

-2

UdSSR, ČSSR etc.

4

2

-2

Anteil aller Befragten, die eine Kriegsgefahr für real halten

86

28

-58

Anteil derer, die keine Kriegsgefahr sehen

41

82

+41

Atomkrieg zwischen den Supermächten scheint in Polen sehr gering gewesen zu sein, sonst wäre der Anteil derer, die den USA und der NATO Gefährlichkeit zuschrieben, wohl höher gewesen. Bedroht sahen sich die Polen Ende der 1960er Jahre offenbar vor allem von Seiten der Bundesrepublik. Nach mehreren Streikwellen handelten Arbeitervertreter und Regierungs und Parteivertreter im Sommer 1980 die sogenannten Danziger Abkommen aus, die später die Gründung der ersten unabhängigen Gewerkschaft in einem kommunistischen Staat ermöglichten. Der »Sommer der Solidarität« führte zunächst 18

19

Spadek poczucia zagrożenia wojną. Komunikat z badań ( OBOP Archiv K. 33/074/75). Die Werte für 1969 entstammen der Untersuchung aus OBOP Archiv M. 0901, allerdings kommen die unterschiedlichen Angaben in Tab. 5 und Tab. 6 dadurch zustande, dass in Tab. 6 die Zahl derer, die Kriegsfurcht hegten, als 100 Prozent derjenigen zu Grunde gelegt wurde, die in der Bundesrepublik eine Gefahr sehen. Daher sind die Werte in Tab. 6 für das Jahr 1969 geringer als in Tab. 5. In beiden Umfragen waren Mehrfachnennungen bei der Beantwortung der offenen Frage nach der Gefahr fremder Nationen und Staaten möglich. Wie Anm. 15.

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zu einem Nachlassen der Spannungen und der Drohgesten aus Moskau und anderen Hauptstädten, so dass der Anteil derer, die eine Kriegsgefahr für real hielten, wieder auf 17 Prozent sank, während der Anteil derjenigen, die keine solche Gefahr gelten ließen, auf 67 Prozent stieg. Doch bereits zwei Monate später wendete sich das Blatt wieder. Nachdem die neue Gewerkschaft einen Monat auf ihre Zulassung bei Gericht gewartet hatte, erfuhr ihre Führung unter Lech Wałęsa, dass das Gericht – offenbar auf Anweisung von oben – in die Statuten zwei Fragmente der Danziger Abkommen eingefügt hatte, die die »Solidarität« dazu verpflichteten, die »führende Rolle der Partei« und »die außenpolitischen Bündnisse Volkspolens« anzuerkennen. Daraufhin hatten die regionalen Strukturen der Gewerkschaft mit Streik gedroht. Zu dem unter dem Namen »Registrierungskrise« in die Geschichte eingegangenen Konflikt gehörten auch heftige Attacken in den Medien der Nachbarländer und sowjetische Manöver an der polnischen Ostgrenze.20 Nun sahen plötzlich 29 Prozent der Befragten eine Kriegsgefahr ( die Zahl derer, die entgegengesetzter Ansicht waren, sank von 67 auf 55 Prozent ), doch das war nicht die einzige dramatische Veränderung. Weiterhin stand die Bundesrepublik an erster Stelle der Staaten, in denen die Befragten eine Gefahr sahen ( auch wenn die Werte weiterhin niedriger waren als vor 1969). Doch auf Platz zwei fanden sich nun nicht mehr die USA oder China, sondern die Sowjetunion. Der unbekannte Autor des Berichts vermeldete dies auch, allerdings ohne genauere Angaben – im Gegensatz zu früheren Berichten, in denen die genauen Werte und die Berechnungsbasis wiedergegeben worden waren.21 Im November 1981, dem nächsten Datum, über das Erhebungen zum Thema Kriegsfurcht überliefert sind, stieg der Anteil derer, die Krieg für eine reale Gefahr hielten, auf 30 Prozent, was angesichts der Wirtschaftskrise und der Zuspitzung der innenpolitischen Konflikte zwischen Solidarität und Staatsmacht, sowie der außenpolitischen Drohgebärden ( umfangreiche Warschauer - Pakt - Manöver ) nicht verwundern kann. Nun wechselte die Sowjetunion sogar den Platz mit der Bundesrepublik im Ranking der Staaten, von denen sich die Befragten am häufigsten bedroht sahen. OBOP erwähnte auch das, allerdings ohne genaue Angaben zu machen : An erster Stelle war die UdSSR, danach kam die Bundesrepublik, gefolgt von der NATO und den USA ( nun an vierter Stelle ).22 Im April 1982 ging die Kriegsfurcht wieder leicht zurück, offenbar hatte der Kriegszustand, der – anderen Umfragen zufolge – von einer Mehrheit der Bevöl20

21 22

Vgl. Timothy Garton Ash, Polska Rewolucja, 1987, S. 49–55 ( zit. nach der Samizdat - Ausgabe von Most, daher kein Ort angegeben ). Aus den erhalten gebliebenen OBOP - Archivalien geht nicht hervor, wann genau im November 1980 die Umfrage durchgeführt wurde, ob die Befragungen vor dem Ende der Krise ( und dem Urteil des Obersten Gerichtshofs über den endgültigen Inhalt des Gewerkschaftsstatuts ) abgeschlossen waren. Die Umfrage war repräsentativ und betraf nur Erwachsene ( OBOP Archiv K. 02/193/81). Vgl. ebd., S. 3; OBOP Archiv K. 18/180/80. Repräsentative Umfrage unter Erwachsenen ( OBOP Archiv K. 10/238/82).

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kerung unterstützt wurde, die Furcht gemindert, die Sowjetunion könnte eine Invasion starten. Interessanter als der leichte Rückgang des Anteils derer, die eine Kriegsgefahr für akut hielten, sind aber die Veränderungen im Ranking der bedrohlichen Staaten. Hier rückten nun die USA, die nach dem Kriegsrecht Sanktionen gegen Polen verhängt hatten, auf den ersten Platz vor, gefolgt von der Bundesrepublik und der UdSSR. Die NATO war wieder auf dem vierten Platz. 60 Prozent der Befragten verurteilten die Politik der USA (»beurteilten sie negativ«), nur 13 Prozent unterstützten sie, 13 Prozent gaben Antworten, die sich nicht klar positiv oder negativ einordnen ließen, 14 Prozent verweigerten Angaben, was auf ein relativ hohes Niveau von Vertrauensmangel hinweist.23 Von nun an gab es eine ausgesprochen antiamerikanische Tendenz in den Umfragetrends : Bis 1969 waren »die Deutschen« von den meisten Befragten als Gefahrenquelle in den internationalen Beziehungen identifiziert worden. Nun, vom Frühjahr 1982 an nahmen diesen Platz die USA ein und gaben ihn auch bis zum absoluten Höhenpunkt der Kriegsfurcht im November 1983 nicht mehr ab. Noch im Oktober und November 1984, als die Kriegsangst bereits wieder auf das Niveau vom Beginn der 1980er Jahre gesunken war, stellten für 64 Prozent der Befragten die USA die Hauptgefahr für den Weltfrieden dar, gefolgt von der UdSSR und erst danach von der Bundesrepublik. Lediglich im Oktober 1984 befanden sich die Deutschen kurzzeitig auf dem ersten Platz – allerdings in einer Periode, als die Kriegsfurcht wieder gesunken war. Die Untersuchungen von OBOP aus den 1980er Jahren legen den Schluss nahe, dass sowohl das hohe Niveau an Kriegsfurcht, als auch die negative Einstellung der Befragten gegenüber den USA eine Reaktion auf den Rüstungswettlauf zwischen den Blöcken war. Darauf weisen Umfrageergebnisse aus dem Zeitraum hin, in dem die Kriegsfurcht und die Kritik an den USA am heftigsten waren. Tabelle 7 : »Wer zeigt mehr guten Willen bei den Abrüstungsverhandlungen ?«24 Konfliktpartei UdSSR

Mai 1983

September 1983

Dezember 1983

56

48

47

USA

2

4

4

Beide

10

11

5

Keiner von beiden

17

20

25

Keine Antwort

15

17

19

23 24

Poczucie zagrożenia wojną oraz sankcje gospodarcze USA wobec Polski w opinii publicznej (OBOP Archiv K. 10/238/82). Sytuacja międzynarodowa w opinii społecznej ( OBOP Archiv K.54/314/83). Die Umfragen waren repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung Polens.

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Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

Dabei ist einschränkend zu berücksichtigen, dass andere Korrelationen von OBOP nicht untersucht wurden, so dass hier nicht diskutiert werden kann, inwieweit die Zunahme von Kriegsfurcht in der ersten Hälfte der 1980er Jahre eine Reaktion auf tiefer liegende soziale, ökonomische oder psychologische Veränderungen war. Die Kriegsfurcht blieb bis Anfang 1984 auf einem hohen Niveau und ging danach rapide zurück, so dass der entsprechende Trend Ende 1984 wieder auf dem Niveau der ausgehenden 1970er Jahre war. Selbst dann sahen jedoch die meisten Befragten in den USA und – mit großem Abstand – in der UdSSR die Hauptverantwortlichen für die angespannte internationale Lage. Die Bundesrepublik war nun sogar auf Platz 3. Sie rückte erst wieder auf den ersten Platz im Zusammenhang mit der Debatte um die deutsche Minderheit, die dann in den deutschen Medien begann.25

5. Xenophobie als Komponente nationalistischer Haltungen Seit den 1960er Jahren untersuchte OBOP immer wieder die Haltung der polnischen Bevölkerung zu anderen Völkern und Ethnien, unter dem Gesichtspunkt des Ethnozentrismus, um die ethnische Distanz zu messen oder um Antisemitismus und Toleranz bzw. Intoleranz auf den Grund zu gehen. Die entsprechenden Umfragen von 1975, 1981 und 1982 lassen sich aufgrund sehr ähnlicher Fragestellungen und Methoden direkt vergleichen. Tabelle 8 : Sympathie gegenüber ausgewählten Völkern und Nationen 1975–198226 Volk / Nation

1975

1981

1982

Russen

59

32

32

Ungarn

54

56

58

Franzosen

54

54

56

Tschechen

42

36

36

Slowaken

41

43

42

25 26

Repräsentative Umfrage unter Erwachsenen ( OBOP Archiv K. 01/353/85). Die Zahlen für 1975, 1981 und 1982 gehen auf den Bericht »Stosunek Polaków do innych narodów i państw« vom 14.4.1982, der auch Ergebnisse der früheren Untersuchungen zusammenfasst, zurück ( OBOP Archiv K. 14/242/82), gekennzeichnet mit »vertraulich«. Ausgewählt wurden aus der Liste der insgesamt 20 angegebenen Völker und Nationen diejenigen, die jeweils die relativ höchsten Sympathiewerte aufwiesen.

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Klaus Bachmann

Der Anteil derer, die ein bestimmtes Volk nicht mochten, betrug 1975 60 Prozent ( als nach Antipathie gegenüber den Deutschen gefragt wurde ) und sank dann auf 49 Prozent 1981 ( nun wurde allerdings bei der Umfrage getrennt nach West - und Ostdeutschen gefragt, wobei sich die Westdeutschen als weniger sympathisch erwiesen ) und 1982 sogar auf 32 Prozent. Interpretiert man Antipathie gegen ein beliebiges Volk als Indikator für Intoleranz, so ging diese im Untersuchungszeitraum deutlich zurück. Tabelle 9 : Antipathie gegenüber ausgewählten Völkern und Nationen 1975–198227 Volk / Nation

1975

1981

1982

Deutsche

60

49 *

32 *

Juden

41

25

23

Zigeuner

39

34

29

Tschechen

11

17

12

* bezieht sich jeweils nur auf Westdeutsche. Ostdeutsche hatten 1981 einen Wert von 37 und 1982 einen von 24.

Handelt es sich bei der Tendenz zu mehr Sympathie um eine Art Wertewandel hin zu mehr Toleranz oder um Ad - hoc - Reaktionen auf außenpolitische und innenpolitische Ereignisse, wie die sowjetischen Drohgebärden 1980/81 und die Einführung des Kriegszustandes Ende 1981 ? Mit Sicherheit ist die Zunahme derjenigen, welche die Russen weniger sympathisch fanden, daraus zu erklären. Doch es finden sich auch Hinweise auf unterschwelligen generationsabhängigen Wertewandel. So war der Anteil proamerikanischer und antirussischer Einstellungen in der jüngsten untersuchten Alterskohorte der 16 - bis 19 - Jährigen am höchsten, während bei den älteren Generationen Antipathie gegenüber Deutschland dominierte. In Bezug auf Amerikaner, Russen und Franzosen wurden diese Untersuchungen noch 1984 und 1985 wiederholt. Die Haltung zu Deutschen, Juden und Amerikanern wurde in vergleichbaren Untersuchungen und mit den gleichen Fragestellungen bis 1989 immer wieder erforscht, so dass es möglich ist, 27

Ausgewählt wurden aus der Liste der insgesamt 20 angegebenen Völkern und Nationen diejenigen, die jeweils die relativ höchsten Antipathiewerte aufwiesen. Die Angabe von Juden und Zigeunern ist dabei potentiell missverständlich, denn dabei handelte es sich nach zeitgenössischem Sprachgebrauch zugleich auch um Minderheiten im Land ( im Gegensatz zu den Deutschen, die in der Regel als Autochthone bezeichnet wurden ). Die Daten aus der Untersuchung fanden auch Eingang in den Aufsatz von Aleksandra Jasińska - Kania, Transformacja ustrojowa a zmiany postaw Polaków wobec różnych narodów i państw. In : Kultura i Społeczeństwo, 35 (1991) 4, S. 151–164. Zur Haltung der polnischen Bevölkerung zu den Deutschen und Deutschland vgl. auch Ewa Nowicka, Dystans wobec Niemców w społeczeństwie polskim. In : ebd., S. 167–177, sowie Aleksandra Jasińska - Kania ( Hg.), Bliscy i dalecy, Warszawa 1992.

Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

275

für die Haltung zu den meisten untersuchten Nationen und Völkern Zeitreihen für den Zeitraum zwischen 1975 und 1987 und für einige – die am meisten kontroversen Nationen und Völker – sogar Trends von 1975 bis 1989 zu erstellen.28 Da die Schwankungen im Anteil derer, die Antipathie zum Ausdruck brachten, größer waren, als dies bei den Fragen nach Sympathie der Fall war, wird im Folgenden der Anteil derer, die bei den jeweiligen Umfragen Antipathie gegenüber einer Nation bzw. einem Staat äußerten, als Indikator für Intoleranz herangezogen. Je niedriger dieser ist, umso höher soll zum entsprechenden Zeitpunkt das gesellschaftliche Toleranzniveau sein. Abb. 1 : Antipathie gegenüber ausgewählten Völkern und Staaten 1975–198929

28

29

Als Kuriosum am Rande sei erwähnt, dass bei den Umfragen zwischen 1975 und 1987 auch nach der Einstellung der Befragten zu »den Polen« gefragt wurde, was einen steigenden Anteil (von 5 bis 12 Prozent ) Befragten zu Tage förderte, der keine Sympathie zu erkennen gab. Der Anteil der Polen, die Polen für unsympathisch hielten, war allerdings nie größer als ein Prozent. Vgl. Aleksandra Jasińska - Kania, Stereotypy narodowe w społeczeństwie polskim a opinie Polaków o różnych narodach i państwach. Konceptualizacja badań cz. II, vom 26. 5. 1987 ( OBOP Archiv K. 003/88). Vgl. ebd.; Stosunek Niemców i Żydów w badaniach OBOP, August 1989 ( OBOP Archiv K. 007/89); Stosunek Polaków do Amerykanów i do Stanów Zjednoczonych, März 1990 ( OBOP Archiv M. 0935); Zmiany postaw Polaków wobec Niemców, November 1989 ( OBOP Archiv K. 31/533/89). Für den Zeitraum 1975 und 1977 wurde nur nach »den Deutschen« – ohne Unterscheidung von West - und Ostdeutschen – gefragt, daher werden für beide Gruppen identische Werte angegeben. »Zigeuner« ist die Entsprechung von »cyganie«, was im Polnischen bis heute

276

Klaus Bachmann

Bereits auf den ersten Blick ist erkennbar, dass der so ermittelte Indikator für Intoleranz bzw. Xenophobie in den 1980er Jahren ständig und stetig kleiner wurde und dies trotz der in dieser Zeit höheren Bedrohungsperzeption. Dies widerspricht der Hypothese, wonach wahrgenommene äußere Bedrohung – in diesem Fall die Furcht vor Krieg und die Bedrohung durch die USA – die gesellschaftliche Toleranz dämpft. Offenbar haben wir es also durchaus mit einer längerfristigen Werteumorientierung hin zu mehr Toleranz und Akzeptanz für andere zu tun und nicht nur mit der Summe verschiedener spontaner Reaktionen auf innen- und außenpolitische Ereignisse. Einzelereignisse wirken sich vor allem kurzfristig auf die jeweiligen Höchstwerte von Sympathie und Antipathie aus. So nahm die Antipathie gegenüber den USA mit der Einführung von Wirtschaftssanktionen gegen Polen nach der Verhängung des Kriegsrechts stark zu, um dann nach 1986 wieder zu sinken. Am stärksten sind die Hinweise auf tagespolitische Einflüsse bei den Werten für Westdeutsche, deren Antipathie - Werte extrem schwanken, was vermutlich auf Propagandakampagnen gegen deutsche Revanchisten und Vertriebene, die Affäre um die Wochenzeitung »Der Schlesier« und die Auseinandersetzungen um das Treffen der Landsmannschaft der Schlesier 1985 zurückzuführen ist. Über den erfassten Zeitraum ging der Anteil jener, die eine Antipathie gegen eines / einen oder mehrere der in den Umfragen erwähnten Völker bzw. Staaten hegten, stetig zurück. Von den Gruppen, denen die polnische Gesellschaft mit der höchsten Intoleranz begegnete, betrafen die größten Schwankungen die Deutschen, die Juden, die Amerikaner und die Russen sowie die Chinesen. Demgegenüber blieb die ebenfalls relativ hohe Aversion gegen Zigeuner relativ stabil. Dies weist darauf hin, dass die Varianz in der Ablehnung von Zigeunern von politischen Ereignissen relativ unabhängig ist, während ein Großteil der Schwankungen in Bezug auf Deutsche, Juden, Amerikaner und Russen vom kurzfristigen politischen Klima abhängen dürfte. Die Haltung gegenüber den Juden scheint – angesichts der Tatsache, dass sie die gleiche stetig fallende Tendenz aufweist, wie sie dem Index zu eigen ist – darauf hinzudeuten, dass sie von tagespolitischen Einflüssen relativ unabhängig und ein robuster Indikator für Intoleranz generell ist. Die hohe Stabilität der Tendenz, Landesverteidigung und Militär für unabdingbar zu halten, und die große und ebenfalls über die Zeit stabile Bereitschaft, »für das Vaterland zu sterben«, deuten einerseits auf ein hohes Niveau von Nationalismus in der polnischen Gesellschaft hin. Andererseits erweist sich jedoch, dass diese Tendenz begleitet wird von zunehmender Toleranz ( bzw. abnehmender Intoleranz ) insbesondere bei Haltungen gegenüber Nationen und Gruppen, deren Ansehen von tagespolitischen Ereignissen weitgehend unabhängig ist. Um populärer ( und weniger pejorativ als im Deutschen ) ist als Roma ( poln. : Romowie; Sinti gibt es in Polen fast nicht ).

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es etwas umgangssprachlicher auszudrücken, könnte man auch behaupten, dass der polnische Nationalismus zwar nicht schwächer wird, sich aber hin zu einem Patriotismus entwickelt, der zwar die eigene Gemeinschaft »hochleben« lässt, aber nicht unbedingt auf die Ablehnung von Fremden oder »Anderen« angewiesen ist. Das ist nicht das einzige Paradox, das dabei zu Tage tritt.

6. Tradition und Nationalismus – das Paradox von 1967/68 Die sogenannten Märzereignisse in Polen gelten zu Recht als eine Schlüsselepisode in punkto Nationalismus. Zum ersten Mal wurde von der PVAP Nationalismus mitsamt seiner historischen nationaldemokratischen, xenophoben, antideutschen, autoritären und antisemitischen Komponenten in einem solchen Ausmaß für den innenpolitischen Machtkampf instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung ging weit über die bisherigen nationalen Legitimationsstrategien hinaus – es ging nun nicht mehr nur darum, breitere Kreise der Bevölkerung für sich zu gewinnen –, sondern zielte, um es mit heutigem Vokabular zu sagen, ab auf eine von oben gesteuerte ethnische Säuberung, mit deren Hilfe zugleich der innenpolitische Gegner geschwächt und die an den Schulen und Hochschulen aufkeimenden Proteste unterdrückt werden sollten. Zugleich diente die Instrumentalisierung des Nationalismus auch dazu, die Entstalinisierung voranzutreiben, allerdings nicht in Richtung auf eine kulturelle oder gar politische Liberalisierung, sondern zur Verstärkung von Repression und autoritären Tendenzen. Die Ursachen der dramatischen Ereignisse 1967/68 waren größtenteils politischer und demographischer Natur. Politisch wurde sie ausgelöst durch den sich zuspitzenden Machtkampf im politischen Establishment zwischen Nationalkommunisten und »Moskowitern« ( bzw. Politikern, die sich mit diesem Label belegen ließen ). Dieser Machtkampf fiel zeitlich zusammen mit dem Drängen der Nachkriegs - Baby - Boomer in die staatlichen Institutionen und auf den staatlich regulierten Arbeitsmarkt. So musste die Volksrepublik Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre um die drei Millionen Arbeitsplätze mehr schaffen, als dies ohne den Geburtenzuwachs der unmittelbaren Nachkriegszeit der Fall gewesen wäre. Der Machtkampf in der Partei erreichte 1967 seinen Höhepunkt, als ein außenpolitisches Ereignis und sein – enorm aufgebauschtes – innenpolitisches Echo den »Partisanen« eine Chance bot, die bis dahin im Machtkampf neutrale Parteiführung unter Gomułka auf ihre Seite zu ziehen. Israel hatte in einem kurzen und enorm effektiven Präventivschlag seine arabischen Nachbarn militärisch geschlagen und nach sechs Tagen große Teile von deren Territorium ( das Westjordanland, die Westbank und den östlichen Teil Jerusalems ) besetzen können. Dies erfolgte mit westlicher Unterstützung, mit Kommandeuren und Piloten, von denen viele in der Zwischenkriegszeit, während des Krieges und in der unmittel-

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baren Nachkriegszeit aus Polen ausgewandert waren. Die arabischen Nachbarstaaten waren von den Warschauer - Pakt - Staaten unterstützt und ausgerüstet worden. Die Moskauer Führung betrachtete dies als Niederlage des sowjetischen Blocks und berief die Führer der Satellitenstaaten am 9. Juni 1967 zu Beratungen nach Moskau. Offenbar überließ man es diesen, ob sie ebenfalls ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrechen wollten – doch sie taten es ohnehin, das blockfreie Jugoslawien eingeschlossen. Wenige Tage später, am 19. Juni, hielt Gomułka eine Rede vor Gewerkschaftern in Warschau, die die heiße Phase der »antizionistischen Aktion« auslösen sollte. Darin verglich er die israelische Armee mit der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg und erinnerte daran, dass Polen während der Besatzung Juden versteckt und gerettet hatten. Dann behauptete er, die Aggression Israels habe in zionistischen Milieus polnischer Bürger jüdischer Abstammung Applaus ausgelöst. »Wir wollen nicht, dass in unserem Land eine fünfte Kolonne entsteht.« Und weiter : »Wir haben polnischen Bürgern jüdischer Nationalität keine Hindernisse in den Weg gelegt bei der Auswanderung nach Israel, wenn sie das wollten. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass jeder Bürger Polens nur ein Vaterland haben sollte – die Volksrepublik Polen.« Das war ein kaum verhüllter Aufruf zur Emigration an diejenigen, »die fühlen, dass diese Worte an sie gerichtet sind«.30 Die Rede wurde zum Startschuss für »antizionistische« Säuberungen im Partei - und Staatsapparat. Mehrere Zehntausend Kommunisten und Armeeoffiziere jüdischer Abstammung verloren ihre Arbeit. Bis Ende 1969 verließen insgesamt 20 000 bis 25 000 Polen jüdischer Herkunft das Land für immer und ließen sich in Israel, Schweden, Frankreich und den USA nieder.31 Die Kampagne hatte eine nach außen und eine nach innen gerichtete Stoßrichtung. Als Antwort auf den Antisemitismus - Vorwurf hieß es, Israel habe sich durch deutsche Wiedergutmachungsleistungen und Kredite kaufen lassen und als Gegenleistung Deutschland von der Verantwortung für den Massenmord an den europäischen Juden freigesprochen. Man sei daraufhin übereingekommen, nun Polen daran die Schuld zuzuschieben. Die Rede war von einer »Achse Bonn - Tel Aviv«. Die Argumentation war darauf ausgerichtet, eine innere Solidarisierung mit der Staats - und Parteiführung im Sinne von Mieczysław Moczars Partisanenfraktion zustande zu bringen. Die nach innen gerichtete Spitze der Kampagne lautete dagegen, die polnischen Juden hätten sich nie für die Hilfe erkenntlich gezeigt, die ihnen von Polen zuteil geworden war. Das wie30 31

Zit. nach Dariusz Stola, Kampania antysyjonistyczna w Polsce 1967–1968, Warszawa 2000, S. 274. Vgl. Jerzy Eisler, Polski rok 1968, Warszawa 2006, S. 130; Michał Chęciński, Poland. Communism, Nationalism, Anti - Semitism, New York 1982, S. 245 f. Außerdem, mit zahlreichen fragwürdigen Einschätzungen und sachlichen Fehlern ( das Buch beruht auf Interviews mit Emigranten, die über Wien ausreisten ) Paul Lendvai, Anti - Semitism without Jews. Communist Eastern Europe, New York 1971.

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derum wurde Anlass für Sitzungen der Basiszellen der PVAP, bei denen Genossen jüdischer Herkunft gezwungen wurden, sich öffentlich für diesen Mangel an Dankbarkeit »beim polnischen Volk« zu entschuldigen. Da mancher erst dadurch erfuhr, dass er jüdischer Abstammung war, entwickelten sich diese Sitzungen zu einer Art modernen Spießrutenlaufens.32 Die Kampagne wurde begleitet von einer Flut von Publikationen über die Hilfe von Polen für Juden während des Holocaust, Pressekampagnen gegen die angebliche »Achse Bonn - Tel - Aviv« zwischen westdeutschen Revanchisten und Neonazis, die mit Zionisten gemeinsame Sache machten, um das polnische Volk als Antisemiten zu verleumden.33 Bis heute umstritten ist, auf wieviel Akzeptanz oder gar Unterstützung die Kampagne in der Bevölkerung rechnen konnte. OBOP erhielt erstaunlicherweise nie einen Auftrag, die Stimmung in der Bevölkerung im Bezug auf die antizionistische Kampagne oder den Nahostkonflikt zu erforschen. Es ist auch nicht bekannt, warum dies nicht geschah. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre war OBOP – zusammen mit dem gesamten staatlichen Medienkomplex – unter immer stärkeren Zensurdruck gekommen. Die Mitarbeiter waren so mit ihren Fragestellungen und Untersuchungsthemen in weniger politisierte Bereiche ausgewichen, hatten begonnen, die Popularität von TV - und Rundfunksendungen zu untersuchen und sich aus der Politik weitgehend herausgehalten. Im Partei und Staatsapparat schien man von den neuen Untersuchungsmethoden nichts zu halten, oder man wusste nichts davon.34 Die erste OBOP - Umfrage in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die sich mit der Einstellung der polnischen Bevölkerung zu anderen Völkern befasst, stammt vom Frühjahr 1967 und geht nur am Rande auf das Verhältnis der Befragten zu Juden ein.35 Sie diente hauptsächlich zur Untersuchung des Nations - und Patriotismusbegriffs, ohne Berücksichtigung der aktuellen Lage. Die Demoskopen fragten im Rahmen der Untersuchung aber auch nach der Einstellung zu verschiedenen anderen Völkern, nach ethnischer Distanz zu diesen und Sympathie bzw. Antipathie. Dabei zeigte sich, dass die Deutschen das bei weitem unsympathischste Volk waren.36 32

33 34

35

36

Beispiele dafür und Reaktionen auf die Rede Gomułkas veröffentlichte schon 1988 die legale (sich den Zensurvorschriften unterwerfende ) Oppositionszeitung »Res Publica« in einer Sondernummer zum Jahrestag des »März 1968«. Vgl. Eisler, Polski rok, passim. Nach Auskunft von Jerzy Eisler findet sich in den für die Märzereignisse relevanten Archivbeständen keinerlei Hinweis darauf, dass in der Führung der PVAP bzw. im Staatsapparat Umfragen zu diesen Themen auch nur bekannt waren. Vgl. Jerzy Szacki, Wstępne opracowania wyników ankiety »Polacy o sobie i o innych narodach« ( OBOP Archiv, Mat. 05). Die Umfrage umfasste 1907 Befragte, 93 (5 Prozent ) hatten eine Beteiligung abgelehnt. Aus der Zusammenfassung der Umfrageergebnisse geht hervor, dass in den Fragebögen offenbar tatsächlich danach gefragt wurde, welches Volk den Befragten »gefalle« und welches nicht. (polnisch : podobać się ).

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Klaus Bachmann

Tabelle 10 : Sympathie und Antipathie für verschiedene andere Völker 196737 Sympathie

Antipathie

Franzosen

31,6

Ungarn

24

Russen

22,4

13,5

Amerikaner

16,9

11

Engländer

15,4

Skandinavier

13,8

6,1

Italiener

9

Tschechen und Slowaken

7,6

17,2

Deutsche

7,1

66,8

Juden

4,1

Chinesen

13,5

Ukrainer Andere

3,9

4,7 26,5

15,9

Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass die antideutsche Richtung der »Partisanen« - Propaganda offenbar auf gesellschaftliche Resonanz rechnen konnte, die judenfeindliche Stoßrichtung dagegen kaum. Zugleich offenbarte diese Umfrage aber auch, wie resistent die in der Gesellschaft verankerte Vorstellung darüber, wie Polentum und Staatsbürgerschaft bzw. Zugehörigkeit zur Nation definiert werden sollten, gegen die staatliche Kampagne war. Diese war ja ganz darauf ausgerichtet, einen ethnischen, auf Blutsbande und kulturelle Traditionen basierenden Nationsbegriff zu lancieren, demzufolge zwischen Polen und anderen Nationen und ethnischen Gruppen, die in Polen lebten, wie Juden, Deutschen und Ukrainern eine klare Trennungslinie bestand. Die Kampagne lancierte zugleich starke ethnozentrische Komponenten wie die Überzeugung, »die Polen« seien den anderen Völkern und Gruppen, gegen die die Kampagne gerichtet war, moralisch überlegen. In diese Richtung zielten alle Behauptungen über die angebliche »Undankbarkeit der Juden« für deren Rettung durch Polen im Krieg und über die behauptete »Achse Bonn - Tel Aviv«. Wie sehr dennoch der offene, »jagiellonische« Nationsbegriff, demzufolge Polentum nicht nur ererbt, sondern auch erworben werden kann, in der Bevölkerung verankert blieb, zeigen die Antworten auf die Umfrage von 1967, die sich 37

Die Zusammenfassung der Umfrage suggeriert, dass die Fragestellung offen war. Leere Rubriken zeigen also an, dass das entsprechende Volk in der Antwort auf die Frage nicht oder so selten genannt wurde, dass die Auswertenden es in die Rubrik »andere« eintrugen. So scheinen die Franzosen niemandem missfallen, die Juden dagegen niemandem gefallen zu haben.

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Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

mit Fragen von Patriotismus und Staatsbürgerschaft befassen. So präsentierten die Fragesteller ihren Probanden unter anderem einen Katalog von acht populären, in der Literatur und den Medien verwendeten Definitionen von »Nation«. Dabei schnitten offene Nationsdefinitionen am besten ab, die Assimilation und das Erwerben der Zugehörigkeit zur Nation ermöglichten, während exklusive Definitionen, denen zufolge Nationszugehörigkeit nur ererbt werden kann, weiter hinten rangierten. Tabelle 11 : »Was würden Sie eine Nation nennen ?«38 Frage

Anteil der Antworten in Prozent (Mehrfachnennungen waren möglich)

Leute39, die die gleiche Sprache sprechen

51,1

Leute, die das gleiche Territorium bewohnen

49,1

Leute, die die gleiche Geschichte haben

43,5

Leute, die der gleichen Staatsmacht unterliegen

38,7

Leute, die sich selbst zu der jeweiligen Nation40 rechnen

28,7

Leute, die ähnlich oder gleich denken

15,1

Leute der gleichen Rasse

12,7

Leute der gleichen Religion

9,8

Andere Bezeichnungen

0,6

Darüber habe ich noch nie nachgedacht

3,7

Keine Antwort

0,7

Zugleich traf die antisemitische, antideutsche und gegen Intellektuelle gerichtete Kampagne von Moczars »Partisanenfraktion« aber auf enorme Zustimmung in der Bevölkerung, die aufgrund fehlender Untersuchungen nur indirekt gemessen werden kann.41 Besonders nachdem die Staatsmacht im März 1968 in Warschau eine große Studentendemonstration durch den Einsatz von Polizei, Polizeihilfskräften und herangekarrten Arbeitern, die mit Prügeln ausgerüstet waren, die strafende Hand von »Vater Staat« hatte spüren lassen, verzeichnete die PVAP

38 39 40 41

Vgl. Szacki, Wstępne opracowanie. Der polnische Ausdruck »ludzie« kann ins Deutsche sowohl mit »Menschen« als auch mit »Leute« übersetzt werden. Der polnische Ausdruck »naród« kann als »Nation« und »Volk« ins Deutsche übersetzt werden. Weit weniger Zustimmung gab es dagegen für Gomułkas Forderung aus seiner Rede vor Gewerkschaftern, jeder polnische Bürger könne nur eine Heimat ( ein Vaterland ) haben. Der in Fußnote 37 zitierten Umfrage zufolge hielten es 52,2 Prozent der Befragten für zulässig, zwei Vaterländer zu haben ( etwa im Fall von Emigranten ).

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Klaus Bachmann

einen rapiden Mitgliederzuwachs. Auch für den offiziellen Dachverband ehemaliger Partisanen, den »Bund der Kämpfer für Freiheit und Demokratie« ( Związek Bojowników o Wolność i Demokrację, ZBoWiD ) waren die Öffnung gegenüber nichtkommunistischen Veteranen, der nationalistische Kurs Moczars und die Märzkampagne enorme Erfolge. Bereits im ersten Jahr der Kadenz Moczars als Vorsitzender (1964) traten dem Verband so viele Neumitglieder bei wie in den gesamten vier Jahren zuvor. Ende 1965 schätzte man die Zahl der Armia - Krajowa - Veteranen in den Reihen des ZBoWiD auf 60 000 von insgesamt 200 000 Mitgliedern. In dem Zeitraum, in dem Moczar Vorsitzender des ZBoWiD war, verdoppelte sich die Zahl der Mitglieder.42

7. Resümee 1926 ergriff in Polen eine Gruppe von Obristen unter Marschall Piłsudski die Macht, um das Land innen - und außenpolitisch zu stabilisieren und eine Machtübernahme durch die Nationaldemokraten zu verhindern. Sie verzichteten auf eine eigene Ideologie und übten bis zum Tod des Marschalls eine pragmatische Herrschaft aus. Danach machten sie immer stärker ideologische Anleihen bei Nationaldemokraten und Nationalradikalen und übernahmen deren ethnischen, exklusiven Nationsbegriff, der vor allem gegen die nationalen, ethnischen und religiösen Minderheiten gerichtet war, die etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm eine kleine und in der Bevölkerung weitgehend isolierte Gruppe prosowjetischer Kommunisten die Macht, die zunächst und nach außen hin ein sozialdemagogisches, internationalistisches Programm vertrat, aber schnell an die Grenzen ihrer Legitimität stieß und begann, mit nationaldemokratischen und nationalradikalen Komponenten jenes ideologische Vakuum zu füllen, das die Delegitimierung der kommunistischen Ideologie und die zunehmende Entideologisierung ( und Ritualisierung ) der Politik geschaffen hatten. Wie in den 1930er Jahren die Obristen nationaldemokratische und nationalradikale Denkmuster übernahmen, so taten dies nun die Kommunisten, um das Werte - und Ideologievakuum aufzufüllen, das sie mit ihrer pragmatischen Herrschaft geschaffen hatten. Fortan griff das politische Establishment der Volksrepublik desto mehr auf nationale, nationalistische, autoritäre und traditionalistische Werte zurück, je stärker sein Machterhalt bedroht war. Am Ende, im Dezember 1981, stand schließlich eine Militärdiktatur, gebildet von einem »Militärrat zur Nationalen Errettung« ( Wojskowa Rada Ocalenia 42

Krzysztof Lesiakowski, Mieczysław Moczar – Miętek. Biografia polityczna, Warszawa 1998, S. 733–735.

Nationalistische Einstellungen in der Volksrepublik Polen

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Narodowego, WRON ), der mit der Begründung, »das Vaterland sei in Gefahr«, die Opposition, aber auch die PVAP größtenteils entmachtete. Trotz des von staatlicher Seite forcierten engen ethnischen Nationsbegriffs kann nachgewiesen werden, dass das historisch gewachsene offenere und staatsbürgerlich definierte Verständnis von Nation, das nicht auf Abstammung, sondern dem Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen fußt, dennoch in der Gesellschaft überdauert hat.

V. Nationalistisches Denken in den deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989

Tytus Jaskułowski Ressentiments im deutsch - polnischen Verhältnis seit 1989. Mythos oder Wirklichkeit ?

1. Einleitung Die Fragestellung im Titel dieses Beitrags wurde absichtlich provokativ formuliert und ist ohne Zweifel umstritten. Theoretisch ließe sich ohne tiefergehende Kenntnisse der deutsch - polnischen Beziehungen ziemlich einfach nachweisen, dass es seit 1989 reichlich Ressentiments sowie nationalistisch geprägte Konflikte im bilateralen Verhältnis beider Staaten gab. Mehr noch : Wenn man nur die Nachrichten der vergangenen Wochen oder Monate analysierte, wäre noch eine andere Behauptung berechtigt : Nach wie vor und nicht nur auf der polnischen Seite ist Potential für die Fortsetzung dieser durchaus emotionalen Auseinandersetzung vorhanden. Wenn 2011 der Vorsitzende ( gemeint ist Jarosław Kaczyński) und andere Spitzenfunktionäre einer rechtskonservativen politischen Partei in Polen, die in der vorletzten Legislaturperiode eine Regierungskoalition bildete und deren Kandidat das Amt des Staatspräsidenten fünf Jahre lang innehatte, erklären, dass die Rechte der deutschen Minderheit in Polen aberkannt werden sollten, da angeblich die polnische Minderheit in Deutschland keine vergleichbaren Rechte hat,1 wenn dieselbe Partei die Schlesier als Vertreter einer »verdeckten deutschen Option« definiert oder wenn die Bewohner von Gdańsk, das eine für Kaczyński sowie für die Solidarność - Bewegung sehr wichtige Stadt war, als »zu deutschlandfreundlich« bezeichnet wurden, dann kann all das nicht anders als mit dem Terminus »Ressentiments« definiert werden. Ebenso schwer nachzuvollziehen waren – nicht nur in Polen – Äußerungen der Vertreter des Bundes der Vertriebenen ( BdV ), insbesondere dessen Vorsitzender, Erika Steinbach, die öffentlich den Deutschlandbevollmächtigten der polnischen Regierung, den ehe1

Kaczyński o mniejszości niemieckiej. »To niedopuszczalna asymetria«. In : The Times Polska vom 15.6.2011; PiS chce odebrania przywilejów mniejszości niemieckiej. »Polacy w Niemczech nie mają takich praw«. In : The Times Polska vom 17.5.2011; Niemcy wściekli na Kaczyńskiego za wypowiedź o Ślązakach. Zaczęli protestować. In : The Times Polska vom 4.4.2011.

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maligen Auschwitzhäftling Władysław Bartoszewski, beleidigte, oder Behauptungen des Vorsitzenden der Landsmannschaft Schlesiens, Rudi Pawelka, der verlangte, dass Polen sich bei Deutschland für die Vertreibungen der Deutschen entschuldigen müsse.2 Last but not least kann man eine weitere Äußerung zitieren, die vom aktuellen polnischen Außenminister Radosław Sikorski stammt. Er hat 2006 – damals war er noch Verteidigungsminister – das Nordstream - Projekt, also eine Pipeline zwischen Russland und Deutschland durch die Ostsee, als Fortsetzung des »Ribbentrop - Molotow - Paktes« bezeichnet.3 Sicherlich wäre ein komplettes Verzeichnis ähnlicher, nicht gerade taktvoller Behauptungen deutlich länger als der vorliegende Beitrag. Doch statt diese Liste zu vervollständigen, ist es wichtiger, die im Titel dieses Aufsatzes gestellte Frage zu beantworten. Haben die nachweislich vorhandenen Unstimmigkeiten zwischen Deutschland und Polen nach 1989 wirklich mit Nationalismus oder Ressentiments zu tun ? Oder waren und sind nach wie vor beide Begriffe nur Ersatzinstrumente in der innenpolitischen Auseinandersetzung, die die politischen Parteien nutzen, um kurzfristig wahlpolitische Unterstützung zu gewinnen ? Waren die Tragödie des Zweiten Weltkrieges sowie die durchaus komplizierte deutsch - polnische Geschichte seit 1945 ausschließlich prägend für die Probleme im Verhältnis zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und dem freien Polen ? Und schließlich : Sind zwei Millionen Jugendliche, die seit 1991 im Rahmen des deutsch - polnischen Jugendwerkes unterstützt wurden, über 650 bilaterale Städtepartnerschaften oder die Ehrenbürgerschaft der Stadt Racibórz für einen der seitens der volkspolnischen Propaganda meistgehassten Vertriebenenvertreter, Herbert Hupka, wirklich Beweise für einen starken Nationalismus oder für Ressentiments in den Beziehungen zwischen Polen oder Deutschland ? Nach Einschätzung des Verfassers scheint es möglich, folgende Thesen zu vertreten : Die Wirklichkeit der Ressentiments im deutsch - polnischen Verhältnis besteht darin, dass die Politiker sie als PR - Instrument in der Innenpolitik nutzten ( und nutzen ), allerdings ohne zu begreifen, was »Nationalismus« bzw. »Ressentiment« wirklich bedeutet. Sie nutzten dieses Instrument mit Pragmatismus, d. h., dass man es prinzipiell sofort aufgab, wenn es kurz - oder langfristig keine quantitativen Erfolge mit sich brachte. Fakt war und ist zweitens, dass es sowohl in Polen als auch in Deutschland eine große Diskrepanz gibt zwischen den »Ressentimentsendern« oder, wenn man so will, den »Ressentimentstiftern«, nämlich den Politikern, und den »Ressentimentempfängern«, also der Gesellschaft. Diese 2

3

Wladyslaw Bartoszewski. Erika Steinbachs Herzensfeind. In : Süddeutsche Zeitung vom 17. 9. 2010; Szef Ziomkostwa Śląskiego chce przeprosin za wypędzenia. In : Dziennik vom 26.6.2011. Sikorski : niech Rosja wyjaśni, dlaczego protestuje przeciwko amerykańskiej bazie w Polsce, Serwis PAP vom 28.7.2006 ( http ://wiadomosci.wp.pl / kat,9271,title,Sikorski - niech - Rosja - wyjasnidlaczego - protestuje - przeciwko - amerykanskiej - bazie - w - Polsce,wid,8421192,wiadomosc.html ).

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Diskrepanz lässt sich nicht nur anhand der relativ geringen Unterstützung für konkrete national orientierte antideutsche oder antipolnische Handlungen4 nachweisen. Als »Mythos« dagegen kann man die in den politischen Milieus existierende Überzeugung beschreiben, die besagt, dass die Verwendung der kriegsbedingten Ressentiments als eine Erfolgsgrundlage für den operativen bilateralen Politikbetrieb 70 Jahre nach Kriegsende noch wirksam sein kann.

2. Ressentiments im deutsch - polnischen Verhältnis von 1945 bis 1989 Der durchaus zynische Einsatz von nationalistischen Ressentiments in der deutsch - polnischen Tagespolitik erfolgte ab 1945 und entwickelte sich kontinuierlich weiter. Seine kompakte Analyse muss mit einer ebenso kompakten Definitionsklärung verbunden werden. In der Zeit bis 1989, aber auch nach der sogenannten Wende hatte man es in der Tat mit Ressentiments gemäß ihrer Definition zu tun. Man erklärt sie als »das Gefühl dauernder Ohnmacht gegenüber erlittener Ungerechtigkeit und Niederlage oder persönlichen Zurückgesetztseins«. Diese Gefühlslage war sowohl für die polnische Bevölkerung nach dem Krieg als auch für die deutschen Vertriebenengruppen zutreffend. In puncto Nationalismen sah die Situation allerdings anders aus. Die politischen Systeme und die jeweilige soziale Umgebung haben dazu geführt, dass man in Polen und Deutschland von zwei Nationalismustypen sprach, die auch in der englischsprachigen Forschung deutlich unterschieden wurden und bis heute unterschieden werden. Carlton Hayes z. B. spricht von positivem und negativem Nationalismus.5 Und in der Tat scheint eine solche Typologie nützlich zu sein, um die Komplexität des deutsch - polnischen Verhältnisses zu verstehen. Der negative Nationalismus konzentriert sich nur auf die Aggression bzw. auf Chauvinismus gegenüber anderen Völkern, der positive hingegen auf die Grundlagenarbeit und die gesellschaftliche Entwicklung. Die in Polen konzipierten und philosophisch geprägten Definitionen des Nationalismus, etwa die von Józef Maria Bocheński oder Władysław Kopaliński, fügen noch hinzu, dass er die Solidarität aller Gruppen innerhalb des Volkes, die Unterordnung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft sowie eine aggressive Haltung gegenüber anderen Völkern voraussetzt. Außerdem wird Nationalismus mit einer grundsätzlich »für die eigene Nation günstigen Politik gleichgesetzt«.6 Welche Situation ist in Polen und Deutschland in der Periode von 1949 bis 1989 in Bezug auf die bereits erwähnten Nationalismustypen und Ressentiment4 5 6

Gemeint als Aussagen, Pläne, Vorhaben. Vgl. Tomasz Kamusella / Krzysztof Jaskułowski ( Hg.), Nationalisms Today, Oxford 2009, S. 5. Józef Maria Bocheński, Sto zabobonów. Krótki filozoficzny słownik zabobonów, Paris 1987, S. 72.

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definitionen zu beobachten ? Die Politik der Westmächte in Westdeutschland hatte zum Ziel, den klassischen, negativen Nationalismustyp zu überwinden. Die Bundesrepublik verfolgte demzufolge seit 1949 eine mehr oder weniger souveräne Friedenspolitik nach außen, bei der von Ressentiments keine Rede mehr war. Die existierenden extremen politischen Kräfte hatten keinen Einfluss auf die politische Szene Westdeutschlands. Das einzige Problem war der schwierige Integrationsprozess der Vertriebenen, die von den rechtskonservativen Parteien als interessante Wählergruppe betrachtet und dank ressentimentähnlicher Parolen auch gewonnen wurden.7 Aus diesen Gruppen bildeten CDU / CSU ihre Stammwählerschaft. Außerdem konnten die Vertriebenen in der offenen Gesellschaft ihre Interessen und ihre politische Haltung frei äußern. Beeinflussten sie aber wirklich das bilaterale Verhältnis ? Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man diese Frage mit »ja« beantworten, schließlich dauerte es bis 1970, dass nach dem sogenannten Normalisierungsvertrag diplomatische Beziehungen zwischen beiden Staaten aufgenommen wurden. In dieser Zeit waren Positionen wie etwa die »Hallstein - Doktrin« oder die aggressive antipolnische Rhetorik der westdeutschen Regierung8 und der Vertriebenen deutlich zu vernehmen, auch in der internationalen Politik. Aber abgesehen von der Propagandawirkung waren sie für die Realpolitik und die Beziehungen mit Polen irrelevant. In der Entstehungszeit der Brandt’schen Ostpolitik protestierten zwar einige CDU - Vertreter gegen die Verträge mit Polen und der Sowjetunion. Doch bei der wichtigsten Ratifikationsabstimmung 1972 haben sie sich enthalten, obwohl sie dagegen hätten stimmen können.9 Gleiches gilt für die großzügig vergebenen deutschen Kredite für Polen in den 1970er Jahren – auch hier enthielten sich die Gegner. Konsequent, auch in Bezug auf die politischen Möglichkeiten, wurde in Deutschland eine Versöhnungs - und Öffnungspolitik im Rahmen des KSZE - Prozesses gefördert, etwa indem man Vertretungen der polnischen Solidarnośćbewegung in der BRD duldete. Für die Grenzfrage wichtige Urteile des Bundesverfassungsgerichts oder die Erklärung der Bundesregierung, dass der Vertrag von 1970 Vertreibungen nicht als legal anerkennt, änderten nichts an dieser Haltung. Die eigentlich wichtigen Probleme zwischen den beiden Ländern konnten damals nicht gelöst werden, da sie entweder eine andere internationale Lage erfordert hätten, wie die Grenz oder Vermögensfragen, oder mit der inneren Lage in Polen im Zusammenhang standen, wie die Klärung des Minderheitenstatus. Ein Junktim zwischen neuerlicher Wirtschaftshilfe für Polen seitens der BRD und der Verbesserung der Min7 8 9

Vgl. Hans - Adolf Jacobsen, Bonn - Warschau 1945–1991. Die deutsch - polnischen Beziehungen, Köln 1992, S. 127. Vgl. Martin Broszat, 200 lat niemieckiej polityki wobec Polski, Warszawa 1999, S. 372. Vgl. Dieter Bingen, Die Polenpolitik von Willy Brandt und Helmut Kohl. Zwei Ären – zwei Stile. In : Polska - Niemcy - Europa. Księga jubileuszowa z okazji 70. Rocznicy urodzin Profesora Jerzego Holzera, Warszawa 2000, S. 82.

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derheitenlage in Polen,10 das die deutsche Seite in den Gesprächen mit Polen in der Zeit der christlich - liberalen Koalition ab 1982 festlegte, wurde zwar einerseits negativ aufgenommen, andererseits aber waren solche Junktims in den Ost West- Beziehungen nichts Unübliches. Die durch Realpolitik geprägte Haltung Helmut Schmidts wurde in breiten Schichten der polnischen Bevölkerung mit Enttäuschung zur Kenntnis genommen, beispielsweise als er 1981 die Einführung des Kriegsrechts in der Volksrepublik Polen zugunsten der damaligen volkspolnischen Machthaber äußerst zurückhaltend kommentierte. Gleichzeitig aber waren die Sozialdemokraten diejenigen, von deren Seite extrem wichtige Gesten gegenüber Polen kamen, etwa der Kniefall von Willy Brandt.11 Auch die Hilfe für die NS - Opfer brachte eine sozialdemokratisch geführte Regierung auf den Weg. Nicht zuletzt hat auch die deutsche Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Ressentiments geleistet. Einzelaktionen wie etwa die Paketaktion von 1981, als über vier Millionen Pakete nach Polen gesendet wurden, sind in diesem Zusammenhang ebenso zu erwähnen wie die Dauerinitiativen, beispielsweise die »Aktion Sühnezeichen«, dank deren viele junge Deutsche durch gemeinnützige Arbeit in Polen ein anderes Bild von ihren Nachbarn bekamen. Eine propagandistische Nutzung der potentiellen antipolnischen Ressentiments war also in Deutschland erstens nur auf wenige Gruppen beschränkt, zweitens aus außenpolitischer Sicht sehr fragwürdig und somit nie ein Hauptelement der politischen Arbeit der wichtigsten Bundestagsparteien. Die bundesdeutschen Parteien brauchten keine Ressentiments, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Für die Staatspartei der Volksrepublik Polen ( VRP ) hingegen waren sie eine Sine - qua - non - Bedingung des Überlebens. Die Partei repräsentierte das politische System und die Ideologie, was beides nicht nur der Bevölkerung fremd war, sondern auch mit Gewalt durchgesetzt wurde. Nationalismus und Ressentiments, vor allem gegenüber Deutschland als dem Verursacher des Krieges und der Besatzung, waren also die einfachsten Mittel, um die damaligen politischen Verhältnisse sowie die Notwendigkeit der engen Beziehungen mit der Sowjetunion als Sicherheitsgarantie zu begründen. Alle Gebiete im Westen Polens gehörten vor 1939 zu Deutschland. Die damalige Bevölkerung wurde gemäß der Entscheidung der Alliierten vertrieben, wobei es zu Menschenrechtsverletzungen sowie unvermeidlich zu Racheakten12 der polnischen Bewohner nach dem sechsjährigen NS - Terror kam. Die meisten neuen Bewohner dieser Gebiete waren aus dem Osten vertrieben worden. Es gab keine endgültige völkerrechtliche Anerkennung der Grenze, auch nicht nach dem Vertrag von 1970. In 10 11 12

Jerzy Krasuski, Polska - Niemcy. Stosunki polityczne od zarania po czasy najnowsze, Poznań 2003, S. 315. Vgl. Witold Góralski ( Hg.), Polska - Niemcy 1945–2007. Od konfrontacji do współpracy i partnerstwa w Europie, Warszawa 2007, S. 108. Vgl. Piotr Madajczyk, Niemcy Polscy 1944–1989, Warszawa 2001, S. 31.

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der Staatspropaganda bestand das Westdeutschlandbild fast ausschließlich aus Vertriebenenforderungen. Außerdem herrschte in Polen ein verordnetes Schweigen über die verbliebene deutsche Minderheit. Westdeutschland war mehr oder weniger der Erzfeind Polens. Und nur die Staatspartei bzw. die sowjetischen Streitkräfte konnten als Garant der territorialen Einheit Polens gelten. Insbesondere der neue polnische Parteichef nach 1956, Władysław Gomułka, versuchte aus der deutschen Gefahr13 politisches Kapital zu schlagen als derjenige, dem es gelungen war, mit dem Erzfeind einen Vertrag abzuschließen. Dabei schloss er diesen Vertrag in erster Linie, um sich die innenpolitischen Probleme vom Leib zu halten. Einige Wochen später, nach der blutigen Niederschlagung der Arbeiterproteste in Gdańsk, führten sie aber zu seinem politischen Ende. Die offiziellen politischen Kontakte Volkspolens mit Deutschland waren auch nach der Ära Gomułka von Zynismus geprägt. Die marode sozialistische Wirtschaft Volkspolens benötigte ständig Kredite, die man in Westdeutschland nicht nur mit der gezielten Milderung der antideutschen Propaganda, sondern vor allem mit dem Ausreiserecht der Deutschstämmigen aus Polen erkaufen wollte. Sogar die liberalsten Vertreter der Staatspartei, die über gute und weitreichende Kontakte in Westdeutschland verfügten, etwa der spätere Ministerpräsident Mieczysław Rakowski, rüttelten nicht an dem Grundsatz der Staatspartei, dass Deutschland der größte Feind Polens sei. Rakowski selbst sagte noch in den 1980er Jahren, dass die DDR als Land zwischen Polen und Westdeutschland das größte Geschenk Gottes für Polen seit der Schlacht von Tannenberg 1410 sei.14 Doch trotz aller Bemühungen konnten die Spitzenfunktionäre der Partei nichts daran ändern, dass die Gesellschaft in Polen äußerst immun gegen die deutschlandfeindliche Parteipropaganda war. Wie nahm die polnische Bevölkerung die antideutschen Parolen und Ressentiments wahr ? Erstens waren die meisten Bewohner der ehemaligen deutschen Gebiete, wie bereits gesagt, selbst Vertriebene. Somit hatten sie Verständnis für das Leid »der anderen Seite« – und zwar in größerem Maße, als der Staatspartei lieb war. Die Hauptstädte dieser Gebiete, etwa Wrocław oder Gdańsk, wurden später Hochburgen der politischen Opposition und der Solidarność. Die neuen Gebiete mit ihrer bereits gut ausgebauten Infrastruktur brachten den Bewohnern einen Entwicklungsschub. Das führte dazu, dass der Feind, also Deutschland, als Vorbild für Demokratie, eine florierende Wirtschaft und den Westen insgesamt galt.15 Aus diesem formell feindlichen Staat, also aus Westdeutschland, kamen

13 14 15

Vgl. Anna Wolff - Powęska, Między Renem a Bugiem w Europie, Wrocław 2004, S. 14. Vgl. Tytus Jaskułowski / Karoline Gil ( Hg.), Zwanzig Jahre danach. Gespräche über den deutschpolnischen Nachbarschaftsvertrag, Wrocław 2011, S. 220. Vgl. Andrzej Sakson, Berlin - Warszawa. Studia o Niemcach i ich relacjach z Polakami, Wrocław 2010, S. 84.

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auch die bereits erwähnten jungen Aktivisten von »Aktion Sühnezeichen« nach Polen.16 Seit 1952 sorgte »Radio Free Europe« mit Sitz in München für freie Informationen für Polen. Mehr noch : Die für die Bevölkerung einzig wahren Autoritäten, etwa die katholische Kirche, versuchten aktiv gegen die offizielle Völkerfeindschaft zu agieren. Der Brief der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965 mit den Worten »wir vergeben und bitten um Vergebung« ist der beste Beweis dafür, ebenso die empörte Reaktion des Staates auf diesen Brief. Auch die demokratische Opposition kämpfte ab 1976 in ihren Programmen gegen den antideutschen Nationalismus.17 Last but not least war die polnische Regierung in der Frage der antideutschen Ressentiments schlicht unglaubwürdig. Schließlich war ihr enger Verbündeter im Kampf gegen die BRD, die DDR, für Polen gefährlicher, weil sie die Freiheiten im sozialen Leben Polens beseitigen wollte, und zwar notfalls auch mit Gewalt. Die in der DDR auf der Ebene der Gesellschaft vorhandenen antipolnischen Einstellungen wurden in der VRP konsequent verschwiegen. Es kam also zu einer schizophrenen Situation, in der die »gute« DDR in der polnischen Staatspropaganda stets positiv dargestellt wurde18 bzw. nur positiv dargestellt werden durfte, obwohl es in Wirklichkeit in ihrer Bevölkerung insbesondere ab 1980 antipolnische Ressentiments gab. Und die Bundesrepublik war in derselben Propaganda immer »böse«, obwohl sie wirklich viel zugunsten Polens getan hatte. Aus dem Zeitraum von 1949 bis 1989 spielen zusammenfassend für das gegenwärtige Verhältnis drei Faktoren eine Rolle : 1. Es blieben Fragen ungelöst, etwa zum Thema Entschädigungen, die man später in der laufenden Politik instrumentalisieren und aufgrund ihrer emotionalen Prägung in der Öffentlichkeit nutzen konnte. 2. Es gab in den Gesellschaften eine gewisse Nachfrage nach solchen Praktiken, was schon die negative Reaktion von Teilen der polnischen Bevölkerung auf den Brief der Bischöfe von 1965 oder die Reaktionen der ostdeutschen Bürger auf die Situation in Polen 1980 zeigten. Die polnische Staatspartei hat spätestens 1968 festgestellt, dass dank der staatlichen Zensur in Polen die Gruppe derjenigen, die eine antideutsche bzw. rein nationalistische Politik unterstützen würden, ziemlich schnell wachsen könnte.19 Es existierte allerdings 3. auch eine andere Gruppe, nämlich die Dissidenten, die stark und mutig genug war, gegen die bilateralen Ressentiments anzukämpfen, um diese zu beseitigen.

16 17 18 19

Vgl. Basil Kerski u. a., Przyjaźń nakazana ? Stosunki pomiędzy NRD a Polską w latach 1949– 1990, Wrocław 2009, S. 303. Vgl. Anna Wolff - Powęska ( Hg.), Polacy wobec Niemców. Z dziejów kultury politycznej Polski 1945–1989, Poznań 1993, S. 395. Z. B. Marcin Miodek, Niemcy. Publicystyczny obraz w »Pionierze« / »Słowie Polskim« 1945– 1989, Wrocław 2008, S. 255. Zur Analyse der polnischen Krise des Jahres 1968 Piotr Osęka, Marzec 1968, Kraków 2008, S. 302.

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3. Ressentiments im deutsch - polnischen Verhältnis 1989 und danach Hinsichtlich der Ressentiments sind nach 1989 vier Perioden zu unterscheiden und zu analysieren. Die erste Periode umfasste den Zeitraum von 1989 bis 1991 und gilt als eine Zeit, in der die Fundamente für den Abbau der Ressentiments in der langfristigen Perspektive gelegt wurden. Betrachtet man diese Periode nur unter dem Blickwinkel der Auseinandersetzung in den Medien, sah sie alles andere als frei von Ressentiments aus : Es fand die aggressivste Propaganda der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Gebieten in Polen seit 1989 statt, dies mit PR - Aktionen gegen die neue polnische Regierung, u. a. mit den bekannten Transparenten während des Besuchs von Helmut Kohl in Kreisau. Die Anerkennung der polnischen Grenze seitens der Bundesrepublik wurde zum Erstaunen der polnischen Seite so weit wie möglich in die Zukunft verschoben, damit Kohl bei den Bundestagswahlen nicht die Stimmen der Vertriebenen verlieren würde.20 Die Zahl der antipolnisch geprägten Vorkommnisse in der ehemaligen DDR nahm zu. Und die wichtigsten Probleme im bilateralen Verhältnis, etwa Vermögens - oder Entschädigungsfragen, wurden im Nachbarschaftsvertrag von 1991 nicht erörtert. Entsprach dieses düstere Bild aber der Wahrheit ? Nein, weil beide Seiten wussten, dass abgesehen von den innenpolitischen Faktoren ein Versöhnungsprozess beider Nationen unbedingt in Gang gesetzt werden musste.21 Die Anerkennung der polnischen Grenze stand nicht nur wegen der klaren Haltung der Großmächte außer Frage. Die »medialen« Auseinandersetzungen, etwa die fehlende verbindliche Erklärung über die Grenze, waren unnötig und haben die Beziehungen belastet, aber nur bis zum 3. Oktober 1990. Langfristig gesehen waren die zwischen 1989 und 1991 getroffenen Maßnahmen grundlegend für die Weiterentwicklung der Beziehungen. Weshalb ? Die polnische Seite gab nach Jahren zu, dass es in ihrem Land eine deutsche Minderheit gab. Mehr noch, sie gewährte dieser Minderheit alle in Europa üblichen Rechte. Andererseits wurde die Loyalität der Minderheit gegenüber dem Gastland vertraglich festgelegt.22 Beide Länder verpflichteten sich außerdem, die Zusammenarbeit auf der Ebene der Zivilgesellschaft so weit wie möglich zu entwickeln, was 20 Jahre nach der Wende beachtliche Erfolge brachte. Als erstes Land unterstützte Deutschland im Nachbarschaftsvertrag die EU - Mitgliedschaft Polens, was damals beim großen westlichen Nachbarn Deutschlands, also in Frankreich, Bedenken und Wider-

20 21 22

Vgl. Włodzimierz Borodziej ( Hg.), Polska wobec zjednoczenia Niemiec 1989–1991. Dokumenty dyplomatyczne, Warszawa 2006, S. 30. Vgl. Adam Krzemiński, Od konfrontacji do Wspólnoty. In : Polityka. Sonderausgabe vom 1.6.– 7.6.2011, S. 2. Vgl. Roman Kuźniar ( Hg.), Krzysztof Skubiszewski – dyplomata i mąż stanu, Warszawa 2011, S. 44.

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stand auslöste.23 Die Vertreter beider Staaten wussten, dass man Ressentiments nur durch Bürgerkontakte abbauen kann. Entsprechende Instrumente wurden im Nachbarschaftsvertrag gefördert, etwa das Deutsch - polnische Jugendwerk, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit usw. Die Probleme, die aufgrund der unterschiedlichen Rechtspositionen bis 1991 nicht geklärt werden konnten, sammelte man in Form eines Briefwechsels der Außenminister, und zwar mit der Absicht, sie zu gegebener Zeit so schnell wie möglich zu lösen. Man wollte vorerst nicht über diese Probleme verhandeln, obwohl man sich bewusst war, dass dies in den innenpolitischen Ratifizierungsdebatten in den Parlamenten heftig kritisiert werden würde. Der Vorwurf, die Entschädigungsproblematik nicht gelöst zu haben, wurde in der Tat schon 1991 als Hauptargument gegen die Deutschlandpolitik der ersten neuen polnischen Regierungen verwandt.24 Hätten diese aber damals versucht, über die strittigen Probleme zu verhandeln, wäre der Nachbarschaftsvertrag nicht abgeschlossen worden, was Polen zweifellos erhebliche Probleme bei der Wirtschaftshilfe, der Schuldentilgung oder der europäischen Integration bereitet hätte. Fakt ist, dass diese Taktik, nämlich nach vorne zu schauen und die alten, historisch geprägten Probleme später klären zu wollen, gleichzeitig eine Möglichkeit eröffnete, die ungeklärten Fragen als Waffe gegen die deutsch polnische Aussöhnung zu nutzen. Wer nutzte diese Waffe ? Die Periode von 1989 bis 1991 war nicht nur die Zeit des Neuanfangs in den bilateralen Beziehungen. Innenpolitisch gesehen war es auch eine Zeit der Verlierer, die später die nicht geklärten Probleme als Chance für ihr Comeback auf der politischen Szene sahen. Auf der polnischen Seite erlitt die damalige Staatspartei eine komplette Niederlage. Doch nicht nur sie, sondern auch die Bauernpartei sowie die kleinen rechten Parteien, die die Philosophie der polnischen Transformation grundsätzlich als Verrat abgelehnt hatten, blieben weit hinter den Erwartungen zurück. Für diese Parteien waren nicht nur die neue Politik Polens gegenüber Deutschland, sondern vor allem die neue Wirtschaftspolitik, die Privatisierung, der Abbau der Sozialprivilegien etc. Verrat. Um ihre Rolle in der neuen und ab 1991 sehr bunten politischen Szene Polens neu zu definieren, übernahmen diese Parteien die alten Parolen der damaligen Staatspartei, vor allem die antideutschen Ressentiments.25 Für viele Teile der Bevölkerung war beispielsweise aufgrund der polnischen Zensur der Begriff »Minderheit« ganz neu. Die Bauerpartei nutzte diese Tatsache gezielt, um in der Bevölkerung Ängste vor Deutschland zu wecken, insbesondere auf dem Land, wo sie befürchtete, dass viele Immobilien wegen ihrer niedrigen Preise ziemlich schnell von den alten

23 24 25

Vgl. Jaskułowski / Gil, Zwanzig Jahre, S.196. Józef Kukułka, Traktaty sąsiedzkie Polski odrodzonej, Wrocław 1998, S. 79. Adam Krzemiński, Lekcje Dialogu. Mowy, eseje i wywiady, Wrocław 2010, S. 71.

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deutschen Besitzern zurückgekauft werden würden.26 Ein ebenso wichtiger Aspekt dieser Politik war das Bestreben, einen Kontrapunkt zu den Regierungsparteien und der alten Staatspartei zu bilden. Letztere agierte 1990 als eine Art sozialdemokratische Partei und wollte nichts mehr mit der alten Deutschlandpolitik der PVAP zu tun haben. Für die Verbreitung der Ressentiments brauchte man noch einen klaren Gegner auf der deutschen Seite, am besten einen eindeutigen Verlierer. Die Vertriebenen erfüllten diese Voraussetzung perfekt, denn keine ihrer Standardforderungen wurde akzeptiert.27 Im Gegensatz dazu hatte die deutsche Minderheit in Polen alles bekommen, was sie wollte, um potentiellen Neuforderungen seitens des BdV vorab entgegenzuwirken. Die einzige Chance für die Vertriebenen bestand also darin, auf die ungelösten Probleme hinzuweisen, d. h. auf die Entschädigungs - und Vermögensfragen. Die ersten Entschädigungsvereinbarungen für die polnischen NS - Opfer wurden bereits vier Monate nach dem Abschluss des Nachbarschaftsvertrages von 1991, also Anfang Oktober 1991, konzipiert.28 Aber die Forderungen der deutschen Seite wurden, abgesehen von ihrer rechtlichen Grundlage, nicht Gegenstand offizieller Kontakte. Das jedoch wollten die konservativen Milieus des BdV erreichen, doch erst 1998 waren sie am Ziel. Dazwischen lag, bezogen auf die Ressentiments, die zweite Periode in den deutsch - polnischen Beziehungen. Die zweite Periode von 1991 bis 1998 war von der Etablierung einer neuen politischen Identität beider Länder in Bezug auf den Nachbarn geprägt. Die politischen und sozialen Kontakte entwickelten sich recht gut. Beispiele dafür sind die Gründung der ersten Euroregionen bereits im Dezember 1991 sowie der Beginn der umfassenden Zusammenarbeit der Streitkräfte mit dem Vertrag von 1993, verbunden mit der gleichzeitigen deutschen Unterstützung für die NATO Mitgliedschaft Polens. Eine wichtige Geste war die Rede von Bundespräsident Roman Herzog im Jahre 1995, in der er wegen der deutschen Verbrechen in Polen um Entschuldigung bat. Hinzu kamen konkrete Arbeitstreffen, u. a. 1997 die ersten Regierungskonsultationen.29 Auf der gesellschaftlichen Ebene wurde, insbesondere in Polen, eine Vielzahl von Schritten unternommen, um die bilaterale Geschichte aufzuarbeiten. Deutschland stand im Mittelpunkt der publizistischen Debatte, auch dank der Möglichkeit, frei Forschungsprojekte z. B. über die Vertreibung oder über die deutsche Minderheit durchzuführen. Die Aktivitäten 26 27 28 29

Andreas Lawaty / Hubert Orłowski ( Hg.), Polacy i Niemcy. Historia – kultura – polityka, Poznań 2008, S. 115. Vgl. Erika Steinbach, Die Macht der Erinnerung, Wien 2010, S. 90. Vgl. Karoline Gil / Tytus Jaskułowski, Der Vertrag und die Folgen. In : Osteuropa, 61 (2011) 5/6, S. 54. Vgl. Roman Kuźniar, Droga do normalności. Polityka zagraniczna III Rzeczpospolitej, Warszawa 2008, S. 148.

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der ehemaligen Vertriebenenvertreter, etwa Hupkas, der sich sehr stark für die Versöhnung und den Wiederaufbau von Racibórz engagierte, waren ein weiteres Symbol der neuen Zeit.30 Ein Problem bestand allerdings darin, dass man in Polen auf der deutschen Seite einen ähnlichen Diskurs sehen wollte, der jedoch nicht möglich war. Deutschland verfolgte nach wie vor eine allgemeine Friedenspolitik, ohne Polen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Wichtiger für Deutschland waren die Selbstfindung und die Antwort auf die Frage, welche Rolle es auf der Weltbühne spielen dürfe oder könne und welche Fragen man in diesem Zusammenhang jetzt den Nachbarn stellen durfte.31 Dazu kamen nach wie vor die ungelösten Reparations - und Entschädigungsfragen. Nicht zuletzt wegen des für beide Staaten wichtigen EU / NATO - Beitritts Polens wollten beide Regierungen jedoch diese Fragen, ebenso wie jene nach der korrekten offiziellen Bezeichnung der polnischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland, nicht stellen, um die polnischen außenpolitischen Grundsatzinteressen nicht unnötig zu belasten. In dieser Zeit kam es aber zu Veränderungen auf der politischen Szene. 1998 endete die Ära Kohl. In Polen kam 1997 eine Mitte - Rechts - Koalition von 30 Parteien an die Macht, wovon die meisten klare und nicht unbedingt deutschlandfreundliche Programme hatten. An der Spitze des BdV erschien außerdem 1998 Erika Steinbach, die später zum Symbol der deutsch - polnischen Ressentiments in der dritten Phase der Beziehungen dieser Länder nach 1989 wurde. Die Ressentiments traten bis 1998 kaum zutage, außer in Form von kleineren Publikationen, die von den Aktivisten der Bauernpartei oder dem BdV herausgegeben wurden. Die Polnische Bauernpartei war allerdings von 1993 bis 1997 Regierungspartei und verhielt sich gegenüber Deutschland nahezu tadellos. Es war trotzdem klar, dass die grundlegende Erwartung einiger polnischer Milieus, dass Deutschland ein verstärktes Interesse an Polen zeigen würde, nicht erfüllt wurde. Außerdem war die Ära Kohl zu Ende, die abgesehen von der Frage der Grenzanerkennung in Polen als äußerst polenfreundlich wahrgenommen worden war. Hinzu kamen Wahlkampagnen, in denen entweder die konservativen oder die linken Parteien in beiden Ländern aufgrund der innenpolitischen Lage die alten Ressentiments anwenden mussten, um an der Macht zu bleiben. Die dritte Phase von 1998 bis 2005 war also die Zeit, in der erprobt wurde, ob Ressentiments noch nützlich sein konnten, zumal die Gesellschaften beider Staaten zehn Jahre nach dem politischen Umsturz eine grundlegende Veränderung auf den politischen Szenen Polens und Deutschlands sehen wollten. Trotz der Tatsache, dass die Ergebnisse dieses Probelaufs negativ waren, insbesondere in Bezug auf die EU - Beitrittsverhandlungen Polens, beschlossen einige Parteien, Ressenti30 31

Vgl. Herbert Hupka – Getrieben von der eigenen Biografie. In : Die Welt vom 31.8.2006. Vgl. Klaus Bachmann / Piotr Buras ( Hg.), Niemcy jako państwo cywilne. Studia nad niemiecką polityką zagraniczną, Wrocław 2006, S. 70.

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ments in der innenpolitischen Auseinandersetzung auch als Elemente ihrer langfristigen Strategie zu nutzen – mit negativen Folgen für das bilaterale Verhältnis.

4. Die Renaissance der Ressentiments im deutsch - polnischen Verhältnis 1998–2007 Die Ressentiments in der Zeit von 1998 bis 2007 können, oder genauer gesagt, deren Instrumentalisierung kann in drei Gruppen eingeteilt werden : strategische, taktische sowie solche, die ad hoc eingesetzt wurden. Alle Arten waren mit der EU - Problematik verbunden, also mit den Beitrittsverhandlungen bzw. den ersten Entscheidungen zu diesem Thema innerhalb der Gemeinschaft. Am einfachsten zu erklären war der Ad - hoc - Einsatz, der eigentlich gar nichts mit Ressentiments zu tun hatte. Sowohl die polnische als auch die deutsche Regierung wollten nach 1998 die in den Jahren zuvor konzipierten Reformen umsetzen. Auf deutscher Seite versuchte Bundeskanzler Schröder die sogenannte »Agenda 2010« zu implementieren. In Polen hatte man unter Ministerpräsident Jerzy Buzek ein Konzept entwickelt, das vier große Reformen vorsah. Es war klar, dass es im Zuge der Umsetzung dieser Reformen oder Konzepte zur Kollision mit den Interessen des Nachbarstaates kommen musste. Die Plattform, auf der diese Kollision stattfand, war die EU. Polen wollte so viel europäische Unterstützung und so viele Rechte wie möglich, Deutschland hingegen wollte den eigenen Arbeitsmarkt schützen und sprach sich gegen hohe direkte Zuschüsse für die Agrarproduktion aus. Polen wollte andererseits den freien Immobilien - und Grundstücksverkauf beschränken, Deutschland nicht. Insbesondere auf der polnischen Seite wurden diese und ähnliche Kontroversen als »ressentimentgeprägt« wahrgenommen. Diese falsche Wahrnehmung wurde allerdings ziemlich schnell korrigiert, zumindest auf Regierungsebene. Die Verhandlungen mit Polen wurden von der EU - Kommission geführt und nicht separat von den Mitgliedsstaaten. Die nicht immer taktvolle mediale Auseinandersetzung in der EU war ein Bestandteil des Verhandlungsprozesses und weder polenfeindlich noch unüblich. Abschließend waren die Verhandlungsergebnisse für alle Parteien akzeptabel, zumal man jeweils die längstmöglichen Schutzfristen vereinbarte. Das Problem bestand darin, dass gewisse Forderungen, etwa der Schutz des Arbeitsmarktes, absichtlich gestellt wurden, um im eigenen Land Wähler zu gewinnen. Polen oder Deutschland wurden dann nicht expressis verbis, aber doch indirekt als Bedrohung genannt.32 Die taktisch orientierte Nutzung der Ressentiments war zwar an die Tagespolitik geknüpft und wurde sofort aufgegeben, nachdem die jeweiligen Ziele 32

Vgl. Antoni Dudek, Historia polityczna Polski 1989–2005, Kraków 2007, S. 429.

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erreicht waren bzw. wenn diese nicht erreicht werden konnten. Trotzdem lieferten sie oft Zündstoff für die öffentliche Wahrnehmung, da sie viele Probleme oder Ängste wieder heraufbeschworen, die seit Jahren als erledigt galten. So wurde durch die unabsichtliche Hilfe beider großen konservativen Bündnisse in Polen und Deutschland die bereits erwähnte Erika Steinbach wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zuerst trug dazu die CDU / CSU bei, die im Wahljahr 1998 im Bundestag viele Resolutionen über die Bedeutung der Vertriebeneninteressen in den EU - Beitrittsverhandlungen verabschieden ließ, so etwa am 29. Mai 1998.33 Es ging darum, die konservativen Wähler wieder für sich zu gewinnen. Den christlichen Parteien hat dies aber kaum geholfen. Sie haben die Wahlen 1998 verloren, genauso wie die polnische Regierungskoalition 2000 als Verlierer dastand. Ein Hauptthema der Präsidentschaftskampagne jenes Jahres war die Angst vor dem BdV. Frau Steinbach wurde als ein Synonym des Bösen dargestellt, das nur daran denkt, die ehemaligen deutschen Gebiete mit Hilfe des EU Beitritts zurückzuerobern. Ähnlich haben die kleinen polnischen Parteien in der Parlamentsperiode 1997 bis 2001 und den nachfolgenden Wahlen agiert. Man behauptete, dass die EU ausschließlich eine Gefahr für die Souveränität Polens und ein Desaster für die polnische Wirtschaft sei. Grundlage für diese Behauptung war das Konzept von Joschka Fischer über die »Vereinigten Staaten Europas« aus dem Jahr 2000. Da allerdings die Unterstützung der Bevölkerung für die EU genauso gewaltig wie die Niederlage der polnischen Regierungskoalition im Jahr 2001 war, wurden die Ressentiments sofort vom Tisch gewischt. Ebenso schnell wurden die unvermeidbaren deutsch - polnischen politischen Krisen vor 2004, also direkt vor dem EU - Beitritt Polens, gelöst. Deutlich schlechter wurden die bilateralen Beziehungen ab 2002 aufgrund der Irakkrise und der damit verbundenen deutschen Ablehnung der militärischen Unterstützung für die USA. Die Opposition in Polen versuchte, dies als Fortsetzung der antipolnischen Politik Deutschlands zu interpretieren. Da es sich in diesem Fall allerdings um eine nach 2001 normale weltpolitische Auseinandersetzung handelte, in der beide Nachbarn nicht unbedingt viel zu sagen hatten, wurde dieses Thema ebenso schnell ad acta gelegt. Auch deshalb war die Behauptung, dass die bilateralen Ressentiments in Bezug auf den Irakkrieg von Bedeutung seien, einfach absurd. Nicht absurd allerdings war die Idee, dass die Ressentiments in einer Zeit zunehmend national orientierter Europapolitik noch von Nutzen sein konnten, und zwar als Bestandteil des politischen Geschehens. Schon ab 1998 war zumindest in Polen deutlich zu sehen, dass, die Mehrheit der Bevölkerung die anstehenden Wahlen mit Ausnahme der EU - Abstimmung ignorieren würde. Diejenigen, die doch zur Wahl gingen, waren eher konservativ. Außerdem war ziemlich schnell, schon Anfang Juli 1998, eine Mehrheit im polnischen Parlament bereit, 33

Vgl. Gabriela Matuszek, Po( ST )mosty. Polacy i Niemcy w nowej Europie, Kraków 2006, S. 73.

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eine Gegenresolution zu verabschieden, und zwar als Antwort auf die bereits erwähnte deutsche Resolution vom Mai 1998. Da man auf der deutschen Seite ein gewisses Potential für das Entstehen neuer Ängste beim polnischen Nachbarn sah, war klar, dass die neuen Führer der rechten polnischen politischen Flügel, die Brüder Jarosław und Lech Kaczyński, die aus ihrem Misstrauen gegenüber Deutschland nie einen Hehl gemacht haben,34 dieses Potential zu nutzen versuchen würden, um dann dank der sich ausbreitenden Ängste an die Macht zu kommen. Es ging dabei nicht darum, neue Wähler zu gewinnen. Es ging darum, ihre Stammwählerschaft mittels antideutscher Parolen zu konsolidieren. Deshalb wäre es um so besser für sie, je niedriger die Wahlbeteiligung sein würde. Auf deutscher Seite versuchte Frau Steinbach gleichzeitig, die neue Identität des BdV zu konzipieren. Zum ersten Mal in der Geschichte des BdV würde sie die Medien als Haupt - PR - Instrument nutzen. Kleine und in der Tat unbedeutende Ereignisse wurden als wichtige Erfolge Steinbachs dargestellt und absichtlich provokativ präsentiert, um das Interesse der polnischen Medien zu wecken. Nicht nur die ständige Medienpräsenz, sondern die generelle Tendenz, über die deutschen Opfer des Krieges, also auch über die Vertriebenen zu sprechen, war für den BdV von Vorteil. In diesem Zusammenhang wurde plötzlich aus einer eher unbedeutenden verwaltungstechnischen Angelegenheit, nämlich der Verlegung des Sitzes des sogenannten Zentrums gegen Vertreibungen von Wiesbaden nach Berlin, eine große Auseinandersetzung im deutsch - polnischen Verhältnis.35 Ebenso nervös reagierte man in Polen auf die Ankündigungen der sogenannten Preußischen Treuhand, Immobilien in Polen zurückzukaufen und vor internationalen Gerichten von Polen Entschädigungen für die Vertreibungen zu fordern. Man hätte sicherlich in Polen anders darauf reagieren können. Aber in dieser Phase der innenpolitischen Wahlkampagne war das kaum möglich. Die äußerst umstrittenen Ansichten von Frau Steinbach über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wurden von beiden Regierungen abgelehnt. Auf Regierungsebene wurden Initiativen gegründet, etwa das Netzwerk der Kultusministerien, die sich mit dem Vertreibungsproblem auseinandersetzen.36 Doch das war nur am Rande wichtig. Wirklich wichtig war, dass die Rechte in Polen dank Frau Steinbach ständig auf die potentiellen Gefahren verweisen konnte und gleichzeitig der BdV eine bisher nicht bekannte Medienpräsenz gewann. Man war deshalb auf deutscher wie auf polnischer Seite gezwungen, auf der Regierungsebene über ihr Verhalten zu sprechen. Seit 1998 bis 2005 nutzten die polnische Partei PiS 34 35 36

Zu diesem Thema Piotr Semka, Lech Kaczyński. Opowieść arcypolska, Warszawa 2010, S. 245. Vgl. Beharrlich und Provokant. In : Der Spiegel, 2007, Nr. 47, S. 60. Das »Euroрäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« hat seine Arbeit aufgenommen (http://www.bundesregierung.de / nsc_true / Content / DE / __Anlagen / BKM /2010–02–18–pressemitteilung - europaeisches - netzwerk - erinnerung - und - solidaritaet,property=publicationFile. pdf /2010–02–18–pressemitteilung - europaeisches - netzwerk - erinnerung - und - solidaritaet ).

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(Recht und Gerechtigkeit ) und der BdV diese Situation, um sich politisch zu etablieren. Da aber auf deutscher Seite der BdV de facto nur marginalen Einfluss hatte und sich deshalb die Medienpräsenz des BdV nur auf Polen konzentrierte, wuchs in Polen die Angst und es kam zu einer Konsolidierung des Wählerpotentials gegenüber Deutschland, zumal der BdV seine Forderungen, etwa bezüglich der Entschädigung wegen der Sachverluste der Vertriebenen, im Jahre 2004 noch erhöhte. Als Gegenreaktion begann der damalige Bürgermeister von Warschau, Lech Kaczyński, die Verluste Warschaus während des Krieges gegenzurechnen.37 Es kam zu einem Eklat, nachdem sich die polnische Regierung 2004 von der Resolution des eigenen Parlaments öffentlich distanzierte. Das Parlament hatte verlangt, dass seine Regierung von der deutschen die Auszahlung von Kriegsreparationen fordere. Die mediale Hysterie, die dank der geschickten Haltung von BdV und PiS ausgelöst wurde, trug Früchte. Selbst eine so wichtige Geste wie die Erklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 1. August 2004 konnte die Hysterie nicht beseitigen. Schröder erklärte, seine Regierung werde keinesfalls die Forderungen der Vertriebenen unterstützen, ebenso wenig wie die Entstehung des Zentrums gegen Vertreibungen.38 Eine Folge der bereits skizzierten Lage ist bekannt. Die PiS hat 2005 alles gewonnen, was damals zu gewinnen war. Ebenso der BdV, da im Koalitionsvertrag nach den Wahlen 2005 in Deutschland das Zentrum gegen Vertreibungen als sichtbares Zeichen definiert wurde. Die Frage ist allerdings, ob beide Parteien, insbesondere die PiS, nur wegen bzw. dank der geschickten Instrumentalisierung der Ressentiments gewonnen haben. Sicherlich bildeten diese historisch geprägten Ängste den Hintergrund für die Wählerentscheidung, aber nur, weil sie scheinbar eine Erklärung für die damaligen Probleme Polens boten. Die Verhandlungen über die EU - Finanzplanung für die Jahre 2007 bis 2013 waren sehr schwierig und die deutsche Seite wollte keinesfalls mehr in die EU - Kasse einzahlen. Das war und ist in der EU - Politik normal, aber damals galt dieses Verhalten als Beweis für den angeblichen Egoismus Deutschlands. Hinzu kam im September 2005 eine für die meisten Polen beunruhigende Nachricht : Im Vorfeld der entscheidenden Wahlen in Polen bauen Deutschland und Russland eine Ostseepipeline – ohne Polen zu fragen oder einzubinden. Deren wirtschaftlichen Sinn völlig außer Acht lassend, wurde die Pipeline in der Wahlkampagne primär als Gefahr für Polen wahrgenommen. Dazu kam die Rolle der antideutschen Ressentiments in der polnischen innenpolitischen Auseinandersetzung. Man warf dem Chef der Bürgerplattform, Donald Tusk, vor, dass sein Großvater in der

37 38

Vgl. Miasto Stołeczne Warszawa ( Hg.), Raport o stratach wojennych Warszawy, Warszawa 2004, S. 5. Vgl.Witold Góralski, Sławomir Dębski ( Hg.), Problem reparacjii, odszkodowań i świadczeń w stosunkach polsko - niemieckich 1944–2004, Band 1, Warszawa 2004, S. 124.

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Wehrmacht gewesen war.39 Zwar haben sich die Kaczyński - Brüder dafür entschuldigt. Trotzdem wurden die Autoren dieses PR - Schachzugs nie aus den Reihen der PiS entfernt. Der geschilderte Vorfall charakterisiert recht gut das generelle PiS - Konzept, nämlich die Bevölkerung in Polen pauschal in zwei Gruppen einzuteilen. Die mit deutscher Unterstützung gut Ausgebildeten, die gut Verdienenden, jene, die Fremdsprachen beherrschten, waren die Bösen, die Fremden. Die PiS wollte sich um die Verlierer der Transformation kümmern. Selbst der Name Tusk wurde aus dem Kaschubischen ins Polnische nicht wie üblich als »Hund«, sondern als »Deutscher« transkribiert. Der Wahlsieg der PiS im Jahr 2005 war in der Tat ein Wendepunkt im deutsch- polnischen Verhältnis. Die Erfolge dieser Partei wurden dank der niedrigen Wahlbeteiligung und der Disziplin der konservativen Wählerschaft erzielt. Aber eine Machtübernahme bedeutet auch immer, dass man ein positives Programm vorlegen muss, das die innenpolitischen Umstände berücksichtigt. Das hatte die PiS versäumt. In der polnischen Außenpolitik wurden die Verhaltensmuster aus der Wahlkampagne direkt wiederholt, was unvermeidlich mit einer Niederlage enden musste.40 Auf der Ebene der konkreten Zusammenarbeit in der EU, die neben dem medialen Kampf auch und vor allem interne Verhandlungen umfasst, wurde nichts Positives erreicht. Es mehrten sich unseriöse Protestaktionen des Außenministeriums gegen ebenso unseriöse Erklärungen der BdV - Vertreter. Die Art der Beleidigungen auf der offiziellen Ebene erreichte für unmöglich gehaltene Höhepunkte, vor allem in den PiS - nahen Medien, wofür nicht nur die bereits erwähnte Ribbentrop - Molotow - Erklärung, sondern auch die sogenannte »Kartoffelaffäre« der deutschen Zeitung »Taz« als Beispiel zu nennen sind.41 Doch ohne eine positive Europapolitik kann man gar nichts erreichen, ebenso wenig, wenn man als Politiker überempfindlich auf Beleidigungen der Medien reagiert und die Entwicklung der bilateralen Kontakte auf der lokalen Ebene nicht hinnehmen mag. Denn auf der zivilgesellschaftlichen Ebene war die Zeit von 2005 bis 2007 eine Periode des Ausbaus der deutsch - polnischen Kontakte, sozusagen als Trotzreaktion auf die offizielle Regierungspolitik. Die Bevölkerung zeigte, nicht nur durch die große Emigrationswelle, dass sie weder gegen die EU noch gegen Deutschland etwas hatte. Schon 2007 wurde in den vorgezogenen Wahlen mit einer einmalig hohen Wahlbeteiligung die Politik der PiS abgelehnt. Und die meiste Unterstützung für den PiS - Herausforderer, nämlich für die PO (Bürgerplattform ), kam aus den ehemaligen deutschen Gebieten.42 39 40 41 42

Dziadek z Wehrmachtu – Józef Tusk i inni ( http ://www.wiadomosci24.pl / artykul / dziadek_ z_wehrmachtu_8211_jozef_tusk_i_inni_3469.html ). Vgl. Roman Kuźniar ( Hg.), Rocznik Strategiczny 2007/08, Warszawa 2008, S. 305. Vgl. Anna Kwiatkowska - Dróżdż, It’s not ( only ) about Erika Steinbach. Three myths in the German discourse on the resettlement. In : OSW Punkt Widzenia – Sierpień 2010, S. 39. Die amtlichen Wahlergebnisse : ( http ://wybory2007.pkw.gov.pl / SJM / PL / WYN / W / index.htm).

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Deswegen war z. B. Gdańsk wie bereits erwähnt für Kaczyński zu deutschlandfreundlich. Es war allerdings kaum machbar, die antideutsche Taktik wie gehabt fortzuführen, und zwar nicht nur, weil beispielsweise die erwähnten Wehrmachtsvorwürfe von den Wählern als eine absolut inakzeptable Frechheit betrachtet wurden. Deutschland verhielt sich in der Zeit von 2005 bis 2007 in vielen Bereichen sehr fair gegenüber Polen, u. a. im polnischen Streit mit Russland über den Fleischhandel im Jahr 2007, als Deutschland gegen Russland und zugunsten Polens agierte. Bedeutet die Wende des Jahres 2007, dass die Ressentiments in den Beziehungen verschwunden sind ? Nein. Die PiS nutzte und nutzt sie auch weiterhin, allerdings nicht in dem Ausmaß früherer Jahre, da inzwischen Russland ins Visier geraten ist, und zwar aufgrund der Tragödie von Smolensk im Jahr 2010. Auf der deutschen Seite setzte der BdV seine mediale Kampagne ebenfalls fort, wobei er allerdings schmerzhafte Niederlagen einstecken musste, etwa vor internationalen Gerichten, die die BdV - Entschädigungsklagen gegen Polen abwiesen.43 Doch all das ist von nur geringem Stellenwert, denn wichtig ist, dass sich die Gesellschaften, die Menschen, kennen, einander schätzen und zusammenarbeiten wollen, was die letzten Umfragen vom Juli 2011 auch zeigen. Auf Regierungsebene versucht man, die Probleme auf eine normale und in der EU übliche Art zu lösen. Die Erklärungen beider Innenministerien über die Minderheiten oder die Effekte der letzten Regierungskonsultationen zeigen,44 dass dies möglich ist. Die Ressentiments werden zwar nie ganz verschwinden, da sie bedauerlicherweise in der Politik als Ultima - ratio - Mittel akzeptiert werden. Solange aber die Bürgerkontakte stark sind, werden die Ressentiments die Tagespolitik nie entscheidend belasten können. Ein Beweis ? 199045 sagten 83 Prozent der Befragten, dass nach der Wiedervereinigung Polen als Land stärker durch Deutschland gefährdet sei als zuvor. 68 Prozent vermuteten auch, dass die bilateralen Beziehungen nach 1990 schlechter werden würden. Heute, 2011, kann man in der renommierten Allensbachstudie46 nachlesen, dass 58 Prozent der Polen sich eine möglichst enge Zusammenarbeit mit Deutschland wünschen, erst mit deutlichem Abstand folgen die USA (47 Prozent ). 27 Prozent aller Deutschen sind der Überzeugung, dass Polen und Deutsche sich in ihren Wertvorstellungen sehr oder ziemlich ähnlich sind. Rund jeder dritte Deutsche hält die wertgebundenen Vorstellungen 43 44 45 46

Vgl. Jan Barcz, Dwadzieścia lat stosunków polski ze zjednoczonymi Niemcami. Budowanie podstaw prawnych, Warszawa 2011, S. 291. Deutsch - polnische Freundschaft ohne Komplexe. In : Die Zeit vom 21. Juni 2011 ( http ://www. zeit.de / politik / ausland /2011–06/ deutschland - polen - eu ). Vgl. Tytus Jaskułowski ( Hg.), Między rewolucją a zjednoczeniem. NRD w prasie polskiej 1990. Wybór źródeł, Berlin 2007, S. 178. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach ( Hg.), Ein großer Schritt in Richtung Normalität : Der Stand der deutsch - polnischen Beziehungen. Ergebnisse repräsentativer Bevölkerungsumfragen in Deutschland und Polen, Allensbach 2011, S. 37.

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in beiden Ländern für etwas unterschiedlich. In Polen hingegen glaubt eine Mehrheit von 58 Prozent, dass sich Deutsche und Polen in ihren Wertvorstellungen sehr oder ziemlich ähnlich sind; nur weniger als jeder Dritte betont die Unterschiede. Die Studie besagt unterm Strich keine bedingungslose Freundschaft zwischen Deutschland und Polen. Allerdings zeigt sie deutlich, dass Ressentiments und Nationalismus im bilateralen Alltag immer weniger Platz haben und an Bedeutung verlieren.

VI. Anhang

Abkürzungsverzeichnis

307

Abkürzungsverzeichnis AAKat AAN AAP AIPN AL AMM APG APP BArch BDC BdV BRD CBOS CDU CIA ČSSR CSU DDP DDR DK DNVP Doc. Occ. DVL DVP Dz. U. RP EU FVP Gen.Kdo. GPStA HA HSSPF HZ IZ KA KNP KPD KPdSU KPP KSZE KZ MSPD

Archiwum Archidiecezjalne w Katowicach ( Erzdiözesanarchiv Katowice ) Archiwum Akt Nowych Archiwum Archidiecezjalne w Poznaniu ( Erzdiözesanarchiv Poznań ) Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej ( Archiv des Instituts für Nationales Gedenken ) Akta Lokalne ( Lokale Akten ) Akta Miasta Międzychód ( Akten der Stadt Międzychód ) Archiwum Państwowe w Gdańsku ( Staatsarchiv Gdańsk ) Archiwum Państwowe w Poznaniu ( Staatsarchiv Poznań ) Bundesarchiv Berlin Document Center Bund der Vertriebenen Bundesrepublik Deutschland Centrum Badań Opinii Społecznej ( Zentrum für Untersuchungen der gesellschaftlichen Meinung ) Christlich - Demokratische Union ( Deutschlands ) Central Intelligence Agency Tschechoslowakische Sozialistische Republik Christlich - Soziale Union Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Deutsch - Konservative ( Partei ) Deutschnationale Volkspartei Documenta Occupationis Deutsche Volksliste Deutsche Volkspartei Dziennik Ustaw Rzeczpospolitej Polskiej ( Gesetzblatt der Republik Polen ) Europäische Union Fortschrittliche Volkspartei Generalkommando Geheimes Preußisches Staatsarchiv Hauptabteilung Höherer SS - und Polizeiführer Historische Zeitschrift ( Archiwum) Instytut Zachodni ( Poznań) ( Archiv des Westinstituts Poznań ) Konsystorz Arcybiskupi ( Erzbischöfliches Konsistorium ) Komitet Narodowy Polski ( Polnisches Nationalkomitee ) Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Komunistyczna Partia Polski ( Kommunistische Partei Polens ) Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konzentrationslager Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands

308 MZO NATO NL NPR NRD NSDAP NSR OBOP OKW PiS PK PKWN PO PPR PPS PRL PSL PVAP PWO RdP RGBl. RKF RMdI RP RSHA RuSHA SA SBZ SD SED SPD SPM SS TU UB UdSSR USPD VD VRP WRON ZBoWiD ZfO

Anhang

Ministerstwo Ziem Odzyskanych ( Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete ) North Atlantic Treaty Organization Nationalliberale ( Partei ) Narodowa Partia Robotnicza ( Nationale Arbeiterpartei ) Niemiecka Republika Demokratyczna ( Deutsche Demokratische Republik ) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Narodowe Stronnictwo Robotników ( Nationale Arbeiterpartei ) Ośrodek Badań Opinii Publicznej ( Zentrum zur Erforschung der Öffentlichen Meinung ) Oberkommando der Wehrmacht Prawo i Sprawiedliwość ( Recht und Gerechtigkeit ) Parteikorrespondenz ( der NSDAP ) Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego ( Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung ) Platforma Obywatelstwa ( Bürgerplattform ) Polska Partia Robotnicza ( Polnische Arbeiterpartei ) Polska Partia Socjalistyczna ( Polnische Sozialistische Partei ) Polska Rzeczpospolita Ludowa ( Volksrepublik Polen ) Polskie Stronnictwo Ludowe ( Polnische Bauernpartei ) Polnische Vereinigte Arbeiterpartei Polska Organizacja Wojskowa ( Polnische Militärorganisation ) Reichsverband der deutschen Presse Reichsgesetzblatt Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums Reichsministerium des Innern ( Deutsche ) Reichspartei Reichssicherheitshauptamt Rasse - und Siedlungshauptamt Sturmabteilung Sowjetische Besatzungszone ( Deutschlands ) Sicherheitsdienst Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialdemokratische Partei Deutschlands Starostwo Powiatowe Międzychód ( Starostei Międzychód ) Schutzstaffel Technische Universität Urząd Bezpieczeństwa ( Publicznego ) ( A mt für öffentliche Sicherheit ) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Volksdeutsche Volksrepublik Polen Wojska Rada Ocalenia Narodowego ( Militärrat zur Nationalen Errettung ) Związek Bojowników o Wolność i Demokrację ( Bund der Kämpfer für Freiheit und Demokratie ) Zeitschrift für Ostmitteleuropa - Forschung

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Personenverzeichnis

Personenverzeichnis Seitenangaben mit Stern beziehen sich auf eine Fußnote

Adamski, Stanisław 135 Albrecht, Gustav 172 f. Alvensleben, Ludolf von 193 Alvensleben - Schönborn, Joachim Graf von 192 f. Anderson, Benedict 8, 242 Bachmann, Klaus 17 Bade, Klaus J. 34 f. Baerwald, Moritz 86, 95 Baier, Roland 25 Balfour, Arthur 117 Bartoszewski, Władysław 288 Bergsträsser, Ludwig 102 Bernhard, Georg 63* Beseler, Hans von 115* Bethmann Hollweg, Theobald von 34 Beuermann, August 12, 96 f. Białkowski, Jan 158 Bismarck, Otto von 10 f., 25–27, 29, 31–33, 44 f., 47, 49, 180 Bitter, Rudolf von 56 Blanke, Richard 28 f. Bocheński, Józef Maria 289 Bogajewicz, Walenty 157 Bolesław Chrobry ( polnischer König ) 251, 254 Bolesław Krzywousty ( polnischer Herzog ) 254 Brandt, Alfred 176, 180 Brandt, Willy 255, 269, 290 f. Brodka, Tadeusz 217 Broszat, Martin 28 Brüll, Ernst 197–199, 203 Buhl, Józef 158, 160 Bülow, Bernhard von 27, 34 Bunsch, Karol 251 Buzek, Jerzy 298 Bystroń, Jan Stanisław 109

Caprivi, Leo von 27, 29, 31–33, 48 Chruschtschow, Nikita S. 261 f. Chwalba, Andrzej 28, 32 f. Clausewitz, Carl von 96 Cleinow, Georg 77*, 81, 83, 98* Dąbrowski, Jan Henryk 260 Daube, Georg 199–202 Daube, Oskar 199 f. Delbrück, Rudolph von 44 Demandt, Alexander 116 Dietrich, Otto 101* Dmowski, Roman 9, 13, 72, 99, 111–114, 117, 125*, 228 Eckert, Reinhold 171 Ekke, Elise 81, 86, 92 Engels, Friedrich 26 Erzberger, Matthias 93 Falk, Bernhard 98* Falkowski, Julian 158 Feldman, Józef 32 Fellisch, Alfred 74* Fischer, Joschka 299 Flottwell, Eduard von 49 Foerster 81* Forster, Albert 205, 207, 219 Frackowiak, Johannes 10, 15, 36 Frank, Hans 170, 174 f. Frey, Dagobert 247 Friedrich II. 67 Gall, Lothar 29 Gellner, Ernest 8 Gerlach, Hellmut von 63 f., 74, 88 f., 93, 103, 245 Gierke, Hans von 193 f. Gierke, Luise von 193 f. Goebbels, Joseph 174

310 Goethe, Johann Wolfgang von 253 Göhre, Paul 82 Goltz, Theodor von der 50 Gołubiew, Antoni 251 Gomułka, Władysław 241, 243, 249, 262 f., 277 f., 279*, 281*, 292 Göring, Hermann 7 Görtemaker, Manfred 29 Gosewinkel, Dieter 185 Goßler, Gustav von 54, 59 Grabski, Władysław Jan 251 Gramß, Ernst 173 f., 176–179 Grażyński, Michał 144 Greiser, Arthur 180, 182 f., 184*, 188–190, 197, 200, 209, 211–214, 216, 219 f. Grotewohl, Otto 244 Grundmann, Günther 247 Hagen, William 28 f. Hammerstein, Wilhelm Freiherr von 26 Hansemann, Ferdinand von 10, 64* Hayes, Carlton 289 Herbert, Ulrich 35 Herrmann, Alfred 11 f., 63–71, 73, 75–86, 88 f., 92–103 Herzog, Roman 296 Heywood, Andrew 107 Hildebrandt, Richard 192 Himmler, Heinrich 16, 168 f., 181, 187 f., 191–194, 196–203, 209, 212 f., 219 f. Hindenburg, Paul von 70, 76, 88 Hirschfeld, Otto Christian 193 Hitler, Adolf 12, 29, 31, 100, 102, 167 f., 173, 181, 196, 223 Hlond, August Kardinal 251 Hobsbawm, Eric 8, 18 Hoetzsch, Otto 66 Hoffmann, Wilhelm 158 Hölderlin, Friedrich 253 Höppner, Rolf - Heinz 184*, 199*, 200, 216 Houtermans, Otto 76 f., 80 f. Hugenberg, Alfred 70, 86 Hupka, Herbert 288, 297 Ihde, Wilhelm 101

Anhang

Jablonowski, Horst 28 Jaskułowski, Tytus 19 f. Jordan, Wilhelm 24 Kaczyński, Jarosław 8, 19, 287, 300, 302 f. Kaczyński, Lech 300–302 Kaeckenbeeck, Georges 152 Kaliski, Edmund 250 Kantorowicz, Fritz 81* Kawalec, Krzysztof 13 f. Kazimierczuk, Jerzy 254 Kennemann, Hermann 11, 64* Kerski, Basil 38 Kersten, Krystyna 241 Keyserlingk, Heinrich Graf 216 Klaette, Fritz 158 Kleßmann, Christoph 10, 36 Kohl, Helmut 294, 297 Kokociński, Ludwik 157 f., 164 Kolbuszewski, Jacek 249 Kominek, Bolesław 252 Kopaliński, Władysław 289 Koppe, Wilhelm 201 Kościuszko, Tadeusz 260 Kowalczyk, Marcin 161 Kühn 81* Kuk, Karl von 115* Kula, Witold 254 Labuda, Adam 249 Lepsius, M. Rainer 8 Lisiecki, Arkadiusz 135 Listowski, Antoni 119* Lorenz, Torsten 13, 80 Ludendorff, Erich 70 Macierzyński, Paweł 136 f. Madajczyk, Piotr 15, 17 Majka, Józef 252 Meinecke, Friedrich 31 Michalczyk, Andrzej 13 Michatz, Paweł 142 f. Miquel, Johannes von 54 Mitscherlich, Waldemar 55 Moczar, Mieczysław 278, 281 f. Modelski, Ludwik 160

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Personenverzeichnis

Molotow, Wjatscheslaw M. 288, 302 Mommsen, Hans 31 Moritz - Hartmann, Ludo 89 Müller, Uwe 10 Murzynowska, Krystyna 34 Napoleon, Bonaparte 66 Neumann, Friedrich 45 Niedziałkowski, Mieczysław 121 Nipperdey, Thomas 28, 30 Nitti, Francesco 122 Ohler, Wilhelm 86*, 93 Oltmer, Jochen 38 Opiłowska, Elżbieta 17 Paderewski, Ignacy 82, 118 Panewicz, Roman 161 Pawelka, Rudi 288 Pestalozzi, Johann Heinrich 68 Petljura, Symon 118, 119* Pieck, Wilhelm 244 Piłsudski, Józef 9, 13 f., 72, 86, 109*, 110, 116–122, 124, 259, 282 Prochownik 81* Puławski, Kazimierz 260 Puttkamer, Robert von 48 Raczkowski, Boleslaus 158, 292 Rakowski, Mieczysław 245 Reichelt 81* Renner, Karl 89 Ribbentrop, Joachim von 288, 302 Riefenstahl, Leni 171 Rothfels, Hans 25 Ruchniewicz, Krzysztof 38 Sarrazin, Thilo 38 Schmeitzner, Mike 10, 20 Schmidt, Helmut 291 Schopenhauer, Arthur 253 Schröder, Gerhard 298, 301 Schulte, Aloys 66 Schulz, Georg 86* Schulz, Wilhelm 93 Schutte, Christoph 67

Seyda, Władysław 73* Sikorski, Radosław 288 Smith, Anthony D. 8 Stalin, Josef 17, 261 f. Steinbach, Erika 7, 19, 287, 297, 299 f. Steinhaus, Hugo 253 Störtkuhl, Beate 246 Stresemann, Gustav 102 Studnicki - Gizbert, Władysław 120 Światło, Józef 261 Szela, Jakub 260* Szydlak, Jan 245 Thum, Gregor 24 Tiedemann, Christoph von 49, 53, 55 Tiedemann, Heinrich von 11, 64*, 84 Tomaszewski, W. 148, 149* Treitschke, Heinrich von 25 Trzeciakowski, Lech 28, 31 f. Tusk, Donald 7, 19, 301 f. Virus, Otto 147–149 Vogt, Dietrich 80 Waldow, Wilhelm von 55 Wałęsa, Lech 271 Walkenhorst, Peter 31 Wapiński, Roman 125 Wasilewski, Leon 121 Weber, Alfred 63* Weber, Max 25, 48 Wehler, Hans - Ulrich 27–30 Weiß, Wilhelm 100, 101* Wiatr, Jerzy 108 Wick, Eberhard 160–162 Wiesner, Rudolf 198 Wilamowitz - Möllendorff, Hugo von 52, 55 Wilde, Wilhelm 158 Wilhelm I. ( Deutscher Kaiser, König von Preußen ) 249 Wilhelm II. ( Deutscher Kaiser, König von Preußen ) 10, 31 Wilson, Thomas Woodrow 71 f., 78, 94, 97 f. Windthorst, Ludwig 26

312 Winkler, Heinrich August 28 f. Witting, Richard 47 Wojciechowski, Zygmunt 247 Wolf, Gerhard 214 Wolff, Theodor 63*

Anhang

Wolff - Powęska, Anna 254 Zaremba, Marcin 242, 260 Zernack, Klaus 25 f. Zientek, Józef 136–138, 140 f.

Autorinnen und Autoren

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Autorinnen und Autoren Bachmann, Klaus, Prof. Dr., Historiker, Politikwissenschaftler, Leiter des Lehrstuhls für internationale Politik an der University of Social Sciences and Humanities ( Szkoła Wyższa Psychologii Społecznej ) in Warschau. Frackowiak, Johannes, Dr., Historiker, wiss. Mitarbeiter am Hannah - Arendt Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Jaskułowski, Tytus, Dr., Politikwissenschaftler, wiss. Mitarbeiter am Hannah Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. Kawalec, Krzysztof, Prof. Dr., Historiker, Professor und Leiter der Abteilung für Polnische und Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts am Historischen Institut der Universität Wrocław. Kleßmann, Christoph, Prof. Dr., Historiker, em. Professor für Zeitgeschichte an der Universität Potsdam. Lorenz, Torsten, Dr., Historiker, DAAD - Langzeitdozent für Geschichte und Deutschlandstudien am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philosophischen Fakultät der Karls - Universität in Prag. Madajczyk, Piotr, Prof. Dr., Historiker, Professor und Leiter der Abteilung »German Studies« am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau. Michalczyk, Andrzej, Dr., Historiker, Studienrat im Hochschuldienst am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas der Ruhr - Universität Bochum. Müller, Uwe, Dr., Historiker, wiss. Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas der Universität Leipzig. Opiłowska, Elżbieta, Dr., Sozialwissenschaftlerin, wiss. Mitarbeiterin am Willy Brandt - Zentrum für Deutschland - und Europastudien der Universität Wrocław. Roth, Markus, Dr., Historiker, Stellvertretender Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus - Liebig - Universität Gießen. Schmeitzner, Mike, Dr., Historiker, wiss. Mitarbeiter am Hannah - Arendt - Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden.